Faszinierende Teilchenphysik: Von Quarks, Neutrinos und Higgs zu den Rätseln des Universums 3662679035, 9783662679036, 9783662679043

Quarks, Neutrinos, Supersymmetrie, Higgs-Boson, LHC, Antimaterie, Dunkle Materie - wer hat diese Begriffe nicht schon ei

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German Pages 378 Year 2023

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Table of contents :
Vorwort
Über dieses Buch
Inhalt
1 Die Welt der Teilchen
Eine weltweite Reise in die Teilchenphysik.
Bildhafte Eindrücke von Teilchendetektoren
Was ist Teilchenphysik.
Eine fundamentale Wissenschaft im Wechselspiel mit anderen
Ursprünge der Teilchenphysik.
Wie und wer?
Längenskalen und Einheiten.
Von riesig groß bis zu winzig klein – alles Physik
Die Elementarteilchen.
Die Bausteine der Welt
Die vier Grundkräfte der Natur.
Vier sehr ungleiche Partner
Das Quarkmodell.
Wie Quarks das Teilchenchaos zähmten
Was ist eigentlich ein Elementarteilchen?
Gibt es immer kleinere Bausteine?
Was ist Antimaterie?
Science Fiction oder Realität?
Detektoren im Alltag.
Einen Teilchendetektor tragen wir im Kopf
Wie macht die Physik Fortschritte?
Eine komplizierte Suche nach einfachen Antworten
Experimentelle Forschung in der Teilchenphysik.
Verschiedene Experimente für verschiedene Fragestellungen
Hintergründe zur wissenschaftlichen Methode.
Der Unterschied zwischen „Wahrheit“ und „Wissen“
Vorstellung und Realität.
Verschiedene Beschreibungen funktionieren
2 Allgemeine Grundlagen
Energie und Leistung.
Kilowattstunden, Elektronenvolt, ... wie hängt das alles zusammen?
Spezielle Relativitätstheorie.
Wie schnell ist schnell?
Kinematik.
Impuls und Drehimpuls
Beschleunigung und Strahlung.
Wer beschleunigt, der strahlt
Grundkonzepte der Quantenmechanik.
Von Pfeilen und Elektronen
Zufall und Vorhersage.
Quantenmechanik at work
Spin.
Eine eigentümliche Größe der Quantenmechanik
Das Prinzip von Streuexperimenten.
Atomares Billard
Feynman-Diagramme.
Grafische Darstellungen von Wechselwirkungen
Produktion, Zerstörung und Zerfall von Teilchen.
Wie Teilchen aus Teilchen entstehen können
Resonanzen.
Wenn alles zusammenpasst
Über die Reichweite von Wechselwirkungen.
Von intergalaktischen Abständen zur Größe von Atomkernen
Symmetrien.
Schön und praktisch
Spontane Symmetriebrechung.
Die versteckte Symmetrie
3 Experimentelle Grundlagen
Wie funktioniert ein Beschleuniger?
Mit elektrischen Feldern zu hohen Energien
Wechselwirkung zwischen Teilchen und Materie.
Warum wir überhaupt Teilchen in Messgeräten nachweisen können
Halbleiterdetektoren.
Die Multitalente: von der Handykamera bis zum LHC
Gasbasierte Detektoren.
Messen, wo gar kein Detektor zu sein scheint
Szintillatoren und Photomultiplier.
Die großen Augen der Teilchenphysik
Orts- und Impulsmessung.
Woher kommen wir, wohin gehen wir: fundamentale Fragen auch für Teilchen
Energiemessung von Teilchen.
Wie viele Kalorien isst der Detektor?
Signaturen von Teilchen.
Fußabdrücke von Teilchen in den Detektoren
Čerenkov-Strahlung und Teilchenidentifikation.
Schneller als Licht
Statistik.
Die mathematische Beschreibung von Zufall
Messunsicherheiten.
Jeder macht Fehler
Simulationen in der Experimentalphysik.
Welche Beobachtung wird wirklich vorhergesagt?
4 Theoretische Grundlagen
Anwendungen der speziellen Relativitätstheorie.
Relativität im Teilchenphysikalltag
Fermionen und Bosonen.
Die Basis nicht nur der Chemie
Äußere und innere Symmetrien.
Zur Schau gestellt oder versteckt?
Eichsymmetrien.
Versteckte Symmetrien als Ursprung der Kräfte
Das Noether-Theorem.
Symmetrien bedingen Erhaltungsgrößen
Feynman-Diagramme II.
Eine Bastelanleitung
Quantenfeldtheorie.
Erzeugung und Vernichtung von Teilchen
Schleifen.
Quantenmechanische Spezialeffekte
Renormierung.
Die Zähmung der Unendlichkeit
Präzise Berechnung des nicht vollständig Lösbaren.
Wie man trickreich der Natur ihre Geheimnisse entlockt
Simulationen in der theoretischen Physik.
Wie Computer das Unerreichbare erreichen
5 Detektoren und Beschleuniger
Der LHC-Beschleunigerkomplex am CERN.
Von der Wasserstoffflasche bis zur Kollision
Strahlführung.
Nur nicht auf die schiefe Bahn geraten
Plasmabeschleunigung.
Ein Beschleuniger, der auf einen Küchentisch passt
Beschleuniger in der Medizin.
Diagnose und Therapie
Röntgenstrahlung.
Das geht unter die Haut
Synchrotronstrahlung.
Quellen besonderen Lichts
Typische Detektoren an Beschleunigern.
Groß und Klein unter den Detektoren
Große Detektoren tief im Berg.
Die schwierige Jagd nach Neutrinos
Tieftemperaturdetektoren.
Höchste Ansprüche bei tiefsten Temperaturen
Flüssige Edelgase als Detektoren.
Seltene Flüssigkeiten zur Suche nach seltenen Teilchen
Teilchenfallen.
Eingesperrte Teilchen
Positronen-Emissions-Tomographie.
Nützliche Antimaterie-Vernichtung im Körperinneren
Magnetresonanztomographie.
Mit dem Spin ins Innere des Körpers blicken
6 Grundlagen der Auswertung von Teilchenphysikmessungen
Trigger und Datenverarbeitung.
Der Weg der Nadel im Heuhaufen vom Detektor auf die Festplatte
Datenauswertung.
Aus sehr vielen Informationen das Spannende herausfinden
Identifikation der Teilchensorte über die Masse.
Teilchen spielen „Wer bin ich?“
Die Bestimmung von Messunsicherheiten.
Lieber besser messen als länger messen
Schlüsse ziehen aus Statistik.
Wann ist etwas zu unwahrscheinlich, um wahr zu sein?
Veröffentlichen, was es nicht gibt.
Nichts zu finden ist ein wichtiges Ergebnis
Ein Beispiel für die Entdeckung eines Teilchens ... anhand des Higgs-Bosons
Was sind „Blinde Analysen“?
Der Placebo-Effekt bei Forschenden
Wie korrigiert man falsche Entdeckungen?
Korrekturverfahren in der Teilchenphysik
Neuronale Netzwerke und maschinelles Lernen.
Mit Köpfchen zu neuen Erkenntnissen
Die Erfindung des World Wide Web.
Offene weltumspannende Wissenschaft für eine offene Gesellschaft
7 Das Standardmodell der Elementarteilchenphysik
Elektromagnetismus.
Die alltägliche Kraft
Die schwache Wechselwirkung.
Verwandlung ist möglich
Up, Down, Rechts und Links.
Wer ist mit wem verwandt?
Die unsichtbare Breite des Z-Bosons.
Es gibt nur drei Neutrinos!
Spontane Symmetriebrechung im Standardmodell.
Das Higgs-Boson als Spielverderber
Spontane Symmetriebrechung II.
Woher kommt das Photon?
Spontane Symmetriebrechung III.
Was hat die bottom-Quark-Masse mit dem Higgs-Zerfall zu tun?
Diskrete Symmetrien: P- und CP-Verletzung.
Gespiegelt ist ganz was anderes
Der Pion-Zerfall.
Links, rechts, schneller, langsamer: Das macht einen Unterschied
Der Weg zu sechs Quarks in drei Familien.
Wer wechselwirkt mit wem?
Neutrinos.
Die außergewöhnlichen Leichtgewichte unter den Elementarteilchen
Neutrinooszillationen.
Wankelmütige Neutrinos
8 Die Besonderheiten der starken Wechselwirkung
Quantenchromodynamik.
Von 1 nach 3: kleiner Unterschied mit großer Wirkung
Confinement.
Warum es keine freien Quarks gibt
Die Suche nach freien Quarks.
Oder wie man sich von der Statistik täuschen lassen kann
Die laufende Kopplung.
Ein Scheinriese?
Die Struktur des Protons.
Ein reichhaltiges Innenleben
Quarkverteilungen im Proton.
Mehr als nur drei Quarks
Kann man Quarks und Gluonen sehen?
Das Unerreichbare wird sichtbar
Woher kommt unsere Masse?
Verkehrte Welt?
Gitter-QCD.
Der Supercomputer macht's möglich
Der Quarkmasseneffekt.
Warum wir den Massenunterschieden der Quarks unsere Existenz verdanken
Von Nukleonen zu Kernen.
Welch Vielfalt aus zwei Bausteinen
Die Karlsruher Nuklidkarte.
Vom Tal der Stabilität
Exotische Zustände.
Ein neuer Teilchenzoo?
Die 14C-Altersbestimmung.
Archäologie mithilfe von Kernphysik
9 Der Triumph des Standardmodells und darüber hinaus
Die Entdeckung der neutralen Ströme.
Der erste Durchbruch des Standardmodells
Die zufällige Entdeckung des J/ψ.
Der zweite Durchbruch des Standardmodells
Die Entdeckung von W- und Z-Boson.
Von der Beobachtung eines Stroms zur Entdeckung eines Teilchens
Entdeckung und Besonderheit des top-Quarks.
Das schwerste bekannte Elementarteilchen
Warum ausgerechnet das Standardmodell?
Präzisionsphysik am LEP und Vorhersage des Higgs-Bosons
Die Entdeckung des Higgs-Bosons.
Ultimativer Triumph des Standardmodells
Ist es wirklich das Higgs-Boson?
Experimentelles Portrait eines Teilchens
Präzisionsexperimente.
0, 001 159 652 ...
Das Myon.
Schweres Schwesterteilchen des Elektrons
Überprüfung von Neutrinooszillationen. Eindrucksvolle Bestätigung einer Abweichung
Messung der Neutrinomasse.
Kleinste Masse – größte Waage
Die Verletzung der CP-Symmetrie in B-Mesonen.
Leben wir im Spiegel oder davor?
Seltene Zerfälle von B-Mesonen.
Winzige Hinweise auf große Neuigkeiten?
Gestaltwandler unter sich.
Von Charme, Schönheit1 und seltsamen Teilchen
Die Vermessung des CKM-Dreiecks.
Das große Treffen
Die Hürden des Erfolgs.
Worüber neue Theorien springen müssen
10 Die Grenzen des Standardmodells
Warum wir weitersuchen.
Ungelöste Probleme im Standardmodell
Neutrinomassen.
Warum so klein?
GUT.
Die große Vereinheitlichung
Supersymmetrie.
Wie viel Symmetrie ist möglich?
Extra-Dimensionen.
Vielleicht ist die Gravitation ja gar nicht so schwach
Stringtheorie.
Eine vibrierende Schnur als Vereinheitlichung
Urknall.
Das erste Teilchenlabor
Dunkle Materie.
Eine Herausforderung für die Elementarteilchenphysik
Dark Sector: Dunkle Energie.
Eine Herausforderung für die Kosmologie und Elementarteilchenphysik
Das starke CP-Problem.
Wie Theoretiker Probleme wegwaschen
Ist das Leben auf der Erde ein Zufall?
Verstehen wir, warum Leben entstehen konnte?
11 Die Suche nach Physik jenseits des Standardmodells
Ist das Neutrino sein eigenes Antiteilchen?
Die Suche nach dem neutrinolosen doppelten β-Zerfall
Neue Teilchen am LHC.
Suchen mit einer konkreten Idee
Das unspezifische Unbekannte am LHC.
Suchen ohne konkrete Idee
Zusätzliche Raumdimensionen am LHC.
Wohin verschwindet die Gravitation?
Das Rätsel der Dunklen Materie.
Woher wissen wir, wonach wir suchen müssen?
Direkte Suche nach der Dunklen Materie.
Auf der Jagd nach unsichtbaren Teilchen
Materie und Antimaterie.
Warum gibt es uns überhaupt?
Teilchenphysik im Weltall.
Hoch hinaus
Die Suche nach elektrischen Dipolmomenten.
Wo ist die Antimaterie geblieben?
Die Suche nach Axionen.
Zwei Fliegen mit einer Klappe
Protonenzerfall.
Lang lebe das Proton!
Supernovae als Teilchenphysiklabore.
Dramatische Ereignisse mit ungeahnten Fähigkeiten
12 Die Verbindung des Größten mit dem Kleinsten
Baryogenese.
Wieso gibt es (fast) keine Antimaterie im Universum?
Nukleosynthese im Urknall.
Helium, Neutrinos und die Materie-Antimaterie-Asymmetrie
Elemententstehung in Sternen.
Wie war das mit dem Sternenstaub?
Kosmischer Mikrowellenhintergrund.
Ein Blick ins frühe Universum und seine Zusammensetzung
Das Größte und das Kleinste.
Einfluss der Neutrinomasse auf die großräumige Struktur im Universum
Kosmische Strahlung.
Teilchen aus dem All
Ultrahochenergetische kosmische Strahlung.
Die Suche nach den kosmischen Hochleistungsbeschleunigern
Multimessenger-Astronomie.
Neue Blicke ins Teilchen-Universum
Neutrinos von der Sonne.
Ein Blick ins Innere der Sonne
Die Entwicklung des Universums.
Blick in die sehr ferne Zukunft
Lohnt sich das alles?
Danksagung
Die Eigenschaften der Elementarteilchen. Übersicht und Tabellen
Glossar
Bildnachweis
Index
Das Autorenteam
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 3662679035, 9783662679036, 9783662679043

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Philip Bechtle · Florian Bernlochner Herbi Dreiner Christoph Hanhart Josef Jochum Jörg Pretz · Kristin Riebe

Faszinierende Teilchenphysik Von Quarks, Neutrinos und Higgs zu den Rätseln des Universums

Faszinierende Teilchenphysik

Unseren Familien, unseren Studierenden, der immer neuen Inspiration für unsere Neugier, den engagierten Physiklehrerinnen und -lehrern, die ihre Schülerinnen und Schüler für die Wunder der Natur begeistern

Philip Bechtle · Florian Bernlochner · Herbi Dreiner · Christoph Hanhart · Josef Jochum · Jörg Pretz · Kristin Riebe

Faszinierende Teilchenphysik Von Quarks, Neutrinos und Higgs zu den Rätseln des Universums

Kontakt [email protected] ISBN 978-3-662-67903-6 ISBN 978-3-662-67904-3 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-67904-3 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature, 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral.

Planung/Lektorat: Lisa Edelhäuser und Caroline Strunz Projektmanagement: Bianca Alton Grafiken: Autoren Satz: Autorensatz, auf der Grundlage der Vorlage von Glaeser/Polthier Einbandabbildung: Event Display (unten): CERN, ATLAS-Experiment; Sombreropotential (oben): Kristin Riebe Einbandgestaltung: deblik, Berlin Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany Das Papier dieses Produkts ist recyclebar.

VII

Vorwort Woher kommen wir? Wie hat alles begonnen und wie hat es sich entwickelt? Wie entstand das Universum? Woraus besteht Materie? Fragen, die die Menschheit seit jeher bewegt haben und die wir dank unserer Forschung heute teilweise sogar beantworten können. Menschen sind schon immer fasziniert von der Beobachtung der Gestirne und der Phänomene im Universum im Allgemeinen. Genauso faszinierend ist das „Unsichtbare“, sind die kleinsten Bausteine der Materie und ihr Zusammenwirken, denn erst durch die Untersuchung des Aufbaus der Materie gelangen wir auch zum Verständnis der astrophysikalischen Vorgänge: Astronomie, Astrophysik und Teilchenphysik sind eng miteinander verknüpft. Es sind die Modelle der Teilchenphysik gefragt, um die Eigenschaften der Materie am Anfang unseres Universums zu erklären. Teilchenphysik befasst sich mit den fundamentalen Bausteinen der Materie und den grundlegenden Kräften, die zwischen ihnen wirken. Das Ziel ist Erkenntnisgewinn, insbesondere zur Beantwortung der eingangs erwähnten Fragen. Teilchenphysik ist Grundlagenforschung. Grundlagenforschung ist ein hohes kulturelles Gut, ein Wert an sich für unsere Gesellschaft: Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung sind fundamental für die Errungenschaften unserer Kultur, den technolo-

gischen Fortschritt und Wandel. Grundlagenforschung fördert das kritische Denken, erweitert den Horizont und fördert Kreativität und Innovationskraft. Die Basis jeder „Innovation“ bleibt die Erforschung der Grundlagen. Das Vertrackte an der Grundlagenforschung ist: Wirkliche Neuerungen, „disruptive Innovationen“, lassen sich nicht planen. Weil in dieser Forschung technologische Herausforderungen bestehen, die erst einmal gelöst werden müssen. Fast 50 Jahre hat es gedauert, um von der theoretischen Vorhersage des Brout-Englert-Higgs-Feldes bis zur experimentellen Verifikation, bis zur Entdeckung des Higgs-Bosons zu kommen. Aber warum konnten Brout, Englert und Higgs schon 1964 ihre Vorhersage erstellen? Offenbar beinhalten die Konzepte unserer Theorien ein tieferes Verständnis der Natur und nicht nur eine bloße Beschreibung der Phänomene. Die Entdeckung des Higgs-Bosons hat aber nicht nur die wissenschaftliche Welt bewegt, sie hat sehr viele Menschen fasziniert und tut dies heute, mehr als zehn Jahre danach, immer noch. Warum? Weil es hochinteressant ist, durch Forschung in Bereiche vorzudringen, die die Grundlage für unser Wissen und unser Dasein bilden. Hier berühren sich an vielen Stellen Wissen und Glauben, Wissenschaft und Philosophie. Das ist wirklich spannend. Vor ein paar Jahren wurden in

VIII

Großbritannien Studierende befragt, was sie zur Physik gebracht hat – und es waren genau diese großen, zum Teil esoterischen Fragen.

unterschiedlichen Disziplinen. Internationale Zusammenarbeit ist ein wichtiger Schlüssel zum Fortschritt (nicht nur) in der Wissenschaft.

Grundlagenforschung bedeutet aber nicht „nur“ Wissensgewinn, sondern bewirkt auch sehr viel Technologieentwicklung. Dies ist der Grundsatz des „virtuous circle“, vom positiven, sich selbst verstärkenden Kreislauf: Grundlagenforschung – Innovationstreiber – angewandte Forschung – Innovationstreiber – weiterführende Grundlagenforschung. Dieser Kreislauf ist unerlässlich, um etwa in der Medizin, der Informationstechnologie oder der nachhaltigen Energieversorgung zu neuen Ansätzen und Lösungen zu gelangen. Dieser Kreislauf braucht aber Zeit, manchmal sehr viel Zeit.

Aber war es das jetzt? Kann die Teilchenphysik damit als abgeschlossen gelten? Nein. Man kann Theorien immer nur in einem bestimmten Rahmen verifizieren. Ob das Standardmodell auch bei sehr viel höheren Energien, als wir sie überschauen können, gültig ist, wird sich erst in der Zukunft erweisen. Denn wie schon Alexander von Humboldt wusste: „Jedes Naturgesetz, das sich dem Beobachter offenbart, lässt auf ein höheres, noch unerkanntes schließen.“ Oder in anderen Worten: Mit jedem Erkenntnisgewinn eröffnen sich für uns neue Rätsel. Und genau das fasziniert mich persönlich so an der Forschung, insbesondere an der Teilchenphysik. Ja, wir haben das Standardmodell experimentell bestätigt. Ein Riesenerfolg. Es bleiben aber viele Fragen offen, die es nicht beantworten kann. Es beschreibt unter anderem nicht mal 5 % der Materie des Universums. Es wird höchste Zeit, dass wir die restlichen 95 % endlich verstehen lernen, dass wir tiefer in die Erforschung des Unsichtbaren vorstoßen. Die Suche nach Antworten auf fundamentale Fragen zu unserem Universum, seinen Ursprung und seine Entwicklung, bringt Forschungszweige und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zusammen.

Zurück zum Higgs-Boson: Auch nachdem die technologischen Herausforderungen bewältigt waren, brauchte es noch einige Jahre für Datennahme und Analyse, bis sich ein Signal, das die Existenz des Higgs-Bosons beweist, langsam aus den vielen Daten der LHC-Experimente herausschälte. Als die Analyse der Messungen die Nachweisschwelle überschritten hatte, war klar, dass wir tatsächlich verkünden konnten, dass wir dem letzten Baustein des Standardmodells der Teilchenphysik auf die Spur gekommen waren. Dieser Erfolg wäre nicht möglich gewesen ohne die jahrelange Zusammenarbeit der vielen Beteiligten aus den Bereichen Bevor man solche große Fragen angehen kann, muss Technik, Ingenieurwissenschaften und Physik, aus aller man natürlich die Grundlagen der Physik beherrschen. Welt, aus verschiedenen Kulturen und vielen weiteren Hier schlägt das Buch die Brücke von den Grundlagen bis hin zu den vielen noch offenen Fragen. Auch wer nicht viel mathematischen Hintergrund hat, sich aber eingehender mit der Thematik auseinandersetzen möchte, ist hier richtig. Es lohnt sich, sich mit Teilchenphysik zu beschäftigen, es lohnt sich, in diesem Buch zu stöbern. Teilchenphysik ist faszinierend. Prof. Dr. Rolf-Dieter Heuer, CERN Director General 2009–2015

IX

Über dieses Buch Das Buch, das Sie hier in Händen halten, stellt die vielen verschiedenen Aspekte der Kern- und Teilchenphysik auf rund 150 Doppelseiten vor. Hierbei haben wir uns nicht nur auf die Präsentation der Ergebnisse beschränkt, sondern zeigen auch die Methoden, Möglichkeiten und Grenzen der modernen Forschung. Wir befinden uns in einer vielfältigen und teils hoch spezialisierten Forschungslandschaft. Daher haben sich notwendigerweise Teilgebiete der Physik herausgebildet, die sich den verschiedenen Aufgaben widmen. Viele experimentelle Untersuchungen brauchen Teilchenbeschleuniger, also Anlagen, die Teilchen auf hohe Energie beschleunigen. Diese werden von Forschenden der Beschleunigerphysik in Zusammenarbeit mit Ingenieurinnen und Ingenieuren entwickelt und betrieben. Ein Beschleuniger selbst liefert aber noch keine für die Teilchenphysik verwertbaren Daten – dazu sind dedizierte Messinstrumente nötig, die in der Experimentalphysik erforscht, aufgebaut und betrieben werden. Schließlich widmet sich die theoretische Physik der Entwicklung mathematischer Strukturen, mit denen wir die Natur beschreiben und erklären. Sie versucht so einerseits, die in verschiedenen Messungen gewonnenen Daten mathematisch zu erfassen und andererseits, Vorhersagen abzuleiten.

sche Physiker, wobei ersterer seinen Schwerpunkt auf die Hochenergiephysik und die Physik jenseits des Standardmodells legt und letzterer auf die Physik innerhalb des Standardmodells bei kleinen und mittleren Energien mit Fokus auf die starke Wechselwirkung. Kristin Riebe ist Astrophysikerin und widmet sich der Vermittlung von Wissen in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit sowie der Gestaltung von Webseiten, Grafiken, Visualisierungen – und manchmal auch Büchern. Wir haben uns in diesem Buch bewusst dagegen entschieden, uns am historischen Ablauf der Entwicklungen zu orientieren. Stattdessen präsentieren wir vor allem den heutigen Erkenntnisstand. Das Buch ist modular aufgebaut: In einem Artikel auf je einer Doppelseite wird das in Titel und Untertitel genannte Thema möglichst umfassend diskutiert, ergänzt durch Querverweise auf andere Doppelseiten, die entweder Grundlagen legen oder bestimmte Aspekte vertiefen. Das heißt auch, dass einzelne Artikel für sich allein gelesen werden können, und dass dasselbe Thema aus unterschiedlichen Blickwinkeln und mit unterschiedlichen Vertiefungsgraden im Buch mehrmals vorkommen kann.

Wir hoffen, dass Sie dies als bereichernd wahrnehmen. Unser Ziel ist es, auf Um diese Vielschichtigkeit abzubilden, bediese Weise Einblicke in unser extrem spansteht das Autorenteam aus Forschenden der nendes Forschungsgebiet zu vermitteln. Dabei Physik mit sehr unterschiedlichen wissenschaftlichen war uns sehr daran gelegen, die Sachverhalte zwar korHintergründen: Philip Bechtle und Florian Bernloch- rekt darzustellen, dabei jedoch den eigentlich notwenner arbeiten als Experimentalphysiker in der Hoch- digen mathematischen Apparat weitgehend außen vor energiephysik. Jörg Pretz hat seinen Fokus auf niedrige zu lassen. Ob uns dieser Spagat gelungen ist, können Energien gelegt und beschäftigt sich auch mit Fragen nur Sie selbst beurteilen – über ein entsprechendes der Beschleunigerphysik. Der Forschungsschwerpunkt Feedback und konstruktive Kritik würden wir uns sehr von Josef Jochum ist die experimentelle Astroteilchen- freuen.1 physik mit einem Hauptaugenmerk auf Neutrinos. Herbi Dreiner und Christoph Hanhart sind theoreti1

[email protected]

X

Das Buch ist in folgende Themenbereiche aufgeteilt: Kapitel 1 bietet eine allgemeine Übersicht und beschreibt, wovon dieses Buch handelt. Darauf aufbauend legt Kapitel 2 allgemeine konzeptionelle Grundlagen, die in den Kapiteln 3 und 4 in experimentelle und theoretische Richtung vertieft werden. In den Kapiteln 5 und 6 beschreiben wir, mit welchen konkreten Apparaturen und Methoden das Unsichtbare in der subatomaren Welt sichtbar gemacht werden kann. In Kapitel 7 und 8 stellen wir die Elemente das „Standardmodells“ vor, der besten bekannten Theorie der fundamentalen Bausteine und Wechselwirkungen, um dann in Kapitel 9 zu zeigen, wie gut diese Theorie bereits experimentell bestätigt ist. Allerdings gibt es immer noch offene Fragen. Diesen haben wir Kapitel 10 gewidmet. Die daraus abgeleiteten Suchen nach möglicher Physik jenseits des Standardmodells stellen wir in Kapitel 11 vor. Auch aus Astronomie und Kosmologie lernen wir einiges über die Teilchenphysik. Mit dieser spannenden Forschung und einer Beschreibung der Verbindung des Größten mit dem Kleinsten schließen wir das Buch in Kapitel 12.

wird der Satz zugeschrieben „Man sollte die Dinge so einfach wie möglich erklären – aber nicht einfacher.“ Weil wir einen recht umfassenden Überblick über die Kern- und Teilchenphysik bieten wollen, konnten wir die komplexeren Themen nicht einfach weglassen. Daher sind notwendigerweise einige Artikel keine leichte Kost, worauf wir manchmal auch explizit hinweisen. Wir möchten Sie ermutigen, trotzdem weiterzulesen. Auch ohne jeden Artikel im Detail verstanden zu haben, sollten sich die späteren Inhalte, aufgrund der modularen Struktur des Buches, größtenteils unabhängig von anderen erschließen. Nun bleibt uns also nur noch Ihnen bei der Lektüre dieses Buches viel Spaß zu wünschen. Hoffentlich gelingt es uns, Ihre Neugierde in vielen Aspekten zu befriedigen und Ihr Interesse für das zu wecken, was es noch zu entdecken gibt.

Philip Bechtle, Florian Bernlochner, Es ist nicht notwendig, dem Aufbau des Buches zu Herbi Dreiner, folgen, sondern Sie können sich natürlich auch ge- Christoph Hanhart, mäß Ihren Interessen entlang unterschiedlicher Linien Josef Jochum, durch das Buch bewegen. Hierbei kann Ihnen das aus- Jörg Pretz führliche Glossar am Ende des Buches Hilfestellung und leisten, in dem wiederholt auftauchende Begriffe und Kristin Riebe Konzepte knapp beschrieben werden. Albert Einstein

XI

Inhalt

Vorwort .............................................................................................................................................................................................. VII Über dieses Buch............................................................................................................................................................................. IX Inhalt .................................................................................................................................................................................................... XI

1 Die Welt der Teilchen ....................................................................................................................................................................I Eine weltweite Reise in die Teilchenphysik – Bildhafte Eindrücke von Teilchendetektoren ............................... 2 Was ist Teilchenphysik – Eine fundamentale Wissenschaft im Wechselspiel mit anderen................................. 4 Ursprünge der Teilchenphysik – Wie und wer? ................................................................................................... 6 Längenskalen und Einheiten – Von riesig groß bis zu winzig klein – alles Physik ............................................... 8 Die Elementarteilchen – Die Bausteine der Welt............................................................................................... 10 Die vier Grundkräfte der Natur – Vier sehr ungleiche Partner .......................................................................... 12 Das Quarkmodell – Wie Quarks das Teilchenchaos zähmten .......................................................................... 14 Was ist eigentlich ein Elementarteilchen? – Gibt es immer kleinere Bausteine? ............................................... 16 Was ist Antimaterie? – Science Fiction oder Realität? ....................................................................................... 18 Detektoren im Alltag – Einen Teilchendetektor tragen wir im Kopf ................................................................. 20 Wie macht die Physik Fortschritte? – Eine komplizierte Suche nach einfachen Antworten ............................. 22 Experimentelle Forschung in der Teilchenphysik – Verschiedene Experimente für verschiedene Fragestellungen ...................................................................................................................................................... 24 Hintergründe zur wissenschaftlichen Methode – Der Unterschied zwischen „Wahrheit“ und „Wissen“....... 26 Vorstellung und Realität – Verschiedene Beschreibungen funktionieren .......................................................... 28 2 Allgemeine Grundlagen .......................................................................................................................................................... 31 Energie und Leistung – Kilowattstunden, Elektronenvolt, ... wie hängt das alles zusammen? ......................... 32 Spezielle Relativitätstheorie – Wie schnell ist schnell?....................................................................................... 34 Kinematik – Impuls und Drehimpuls ............................................................................................................... 36 Beschleunigung und Strahlung – Wer beschleunigt, der strahlt ........................................................................ 38 Grundkonzepte der Quantenmechanik – Von Pfeilen und Elektronen ............................................................. 40 Zufall und Vorhersage – Quantenmechanik at work ........................................................................................ 42

XII

Spin – Eine eigentümliche Größe der Quantenmechanik ................................................................................. 44 Das Prinzip von Streuexperimenten – Atomares Billard................................................................................... 46 Feynman-Diagramme – Grafische Darstellungen von Wechselwirkungen ....................................................... 48 Produktion, Zerstörung und Zerfall von Teilchen – Wie Teilchen aus Teilchen entstehen können .................. 50 Resonanzen – Wenn alles zusammenpasst........................................................................................................ 52 Über die Reichweite von Wechselwirkungen – Von intergalaktischen Abständen zur Größe von Atomkernen ............................................................................................................................................................................... 54 Symmetrien – Schön und praktisch ................................................................................................................... 56 Spontane Symmetriebrechung – Die versteckte Symmetrie ............................................................................. 58 3 Experimentelle Grundlagen ................................................................................................................................................... 61 Wie funktioniert ein Beschleuniger? – Mit elektrischen Feldern zu hohen Energien ........................................ 62 Wechselwirkung zwischen Teilchen und Materie – Warum wir überhaupt Teilchen in Messgeräten nachweisen können ............................................................................................................................................... 64 Halbleiterdetektoren – Die Multitalente: von der Handykamera bis zum LHC............................................... 66 Gasbasierte Detektoren – Messen, wo gar kein Detektor zu sein scheint ......................................................... 68 Szintillatoren und Photomultiplier – Die großen Augen der Teilchenphysik.................................................... 70 Orts- und Impulsmessung – Woher kommen wir, wohin gehen wir: fundamentale Fragen auch für Teilchen 72 Energiemessung von Teilchen – Wie viele Kalorien isst der Detektor? ............................................................. 74 Signaturen von Teilchen – Fußabdrücke von Teilchen in den Detektoren ........................................................ 76 ˇ erenkov-Strahlung und Teilchenidentifikation – Schneller als Licht .............................................................. 78 C Statistik – Die mathematische Beschreibung von Zufall ................................................................................... 80 Messunsicherheiten – Jeder macht Fehler ......................................................................................................... 82 Simulationen in der Experimentalphysik – Welche Beobachtung wird wirklich vorhergesagt? ........................ 84 4 Theoretische Grundlagen ....................................................................................................................................................... 87 Anwendungen der speziellen Relativitätstheorie – Relativität im Teilchenphysikalltag .................................... 88 Fermionen und Bosonen – Die Basis nicht nur der Chemie ............................................................................. 90 Äußere und innere Symmetrien – Zur Schau gestellt oder versteckt? ............................................................... 92

XIII

Eichsymmetrien – Versteckte Symmetrien als Ursprung der Kräfte .................................................................. 94 Das Noether-Theorem – Symmetrien bedingen Erhaltungsgrößen ................................................................. 96 Feynman-Diagramme II – Eine Bastelanleitung................................................................................................ 98 Quantenfeldtheorie – Erzeugung und Vernichtung von Teilchen.................................................................... 100 Schleifen – Quantenmechanische Spezialeffekte ............................................................................................ 102 Renormierung – Die Zähmung der Unendlichkeit .......................................................................................... 104 Präzise Berechnung des nicht vollständig Lösbaren – Wie man trickreich der Natur ihre Geheimnisse entlockt ............................................................................................................................................................................. 106 Simulationen in der theoretischen Physik – Wie Computer das Unerreichbare erreichen ............................. 108

5 Detektoren und Beschleuniger ...........................................................................................................................................111 Der LHC-Beschleunigerkomplex am CERN – Von der Wasserstoffflasche bis zur Kollision ........................ 112 Strahlführung – Nur nicht auf die schiefe Bahn geraten .................................................................................. 114 Plasmabeschleunigung – Ein Beschleuniger, der auf einen Küchentisch passt ............................................... 116 Beschleuniger in der Medizin – Diagnose und Therapie ................................................................................ 118 Röntgenstrahlung – Das geht unter die Haut .................................................................................................. 120 Synchrotronstrahlung – Quellen besonderen Lichts ....................................................................................... 122 Typische Detektoren an Beschleunigern – Groß und Klein unter den Detektoren ........................................ 124 Große Detektoren tief im Berg – Die schwierige Jagd nach Neutrinos ........................................................... 126 Tieftemperaturdetektoren – Höchste Ansprüche bei tiefsten Temperaturen ................................................. 128 Flüssige Edelgase als Detektoren – Seltene Flüssigkeiten zur Suche nach seltenen Teilchen.......................... 130 Teilchenfallen – Eingesperrte Teilchen ............................................................................................................ 132 Positronen-Emissions-Tomographie – Nützliche Antimaterie-Vernichtung im Körperinneren .................... 134 Magnetresonanztomographie – Mit dem Spin ins Innere des Körpers blicken.............................................. 136 6 Grundlagen der Auswertung von Teilchenphysikmessungen ...............................................................................139 Trigger und Datenverarbeitung – Der Weg der Nadel im Heuhaufen vom Detektor auf die Festplatte ......... 140 Datenauswertung – Aus sehr vielen Informationen das Spannende herausfinden ......................................... 142 Identifikation der Teilchensorte über die Masse – Teilchen spielen „Wer bin ich?“ ....................................... 144

XIV

Die Bestimmung von Messunsicherheiten – Lieber besser messen als länger messen ................................... 146 Schlüsse ziehen aus Statistik – Wann ist etwas zu unwahrscheinlich, um wahr zu sein?................................. 148 Veröffentlichen, was es nicht gibt – Nichts zu finden ist ein wichtiges Ergebnis............................................. 150 Ein Beispiel für die Entdeckung eines Teilchens – ... anhand des Higgs-Bosons ............................................ 152 Was sind „Blinde Analysen“? – Der Placebo-Effekt bei Forschenden ............................................................ 154 Wie korrigiert man falsche Entdeckungen? – Korrekturverfahren in der Teilchenphysik ............................... 156 Neuronale Netzwerke und maschinelles Lernen – Mit Köpfchen zu neuen Erkenntnissen........................... 158 Die Erfindung des World Wide Web – Offene weltumspannende Wissenschaft für eine offene Gesellschaft ............................................................................................................................................................................. 160

7 Das Standardmodell der Elementarteilchenphysik ....................................................................................................163 Elektromagnetismus – Die alltägliche Kraft ..................................................................................................... 164 Die schwache Wechselwirkung – Verwandlung ist möglich ............................................................................ 166 Up, Down, Rechts und Links – Wer ist mit wem verwandt? ........................................................................... 168 Die unsichtbare Breite des Z-Bosons – Es gibt nur drei Neutrinos! ................................................................ 170 Spontane Symmetriebrechung im Standardmodell – Das Higgs-Boson als Spielverderber ........................... 172 Spontane Symmetriebrechung II – Woher kommt das Photon? ..................................................................... 174 Spontane Symmetriebrechung III – Was hat die bottom-Quark-Masse mit dem Higgs-Zerfall zu tun? ....... 176 Diskrete Symmetrien: P- und CP-Verletzung – Gespiegelt ist ganz was anderes........................................... 178 Der Pion-Zerfall – Links, rechts, schneller, langsamer: Das macht einen Unterschied .................................. 180 Der Weg zu sechs Quarks in drei Familien – Wer wechselwirkt mit wem? ..................................................... 182 Neutrinos – Die außergewöhnlichen Leichtgewichte unter den Elementarteilchen ....................................... 184 Neutrinooszillationen – Wankelmütige Neutrinos .......................................................................................... 186 8 Die Besonderheiten der starken Wechselwirkung ......................................................................................................189 Quantenchromodynamik – Von 1 nach 3: kleiner Unterschied mit großer Wirkung ...................................... 190 Confinement – Warum es keine freien Quarks gibt ......................................................................................... 192 Die Suche nach freien Quarks – Oder wie man sich von der Statistik täuschen lassen kann .......................... 194 Die laufende Kopplung – Ein Scheinriese?...................................................................................................... 196

XV

Die Struktur des Protons – Ein reichhaltiges Innenleben ................................................................................ 198 Quarkverteilungen im Proton – Mehr als nur drei Quarks .............................................................................. 200 Kann man Quarks und Gluonen sehen? – Das Unerreichbare wird sichtbar ................................................. 202 Woher kommt unsere Masse? – Verkehrte Welt? ............................................................................................. 204 Gitter-QCD – Der Supercomputer macht's möglich ...................................................................................... 206 Der Quarkmasseneffekt – Warum wir den Massenunterschieden der Quarks unsere Existenz verdanken ... 208 Von Nukleonen zu Kernen – Welch Vielfalt aus zwei Bausteinen ................................................................... 210 Die Karlsruher Nuklidkarte – Vom Tal der Stabilität ....................................................................................... 212 Exotische Zustände – Ein neuer Teilchenzoo? ................................................................................................ 214 Die 14C-Altersbestimmung – Archäologie mithilfe von Kernphysik ............................................................... 216 9 Der Triumph des Standardmodells und darüber hinaus .........................................................................................219 Die Entdeckung der neutralen Ströme – Der erste Durchbruch des Standardmodells .................................. 220 Die zufällige Entdeckung des J/𝜓  –  Der zweite Durchbruch des Standardmodells...................................... 222 Die Entdeckung von W- und Z-Boson – Von der Beobachtung eines Stroms zur Entdeckung eines Teilchens ............................................................................................................................................................................. 224 Entdeckung und Besonderheit des top-Quarks – Das schwerste bekannte Elementarteilchen ...................... 226 Warum ausgerechnet das Standardmodell? – Präzisionsphysik am LEP und Vorhersage des Higgs-Bosons 228 Die Entdeckung des Higgs-Bosons – Ultimativer Triumph des Standardmodells ......................................... 230 Ist es wirklich das Higgs-Boson? – Experimentelles Portrait eines Teilchens .................................................. 232 Präzisionsexperimente – 0, 001 159 652 ........................................................................................................... 234 Das Myon – Schweres Schwesterteilchen des Elektrons ................................................................................. 236 Überprüfung von Neutrinooszillationen – Eindrucksvolle Bestätigung einer Abweichung ............................ 238 Messung der Neutrinomasse – Kleinste Masse – größte Waage ..................................................................... 240 Die Verletzung der CP-Symmetrie in B-Mesonen – Leben wir im Spiegel oder davor? ................................ 242 Seltene Zerfälle von B-Mesonen – Winzige Hinweise auf große Neuigkeiten? .............................................. 244 Gestaltwandler unter sich – Von Charme, Schönheit und seltsamen Teilchen ............................................... 246 Die Vermessung des CKM-Dreiecks – Das große Treffen .............................................................................. 248 Die Hürden des Erfolgs – Worüber neue Theorien springen müssen ............................................................. 250

XVI

10 Die Grenzen des Standardmodells..................................................................................................................................253 Warum wir weitersuchen – Ungelöste Probleme im Standardmodell ............................................................ 254 Neutrinomassen – Warum so klein? ................................................................................................................ 256 GUT – Die große Vereinheitlichung ................................................................................................................ 258 Supersymmetrie – Wie viel Symmetrie ist möglich?........................................................................................ 260 Extra-Dimensionen – Vielleicht ist die Gravitation ja gar nicht so schwach ................................................... 262 Stringtheorie – Eine vibrierende Schnur als Vereinheitlichung ........................................................................ 264 Urknall – Das erste Teilchenlabor .................................................................................................................... 266 Dunkle Materie – Eine Herausforderung für die Elementarteilchenphysik .................................................... 268 Dark Sector: Dunkle Energie – Eine Herausforderung für die Kosmologie und Elementarteilchenphysik .... 270 Das starke CP-Problem – Wie Theoretiker Probleme wegwaschen................................................................ 272 Ist das Leben auf der Erde ein Zufall? – Verstehen wir, warum Leben entstehen konnte? .............................. 274 11 Die Suche nach Physik jenseits des Standardmodells ............................................................................................277 Ist das Neutrino sein eigenes Antiteilchen? – Die Suche nach dem neutrinolosen doppelten 𝛽-Zerfall ........ 278 Neue Teilchen am LHC – Suchen mit einer konkreten Idee ........................................................................... 280 Das unspezifische Unbekannte am LHC – Suchen ohne konkrete Idee ......................................................... 282 Zusätzliche Raumdimensionen am LHC – Wohin verschwindet die Gravitation? ........................................ 284 Das Rätsel der Dunklen Materie – Woher wissen wir, wonach wir suchen müssen? ...................................... 286 Direkte Suche nach der Dunklen Materie – Auf der Jagd nach unsichtbaren Teilchen .................................. 288 Materie und Antimaterie – Warum gibt es uns überhaupt? ............................................................................ 290 Teilchenphysik im Weltall – Hoch hinaus ....................................................................................................... 292 Die Suche nach elektrischen Dipolmomenten – Wo ist die Antimaterie geblieben? ...................................... 294 Die Suche nach Axionen – Zwei Fliegen mit einer Klappe ............................................................................. 296 Protonenzerfall – Lang lebe das Proton! .......................................................................................................... 298 Supernovae als Teilchenphysiklabore – Dramatische Ereignisse mit ungeahnten Fähigkeiten ....................... 300 12 Die Verbindung des Größten mit dem Kleinsten ......................................................................................................303 Baryogenese – Wieso gibt es (fast) keine Antimaterie im Universum?............................................................ 304 Nukleosynthese im Urknall – Helium, Neutrinos und die Materie-Antimaterie-Asymmetrie ...................... 306

XVII

Elemententstehung in Sternen – Wie war das mit dem Sternenstaub? ........................................................... 308 Kosmischer Mikrowellenhintergrund – Ein Blick ins frühe Universum und seine Zusammensetzung ......... 310 Das Größte und das Kleinste – Einfluss der Neutrinomasse auf die großräumige Struktur im Universum ... 312 Kosmische Strahlung – Teilchen aus dem All ................................................................................................. 314 Ultrahochenergetische kosmische Strahlung – Die Suche nach den kosmischen Hochleistungsbeschleunigern ............................................................................................................................................................................. 316 Multimessenger-Astronomie – Neue Blicke ins Teilchen-Universum ............................................................ 318 Neutrinos von der Sonne – Ein Blick ins Innere der Sonne............................................................................. 320 Die Entwicklung des Universums – Blick in die sehr ferne Zukunft ............................................................... 322

Lohnt sich das alles? ...................................................................................................................................................................325 Danksagung ...................................................................................................................................................................................327 Die Eigenschaften der Elementarteilchen – Übersicht und Tabellen..................................................................328 Glossar ..............................................................................................................................................................................................329 Bildnachweis ..................................................................................................................................................................................345 Index .................................................................................................................................................................................................352 Das Autorenteam .........................................................................................................................................................................360

Das ab dieser Seite beginnende Daumenkino zeigt, wie zwei Wasserstoffkerne (Protonen) miteinander kollidieren. Neben vielen anderen Teilchen wird dabei ein Higgs-Boson produziert, das schon nach kurzer Zeit in zwei Photonen zerfällt. Mehr zur Entdeckung des Higgs-Bosons erfahren Sie u. a. ab S. 230.



1 Die Welt der Teilchen Was ist das eigentlich, Teilchenphysik? Dieser Frage kann man sich von verschiedenen Seiten nähern: über die Objekte, die untersucht werden, die Fragen, die beantwortet werden sollen oder die Geräte, die benutzt werden. Auch kann man die Teilchenphysik in Abgrenzung zu anderen Naturwissenschaften betrachten – all diese verschiedenen Zugänge finden Sie in diesem Kapitel. Natürlich werden die ganz verschiedenen Aspekte der Teilchenphysik, die hier nur grob angerissen werden, im weiteren Verlauf des Buches wieder aufgegriffen und vertieft. Wir wollen dieses Kapitel als eine Einladung an Sie verstanden wissen, mit uns durch dieses Buch auf eine spannende Reise zu den tiefen Einsichten und den offenen Fragen der modernen Kern- und Teilchenphysik zu gehen.

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1 Die Welt der Teilchen

Eine weltweite Reise in die Teilchenphysik Bildhafte Eindrücke von Teilchendetektoren

Teilchenphysik ist ein weltumspannendes Forschungs- he (7), wo mit dem KATRIN-Experiment Neutrinos feld: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus () untersucht werden. Von Europa aus bringt uns sehr vielen Nationen arbeiten vereint, um unser Uni- das Daya-Bay-Experiment (Neutrinooszillationen ) versum und dessen Bausteine besser zu verstehen. Wie nach China (8) und in die geheimnisvolle Welt der nur diese Forschung funktioniert, ist der Inhalt dieses Bu- schwach wechselwirkenden Neutrinos. Diese und vieches. Bevor wir uns dem Inhalt zuwenden, sollen die les andere, wie zum Beispiel der mögliche Zerfall von Bilder auf dieser Seite einen Eindruck von der Vielfalt Wasserstoffkernen (GUT ), werden auch in Japan der Forschung in der Teilchenphysik vermitteln. am Super-Kamiokande-Experiment (9) erforscht. Das letzte Bild zeigt den Bau der Experimentierhalle des Die abgebildeten Experimente laden uns von West SABRE-Detektors, der in einer Goldmine in Australinach Ost auf eine Weltreise ein: angefangen beim Ba- en (10) nach Dunkler Materie () suchen wird. Bar Experiment am Stanford Linear Accelerator Center in der Nähe von San Francisco (1), welches die So wie die gezeigten Experimente die Welt umrunden, Asymmetrie zwischen Materie und Antimaterie (CP- laden die folgenden Kapitel zu einer Reise durch die Verletzung ) erforscht hat, zu einer BeschleunigerkaWelt der Teilchenvität am Fermilab in der Nähe von Chicago (2), mit physik ein. welcher das bisher schwerste Elementarteilchen entdeckt wurde (Entdeckung des top-Quarks ). Weiter geht es nach Argentinien in die KATRIN LHC SuperFermilab sprichwörtliche Pampa, wo das PierreBaBar Kamiokande Auger-Observatorium (3) inmitten von Daya-Bay Experiment Weidetieren hochenergetische Teilchen () aus dem Weltall erforscht. Von dort reisen wir zum Südpol, wo das H.E.S.S. IceCube-Experiment (4) (Detektoren Pierre Auger Observatorium tief im Berg ) kosmische Neutrinos unSABRE tersucht. Über das H.E.S.S.-Experiment (Multimessenger-Astronomie ) in Namibia im Süden Afrikas (5) geht es zurück auf die IceCube Nordhalbkugel nach Genf (6), wo am CERN 2012 das Higgs-Boson () entdeckt wurde. Anschließend Teilchenphysik ist ein weltumspannendes Forschungsfeld: reisen wir nach Deutschland, genauer nach Karlsru- Lage der abgebildeten Experimente.

Die Verletzung der CP-Symmetrie in B-Mesonen  S. 242 Entdeckung und Besonderheit des top-Quarks  S. 226 Ultrahochenergetische kosmische Strahlung  S. 316 Große Detektoren tief im Berg  S. 126 Multimessenger-Astronomie  S. 318

Eine weltweite Reise in die Teilchenphysik

1)

4)

3

7)

IceCube KATRIN 5) 8) BaBar/SLAC 2)

Daya-Bay 9)

Fermilab 3) H.E.S.S. 6)

Pierre-Auger-Observatorium

LHC/CERN

Super-Kamiokande 10)

SABRE

Mit 10 Teilchenphysikexperimenten um die Welt: von Kalifornien (oben links) nach Genf in die Schweiz (unten Mitte) über Deutschland (oben rechts) nach Australien (unten rechts)

Die Entdeckung des Higgs-Bosons  S. 230 Messung der Neutrinomasse  S. 240 Neutrinooszillationen  S. 186 GUT  S. 258 Dunkle Materie  S. 268

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1 Die Welt der Teilchen

Was ist Teilchenphysik

Eine fundamentale Wissenschaft im Wechselspiel mit anderen Auf einen Satz gebracht ist es das Ziel der Teilchenphysik, die fundamentalen Bausteine () der Natur und die Gesetze, nach denen sie miteinander wechselwirken (), zu finden. Die Suche ist nicht neu; das Wissen, das wir heute haben, dagegen schon: Mit zunehmend verfeinerten experimentellen und theoretischen Methoden sind viele Generationen von Forschenden immer tiefer in die Materie eingedrungen und haben der Natur immer fundamentalere Geheimnisse entlockt. Den gegenwärtigen Stand dieser spannenden Suche stellen wir in diesem Buch vor.

tersuchung. So sind unter anderem Kristalle Untersuchungsobjekte der Festkörperphysik. Moleküle und Atome werden in der Molekül- und Atomphysik untersucht – diese und vor allem deren Reaktionen untereinander sind natürlich auch Forschungsgegenstand der Chemie; und baut man damit komplexere Strukturen, bewegen wir uns im Bereich der Biologie. Die Wechselwirkung von Licht mit Materie ist Forschungsgegenstand der (Quanten-)Optik. Befasst man sich mit noch kleineren Objekten, den Atomkernen oder gar den Bausteinen ihrer Bausteine, den Quarks, dann befindet man sich in der Kern- oder Teilchenphysik. Die letzten Machen das nicht alle Naturwissenschaften? Ja, aber beiden Disziplinen haben einen großen Überlapp, und dennoch ist es möglich, die verschiedenen Bereiche wir wollen in diesem Buch nicht immer zwischen ihvoneinander abzugrenzen. Sehen wir uns dazu das nen unterscheiden. Spannend ist, dass sich die Physik Bild unten an. Hier werden Objekte sehr unterschied- des Allergrößten, die Astronomie oder gar die Kosmolicher Größe gezeigt und entsprechend befassen sich logie, und die Physik des Allerkleinsten, die Teilchenunterschiedliche Bereiche der Physik mit deren Un- physik, begegnen: Nur gemeinsam können sie die Ge-

Was findet man, wenn man einen Kristall in seine Bausteine zerlegt?

Die Elementarteilchen  S. 10 Die vier Grundkräfte der Natur  S. 12

Was ist Teilchenphysik

schichte und Zusammensetzung des Universums () sowie die elementare Struktur der Materie erkunden. Das entscheidende Element, das die Teilchenphysik von anderen Bereichen der Physik abgrenzt, ist also ihre Suche nach den fundamentalen Bausteinen und welche Kräfte zwischen ihnen wirken – und natürlich auch, wie daraus die uns umgebende Materie entsteht.

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gierte und hochqualifizierte Technikerinnen und Techniker ihren wertvollen Beitrag zu diesem spannenden Bereich der Grundlagenforschung. Die speziellen Momente in dieser Art der Forschung entstehen, wenn ein Puzzlestück auf seinen Platz rückt und den Blick auf größere Zusammenhänge erlaubt, die einem vorher verschlossen waren; eben ähnlich dem Kriminalisten, dem auf einmal aufgeht, wie all die Hinweise auf die Eine hilfreiche Analogie zum Vorgehen der Teilchen- Lösung des Falles weisen. Aber an dem Punkt geht physik ist der Indizien-Beweis in der Kriminologie: Wir die Grundlagenforschung weiter: Mindestens genausehen, was vorgefallen ist (z. B. dass es im Universum so aufregend ist es, wenn eine Vorhersage, an der man fast keine Antimaterie () gibt, obwohl im Urknall ei- mitgearbeitet hat, experimentell bestätigt wird. Es sind gentlich Materie und Antimaterie in nahezu gleicher diese Momente, die einen Beruf in der Teilchenphysik Zahl entstanden sein sollten) und versuchen zu ergrün- so besonders, so spannend machen. den, wie es dazu gekommen sein kann. Das Ermittlungsteam der Teilchenphysik hat viele beteiligte Grup- In diesem Buch werden wir die verschiedenen Bereipen: die Forschenden der Experimentalphysik, che der Kern- und Teilchenphysik vorstellen die Detektoren entwickeln, bauen und und erzählen, wie sie ineinandergreibetreiben, Beweise einsammeln und fen und sich ergänzen. Vor allem Hypothesen testen; die der theoaber wollen wir berichten, wo wir retischen Physik, die versuchen, mit der Teilchenphysik stehen: entweder für die BeobachWelch wunderbaren Schatz, tungen ein beschreibendes welch fantastische kulturelle mathematisches Modell zu Errungenschaft das sogefinden oder eine bestehennannte Standardmodell de Theorie zu höherer Geder Elementarteilchenphynauigkeit auszuarbeiten, um sik darstellt, wie erfolgreich der Beobachtung gerecht zu es ist – aber auch, wo es an werden; und nicht zuletzt die seine Grenzen stößt, was es Forschenden der Beschleuninicht erklären kann und mit gerphysik, die all die Untersuwelchen Methoden man der chungen erst möglich machen, Natur zu entlocken versucht, indem sie die notwendigen Teilwie eine mögliche noch fundachenstrahlen der passenden mentalere Theorie der Welt Energie bereitstellen. Auch Die Entdeckung des Higgs-Bosons – eine enge Zusammen- aussehen kann. leisten jede Menge enga- arbeit aus Theorie, Beschleuniger- und Experimentalphysik

Die Entwicklung des Universums  S. 322 Was ist Antimaterie?  S. 18

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1 Die Welt der Teilchen

Ursprünge der Teilchenphysik Wie und wer?

Als Anfang der modernen Teilchenphysik kann man die Entdeckung des Elektrons durch Joseph J. Thompson im Jahre 1897 betrachten. Er experimentierte mit einer Kathodenstrahlröhre, wie sie in den Bildern gezeigt ist. Dies ist ein kleiner Beschleuniger, ähnlich wie er früher in Fernsehgeräten eingebaut war.

1911 entdeckten Ernest Rutherford, Hans Geiger und Ernest Marsden den Atomkern und 1932 James Chadwick das Neutron, jeweils mithilfe von Streuexperimenten. Damit waren die Bausteine der Atome bestimmt.

Henri Becquerel und Marie Curie entdeckten 1896 die Radioaktivität, die 𝛼-, 𝛽- und 𝛾-Strahlung. Die Die Funktion kann man anhand der Zeichnung erklä- 𝛼-Strahlen stellten sich als Heliumkerne heraus und, ren. Am Punkt C wird ein Draht auf negativem Potenti- wie wir heute wissen, ist der Prozess durch die starke al erhitzt, dadurch treten Elektronen aus. Diese werden Wechselwirkung bestimmt. 𝛽 −-Strahlung besteht aus zur Anode A (auf positivem Potential) beschleunigt energetischen Elektronen, der 𝛽-Zerfall ist durch die und anschließend durch die auf Erde gelegte Blende B schwache Wechselwirkung bestimmt. Die 𝛾-Strahlung fokussiert. Im elektrischen Feld zwischen den Platten besteht aus energetischen Lichtteilchen, den Photonen, (D, E) werden sie abgelenkt, bevor sie rechts auf den die Albert Einstein 1905 als Quanten der elektromagBeobachtungsschirm treffen. Durch die Ablenkung im netischen Kraft (QED) einführte. elektrischen Feld kann man das Verhältnis von elektrischer Ladung zur Masse der Teilchen (q /m) bestimmen. Dieses war immer gleich, für beliebiges Beschleunigungspotential und beliebigem Ablenkungsfeld, was für ein Elementarteilchen sprach.

Auf ähnliche Weise hatte Eugen Goldstein bereits 1886 ionisierte Gasatome, darunter auch Wasserstoff (H+), in einer Anodenstrahlröhre untersucht. Er beobachtete viele verschiedene Werte von q /m, und erst sehr viel später (1898) wurde das Teilchen mit dem größten Verhältnis von q/m von Wilhelm Wien als Proton identifiziert. Nachbau der Kathodenstrahlröhre von J. J. Thompson (oben) und Originalzeichnung der Kathodenstrahlröhre von J. J. Thompson (unten). In der Glasröhre im Foto fliegen die Elektronen von rechts nach links; in der Zeichnung umgekehrt.

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Eine sehr gute Geschichte der Elementarteilchenphysik von den Anfängen bis 1950 ist das Buch von A. Pais Inward Bound, Oxford University Press (nur auf Englisch).

Von Nukleonen zu Kernen  S. 210 Das Noether-Theorem  S. 96, Symmetrien  S. 56 Diskrete Symmetrien: P- und CP-Verletzung  S. 178

Ursprünge der Teilchenphysik

Somit gab es schon 1896 erste Hinweise auf die drei grundlegenden Kräfte des Standardmodells der Teilchenphysik, sowie ab 1905 Hinweise, dass sie quantisiert sind, also durch Austauschteilchen vermittelt werden.1 Dann wurde 1936 das erste Teilchen jenseits unserer gewöhnlichen Materie in kosmischen Strahlen entdeckt, das Myon, und man konnte wirklich nur mit dem Physiker Isidor Rabi fragen: „Wer hat das denn bestellt?“ Die Antwort wissen wir bis heute nicht. Viele der Physikerinnen und Physiker, die zu dieser Entwicklung beigetragen haben, sind allgemein bekannt, so wie Marie Curie und ihre Mitentdeckung der Radioaktivität, Albert Einstein und seine Idee der Relativität, Niels Bohr und sein Atommodell, oder Erwin Schrödinger und seine Katze. In der Würdigung der Entwicklung des Standardmodells der Elementarteilchenphysik wurden viele Nobelpreise vergeben. Wir wollen aber nicht verhehlen, dass die öffentliche Würdigung des Beitrags von Wissenschaftlerinnen zu diesen Entwicklungen in der Vergangenheit leider oft unterrepräsentiert war. Daher soll an dieser Stelle besonders auf wichtige historische und aktuelle Beiträge von Frauen in den letzten 125 Jahren hingewiesen werden. Sie haben es geschafft, trotz widriger Umstände2 außerordentliche Beiträge zu liefern, die oft nicht entsprechend gewürdigt oder öffentlich beachtet wurden. Exemplarisch nennen wir hier neun Frauen, deren Beiträge auch direkt relevant für dieses Buch sind:

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Lise Meitner (1878–1968) entdeckte mehrere Kernisotope (). Sie ist die Mitentdeckerin der Kernspaltung und lieferte die erste physikalische Erklärung dafür. Emmy Noether (1882–1935) war eine mathematische Physikerin, die den grundlegenden Zusammenhang zwischen Symmetrien und Erhaltungsgrößen () fand. Maria Goeppert Mayer (1906–1972) lieferte entscheidende Beiträge zum Verständnis der Kernstruktur und erhielt dafür 1963 den Nobelpreis. Chien-Shiung Wu (1912–1997) entdeckte 1956 experimentell die Paritätsverletzung (). Vera Rubin (1928–2016) führte Messungen der Rotationskurven in Galaxien durch, was ein entscheidender Beitrag zur Entdeckung der Dunklen Materie () war. Helen Edwards (1936 — 2016) machte entscheidende Beiträge zu supraleitender Beschleunigertechnologie und ermöglichte so Beschleuniger wie das Tevatron und den LHC. Helen Quinn (1943– ) machte entscheidende Vorschläge zum Verständnis der CP-Symmetrie in der starken Wechselwirkung () und trug zu den großen Vereinheitlichungstheorien () bei.

Fabiola Gianotti (1969– ) war Leiterin (Sprecherin) des ATLAS-Experiments am LHC, als das Higgs-Boson () 2012 entdeckt wurde. 2016 wurde sie die erste Frau Marie Curie (1867–1934) hat die Radioaktivität mitals Directrice Géentdeckt und grundlegende Beiträge zum Verständnis nérale des CERNs. geleistet. Sie war die erste Person, die zwei Nobelpreise (Physik: 1903, Chemie: 1911) in den Naturwissenschaften erhielt. Fabiola Gianotti am CERN

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Elsa Neumann wurde 1899 als erste Frau in Deutschland in Physik promoviert (Berliner Universität). Annette Zippelius wurde 1988 (!) die erste Lehrstuhlinhaberin für Physik (Universität Göttingen). Dunkle Materie  S. 268 Das starke CP-Problem  S. 272 und GUT  S. 258 Die Entdeckung des Higgs-Bosons  S. 230

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1 Die Welt der Teilchen

Längenskalen und Einheiten Von riesig groß bis zu winzig klein – alles Physik

In diesem Buch spielen jede Menge unterschiedliche Längenskalen eine Rolle: Da gibt es zum einen die gigantische Ausdehnung des Universums, der Galaxien und Planetensysteme, die wir durch einen Blick in den Nachthimmel nur erahnen können. Andererseits gibt es die Objekte unseres Alltags: von kilometerhohen Gebirgen über biologische und chemische Abläufe, die durch die typische Größe von Atomen charakterisiert sind, bis hin zu subatomaren Prozessen im Atomkern. Wie in der Abbildung angedeutet, dominieren auf den verschiedenen Skalen unterschiedliche Kräfte, die zu entsprechend unterschiedlichen Phänomenen führen.

Strukturbildend in Planetensystemen, Galaxien und dem Universum ist die Schwerkraft oder Gravitation, die mit großem Abstand schwächste aller Kräfte. Sie hat als einzige eine unendliche Reichweite (und warum das so ist, ist ziemlich spannend und wird im Artikel zur Reichweite () beschrieben). Die Abläufe um uns herum werden durch den stärkeren, aber wegen der Abschirmung durch unterschiedliche Ladungen kurzreichweitigeren Elektromagnetismus bestimmt. Er sorgt für die Struktur der Atomhüllen, molekulare Bindungen, aber auch die Strukturen von festen Körpern und so ziemlich allen Vorgängen, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen können und die nicht von der Schwerkraft herbeigeführt werden. Die starke Wechselwirkung ist noch deutlich stärker und hält nicht nur Protonen und Schwerkraft Schwe Neutronen in Atomkernen zusammen, sondern auch deren Bausteine, die Quarks. Die schwache Wechselwirkung hingegen

EEl kt omagnetis Elektro Elektromagnetismus Starke Wechs Wechselwirkung

Verschiedene Längen- und Energieskalen, die in der modernen Physik eine Rolle spielen, sowie die jeweiligen strukturbildenden Wechselwirkungen. Die schwache Wechselwirkung trägt nicht zur Strukturbildung bei und erscheint daher nicht im Bild.

Über die Reichweite von Wechselwirkungen  S. 54

Längenskalen und Einheiten

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ist sehr schwach und zeigt sich vor allem in radioakti- kop schnell nicht mehr aus. Hier kann man jedoch den ven Zerfällen wie dem 𝛽-Zerfall des Neutrons. Zusammenhang zwischen der quantenmechanischen Wellenlänge und dem Impuls einer Sonde nutzen Die Stärke einer Wechselwirkung und ihre Reichweite (Quantenmechanik ): Je größer die Energie und dabestimmen die Größe der Strukturen, die durch sie mit der Impuls, desto kleiner die Wellenlänge und soentstehen können. Da die Schwerkraft eine unendliche mit auch das Objekt, dass man noch „sehen“ kann. Ein Reichweite hat und ihre Stärke mit der Masse der be- Elektronenmikroskop erlaubt auf diese Weise Einblicke teiligten Objekte wächst, erschafft sie Strukturen, die auf Atomebene. Will man jedoch noch genauer hinseim wahrsten Sinne des Wortes gigantisch sind. Aus hen, so muss man die Wellenlänge der Sonde weiter der eigenen Erfahrung mit dem Elektromagnetismus verringern. Dazu benötigt man Beschleuniger (), mit wissen wir alle, dass z. B. handelsübliche Magnete auf immer größerer Energie. eine Entfernung von wenigen Zentimetern aufeinander wirken. Ein in der Ausdehnung deutlich größerer Natürlich benutzen Forschende, die sich mit den sehr Magnet ist die Erde, deren Magnetfeld sowohl Kom- verschiedenen Systemen befassen, unterschiedliche passnadeln bewegt als auch die Erde vor dem Schauer Einheiten. Innerhalb unserer Galaxis ist z. B. das Lichtgeladener Teilchen aus dem All schützt. Spannend für jahr eine nützliche Längenskala, also die Strecke, die das dieses Buch wird es mit der Wirkung des Elektromag- Licht in einem Jahr zurücklegt. Das sind etwa 1016 m. netismus auf atomarer Ebene mit typischen Ausdeh- Im Alltag sind wir an Kilometer, Meter und Zentimeter nungen von 10 −10 m. Die starke Wechselwirkung ist auf gewohnt – welche Einheit wir benutzen, hängt davon subatomarer Ebene relevant, also innerhalb von Atom- ab, wovon wir sprechen: Für die Entfernung Hamburgkernen, 10 −15 m. Auf noch kleineren Skalen wirkt die München benutzen wir Kilometer, für die Dicke einer schwache Wechselwirkung. Sie ist mit einer Reichweite Schraube Millimeter. Atome haben eine Ausdehnung von 10 −18 m so schwach und kurzreichweitig, dass sie von 10 −10 m – diese Längenskala wird Angström, Å, genicht zur Strukturbildung beiträgt. nannt. Atomkerne haben eine Größe von 10 −15 m – die Längenskala heißt Fermi oder Femtometer, mit dem Wie in der Abbildung dargestellt, beschäftigt sich die Symbol „fm“. moderne Physik mit Längenskalen, die über 30 Größenordnungen umfassen. Je weiter man sich auf der Entsprechendes gilt auch für Massen (m) und EnerAbbildung von den Objekten des Alltags entfernt, gien (E). Da nach Einstein E = mc 2 () gilt, mit der desto größer werden die Geräte, die man zu deren Be- Lichtgeschwindigkeit c, wird in der Teilchenphysik trachtung braucht. Der Grund hierfür liegt darin, dass typischerweise nicht zwischen diesen beiden Größen die Auflösung gesteigert werden muss. Die Astrono- unterschieden. So hat z. B. ein Proton eine Masse von mie nutzt dazu riesige Teleskope oder schaltet sogar 1,67 · 10 −27 kg = 938 MeV/c 2 = 938 · 106 eV/c 2, wobei viele Teleskope zusammen, um tief ins All schauen zu das Elektronenvolt (eV) die Energie ist, die ein Elektron können. Will man sich andererseits ein Bild von sehr nach Durchlaufen eines elektrischen Potentials von eikleinen Objekten machen, reicht ein optisches Mikros- nem Volt gewinnt.

Grundkonzepte der Quantenmechanik  S. 40 Wie funktioniert ein Beschleuniger?  S. 62 E = mc2: Spezielle Relativitätstheorie  S. 34 Energie und Leistung  S. 32

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1 Die Welt der Teilchen

Die Elementarteilchen Die Bausteine der Welt

Elementarteilchen () werden als elementar, also punktförmig und nicht zusammengesetzt, angenommen. Sie bilden nach unserem gegenwärtigen Verständnis die fundamentalen Bausteine der Natur. Obwohl alles um uns herum und auch wir selbst eine faszinierende Vielfalt zeigen, genügen drei Bausteine für diese Komplexität: das up-Quark, das down-Quark und das Elektron. Diese Quarks bilden in der Kombi-

nation up-up-down das Proton und der Kombination up-down-down das Neutron. Aus diesen setzen sich die Kerne der Atome zusammen (), deren Hüllen die Elektronen bilden. Darüber hinaus entstehen in Zerfällen, wie dem Neutron-𝛽-Zerfall, noch Elektron-Antineutrinos, und es gibt auch Atomkerne, in denen gebundene Protonen in gebundene Neutronen zerfallen, wobei die Antiteilchen von Elektron und Elektron-Antineutrino, das Positron und das Elektron-Neutrino, entstehen. Natürlich haben auch Proton und Neutron Antiteilchen; diese treten zwar nicht signifikant in der Natur auf, können aber in Beschleunigern erzeugt werden. Die in diesem Artikel benannten Elementarteilchen bilden die sogenannte erste Familie (im Bild links die Schublade „I – leicht“). Es hat sich gezeigt, dass alle Mitglieder der Familie notwendig sind, damit die Theorie mathematisch konsistent ist. Die Anzahl der Familien ist durch die Theorie nicht festgelegt. Die Eigenschaften der Mitglieder der verschiedenen Familien sind in der ersten Tabelle () am Ende des Buches und im Bild auf der rechten Seite aufgelistet.

Die Bausteine der Materie und ihre Wechselwirkungen

Was ist eigentlich ein Elementarteilchen?  S. 16 Von Nukleonen zu Kernen  S. 210 Tabellen: Die Eigenschaften der Elementarteilchen  S. 328

Beschleunigerexperimente haben gezeigt, dass es neben der gerade beschriebenen ersten Familie noch zwei weitere gibt: Der zweiten gehören strange- und

Die Elementarteilchen

charm-Quark sowie das Myon und sein Neutrino an, der dritten bottom- und top-Quark und das Tauon mit seinem Neutrino. Heute wissen wir, dass es keine weitere Familie gibt. Warum es drei sind, wissen wir nicht.

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Gluonen, die selbst die starken Ladungen tragen, und zwar in Kombinationen aus den drei Ladungen (rot (r), grün (g), blau (b)) und ihren Antiladungen (r̄, ḡ, b̄ ). Ihre Eigenschaften sind in der zweiten Tabelle am Ende des Buches zusammengefasst. Obwohl die Gravitation noch nicht Teil des Standardmodells ist, wird ihr trotzdem ein Austauschteilchen, das Graviton zugeschrieben, auch wenn es noch nicht entdeckt ist. Schließlich gibt es noch das Higgs-Boson (). Seine Rolle im Standardmodell ist es, den Elementarteilchen ihre Massen zu geben. Es ist das einzige spinlose () Elementarteilchen und ist als Letztes der Bausteine des Standardmodells 2012 entdeckt worden.

Masse [MeV/c2]

Die Massen der Elementarteilchen sind im Bild unten rechts dargestellt. Sie werden nicht vom Standardmodell vorhergesagt, sondern sind Parameter des Modells, die aus Messwerten bestimmt werden müssen. Es soll hierbei nicht unerwähnt bleiben, dass, da es Quarks nur eingeschlossen in größeren Verbünden gibt (Confinement ), und ihre Massen auch nur einen Teil zur Gesamtmasse der aus ihnen zusammengesetzten Teilchen beitragen (), die Bestimmung der Quarkmassen kompliziert ist. Der Steckbrief der Elementarteilchen wird natürlich erst komplett, wenn man auch noch ihre weiteren EiDie Teilchenmassen geben Rätsel auf: So ist nicht genschaften, wie Spin, Ladungen, Baryonenzahl und verstanden, warum sie so viele Größenordnungen Leptonenzahl zuordnet – diese sind ebenfalls in den überspannen: Ein top-Quark ist ungefähr so viel Mal Tabellen am Ende des Buches angegeben. schwerer als ein up-Quark, wie ein Elefant schwerer als 106 ein Feuersalamander ist. Auch ist unverstanden, warerste Familie zweite Familie dritte Familie um in der ersten Familie das positiv geladene Quark 5 10 das leichtere ist, wohingegen es in den beiden anderen Familien das schwerere ist. Aber dass das up-Quark 104 leichter ist als das down-Quark, ist gut so, denn sonst 103 gäbe es kein Leben auf der Erde, wie wir es kennen (Quarkmasseneffekt ). 102 Neben den gerade beschriebenen Bausteinen der Materie werden im Standardmodell auch die Feldteilchen der Wechselwirkungen, die als Überträger der Kräfte fungieren, als elementar angenommen. Diese sind für den Elektromagnetismus das Photon (𝛾), für die schwache Wechselwirkung das elektrisch neutrale ZBoson sowie die beiden geladenen W-Bosonen (W + und W −) und für die starke Wechselwirkung die acht

Confinement  S. 192 Woher kommt unsere Masse?  S. 204 Der Quarkmasseneffekt  S. 208 Die Entdeckung des Higgs-Bosons  S. 230 Spin  S. 44

101 100 10‒1

d

u

e

s c 𝜇 b Name des Teilchens

t

𝜏

Teilchenmassen im Vergleich. Die blauen Kreise zeigen die Quarkmassen, die Quadrate in Orange die der geladenen Leptonen. Die Massen der Neutrinos sind sehr klein und daher nicht gezeigt.

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1 Die Welt der Teilchen

Die vier Grundkräfte der Natur Vier sehr ungleiche Partner

Wir kennen vier fundamentale Kräfte: die Gravitation, den Elektromagnetismus, die schwache Wechselwirkung und die starke Wechselwirkung. Die letzten drei sind im Standardmodell der Elementarteilchenphysik zusammengefasst. Die Wechselwirkungen des Standardmodells sind alle nach dem gleichen Prinzip aufgebaut: Die Kräfte werden durch den Austausch von Austauschteilchen vermittelt. Man nimmt an, dass das auch für die Gravitation gilt. Die vier Grundkräfte unterscheiden sich drastisch in Reichweite () und Stärke und sind dementsprechend für sehr unterschiedliche Systeme relevant, die deshalb sehr unterschiedliche Eigenschaften entwickeln (Skalen ). Um das gerade Gesagte zu verdeutlichen, möchten wir Sie auf eine Reise, eine „Gedanken“-Reise, einladen. Stellen Sie sich vor, wir reisen auf einem Proton und nähern uns einem Wasserstoffatom – also einem anderen Proton mit einem Elektron in seiner umgebenden Hülle. Beginnen wir unsere Reise bei 1 μm (also 10 −6 m – in etwa die Dicke eines Haares) Abstand von dem nach außen elektrisch neutralen Atom, welches etwa 10 −10 m groß ist (siehe Bild, a). Aus dieser Entfernung heben sich die Wirkungen der elektrischen Ladungen von Elektron und Proton im Wasserstoffatom auf. Dadurch wird der Elektromagnetismus abgeschirmt und die sehr schwache Anziehung der Gravitation ist die einzige Kraft, die nennenswert auf unser Proton wirkt, wodurch es zu dem Atom hingezogen wird. Das ändert sich jedoch drastisch, sobald wir auf atomare Abstände an den Atomkern herankommen, also in die Elektronenhülle eindringen (b). Nun „sieht“ unser

Über die Reichweite von Wechselwirkungen  S. 54 Längenskalen und Einheiten  S. 8

(a) 10 –8 m Gravitation Elektromagnetismus Starke Wechselwirkung Schwache Wechselwirkung

(b)

10 –10 m

(c)

10 –15 m

(d)

10 –18 m

Protonen überlagern sich

?

Die relative Wichtigkeit der Grundkräfte bei verschiedenen Abständen – die Balkenlänge deutet die relative Stärke der Kräfte an.

positiv geladenes Proton den ebenfalls positiv geladenen Atomkern. Zwar ist die Gravitationskraft wegen des kleineren Abstands nun 100 Millionen mal stärker als zuvor, aber das ist vernachlässigbar wenig gegen die elektromagnetische Abstoßung, die unser Proton nun zu spüren bekommt. Die Gravitation ist bei diesen Ab-

Die vier Grundkräfte der Natur

ständen über 30 Größenordnungen schwächer als der Elektromagnetismus, vermittelt durch den Austausch von Photonen. Andererseits befinden wir uns noch viel zu weit von dem Atomkern entfernt, als dass die starke Wechselwirkung schon eine Rolle spielen könnte. Hier draußen ist diese selbst gegen die Gravitation noch vernachlässigbar. Die Vielfalt der uns umgebenden Natur ist somit vor allem vom Elektromagnetismus bestimmt. Er lässt beispielsweise Farben leuchten und hält all die vielen Stoffe um uns herum, wie Holz, Steine und Metall, zusammen. Die Effekte der starken Wechselwirkung sind indirekt, da sie (im Wechselspiel mit dem Elektromagnetismus) festlegt, welche Atomkerne () mit welchen Kernladungen stabil sind.

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tausch von W- und Z-Bosonen, relativ stark. Bei einem Abstand von 10 −18 m ist sie jedoch immer noch einen Faktor 10.000 schwächer als die starke Kraft und einen Faktor 100 schwächer als der Elektromagnetismus. Bei solch kleinen Abständen kann man der Gravitation keine Kraft mehr zuordnen, da innerhalb eines Protons eine hohe Energiedichte herrscht und somit die Gravitation nicht nur zwischen den Quarks wirkt – hier wäre dann eine Quantengravitation notwendig, für die es noch keine Theorie gibt.

Welche Kraft dominiert, hängt demnach davon ab, wie nahe sich die untersuchten Teilchen kommen. Aber auch davon, welche Teilchen beteiligt sind. Wie stark die Kräfte z. B. bei einem gegebenen Abstand sind, Um die Reise fortzusetzen, stellen wir uns vor, dass hängt dann sowohl von der Masse des Austauschteilwir schnell genug sind, um die erwähnte elektrische chens als auch von der Wahrscheinlichkeit ab, dass Abstoßung zu überwinden (c). Dann passiert etwas ein Materieteilchen ein solches Austauschteilchen abDrastisches, sobald unser Proton einen weiteren Faktor strahlt. So ist bei kleinen Abständen, wie oben ausge100.000 näher an das Kern-Proton herangekommen ist führt, die starke Wechselwirkung zwischen Quarks sehr (wir ignorieren jetzt mal, dass die Protonen nicht unter- viel wichtiger als z. B. der Elektromagnetismus, aber scheidbar sind, obwohl dies zu spannenden Effekten zwischen Elektronen spielt sie keine Rolle, da Elektroführt – siehe Artikel zu Fermionen und Bosonen ): nen keine Gluonen abstrahlen. Die starke Kraft setzt ein, und zwar zunächst über den Austausch leichter Quark-Antiquark-Systeme – nun Unter den Kräften des Standardmodells nimmt die hat der Elektromagnetismus keine Chance mehr. schwache Wechselwirkung eine Sonderrolle ein: Sie ist so schwach und kurzreichweitig, dass sie keine Bei noch kleineren Abständen (< 10 −15 m) beginnen stabilen Strukturen ausbilden kann. Allerdings ist sie die Protonen zu überlappen (d). Nun wird die star- die einzige Wechselwirkung, die Teilchentypen ändert ke Kraft direkt durch den Austausch von Gluonen – sie kann z. B. ein down-Quark in ein up-Quark umzwischen den Bausteinen der Protonen, den Quarks, wandeln. Das passiert z. B. im Neutron-𝛽-Zerfall (Provermittelt. An der Hierarchie zwischen den Kräften duktion und Zerfall ). Ohne die schwache Wechseländert das jedoch wenig: Die starke Kraft ist weiterhin wirkung wären Neutronen stabil. Außerdem braucht die stärkste, danach folgt die elektromagnetische. Al- all die reichhaltige Physik der Neutrinos die schwache lerdings wird bei diesen kleinen Abständen auch die Wechselwirkung, aber diese Geschichte wird in andeschwache Wechselwirkung, vermittelt durch den Aus- ren Artikeln erzählt.

Von Nukleonen zu Kernen  S. 210 Fermionen und Bosonen  S. 90 Produktion, Zerstörung und Zerfall von Teilchen  S. 50

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1 Die Welt der Teilchen

Das Quarkmodell

Wie Quarks das Teilchenchaos zähmten

Masse [MeV/c2]

Wie kam man eigentlich darauf, dass es so etwas wie Quarks gibt? Als in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts die Beschleunigertechnologie so weit verbessert war, dass höhere Energiebereiche studiert werden konnten, kam es zu einer Überraschung: Eine große Anzahl neuer Teilchen wurde gefunden. Zu den drei bereits bekannten Pionen (𝜋 +, 𝜋 0, 𝜋 − mit Spin 0) und den Kernbausteinen Proton und Neutron (beide mit Spin ½) gesellten sich 30 weitere – 15 Mesonen (mit ganzzahligem Spin) und 15 Baryonen (mit halbzahligem Spin). Niemand hatte diese Teilchenflut erwartet. Ordnung in diesen Teilchenzoo brachten Anfang der 60er Jahre unabhängig voneinander Murray Gell-Mann und Yuval Ne’emann einerseits und George Zweig andererseits. Sie 1100 postulierten, dass die entdeckten Teilchen unterschiedliche Kombinationen aus ledig900 lich drei Bausteinen enthalten. Gell-Mann und Ne’emann tauften diese Quarks, Zweig nannte sie Asse. Die erwähnten drei heißen 700 heute up-Quark (u), down-Quark (d) und strange-Quark (s), die entsprechenden Antiteilchen Anti-up (ū), Anti-down (d ̄ ) und 500 Anti-strange (s̄ ). Des Weiteren postulierten sie, dass die Kräfte, die die Quarks zusammenhalten, zwischen den Quarktypen nicht unterscheiden würden. Wie wir im Artikel zur Herkunft der Masse () sehen werden, kommt ein wichtiger Teil der Masse von Systemen, die aus Quarks zusammengesetzt sind, aus dem Feld der

Woher kommt unsere Masse?  S. 204 Der Quarkmasseneffekt  S. 208

starken Wechselwirkung. Deswegen sollten notwendigerweise wohldefinierte Gruppen von aus Quarks zusammengesetzten Teilchen, sogenannte Multipletts, die gleiche Masse haben. Massenunterschiede innerhalb dieser Multipletts sind somit auf Unterschiede der Quarkeigenschaften, also deren Masse und Ladung, zurückzuführen. Alle Eigenschaften aller zu dem Zeitpunkt bekannten Mesonen und Baryonen konnten dadurch erklärt werden, dass man up- und down-Quark die gleichen Massen und dem strange-Quark eine etwa 200 MeV/c 2 höhere Masse zuschrieb. (Wenn man ganz genau misst, merkt man, dass auch die elektromaSpin 0:

Strangeness (us¯) (ds¯)

Spin 1:

K *0

𝜂′

𝜙

(du¯) *+

*−

𝜌‒

K K – K *0 K *0 𝜔 𝜌0 𝜌+ 𝜌‒

𝜌0 𝜔8

K *−

(su¯)

(ud¯ )

𝜌+

𝜔0

Isospin

– K *0

(sd¯ )

Strangeness

𝜂 K+ K− – K0 K 0

(ds¯)

K0

(us¯)

K+

(du¯)

300

(ud¯ )

𝜋‒

𝜂8

100

K *+

𝜋0 𝜋+ 𝜋‒

K−

(su¯)

𝜋0

𝜋+

𝜂0

Isospin

– K0

(sd¯ )

Spektrum und die zugehörigen Multipletts der einfachsten Mesonen im Quarkmodell

Das Quarkmodell

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gnetische Wechselwirkung zu den Massenunterschie- die Anzahl der strange-Quarks, auf (gemäß Konventiden beiträgt, siehe Quarkmasseneffekt ). on werden hier Anti-strange-Quarks positiv und strange-Quarks negativ gezählt), und auf der x-Achse den Aber der Ansatz vermochte noch mehr: Er sagte ein Isospin, der die Anzahl von up- und down-Quarks abweiteres Teilchen vorher, das Ω −, aufgebaut aus drei zählt, wobei hier up und Anti-down positiv und down strange-Quarks. Dessen Entdeckung verhalf nicht nur und Anti-up negativ gezählt werden (siehe Abbildundem Quarkmodell zur allgemeinen Anerkennung, son- gen). An der ersten Abbildung links sieht man z. B., dern auch Gell-Mann im Jahr 1969 zum Nobelpreis. dass Pionen in drei Ladungszuständen vorkommen: das 𝜋 + enthält ud ̄ , das 𝜋 0 enthält uū und dd ̄ und das 𝜋 − Im Quarkmodell bestehen die Mesonen aus einem schließlich dū. Im Artikel „Kann man Quarks und GluQuark und einem Antiquark und die Baryonen setzen onen sehen“ () werden wir sehen, dass Quarks sehr sich aus drei Quarks zusammen. Warum gerade diese real sind und somit mehr als theoretische Konstrukte Quarkkombinationen auftreten, werden wir im Arti- zur Klassifizierung von Teilchen. In den folgenden Jahkel zu Confinement () erklären. Die oben erwähnten ren sind weitere Teilchen entdeckt worden und im GroMultipletts kann man auch sehr gut grafisch darstellen. ßen und Ganzen schlug sich das Quarkmodell wacker, Dazu trägt man auf der y-Achse die Strangeness, also wobei es allerdings mit Entdeckung der charm- und bottom-Quarks erweitert werden musste. Spin 1/2:

Strangeness

Spin 3/2:

1800 Ω

(ddu)

(uud )

n

p

(sdd)

(suu)

Σ−

1600

0

Σ

Masse [MeV/c2]

Ξ* − Ξ * 0 1400 −

0



0

Ξ−

Σ* − Σ* 0 Σ* +

Ξ Ξ 1200

Σ+

Λ

+

Σ Σ Σ Λ

∆− ∆0 ∆+ ∆++

Ξ0

(ssd ) (ddd)

∆−

(ssu)

Strangeness

∆0

∆++

Σ* +

Σ* 0

Isospin

np 800

(uuu)

∆+

Σ* −

1000

Isospin

Ξ* 0

Ξ* − Ω

(sss)

Spektrum und die zugehörigen Multipletts der einfachsten Baryonen im Quarkmodell

Confinement  S. 192 Kann man Quarks und Gluonen sehen?  S. 202 Der Weg zu sechs Quarks in drei Familien  S. 182 Produktion, Zerstörung und Zerfall von Teilchen  S. 50 Exotische Zustände  S. 214

Inzwischen wissen wir, dass es insgesamt sechs Quarks () gibt, wobei das schwerste unter ihnen, das top-Quark, eine so kurze Lebensdauer hat (Produktion und Zerfall ), dass es nicht genügend Zeit bietet, um mit ihm zusammengesetzte Objekte zu bilden. Charm- und bottom-Quark hingegen bilden Bindungszustände und bis 2002 ließen diese sich auch komplett mit dem einfachsten Quarkmodell erklären. Aber 2003 änderte sich die Situation: Seitdem wurde eine große Zahl an Teilchen gefunden, die eine Erweiterung des Quarkmodells notwendig machte. Wir wissen nun, dass es Mesonen mit mindestens vier Quarks und Baryonen mit mindestens fünf Quarks gibt – aber das ist eine andere Geschichte (Exotische Zustände ).

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1 Die Welt der Teilchen

Was ist eigentlich ein Elementarteilchen? Gibt es immer kleinere Bausteine?

Ein Elementarteilchen ist ein Baustein der Materie, der nicht mehr teilbar ist bzw. keine Substruktur aufweist. Es ist wie ein Punkt, ohne messbare Ausdehnung. Mathematisch sind Elementarteilchen in der speziellen Relativitätstheorie () Punktteilchen mit fester Masse und einem festen Spin (), also einem bestimmten magnetischem Moment. Darüber hinaus können sie noch über Ladungen an drei Wechselwirkungen teilnehmen: elektrische, schwache oder Farbladung.

Wenn wir eine 20 cm lange Möhre mit einem Messer mehrmals halbieren, so wird das Stück immer kleiner, aber es bleibt zunächst immer eine Möhre, ohne Substruktur. Nach etwa 12 Halbierungen erreicht man biologische Zellen, die eine eigenständige Substruktur aufweisen. Diese sind die ersten Bausteine der Möhre. Unter dem Mikroskop können wir sehen, dass sie, im physikalischen Sinne, nicht elementar sind. Wenn man weiter halbieren könnte, käme man nach insgesamt etwa 30 Teilungen, also bei etwa 10 −10 m, bei den MoleDas Elektron ist nach jetzigem Erkenntnisstand solch külen und Atomen der Möhrenzellen an. Das geht mit ein punktförmiges Teilchen und somit elementar. Es einem Messer nicht, weil selbst die schärfste Klinge hat die Masse me = 9,1 ∙ 10 −31 kg = 511 keV/c 2 (Län- etwa 2.500 Eisenatome breit ist, also etwa 5 ∙ 10 −6 m. genskalen und Einheiten ) und den Spin 1/2. Es trägt die elektrische Ladung −e, die schwache Ladung (Iso- Gibt es eine Substruktur der Atome? Der Physiker Erspin) −1/2, und keine Farbladung bezüglich der star- nest Rutherford und seine Mitarbeiter bestrahlten 1909 ken Kraft (siehe Tabellen auf S. 328 und Abbildung eine dünne Goldfolie mit energetischen 𝛼-Teilchen, auf S. 11). Dies gilt für alle Elektronen; es ist die De- also Heliumkernen. Fast alle 𝛼-Teilchen flogen gerafinition eines Elektrons in der Physik. deaus durch die Folie (Streuexperimente ). Nur etwa jedes 100.000. Teilchen wurde um 90° oder mehr abgeWie entscheiden wir, was ein Elementarteilchen ist? lenkt (in der Abbildung als roter Pfeil gezeigt). Wenn etwas teilbar ist, so hat es noch kleinere Bausteine. Diese könnten dann elementar sein, oder wieder Goldatome, teilbar. Wenn wir ein Objekt technisch nicht zerteilen mit Kern und e−-Hülle können, z. B. wegen zu niedriger Beschleunigerenergie, oder prinzipiell, wie, nach heutigem Kenntnisstand, bei den Quarks im Proton, so kann es doch beobachtbare Effekte der Ausdehnung oder der inneren StrukAlphateilchen tur geben. So, wie wenn man eine geschlossene Kiste schüttelt, um zu entscheiden, ob darin lose Kugeln liedünne Goldfolie gen. Wie sieht es aus, wenn wir immer genauer in die Schematische Darstellung der Rutherfordstreuung Bausteine der Natur schauen?

Spezielle Relativitätstheorie  S. 34, Anwendungen der speziellen Relativitätstheorie  S. 88 Spin  S. 44 Längenskalen und Einheiten  S. 8 Tabellen: Die Eigenschaften der Elementarteilchen  S. 328 Das Prinzip von Streuexperimenten  S. 46

Was ist eigentlich ein Elementarteilchen?

Je größer der Ablenkungswinkel, desto seltener trat das Ereignis auf. Die Verteilung entsprach genau der in der Elektrodynamik berechneten für zwei geladene punktförmige Teilchen, die aneinander streuen. Daraus konnte Rutherford schließen, dass die Masse im Atom nicht homogen verteilt ist. Die Atome haben eine Hülle aus Elektronen, die nur geringfügig zur Atommasse beitragen und die schweren Heliumkerne kaum ablenken. Der Hauptanteil der Atommasse ist in einem um ein Vielfaches kleineren, massiven und positiv geladen Kern von etwa 10 −14 m Durchmesser in der Mitte konzentriert, der im Experiment auch als punktförmig erschien.

17

Streuung eines Elektrons an einem Quark im Proton durch Austausch eines Photons

wurde zwar nicht befreit, konnte aber als punktförmig beobachtet werden.

e−

e− Photon 𝛾 q

Proton q

Am LEP-Beschleuniger am CERN wurden in den 1990er Jahren Elektronen und Positronen mit wiederum noch höherer Energie aufeinander geschossen (siehe die zugehörigen Feynman-Diagramme, ). Dabei streuten sie weiterhin wie zwei Punktladungen Ist die Energie des 𝛼-Teilchens hoch genug, so kommt aneinander. Sie kamen dabei auf einen Abstand von es gegen die elektrische Abstoßung näher an den Kern etwa 10 −18 m aneinander heran. Daraus können wir heran und es ,,sieht” die endliche Ladungsverteilung. schließen, dass Elektronen punktförmig sind, oder zuDie Streuung erfolgt nicht mehr wie bei einem Punkt- mindest bis zu dieser kleinen Länge als punktförmig teilchen. Ohne ihn aufzubrechen erkennt man, dass betrachtet werden können. Am LHC konnte man die der Kern ausgedehnt ist und eine Substruktur hat. Mit analoge Schlussfolgerung für Quarks treffen, mit etwa noch höherer Energie der 𝛼-Teilchen gelang es im Jahr der gleichen Längenskala. 1932, Teile aus dem Kern herauszubrechen. Dabei konnte das Neutron als damals neues Teilchen nachge- Was wir als Elementarteilchen ansehen, hängt also von wiesen werden. Der Atomkern besteht also aus Proto- den experimentellen Möglichkeiten ab. Heute sehen nen und Neutronen, die je etwa 10 −15 m im Durchmes- wir Quarks und Elektronen als elementar an. In zuser groß sind. Sind sie elementar? künftigen Experimenten könnten wir eines Besseren belehrt werden. Am SLAC-Labor in Kalifornien wurden 1967 bei noch höherer Energie Elektronen auf Protonen geschossen e− e− e− e− (Struktur des Protons , Quarkverteilungen im Proton 0 𝛾,Z ). Bei diesen noch höheren Energien wurde das Pro𝛾,Z 0 ton aufgebrochen, aber die Streuverteilung verwandelte sich wieder in die zweier Punktladungen aneinander. e+ e+ e+ Das war die experimentelle Entdeckung der Quarks. e+ Die Elektronen und die Quarks tief im Proton haben Feynman-Diagramme zur Elektron-Positron-Streuung am LEPals Punktladungen aneinander gestreut. Das Quark Beschleuniger bei Austausch eines Photons oder eines Z0-Bosons

Die Struktur des Protons  S. 198 Quarkverteilungen im Proton  S. 200 Feynman-Diagramme  S. 48 und Feynman-Diagramme II  S. 98

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1 Die Welt der Teilchen

Was ist Antimaterie? Science Fiction oder Realität?

Wir sind aus Atomen aufgebaut, und diese wiederum Diese Ad-hoc-Lösung ist für eine fundamentale Thebestehen aus einem Kern aus Protonen und Neutronen orie unbefriedigend. Außerdem sind damit nicht alle sowie einer Hülle aus Elektronen. Das Proton ist elekt- relativistischen Effekte berücksichtigt. risch positiv geladen, mit Ladung qp = e, das Elektron negativ, qe = −e, und das Neutron gar nicht, qn = 0. 1928 gelang es Paul Dirac die Quantenmechanik mit Dies sind die Bausteine der Materie unserer Welt. Wir der speziellen Relativitätstheorie zu einer einheitlichen wissen seit bald 100 Jahren, dass die Wechselwirkun- relativistischen Wellengleichung zu vereinigen, der gen dieser subatomaren Teilchen den Gesetzen der Diracgleichung. Diese gilt für alle Energien, bzw.  für Quantenmechanik () gehorchen. So berechnen wir Geschwindigkeiten beliebig nahe der Lichtgeschwinz. B. die atomaren Energieniveaus () mit der Schrö- digkeit. 1931 zeigte Dirac, dass diese Gleichung zudingergleichung. Die zugrunde gelegte Energie in der sätzlich eine erstaunliche Vorhersage macht: Zu jedem Schrödingergleichung ist lediglich die (nicht-relativis- der obigen damals bekannten Teilchen (Elektron, Protische) kinetische Energie Ekin = ½ m v 2, wobei m die ton und Neutron) sollte es ein Partnerteilchen mit der Masse des Teilchens und v seine Geschwindigkeit ist. identischen Masse, aber mit umgekehrter elektrischer Dies stimmt nicht mit der speziellen Relativitätstheorie Ladung geben. Speziell zum Elektron gehört das Poüberein, nach der sich die gesamte Energie eines Teil- sitron, mit identischer Masse aber mit der positiven chens schreiben lässt als elektrischen Ladung qe = +e. Ähnlich hätte das Anti4 proton die gleiche Masse wie das Proton, aber die elek1 mv 2 – mv __ + ... , E = √m2c 4 + p2c 2 ≈ mc 2 + _ 8c 2 2 trische Ladung qp̄ = −e. Das Antineutron hätte die mit dem Impuls p des Teilchens und der Lichtge- gleiche Masse wie das Neutron und wie dieses keine elektrische Ladung. schwindigkeit c. Für die genaue Beschreibung der beobachteten Atomspektren ist Relativistische Diese sogenannten Antiteilchen sind die nicht-relativistische SchrödingerQuantenmechanik Materieteilchen und besitzen eine Masgleichung unzureichend. Es gibt kleise. Daher nennen wir sie auch Antimane, aber messbare, Abweichungen, terie. Sie sind eine notwendige Folge die sogenannte Feinstruktur der Spezielle Quantenmechanik der Vereinheitlichung von QuantenAtomspektren. Dieses Problem Relativitätstheorie mechanik und spezieller Relativitätslässt sich ad hoc durch eine erste theorie – und existieren tatsächlich! relativistische Korrektur zur kine4 mv __ ) beheben, 1932 entdeckte Carl Anderson das tischen Energie (– 8c 2 Antiteilchen welche die Schrödingergleichung Positron in Reaktionen von kosmischen entsprechend modifiziert. Strahlen im Detektor. Das Antiproton

Grundkonzepte der Quantenmechanik  S. 40 Atomare Energieniveaus: Zufall und Vorhersage  S. 42 Neutrinomassen  S. 256

Was ist Antimaterie?

wurde 1955 in Beschleunigerexperimenten in Berkeley, Kalifornien von Emilio Segrè und Owen Chamberlain entdeckt. Das Neutron ist elektrisch neutral, hat aber dennoch ein Antineutron als Partner. Heute wissen wir, dass es aus zwei Anti-down-Quarks und einem Anti-up-Quark aufgebaut (ūū̄d̄ ) ist. Die Entdeckung des Antineutrons gelang Bruce Cork 1956 mit ProtonAntiproton-Kollisionen, ebenfalls in Berkeley. Inzwischen wurden auch Antiteilchen zu den anderen Materieteilchen des Standardmodells gefunden: Antimyon, Antitauon, drei Antineutrinos, sowie sechs Antiquarks. Die Neutrinos sind elektrisch neutral und – soweit wir wissen – haben sie keine inneren Bausteine. Im Prinzip könnten die Neutrinos jeweils ihr eigenes Antiteilchen sein (Neutrinomassen ). Das Neutrino hat Spin 1/2, und die beobachteten Antineutrinos wären einfach nur Neutrinos mit umgekehrter Helizität (). Solche Neutrinos, die ihr eigenes Antiteilchen sind, heißen Majorana-Neutrinos. Experimentell könnten sie zu dem sogenannten neutrinolosen doppelten 𝛽-Zerfall () führen, nach dem heute intensiv gesucht wird. Diese Frage ist noch ungeklärt.

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e−

𝛾

e−

e e+

𝛾 e

𝛾

e+

𝛾 𝛾

Feynman-Graphen zur Vernichtung von Elektron und Positron zu zwei oder drei Photonen

Theorie kann man z. B. erklären, dass sich ein Teilchen und sein dazugehöriges Antiteilchen zusammen zu zwei oder drei Photonen vernichten. Zwei hochenergetische Photonen können auch aufeinander treffen und ein Elektron und ein Positron erzeugen (Paarerzeugung).

Ein Antiproton kann sogar ein Wasserstoff Antiwasserstoff Positron einfangen und mit diesem ein Antiwasserstoff-Atom bilden. 1995 wurde genau das erstmals am CERN mit dem PS210Experiment beobachtet. In der Quantenfeldtheorie wird vorhergesagt, dass die Spektren von Antiatomen identisch zu den korrespondierenden Atomspektren sein müssen, dies folgt aus dem CPT-Theorem (). Das Photon hat keine elektrische Ladung und trägt Mittlerweile hat die ALPHA-Kollaboration am CERN auch sonst keine innere Quantenzahl. Deshalb sind gezeigt, dass dies im Rahmen der experimentellen GePhotonen ihre eigenen Antiteilchen. Sie können un- nauigkeit auch der Fall ist. eingeschränkt produziert und vernichtet werden. Das sieht man z. B. an der Wirkung eines normalen Licht- Ganz zu Anfang sprachen wir davon, dass wir aus Maschalters, da sie keiner Ladungserhaltung unterliegen. terie aufgebaut sind. Und jetzt können wir außerdem Elektronen hingegen können aufgrund der elektrischen sagen: Wir bestehen nicht aus Antimaterie. Wenn wir Ladungserhaltung nur zusammen mit Positronen er- hinaus ins Universum schauen, so sehen wir keine zeugt werden. Um diese Erzeugung und Vernichtung Galaxien oder sonstige Gebilde aus Antimaterie, songenau zu beschreiben, muss die relativistische Quan- dern aus Materie. Wie es dazu im frühen Universum tenmechanik, oder Quantentheorie, zur relativistischen kommen konnte, wird im Artikel über Baryogenese () Quantenfeldtheorie () erweitert werden. Mit dieser erklärt.

Helizität: Up, Down, Rechts und Links  S. 168 Neurinoloser doppelter 𝛽-Zerfall: Ist das Neutrino sein eigenes Antiteilchen?  S. 278 Quantenfeldtheorie  S. 100 CPT-Theorem: Diskrete Symmetrien: P- und CP-Verletzung  S. 178 Baryogenese  S. 304

20

1 Die Welt der Teilchen

Detektoren im Alltag

Einen Teilchendetektor tragen wir im Kopf In unserem Alltag gibt es viele Teilchendetektoren: Beispielsweise misst eine Diode in einer Lichtschranke an der Fahrstuhltür die Teilchen des Lichts, die Photonen; genauso ein Sensor einer Kamera oder früher ein lichtempfindlicher Film in einer analogen Kamera. Ein Stromzähler im Keller misst auf indirekte Weise die Zahl der Elektronen, die effektiv hindurchfließen. Einen besonderen Teilchendetektor tragen wir sogar jederzeit mit uns: unsere Augen. Das Auge ist ein erstaunliches Instrument: Es führt erst eine optische Abbildung durch, bei der alles Licht, das von einem Punkt im Sichtfeld aus auf die ganze Oberfläche der Pupille fällt, gemeinsam wieder auf einen einzigen Punkt auf der hinteren Seite des Auges zusammengeführt wird. Dort befindet sich unser Detektor, das Nachweisgerät für die Lichtteilchen: die Netzhaut. Diese ist nur 0,2 mm dick – ganz ähnlich einiger Detektoren der Teilchenphysik (HalbleiterdeWeg aller Photonen vom oberen Ende der Lichtquelle

Augapfel

Photonendetektor Elektrisches Signal vom unteren Ende der Lichtquelle

Linse

Netzhaut

Lichtquelle

Elektrische Energie

tektoren ). In der Netzhaut befinden sich zwei verschiedene „Subdetektoren“: einerseits die Zäpfchen, die zwischen Licht verschiedener Farben und damit verschiedener Energie unterscheiden können. Das geschieht, indem sie mit verschiedenen Pigmenten gefüllt sind, die durch chemische Prozesse Lichtteilchen mit einer bestimmten Energie in tiefere Schichten vordringen lassen und andere Lichtteilchen abfangen. Das Auge beinhaltet also eine Art Energiedetektor (). Die Wahrnehmung einer anderen Farbe entspricht daher einer anderen Energie der Photonen. Andererseits gibt es die Stäbchen, die für alle Energien der sichtbaren Lichtteilchen empfindlich sind und viel schmaler sind als die Zäpfchen. Mit ihrer Hilfe können bei sehr sehscharfen menschlichen Augen Strukturen von etwa 1 mm Größe noch in 5 m Entfernung getrennt gesehen werden. Das Auge beinhaltet also auch einen Ortsdetektor (), wie die Teilchenphysikexperimente. Doch damit sind die Gemeinsamkeiten noch nicht er-

Weg aller Photonen vom unteren Ende der Lichtquelle

Der Weg eines Lichtsignals von der Quelle zum Gehirn

Halbleiterdetektoren  S. 66 Energiemessung von Teilchen  S. 74 Orts- und Impulsmessung  S. 72

Sehnerv zum Gehirn Elektrisches Signal vom oberen Ende der Lichtquelle

Detektoren im Alltag

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schöpft: Genauso wie moderne Teilchenphysikdetektoren schickt das Auge nicht einfach alle Daten zum Gehirn, sondern verarbeitet sie in der Netzhaut, bevor die resultierenden „rekonstruierten“ Daten (Rekonstruktion von Masse etc. ) weitergeleitet werden – das spart Datenvolumen im Sehnerv und beschleunigt die Sehwahrnehmung. Genau wie in den Teilchenphysikexperimenten.

den meisten Experimenten zwischen dem kleinsten Energieübertrag, der gerade noch ein Signal erzeugt, und dem größten noch von „noch größeren“ Signalen unterscheidbaren Signal eher ein Faktor 1.000 als ein Faktor 1.000.000, also deutlich kleiner als beim Auge.

Das Auge ist also eigentlich ein Teilchendetektor. Trotzdem sind die Teilchendetektoren der Teilchenphysik bei aller Ähnlichkeit meist nicht genau so aufEine weitere faszinierende Eigenschaft des Auges ist gebaut wie das Auge, wie der Vergleich der schematiseine Empfindlichkeit. Ein Stäbchen muss von nur fünf schen Abbildungen des Auges und eines Spurdetektors Lichtteilchen (Photonen) mit einer Energie im Bereich zeigt. Bei den Teilchenexperimenten bewegen sich die des sichtbaren Lichts innerhalb etwa 1/30 s getroffen Teilchen oft durch mehrere Lagen an einzelnen Dewerden, um ein Signal zu erzeugen. Auch Teilchende- tektorschichten hindurch, weil die Teilchen von viel tektoren sollen meist so empfindlich wie möglich sein, höherer Energie sind als die Photonen des sichtbaren und, wenn möglich, jedes Teilchen mit einem Mini- Lichts. Bei manchen Experimenten wie etwa am Large mum an Energie nachweisen. Fast noch faszinierender Hadron Collider (LHC) muss ein einzelnes Teilchen ist der Dynamikumfang: Zwischen der Lichtintensität, sogar etwa die 200-millionenfache Energie eines typibei der man im Dunkeln gerade noch etwas erkennen schen Lichtteilchens besitzen, um in der Masse der kann, und der größten Helligkeit, in der man noch vielen Teilchen überhaupt als ein einzelnes erkannt zu schmerzfrei die Augen öffnen kann, liegt ein Verhältnis werden. Daher kann es weder in einer dünnen Schicht von etwa 1/1.000.000. Auch für Teilchenphysikexperi- aufgehalten noch mit einer Linse fokussiert werden. mente ist der Dynamikumfang wichtig. Nur liegt bei Statt einer Linse wird deshalb eine Abfolge von Detektoren verwendet, so dass die Bahn des Teilchens auch ohne Teilchenstrahl 1 Teilchendetektoren Fokussierung zurückverfolgt werden kann. Aus der Krümmung der Spur der geladenen Teilchen 2 Teilchen in einem Magnetfeld Wechselwirkung lässt sich dann der Impuls des Teilchens berechnen – so wie im Auge die Energie der PhoTeilchen 1 tonen der wahrgenommenen Elektrisches Signal von den Farbe entspricht. Teilchenstrahl 2

Detektoren zur Auslese

Der Weg eines Teilchens von der Erzeugung bis zur Auslese der Detektorsignale

Identifikation der Teilchensorte über die Masse  S. 144

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1 Die Welt der Teilchen

Wie macht die Physik Fortschritte? Eine komplizierte Suche nach einfachen Antworten

Die Naturwissenschaft hat schon viele Rätsel ent- Der Unterschied zwischen diesem Ansatz und dem schlüsselt, die uns das Universum und die Welt um Newtons ist jedoch, dass ersterer nicht überprüfbar ist uns herum aufgeben. Aber wann können wir bei der und auch nicht dazu geeignet, Vorhersagen für andeSuche nach den fundamentalen Zusammenhängen re Phänomene zu machen. Newtons Theorie erlaubte der Natur einen Erfolg vermelden? Das lässt sich sehr jedoch im Gegensatz dazu nicht nur die Rückführung gut am Beispiel der Entwicklung unseres Wissens um der Kepler’schen Gesetze auf wenige Prinzipien, sondie Schwerkraft illustrieren. Versetzen wir uns dazu dern konnte auch noch die von Galilei empirisch gezurück ins späte siebzehnte Jahrhundert. Es gab vie- fundenen Fallgesetze erklären. Hier haben uns also die le Beobachtungen zur Bewegung der Planeten, das Leitprinzipien Einfachheit, Universalität und Vorhersageozentrische Weltbild, das die Erde ins Zentrum des gekraft von der Richtigkeit des Newton’schen Ansatzes Universums setzt, war gekippt und Keplers Gesetze überzeugt. Und auch heute noch spielen diese eine der Planetenbewegung formuliert. Es war Isaac New- zentrale Rolle in allen Wissenschaften. ton, dem im späten siebzehnten Jahrhundert eine geschlossene, mathematische Beschreibung all dieser Be- Newtons Theorie erklärt mit dem gleichen maobachtungen gelang, die bis heute die Grundlage der thematischen Formalismus, der auch die Schwermodernen Physik bildet. kraft auf der Erde erfasst, die sehr viel ältere Beobachtung, dass sich Planeten auf raumfesten ElWarum wurde die Newton’sche Beschreibung mit ih- lipsenbahnen bewegen (1. Kepler’sches Gesetz), was rem Gravitationsgesetz als adäquat anerkannt? Man hervorragend mit fast allen Beobachtungen überhätte doch genauso gut behaupten können, dass Pla- einstimmt. Allerdings gibt es beim Merkur, dem der neten von Engeln auf ihren Bahnen ge- Sonne am nächsten gelegenen Planeten, der somit die schoben werden und dass Anziehung der Sonne am stärksten spürt, eine winzige diese eben sehr diszipli- Abweichung von Newtons ursprünglicher Vorhersage: niert ihren Anweisun- Die Ellipsenbahn ist nicht raumfest, sondern dreht gen folgen, so dass sich um 574 Bogensekunden in 100 Jahren; ca. 90 % die Bahnen festen davon gehen auf den Einfluss der anderen Planeten Gesetzen zu folgen zurück, der Rest (43 Bogensekunden in 100 Jahren) scheinen. ist mit der Newton’schen Theorie nicht erklärbar. Die quantitative Beschreibung eben dieser Abweichung ist einer der Erfolge der allgemeinen Relativitätstheorie von Albert Einstein, die für schwächere Anziehung in die Newton’sche Theorie übergeht. Ist damit die

Wie macht die Physik Fortschritte?

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Newton’sche Theorie „falsch“? Und doch wissen wir heute schon, dass das Als allgemeine exakte BeStandardmodell nicht die lange gesuchte schreibung der Schwerkraft wirklich fundamentale Theorie ist, denn es unter allen möglichen Begibt Phänomene, die es nicht erklären dingungen ist sie damit in kann. Dazu gehören, dass unser Unider Tat widerlegt. Im Geversum von Materie dominiert ist gensatz dazu ist es aber naund nur sehr wenig Antimatetürlich angemessen, Newtons rie () zu finden ist und wir Theorie bei nahezu allen Anweder Dunkle Materie () wendungen des Alltags und der noch Dunkle Energie () Technik zu verwenden, denn sie verstehen. Deshalb wird leistet natürlich unter fast allen heute sehr viel Aufwand in Newton erkannte, dass der Fall des Apfels zur Erde Bedingungen eine hinreichend den gleichen Grund hat wie der „Fall“ von Erde die Suche nach einer grundlegenaue Beschreibung der Natur. und Mond um ihren gemeinsamen Schwerpunkt. genderen Theorie gesteckt. Insofern war die Entwicklung der Newton’schen Theorie ein großer Erfolg, aber es Das Standardmodell der Elementarteilchenphysik gibt eben eine noch fundamentalere Theorie. Wir wis- und seine Grenzen ist das Thema dieses Buches und sen nicht, wo diese Entwicklung enden wird. natürlich auch, wie wir an dieses Wissen gekommen sind. Um Atome, Atomkerne oder gar deren UnterÄhnlich wie im Bereich der Schwerkraft funktioniert strukturen zu verstehen, braucht es großen Aufwand auch der Erkenntnisgewinn in der Teilchenphysik. und den dauernden Fortschritt in der Entwicklung von Häufig steht am Anfang eine experimentelle Beobach- Messmethoden, Messinstrumenten und Beschleunitung, die nach einer Erklärung verlangt. Ist diese erst geranlagen. All dies ist nur mithilfe einer geeigneten einmal in Form einer geeigneten mathematischen Be- Spezialisierung unter den beteiligten Forscherinnen schreibung gefunden, so können daraus überprüfbare und Forschern möglich. Parallel muss auch die theoVorhersagen abgeleitet werden, die wiederum neue Ex- retische Beschreibung der beobachteten Phänomene perimente initiieren. So entsteht idealerweise nach und voran gebracht werden. Deshalb kennen wir in der nach ein konsistentes Bild mit großer Vorhersagekraft. Teilchenphysik heute Wissenschaftlerinnen und WisUnd ähnlich wie im oben beschriebenen Fall haben wir senschaftler in der Beschleunigerphysik, Experimenmit dem Standardmodell eine sehr erfolgreiche Theo- talphysik und theoretischen Physik, die in einer symrie entwickelt. Sie erlaubt uns, die Struktur der Materie biotischen Beziehung miteinander forschen. In diesem und die Wechselwirkungen ihrer Bausteine sehr gut zu Buch werden wir die Tätigkeitsfelder der drei Gruppen verstehen, so dass wir aus wenigen Grundlagen den vorstellen. Sie werden Einblicke in die Arbeit der ForAusgang vieler experimenteller Messungen mit extrem schenden, aber auch in die Methoden der Forschung hoher Genauigkeit ableiten können – in diesem Buch bekommen und auch darin, wohin diese spannende werden wir einige Beispiele dieser Art vorstellen (). Reise gehen könnte – denn es gibt noch viel zu tun.

Die Hürden des Erfolgs  S. 250 Materie und Antimaterie  S. 290 Dunkle Materie  S. 268 Dark Sector: Dunkle Energie  S. 270

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1 Die Welt der Teilchen

Experimentelle Forschung in der Teilchenphysik Verschiedene Experimente für verschiedene Fragestellungen

Die Erforschung der kleinsten Bausteine der Materie erfordert einige der größten und komplexesten wissenschaftlichen Experimente, die es gibt. Dieser vielleicht unerwartete Zusammenhang hat viele Gründe. Der fundamentalste dieser Gründe hat mit der Quantenmechanik () zu tun: Um kleine Abstände auflösen zu können, braucht man eine große Energie. Um Teilchen auf große Energie zu beschleunigen, benötigt man sehr große Anlagen. Zwar stellt die Natur selbst Strahlen sehr hoher Energie zur Verfügung (Kosmische Strahlung ), aber auch dann braucht es viel Material im Detektor, um die hochenergetischen Teilchen zu vermessen. Das erklärt die Größe, aber was ist mit der Komplexität? Der Grund ist einfach: Alle häufigen Prozesse kennt die Teilchenphysik inzwischen schon. Um seltene Prozesse zu beobachten, ohne eine Ewigkeit zu warten, gibt es nur eine Möglichkeit: extrem viele Prozesse in kurzer Zeit zu erzeugen und zu versuchen, in Milliarden verschiedener Ereignisse die Nadel im Heuhaufen zu finden (Trigger und Datenverarbeitung ). Das macht die Experimente auch hochkomplex. Diese Experimente sind so aufwändig, dass sie nur in internationalen Kooperationen von sehr vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und oft mit gemeinsamer internationaler Finanzierung verwirklicht werden können. Schon dies erfordert viel Koordination, Arbeitsteilung und Spezialisierung: Aus der Teilchenphysik sind im Laufe ihrer Geschichte einige separate Wissenschaftszweige erwachsen, die mehr oder min-

der klar voneinander abgegrenzt sind. All diese Bereiche müssen zusammenarbeiten, um auch nur eines der großen Projekte der Teilchenphysik zu verwirklichen. Folgen wir dem Lauf der Teilchen in einem typischen Experiment, dann beginnt die Arbeit oft bei den Beschleunigerphysikerinnen und -physikern: Sie entwickeln und bauen die Anlagen (Wie funktioniert ein Beschleuniger? ), welche die Teilchen auf hohe Energien beschleunigen. Dafür arbeiten im Fall des größten Beschleunigers der Welt, dem Large Hadron Collider (LHC) am Centre Européenne pour la Recherche Nucléaire (CERN) in Genf, tausende Physikerinnen und Physiker auf der ganzen Welt gemeinsam an der Entwicklung und hunderte am CERN am Betrieb. Diese Beschleuniger werden typischerweise von großen Teilchenphysiklaboren wie dem CERN organisiert. Parallel zu der Konzeptionierung und Entwicklung der Beschleuniger bilden sich die internationalen Kollaborationen der Experimentierenden, welche zur Untersuchung der Reaktionen der hochenergetischen Teilchen die Detektoren bauen, betreiben und später auch die gewonnenen Daten auswerten. Im Fall der vier großen Experimente am LHC haben sie jeweils mehrere tausend Mitglieder, die sich selbst organisieren. Finanziert werden sie von Ländern auf der ganzen Welt. Diese Experimentierenden messen die fundamentalen Eigenschaften der Natur und die Kräfte, die zwischen ihnen wirken. Um zu berechnen, welche Messwerte sich aus den wissenschaftlichen Theorien der kleinsten Teilchen für die jeweiligen Experimente herleiten

Grundkonzepte der Quantenmechanik  S. 40 Kosmische Strahlung  S. 314 Trigger und Datenverarbeitung  S. 140 Wie funktioniert ein Beschleuniger?  S. 62 Wie macht die Physik Fortschritte?  S. 22 und Hintergründe zur wissenschaftlichen Methode  S. 26

Experimentelle Forschung in der Teilchenphysik

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ker führen keine Experimente durch, sondern arbeiten alleine oder in Gruppen daran, genauere Berechnungen der Vorhersagen für die experimentellen Ergebnisse zu ermöglichen oder neue Theorien über den fundamentalen Aufbau der Natur zu erschaffen. Diese theoretischen Werte können dann mit den gemessenen Werten der Ergebnisse der Experimente und ihrer Unsicherheiten () verglichen werden. Ein kleiner Teil der ATLAS-Kollaboration

Eine unterirdische Experimentierhalle am CERN im Bau

Neben dem LHC gibt es aktuell viele kleinere Beschleuniger und Experimente mit oft großer Bedeutung für die Teilchenphysik und viele Arten von Experimenten, die keine Beschleuniger benötigen, weil die Natur oder andere technische Anlagen die Teilchen anderweitig zur Verfügung stellt. Das können Experimente im All (AMS, PAMELA, ) oder tief in Bergen (Direkte Suche nach Dunkler Materie ) sein, Neutrinodetektoren neben Kernreaktoren, oder ein Kubikkilometer großer Detektor im Eis des Südpols (IceCube ).

Aus dieser gemeinsamen Arbeit vieler Felder entsteht nicht nur viel Erkenntnis über den fundamentalen Aufbau der Natur, sondern auch interessantes Beiwerk: Das World Wide Web (WWW, ), das den Beginn des modernen Informationszeitalters einläutete, ist eine Erfindung von Tim Berners-Lee am CERN, das zur Erleichterung internationaler Kooperation unter Teilchenphysikerinnen und -physikern erfunden wurde. In einer weltweiten kollaborativen Arbeit des offenen Austauschs von Ideen und Informationen werden die Das Magnetsystem des ATLAS-Detektors am Large Hadron Collider Experimente und theoretischen Entwicklungen von den Teilchenphysikerinnen und -physikern zu einem im Bau konsistenten Bild der fundamentalen Bausteine der lassen (Fortschritte , wissenschaftliche Methode ), Natur, ihrer Wechselwirkungen und den daraus ableitgibt es ein anderes Feld der Teilchenphysik: die theore- baren Eigenschaften und der Geschichte des Univertische Teilchenphysik. Diese Physikerinnen und Physi- sums zusammengesetzt – davon handelt dieses Buch.

Messunsicherheiten  S. 82 und Statistik  S. 80 Teilchenphysik im Weltall  S. 292 Direkte Suche nach der Dunklen Materie  S. 288 IceCube: Große Detektoren tief im Berg  S. 126 Die Erfindung des World Wide Web  S. 160

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1 Die Welt der Teilchen

Hintergründe zur wissenschaftlichen Methode Der Unterschied zwischen „Wahrheit“ und „Wissen“

Konkrete Beispiele zur wissenschaftlichen Methode der Teilchenphysik wurden in den vorigen Abschnitten beschrieben. Auf dieser und der nächsten Doppelseite sollen einige interessante Hintergründe dieser erfolgreichen Methode dargelegt werden. Wichtig dabei ist: Es gibt nicht die eine wissenschaftliche Methode – unterschiedliche Forschungsgebiete haben unterschiedliche Versionen adaptiert, welche ihren Herausforderungen gerecht werden. Es sind sich auch nicht immer alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einig, was bestimmte Details ihrer Methodik anbelangt. Das liegt in der Natur der Wissenschaft, in der Fortschritt häufig darauf angewiesen ist, nicht nur Erkenntnisse, sondern auch Methoden kritisch zu hinterfragen, zu überprüfen und häufig auch zu verwerfen. Trotzdem gibt es Gemeinsamkeiten aller quantitativ arbeitenden naturwissenschaftlichen Felder. Sehr wichtig an der wissenschaftlichen Methode ist, dass sie keine Aussage über den „Wahrheitsgehalt“ von Erklärungen von beobachteten Phänomenen machen kann. Stattdessen erschafft die quantitativ arbeitende Wissenschaft mathematische Modelle, die beobachtbare und vorhersagbare Phänomene beschreiben. Wir wissen streng genommen nicht, ob diese Erklärungen in all ihren Aussagen und unter allen Bedingungen der Wahrheit entsprechen, aber wir wissen sehr genau, welche messbaren Eigenschaften ein beobachtbarer Vorgang hat und welche Theorien diesen Vorgang in Übereinstimmung mit den Messdaten beschreiben. In anderen Bereichen der mathematisch arbeitenden Naturwissenschaft ist dieser Vorgang ähnlich, aber

Spontane Symmetriebrechung III  S. 176

nicht immer offensichtlich. Eine Aussage z. B. über das Abschmelzen eines Gletschers erscheint vielen Beobachtenden erst einmal konkreter als eine Aussage über die Eigenschaften des Higgs-Bosons (). Aber bei genauerer Betrachtung verschwimmen die Grenzen: Zwar kann man den Gletscher anfassen, er ist also für uns Menschen sehr viel einfacher mit unseren Sinnen direkt wahrnehmbar. Andererseits beruhen alle Vorhersagen über das vergangene oder künftige Verhalten des Gletschers auf mathematischen Modellen. Wie gut er auf dem Untergrund rutscht, wie sich die Wärmeverteilung im Inneren entwickelt oder welche Unsicherheiten bei einer Messung auftreten können, beruht alles auf vorsichtiger Extrapolation von einer Messung auf eine andere, und von Erkenntnis aus dem Labor in die Realität. Die Güte eines so entwickelten Modells über den Gletscher lässt sich erst abschätzen, wenn sich die Vorhersagen experimentell bestätigen lassen. So ist es auch in der Teilchenphysik: Ein Modell ist gut, wenn es mit möglichst einfachen Annahmen alle Messungen quantitativ genau beschreibt, aufgrund derer es konstruiert wurde, und grandios, wenn es neue Vorhersagen macht, die noch nie vorher experimentell untersucht wurden und erst nach Erschaffung des Modells experimentell bestätigt werden! Daher gibt es einen eigenen Forschungszweig: die theoretische Physik, die auf der Suche nach einer immer ausgefeilteren Theorie aus fundamentalen Annahmen Vorhersagen ableitet, die dann wiederum im Experiment getestet werden können. Stimmt die Vorhersage im Rahmen der Unsicherheiten (), dann ist das Modell erfolgreich und

Hintergründe zur wissenschaftlichen Methode

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kann noch weiter untersucht werden. Stimmt die Vor- heures, objektives Wissen über die Natur, ohne den hersage nicht mit der Messung überein, auch nicht absolute Wahrheitsgehalt der Erklärungen zu kennen. unter Berücksichtigung aller möglicher Unsicherheiten der numerischen Berechnung oder der MesDabei muss die Teilchenphysik auch immer sung, dann ist das Modell gemeinsam wieder mit Situationen leben, in deerfinde und mit den in die Vorhersagen eingehennen es gar kein wirklich alles erkläverbessere Experimente den Annahmen widerlegt. Eine rendes Modell gibt, da es noch nicht nicht mit einer gut fundierten gelungen ist, ein einzelnes Modell modifiziere teste Vorhersage übereinstimmende zu konstruieren, das wirklich alle das Modell Modellvoroder Messung ist also nicht etwa Messungen richtig beschreibt. Das hersagen erschaffe ein ein Scheitern der Wissenschaft, ist aber keine Krise und kein Nachneues sondern einer ihrer wichtigsten teil von Naturwissenschaft, sondern und schöpferischsten Vorgänge! ihr Normalzustand. Es gibt oft viele stimmt ja verschiedene Auswege aus so einer Modell mit Messungen nein Die Naturwissenschaft kann ihre Situation: Man erschafft zum Beispiel überein? Theorien und Annahmen nie endeine neue zusätzliche Hypothese, die gültig beweisen, wohl aber definitiv (im vielleicht später den Weg zu einer möglichen nie Rahmen statistischer Aussagen) widerlegen, Erweiterung der erfolgreichen Theorien weistop denn eine momentan erfolgreiche Vorhersasen wird (was auch nicht einfach ist – diese ge könnte immer in Zukunft einem anderen neue Komponente darf keine einzige falsche oder genaueren Experiment widersprechen. Vorhersage für alle bisherigen Experimente Passiert das, ist aber unklar, was genau widerlegt wur- machen). Oder man geht den noch schwereren, aber de: die fundamentale Idee der Theorie, die numerische langfristig manchmal vielversprechenderen Weg: Man Berechnung ihrer Vorhersagen, die Übertragung der versucht, das ganze theoretische Gebäude auf eine Vorhersage auf ein Messinstrument, die Analyse der Si- neue, einfachere, umfassendere und oft als schöner gnale des Messinstruments, ... Dies ist ein hoch span- empfundene Grundlage zu stellen. nender Prozess, und den Gründen für die Abweichung jedes Mal baldmöglichst auf die Schliche zu kommen, Solche Umwälzungen in unserem konzeptionellen ist die kreative Kunst der Naturwissenschaften. Ob- Verständnis der Natur – geboren aus reiner Neugier – wohl wissenschaftliche Theorien also nie letztendlich schaffen jedes Mal gewaltige Fortschritte des Wissens als „wahr“ gelten können, sind sie doch das Gegenteil über die Natur, welche teils Jahrhunderte später die von willkürlich. Die erfolgreichen Theorien, Modelle unersetzliche Grundlage für unsere moderne hochund Methoden sind die wenigen Überlebenden einer technologische Wissensgesellschaft bilden. Ob solche gnadenlosen Selektion, in der alle widerlegten Model- weiteren Umwälzungen auch in Zukunft gelingen, le und unsicheren Messmethoden ausgesiebt wurden. kann nicht garantiert werden – aber die NaturwissenDie Naturwissenschaften haben mit ihnen ein unge- schaft gibt nicht auf.

Die Bestimmung von Messunsicherheiten  S. 146

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1 Die Welt der Teilchen

Vorstellung und Realität

Verschiedene Beschreibungen funktionieren Die meisten Menschen haben ein natürliches Gefühl dafür, was es „gibt“: Etwas, das man sehen, anfassen, hören oder riechen kann. Ein Beispiel dafür kann eine Spaziergängerin am Strand sein, die ein entferntes Schiff über den Horizont segeln sieht. Das Schiff gibt es offenbar, denn man kann es sehen. Das ist aber eigentlich nicht so eindeutig: Unser Gehirn registriert die vom Auge gesendeten Signale. Diese werden nach einer komplizierten Methode aus Photonen, die auf die Netzhaut treffen, vom Auge berechnet (Detektoren im Alltag ). Wir sehen also Signale des Schiffes und nicht das Schiff selbst. Jeder Kinofilm ist ein Beweis dafür, dass ein täuschend echt aussehendes Schiff kein echtes Schiff sein muss. Und mehr noch, unsere Augen sind nicht immer ehrlich zu uns, wie optische Täuschungen zeigen – oder haben Sie gesehen, dass die Kreise in der Abbildung unten links gar nicht ineinander verwoben, sondern konzentrisch angeordnet sind? Und dass die von links nach rechts laufenden Linien in der Abbildung unten rechts nicht schief, sondern parallel sind?

Auch Beobachtungen in der Teilchenphysik beruhen auf komplizierten Messprozessen, deren Interpretation dadurch erschwert wird, dass dermaßen kleine Objekte untersucht werden, dass sie sich vollständig unserer Alltagswahrnehmung entziehen. Und die Situation wird dadurch nicht einfacher, dass die Quantenmechanik () uns völlig anders über diese Objekte denken lässt. Die Teilchenphysik erschafft mathematische Modelle, die beobachtbare und vorhersagbare Phänomene in einer Theorie der fundamentalsten Teilchen und Kräfte beschreiben. Der Vorgang, wie diese Vorstellungen oder Theorien erschaffen, weiterentwickelt und verändert werden, lässt sich gut am Fortschritt unseres Wissens über das Atom illustrieren. Wir starten im Jahr 1908. Es war bekannt, dass sich chemische und physikalische Prozesse gut beschreiben lassen, wenn man annimmt, dass sich die Materie aus Atomen als unveränderliche Bausteine (Elementarteilchen ) zusammensetzt. Aber wie diese aufgebaut sind, war unklar. Hier setzen die Experimente von Hans Geiger und Ernest Marsden an, die als Rutherford-Experiment (Streuexperimente ) bekannt wurden. Geiger und Marsden beobachteten, dass 𝛼-Teilchen (Von Nukleonen zu Kernen ), die auf eine Goldfolie geschossen werden, in Optische Illusionen. Sind die Kreise links konzentrisch? Sind die horizontalen Linien rechts parallel zueinander?

Detektoren im Alltag  S. 20 Grundkonzepte der Quantenmechanik  S. 40 Was ist eigentlich ein Elementarteilchen?  S. 16 Das Prinzip von Streuexperimenten  S. 46 Von Nukleonen zu Kernen  S. 210

Vorstellung und Realität

„Ist“ das Elektron ein Punkt ohne Ausdehnung (links) oder ein sehr hypothetischer „Gleiter“ in einer extrem hypothetischen Simulation1 (rechts)? Solange beide Vorstellungen mit dem Experiment übereinstimmen, können wir das nicht auseinanderhalten.

seltenen Fällen fast zur Quelle zurückgestreut werden, viele jedoch einfach ohne Ablenkung durch die Folie dringen. Gesehen wurde das Ergebnis eines Streuexperiments und nicht die Struktur des Atoms direkt. Diese Ergebnisse wurden von Ernest Rutherford so gedeutet, dass das Atom keine kontinuierliche Massenverteilung ist, sondern einen sehr kleinen und sehr schweren Kern hat, der selten getroffen wird – dann erfolgt keine Ablenkung der Teilchen. Wird der Kern jedoch getroffen, wird das 𝛼-Teilchen in die Gegenrichtung zurückgeworfen. „Gesehen“ wurde der Atomkern als schweres punktförmiges Objekt im Atom das erste Mal also in der Vorstellungskraft von Ernest Rutherford. „Real“ ist der Atomkern dadurch, dass die Physik durch ihn Experimente sehr genau erklärt, und nicht dadurch, dass er direkt für uns Menschen „sichtbar“ ist. Heutzutage wissen die Physikerinnen und Physiker aber, dass der Atomkern gar nicht punktförmig ist, sondern aus Neutronen und Protonen besteht und diese wiederum aus Quarks und Gluonen. Und wer weiß, ob diese gar nicht punktförmig und elementar sind, sondern wieder aus anderen, noch unbekannten Teilchen bestehen?

1

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Die Schlussfolgerung aus dieser Entwicklung kann aber nicht sein, dass Rutherfords abstrakte Vorstellung des Atomkerns als schweres punktförmiges Objekt falsch oder der Atomkern nicht eine Entsprechung in der Realität hat. Die Physik verändert und verbessert zwar im Laufe ihres Fortschritts die genauen Vorstellungen und Inhalte ihrer Theorien über die Natur, aber dadurch verschwinden die einmal beobachteten und beschriebenen experimentellen Resultate nicht nachträglich, sobald eine verbesserte Beschreibung vorliegt. Daher sind die Vorstellungen der modernen Physik nicht einfach nur Formeln ohne jede weitere dahinterliegende Bedeutung für die Realität. Wichtig für die Fortentwicklung der Vorstellung fundamentaler Bausteine ist die Vorstellung der Repräsentation: Eine Weiterentwicklung des Verständnis der fundamentalen Physik erfolgte oft dann, wenn neue Phänomene nicht einfach nur durch eine empirisch hergeleitete Formel beschrieben werden, sondern durch eine Idee, die von der Formel repräsentiert wird. Um in Rutherfords Beispiel zu bleiben: Die Häufigkeit der Rückstreuung der 𝛼-Teilchen kann man mit einer spontan dafür aufgestellten Wahrscheinlichkeit beschreiben und dann keine weiteren Schlüsse aus Geigers und Marsdens Experiment ziehen. Oder man kann untersuchen, ob die Idee des Atomkerns, die die beobachtete Wahrscheinlichkeit der Rückstreuung erklärt, in ganz vielen anderen Bereichen noch viel weiter trägt. Genau das hat die Physik getan und Streuexperimente begleiten uns nun bis zum Large Hadron Collider unserer Zeit. Letzterer Ansatz, bewusst für Ideen repräsentative Theorien zu nutzen und alle ihre vorhergesagten Konsequenzen zu erforschen, ist der Weg, der sich durch dieses ganze Buch zieht.

Für die Interessierten: Diese Anspielung bezieht sich auf “Conway’s Game of Life”, https://playgameoflife.com/

2 Allgemeine Grundlagen Bevor wir zum Herzen dieses Buches vordringen, wollen wir uns erst einige Grundlagen anschauen, die wir im Buch immer wieder verwenden werden. Am LHC bewegen sich sowohl die Protonen im Beschleuniger als auch die neu produzierten Teilchen sehr nahe der Lichtgeschwindigkeit. Um ihr Verhalten zu verstehen, brauchen wir die spezielle Relativitätstheorie. Wir bewegen uns in der Teilchenphysik auf dem subatomaren Niveau. Darum ist es wichtig, einige Konzepte der Quantenmechanik zu verstehen. Dazu gehört, wie wir trotz der Zufälligkeit einzelner Ereignisse, z. B. dem radioaktiven Zerfall, noch exakte Vorhersagen machen können. Wir diskutieren auch, dass die Teilchen eine permanente innere Drehbewegung vollführen, den Spin. Teilchen können erzeugt und zerstört werden und sie können sogar spontan zerfallen. Um etwas über diese unvorstellbar kleinen Teilchen zu lernen, führen wir riesige Streuexperimente durch. Was ist das überhaupt und warum machen wir das? Und wie können wir mit relativ einfachen grafischen Mitteln, den sogenannten Feynman-Graphen, Reaktionen von Elementarteilchen darstellen und erklären? Schließlich besprechen wir noch, wie wichtig Symmetrien zum Verständnis der Teilchenphysik sind – sogar dann, wenn sie gebrochen sind!

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2 Allgemeine Grundlagen

Energie und Leistung

Kilowattstunden, Elektronenvolt, ... wie hängt das alles zusammen? Im Artikel über Plasmabeschleunigung () ist von einem 850 Terawatt (850 ∙ 1012 Watt) starken Laser die Rede. Ein Kraftwerk liefert aber nur ein Gigawatt (109 Watt) an elektrischer Leistung, also fast einen Faktor eine Million kleiner. Wie passt das zusammen? Im Buch wird immer wieder die Energie in Elektronenvolt angegeben. Was hat das mit der Einheit Kilowattstunden, die Sie auf Ihrer Stromrechnung finden, zu tun? Um all das geht es in diesem Artikel. Der Schlüssel zum Verständnis ist die Unterscheidung zwischen Energie und Leistung. Zwei Tour-de-FranceTeilnehmer, die unterschiedlich schnell einen Bergpass hochfahren, haben die gleiche Arbeit geleistet und damit die gleiche Energie aufgewendet, wenn wir, wie so häufig in der Physik, einige Näherungen vornehmen. Wir vernachlässigen Reibungsverluste und gehen davon aus, dass beide Fahrer samt Rädern auf die gleiche Masse m kommen. Die geleistete Arbeit berechnet sich dann einfach zu W = m∙g∙h ,

Ein Pumpspeicherkraftwerk speichert Energie.

Plasmabeschleunigung  S. 116

wobei h die gewonnenen Höhenmeter und g = 9,81 m/s2 die Erdbeschleunigung ist. Um diese Arbeit wurde die in den Radfahrern gespeicherte Energie, hier die potentielle Energie, erhöht. Nichts anderes nutzt man in einem Pumpspeicherkraftwerk aus. Wasser wird nach oben gepumpt, z. B. mit überschüssiger Energie aus Windkraftanlagen. Dadurch gewinnt es an potentieller Energie. Später, wenn benötigt, kann die Energie des Wassers in einem Kraftwerk durch Herablassen in elektrische Energie umgewandelt werden. Jetzt kommen wir zur Leistung. Der Radfahrer, der den Berg schneller hochgefahren ist, hat die größere Leistung vollbracht, denn Leistung ist nichts anderes als Arbeit pro oder geteilt durch Zeit. Sehen wir uns dazu die Einheiten genauer an. Nach der vorherigen Formel hat Arbeit die Einheit kg m2/s2. Dafür wurde auch die Einheit Joule eingeführt. Die Leistung hat demnach die Einheit J/s = kg m2/s3, wofür auch die Einheit Watt gebräuchlich ist. Weitere Details dazu gibt es im Informationskasten rechts. Auf Ihrer Stromrechnung finden Sie die Einheit Kilowattstunde oder kurz kWh. Dies entspricht einer Energie, da eine Leistung (kW = 103 W) mit einer Zeit (h = Stunden) multipliziert wird. Auf einer Glühbirne ist die Leistungsangabe in Watt maßgeblich. Was hat es damit auf sich? Dem Elektrizitätswerk bezahlen Sie eine Arbeit oder Energie. Es ist also egal, ob Sie eine 100 Watt Birne eine Stunde brennen lassen oder eine 50  Watt Birne zwei Stunden. In beiden Fällen muss das Elektrizitätswerk die gleiche Energie zur Verfügung stellen.

Energie und Leistung

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E

Umrechnung von Energieeinheiten In den Basiseinheiten Meter, Kilogramm und Sekunde ausgedrückt, hat die Energie die Einheit

− + Elektronen werden zwischen zwei entgegengesetzt geladenen Platten beschleunigt. Dabei gewinnen sie an kinetischer Energie.

Kommen wir zurück auf das Beispiel mit dem Laser. Die enorme Leistung des Lasers muss nur einen Bruchteil von Sekunden zur Verfügung gestellt werden, typischerweise 10−14 s. Das heißt, der Laser benötigt für so einen kurzen Puls nur eine Energie von 8,5 Joule, wie sich einfach durch Multiplikation von 850 ∙ 1012 W ∙ 10 −14 s nachrechnen lässt. Wie im Informationskasten gezeigt, könnte diese Energie von einer einfachen Batterie bereitgestellt werden. Was bedeutet jetzt die Einheit Elektronenvolt, die so oft in diesem Buch Verwendung findet? Ein Elektron, das eine Spannung von einem Volt durchläuft, gewinnt ein Elektronenvolt (eV) an Energie. Wie im unteren Teil des Informationskastens gezeigt, ist ein Elektronenvolt nichts anderes als 1,6 ∙ 10 −19 J. In Joule ausgedrückt, ist der Zahlenwert also sehr klein. Daher rechnet man in der Teilchenphysik lieber mit Elektronenvolt.

1 kg m2/s2 = 1 J . Zur Vereinfachung wurde die Einheit Joule (J) eingeführt. Da die Leistung Energie pro Zeit ist, gilt für die Einheit 1 kg m2/s3 = 1 J/s = 1 W , was auch als Watt (W) bezeichnet wird. Nun gilt natürlich auch 1 J = 1 Ws. Da eine Stunde (Einheit: h) 3.600 Sekunden hat und 1 W = 1/1.000 kW ist, kann man schreiben 1 J = W ∙ 1/3.600 · h = 1/3.600.000 kWh = 2, 78 · 10−7 kWh . Ein Elektron, das eine Spannung von einem Volt durchläuft, gewinnt ein Elektronenvolt (eV) an Energie. Die Elementarladung ist e = 1,6 · 10−19 Coulomb (C). In der Elektrizitätslehre lernt man, dass ein Coulomb × Volt einem Joule entspricht, also 1 eV = 1,6 · 10 −19 J . Ein Coulomb ist nichts anderes als ein Ampère × Sekunde. Wenn Sie nun eine handelsübliche 1,2-VBatterie mit der Angabe 2.450 mAh (Milliampèrestunden) in der Hand halten, können sie leicht die darin verfügbare Energie ausrechnen: E = 1,2 V · 2.450 mAh = 10.584 J . Genau diese Energie gewinnt eine Masse von m = 1 kg, wenn sie im Schwerefeld der Erde um h = 1.079 m angehoben wird, denn E = m g h = 10.584 J . Dabei ist g = 9,81 m/s2 die Erdbeschleunigung.

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2 Allgemeine Grundlagen

Spezielle Relativitätstheorie Wie schnell ist schnell?

Licht bewegt sich blitzschnell mit einer Geschwindigkeit von c = 2,998 · 108 m/s. Dies ist für uns im Alltag unvorstellbar hoch. Aber ein Licht- oder Radiosignal braucht von der Erde zum Mond etwa 1,25 Sekunden, zu einer Marssonde sind es schon zwischen 3 und 22 Minuten. Dies hat direkte Konsequenzen für die Kommunikation. Auch in der Teilchenphysik ist das alltäglich, z.B. fliegen am LHC die Protonen mit 99,9999989 % der Lichtgeschwindigkeit durch den Beschleuniger.

Das Relativitätsprinzip ist soweit nachvollziehbar. Ein Tischtennis- oder ein Billardspiel in einem gleichmäßig fahrenden Zug unterscheidet sich nicht von einem in der Bahnhofshalle. Das zweite Postulat ist allerdings merkwürdig: Ein vom fahrenden Zug geworfener Ball ist natürlich für den Beobachter auf dem Bahnsteig schneller als für den im Zug. Bei Licht ist das nicht so.

Wie wir sehen werden, sind die resultierenden Effekte auch für die Teilchenphysik sehr wichtig. Um das besser zu verstehen, schauen wir uns als Beispiel eine In der Nähe der Lichtgeschwindigkeit werden die Be- Messung der Laufzeit eines Lichtsignals in einem Zug wegungen durch die spezielle Relativitätstheorie be- an, verglichen mit der Messung der Laufzeit desselben schrieben. Sie beruht auf zwei Grundsätzen, die beide Lichtsignals vom Bahngleis aus. experimentell bestätigt sind: Nehmen wir an, eine Frau steht in einem Zugabteil (in 1. Relativitätsprinzip: Es gebe zwei Beobachter, die der Abbildung links). Dort sind zwei Spiegel im Absich relativ zueinander mit einer konstanten geradli- stand ℓA horizontal und parallel zueinander aufgestellt, nigen Geschwindigkeit bewegen, z. B. eine Person in einer an der Decke und einer am Boden. Zwischen den einem gleichmäßig vorbeifahrenden Zug und die an- Spiegeln kann die Frau Lichtsignale hin und her schidere auf dem Bahnsteig. Das Relativitätsprinzip besagt, cken. Indem sie die vom Licht zurückgelegten Bahnen dass die Naturgesetze für diese zwei Beobachter gleich die Lichtgeschwindigkeit konstant ist, aber die Strecke ℓB größer sind. Solche ruhenden oder gleichmäßig sich bewegen- Da ist als ℓA, ergeben sich unterschiedliche Laufzeiten von Lichtsignaden Beobachtungsstandpunkte, oder Bezugssysteme, len in den beiden Bezugssystemen links und rechts. heißen auch Inertialsysteme. Im Zugabteil betrachtet Vom Bahnsteig aus betrachtet v

2. Konstante Lichtgeschwindigkeit: Die Lichtgeschwindigkeit ist in allen Inertialsystemen gleich, auch wenn das Licht in einem anderen System abgesendet wurde. So hat ein Lichtstrahl, der vom fahrenden Zug abgestrahlt wird, auch für den Beobachter auf dem Bahnsteig die Geschwindigkeit c.

Lichtsignal

ℓB

ℓA

ℓV

Spezielle Relativitätstheorie

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zählt, hat sie eine Uhr mit Takteinheit tA = ℓA/c, anstatt im zweiten Fall. Der Unterschied heißt auch Zeitdilaz. B. Sekunden. Die Länge, also der Abstand der Spie- tation oder Zeitausdehnung. Da v immer kleiner ist als gel, als Funktion der Zeit ist: ℓA = c tA. c, ist 𝛾 ≥ 1 und somit tB ≥ tA. Somit laufen die Uhren im Zug anders als die Uhren am Bahnsteig. Der Zug fährt nun mit Geschwindigkeit v an einem Mann am Bahnsteig vorbei. Für ihn ist dies auch eine In der speziellen Relativitätstheorie kann man ähnlich Uhr, mit möglicherweise anderer Takteinheit tB. In der eine Längenkontraktion herleiten, wobei es um Längen Zeit, in der das Lichtsignal einmal zwischen den Spie- in Bewegungsrichtung der Geschwindigkeit v geht. In geln von oben nach unten fliegt, bewegt sich der Zug unserem Fall misst die Frau im Zug, die ja ruht bezügeine Strecke ℓV = v tB vorwärts. Hier benutzen wir tB, lich des Zugwaggons, dessen Länge als LZ0. Der Mann da der Mann diese Strecke misst. Aufgrund dieser Be- am Bahngleis, für den sich der Zug mit v vorbeibewegt, wegung sieht der Mann am Bahnsteig, dass das Licht misst jedoch die Länge LZv. Die spezielle Relativitätseiner längeren, diagonalen Strecke folgt. Es legt die theorie sagt nun, dass LZv = LZ0 /𝛾 , d. h. der Mann sieht Strecke in der Zeit tB zurück: ℓB = c tB (siehe rechten den Zugwaggon um den Faktor 1/𝛾 verkürzt. Ebenfalls Teil der Abbildung). Nach dem zweiten Grundsatz lässt sich Einsteins berühmte Formel müssen wir dieselbe Lichtgeschwindigkeit c benutzen, E0 = m c 2 obwohl das Licht vom fahrenden Zug abgesandt wurde. Wie man der Abbildung entnehmen kann, bilden herleiten. Diese besagt, dass die Masse eines Teilchens die drei Strecken ein rechtwinkliges Dreieck. Der Satz eine Form von Energie ist, hier genauer die Ruhedes Pythagoras ergibt demzufolge ℓV2 + ℓA2 = ℓB2 . Wenn energie, was durch den Index 0 angedeutet wird. Hier wir die Geschwindigkeiten und Zeiten einsetzen, erhal- wird die Masse (in kg) mit dem sehr großen Faktor der ten wir: Lichtgeschwindigkeit zum Quadrat multipliziert. Die2 2 2 2 2 2 se Formel gilt im Ruhesystem des Teilchens. Wenn z. B. v tB + c tA = c tB . ein Proton mit Masse m in einem Laborexperiment ruht, hat es die Energie E0 = m c 2. Wenn ein Proton Nach tB aufgelöst erhält man somit sich aber in einem Bezugssystem mit der GeschwintA tB = = 𝛾 t , digkeit v bewegt, also z. B. am LHC, hat es vom LaborA v2 √1 – _ c2 system aus betrachtet die Gesamtenergie wobei der sogenannte Boostfaktor „Gamma“ eingeE = 𝛾 m c 2. führt wurde: Hier ist 𝛾 wieder der Boostfaktor. Wenn v sich der 1 𝛾= . 2 Lichtgeschwindigkeit nähert, wird 𝛾 immer größer, v √1 – _ c2 und man bräuchte unendlich viel Energie, um das ProDies bedeutet, um dieselbe Lichtgeschwindigkeit zu ton auf Lichtgeschwindigkeit zu bringen. Die Lichtgarantieren, müssen die zwei Beobachter unterschied- geschwindigkeit ist also eine absolute obere Grenze, liche Zeiten messen! Dies liegt an der längeren Strecke selbst auf deutschen Autobahnen.

36

2 Allgemeine Grundlagen

Kinematik

Impuls und Drehimpuls Die Kinematik ist die mathematische Beschreibung und die Messung von Bewegung. Im Alltag beschreiben wir Bewegung auf eine einfache Art: Jedes Objekt befindet sich zu einem gegebenen Zeitpunkt t am Ort x, y und z in den drei Raumdimensionen, wobei z. B. x den Ort in der Richtung links/rechts, y in Richtung oben/unten und z in Richtung vorne/hinten angibt. Ein Objekt hat eine Masse m und bewegt sich mit Geschwindigkeit vx, vy und vz nach links oder rechts, oben oder unten und vorwärts oder rückwärts. Die Größe der Masse m beschreibt, wie viel Materie sich bewegt. Die drei Größen der Geschwindigkeit vx, vy und vz bilden zusammen einen dreidimensionalen Vektor, vĺ = (vx, vy, vz), der die Rate der Änderung des Ortes in den drei Raumdimensionen beschreibt. Nur diese vier Größen (m, vx, vy, vz) werden benötigt, um eine Bewegung zu beschreiben. Wie ist das bei relativistischen Geschwindigkeiten in der Teilchenphysik? Dort ist das Prinzip genauso. Allerdings ist der Betrag der Geschwindigkeit notwendigerweise kleiner als die Lichtgeschwindigkeit v ≤ c, eine der Grundannahmen der Relativitätstheorie (). Außerdem ist es wichtig zu beachten, dass die Geschwindigkeit begrenzt ist, aber nicht die Energie. Für p1

p2

Die Angabe der Geschwindigkeit ist somit im relativistischen Fall nicht so praktisch, weil z. B. bei den hohen Energien am LHC fast alle Werte sehr nah an c sind. Ein Proton mit Energie E = 20 GeV hat die Geschwindigkeit 99,89 % von c. Bei 50 GeV sind es 99,98 % von c. Die Geschwindigkeit ändert sich nur um weniger als ein Promille bei mehr als einer Verdoppelung der Energie. Es stellt sich heraus, dass stattdessen der Impuls eine geeignete Größe ist. Er ist ebenfalls ein Vektor und hat drei Komponenten für die drei Raumrichtungen: pĺ = (px, py, pz). In der klassischen Mechanik ist der Impulsvektor definiert als pĺ =m vĺ (also px =m vx, py =m vy, pz =m vz), und somit als Masse mal Geschwindigkeit. Dies muss in der speziellen Relativitätstheorie verallgemeinert werden zu pĺ =𝛾 m vĺ, wobei 𝛾 wieder der LorentzBoostfaktor ist. Somit ist der Impuls ähnlich wie die Energie nicht beschränkt. Insgesamt gibt es die folgende Beziehung zwischen Energie E und Impuls: E 2 = (m c 2)2 + (pĺc)2 .

p1 + p2

p2

die Energie gilt im relativistischen Fall E = 𝛾 m c 2, wov2 bei 𝛾 = 1/√1 – _ c 2 der Lorentz-Boostfaktor ist. Je näher v an c herankommt, desto größer wird 𝛾 und damit die Energie. Die Geschwindigkeit selbst bleibt aber immer unter c.

Die Addition zweier Impulse p1 und p2

p1

Spezielle Relativitätstheorie  S. 34 Orts- und Impulsmessung  S. 72 Grundkonzepte der Quantenmechanik  S. 40

Die Energie ist im Gegensatz zum Impuls kein Vektor, also keine gerichtete Größe, und enthält neben Beiträgen von der Bewegung und somit vom Impuls (pĺ c)2 auch den Beitrag von der Ruheenergie mc 2.

Kinematik

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z In den LHC-Detektoren kann man den Impuls von → L elektrisch geladenen Teilchen messen (). Die Detektoren haben ein gleichbleibendes Magnetfeld B. In y p→ = m ·v→ diesem Feld ist die Flugbahn der geladenen Teilchen gekrümmt, mit Krümmungsradius R. Dann ist der → r Impuls p = q B R, wobei q die elektrische Ladung des Teilchens ist. Da q und B fest sind, ist somit der x Impuls direkt proportional zum gemessenen Krümmungsradius. Dafür muss die Bahnkurve möglichst genau bestimmt werden. migen Bewegung eines Teilchens mit Impuls p ist der Drehimpuls L = r p, wobei r der Abstand des TeilDer Impuls ist eine besonders wichtige Größe, weil er chens vom Kreismittelpunkt ist. Der Drehimpuls ist in allen Teilchenphysik-Kollisionen erhalten ist. Die auch eine gerichtete Größe, dessen Richtung durch die Summe der Impulse aller Teilchen vor dem Stoß ist Rechte-Hand-Regel gegeben ist. Er zeigt also aus der gleich der Summe aller Impulse nach dem Stoß. Hier- Drehebene senkrecht heraus. bei müssen die Impulse als Vektoren addiert werden, so wie im Bild die Impulse pĺ1 und pĺ2. Sollte in einem Der Drehimpuls ist außerdem eine Erhaltungsgröße Ereignis am LHC z. B. ein Neutrino produziert werden, wie Impuls und Energie. Das nutzen beispielsweise welches unbeobachtet den Detektor verlässt, so werden auch Schlittschuhläuferinnen aus: Wenn sie bei einer sich die beobachteten Impulse senkrecht zum einlau- Pirouette die Arme nach innen ziehen, verringern sie r. fenden Protonstrahl nicht zu null addieren, obwohl der Da L erhalten ist, muss p erhöht werden, und sie dreAnfangszustand keinen Impuls in senkrechter Rich- hen sich spektakulär schneller (siehe auch die Abbiltung hat.1 Dies wird als fehlender Transversalimpuls dung im Artikel zur P- und CP-Verletzung ). bezeichnet (engl.: missing transverse momentum). Der Drehimpuls ist in der Quantenmechanik quantiEin Photon kann mit einem ruhenden Elektron kolli- siert, d. h. es sind nur feste Werte erlaubt: 0, 1/2, 1, 3/2, dieren, und danach bewegt sich das Elektron, es hat usw.). In der Teilchenphysik ist er wichtig, da allen Teilalso einen Impuls. Demnach müssen wir auch dem chen ein Eigendrehimpuls, genannt Spin (), zugeordPhoton einen Impuls zuschreiben, obwohl es die Ru- net wird. Das Elektron und das Proton haben je Spin hemasse null hat. Der Impuls p𝛾 eines Photons der 1/2, und tragen dementsprechend diesen Drehimpuls Energie E ist p𝛾 = E/c = hf/c, wobei f die Frequenz mit sich. Halbzahlige Spins wie beim Elektron und des Photons ist (). Proton sind ein reiner quantenmechanischer Effekt. Das Photon hat Spin 1, hat also doppelt so viel DrehWir wollen nun noch eine weitere Größe betrachten, impuls. In den Wechselwirkungen der Teilchenphysik den Drehimpuls. Der Drehimpuls ist ein Maß für eine ist der Drehimpuls erhalten. Dazu trägt oft nur der Drehbewegung um einen Punkt. Bei einer kreisför- Spin der Teilchen bei, wie z. B. im Zerfall des Pions ().

1

Hier schauen wir nur auf die senkrechte Richtung, da in Vorwärtsrichtung auch geladene Teilchen im Strahlrohr unentdeckt bleiben können. Diskrete Symmetrien: P- und CP-Verletzung  S. 178 Spin  S. 44 Der Pion-Zerfall  S. 180

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2 Allgemeine Grundlagen

Beschleunigung und Strahlung Wer beschleunigt, der strahlt

Wenn man eine elektrische Ladung beschleunigt, so strahlt sie Energie in Form von elektromagnetischen Wellen ab. Hierzu gibt es viele technische Anwendungen, z. B. Radio, Handy, Mikrowelle und Röntgenröhre. In der Natur entsteht so das Licht der Sonne oder infrarote Wärmestrahlung von der Glut im Feuer. Beim Betrieb von Teilchenbeschleunigern mit Elektronen ist diese Strahlung sehr wichtig, denn sie führt zu einem großen Energieverlust. Genau diese Strahlung wird aber auch eingesetzt, um z. B. Molekülstrukturen zu analysieren (Synchrotronstrahlung ).

ab. Sie bewegen sich erst schneller nach oben, werden abgebremst, drehen um und werden nach unten hin schneller. Dann bremsen sie wieder ab, drehen um und fliegen nach oben. Sie ändern ständig den Betrag und die Richtung ihrer Geschwindigkeit und strahlen dabei Radiowellen aus. Im Handy ist die Antenne kleiner und die Frequenz höher, aber es passiert das Gleiche. In einer Röntgenröhre werden sehr schnelle Elektronen auf ein Stück Metall geschossen. Dort werden sie auf einer sehr kurzen Strecke auf null abgebremst. Die Elektronen werden also negativ beschleunigt und strahlen Röntgenstrahlen ab. In einem heißen Stück Im Alltag bedeutet Beschleunigung, die Geschwin- Metall wackeln die Elektronen stark hin und her und digkeit zu erhöhen. Wer beim Radfahren fester in die strahlen rotes oder weißes Licht ab, je nach der TemPedale tritt, wird schneller – man beschleunigt. In der peratur des Metalls. Physik bedeutet Beschleunigung, dass sich die Geschwindigkeit ändert. Also gehört auch das Bremsen In einem Kreisbeschleuniger ändern die Elektronen dazu, man spricht von einer negativen Beschleunigung. oder Protonen ständig ihre Richtung, weil sie im Kreis fliegen: Sie strahlen Energie ab. Am LHC verlieren die Wenn man einen Ball an einer Schnur gleichmäßig auf Protonen pro Umdrehung etwa 7 keV oder ein Millieiner Kreisbahn um den eigenen Kopf schwingt, so ist ardstel ihrer Energie. Doch wie genau entsteht diese der Betrag der Geschwindigkeit immer gleich, aber die Strahlung? In der ersten Abbildung sehen wir eine DarRichtung ändert sich ständig. Die Geschwindigkeit ist stellung der elektrischen Feldlinien eines unbewegten in der Physik eine gerichtete Größe: Sie hat einen Be- Elektrons. Sie sind unveränderlich und reichen radial trag und eine Richtung. Selbst dann, wenn sich nur die nach außen ins Unendliche. Das Elektron strahlt aber Richtung ändert, ist dies eine Beschleunigung, und bei nicht, das Feld überträgt keine Energie in die Ferne. einem geladenen Teilchen wird in diesem Fall Energie Wenn sich das Elektron mit einer geradlinigen gleichabgestrahlt. mäßigen Geschwindigkeit bewegt, so kann es aufgrund der speziellen Relativitätstheorie () auch nicht strahSchauen wir uns eine beschleunigte Ladung genauer len, denn in gleichmäßig bewegten Bezugssystemen an. In einer senkrecht aufgestellten Radioantenne wa- gilt die gleiche Physik wie in ruhenden. Wieso strahlen ckeln die Elektronen im Metall der Antenne auf und aber beschleunigte geladene Teilchen? Wir versuchen,

Synchrotronstrahlung  S. 122 Spezielle Relativitätstheorie  S. 34

Beschleunigung und Strahlung

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t = t1

t=0

t = t2 = 2 t1



E

v

A

x

AB

v

x

AB

x

Elektromagnetische Strahlung entsteht, wenn eine Ladung beschleunigt wird.

dies anhand der anderen beiden Bilder zu verdeutli- Wenn wir die Ladung wieder zurück zum Punkt A bechen. schleunigen, entsteht ein zweiter hellblauer Ring und ein neuer umgekehrter Knick (drittes Bild). Außerdem Dazu bewegen wir, wie in der zweiten Abbildung zu hat sich der erste Ring mit Lichtgeschwindigkeit weiter sehen, innerhalb einer kurzen Zeit das Elektron eine ausgebreitet. Wird die Ladung nun ständig hin- und kleine Distanz vom Punkt A nach rechts zum Punkt B. herbewegt, so entstehen viele solcher Knickbereiche, Dann verschiebt sich auch das elektrische Feld, aller- die genau wie eine Welle aussehen. Diese Welle breidings nur in einem kleinen Bereich. In der kurzen Zeit tet sich mit Lichtgeschwindigkeit aus und trägt Enerkonnte ein Lichtsignal nur die Entfernung bis zum hell- gie – elektromagnetische Strahlung entsteht. Die Welle blauen Ring fliegen. Somit konnte sich nur innerhalb kann daraufhin z. B. in einer Empfangsantenne wieder des hellblauen Rings das elektrische Feld verändern. ein Elektron beschleunigen und im Radiogerät Musik Wenn eine Beobachterin außerhalb des hellblauen erzeugen. Rings steht, so kann sie noch gar nicht wissen, dass sich das Elektron bewegt hat. Das Feld hat sich dem- Es ist klar: Wenn man periodisch mit dem Finger in entsprechend dort noch nicht verändert. Das sagt uns Wasser tupft, so breitet sich eine schöne Welle aus. die spezielle Relativitätstheorie: Die Lichtgeschwindig- Beim Elektromagnetismus gibt es kein Medium wie keit ist hoch, aber endlich. Weiterhin muss das elektri- Wasser, das die Welle transportiert. Aber wenn man an sche Feld kontinuierlich sein, d. h. die Linien müssen einer elektrischen Ladung wackelt, so muss das elektriverbunden bleiben. So entsteht am Übergang entlang sche Feld wackeln. Diese Störungen breiten sich dann des hellblauen Kreises ein Knick in der Feldlinie, wie in als Wellen aus. Dies passiert auch im fast leeren Weltall der Abbildung zu sehen ist. Der Knickbereich ist dort, und sogar im Vakuum. So können wir z. B. mit dem Rowo nur ein Teil der Bewegung beobachtbar war. ver auf dem Mars kommunizieren.

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2 Allgemeine Grundlagen

Grundkonzepte der Quantenmechanik Von Pfeilen und Elektronen

Unsere Erfahrung lehrt uns: Wenn nur Abschussgeschwindigkeit und -richtung eines Pfeiles stimmen, dann trifft er auch sicher sein Ziel – für den legendären Robin Hood galt das immer. Und wir können diese Flugbahn exakt berechnen, wenn wir Abschusspunkt und Geschwindigkeit exakt kennen (sowie z. B. die Windverhältnisse). Auf mikroskopischer Ebene ist das jedoch ganz anders: Die Quantenmechanik lässt nicht zu, dass wir Ort und Geschwindigkeit z. B. eines Elektrons gleichzeitig exakt kennen, und bekannt ist lediglich die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Elektron in einem gegebenen Experiment an einem bestimmten Ort ankommt. Trotzdem erlauben sie und ihre Weiterentwicklung, die Quantenfeldtheorie, Vorhersagen von unglaublicher Genauigkeit zu machen.

wenn dessen Impuls und damit seine Energie wächst. Um der erwähnten Welleneigenschaft der Teilchen Rechnung zu tragen, werden diese durch sogenannte Wellenfunktionen beschrieben. Aus dem Quadrat dieser Wellenfunktionen kann berechnet werden, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Teilchen an einem bestimmten Ort zu finden ist. Die zeitliche und räumliche Entwicklung der Wellenfunktionen wird durch die Schrödingergleichung (siehe Kasten) festgelegt.

e k a n nte R i c ht u n g

unb

unbekannter Ort

Aber was bedeutet das nun für die Eigenschaften von Teilchen? Betrachten wir dazu eine ebene Wasserwelle, die sich geradlinig ausbreitet. Sie hat eine wohl definierte Geschwindigkeit, ist jedoch im Raum sehr weit ausgedehnt. Beschreibt diese Welle ein Teilchen, so kennt man also sehr gut dessen Geschwindigkeit bzw. Urvater der Quantenmechanik war Max Planck, der für seinen Impuls, aber die Wahrscheinlichkeit, das TeilLicht bzw. elektromagnetische Strahlung den Zusam- chen zu finden, ist entlang der gesamten Wellenfront menhang E = h f zwischen Energie E und Frequenz f gleich groß; der Aufenthaltsort ist unbekannt. postulierte, da es ihm nur so möglich war, das Strahlungsspektrum von Körpern wie der Sonne zu erklären. Der Faktor h ist heute bekannt als Planck’sches Wirkungsquantum – es ist wie beispielsweise die Lichtgeschwindigkeit eine der Naturkonstanten. Damit kann also der Energiegehalt von Licht einer bestimmten Frequenz nur in Schritten von h f zunehmen – diese Schritte werden auch als Quanten bezeichnet. Louis de Broglie nahm die Idee auf und behauptete, dass sich selbst Materieteilchen wie Wellen verhalten, mit einer Welbekannter Ort lenlänge 𝜆 = h/p. Hierbei ist p der Impuls, für lang- Eine ebene Welle, die sich durch einen Spalt drückt. Was hier für same Teilchen gegeben aus Masse mal Geschwindig- eine Wasserwelle gezeigt ist, gilt für alle Wellen (auch Wellenfunkkeit. Die Wellenlänge eines Teilchens wird also kürzer, tionen).

Grundkonzepte der Quantenmechanik

Betrachten wir nun den Moment, in dem diese Welle durch einen engen Spalt läuft. Beschreibt die Welle als Wellenfunktion ein Teilchen, dann kennen wir dessen Aufenthaltsort zu diesem Zeitpunkt sehr genau (im Spalt) – aber wir wissen nichts mehr über seine Bewegungsrichtung, denn beim Durchgang durch den Spalt wird aus der ebenen Welle eine halbkreisförmige, so dass nun alle nach vorn gewandten Flugrichtungen gleich wahrscheinlich sind. Werner Heisenberg hat mit seiner Unschärferelation gezeigt, dass das Produkt aus den Unsicherheiten in Ort und Impuls immer größer sein muss als h /(4𝜋). Das Planck’sche Wirkungsquantum kontrolliert also, ob Quanteneffekte eine Rolle spielen – oder nicht. Genauer gesagt, lässt sich zu jeder Teilchenbahn, auch der des oben genannten Pfeils, ihre Wirkung berechnen. Der Pfeil von Robin Hood fliegt also nur deswegen auf einer wohl definierten Bahn, da die ihm zugeordnete Wirkung sehr viel größer als das Planck’sche Wirkungsquantum ist und damit Quanteneffekte eben keine Rolle spielen. Aber warum gibt es das Problem mit Orts- und Impulsmessung? Um den Ort eines Elektrons zu messen, kann man Photonen benutzen – man muss es anleuchten; logisch. Diese Photonen können aber keine Ortsmessung liefern, die genauer ist als ihre Wellenlänge. In anderen Worten: Um den Aufenthaltsort eines Elektrons sehr genau zu messen, muss man Photonen mit großem Impuls verwenden, da ja, wie oben gesagt, zu einer kleinen Wellenlänge ein großer Impuls gehört. Trifft jedoch ein Photon mit großem Impuls auf ein Elektron, so kann auch ein großer Impuls übertragen werden – damit geht also Information über den Impuls des Elektrons durch die Ortsmessung verloren.

1

41

Die Schrödingergleichung Die zeitunabhängige Schrödingergleichung lautet in einer Raumdimension −

d2 h2 Ψ(x) = (E −V(x))Ψ(x ) , 2 M (2𝜋)2 dx 2

wobei x die Position des Teilchens bezeichnet, V(x) die potentielle Energie und E die Gesamtenergie des Systems. Die Wellenfunktion Ψ(x ) ist hier also eine Funktion der Ortsvariable x. Betrachten wir nun als Beispiel ein Elektron, das an ein Proton gebunden ist, also ein Wasserstoffatom. Dann ist die Masse in obiger Gleichung die Elektronenmasse M = me, und V(x) = −𝛼hc/(2𝜋x), mit 𝛼 für die Feinstrukturkonstante, dem Stärkeparameter der elektromagnetischen Wechselwirkung, h für das Planck’sche Wirkungsquantum und c für die Lichtgeschwindigkeit. Dies ist die quantenmechanische Version des Coulomb-Gesetzes (die allgemeine Gleichung hat natürlich drei Raumdimensionen). Für gebundene Elektronen gilt E < 0. In diesem Fall sind nur Wellenfunktionen zulässig, die für große Abstände schnell abfallen – schließlich sollen sie ja ein Elektron, das an ein Proton gebunden ist, beschreiben. Solche Lösungen gibt es jedoch nur für sehr spezielle Energien: Die Bindungsenergien sind quantisiert und können nur die Werte En = 𝛼2mec 2/(2n2 ), mit n = 1,2,3,... annehmen. Für den Grundzustand ergibt sich somit E0 = 𝛼2mec 2/2 = 13,6 eV. Ein ähnlicher Zusammenhang wie zwischen Ort und Impuls besteht übrigens auch zwischen Energie und Zeit: (ΔE)(Δt ) ≥ h /(4𝜋), wobei Δ die Unsicherheit (genauer: Varianz) in der Messgröße beschreibt.

Die Wirkung, um die es hier geht, ist ein mathematisches Konstrukt, nämlich die Differenz aus kinetischer Energie und potentieller Energie integriert über die komplette Flugzeit.

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2 Allgemeine Grundlagen

Zufall und Vorhersage Quantenmechanik at work

Leuchtet man z. B. mit einem Laser auf zwei schmale, eng beieinander liegende Spalte, dann entsteht auf einem Schirm dahinter nicht deren Abbild: Die Lichtwellen aus den beiden Spalten überlagern sich und können sich verstärken (heller Streifen) oder auslöschen (dunkler Streifen). Diese Art der Überlagerung nennt sich Interferenz, das Streifenmuster Interferenzmuster. Führt man das gleiche Experiment mit Elektronen durch, entsteht ebenfalls ein Streifenmuster aus Bereichen, in denen viele Elektronen auftreffen, und solchen, in denen gar keine ankommen, denn auch Elektronen verhalten sich wie Wellen.

beobachtete Muster der Elektronenverteilung gibt also genau die Wahrscheinlichkeit an, mit der einzelne Elektronen an bestimmten Stellen auftreffen, es entspricht also dem Quadrat ihrer Wellenfunktion.

Aber ist es nicht so, dass ein Teilchen nur entweder durch den einen oder den anderen Spalt fliegen muss? Nein, da nach den Gesetzen der Quantenmechanik das einzelne Elektron durch eine Wellenfunktion beschrieben wird. Wenn eine ebene Welle durch einen Doppelspalt hindurchgeht, gibt es dahinter nun mal Interferenzen. Würden wir versuchen, z. B. durch Bestrahlung mit Licht, herauszufinden, durch welchen Beeinflussen sich die Elektronen vielleicht gegenseitig, der beiden Spalte das Elektron fliegt, so würden wir so dass das Muster durch deren Abstoßung entsteht? in der Art auf das System Einfluss nehmen, dass das Um das zu prüfen, kann man den Elektronenfluss so Streifenmuster verschwindet und die ursprünglich naiv weit reduzieren, dass nur vereinzelte Elektronen die erwarteten Abbilder der beiden Spalte auf dem Schirm Apparatur passieren. Es zeigt sich dabei etwas Über- erscheinen. Der Grund hierfür ist letztlich derselbe, der raschendes: Die Elektronen füllen den Schirm nicht im vorherigen Artikel zur Quantenmechanik () bereits gleichmäßig, sondern treffen vor allem an den Stel- für den Zusammenhang von Orts- und Geschwindiglen auf, wo zuvor schon viele Elektronen eingetroffen keitsmessung ausgeführt wurde: Um mithilfe von Licht waren. Des Weiteren meiden sie die Stellen, an denen entscheiden zu können, durch welchen Spalt das Elekzuvor bereits keine Elektronen eingetroffen sind. Das tron fliegt, muss man Photonen mit einer Wellenlänge von höchstens der Größe des Spaltabstandes verwenDoppelspalt Beobachtungsschirm den. Damit kann aber der Schubs, den diese Photonen dem Elektron geben, wiederum so groß sein, dass die Überlagerung der durch die verschiedenen Spalte lauElektron fenden Wellen vollständig zerstört wird. Elektronenkanone

Doppelspaltexperiment

Interferenzmuster

Grundkonzepte der Quantenmechanik  S. 40

Es stimmt schon, dass die Phänomene der Quantenmechanik dem sogenannten gesunden Menschenverstand teilweise massiv widersprechen. Viele kluge Köp-

Zufall und Vorhersage

fe, wie zum Beispiel Albert Einstein, haben versucht, Auswege aus diesem Widerspruch zu finden, indem sie postulierten, dass wir vielleicht einfach nicht genug über die Ausbreitungsgesetze der Elektronen wissen und dass alles wieder gut wäre, wenn wir das System nur genau genug kennten. Aber alle Versuche dieser Art sind bisher gescheitert, so dass wir wohl anerkennen müssen: Die Welt im Kleinen funktioniert ganz anders als die Welt im Großen. Und doch kann man den Übergang von klein nach groß verstehen – so, wie man eben den Ausgang eines einzelnen Wurfs mit einem idealen Würfel nicht vorhersagen kann, wohl aber, dass sich unter 600.000 Würfen 100.000 Sechser befinden, wobei eine Abweichung von plus oder minus 300 statistisch zulässig ist. In völliger Analogie kann man eben nicht vorhersagen, was z. B. bei einem einzelnen Streuexperiment passiert. Man kann aber berechnen, wie sich nach einer sehr häufigen Wiederholung des Experiments die Teilchen nach der Streuung auf die Detektoren verteilen. Ebenso wenig kann man von vornherein sagen, wann ein einzelner, instabiler Atomkern zerfällt. Misst man jedoch die Zerfälle vieler Kerne, findet man eine Verteilung der Zerfälle mit der Zeit, die sehr genau berechenbar ist – das sogenannte Zerfallsgesetz. Wie im vorherigen Artikel ausgeführt, hat die Quantenmechanik für Atome zwei Konsequenzen: Zum einen kann man lediglich die Wahrscheinlichkeitsverteilung der Elektronen um den Kern angeben, jedoch nichts über deren genauen Aufenthaltsort sagen – man kann noch nicht einmal von Elektronenbahnen sprechen. Zum anderen sind nur ganz bestimmte Bindungsenergien für die Elektronen zulässig. Wenn sich ein Elektron in einer Atomhülle in einem angeregten Zustand befindet, dann kann es unter Abstrahlung eines Photons in einen niedriger liegenden Zustand übergehen

Von Nukleonen zu Kernen  S. 210 Das Quarkmodell  S. 14

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n 5 4 3

Bindungsenergie

... ...

2

Paschen-Serie

0,9 eV 1,5 eV

Balmer-Serie 3,4 eV

... Lyman-Serie 1

13,6 eV

Oben: Spektrum des Wasserstoffs mit Übergängen Unten: Die sichtbaren Linien des Wasserstoffs (Balmer-Serie)

(das Photon muss abgestrahlt werden, damit die Energie erhalten bleibt). Wegen der getrennt voneinander liegenden Bindungsenergien zeigt das Energiespektrum des abgestrahlten Lichtes ein charakteristisches Streifenmuster. Jedem Streifen entspricht dabei eine Energiedifferenz, die das abgestrahlte Photon mitnimmt, wenn ein Elektron von einem höheren in ein niedrigeres Energieniveau übergeht. In Atomen sind die Elektronen der Hülle durch den Elektromagnetismus an einen Atomkern gebunden. Die Teilchenphysik kennt auch andere Bindungszustände, z. B. die Atomkerne aus Protonen und Neutronen (Von Nukleonen zu Kernen ); aber auch Protonen und Neutronen sowie viele weitere Teilchen sind zusammengesetzt, und zwar aus Quarks (). In beiden Fällen ist es die starke Wechselwirkung, die für die Bindung sorgt, und natürlich gelten auch hier die Gesetze der Quantenmechanik. Insbesondere werden nur bei ganz bestimmten Energien Bindungszustände beobachtet, und auch Übergänge zwischen diesen können gemessen werden.

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2 Allgemeine Grundlagen

Spin

Eine eigentümliche Größe der Quantenmechanik Wieso haftet ein Magnet am Kühlschrank? Dies ist auf eine eigentümliche Größe in der Quantenmechanik, den Spin, zurückzuführen, zu dem es kein Analogon in der klassischen Physik gibt. Bewegen sich Elektronen durch einen elektrischen Leiter, fließt ein elektrischer Strom. Aus der Elektrizitätslehre ist bekannt, dass dadurch ein Magnetfeld erzeugt wird. Auf atomarer Ebene stellt ein um den Atomkern kreisendes Elektron ebenfalls einen elektrischen Strom dar und erzeugt damit auch ein Magnetfeld. Man spricht in diesem Zusammenhang von einem magnetischen Moment, das eng mit dem Drehimpuls () der Drehbewegung zusammenhängt. Elektronen und andere Elementarteilchen können aber auch ein Magnetfeld erzeugen ohne sich zu bewegen. Das ist auf den Eigendrehimpuls, Spin genannt, zurückzuführen. Dies führt zu einem zusätzlichen Beitrag zum magnetischen Moment. Der Spin ist eine Grundeigenschaft jedes Elementarteilchens (), wie Masse und Ladung.

→ Ein Elektron auf einer Kreisbahn hat einen L Drehimpuls L = r v, der hier einfach als Produkt von Position r und Geschwindigkeit v gegeben ist. Damit verbunden ist ein magnetisches Moment 𝜇ĺ.

man nach den Gesetzen der Quantenmechanik Ablenkungen in eine ungerade Anzahl von festen Richtungen erwarten.

v→ →

r

e− 𝜇→

Ziel eines von Otto Stern und Walther Gerlach 1922 durchgeführten Experiments1 war es, diesen Effekt der Drehimpulsquantelung nachzuweisen. Sie schickten elektrisch neutrale Silberatome durch ein räumlich veränderliches Magnetfeld. Bei Silberatomen ist das magnetische Moment des äußeren Hüllenelektrons für das magnetische Moment des Atoms verantwortlich. Ergebnis des Experiments war tatsächlich eine Ablenkung in ganz bestimmte diskrete Richtungen, aber Aber wie kam man überhaupt darauf, Teilchen eine nicht wie vorausgesagt in eine ungerade Anzahl. Die solche zusätzliche Eigenschaft zuzuschreiben? Schießt Silberatome schlugen sich überraschenderweise in geman ein Teilchen, das ein magnetisches Moment be- nau zwei getrennten Regionen nieder. sitzt, in ein räumlich veränderliches Magnetfeld, so erfährt es eine Kraft und wird abgelenkt. Aufgrund Gelöst werden konnte dieses Rätsel durch Samuel der Richtungsquantelung des Drehimpulses in der Goudsmith und George Uhlenbeck. Sie schlugen 1925 Quantenmechanik (siehe Informationskasten) erfah- vor, dass das Elektron einen zusätzlichen Eigendrehimren die magnetischen Momente Ablenkungen nur in puls, den Spin, mit der Drehimpulsquantenzahl 1/2 bestimmte diskrete Richtungen. Wird das magneti- besitzt, was nach den Regeln der Quantenmechanik sche Moment in einem Atom beispielsweise nur von die beobachteten Ablenkungen in zwei Richtungen erder Kreisbewegung eines Elektrons verursacht, würde klärt (siehe Informationskasten).

1 W. Gerlach, O. Stern 1924, Über die Richtungsquantelung im Magnetfeld, Annalen der Physik, 74, 673, doi:10.1002/ andp.19243791602 W. Gerlach, O. Stern 1922, Der experimentelle Nachweis der Richtungsquantelung im Magnetfeld, Zeitschrift der Physik, 9, 349, doi:10.1007/BF01326983

Drehimpuls: Kinematik  S. 36

Spin

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Drehimpulse in der Quantenmechanik Drehimpulse spielen in der Quantenmechanik eine zentrale Rolle. Sie können nur Vielfache des Planck’schen Wirkungsquantums h/(2𝜋) = ħ betragen. Die entsprechende Drehimpulsquantenzahl kann daher nur die Werte L = 0, 1, 2, ... annehmen. Der Spin eines Teilchens kann auch einen halbzahligen Wert annehmen. Das Elektron ist ein Teilchen mit der Spinquantenzahl 1/2. Die im Text erwähnten Ablenkungen kann man verstehen, da sich jeweils eine Aufspaltung in 2L+1 Unterzustände ergibt. Dies ergibt im Fall L = 1 drei Zustände. Ersetzt man L jedoch durch die Spinquantenzahl 1/2, erhält man genau die im SternGerlach-Experiment beobachtete Aufspaltung in zwei Niveaus. Diese zunächst eigentümlich anmutende quantenmechanische Eigenschaft hat sich als sehr grundlegend erwiesen. So geht der Magnetismus von Permanentmagneten, wie sie an unseren Kühlschränken hängen, letztlich auf die Spins der Elektronen im Magneten zurück. Auch die Aufspaltung von Atomspektren in Magnetfeldern können mithilfe des Spins erklärt werden. Auf theoretischer Seite benötigt man den Spin, um die Quantenmechanik mit der speziellen Relativitätstheorie in Einklang zu bringen. Das sogenannte SpinStatistik-Theorem liefert eine theoretische Begründung für den empirischen Befund, dass Teilchen mit halbzahligem Spin nicht in allen ihren Quantenzahlen übereinstimmen dürfen. Dies hat weitreichende Fol-

Was ist eigentlich ein Elementarteilchen?  S. 16 Fermionen und Bosonen  S. 90 Resonanzen  S. 52 Supersymmetrie  S. 260 Magnetresonanztomographie  S. 136

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Prinzip des Stern-Gerlach-Versuchs mit einem Schwarz-Weiß-Bild aus der Originalveröffentlichung von Stern und Gerlach. Die Silberatome (dunkle Bereiche) finden sich in zwei Regionen wieder. Diese sind im Bild des experimentellen Aufbaus nur schematisch als Ellipsen angedeutet.

gen für den Atomaufbau. Im Standardmodell der Teilchenphysik werden Teilchen entsprechend ihrem Spin charakterisiert. Teilchen mit halbzahligem Spin (1/2, 3/2, 5/2, ...) heißen Fermionen (). Beispiele sind das Elektron, die Quarks, das Myon, die Neutrinos, die Spin-1/2-Teilchen sind. Teilchen mit ganzzahligem Spin (0, 1, 2, ...) werden als Bosonen bezeichnet. Beispiele sind das Photon mit Spin 1 und das HiggsBoson mit Spin 0. Die aus drei Quarks zusammengesetzten Teilchen haben entweder Spin 1/2, wie Proton und Neutron, oder Spin 3/2. Beispiele für letztere sind die Δ-Resonanzen (). Schließlich spielt der Spin auch bei vorgeschlagenen Erweiterungen des Standardmodells, wie zum Beispiel der Supersymmetrie (), eine entscheidende Rolle. Neben diesen theoretischen Aspekten findet der Spin auch Anwendung in der medizinischen Bildgebung, wie im Artikel über die Magnetresonanztomographie () beschrieben wird.

46

2 Allgemeine Grundlagen

Das Prinzip von Streuexperimenten Atomares Billard

Streuexperimente sind das Hauptwerkzeug der Teilchenphysik. Ähnlich wie bei einer Kollision zweier Billardkugeln treffen bei einem Streuprozess Elementarteilchen aufeinander. Dabei werden die beteiligten Teilchen abgelenkt oder es entstehen sogar neue Teilchen. Daher erlauben Streuexperimente Rückschlüsse über die Struktur der Materie und deren Wechselwirkungen.

Auf atomarer Ebene stoßen Projektile und die Teilchen, aus denen das Target aufgebaut ist, nicht wirklich aneinander. Hier gelten die Gesetze der Quantenmechanik (), so dass Projektile und Targetteilchen durch eine Wellenfunktion beschrieben werden. Ein Streuprozess verursacht dann eine Änderung der Wellenfunktion. Eine Wechselwirkung, die zu einer Streuung führt, findet zum Beispiel aufgrund der elektrischen Ladung der Streupartner statt, und anhand der Ablenkung der Projektile kann man etwas über die Ladungsverteilung der Streupartner lernen.

In der einfachsten Variante wird ein zu untersuchendes Objekt, das als Target bezeichnet wird, mit Projektilen beschossen. Die Projektile prallen am Target ab. Die Ablenkung der Projektile erlaubt dann Rückschlüsse Das historisch bedeutendste Streuexperiment ist das über die Form des Targets zu ziehen. Die Grundidee Rutherford-Experiment, das auf Vorschlag Ernest kann man an einem einfachen mechanischen Modell Rutherfords von Hans Geiger und Ernest Marsden verdeutlichen. Wenn Projektile auf ein rundes Objekt durchgeführt wurde. Als Target diente eine sehr düntreffen, so werden diese in alle Richtungen abgelenkt, ne Goldfolie, die mit Heliumkernen (𝛼-Teilchen) bewie in der Abbildung gezeigt. Man erhält eine gleich- schossen wurde. Das überraschende Ergebnis war, dass mäßige Verteilung der Projektile, d. h. unabhängig vom die meisten der 𝛼-Teilchen die Goldfolie einfach ohne Winkel beobachtet man in etwa die gleiche Anzahl von nennenswerte Richtungsänderung durchdrangen. Eigestreuten Projektilen im Detektor. Für das im Bild ge- nige wenige wurden aber unter Rückwärtswinkeln bezeigte quadratische Target findet man die Projektile im obachtet. Zur Zeit der Durchführung des Experiments Gegensatz dazu bei Winkeln ±90° gegenüber der Ein- hatte man nur eine sehr vage Vorstellung vom Aufbau fallsrichtung der Projektile wieder.

Projektile werden am Target gestreut. Die Winkelverteilung der Projektile erlaubt Rückschlüsse über die Form des Targets.

Grundkonzepte der Quantenmechanik  S. 40

Das Prinzip von Streuexperimenten

47

+ − + − − + + −+ −+ − − + − +− −+ + − +− +

Prinzip des Rutherford’schen Streuexperiments

Streuung von α-Teilchen an einer Goldfolie

der Atome. Dem Thomson’schen Atommodell zufolge besteht es aus einer gleichmäßig verteilten positiven Ladung. Darin befinden sich negativ geladene Elektronen verteilt wie Rosinen in einem Kuchen, sodass sich insgesamt ein elektrisch neutrales Objekt ergibt. Da die 𝛼-Teilchen etwa 7.000 mal schwerer als Elektronen sind, ist es schwer vorstellbar, dass diese für eine Rückwärtsstreuung verantwortlich sind. Rutherford drückte seine Verwunderung darüber so aus: Es ist, als ob man eine Granate auf einen Wattebausch feuert und diese zurückgeschleudert wird.

Ladungen sind auf einem sehr kleinem Volumen, dem Atomkern, lokalisiert (), der auch den Löwenanteil der Masse des Atoms trägt.

In der Teilchenphysik spielen Streuexperimente sowohl zur Untersuchung der Struktur der Targetteilchen als auch zum Verständnis der Wechselwirkung zwischen Projektil und Target eine entscheidende Rolle. So kann man mithilfe von Streuexperimenten das Innenleben des Protons () untersuchen und aus der Elektron-Positron-Streuung bei hohen Energien etwas über die Struktur der starken Daraus schloss Rutherford, dass die Goldfolie größ- Wechselwirkung () lernen. tenteils „leer“ ist, was das ungehinderte Durchdringen der 𝛼-Teilchen erklärt. Nur ein kleiner Teil besteht aus Objekten, die viel schwerer als die Projektile sind. Nur so kann man die Rückwärtsstreuung erklären. Ähnlich wie eine Münze nur dann in ihre Ausgangsrichtung zurückgestreut wird, wenn sie bei einem Stoß auf eine viel schwerere Münze trifft. Mit dem Rutherford-Experiment war es möglich, das Thomson’sche Modell auszuschließen und die heute noch gültige Vorstellung Eine Ein-Cent-Münze stößt auf eine viel schwerere Münze und wird vom Aufbau der Atome zu etablieren: Die positiven abgelenkt.

Über die Reichweite von Wechselwirkungen  S. 54 Die Struktur des Protons  S. 198 Starke Wechselwirkung: Quantenchromodynamik  S. 190

48

2 Allgemeine Grundlagen

Feynman-Diagramme

Grafische Darstellungen von Wechselwirkungen Feynman-Diagramme sind grafische Darstellung von Reaktionen unter Elementarteilchen. Die erste Abbildung unten zeigt ein Beispieldiagramm, in dem ein Elektron mit Impuls p1 und ein Myon mit Impuls k1 ein Photon austauschen und somit aneinander streuen e (p1) + 𝜇 (k1) → e (p2) + 𝜇 (k2) . −







In allen Feynman-Diagrammen in diesem Artikel verläuft die Zeitachse von links nach rechts. Auf der linken Seite ist der Anfangszustand, e −(p1) + 𝜇 −(k1), zu sehen, auf der rechten der Endzustand, e −(p2) + 𝜇 −(k2). Typischerweise wird p2 in eine andere Richtung zeigen als p1, d. h. durch die Wechselwirkung hat das Elektron die Flugrichtung geändert, analog für das Myon. Dies ist aber nicht im Diagramm durch die Pfeilrichtungen dargestellt, sondern nur durch die Impuls-Beschriftung.

eine Elektron-Antimyon-Streuung: Der Pfeil am Antimyon zeigt hier gegen die Zeitrichtung, also von rechts nach links. Photonen werden in Feynman-Diagrammen als wellige Linien dargestellt. In beiden Abbildungen wird je ein Photon zwischen den Fermionen ausgetauscht. Der Punkt, an dem verschiedene Linien zusammenkommen, in der Abbildung mit den roten Kreisen dargestellt, wird Vertex genannt. Welche Teilchen einen Vertex bilden können, wird durch die Wechselwirkungen in der Theorie bestimmt (Feyman-Diagramme II ). In der Quantenelektrodynamik, der Theorie der elektromagnetischen Wechselwirkung, gibt es nur Vertices mit einem Photon an einer durchgehenden Fermionlinie. Hier und im Artikel Feyman-Diagramme II werden alle Vertices zur Illustration rot hervorgehoben, sonst im Buch verzichten wir meistens darauf.

Fermionen wie das Elektron oder das Myon werden als durchgezogene Linien mit einem Pfeil dargestellt. Zeigt der Pfeil in Zeitrichtung (nach rechts), so ist es Wenn wie bei der welligen Photonlinie eine Linie an eiein Teilchen, hier ein Elektron oder ein Myon. Zeigt der nem Vertex anfängt und an einem anderen aufhört, so Pfeil gegen die Zeitrichtung, so handelt es sich um ein nennt man dies einen Propagator, da das Photon sich Antiteilchen (). In der zweiten Abbildung zeigen wir von einem Ort zum anderen fortbewegen, also propagieren, muss. e −(p1)

e −(p2)

e −(p1)

Photon 𝛾 𝜇 −(k1)

𝜇 −(k2)

e −(p2) Photon 𝛾

𝜇 +(k1)

𝜇 +(k2)

Streuung eines Elektrons an einem Myon (links) und an einem Antimyon (rechts)

Was ist Antimaterie?  S. 18 Feynman-Diagramme II  S. 98

Quarks können ähnlich wie Elektronen ebenfalls Photonen, aber auch Gluonen austauschen. Ein Diagramm für eine Quark-Quark-Streuung durch den Austausch eines Gluons ist in der nächsten Abbildung gezeigt. Das Gluon wird hier durch eine Korkenzieher-Linie dargestellt.

Feynman-Diagramme

49

u(p2)

u(p1) Ein up-Quark (u) und down-Quark (d) wechselwirken über die starke Wechselwirkung: Sie tauschen ein Gluon aus.

Beide Varianten sind in der Quantenfeldtheorie möglich und in einem Feynman-Diagramm zusammengefasst.

Gluon g

Feynman-Diagramme sind für Physikerinnen und Physiker vor allem ein Rechenwerkzeug. Jedes FeynmanDiagramm kann durch feste Regeln in einen mathematischen Ausdruck übersetzt werden. Dieser Ausdruck heißt Amplitude. Aus dem Quadrat dieser Amplitude kann man ableiten, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Reaktion stattfindet, die sogenannte Ereignisrate. Mit dem Feynman-Diagramm kann man also ausrechnen, mit welcher Wahrscheinlichkeit das ausgehende Elektron den Impuls und die Flugrichtung p2 hat, wenn der Anfangszustand e −(p1) + 𝜇 −(k1) gegeben war.

Schließlich zeigen wir noch zwei unabhängige Feynman-Diagramme zur Streuung eines Photons an einem Elektron, die sogenannte Compton-Streuung. (Die Elektronlinie hat an den Vertices einen Knick, aber nur aus ästhetischen Gründen. Die Impulse einschließlich ihrer Richtung sind ausschließlich durch die Beschriftungen bestimmt.) Die zugehörigen mathematischen Ausdrücke beider Diagramme müssen addiert werden, um die Gesamtamplitude zu erhalten. Die beiden Diagramme sind unterschiedlich, weil das ausgehende Photon mit Impuls k2 einmal an dem Vertex V2 mit dem ausgehenden Elektron koppelt, und einmal an dem Vertex V1 mit dem einfallenden Elektron. In beiden Fällen haben wir hier zwischen den Vertices einen Elektron-Propagator.

Bei der mathematischen Deutung ist es wichtig zu beachten, dass das Feynman-Diagramm nicht eine Darstellung im normalen (x, y, z)-Raum ist. So sind die zwei Diagramme mit den schrägen Photon-Propagatoren identisch, d. h. sie liefern dieselbe Amplitude, obwohl es so aussieht, als ob im linken Diagramm der Vertex V1 zeitlich vor V2 stattfindet und rechts danach.

Es gibt noch eine weitere wichtige Regel: Fermionlinien () müssen immer durchgehend sein (wie in unseren Diagrammen) oder in einer Schleife () schließen. Bosonlinien, z. B. Pho− e −(p2) tonen oder Gluonen, e (p1) können auch an VerV1 e − V2 tices enden.

e−

V1

d(k1)

e−

d(k2)

e− Zwei Beiträge zur ComptonStreuung

𝛾

𝛾 𝜇−

V1

e−

V2

𝜇−

𝜇−

Diese beiden Feynman-Diagramme sind identisch.

Fermionen und Bosonen  S. 90 Schleifen  S. 102

V2

𝜇−

𝛾(k1)

𝛾(k2) e −(p2)

e (p1) −

V1

 𝛾(k1)

e−

V2

𝛾(k2)

50

2 Allgemeine Grundlagen

Produktion, Zerstörung und Zerfall von Teilchen Wie Teilchen aus Teilchen entstehen können

Das Standardmodell erlaubt es, dass Teilchen in andere Teilchen umgewandelt werden. Der wohl bekannteste solcher Prozesse ist der 𝛽-Zerfall des Neutrons, bei dem ein freies Neutron in ein Proton, ein Elektron und ein Elektron-Antineutrino übergeht und der uns auch häufiger in diesem Buch begegnen wird. In diesem Artikel sehen wir uns an, unter welchen Voraussetzungen solche Zerfälle stattfinden und was man aus ihnen lernen kann.

Andererseits ist die Gesamtenergie des Endzustandes mindestens durch die Summe seiner Massen bestimmt, da eine mögliche Bewegungsenergie die Energie nur größer machen kann. Im Falle des Neutron-𝛽-Zerfalls ist das erfüllt, da die Masse des Neutrons größer als die Summe aus Proton-, Elektron- und Neutrinomasse ist. Und das ist gut so, denn wäre das Proton schwerer als das Neutron und somit instabil, wäre Leben, wie wir es kennen, nicht möglich (Quarkmasseneffekt ).

Allgemein ist ein Teilchen instabil und zerfällt, wenn

Die zweite Bedingung stellt sicher, dass der Prozess • der Endzustand des Zerfalls leichter als der Aus- nach den Regeln des Standardmodells überhaupt erlaubt ist. So fordert die Struktur des Standardmodells, gangszustand ist und dass gewisse Eigenschaften des Gesamtsystems vor • es eine Wechselwirkung gibt, die den Übergang zwi- und nach Zerfällen erhalten bleiben. Eine solche Eigenschen Anfangs- und Endzustand ermöglicht. schaft ist die elektrische Ladung. Aber es gibt einige anDie erste Bedingung ist eine direkte Konsequenz da- dere, die im weiteren Verlauf dieses Buches noch diskuraus, dass die Gesamtenergie in jeder Reaktion erhal- tiert werden. Um zum Beispiel den Neutron-𝛽-Zerfall ten sein muss: Die Gesamtenergie vor einem Zerfall in zu ermöglichen, muss es eine Wechselwirkung geben, Ruhe ist nach Einsteins berühmter Formel E = m c 2 die Neutronen (bestehend aus zwei down-Quarks und durch die Masse des zerfallenden Teilchens gegeben. einem up-Quark) in Protonen (aus zwei up-Quarks und einem down-Quark) überführt. Dies leistet alleine Elektrondie schwache Wechselwirkung (), die den Übergang Antineutrino von einem down-Quark in ein up-Quark und ein W −Elektron Der β-Zerfall des Neutrons, Teilchen ermöglicht. Proton und Neutron wären beide sowohl auf dem Niveau der stabil, wenn es nur den Elektromagnetismus und die Neutron zusammengesetzten Prostarke Wechselwirkung gäbe. Proton tonen und Neutronen als W¯ d d

u

auch auf dem Niveau der fundamentalen Bausteine (up- und down-Quarks, WAustauschteilchen).

u

Der Quarkmasseneffekt  S. 208 Die schwache Wechselwirkung  S. 166 Grundkonzepte der Quantenmechanik  S. 40

Eine wichtige Größe, die Zerfälle charakterisiert, ist die Lebensdauer 𝜏. Sie gibt an, wie schnell ein Zerfall typischerweise stattfindet. Natürlich greifen auch hier die Gesetze der Quantenmechanik (), daher kann man

Produktion, Zerstörung und Zerfall von Teilchen

𝜔

𝜙

J/𝜓

10

𝜓(2S)

10 𝜎 [mb]

𝜚′

𝜚

e+

𝛶

10-5 10-6 e+

10-7 10-8



K+

𝜙 𝛾



1

10

nur Aussagen darüber machen, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Teilchen nach einer bestimmten Zeit zerfallen ist. Je wahrscheinlicher ein Übergang ist, desto kürzer ist die Lebensdauer. Somit haben Zerfälle, die nur durch die schwache Wechselwirkung vermittelt werden und somit unwahrscheinlich sind, recht lange Lebensdauern: Beim freien Neutron sind das 15 Minuten; aber für die Teilchenphysik ist selbst die Lebensdauer des Myons mit 2 · 10 −6 s lang. Im Gegensatz dazu ist die Lebensdauer der sogenannten 𝜚-Resonanz, deren Zerfall durch die starke Wechselwirkung vermittelt wird, mit 10 −23 s sehr kurz. In Zerfällen können also Teilchen in andere überführt werden. Das Gleiche gilt auch für die Streuung von Teilchen: Treffen zwei Teilchen mit genügend hoher Energie aufeinander, so können nach der Reaktion andere Teilchen entstehen. Ein Beispiel hierfür ist in der Abbildung oben gezeigt. Um die hier dargestellte Größe zu messen, schießt man Elektronen und Positronen aufeinander und zählt, wie viele stark wechselwirkende Teilchen bei einer gegebenen Energie im Endzustand

Resonanzen  S. 52 Das Quarkmodell  S. 14 QCD: Quantenchromodynamik  S. 190 Die unsichtbare Breite des Z-Bosons  S. 170



Z

Der totale Wirkungsquerschnitt für e+e− ĺ Hadronen

viele Ha ronen …

-3

-4

51

Z

zu finden sind. Im Standardmodell wird dieser Prozess so beschrieben, dass sich das Elektron und das Positron gegenseitig vernichten (bei Teilchen und Antiteilchen ist das möglich) und dabei 102 Energie [GeV] ihre Energie in ein Photon stecken. Schließlich entstehen aus dieser Energie dann stark wechselwirkende Teilchen, die von einem Detektor gezählt werden. Bei manchen Energien zeigen die Daten deutliche Spitzen, hervorgerufen durch sogenannte Resonanzen (): Diese sind nichts anderes als Teilchen, die durch das Photon erzeugt werden und im Anschluss wieder zerfallen. In der Abbildung ist die Entstehung des 𝜙-Mesons, das nach seiner Erzeugung in ein Kaon und ein Antikaon zerfällt, als Beispiel-Diagramm gezeigt. Vielen der in der Abbildung benannten Teilchen werden wir im Artikel zum Quarkmodell () wieder begegnen. Es gibt aber auch Energiebereiche, in denen die gemessene Rate ganz gleichmäßig abfällt, ohne irgendeine Struktur. Auf diese kommen wir im Artikel zur QCD () noch einmal zurück. Die mit Z bezeichnete Spitze ist etwas Besonderes: Hier wird anstatt des Photons direkt das Z-Boson (), das Austauschteilchen der schwachen Wechselwirkung, erzeugt, dass sich ebenso als Resonanz in den Daten zeigt. Auch dieser Prozess ist in der Abbildung als Diagramm gezeigt.

52

2 Allgemeine Grundlagen

Resonanzen

Wenn alles zusammenpasst

Das Anschubsen muss also genau mit der richtigen Frequenz erfolgen; welche das ist, wird von der Schaukel vorgegeben. Die Frequenz, die optimal passt, heißt Resonanzfrequenz. Es ist die Frequenz, mit der die Schaukel frei schwingt. Wird die Schaukel genau mit dieser Frequenz angestoßen, wird sie am höchsten steigen. Die Resonanzfrequenz der Schaukel wird vor allem durch die Länge des Seils und die Schwerkraft festgelegt. Wie hoch die Schaukel maximal steigt, hängt natürlich davon ab, wie stark man sie anstößt. Es gibt aber einen weiteren limitierenden Faktor: die Luftreibung. Je größer die Reibung, desto weniger hoch steigt die Schaukel – man stelle sich einmal vor, man würde versuchen, unter Wasser eine Schaukel anzuschubsen ...

Resonanz bei einer Schaukel

kleine Reibung größere Reibung

3

Schaukelhöhe in Meter

Resonanzphänomene sind in allen Bereichen der Physik weit verbreitet. Eine Resonanz liegt genau dann vor, wenn ein anregendes System genau zu dem anzuregenden passt, so dass Energie sehr effektiv von dem einen auf das andere übertragen werden kann. Was auf den ersten Blick sehr abstrakt klingt, kennt eigentlich jede und jeder aus der eigenen Erfahrung. Nehmen wir z. B. das Anschieben einer Schaukel: Schubst man im falschen Moment, also gegen die ankommende Schaukel, so wird diese gebremst und die ganze Kraft, die man ins Anschieben stecken wollte, verpufft. Im Gegensatz dazu ist das Anschieben des Kindes auf der Schaukel effektiv im Sinne von „die Kraft wird optimal übertragen“, wenn der Schubs genau dann erfolgt, wenn sich die Schaukel wieder nach vorn bewegt.

2

1

0

0,6

0,8 1 1,2 Anregungsfrequenz/Resonanzfrequenz

1,4

Illustration des Zusammenhangs zwischen Schaukelhöhe und Anschubsfrequenz für verschieden starke Reibung. Je größer die Reibung und damit Dämpfung ist, umso niedriger und breiter ist die Resonanzkurve.

Resonanzen

53

Auch in der Teilchenphysik gibt es Resonanzen. Diese äußern sich z. B. bei Streuexperimenten () in einer starken Überhöhung der Zählraten. Ebenso wie bei der Schaukel tritt auch in einem Streuexperiment der Teilchenphysik eine Resonanz nur dann auf, wenn die Frequenz f des einlaufenden Teilchens und wegen E = h f seine Energie E (Quantenmechanik  ) genau zum System passt. Die Gesamtenergie der einlaufenden Teilchen muss also der Ruheenergie der Resonanz entsprechen. Das Analogon zur Luftreibung ist hier die Zerfallswahrscheinlichkeit: Je wahrscheinlicher der Übergang von der Resonanz in andere Teilchen ist, desto geringer ist die erwähnte Überhöhung in der Zählrate und desto kürzer ist die Lebensdauer der Resonanz (Produktion und Zerfall ).

Wir lernen viel aus der Vermessung von Resonanzen, aus ihrer Lage und aus ihrer Linienform. In diesen Parametern steckt die Information darüber, welche Kräfte zwischen den Teilchen und zwischen ihren Bausteinen wirken. Außerdem kann man das Experiment mit verschiedenen Sonden durchführen – im gerade genannten Beispiel kann man die Δ-Resonanz auch anregen, indem man Protonen mit Photonen geeigneter Energie bzw. Frequenz beschießt. Die Informationen, die wir durch solche Experimente bekommen, sind ganz wichtige Indizien. Sie helfen uns dabei, herauszufinden, wie die Natur bei kleinsten Abständen funktioniert.

250

200

150 Zählrate

Ein schönes Beispiel hierfür ist die Streuung von Pionen (Quarkmodell ) an Protonen. Wiederholt man das Experiment häufig mit leicht anderer PionEnergie und trägt die Anzahl der gestreuten Teilchen gegen die Energie auf, erhält man die in der Abbildung gezeigte Kurve: Die Δ-Resonanz (gesprochen: Delta) ist klar erkennbar. Die Zählrate wird maximal, wenn die Gesamtenergie der Energie der Resonanz entspricht. Die Breite der Kurve spiegelt wider, wie

wahrscheinlich die Resonanz, wenn sie erst einmal erzeugt ist, wieder in ein Pion und ein Proton zerfällt.

100

50

Messdaten für die Reaktion 𝜋+p ĺ 𝜋+p. Die Daten zeigen klar eine resonante Überhöhung, verursacht durch die sogenannte Δ(1232)Resonanz.

0

Das Prinzip von Streuexperimenten  S. 46 Grundkonzepte der Quantenmechanik  S. 40 Produktion, Zerstörung und Zerfall von Teilchen  S. 50 Das Quarkmodell  S. 14

0,95 1 1,05 1,1 1,15 Gesamtenergie/Resonanzmasse = Anregungsfrequenz/Resonanzfrequenz

54

2 Allgemeine Grundlagen

Über die Reichweite von Wechselwirkungen Von intergalaktischen Abständen zur Größe von Atomkernen

Die Reichweiten der verschiedenen Kräfte () sind sehr unterschiedlich: Die Gravitation hat eine unendliche Reichweite und hält nicht nur uns auf der Erde und Planetensysteme und Galaxien zusammen, sondern sorgt sogar für eine Anziehung der Galaxien untereinander. Andererseits scheint die Reichweite der elektromagnetischen Wechselwirkung auf Zentimeter beschränkt – man spürt sie sehr direkt bei dem Versuch, zwei gleichnamige Magnetenden einander anzunähern. Die starke Wechselwirkung, die Atomkerne zusammenhält, ist gar nur auf unvorstellbar kleinen Entfernungen von 10 −15 m wirksam. Die Reichweite der schwachen Wechselwirkung, die für Zerfälle wie den 𝛽-Zerfall des Neutrons () verantwortlich ist, ist sogar noch sehr viel kürzer. Aber wovon hängt diese Reichweite ab? In der Teilchenphysik werden Kräfte durch den Austausch von sogenannten Feldteilchen beschrieben (Quantenfeldtheorie ): Das Photon ist das Feldteilchen des Elektromagnetismus, die Gluonen sind die der starken Wechselwirkung und W- und Z-Bosonen vermitteln die schwache Wechselwirkung. Der Gravitation wird der Austausch von sogenannten Gravitonen zugeschrieben, auch wenn diese noch nicht entdeckt wurden. Nach unserem gegenwärtigen Verständnis sind Gravitonen, Photonen und Gluonen masselos, während W- und Z-Bosonen eine Masse von ca. 90 GeV/c 2 (ca. einen Faktor 100 schwerer als ein Proton) haben. Im Kasten wird gezeigt, dass die Reichweite R einer Wechselwirkung bzw. einer Kraft abnimmt, je grö-

Die vier Grundkräfte der Natur  S. 12 Produktion, Zerstörung und Zerfall von Teilchen  S. 50 Quantenfeldtheorie  S. 100

ßer die Masse m des Austauschteilchens ist. Damit können wir verstehen, dass die kurze Reichweite der schwachen Wechselwirkung aus der großen Masse der W- und Z-Bosonen resultiert und dass die masselosen Gravitonen noch selbst auf kosmologischen Abständen wirksam sind. Aber was ist mit den anderen masselosen Austauschteilchen, Photon und Gluon? Das Photon koppelt an die elektrische Ladung, d. h. das Photon „spürt“ nur geladene Teilchen. Nun gibt es aber z. B. im Atom neben der negativen Elektronladung auch die positive Protonladung. Von außen betrachtet ist also ein Atom oder Molekül elektrisch neutral und wird zunächst von einem Photon gar nicht „gesehen“. Zwei neutrale Atome können sich nur deshalb anziehen, weil sich aufgrund quantenmechanischer Fluktuationen die Ladungsverteilungen von Kern und Elektronenwolke gegeneinander verschieben können. Zwar ist damit, von großer Entfernung betrachtet, das Atom immer noch neutral; auf kürzeren Abstände jedoch nicht. Die jetzt „geladenen“ Teile können Photonen austauschen und es kann zur Anziehung kommen. Auf kurzen Distanzen können die geladenen Bausteine neutraler Atome also Photonen austauschen, was zur Anziehung oder Abstoßung führen kann, auf lange Distanzen sind sie aber elektrisch neutral und können das nicht mehr. Dieses Verhalten nennt man Abschirmungseffekt, die beschriebene Anziehung wird als Van-der-Waals-Kraft bezeichnet. Im Gegensatz dazu wirkt die Gravitation stets anziehend und es bedarf keiner Ladungsverschiebung, damit sie wirken kann.

Über die Reichweite von Wechselwirkungen

Herleitung der Reichweite Dazu betrachten wir ein Materieteilchen, z. B. ein Elektron mit Masse M, das sich in Ruhe befindet, und ein Feldteilchen, z. B. ein Z Z-Boson mit Masse m, abm strahlt. M e−

Vor der Abstrahlung ist die Energie des Elektrons somit M e− Mc 2, die Energie des Endzustandes ist jedoch mindestens (M + m)c 2. In der Quantenmechanik erlaubt die Heisenberg’sche Unschärferelation eine Verletzung der Energieerhaltung (Quantenmechanik ), allerdings nur für kurze Zeit: Δt ∼= ħ /ΔE ∼= ħ /(mc 2). Da ein Teilchen maximal mit Lichtgeschwindigkeit c fliegen kann, ist die Strecke, die ein solches virtuelles Teilchen zurücklegt, also seine Reichweite R, von der Größenordnung R ∼= c Δt ∼= ħ /(mc) = ħc /(mc 2) , wobei ħc ∼= 200 MeV fm (1 fm = 10 −15 m). Betrachten wir als Beispiel die schwache Wechselwirkung. Die Austauschteilchen haben eine Masse von ca. 90 GeV/c 2 = 90·103 MeV/c 2. Damit erhalten wir eine Reichweite von

55

ladung tragen, können nicht als freie, farbgeladene Teilchen beobachtet werden. Sie sind lediglich als Bausteine von zusammengesetzten Objekten zu finden, deren Farbladungen sich gegenseitig neutralisieren (analog dem elektrisch neutralen Atom). Das Gluon trägt jedoch – im Gegensatz zum Photon – selbst eine starke Farbladung. Daher erlaubt ihm das Confinement nicht, Kräfte über den Confinement-Radius hinaus zu vermitteln. Die starke Wechselwirkung sorgt übrigens auch für die Bindung der Kernbausteine, Protonen und Neutronen, untereinander. Wie oben gesagt, sind diese, von außen betrachtet, nicht farbgeladen, so dass sie nicht durch den Austausch von Gluonen miteinander wechselwirken. Die Ursache für die Kräfte zwischen den Kernbausteinen und deren Reichweite ist, dass die starke Wechselwirkung leichte, farbneutrale Bindungszustände aus Quarks mit Antiquarks hervorbringt. Die leichtesten sind die Pionen (Symbol: 𝜋, Quarkmodell ). Wie diese auf Quark-Ebene zur Kernkraft beitragen können, ist in der Abbildung illustriert: Das Pion hat eine Masse von knapp 200 p p MeV/c 2. Daher hat die starke Kernkraft eine Reichweite von 1 fm = 10 −15 m (siehe Kasten).

200·10 −15 m ≈ 10 −18 m . 90·103 Der Grund, warum die starke Wechselwirkung kurzreichweitig ist, obwohl das Gluon masselos ist, ist noch etwas komplizierter – aber dadurch auch spannender. Eine zentrale Eigenschaft der starken Wechselwirkung ist das Confinement (): Teilchen, die eine starke Farb-

Grundkonzepte der Quantenmechanik  S. 40 Confinement  S. 192 Das Quarkmodell  S. 14

𝜋 p

p

Visualisierung der langreichweitigsten Komponente der Kernwechselwirkung durch Quarklinien: Die Reichweite der starken Wechselwirkung ist durch die Masse des leichtesten stark wechselwirkenden Teilchens – des Pions (π) – bestimmt .

56

2 Allgemeine Grundlagen

Symmetrien Schön und praktisch

Von einer Symmetrie spricht man, wenn sich ein System durch eine Transformation, beispielsweise eine Drehung oder Spiegelung, nicht ändert. Dies trifft zum Beispiel auf einen Kreis zu, der um eine durch den Mittelpunkt gehende Achse gespiegelt wird.

21 m2 7m

3m

25 m2

3,2 m

31,8 m2

5m

Je höher die Symmetrie, desto größer ist die eingeschlossene Flä-

Symmetrische Strukturen werden oft als schön und an- che bei gleichem Umfang. genehm wahrgenommen. Neben diesen ästhetischen Aspekten spielen auch praktische Begleiterscheinun- 2. der Ladungstransformation C (charge), bei der jegen eine Rolle. So umschließt ein Zaun mit fest vorgedes Teilchen durch sein Antiteilchen ersetzt wird. gebener Länge genau dann die größte Fläche, wenn er in Form der höchsten Symmetrie, einem Kreis, aufge- 3. der Zeitumkehr T (time), bei der die Zeit rückwärts baut wird. laufengelassen wird. In der Physik spielen Symmetrieüberlegungen eine wichtige Rolle – man kann beispielsweise Erhaltungssätze wie Energieerhaltung auf Symmetrien in der Raumzeit zurückführen (Noether-Theorem ). Auch im Standardmodell der Teilchenphysik spielen sowohl Raumzeitsymmetrien als auch sogenannte innere Symmetrien () eine entscheidende Rolle. Drei Symmetrietransformationen kommt eine besondere Bedeutung zu: 1. der Punktspiegelung P (parity), auch Paritätstransformation genannt. Hier wird jeder Punkt im Ursprung des Koordinatensystems gespiegelt. Dabei wird z. B. aus einer Rechtsschraube eine Linksschraube.

Das Noether-Theorem  S. 96 Äußere und innere Symmetrien  S. 92

Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts ging man davon aus, dass die Naturgesetze unter diesen drei Transformationen unverändert sind. Für Spiegelungen bedeutet dies, dass ein Prozess und der entsprechende gespiegelte Prozess mit gleicher Wahrscheinlichkeit ablaufen. Im Makroskopischen scheint dies zumindest für die ersten beiden Transformationen erfüllt zu sein. So ist es zum Beispiel reine Konvention, ob wir links- oder rechtsdrehende Schrauben verwenden oder auf welcher Straßenseite wir fahren. Kein Naturgesetz scheint uns dies vorzuschreiben. Doch sind wirklich alle Naturgesetze symmetrisch unter den oben genannten Transformationen? Auf Vorschläge der beiden Theoretiker Tsung-Dao Lee und Chen-Ning Yang konnte die chinesisch-amerikanische Physikerin Chien-Shiung Wu in einem bahnbrechenden Experiment zeigen, dass die schwache Wechsel-

Symmetrien

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ten Transformationen unverändert bleiben. Dieses als CPT-Theorem bekannte Gesetz ist eine der Säulen des Standardmodells.

Von oben links im Uhrzeigersinn: Foto einer Schneeflocke, Oktogon des Aachener Doms, Decke der spanischen Synagoge in Prag, blaue Moschee in Istanbul

wirkung () die Spiegelsymmetrie P verletzt. In dem Experiment wurde beobachtet, dass Elektronen aus einem Zerfall des Cobalt-60-Kerns bevorzugt entgegen der Richtung des Eigendrehimpulses (Spin ) des Kerns ausgesendet wurden. Das gespiegelte Szenario, bei dem die Elektronen bevorzugt in Richtung des Eigendrehimpulses ausgesendet werden, wird in der Natur nicht beobachtet. Die Welt, in der wir leben, unterscheidet also im Mikroskopischen sehr wohl zwischen links und rechts und verletzt damit die Spiegelsymmetrie. Mittlerweile hat man auch Prozesse gefunden, die unter der Zeittransformation oder unter der Kombination von Paritäts- und Ladungstransformation unterschiedlich ablaufen (). Bemerkenswert ist jedoch, dass Naturgesetze unter sehr allgemeinen Voraussetzungen unter der Kombination der drei oben genann-

Die schwache Wechselwirkung  S. 166 Spin  S. 44 Diskrete Symmetrien: P- und CP-Verletzung  S. 178 Die Verletzung der CP-Symmetrie in B-Mesonen  S. 242

Der amerikanische Physiker Richard Feynman hat die Symmetrieverletzung einmal so beschrieben: Sie können einem außerirdischen Physiker ihre Größe als Vielfaches einer bestimmten Wellenlänge eines Übergangs im Wasserstoffatom mitteilen. Ihr Alter können sie mithilfe einer Übergangsfrequenz definieren. Nur aufgrund der Paritätsverletzung, wie die Verletzung der Spiegelsymmetrie in der Physik bezeichnet wird, ist es möglich, zu definieren, was rechts und links ist. Wenn Sie dem Außerirdischen dann noch mitteilen, dass es bei uns üblich ist, sich die rechte Hand zur Begrüßung zu reichen, und er Ihnen bei einem Treffen die linke entgegenstreckt, ist Vorsicht geboten. Nach dem CPTTheorem besteht er dann wahrscheinlich aus Antimaterie!

Das Prinzip des Wu-Experiments: Der Prozess links, in dem Elektronen, symbolisiert durch die schwarzen Pfeile, bevorzugt entgegen der Spinrichtung emittiert werden, wird in der Natur beobachtet; der gespiegelte Prozess (rechts) nicht. Die Spinrichtung wird mittels der Rechte-Hand-Regel durch den Daumen angezeigt. Die Finger zeigen die Drehrichtung an.

58

2 Allgemeine Grundlagen

Spontane Symmetriebrechung Die versteckte Symmetrie

Symmetrien () spielen in der Teilchenphysik eine zentrale Rolle. Sie erlauben uns häufig, Ordnung in scheinbares Chaos zu bringen und führen zu Erhaltungsgrößen (Noether-Theorem ). Außerdem beruht das Konstruktionsprinzip des gesamten Standardmodells auf der Existenz bestimmter Symmetrien. Typischerweise hat eine Symmetrie einen direkten Einfluss auf die Physik. So ist z. B. das Proton, das aus zwei up-Quarks und einem down-Quark besteht, fast genauso schwer wie das Neutron, bestehend aus zwei down-Quarks und einem up. Der Grund hierfür ist, dass die starke Wechselwirkung nicht zwischen Quarktypen unterscheidet. In anderen Worten: Die starke Wechselwirkung ist symmetrisch unter Vertauschung der Quarks. Der sehr kleine, aber wichtige Massenunterschied kommt aus Quarkeigenschaften, nicht aus der starken Wechselwirkung (Quarkmasseneffekt ).

linken Hälfte der Abbildung dargestellt. Erhitzt man den Magneten und erhöht damit die Bewegungsenergie der kleinen Magnete, so geht die Ausrichtung verloren. Das Material ist dann nicht mehr magnetisch und insbesondere zeichnet es keine Richtung mehr aus. Es ist symmetrisch. Kühlt es dann jedoch wieder ab, dann wird ab einer bestimmten Temperatur plötzlich das Material wieder magnetisch, wodurch dann wieder eine Raumrichtung ausgezeichnet wird – welche dies jedoch ist, kann man nicht vorhersagen. Die Symmetrie wird spontan gebrochen. Dieses Phänomen ist also dadurch charakterisiert, dass die Wechselwirkung im Material zwar symmetrisch ist (es gibt a priori keine Vorzugsrichtung), aber trotzdem wird bei Abkühlung spontan eine Richtung ausgezeichnet. Oder allgemeiner: Obwohl das Material keine Vorzugsrichtung vorgibt und somit sehr symmetrisch ist, zeichnet der Grundzustand eine Richtung aus und ist somit weniger symmetrisch. Die wohl

Aber es gibt auch versteckte Symmetrien. Diese liegen vor, wenn die Wechselwirkung zwar eine Symmetrie hat, diese jedoch dynamisch bzw. spontan gebrochen Permanentmagnet bei Raumtemperatur (links) und erhitzt (rechts) ist. Was das bedeutet, soll im Folgenden erklärt werden. Ein Beispiel einer solchen versteckten Symmetrie kennen wir alle: den Permanentmagneten. Man kann sich diesen wie eine Ansammlung vieler, winzig kleiner Magnete vorstellen. Das Material ist magnetisch, wenn alle diese kleinen Magnete in gleicher Richtung ausgeBausteine ausgerichtet Bausteine nicht ausgerichtet richtet sind. Dieser Zustand ist in der ĺ Material magnetisch

Symmetrien  S. 56 Das Noether-Theorem  S. 96 Der Quarkmasseneffekt  S. 208

Spontane Symmetriebrechung

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geneigt ist, was einer kleinen expliziten Brechung der Symmetrie entspricht. Das Bild zeigt: Solange diese Brechung nicht zu groß ist, bestimmt die spontane Symmetriebrechung die Dynamik des Systems.

Das Sombrero-Potential

klarste Illustration dieses Effekts ist das sogenannte Sombrero-Potential, das in der Abbildung dargestellt ist. Man stelle sich also einen typischen Mexikanerhut vor, der symmetrisch unter Drehungen um die zentrale Achse ist, wie in der Abbildung oben links dargestellt. Das gilt auch dann noch, wenn man auf die Spitze eine Kugel legt. Allerdings wird die Kugel nicht lange auf der Spitze bleiben, sondern in irgendeine Richtung herunterrollen, um dann in der Hutkrempe liegenzubleiben. Ist das geschehen, so ist das System als Ganzes nicht mehr unter Drehungen symmetrisch. Die Symmetrie ist spontan gebrochen, obwohl der Hut alleine natürlich seine Symmetrie behält. Wie in dem unteren linken Bild der Abbildung angedeutet, kostet es nun keine Energie, die Kugel in der Krempe zu bewegen, wohl aber, wenn man sie nach außen oder innen schieben möchte. Also ist nun die Physik für diese beiden Aktionen sehr unterschiedlich. Und das bleibt auch dann noch so, wenn der Hut leicht

Die Entdeckung des Higgs-Bosons  S. 230 Peccei-Quinn-Mechanismus: Das starke CP-Problem  S. 272 Das Quarkmodell  S. 14 Woher kommt unsere Masse?  S. 204

In der Teilchenphysik steckt eine spontante Symmetriebrechung hinter dem Higgs- und dem PecceiQuinn-Mechanismus (), denen in diesem Buch je ein eigener Artikel gewidmet ist. Ein Beispiel für ein System, das von einer spontanen Symmetriebrechung kontrolliert wird, obwohl die Symmetrie auch explizit gebrochen ist (leicht gekippter Hut), ist die Phänomenologie der starken Wechselwirkung bei kleinen Energien. Dabei ist die Symmetrie spontan gebrochen, die sich einstellen würde, wenn die drei leichtesten Quarks (up, down und strange) eine verschwindende Masse hätten. Der Effekt der spontanen Symmetriebrechung wäre dann, dass die Pionen, Kaonen und das 𝜂-Meson, die aus den leichten Quarks bestehen und die wir im Artikel zum Quarkmodell () näher kennenlernen werden, ebenfalls fast keine Masse hätten. (Das ist die quantenfeldtheoretische Analogie dazu, dass es keine Energie kostet, die Kugel entlang der Krempe des Sombreros zu bewegen.) Nun sind up-, down- und strange-Quark aber nicht masselos, sondern haben nicht-verschwindende Massen () – die von up- und down-Quark sind sehr klein, die des strange-Quarks 20-mal größer. Diese nicht-verschwindenden Massen sorgen dafür, dass der „Hut“ der starken Wechselwirkung zwar geneigt ist, aber nur sehr leicht. Entsprechend sind Pionen zwar nicht masselos, aber haben eine sehr viel kleinere Masse als alle anderen Teilchen, die an der starken Wechselwirkung teilnehmen. Kaonen und das 𝜂-Meson, die auch strange-Quarks enthalten, sind zwar schwerer, aber immer noch sehr viel leichter als alle anderen Teilchen mit strange-Quarks.

3 Experimentelle Grundlagen Um etwas über Elementarteilchen zu erfahren, müssen deren Eigenschaften und Reaktionen sehr genau vermessen werden. Das ist leichter gesagt als getan. Machen wir uns klar, dass im menschlichen Körper pro Sekunde etwa 10.000 radioaktive Zerfälle stattfinden. Etwa 1014 Neutrinos durchkreuzen den menschlichen Körper im gleichen Zeitraum und ein paar Myonen aus der kosmischen Strahlung lösen Reaktionen aus. In der Regel merken wir von alledem nichts. Das zeigt also, dass man Elementarteilchen im Gegensatz zu Objekten des täglichen Lebens nicht direkt beobachten kann. Man muss einen gewissen technischen Aufwand betreiben, um sie dennoch nachzuweisen. Darum geht es in diesem Kapitel. Zunächst wird beschrieben, wie man Elementarteilchen in Beschleunigern erzeugt und beschleunigt. Dann werden verschiedene Methoden diskutiert, einzelne Teilchen nachzuweisen und deren Eigenschaften zu bestimmen. Zu diesen gehören Ladung, Masse, Spin, und Impuls – das sind genau die Informationen, die gebraucht werden, um Rückschlüsse auf die stattgefundenen Reaktionen ziehen zu können.

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3 Experimentelle Grundlagen

Wie funktioniert ein Beschleuniger? Mit elektrischen Feldern zu hohen Energien

Eines der Hauptwerkzeuge der Elementarteilchenphysik sind Teilchenbeschleuniger. Wie der Name schon sagt, dienen sie dazu, Teilchen auf eine bestimmte Energie zu beschleunigen. Trifft dann ein daraus resultierender Teilchenstrahl auf Materie oder kollidieren zwei Teilchenstrahlen miteinander, kann man bei den dabei auftretenden Streuvorgängen () viele interessante Dinge lernen.

nigungsstrecke treffen die Teilchen dann zum Beispiel auf ein Target, wie das zu untersuchende Objekt bezeichnet wird.

Wenn ein Teilchen eine Spannung durchläuft, gewinnt es dabei eine Energie, die gleich dem Produkt aus dem Betrag seiner Ladung und der durchlaufenen Spannung ist. In der Teilchenphysik hat sich die entsprechende Einheit Elektronenvolt (eV) als Energieeinheit Aber wie erzeugt man nun hochenergetische Teil- eingebürgert. Durchläuft ein Teilchen mit einer Elechenstrahlen? Ähnlich wie ein Körper beim Fallen im mentarladung eine Spannung von einem Volt, gewinnt Gravitationsfeld der Erde beschleunigt wird, erfährt es eine Energie von 1 eV ≈ 1,6·10-19 Joule (Energie ein geladenes Teilchen eine Beschleunigung in einem und Leistung ). Man kann ein Teilchen nicht belieelektrischen Feld, das zum Beispiel zwischen zwei un- big mit dieser Methode beschleunigen, da es ab einer terschiedlich geladenen Platten entsteht. Das ist auch bestimmten Spannung zu elektrischen Überschlägen schon das Grundprinzip jedes Beschleunigers. Eine (Blitzen) zwischen den beiden Platten kommt. Braun’sche Röhre, wie sie früher in jedem Fernseher verwendet wurde, ist im Grunde genommen ein Teil- Ein Ausweg, um diese Begrenzung zu umgehen, ist die chenbeschleuniger! Nach Durchlaufen der Beschleu- Verwendung von elektrischen Wechselfeldern. Im oberen Teil der Abbildung auf der nächsten Seite werden → die negativ geladenen Teilchen durch den positiv gelaE denen ersten und dritten Zylinder angezogen. Befinden sich die Teilchen dann im abgeschirmten inneren Bereich der Zylinder, wird die Spannung umgepolt und es erfolgt eine Beschleunigung zwischen dem ersten und Target zweiten bzw. dem dritten und vierten Zylinder. Auf diese Weise lassen sich im Prinzip beliebig hohe Teilchenenergien erreichen, doch der Beschleuniger wird − + − + dafür immer länger. Ein Beispiel für einen solchen Linearbeschleuniger ist der Stanford Linear Accelerator in den USA mit einer Länge von über drei Kilometern. Prinzip eines Beschleunigers. Aus einer Glühkathode treten Elektronen aus, die in einem elektrischen Feld beschleunigt werden Um noch höhere Energien zu erreichen, kam man auf und dann auf ein Target treffen.

Das Prinzip von Streuexperimenten  S. 46 Energie und Leistung  S. 32

Wie funktioniert ein Beschleuniger?

die Idee, die Teilchen eine solche Beschleunigersektion mehrmals durchlaufen zu lassen. Damit gelangt man zu einem ringförmigen Aufbau. Der Strahl wird von einem Vorbeschleuniger eingeschossen und durchläuft den Beschleunigerring viele tausend Mal. Ablenkmagnete dienen dazu, die Teilchen auf einer Kreisbahn zu halten. Die eigentliche Beschleunigersektion macht dabei nur einen kleinen Bruchteil des Rings aus. Nach Erreichen der Endenergie kann der Teilchenstrahl dann zum Beispiel auf ein Target gelenkt werden. Auch hier stößt man irgendwann an Grenzen, da entweder der Radius oder das Magnetfeld immer weiter vergrößert werden müssen, um zu höheren Energien zu gelangen. Eine Möglichkeit, die Teilchenenergie, die in einem Streuvorgang zur Verfügung steht, dennoch weiter zu erhöhen, besteht darin, zwei Teilchenstrahlen miteinander kollidieren zu lassen, wie es beim Large Hadron Collider am CERN () praktiziert wird.

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Aufbau eines Synchrotrons. In Rot die Beschleunigersektion, in Blau die Ablenkmagnete. Der Name Synchrotron rührt daher, dass mit zunehmender Teilchenenergie das Feld der Ablenkmagnete synchron erhöht werden muss, um den Radius der Teilchenbahn konstant zu halten.

Beschleuniger sind nicht nur Werkzeuge der Teilchenphysik, sondern finden auch Anwendung in anderen Bereichen, wie der Materialforschung () oder der Medizin (). +



+





+



+

Das Prinzip eines Linearbeschleunigers mit elektrischen Wechselfeldern nach Rolf Wideröe. Die Teilchen werden von links nach rechts beschleunigt. Das obere Bild zeigt die Situation zur Zeit t = 0, das untere zu einem späteren Zeitpunkt.

Video zum Synchrotron COSY am Forschungszentrum Jülich: https://www.youtube.com/watch?v=MXNOVTF3utE Der LHC-Beschleunigerkomplex am CERN  S. 112 Materialforschung: Synchrotronstrahlung  S. 122 Beschleuniger in der Medizin  S. 118

Das Synchrotron COSY am Forschungszentrum Jülich. Der Beschleuniger hat einen Umfang von etwa 180 Metern. Er erlaubt Protonen und Deuteronen (gebundener Zustand aus Proton und Neutron) zu beschleunigen. Die orangefarbenen Elemente sind Ablenkmagnete, um die Teilchen auf einer Kreisbahn zu halten.

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3 Experimentelle Grundlagen

Wechselwirkung zwischen Teilchen und Materie Warum wir überhaupt Teilchen in Messgeräten nachweisen können

Damit die Teilchen, die wir untersuchen wollen, im Detektor registriert und vermessen werden können, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein: Sie müssen mit dem Detektormaterial wechselwirken, und die Reaktion des Detektormaterials auf diese Wechselwirkung muss registriert werden können. Letzteres geschieht typischerweise durch elektronische Signale (Halbleiterdetektoren ). In diesem Artikel behandeln wir nur den ersten Teil dieses Messprozesses: Die Wechselwirkung zwischen Teilchen und Material. Aus den bekannten Wechselwirkungen () kommt dafür der Elektromagnetismus () und die starke Kraft () in Frage. Die Gravitation und die schwache Kraft sind viel zu schwach zur Erzeugung von elektronischen Signalen in den Detektoren. Dennoch kann die schwache Kraft mit Detektoren untersucht werden, wenn z. B. in Neutrinophysikexperimenten ein Neutrino durch die schwache Wechselwirkung ein geladenes hochenergetisches Teilchen im Detektormaterial hervorbringt, welches mittels des Elektromagnetismus weiter untersucht werden kann. Es hängt vom Material des Detektors und vom zu untersuchenden Teilchentyp ab, wie genau diese Wechselwirkung abläuft. Das bedeutet, dass ein komplettes Teilchenphysikexperiment typischerweise aus verschiedenen Detektortypen aufgebaut ist: Unterschiedliche Arten von Messungen werden von unterschiedlichen Detektoren an unterschiedlichen Teilchen vorgenommen. Die Unterschiede in der Art der Wechselwirkung können dann genutzt werden, um verschiedene Arten von Teilchen experimentell zu unterscheiden ().

Halbleiterdetektoren  S. 66 Die vier Grundkräfte der Natur  S. 12 Elektromagnetismus  S. 164 Starke Kraft: Quantenchromodynamik  S. 190 Signaturen von Teilchen  S. 76

Bei allen elektrisch geladenen Teilchen kann der Elektromagnetismus als Wechselwirkung zwischen Teilchen und Detektor zur Messung verwendet werden. Der Detektor muss so konstruiert werden, dass alle Teilchen, die untersucht werden sollen, in einem zum Detektor passenden Energiebereich liegen. Die Energie und die Masse (Anwendungen der speziellen Relativitätstheorie ) des Teilchens entscheiden auch darüber, wie genau das elektrisch geladene Teilchen mittels des Elektromagnetismus mit dem Detektormaterial wechselwirkt. Das Teilchen kann einfach nur im elektrischen Feld der Atomkerne abgelenkt werden und dabei den Kern „anschubsen“, ihm also dadurch einen Teil seiner Energie übertragen. Dies kann bei jeder Energie der Teilchen geschehen, ist aber nur bei sehr geringer Energie der Teilchen der dominierende Prozess. Er kann meist nicht zur Messung verwendet werden. Anders verhält es sich, wenn das Teilchen ein Hüllenelektron auf ein höheres Energieniveau anhebt: Das Hüllenelektron begibt sich durch Aussendung eines Photons wieder zurück auf sein ursprüngliches Energieniveau. Wenn das Material für die Wellenlänge des Photons durchsichtig ist, kann das Photon als Lichtsignal elektronisch registriert werden. Diesen Prozess nennt man Szintillation. Während dieser Prozess für den elektronischen Nachweis der Teilchen sehr wichtig ist, trägt er doch wenig zum Energieübertrag vom Teilchen zum Material bei, er bremst die hochenergetischen Teilchen also kaum. Deren Energie liegt so weit über der Bindungsenergie der Elektronen im Atom, dass sie kaum gebremst werden.

Wechselwirkung zwischen Teilchen und Materie

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Zwei Beispiele für verschiedene Detektortypen: Mit einem Silizium-Vertexdetektor wird Ionisation im Silizium benutzt. In einer Driftkammer ionisiert ein Teilchen ein Gas entlang seiner Spur.

Bei etwas höherer Energie, wenn das Teilchen eine Bewegungsenergie deutlich oberhalb der Ionisationsenergie der Atome des Materials, aber unterhalb von etwa dem hundertfachen seiner Ruhemasse (SRT ) besitzt, ist die Ionisation des Detektormaterials ein dominanter Prozess. Dabei hebt das Teilchen die Hüllenelektronen nicht auf eine höhere Stufe, sondern stößt sie aus dem Atom heraus. Es entsteht ein geladenes Ion und ein freies Elektron, das als elektrisches Signal verstärkt und elektronisch registriert werden kann.

Für elektrisch neutrale Teilchen müssen andere physikalische Prozesse zum Nachweis benutzt werden, die in den folgenden Artikeln anhand einzelner Detektortypen weiter ausgeführt werden. Photonen zum Beispiel sind elektrisch neutral und müssen erst in Elektronen und Positronen „umgewandelt“ werden, bevor sie registriert werden können. Für elektrisch neutrale Hadronen wie Neutronen kann die starke Wechselwirkung zwischen dem Teilchen und den Protonen und Neutronen in den Atomkernen verwendet werden. Eine weitere Besonderheit gilt für die Antiteilchen () Übersteigt die Energie des Teilchens in etwa das hun- der Materiebausteine: Positronen, Antiprotonen oder dertfache seiner Ruhemasse, wird die Strahlung zum Antineutronen können auch bei sehr niedrigen Energidominaten Prozess der Energieübertragung. Dabei er- en gemessen werden, wenn sie sich mit ihren Partnern zeugt das einfallende Teilchen hochenergetische Pho- vernichten. tonen, an die es je etwa die Hälfte seiner Energie abgibt. Dieser Prozess setzt sich in einer Kaskade fort, bis die Mithilfe all dieser Prozesse erzeugen die hochenergeEnergie zu niedrig wird (Energiemessung ). Bei sehr tischen Teilchen im Material entweder Licht in Form leichten Teilchen wie Elektronen spielt dieser Prozess von Photonen oder elektrische Signale in Form freier schon bei recht niedrigen Energien von etwa 100 MeV Elektronen, die dann in ein elektronisches Signal umeine große Rolle für den Bau von Detektoren, bei gewandelt werden. schweren Teilchen typiSzintillation Ionisation Strahlung scherweise in der Praxis gar keine. geladenes Teilchen geladenes Teilchen geladenes Teilchen Die verschiedenen für den Nachweis der Teilchen im Detektor wichtigen Arten der Energieübertragung in schematischer Darstellung

Photon

Photon

Photon

Elektron

Elektron Kern

Anwendungen der speziellen Relativitätstheorie  S. 88 SRT: Spezielle Relativitätstheorie  S. 34 Energiemessung von Teilchen  S. 74 Was ist Antimaterie?  S. 18

Kern

Kern

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3 Experimentelle Grundlagen

Halbleiterdetektoren

Die Multitalente: von der Handykamera bis zum LHC Die meisten Menschen tragen mit der Handykamera Millionen von kleinen Halbleiterdetektoren mit sich herum. Auch in der Teilchenphysik spielen sie eine herausragende Rolle. Ob ein Material elektrischen Strom leiten kann, hängt davon ab, wie stark die Elektronen an die Atome gebunden sind.

Halbleiter sind im Grunde Isolatoren. Es genügt aber eine relativ geringe Energie (typischerweise ≈ 3 Elektronenvolt), um Elektronen vom Valenzband in das freie Leitungsband zu befördern. Dies kann im einfachsten Falle durch thermische Anregung geschehen, weshalb bei steigender Temperatur Halbleiter immer leitfähiger werden und ihr elektrischer Widerstand sinkt. Durch In Festkörpern überlagern sich die Wellenfunktionen die Messung des Widerstands kann man so die Temeinzelner Elektronenniveaus so sehr, dass die Aufent- peratur bestimmen, weshalb Halbleiter in sehr vielen haltswahrscheinlichkeit für Elektronen über den Fest- Anwendungen als Thermometer eingesetzt werden. körper nahezu konstant ist. Deshalb spricht man statt von Wellenfunktionen von Bändern des Festkörpers. Die Anregung von Elektronen ins Leitungsband kann Die freie Bewegung von Elektronen und damit Strom- aber auch durch Photonen oder elektrisch geladene fluss sind aber nicht möglich, wenn alle möglichen Teilchen geschehen (). Die Anzahl der erzeugten freiElektronenniveaus eines Bandes besetzt sind, denn en Elektronen ist direkt proportional zu der von den dann verbietet das Pauli-Prinzip die Bewegung der Teilchen abgegebenen Energie. Legt man eine elektriElektronen von einem Niveau zum nächsten. Metalle sche Spannung an und sammelt die freien Elektronen sind elektrisch leitfähig, da es hier nur teilweise besetz- ein, kann anhand der gemessenen elektrischen Ladung te Bänder gibt, sogenannte Leitungsbänder. Ein voll- die Energie des ursprünglichen Teilchens gemessen ständig besetztes Band nennen wir Valenzband. Das werden. ist in Isolatoren der Fall. Die Energielücke zwischen Valenzband und LeitungsGermaniumdetektoren des LEKommerzielle Germaniumdeband, also die erforderliche Energie, um ein freies GEND Neutrinoexperimentes tektoren montiert auf Gefäßen messbares Elektron zu erzeugen, beträgt nur wenige für flüssigen Stickstoff Elektronenvolt. In gasbasierten Detektoren () oder Szintillatoren () muss hingegen die Ionisationsenergie der Gasatome von einigen 10 eV aufgebracht werden, damit ein Signal entstehen kann. Daher werden bei gleicher Energie in Halbleiterdetektoren deutlich mehr Ladungsträger erzeugt, weshalb die Energieauflösung, die Genauigkeit der Energiemessung, aufgrund der höheren Messstatistik () wesentlich besser ist.

Wechselwirkung zwischen Teilchen und Materie  S. 64 Gasbasierte Detektoren  S. 68 Szintillatoren und Photomultiplier  S. 70 Statistik  S. 80

Halbleiterdetektoren

Die Halbleitertechnologie ist sehr hoch entwickelt, und es lassen sich Halbleiterdetektoren auch als sehr kleine Strukturen in Massen produzieren. Eine Handykamera besteht aus einem Chip mit mehreren Millionen Pixeln, jedes mit einem nur mikrometergroßen Halbleiterdetektor zur Messung optischer, also mit dem Auge sichtbarer, Photonen. Halbleiterdetektoren werden daher in einer Vielzahl von Anwendungen eingesetzt, wobei ihre Form und Größe variieren kann, von den Miniaturdetektoren in Kamerachips bis hin zu sehr großen Germaniumdetektoren mit mehreren Kilogramm Gewicht. Neben den Sensorchips in Handy- oder Digitalkameras gibt es wesentlich größere solcher Kameras an astronomischen Teleskopen. Ebenso werden Chips mit Siliziumdetektoren als abbildende Kameras auf Satelliten in der Röntgenastronomie verwendet. Ganz im Zentrum der großen Detektoren ATLAS, CMS, ALICE und LHCb am LHC-Beschleuniger befinden sich Spurdetektoren, auch als Vertexdetektoren bezeichnet. Sie bestehen aus mehreren Lagen hochpixelierter Siliziumdetektorchips zur dreidimensionalen Vermessung von Teilchenspuren. Ein sehr breites Anwendungsgebiet von größeren Einzeldetektoren ist die Spektroskopie von Röntgen- und Gammastrahlung. Um Störungen durch thermisch angeregte Elek-

Ein Teil des AGATA-Arrays bestehend aus hexagonalen Germaniumdetektoren

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tronen zu reduzieren, werden dabei die Halbleiterdetektoren bei spektroskopischen Anwendungen zur Erhöhung der Sensitivität gekühlt, meist mit flüssigem Stickstoff auf eine Temperatur von 77 K. Daher ist das äußere Erscheinungsbild von Halbleiter-Spektrometern meist durch das Gefäß für den flüssigen Stickstoff geprägt. So auch bei den Gamma-Spektrometern, die sehr häufig in der Umweltanalyse zur Suche nach radioaktiven Verunreinigungen oder zur Analyse von Spurenelementen eingesetzt werden. Die größten Halbleiterdetektoren mit einigen Kilogramm an Gewicht bestehen aus hochreinem Germanium und sind in der Teilchenphysik zu finden. Das Advanced Gamma Tracking Array (AGATA) zur Untersuchung der Struktur von Atomkernen besteht aus 180 Germaniumdetektoren, die in einer Kugelschale angeordnet sind. Damit wird nicht nur die Energie, sondern auch die Emissionsrichtung von Gammaquanten aus kernphysikalischen Reaktionen sehr genau vermessen. Um die Orte der Absorption der Gammaphotonen genauer zu bestimmen, besitzt jeder einzelne der etwa 2,4 Kilogramm schweren Detektoren 36 auf der Oberfläche verteilte Kontakte zur Auslese der erzeugten Ladungen. Einbau des ATLAS-Spurendetektors bestehend aus vielen Siliziumdetektor-Chips

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3 Experimentelle Grundlagen

Gasbasierte Detektoren

Messen, wo gar kein Detektor zu sein scheint Gasgefüllte Detektoren waren die ersten mit elektrischen Signalen operierenden Teilchendetektoren. Der erste dieser Art war das Zählrohr, das Hans Geiger 1908 entwickelte. Der Aufbau des Zählrohres ist einfach: Ein Rohr mit möglichst dünner Wand wird mit einem Edelgas gefüllt und von einem dünnen Draht durchspannt. Über einen Widerstand wird eine Spannung von etwa tausend Volt so angelegt, dass der Draht positiv geladen ist und die metallische Außenwand negativ. Wenn nun ein ionisierendes elektrisch geladenes Teilchen – z. B. aus einem radioaktiven Zerfall, in dem Teilchen mit mehreren tausend Elektronenvolt (eV) oder mehr an Energie erzeugt werden – durch die Wand in das Rohr eindringt, kann es die Edelgasatome im Inneren ionisieren (), also ein Elektron aus der Atomhülle schlagen. Diese Elektronen nennt man Primärelektronen. Sie entstehen entlang des gesamten Wegs, den das Teilchen im Inneren zurücklegt.

denn die Feldlinien werden auf dem Weg zum Draht immer dichter. Das erschließt sich aus der Zeichnung des Drahts (rechts) und der elektrischen Feldlinien, die senkrecht vom Draht weg radial nach außen zur Wand verlaufen. Nahe am Draht werden die driftenden Elektronen also immer stärker beschleunigt und dabei selbst zu hochenergetischen, geladenen Teilchen, die selbst wieder Ionisation hervorrufen können – und so weiter. - e−

Ionisation eines Atoms durch ein hochenergetisches Elektron

Daraus ergibt sich eine Lawine. Je nach e− e− Feldstärke können dabei Aufgrund des elektrischen Felds driften die Primär- etwa 100 Milliarden Elektelektronen nach innen zum Draht. Dabei erfahren sie ron-Ion-Paare pro durchlaufendem hochenergetischen ein zunehmend stärker werdendes elektrisches Feld, Teilchen entstehen. Der Prozess kommt nach kurzer Zeit zum Erliegen, weil die Elektronenlawine und die Ein geladenes Teilchen in einem Zählrohr Ionen einen messbaren elektrischen Strom zwischen Wand und Draht erzeugen, der zum Schließen des ionisierende Strahlung +HV Stromkreises über den äußeren Widerstand führt. Der + + - Spannungsabfall am Widerstand bei hohem Strom re+ + + - duziert die elektrische Spannung im Zählrohr und der + Prozess hört auf. Doch warum diese aufwändige KonSignal Zählgas struktion, um aus ein paar hundert primären Elektron(z. B. Argon) positive Spannung Ion-Paaren, die das ursprüngliche hochenergetische Teilchen erzeugt hat, etwa 100 Milliarden zu machen? negative Spannung

Wechselwirkung zwischen Teilchen und Materie  S. 64

Gasbasierte Detektoren

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wird davon nicht gestört. Der Detektor verfälscht also kaum seine eigene Messung durch sein eigenes Material. Andererseits entstehen genau darum auch nur recht + + wenige Elektronen – und gute Tricks zur Verstärkung + + des Signals müssen gefunden werden. Der andere große Nachteil ist, dass der Detektor recht langsam ist: Die Zeitabstände zwischen einzelnen Erzeugungen von Teilchen in modernen Experimenten liegen teils im Bereich weniger Nanosekunden. Die Primärelektronen Das elektrische Feld um einen dünnen, positiv geladenen Draht brauchen aber mehrere Mikrosekunden, also bis zu Der Grund ist einfach: Ein Lautsprecher kann das Sig- tausend Mal länger, um durch den Detektor zu driften. nal hörbar machen, das vom Strom von 100 Milliarden Elektronen erzeugt wird, aber nicht das von hundert. Trotz dieser Nachteile überwiegen oft die Vorteile. Diese Herausforderung bestand nicht nur 1908, son- Moderne gasbasierte Detektoren wie die Zeitprojekdern im Grunde immer noch, obwohl nun Computer tionskammer müssen nicht mehr röhrenförmig sein. den Detektor auslesen und nicht mehr unsere Ohren. Sie kann mit einer Ungenauigkeit von nur etwa 0,1 mm Auch moderne gasbasierte Detektoren müssen das den gesamten Weg des Teilchens dreidimensional elektrische Signal noch im Gas verstärken, um sie wirk- verfolgen, indem nicht mehr das Signal der ganzen lich messbar zu machen – wenn auch nur um etwa ei- Lawine an nur einem Draht gemessen wird, sondern nen Faktor 1.000 und nicht 100 Milliarden. die Lawinen jedes einzelnen Primärelektrons für sich genommen auf kleinen Feldern gemessen werden. Die Damit ist der große Vorteil der gasgefüllten Detektoren kleinsten dieser Felder sind nur etwa 50 μm groß und auch eine ihrer beiden größten Schwächen: Wenn ein man braucht ein Mikroskop, um sie zu sehen. So wurDetektor fast überall aus so wenig Materie wie möglich de ein über einhundert Jahre altes Prinzip immer weiter besteht, also einem Gas, dann ist das sehr erstrebens- modernisiert und ermöglicht damit auch heutzutage eiwert, denn das zu messende hochenergetische Teilchen nen der wichtigsten Detektortypen. Gasion Ein moderner mikrostrukturierter Gasdetektor

Elektron

Gitter Elektronenlawine Weiterleitung des Signals zum Verstärker

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3 Experimentelle Grundlagen

Szintillatoren und Photomultiplier Die großen Augen der Teilchenphysik

Szintillation bedeutet Funkeln oder Flackern und beschreibt einen Vorgang zum Nachweis von Teilchen, ohne den die meisten der in diesem Buch beschriebenen Experimente im Dunkeln tappen würden. In vielen Materialien werden die Moleküle beim Durchgang von geladenen Teilchen oder Photonen in einer Weise angeregt, dass sie die Anregungsenergie teilweise in Form von Licht wieder abgeben. Die Erzeugung von Licht in diesen als Szintillatoren bezeichneten Materialien wird in der Teilchenphysik als Detektormechanismus in den unterschiedlichsten Formen und Größen verwendet. Diese reichen von sehr kleinen Szintillationsdetektoren in der medizinischen Bildgebung (PET ) über die Kalorimeter zur Messung der Energie von Teilchen in den Detektoren am CERN () bis hin zu den sehr großen Detektoren der Neutrinophysik (). Viele der Szintillationsmaterialien sind günstig herstellbar, weshalb sie vor allem bei großen Detektionsvolumina zum Einsatz kommen. Abhängig vom Material kann die Lichtemission extrem schnell geschehen, was eine große Rolle spielt, wenn es auf hohe Zeitgenauigkeit ankommt, wie z. B. bei der PET oder in den Detektoren am CERN. Am häufigsten werden Plastik-Szintillatoren verwendet. Mit großen Szintillatorplatten lassen sich großflächige Detektorsysteme bauen, um damit z. B. festzustellen, ob von außen Strahlung in einen empfindlichen Messaufbau eindringt und eventuell falsche Signale erzeugt. Flüssige Szintillatoren, meist organische Flüssigkeiten, werden verwendet, wann immer es auf großvolumige Detektoren ankommt. Das ist insbesondere in der

PET: Positronen-Emissions-Tomographie  S. 134 Typische Detektoren an Beschleunigern  S. 124 Große Detektoren tief im Berg  S. 126 Neutrinos von der Sonne  S. 320 Neutrinooszillationen  S. 186

Test der PbWO4-Kristalle für den CMS-Detektor am CERN

Kommerzieller Strahlungsdetektor mit einem Cäsium-Iodid-Szintillator, zusammen mit einem Photomultiplier lichtdicht verpackt in dem weißen Zylinder

Neutrinophysik der Fall. Borexino, ein Experiment zur Untersuchung von Neutrinos von der Sonne () verwendet 800 Tonnen Flüssigszintillator. Bei JUNO, einem Experiment zur genauen Vermessung der Neutrinooszillationen (), sollen es sogar 25.000 Tonnen werden. Es gibt eine große Vielfalt an anorganischen Szintillatoren. Kristalle aus NaI oder CsI sind als Gammade-

Szintillatoren und Photomultiplier

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tektoren kommerziell sehr weit verbreitet. Andere Kristalle erlauben es, das Detektormaterial genau an die Anforderungen der Messungen anzupassen. PbWO4Kristalle haben wegen der darin enthaltenen schweren Elemente Blei (Pb) und Wolfram (W) eine sehr hohe Effizienz beim Abbremsen hochenergetischer Teilchen, weshalb sie zur Energiemessung am CERN im CMS-Detektor in großer Zahl eingebaut werden. Mit Materialien wie LuAlO2 kann eine extrem kurze Zeit bis zur Lichtemission erreicht werden, was notwendig ist, wenn es auf extrem hohe Zeitauflösung ankommt.

wird das Elektron auf die erste Dynode beschleunigt, wo es beim Auftreffen weitere Elektronen ausschlägt. Der Vorgang der Elektronenvervielfachung wiederholt sich mehrere Male, so dass am Ende ein messbares Signal von mehreren Millionen Elektronen entsteht. Photomultiplier können angepasst an die Anwendung in unterschiedlichen Formen und Größen hergestellt werden. Sie sind sehr schnell, und selbst mit sehr großen Photomultipliern, wie z. B. 50 Zentimetern Durchmesser im Super-Kamiokande-Experiment () erreicht man eine Empfindlichkeit auf einzelne Photonen.

All die schönen Szintillatoren wären nutzlos ohne die Möglichkeit, die emittierten Photonen messen zu können. Die bei Weitem empfindlichsten Lichtsensoren sind Photomultiplier. Sie wandeln Photonen in messbare elektrische Signale um. An der Vorderseite eines evakuierten Glaskolbens erzeugt ein Photon durch den Photoeffekt ein Elektron. Dahinter befinden sich in einer Kette hintereinander als Dynoden bezeichnete Elektroden, an die eine von Dynode zu Dynode wachsende elektrische Spannung angelegt wird. Dadurch An der Photokathode erzeugt das Photon durch den Photoeffekt ein Elektron. Das Elektron wird durch die Spannung von Dynode zu Dynode beschleunigt, wo beim Aufprall jedes Mal weitere Elektronen aus dem Metall freigesetzt werden. Am rechten Ende kann ein messbares Signal aus sehr vielen Elektronen abgegriffen werden. Photokathode

Photon

Dynoden

Glaskolben

Vakuum

Elektron Signalausgang

Hochspannung

Super-Kamiokande: Neutrinos  S. 184

Beispiele für Photomultiplier verschiedener Größe Die weltweit größten Photomultiplier werden beim Super-Kamiokande Neutrinoexperiment eingesetzt.

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3 Experimentelle Grundlagen

Orts- und Impulsmessung

Woher kommen wir, wohin gehen wir: fundamentale Fragen auch für Teilchen Oft ist eine der zentralen Fragen von Teilchenphysikexperimenten: Woher kommen die Teilchen, wohin gehen sie und mit welchem Impuls (Kinematik )? Ein Detektor für derartige Messungen muss meist folgende Kriterien erfüllen: Erstens sollte er leicht von Teilchen durchdrungen werden können, denn oft soll die Bahn des Teilchens möglichst wenig durch das Detektormaterial gestört werden. Daher eignen sich für viele Anwendungen zum Beispiel die gasbasierten Detektoren (). Das ist nicht immer notwendig – manchmal misst auch ein Detektor Herkunft, Weg und Energie der Teilchen auf einmal und absorbiert dabei die gesamte Teilchenenergie. Zweitens sollte er meist sehr genau die Position des Teilchendurchgangs messen können. Typische Unsicherheiten der Ortsmessung entlang der Teilchenbahn liegen zwischen 0,1 mm und 0,05 mm! Das ist z. B. wichtig, weil manche Teilchen in andere zerfallen () und vor diesem Zerfall nur einen Bruchteil eines Millimeters geflogen sind. Drittens muss der Detektor oft in ein magnetisches Feld eingebettet werden können. Das dient der Impulsmessung, denn der Impuls wird bei elektrisch geladenen Teilchen aus der Krümmung der Teilchenbahn auf eine Schraubenlinie gemessen, deren Achse parallel zum magnetischen Feld liegt. Je mehr Impuls das Teilchen hat, umso größer ist der Durchmesser der Schraube: Die Lorentz-Kraft, mit der das magnetische Feld das Teilchen auf das Innere der Helix zu beschleunigt, wird immer größer, wenn das Teilchen schneller wird. Die Zentripetalkraft allerdings, mit der das Teilchen bei gegebener Geschwindigkeit beschleunigt werden muss,

Kinematik  S. 36 Gasbasierte Detektoren  S. 68 Produktion, Zerstörung und Zerfall von Teilchen  S. 50

um auf einer Bahn mit konstantem Durchmesser zu bleiben, nimmt aber noch schneller zu. Das Teilchen wird mit zunehmendem Impuls einer größeren Schraubenbahn folgen, denn auf dieser ist die Krümmung der Spur kleiner, was die Zentripetalkraft gegenüber einer engeren Schraubenlinie verringert. Das Vorzeichen der Teilchenladung wird auch durch die Krümmung gemessen, da die positiv geladenen Teilchen umgekehrt gekrümmt werden als die negativ geladenen Teilchen. Das sieht man am unten stehenden Bild eines Ereignisses des ATLAS-Experiments, auf dem es nach links und nach rechts gekrümmte Spuren gibt. Magnetfeld Teilchenbahn

Die spiralförmige Bahn eines geladenen Teilchens in einem Magnetfeld

 Lorentzkraft Zentrifugalkraft

Die gekrümmten Spuren vieler geladener Teilchen im ATLAS-Detektor



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Zeit

Orts- und Impulsmessung

Ort Ein Bild einer Neutrinowechselwirkung in flüssigem Argon

Alle Detektoren für Orts- und Impulsmessung nutzen die Ionisation (Wechselwirkung Teilchen Materie ), um ein Signal zu erzeugen. Das bedeutet, dass typischerweise die Teilchenbahn nur für elektrisch geladene Teilchen kontinuierlich verfolgt werden kann, da neutrale Teilchen sich erst in andere Teilchen umwandeln müssen, bevor sie Ionisation hervorrufen! Als Detektoren, die alle Eigenschaften erfüllen, kommen (quasi) kontinuierlich messende Detektoren in Frage oder solche, die entlang der Teilchenbahn nur einzelne Punkte in einzelnen dünnen Schichten vermessen. Ein Beispiel für den ersten Typ sind die Zeitprojektionskammern. Sie vermögen ein kontinuierliches, dreidimensionales Bild einer Teilchenbahn oder gar einer Teilchenwechselwirkung mit mehreren Teilchen zu geben, wie hier oben links abgebildet zwei Elektronen und ein Positron in einer Zeitprojektionskammer, gefüllt mit flüssigem Argon der ArgoNeuTKollaboration (Suche nach Dunkler Materie ). Ein Beispiel für einen Detektor, in dem nicht jede Spur, die ein Teilchen durch den Detektor zurücklegt, an quasi jeder Stelle gemessen wird, sieht man anhand des ATLAS-Experiments im Bild oben rechts am glei-

Wechselwirkung zwischen Teilchen und Materie  S. 64 Direkte Suche nach der Dunklen Materie  S. 288 Der LHC-Beschleunigerkomplex am CERN  S. 112 Trigger und Datenverarbeitung  S. 140 Siliziumdetektoren: Halbleiterdetektoren  S. 66

Die Rekonstruktion von Teilchenkollisionen (rote Punkte) im Vakuum des Strahlrohrs aus rekonstruierten Teilchenspuren

chen Ereignis wie zuvor. Hier ist es um 90° gedreht, so dass die Strahlachse des Beschleunigers (LHC ) genau horizontal in der Mitte durch das Bild verläuft. Direkt in der Mitte kollidieren die Teilchenpakete – hier sind offenbar genau vier Protonen, die von links kamen, mit vier anderen Protonen von rechts kollidiert und haben Büschel neuer Teilchen erzeugt. Die von einem Programm aus den gemessenen Messpunkten errechneten bunten Linien sollen die Spuren der geladenen Teilchen darstellen (Trigger und Daten ). Wirklich gemessen sind aber nur die kleinen rechteckigen Punkte – nur dort, auf den horiziontalen Ebenen der Punkte parallel zur Strahlachse, finden sich Schichten aus Siliziumdetektoren (), von denen jede Lage nur etwa 0,1 mm dick ist. Diese sind unterteilt in kleine Pixel, wie in einer normalen Kamera, und messen die hindurchfliegenden Teilchen anhand der Information, welcher Pixel ein Ionisationssignal gesehen hat. Die Innerste dieser Lagen auf dem Bild ist etwa 5 cm von der Mitte des Strahlrohrs entfernt. Verfolgt man nun die Spuren zurück, dann treffen sie sich an nur vier Punkten genau auf der Strahlachse, mitten im Vakuum des Strahlrohrs. Diesen Ursprung der Teilchen nennt man Vertex. So wird gemessen, was an einer Stelle passiert, an der man nicht direkt messen kann.

74

3 Experimentelle Grundlagen

Energiemessung von Teilchen Wie viele Kalorien isst der Detektor?

Die Detektoren, mit denen die Teilchenphysikerinnen und -physiker die Energie der Teilchen messen, heißen Kalorimeter. In einem Kalorimeter wird die Bewegungsenergie der Teilchen ganz oder teilweise in eine andere Energieform umgewandelt. Das ursprüngliche Teilchen wird dadurch im Kalorimeter eingefangen oder vernichtet. Daher steht die Energiemessung meist am Ende einer Kette verschiedener Messungen (Ortsund Impulsmessung ). Der Name „Kalorimeter“ ist nicht umsonst dem lateinischen Wort calor für „Wärme“ entnommen: Einige Kalorimeter messen die Temperaturerhöhung, die ein hochenergetisches Teilchen im dichten Detektormaterial erzeugt, wenn es damit kollidiert und sich die hohe Bewegungsenergie des Teilchens durch Stöße oder Erzeugung neuer Teilchen auf viele Teilchen im Detektormaterial verteilt (Wechselwirkung Teilchen Materie ). Das kann man sich genau so vorstellen, wie wenn ein massiver Körper über eine raue Oberfläche rutscht und sich seine Bewegungsenergie über die Reibung zwischen den Oberflächen in Wärme verwandelt. Das Kalorimeter besteht typischerweise aus einem Material mit hoher Dichte, damit die Teilchen ihre Energie auf engem Raum an den Detektor übertragen. Als Beispiel sei hier ein elektromagnetisch wechselwirkendes Teilchen wie das Elektron gezeigt: Es durchläuft im Material eine Kaskade von Wechselwirkungen mit den elektrischen Feldern der Kerne und Elektronen der Atome des Materials. In jedem der Schritte dieser Kaskade können neue Photonen oder Elektron-Positron-

Orts- und Impulsmessung  S. 72 Wechselwirkung zwischen Teilchen und Materie  S. 64 Szintillatoren und Photomultiplier  S. 70

e− e+

e−

e+

γ

e− γ

e−

e



e+

e− γ

Kalorimeter

e−

Ein Elektron und seine Wechselwirkungen mit dem Material des Kalorimeters

Paare gebildet werden, die im Schnitt jeweils die Hälfte der Energie des Teilchens im vorigen Schritt tragen, und dann ihrerseits wieder eine neue Kaskade auslösen. Diese Kette stoppt, wenn die Photonen weniger als das Doppelte der Elektronmasse als Energie tragen und keine neuen Elektronen und Positronen mehr bilden können. Die gesamte Menge der in dieser Kaskade erzeugten Teilchen nennt man Schauer. In den meisten modernen Kalorimetern wird statt der Temperaturerhöhung ein direktes elektronisches Signal gemessen. Dazu werden hauptsächlich zwei verschiedene Methoden verwendet: Entweder werden die Teilchen in einem dichten Szintillator () gestoppt und die Energie über die Menge an Licht, die durch die Szintillation erzeugt wird, in einem Photomultiplier gemes-

Energiemessung von Teilchen

75

sen. Die andere Möglichkeit ist, direkt ein elektrisches Signal zu erzeugen, indem man Halbleiterdetektoren () oder flüssige Edelgasdetektoren () in das Kalorimeter einbaut. Ein Kalorimeter kann nicht nur zur Energiemessung einTypische Kalorimeter zelner Teilchen genutzt werden, sondern auch zur Unterstützung der Identifikation von Teilchenarten. In einem Experiment können unterschiedlichste Teilchen erzeugt werden, wie zum Beispiel nur elektromagnetisch wechselwirkende Teilchen mit (Elektronen, Myonen) und ohne (Photonen) elektrische Ladung sowie zusätzlich mit der starken Kraft wechselwirkende Teilchen, welche wiederum elektrisch geladen (Protonen, Pionen) oder elektrisch neutral (Neutronen, neutrale Mesonen) sein können.

dann kann die räumliche Struktur der Energieabgabe im Kalorimeter mit zur Teilchenidentifikation () verwendet werden: Mit der starken Kraft wechselwirkende Teilchen bilden einen stark unregelmäßigen Schauer (linkes Bild unten). Schwere, nur elektromagnetisch Verfügt das Kalorimeter über eine hohe örtliche Auflö- wechselwirkende Teilchen wie Myonen bilden quasi sung (d. h. es ist in viele kleine Segmente unterteilt, die eine Spur, da sie nur langsam neue Teilchen erzeugen jeweils einzeln gemessen werden können, oder bildet (Mitte) und Elektronen bzw. Photonen bilden einen auf andere Weise eine dreidimensionale Struktur ab), kompakten Schauer (rechts).

Hadron

Myon

Teilchenidentifikation durch unterschiedlich geformte Schauer im Kalorimeter

Halbleiterdetektoren  S. 66 Gasbasierte Detektoren  S. 68 Signaturen von Teilchen  S. 76

Elektron/Photon

76

3 Experimentelle Grundlagen

Signaturen von Teilchen

Fußabdrücke von Teilchen in den Detektoren In den Experimenten der Teilchenphysik werden die unterschiedlichsten Teilchen verwendet und erzeugt. Ein wichtiger Aspekt der Messung ist es daher oft, die Art der in den Experimenten entstehenden, auslaufenden oder einlaufenden Teilchen für jedes den Detektor treffende Teilchen so präzise wie möglich zu bestimmen. Den Physikerinnen und Physikern kommt dabei zugute, dass die typischen verwendeten oder entstehenden Teilchen, die sich in oder durch den Detektor bewegen, deutlich unterschiedliche Kombinationen von Wechselwirkungen mit der Materie des Detektors aufweisen (). Da unterschiedlich dichte Materialien unterschiedliche Signaturen erzeugen, sind viele Teilchendetektoren aus verschiedenen Subdetektoren (Typische Detektoren ) zusammengesetzt. Dabei wird versucht, im Vertexdetektor und Spurdetektor während der Messungen von Herkunftsort, Richtung und Impuls der elektrisch geladenen Teilchen so wenig Material wie möglich zu verwenden (Detektoren, Orts- und Impulsmessung ). Hinter dieser Lage schließen sich die Kalorimeter (Energiemessung ) an, die aus dichtem Material bestehen. Hinter den Kalorimetern kann typischerweise nur noch eine Teilchensorte nachgewiesen werden: die Myonen, schwere Partnerteilchen der Elektronen. Für sie gibt es oft ein weiteres Spurdetektorsystem hinter den Kalorimetern. Der Nachweis der Teilchen im Detektor nutzt immer entweder die elektromagnetische Wechselwirkung, die starke Wechselwirkung oder eine Kombination der

beiden – mit welcher Gewichtung, wird von den Eigenschaften der betrachteten Teilchen und ihrer Masse bestimmt. Als Beispiel seien hier die häufigsten identifizierten Teilchen in beschleunigerbasierten Experimenten genannt: Ein Photon ist weder elektrisch noch unter der starken Wechselwirkung geladen und erzeugt daher typischerweise keine Spur im Spurdetektor. Es ist aber das Austauschteilchen des Elektromagnetismus – obschon ungeladen, kann es also trotzdem mit elektrisch geladenen Teilchen wechselwirken. Zum Beispiel sind Elektronen in dichter Materie in großer Zahl vorhanden. Die unterschiedlichen Wechselwirkungen der Teilchenarten in den verschiedenen Detektorkomponenten Spurdetektor

elektromagn. hadronisches Kalorimeter Kalorimeter

Myonensystem

Photonen Elektronen Positronen Myonen Protonen Kaonen Pionen Neutronen K0L innerste Schicht

Wechselwirkung zwischen Teilchen und Materie  S. 64 Typische Detektoren an Beschleunigern  S. 124 Halbleiterdetektoren  S. 66, Gasbasierte Detektoren  S. 68 und Orts- und Impulsmessung  S. 72 Energiemessung von Teilchen  S. 74

äußerste Schicht

Signaturen von Teilchen

Dann überträgt das Photon seine Photon Energie auf Elektronen und neu entstehende Elektron-Positron-Paare. Diese elektrisch Proton-Protongeladenen leichten TeilKollisionspunkt chen geben ihre Energie Elektron in einem kompakten, dichten Prozess an das Detektormaterial ab. Ein Photon wird daher als kompakter „Cluster“ ohne darauf zeigende Spur rekonstruiert.

77

Neutron

Proton

Neutrino

Anti-Myon

Ein Elektron verhält sich fast genauso, ist aber leicht Teilchen auf ihrer Bahn durch den CMS-Detektor. Die Farben entund elektrisch geladen. Daher ionisiert es das Material, sprechen denen in der linken Abbildung. das es durchdringt, entlang seiner Bahn. Eine Spur entsteht im Spurdetektor. Im Kalorimeter verhält es sich wirkt also nur zwischen Hadronen, wenn sie sich quasi wie das Photon. durchdringen (Confinement , Reichweite ). Aufgrund dieses Wechselspiels erzeugen sie unregelmäEin Myon ist das schwere Partnerteilchen der Elek- ßige Cluster – unterscheiden sich also in deren Form tronen, seine Quantenzahlen sind identisch. Es wech- von Elektron und Myon. Ähnlich ist es bei den neuselwirkt aber nicht identisch zum Elektron: Das liegt tralen Hadronen wie dem Neutron oder einem neutan seiner um einen Faktor 200 höheren Masse. Daher ralen Kaon – nur ohne Spur. Und auch hier liegt der hat es mehr „Durchschlagskraft“ als ein Elektron und Unterschied zum Photon in der Form des Clusters im durchdringt auch Kalorimeter und Myondetektor als Kalorimeter. Spur. Bei den üblichen Energien der Myonen in Teilchenphysikexperimenten hat es genug Energie, um erst Die einzigen Teilchen, die den meisten Detektoren entaußerhalb des Detektors zu zerfallen. gehen, sind die Neutrinos. Sie wechselwirken nur mit der schwachen Wechselwirkung – also meist weit auGeladene Hadronen wie Protonen oder geladene Pi- ßerhalb des Detektors oder gar weit außerhalb der Erde. onen unterscheiden sich von den Myonen durch ihre Eigenschaft, mit der starken Wechselwirkung agieren Nun beginnt eine Art Puzzlespiel: Aus welcher Wechzu können. Die starke Kraft ist sehr stark, erzeugt also selwirkung im Vakuum der Strahlröhre mag die beobheftige Wechselwirkungen. Hadronen sind aber farb- achtete Kombination aus Teilchen im Detektor entneutrale Kombinationen aus Quarks – die starke Kraft standen sein?

Confinement  S. 192 Über die Reichweite von Wechselwirkungen  S. 54

78

3 Experimentelle Grundlagen

Čerenkov-Strahlung und Teilchenidentifikation Schneller als Licht

In diesem Artikel wird ein Effekt besprochen, der es erlaubt, die Geschwindigkeit eines Teilchens zu bestimmen. Nach seinem Entdecker wird er ČerenkovEffekt genannt. Pawel Cˇ erenkov1, Ilja Frank und Igor Tamm wurden 1958 für die „Entdeckung und Interˇ erenkov-Effekts“ mit dem Nobelpreis pretation des C ausgezeichnet.

verschiedenen Teilchenarten wie zum Beispiel Kaonen und Pionen mit gleichem Impuls (Kinematik ), so haben sie zwangsläufig unterschiedliche Geschwindigkeiten, da sie unterschiedliche Massen haben. Lässt man diesen Teilchenstrahl nun ein Gasvolumen durchlaufen, so kann man mithilfe des Drucks den Brechungsindex n so einstellen, dass ein Pion ein Signal erzeugt, das schwerere Kaon aber nicht, da seine GeschwinBewegt sich ein geladenes Teilchen mit einer Ge- digkeit noch unterhalb der Lichtgeschwindigkeit des schwindigkeit v durch ein Medium, die größer ist als Gases liegt. So kann man also in dem Teilchenstrahl die Lichtgeschwindigkeit in diesem Medium, dann zwischen Pionen und Kaonen unterscheiden. sendet es eine charakteristische elektromagnetische Strahlung aus. Diese wird als Čerenkov-Strahlung be- Misst man auch den Winkel 𝜗 der Photonen gegenüber zeichnet. Sie tritt unter einem Winkel 𝜗 gegenüber der der Spur des Teilchens, so kann man die GeschwindigSpur des Teilchens auf. keit bestimmen. Eine besonders elegante Methode dies zu tun, ist ein sogenannter Ring Imaging Čerenkov Der Cosinus dieses Winkel ist gegeben durch: (RICH) Detektor. Hier sorgt eine sphärische Anordnung von Spiegeln dafür, dass unabhängig davon, wo cMedium c = __ , cos(𝜗) = ____ Photonen entlang der Spur ausgesendet werden, diev nv se auf einen Ring im Detektor abgebildet werden. Der wobei cMedium die Lichtgeschwindigkeit im Medium Radius dieses Rings gibt Aufschluss über den Winkel ist, die sich aus dem Verhältnis der Vakuumlichtge- 𝜗 und damit über die Geschwindigkeit. Ist jetzt noch schwindigkeit c und dem aus der Optik bekannten Brechungsindex n ergibt. Funktionsweise eines Schwellen-Čerenkovzählers: Der Brechungsindex des Gases im blauen Volumen ist so gewählt, dass die schnelleren Pionen Čerenkovlicht aussenEin ähnlicher Effekt tritt als Schallwelle den, während dies für die langsameren Kaonen nicht der Fall ist. beim Überschallflugzeug auf, das sich schneller als eine Schallwelle im Medi𝛾 𝛾 um Luft bewegt. 𝜋 Es gibt verschiedene Möglichkeiten, den Cˇ erenkov-Effekt zu nutzen. Betrachtet man einen Teilchenstrahl bestehend aus

1

Man findet auch die Schreibweise „Tscherenkow“ oder „Cherenkov“.

Kinematik  S. 36

𝛾 K

ˇ erenkov-Strahlung und Teilchenidentifikation C

79

Man kann sogar das Eis in der Antarktis als ˇ erenkovmedium nutzen. Das wird beim IceCubeC Detektor (Große Detektoren ) nahe des Südpols ausgenutzt. In das Eis eingelassene Photomultiplier () dienen zum Nachweis von Cˇ erenkovlicht. Myonen, die sich schneller als ein Lichtstrahl im Eis bewegen, senden Cˇ erenkovlicht aus, das mit Photomultipliern detektiert werden kann.

Bläuliches Čerenkovlicht in einem Kernreaktor, hervorgerufen durch schnelle Elektronen in Wasser Der RICH (Ring Imaging Čerenkov) Detektor des COMPASS-Experiments am CERN während der Aufbauphase. Zu sehen ist die aus Sechsecken aufgebaute sphärische Spiegelanordnung.

der Impuls des Teilchens bekannt, z. B. aus der Ablenkung in einem Magneten in einem anderen Teil des Detektors, kann man auf die Identität des Teilchens schließen, da sich aus der Kenntnis von Impuls und Geschwindigkeit die Masse berechnen lässt. Prinzip eines Ring Imaging Čerenkov Detektors. Unabhängig davon, wo ein Photon entlang der Teilchenspur ausgesendet wurde, trifft es immer im gleichen Abstand zur Teilchenspur auf den Detektor. In zwei Dimension entsteht daher ein Kreisring.

𝜗 r

enspu

Teilch

Detektor

Große Detektoren tief im Berg  S. 126 Szintillatoren und Photomultiplier  S. 70

Spiegel

80

3 Experimentelle Grundlagen

Statistik

Die mathematische Beschreibung von Zufall Teilchenphysik hat aus mehreren Gründen immer mit Zufall zu tun: Einerseits sind quantenmechanische Vorgänge () in der Natur offenbar fundamental vom Zufall geleitet. Zum anderen sind viele Unsicherheiten (), die bei quantitativen Vorhersagen und beim Experimentieren auftreten, durch zufällige Prozesse beschreibbar. Unsicherheiten gibt es bei der Betrachtung der Welt durch Beobachtung immer: Kein Messinstrument misst immer exakt dasselbe, wenn man die Messung wiederholt, und bei keinem stimmt die Kalibration genau. Die mathematische Beschreibung von mit Zufälligkeit behafteten Vorgängen ist die Statistik. Ein Charakteristikum von Zufall ist, dass sich der exakte Wert der nächsten Zufallszahl – also z. B. den Lottozahlen oder dem Messwert bei der nächsten Messung – nicht vorhersagen lässt. Daraus folgt aber nicht, dass die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler über den Zufall nichts wissen. Die Prozesse, die zu den mit zufälligen Unsicherheiten behafteten Ergebnissen führen sind zwar zufällig, aber nicht beliebig. Sie folgen im Allgemeinen den Gesetzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung, so dass über die Wahrscheinlichkeit, ein bestimmtes Ergebnis zu erhalten, durchaus eine definitive Aussage getroffen werden kann. Auf diesem Prinzip basieren fast alle fundamentalen Messungen.

1 1/2

1/2

1/2

1/16

1/2 1/2

3/8 1/2

1/2

1/4

1/2

1/2

3/8 1/2

1/4 1/2

1/2

1/8

1/2

1/2

1/4 1/2

1/2

1/2 1/2

1/2

1/8 1/2

1/2

3/8

1/2

1/4

1/2

1/16

P 0,3 0,2 0,1 −4

−2 0 2 4 Zahl effektiver Schritte nach rechts

Das Galton-Brett und die Gaußverteilung

genau einen Ausgang gibt es bei genau einem Experiment schließlich immer. Wenn also Kopf und Zahl gleich wahrscheinlich sind, weil die Münze symmetrisch ist, dann ist die jeweilige Wahrscheinlichkeit 1/2 = 50 % = 0,5. Für zwei Münzwürfe hintereinander folgt daraus, dass die Wahrscheinlichkeit für zwei Mit Wahrscheinlichkeiten kann man rechnen. Ein mal Kopf 50 %·50 % = 25 % ist. Etwas weniger intuieinfaches Beispiel ist der Münzwurf: Kopf oder Zahl tiv ist, dass die Wahrscheinlichkeit für einmal Kopf und haben bei einer perfekten Münze je eine Wahrschein- einmal Zahl nicht 25 %, sondern 25 % + 25 % = 50 % lichkeit von 50 %. Die Wahrscheinlichkeiten aller Mög- ist, denn es gibt zwei Möglichkeiten, dieses Ergebnis lichkeiten müssen sich immer zu 100 % addieren, denn zu erreichen: Entweder der erste oder der zweite Wurf

Grundkonzepte der Quantenmechanik  S. 40 Messunsicherheiten  S. 82, Die Bestimmung von Messunsicherheiten  S. 146

Statistik

kann Kopf zeigen! Diesen oft sehr wichtigen Einfluss der Zahl der Möglichkeiten zu einem Ergebnis zu kommen, nennt man Kombinatorik. Diese Kombinatorik hat wichtige Auswirkungen, wie man an der schematischen Darstellung eines Galton-Bretts (links) sieht: Man lässt gedanklich von oben eine Kugel nach unten rollen, die in jeder Ebene je einmal nach links oder rechts abbiegen kann. Die Wahrscheinlichkeit an jeder Abzweigung nach links oder rechts weiter zu rollen ist je genau 50 %. Die Überlagerung vieler dieser unabhängigen Prozesse untereinander führt zu einer ganz neuen Wahrscheinlichkeitsverteilung. Während jede einzelne Abzweigung eine gleichverteilte Wahrscheinlichkeitsverteilung aufweist (50:50), ergibt sich durch die Kombinatorik der Überlagerung vieler gleichverteilter Prozesse eine neue Wahrscheinlichkeitsverteilung, bei der die Wahrscheinlichkeit P, ein bestimmtes Ergebnis zu erlangen, sich der in der Grafik überlagerten Gaußverteilung annähert. Dies gilt übrigens auch, wenn man das Brett schief hängt, also die Wahrscheinlichkeit für links und rechts nicht genau gleich ist.

81

Das liegt an der Kombinatorik: Jede einzelne Entscheidung auf dem Weg von oben nach unten geschieht mit 50 % Wahrscheinlichkeit nach rechts oder links. Es gibt aber viel mehr mögliche Wege, die in der Mitte enden (also vertikal gesehen nahe des Startpunkts), als ganz weit weg. Viele Messprozesse werden nicht nur von einem einzigen zufälligen Prozess, sondern von ganz vielen verschiedenen beeinflusst: Verfolgt man z. B. die Bahn eines Teilchens durch den Detektor (Orts- und Impulsmessung ), so wird es mal ganz leicht nach links, mal nach rechts gestoßen, wenn es mit Atomen auf seinem Weg kollidiert – ganz wie beim Galton-Brett.

Wenn der zufällige Prozess nicht eine Überlagungerung vieler unabhängiger individueller Zufälligkeiten ist, sondern nur von einem Prozess dominiert wird, benötigt die Physik andere Verteilungen. Unter diesen lohnt sich ein Blick auf die Poissonverteilung. Diese tritt bei Zählexperimenten auf. Die links unten gezeigte Wahrscheinlichkeitsverteilung stellt dar, mit welcher Wahrscheinlichkeit P die Anzahl der beobachteten Ereignisse 0, 1, 2, 3 oder mehr ist, wenn im Mittel 0,5 Egal was die Wahrscheinlichkeitsverteilung der einzel- Ereignisse pro Durchlauf (rot) oder drei Ereignisse pro nen zufälligen Prozesse ist – überlagert man genug von Durchlauf (blau) erwartet werden. Wichtig dabei: Dieihnen, kommt eine Gaußverteilung als Ergebnis heraus. se Verteilung ist insbesondere bei kleinen erwarteten Zählraten sehr breit im Vergleich zur erwarteten ZählraPoissonverteilung te. Auch wenn man z. B. erwartet, dass pro experimenP tellem Durchlauf drei Ereignisse auftreten, kommt es Im Mittel ein Ereignis 0,6 in etwa 5 % der Wiederholungen des Experiments vor, pro 2 Durchläufe dass gar kein Ereignis auftritt. Und wenn man erwar0,4 tet, dass im Mittel nur bei jeder zweiten Wiederholung Im Mittel 3 Ereignisse pro Durchlauf überhaupt ein Ereignis auftritt, können auch zwei oder 0,2 mehr Ereignisse auftreten. Dies ist in den farbigen Flächen in der Grafik der Poissonverteilungen dargestellt. 0 Diese Eigenschaft von Wahrscheinlichkeit wird bei der 0 1 2 3 4 5 6 Berechnung der Signifikanz () sehr wichtig werden. Zahl beobachteter Ereignisse

Orts- und Impulsmessung  S. 72 Schlüsse ziehen aus Statistik  S. 148

82

3 Experimentelle Grundlagen

Messunsicherheiten Jeder macht Fehler

Das Ergebnis einer Messung wird oft in der Form

fachen Beispiel davon aus, dass es nur zwei Parteien, A und B, gibt. Stimmen in der Umfrage 400 Personen für Messwert 𝜇 ± Unsicherheit 𝜎 Partei A und 600 Personen für Partei B, so kann man angegeben. Damit wird angedeutet, dass bei einer leicht Stimmenanteile von 40 % bzw. 60 % für die GeWiederholung des Experiments nicht exakt der gleiche samtbevölkerung prognostizieren. Die statistische UnMesswert erwartet wird, sondern ein Wert, der um den sicherheit dieser Anteile ist leicht zu berechnen (siehe (unbekannten) wahren Wert 𝜇 schwankt. Etwas quan- Kasten) und wird umso kleiner, je mehr Personen man titativer: Etwa 68 % der Messwerte liegen zwischen befragt. (𝜇 − 𝜎) und (𝜇 + 𝜎). Weit schwieriger zu behandeln sind systematische Unsicherheiten. In unserem Beispiel können diese da𝜇‒𝜎 𝜇+𝜎 durch auftreten, dass die Befragten nicht repräsentativ 𝜇 ausgewählt wurden. Befragt man z. B. nur Personen in Für die Messunsicherheit wird oft der griechische ländlichen Regionen, so führt das zu einer Verzerrung Buchstabe 𝜎 verwendet. Der Wert von 68 % ist reine des Ergebnisses, wenn man es auf die GesamtbevölKonvention und ergibt sich aus den Eigenschaften der kerung hochrechnet. In dem eingangs gezeigten DiaGauß’schen Normalverteilung (siehe Kasten und Sta- gramm streuen die Werte dann nicht mehr um den tistik ), die bei Betrachtung von Messunsicherheiten wahren Wert 𝜇, sondern um einen um die unbekannte eine große Rolle spielt. Meist folgen Messergebnisse Verzerrung verschobenen Wert. Dieser systematische zumindest näherungsweise einer Gauß’schen Nor- Fehler bzw. diese Verzerrung kann nicht einfach durch malverteilung um den wahren Wert der zu messenden Befragen von weiteren Personen reduziert werden. Größe. Man muss etwas an der Methodik, hier konkret an der Auswahl der Befragten, ändern. Messunsicherheiten sind bei Messungen unvermeidbar. Umgangssprachlich wird eine Messunsicherheit Kommen wir jetzt zu einem Beispiel aus der Physik. oft auch als Fehler oder Messfehler bezeichnet. Der Wenn Sie bei der Messung der Schwingungsdauer eiBegriff ist aber unglücklich gewählt, da niemand etwas nes Pendels systematisch zu spät auf „Stopp“ drücken, falsch gemacht hat. Man unterscheidet zwischen statis- handeln Sie sich eine systematische Unsicherheit ein, tischen und systematischen Unsicherheiten. Den Un- die durch mehrmaliges Messen einer Periodendauer terschied kann man am Beispiel von Wahlumfragen gut nicht geringer wird. Abhilfe schafft hier nur eine Ändeverdeutlichen. Typischerweise werden in Deutschland rung der Methodik. In diesem einfachen Beispiel kann 1000 Wahlberechtigte befragt. Gehen wir in einem ein- das dadurch geschehen, dass man zehn Periodendau-

Statistik  S. 80

Messunsicherheiten

83

Binomialverteilung beim Münzwurf und Wahlumfragen Wenn bei N Münzwürfen k mal das Ergebnis „Kopf“ fällt, kann man die Wahrscheinlichkeit für das Ereignis „Kopf“ durch k/N und die Messunsicherheit auf dieses Verhältnis durch k

Als konkretes Beispiel für die Reduzierung des statistischen Fehlers durch Wiederholen des Experiments betrachten wir das Werfen einer Münze. Um zu Überprüfen, ob mit einer Wahrscheinlichkeit von jeweils 1/2 eine der beiden Seiten oben liegt, können Sie diese z. B. zehnmal werfen. Fällt viermal Kopf und sechsmal Zahl, ist dies sicherlich nicht ausreichend, um eine Aussage zu treffen, ob die Münze gezinkt ist. Treten jedoch bei 1000-maligem Werfen 400-mal Kopf und 600-mal Zahl auf, ist der statistische Fehler 𝜎 = 0,015 (siehe Informationskasten). Die Differenz zwischen dem Messwert von 0,4 und der Hypothese 0,5 beträgt daher 0,1 = 6,5 𝜎. Man spricht von einem 6,5𝜎-Effekt. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein solcher Effekt zufällig auftritt, liegt bei etwa 10 −10. Somit können wir praktisch ausschließen, dass bei der Münze beide Seiten mit einer Wahrscheinlichkeit von 1/2 auftreten. Messwert ± Unsicherheit 𝜎

6,5 × 𝜎

1000 Würfe 10 Würfe 0,0

0,1

0,2 0,3 0,4 Anzahl Kopf/Gesamtanzahl

0,5

Die Bestimmung von Messunsicherheiten  S. 146

0,6

(1− N

k N

)

abschätzen. Entsprechend kann bei der Befragung von N Personen, bei der k mal für die Partei A gestimmt wurde, deren Stimmenanteil mit k/N und die Unsicherheit mit obiger Formel abgeschätzt werden. Gauß’sche Normalverteilung Messergebnisse x sind oft nach einer Gauß’schen Normalverteilung

f (x ) = √

(x − µ ) 1 e− 2 𝜎 2𝜋𝜎

2

2

verteilt. In den Bereich einer Standardabweichung 𝜎 um den Mittelwert 𝜇, der dem wahren unbekannten Wert der Messgröße entspricht, fallen etwa 68 % der Messergebnisse. Gauß´sche Normalverteilung f (x)

ern misst und das Ergebnis durch zehn teilt. Genauer wird darauf im Artikel zur Bestimmung von Messunsicherheiten () eingegangen.

𝜎 =√ N

0,4

𝜇 = 2, 𝜎 = 1

0,3 0,2 0,1 0,0

–1

0

1 2 3 Messergebnis x

4

5

6

84

3 Experimentelle Grundlagen

Simulationen in der Experimentalphysik Welche Beobachtung wird wirklich vorhergesagt?

Ein Detektor () ist das Nachweisgerät, das von Physikerinnen und Physikern genutzt wird, um ein möglichst präzises „Bild“ von Teilchen in einem Ereignis zu machen. Der Bildsensor einer Kamera, etwa in einem Smartphone, ist solch ein Detektor für Lichtteilchen. Der Bildsensor wandelt Photonen, die Lichtteilchen, in elektrische Signale um. Aber woher weiß man, welches elektrische Signal welcher Photonenergie oder Photonzahl entsprach? Dazu dient die Simulation. Wer sich dafür interessiert, wie man elektrische Signale als physikalische Größen interpretiert, kann dies auf dieser Doppelseite vertiefen. Es wäre sehr wünschenswert, wenn ein Detektor einfach jedes Teilchen genau erkennen würde, ähnlich einer gedachten idealen Kamera mit sehr genauer Abbildung und eingebauter Gesichtserkennung, die jede Person genau erkennt. Ein Beispiel für die Ausgabe des Detektors wäre dann zum Beispiel: „Genau am Ort x ist ein Elektron mit Energie E und Impuls p entstanden“. Solch einen Detektor gibt es nicht. Stattdessen machen die Detektoren nicht perfekt „scharfe“ Bilder, so wie ein mit einer Kamera aufgenommenes Foto auch nicht wirklich alle Details der Realität zeigt. Und auch die Teilchenerkennung funktioniert nicht perfekt – genauso wie die Gesichtserkennung eines Smartphones nicht immer nur Gesichter als solche erkennt oder Personen verwechselt. Um herauszufinden, wie der Detektor ein mögliches Teilchen abbilden könnte, verwenden die Forschenden Simulationen der Teilchenwechselwirkung in ihren Experimenten: Die Simulation erzeugt hypothetische Ergebnisse, bei de-

Typische Detektoren an Beschleunigern  S. 124 Quantenfeldtheorie  S. 100 Wechselwirkung zwischen Teilchen und Materie  S. 64

nen die Physikerinnen und Physiker die Annahmen hinter den erzeugten Ergebnissen genau kennen. Die Erwartung des Ergebnisses ist also in der Simulation mit den zugrunde liegenden Hypothesen direkt verbunden. Simuliert man die Vorgänge im Detektor für ein Teilchen mit gegebener Energie und Impuls viele Male, geschehen in der Simulation bei jedem Durchlauf leicht andere nicht-ideale Vorgänge im Verlauf des gedachten Messprozesses. So berechnet man, wie die erwartete Wahrscheinlichkeitsverteilung der Messergebnisse aussehen wird. Der Detektor besteht aus mehreren Schichten, die jeweils unterschiedliche Eigenschaften der Teilchen messen. Im Detektormaterial findet eine Wechselwirkung statt: Der Elektromagnetismus oder die starke Kraft übertragen die Energie der Teilchen auf Teilchen im Detektormaterial. Die fundamentalen Wechselwirkungen werden durch Quantenfeldtheorien () beschrieben. Deshalb machen sie Wahrscheinlichkeitsaussagen: Die Vorhersage der Theorie ist nicht, dass immer etwas ganz Bestimmtes passiert, sondern mit welcher Wahrscheinlichkeit etwas Bestimmtes passiert und mit welcher Wahrscheinlichkeit etwas anderes eintritt. Wenn also ein Teilchen in das Detektormaterial eintritt, dann wird gewürfelt, um herauszufinden, was zufällig passiert sein könnte. Das ist nicht willkürlich – die Wahrscheinlichkeit des Eintretens von bestimmten Wechselwirkungen () kann man genau vorhersagen. Die Simulation würfelt also ein bestimmtes mögliches Ereignis im Detektor. In der Zeichnung ist das Detek-

Simulationen in der Experimentalphysik

Ein hochenergetisches Elektron tritt in dichtes Detektormaterial ein. In jedem Quadrat der Darstellung „würfelt“ die Simulation anhand der Wahrscheinlichkeit der Theorien, was in dem simulierten Ereignis mit jedem einzelnen der erzeugten Teilchen passieren soll.

85

e− e

e+



e+

γ

e− γ

e− e−

tormaterial in kleine Quadrate γ unterteilt, die Würfel im Detektor darstellen sollen. Beispielhaft tritt ein Elektron e − mit hoher Energie in das Material ein. Nun wird in jedem Quadrat gewürfelt, was passiert – z. B. kann das Elektron unter dem Einfluss der elektromagnetischen Felder nahe der Atomkerne ein hochenergetisches Photon abstrahlen, das sich wieder in ein Elektron und ein Positron e + verwandeln kann usw. Dieser Vorgang geht so lange weiter, bis die Energie des Elektrons vom Anfang auf so viele Teilchen verteilt ist, dass jedes einzelne zu wenig Energie besitzt, um neue Teilchen zu erzeugen. Daraus entsteht ein komplexes Bild, wie man an der Darstellung einer echDer Vergleich des gemessenen Energieanteils mit der Stahlenergie

e



e+

e−

Die Simulation des Energieübertrags eines hochenergetischen Elektrons an das Kalorimeter

ten Simulation (oben) erkennt. Das hochenergetische Elektron fliegt von links unten in das Detektormaterial, und es entstehen tausende neue Teilchen, die ihrerseits wieder das Detektormaterial anregen (das erzeugt ein elektrisches Signal, das im Schritt der „Digitalisierung“ auch mit simuliert wird) und wiederum neue Teilchen. Die Form dieser Energiedeposition kann im Detektor genauso gemessen werden wie die Gesamtmenge des erzeugten Signals, also z. B. der im „aktiven“ Detektormaterial angeregten Elektronen, die schlussendlich gemessen werden. Im nächsten Schritt muss überprüft werden, ob diese Simulation genau genug ist. Dazu schießt ein Teilchenbeschleuniger in Teststrahlexperimenten hochenergetische Teilchen direkt in den Detektor. Die bekannte Energie und Teilchensorte aus dem Beschleuniger kann direkt mit der Messung verglichen werden. Im links gezeigten Beispiel funktioniert das recht gut: Die Messungen (Kreuze) der sichtbaren Energie im Detektor stimmen innerhalb ihrer Unsicherheiten gut mit den Simulationen (Punkte und Dreiecke) überein.

4 Theoretische Grundlagen Die Elementarteilchenphysik basiert einerseits auf großen und kleinen komplizierten Geräten, andererseits gibt es auch ein reichhaltiges Fundament an theoretischen Konzepten. Diese Konzepte ziehen sich durch alle Bereiche der Elementarteilchenphysik und somit auch durch (fast) alle Kapitel dieses Buches. In diesem Kapitel gehen wir ausführlicher darauf ein. Die Grundlage von allen bewegten Teilchen ist die spezielle Relativitätstheorie. Hierzu stellen wir einige konkrete Beispiele aus dem Teilchenphysikalltag vor. Symmetrien spielen in der Teilchenphysik eine zentrale Rolle. Insbesondere dienen lokale Symmetrien oder Eichsymmetrien auch zur Beschreibung der Kräfte im grundlegenden Modell der Elementarteilchenphysik, dem Standardmodell. Das Noether-Theorem stellt einen faszinierenden Zusammenhang zwischen Symmetrien und Erhaltungsgrößen her. Durch letztere erhalten wir oft ein intuitives Verständnis für die Reaktionen, die in Teilchenexperimenten stattfinden. Die Quantenfeldtheorie ist schließlich die grundlegende mathematische Theorie, die, oft mithilfe von Computersimulationen, experimentelle Vorhersagen aus dem Standardmodell ermöglicht, welche dann überprüft werden können. Das ist also die essentielle Verbindung zwischen dem Modell und der beobachtbaren Welt.

88

4 Theoretische Grundlagen

Anwendungen der speziellen Relativitätstheorie Relativität im Teilchenphysikalltag

Beispiel II: Ein freies Neutron zerfällt in ein Proton, Elektron und ein Elektron-Antineutrino: n ĺ p + e − + 𝜈̄e . Energetisch ist dies möglich, da das Neutron schwerer als die Summe der Massen von Proton, Elektron und Antineutrino ist. Nach der speziellen Relativitätstheorie ist dann noch die folgende Energie übrig:

Spezielle Relativitätstheorie  S. 34 Produktion, Zerstörung und Zerfall von Teilchen  S. 50 Von Nukleonen zu Kernen  S. 210

Energie E

EBewegung = (mn − mp − me − m𝜈̄e) c 2. In diesem Artikel erläutern wir anhand einiger Beispiele die Relevanz der speziellen Relativitätstheorie () in Diese Energie, EBewegung, wird in die Bewegung des Proder Teilchenphysik. tons, des Elektrons und des Neutrinos umgesetzt. Die Beispiel I: Die Protonen im Beschleunigerstrahl am Energieverteilung des Elektrons von vielen Zerfällen LHC haben die Energie E = 6, 8 TeV. In der speziellen wird durch die schwache Wechselwirkung vorhergeRelativitätstheorie gilt für die Gesamtenergie sagt und ist in der Abbildung rechts gezeigt. Dies kann man experimentell genau so beobachten. Zerfälle kön2 m c E = 𝛾 m c2 = nen nur passieren, wenn die Masse des zerfallenden v2 √1 – _ c2 Teilchens größer ist als die Summe der Massen der Mit der bekannten Protonmasse m = 0,938 GeV/c 2 Zerfallsprodukte (Produktion und Zerfall ). erhalten wir für E = 6, 8 TeV die Geschwindigkeit v = 99,999999 % der Lichtgeschwindigkeit. Außerdem Beispiel III: Unsere Erde wird mit hochenergetischen ist der Boostfaktor sehr groß, etwa 𝛾 = 7.250. Die spe- kosmischen Strahlen bombardiert, hauptsächlich Prozielle Relativitätstheorie ist somit unmittelbar relevant, tonen und 𝛼-Teilchen (Heliumkerne, siehe Von Nukleum den Zusammenhang zwischen der Geschwin- onen zu Kernen ). Aus dem Weltall kommend treffen digkeit und der Energie der Protonen zu kennen, wie diese in etwa 30 km Höhe auf die Troposphäre. Hier man in der Gleichung oben sieht. Für die untersuch- wird die Atmosphäre so dicht, dass unmittelbar heftige ten Teilchenstöße ist die Energie ausschlaggebend. Für Stöße mit den Atomkernen der Luftmoleküle stattfindie Flugkurven der Protonen im Beschleuniger und den. Bei diesen Stößen entstehen unter anderem gelasomit für die Ansteuerung der Beschleunigerelemente dene 𝜋-Mesonen. Diese zerfallen rapide in Myonen ist aber die exakte Geschwindigkeit bzw. der Impuls p = 𝛾 m v essentiell.

mc 2 0

0

c/2 Geschwindigkeit v

Der Zusammenhang von Energie und Geschwindigkeit

c

Anwendungen der speziellen Relativitätstheorie

0,8 0,7

Ereignisse

0,6 0,5 EBewegung

0,4 0,3 0,2 0,1 0,0 0,50

0,75

1,00 1,25 1,50 Elektronenergie in MeV

1,75

2,00

89

Von der Erdoberfläche aus betrachtet, fliegt das Myon mit sehr hoher Geschwindigkeit. Wir auf der Erde sehen die Zeit des Myons um den Boostfaktor Gamma (𝛾) gedehnt. Ist 𝛾 = 50, dann ist die Lebensdauer effektiv um den Faktor 50 länger, es zerfallen 99 % innerhalb von 5 · 10 −4 Sekunden. Dies entspricht einer Strecke von 150 km. Es kommen also viele Myonen bis zur Erdoberfläche, bevor sie zerfallen, wie wir es auch beobachten.

Myonen sind für die Teilchenphysik aber auch eine Plage: Wir sehen so viele davon in unseren Experimenten, und Myon-(Anti)Neutrinos. Diese Stöße sind ähnlich dass sie ein Untergrundrauschen verursachen, wenn denen, die wir am LHC erzeugen und beobachten. wir nach neuer Physik suchen (siehe z. B. Das Rätsel der Dunklen Materie ). Deswegen werden viele sehr Wie wir im Labor messen, zerfällt das Myon mit einer empfindliche Experimente zum Schutz vor den Mysehr kurzen Halbwertszeit so, dass nach etwa 10−5 Se- onen tief unter der Erde in Bergwerken oder Tunneln kunden 99 % der Myonen zerfallen sind. Selbst wenn durchgeführt. sie mit Lichtgeschwindigkeit flögen, sollten 99 % der Myonen innerhalb von etwa 3 km zerfallen. Sie würden also nie die Erdoberfläche erreichen. Dennoch sehen wir sehr häufig kosmische Myonen unten auf der Erde, selbst mit einfachen Detektoren. So wurden sie sogar ursprünglich entdeckt! Wie kann das sein? Die Energieverteilung der Elektronen bei Neutronenzerfällen

Die Antwort liegt wieder in der speziellen Relativitätstheorie. Das Myon ist immer im eigenen Ruhesystem, mit einer inneren Uhr. Nach dieser Uhr zerfallen 99 % innerhalb von 10 −5 Sekunden. Im Ruhesystem des Myons kommt die Erde auf das Teilchen zugerast. Die von der Erde aus gesehene Flugstrecke ist somit für das Myon um den Boostfaktor Gamma (𝛾) kontrahiert. Ist 𝛾 = 50, was häufig vorkommt in diesen hochenergetischen Kollisionen, so sieht das Myon die 30 km lediglich als 600 m. Eine Strecke, die es oft überwindet, bevor es zerfällt.

Das Rätsel der Dunklen Materie  S. 286

Myonen entstehen durch die kosmische Höhenstrahlung in der oberen Erdatmosphäre und können nur aufgrund der speziellen Relativitätstheorie zur Erdoberfläche gelangen, bevor sie zerfallen.

90

4 Theoretische Grundlagen

Fermionen und Bosonen Die Basis nicht nur der Chemie

Die Chemie der Atome ist sehr vielfältig, da sich verschiedene Stoffe sehr unterschiedlich verhalten. Das kommt vor allem daher, dass die Elektronen in der Atomhülle die Energieniveaus (), die gruppenweise zu Schalen zusammengefasst werden, nacheinander auffüllen – keine zwei Elektronen dürfen den gleichen Zustand einnehmen. Dies ist unter dem Namen PauliPrinzip bekannt und führt dazu, dass die Elektronenhüllen der Atome mit zunehmender Elektronenanzahl immer komplexer werden. Dadurch erhalten die Atome und daraus gebildeten Moleküle ihre speziellen Eigenschaften. Im Gegensatz dazu befinden sich die vielen Photonen, die von einem Laser ausgesandt werden, in genau dem gleichen Zustand – das gerade macht die besonderen Eigenschaften des Lichts des Lasers aus, wie seine sehr genau bestimmte Frequenz und die hohe Energiedichte.

wenn sich die beiden nahekommen. Um sie dann nämlich auseinanderhalten zu können, müssen wir Ort und Geschwindigkeit beider Elektronen sehr genau kennen. Nach der Unschärferelation ist das jedoch nicht möglich. Also weiß man bei den Elektronen lediglich, dass eines bei A, das andere bei B gestartet ist, sowie dass ein Elektron bei C und ein anderes bei D angekommen ist. Man weiß aber eben nicht, welches welches ist. Man kann die beiden Elektronen nicht unterscheiden und spricht daher von der Ununterscheidbarkeit der Elektronen.

Wenn man aber den Weg (1), bei dem das eine Elektron von A nach C und das andere von B nach D läuft, nicht von Weg (2) unterscheiden kann, bei dem das eine von A nach D läuft und das andere von B nach C, dann müssen die beiden Fälle mit exakt der gleichen Wahrscheinlichkeit auftreten. Im Artikel zur Aber warum ist das so? Warum verhalten sich Elek- Quantenmechanik () haben wir gesehen, dass Wahrtronen und Photonen so unterschiedlich? Dahinter scheinlichkeiten aus Quadraten von Wellenfunktionen steckt das quantenmechanische Prinzip der Ununter- berechnet werden. Nun nennen wir die Wellenfunktischeidbarkeit, das letztlich auch auf das Pauli-Prinzip on zu Weg (1) f(C, D) und die zu Weg (2) f(D, C) (da führt. Um dieses Prinzip zu verstehen, möchten wir der Unterschied der beiden Fälle genau darin besteht, zu einem Gedankenexperiment einladen. Betrachten Sie hierzu zwei gleiche Vergleich klassischer mit quantenmechanischer Streuung ununterscheidbarer TeilBälle, die sich von A und B nach C und chen e1− oder e2− e1− D bewegen. Unsere Erfahrung sagt uns, A C A C dass es zu jedem Zeitpunkt eindeutig ) 2 ( Weg klar ist, welcher Ball wo gestartet und wo ? e2− e1− oder e2− angekommen ist. Aber genau das gilt bei Weg (1) B D D quantenmechanischen Systemen wie B quantenmechanisch klassisch z. B. zwei Elektronen gerade nicht mehr,

Energieniveaus: Zufall und Vorhersage  S. 42 Grundkonzepte der Quantenmechanik  S. 40

Fermionen und Bosonen

dass die beiden Elektronen am Zielort vertauscht werden). Berücksichtigt man zusätzlich noch, dass zwei Mal den Endzustand zu vertauschen wieder exakt die Ausgangswellenfunktion geben muss, dann muss also f(C, D)2 = f(D, C)2 sein. Für die Wellenfunktion f gibt es somit nur zwei Möglichkeiten: Entweder bleibt sie gleich, wenn die beiden Elektronen am Ziel vertauscht werden, f(C, D) = f(D, C), oder es gilt f (C, D) = −f(D, C), da das Vorzeichen beim Quadrieren verloren geht. Wie wir sehen werden, verhalten sich Systeme, bei denen das Minus-Vorzeichen auftritt sehr verschieden zu denen, bei denen es nicht auftritt. In der relativistischen Quantenfeldtheorie kann man zeigen, dass Wellenfunktionen für zwei ununterscheidbare Teilchen mit halbzahligem Spin (ħ/2, 3 ħ/2, 5 ħ/2, ...) ihr Vorzeichen ändern müssen, wenn man die beiden austauscht. Im Gegensatz dazu bleibt die Wellenfunktion zweier Teilchen mit ganzzahligem Spin (0, ħ, 2 ħ, ...) in diesem Falle gleich. Diese Regel lässt sich auch auf Systeme mit mehr als zwei Teilchen übertragen. Die beiden Teilchentypen haben eigene Namen bekommen: Teilchen mit halbzahligen Spins heißen Fermionen und die mit ganzzahligem Spin Bosonen. Die Ununterscheidbarkeit zweier elementarer Teilchen und die daraus resultierenden Konsequenzen gelten natürlich nicht nur für Wellenfunktionen, die Wege beschreiben, sondern auch z. B. für die Wellenfunktion, die zwei Elektronen in einer Atomhülle beschreibt. Hier trägt jedes Energienievau eine eigene Kennung Q (die sogenannten Quantenzahlen). Da Elektronen Fermionen sind (Elementarteilchen ), muss also die Wellenfunktion zweier Elektronen, die sich in den Energieniveaus mit den Quanten-

Die Elementarteilchen  S. 10

91

zahlen Q1 und Q2 befinden, ihr Vorzeichen ändern, wenn die beiden vertauscht werden. Es muss also f (Q1, Q2) = −f (Q2, Q1) gelten. Das heißt aber insbesondere, dass die beiden nicht im gleichen Energieniveau sitzen dürfen, denn f(Q1, Q1) = −f (Q1, Q1) wird nur durch f (Q1, Q1) = 0 gelöst. Da haben wir es: das Pauli-Prinzip. Das Verhalten würde sich natürlich verändern, wenn Elektronen Bosonen wären. Stark vereinfacht ausgedrückt und unter Vernachlässigung der gegenseitigen Abstoßung der Elektronen, wäre dann in jedem Atom sogar der Zustand bevorzugt, in dem alle Elektronen im Grundzustand sitzen. Die Chemie wäre dramatisch anders – und ärmer, denn nur dank des Pauli-Prinzips verhalten sich verschiedene Atome sehr unterschiedlich. Es ist die Ursache dafür, dass Elemente im Periodensystem danach klassifiziert werden können, wie sehr ihre äußere Schale gefüllt ist. In einem Laser wird hingegen ausgenutzt, dass Bosonen, in dem Falle Photonen, besonders gerne im gleichen Zustand sind, also in dem Falle genau die gleiche Energie haben und sogar gleich schwingen. Vergleich des Atomaufbaus in der Natur (Elektronen als Fermionen, links) mit einer Welt, in der Elektronen Bosonen wären (rechts)

92

4 Theoretische Grundlagen

Äußere und innere Symmetrien Zur Schau gestellt oder versteckt?

Im Artikel zu Elementarteilchen () hatten wir gesehen, dass ein Elementarteilchen zunächst über seine Masse und seinen Spin () definiert ist. Masse, Spin und Impuls, zusammen mit den drei Koordinaten im Raum x, y, z sowie der Zeitkoordinate t sind die äußeren Eigenschaften eines Teilchens. Sie stehen direkt im Bezug zur Raum-Zeit. Der Spin, zur Erinnerung, ist ein Eigendrehimpuls der Teilchen, also Teil des Gesamtdrehimpulses. Zu der Definition eines Teilchens kommen auch noch die Ladungen bezüglich der drei Eichkräfte in der Natur hinzu. Das Elektron hat beispielsweise eine elektrische Ladung und eine Ladung bezüglich der schwachen Kraft, aber nicht der starken Kraft. Diese Ladungen bezüglich der Eichkräfte sind die inneren Eigenschaften des Teilchens, da sie unabhängig von Raum und Zeit existieren. Das Teilchen trägt diese inneren Eigenschaften bei sich wie einen Reisepass in der Tasche. Nur die Eichbosonen der elektromagnetischen, schwachen und starken Kraft können die Ladungen jeweils „sehen“ bzw. damit wechselwirken. Die zugehörigen Symmetrien sind die Eichsymmetrien ().

es, wenn man sich vorstellt, die Kugel schwebe im leeren Universum. Dann gibt es keinen Bezugspunkt und die Situation ändert sich nicht, wenn man die Kugel in den x-, y- oder z-Koordinaten des Universums verschiebt. Das nennen wir Translationssymmetrie, die ebenfalls eine äußere Symmetrie ist. Falls das System unveränderlich in der Zeit ist, kommt als äußere Koordinate noch die Zeit t hinzu. Damit hätten wir zunächst sieben unabhängige äußere Symmetrien (drei Drehungen, drei Translationen, Zeit). Aufgrund der speziellen Relativitätstheorie kann man jedes System auch in einem Koordinatensystem anschauen, welches sich mit gleichmäßiger Geschwindigkeit vĺ bewegt, und vĺ hat drei unabhängige Richtungen. Es gibt also insgesamt zehn unabhängige äußere Symmetrien in der Natur.

In der Quantenfeldtheorie (QFT, ) werden einzelne Teilchen durch Funktionen 𝛹(x, y, z; t) über den ganzen Raum und die ganze Zeit beschrieben. Dies sind die Wellenfunktionen der Quantentheorie (). Das ist so ähnlich, als würde man für jeden Punkt im Wir wollen nun genauer anschauen, was äußere und Becken eines Schwimminnere Symmetrien sind. Als Beispiel betrachten wir bads die Wasserhöhe aufzuerst eine perfekte Kugel. Sie ist unter beliebigen Dreschreiben, dort allerdings hungen um die drei möglichen Drehachsen im Raum nur in den zwei Dimensisymmetrisch. Wenn man das Zimmer mit der Kugel onen der Wasseroberfläverlässt und wieder hineinkommt, weiß man nicht, ob Eine Kugel ist symmetrisch bedie Kugel gedreht wurde oder nicht. Wir sagen: Es gibt züglich Drehungen in allen drei Raumrichtungen. drei äußere (Dreh-)Symmetrien. Etwas abstrakter wird

Was ist eigentlich ein Elementarteilchen?  S. 16 Spin  S. 44 Eichsymmetrien  S. 94 Quantenfeldtheorie  S. 100 Grundkonzepte der Quantenmechanik  S. 40

Äußere und innere Symmetrien

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beschreiben, z. B. 𝛹e1 𝛹e2 A𝛾, unter Transformationen nicht verändern. Handelt es sich dabei um Transformationen in Raum und Zeit, also Verschiebungen, Drehungen oder eine Transformation in ein bewegtes Koordinatensystem, so liegen äußere Symmetrien vor. Das ist in der QED der Fall.

Ausbreitung einer Wasserwelle

che: H(x, y; t). Wird das Wasser gestört, so breiten sich Wellen aus und die Höhe an den jeweiligen Punkten variiert mit der Zeit. Die Wellenfunktionen 𝛹(x, y, z; t) ändern sich ebenfalls in Raum und Zeit. In der QFT enthalten sie zusätzlich die Information über den Spin und über die inneren Ladungen. Wechselwirkungen zwischen Teilchen werden mathematisch in der QFT als Produkte von Wellenfunktionen beschrieben. In der Quantenelektrodynamik (QED ), der Quantenfeldtheorie des Elektromagnetismus, kann z. B. ein Elektron (e −) ein Photon (𝛾 ) abstrahlen, wie in dem Feynman-Graph () in der Abbildung rechts gezeigt. An dem Abstrahlungspunkt kommen drei Teilchen bzw. Funktionen zusammen: das einfallende Elektron, 𝛹e1, das ausgehende Elektron, 𝛹e2, und das abgestrahlte Photon, A𝛾. Dies wird mathematisch als Produkt der drei repräsentiert: 𝛹e1 𝛹e2 A𝛾. Wechselwirkungen in der Quantenfeldtheorie sind symmetrisch, wenn sich die Produkte der Wellenfunktionen von den Feldern, die die Wechselwirkung

QED: Elektromagnetismus  S. 164 Feynman-Diagramme  S. 48 Supersymmetrie  S. 260

Die Wellenfunktionen der QFT haben weitere innere mathematische Eigenschaften, sogenannte Phasen, ähnlich den Phasen beim Drehstrom in der Elektrizität. Diese Phasen in der QFT sind äußerlich nicht beobachtbar. Im Falle der elektromagnetischen Kraft ist dies eine Phase pro Feld, bei den anderen Kräften sind es jeweils mehrere Phasen. Es gibt abstrakte Transformationen im mathematischen Raum dieser Phasen. Wenn die Wechselwirkung sich unter diesen Transformationen nicht ändert, so ist sie invariant bzw. symmetrisch. Das entspricht dann gerade einer inneren Symmetrie. Jede Eichsymmetrie ist invariant unter diesen Phasentransformationen. Im Standardmodell sind die Eichsymmetrien innere Symmetrien. Auch Baryonen- und Leptonenzahl, hier nicht diskutiert, sind innere Symmetrien. Die obigen zehn äußeren Transformationen sind die äußeren Symmetrien des Standardmodells. Die hypothetische Supersymmetrie, eine Transformation zwischen den Spins, wäre eine weitere äußere Symmetrie. Wie im Artikel e− e− zur Supersymmetrie() besprochen werden wird, ist es die letztmögliche äußere Symmetrie.

Ein Elektron strahlt ein Photon ab.

Photon 𝛾

94

4 Theoretische Grundlagen

Eichsymmetrien

Versteckte Symmetrien als Ursprung der Kräfte sich durch die Funktionen ys/r = As/r sin (𝜋(x − Δs/r)) (ys: schwarz, yr: rot) beschreiben lassen. Jede Welle ist durch eine Amplitude (maximale Höhe der Welle, hier As = 1; Ar = 1), eine Wellenlänge (Abstand zwischen den Wellenbergen, hier für beide Wellen 2), sowie eine Phase Δs/r charakterisiert. Die Phase der schwarzen Kurve ist null, da sie am Ursprung (x = 0) durch null geht. Die Phase der roten Kurve Δr = Δ ≈ 0, 32 bestimmt, um wie viel die rote Kurve in x-Richtung verschoben ist. Eine globale Phasentransformation der Welle verschiebt die komplette Welle um ein Stück, wie in der Abbildung, bleibt aber in der Form gleich. AmpBei einer globalen Transformation wird das komplette litude und Wellenlänge sind unverändert. Objekt gleich transformiert, so wie in der Abbildung unten links der Kreis unverändert nach rechts verscho- Eine lokale Phasentransformation der Welle verschiebt ben wird. Bei einer lokalen Transformation kann jeder die Welle an jedem Punkt anders, Δ hängt von x ab. SoPunkt des Kreises anders verschoben werden (unten mit kann die Welle verformt werden, wie in der Abbilrechts). Dies führt zu einer Verschiebung und einer dung rechts gezeigt. Jetzt kommt der wichtige Schritt: Verformung des Kreises.1 In der Quantenelektrodynamik (QED ) postulieren wir, dass das System unter lokalen PhasentransforIn der Quantenmechanik () werden Elektronen durch mationen der Elektron-Wellenfunktion 𝛹e(x) unveränWellenfunktionen 𝛹e(x) beschrieben. In der Abbildung dert bleiben soll. Dieses zunächst seltsame Postulat hat links auf der rechten Seite sind zwei Wellen gezeigt, die weitreichende Konsequenzen. Es erlaubt uns, die ge2

2

1

1

1

1

0

0

0

0

y

2

y

2

y

y

Eine Symmetrietransformation ist eine Transformation, die ein System unverändert lässt (). Bisher haben wir nur globale Symmetrien kennengelernt. Dabei wird das System gleichförmig als Ganzes transformiert. Das sind die Standardsymmetrien, wie Spiegelung oder Drehung des ganzen Körpers. Es gibt aber noch eine sehr wichtige andere Klasse von Symmetrietransformationen: die lokalen Symmetrien, auch Eichsymmetrien genannt. Diese sind allgemeiner und führen direkt auf die Kräfte des Standardmodells. Wie das funktioniert, wird in diesem Artikel beschrieben.

−1

−1

−1

−1

−2

−2

−2

−2

−2 −1

0 x

1

2

−2 −1

Globale Transformation ...

0 x

1

2

−2 −1

0 1 2 −2 −1 0 x x ... und lokale Transformation eines Kreises

1

2

1 Bei der globalen Transformation wird jeder Punkt des Kreises: (x, y) ĺ (x+3, y) verschoben. Bei der lokalen Transformation: (x, y) ĺ (x+y+3, y), abhängig von der Ortskoordinate y des Kreises.

Symmetrien  S. 56 Grundkonzepte der Quantenmechanik  S. 40 QED: Elektromagnetismus  S. 164

Eichsymmetrien

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Globale (links) und lokale (rechts) Transformation einer Welle

keit unter lokalen Phasentransformationen, erweitert samte QED und letztlich das komplette Standardmo- um notwendige Eichtransformationen des Photonfeldell herzuleiten. Wie das funktioniert, erklären wir jetzt. des A𝛾(x), und wir erhalten automatisch die komplette QED, welche alle Wechselwirkungen von Photonen Die Verformung einer Wellenfunktion kostet Energie. (elektromagnetische Strahlung) mit Materie (Atome, Damit das System unverändert bleibt, muss diese kom- Elektronen) beschreibt. Fantastisch! pensiert werden. Dazu müssen wir ein weiteres Feld A𝛾(x) einführen. Die Phasentransformation verhält In der QED gibt es nur eine solche Phase und deswesich so, dass das kompensierende Feld Spin 1 haben gen nur ein Eichboson, das Photon. Die zugehörige muss. Damit das Feld A𝛾(x) die Phasendeformationen Symmetrie ist eindimensional und wird mit U(1)EM von 𝛹e(x) kompensieren kann, muss es außerdem mit bezeichnet. Bei der schwachen Wechselwirkung sind Elektronen wechselwirken. Wir identifizieren das Spin- es drei Phasen und somit drei Eichbosonen W ±, W 0 1-Feld A𝛾(x) mit dem Photonfeld der QED. Die erhal- (Spontane Symmetriebrechung ). Die Symmetrie tenen resultierenden Wechselwirkungen sind genau wird mit SU(2)L bezeichnet. Bei der starken Wechseldie der QED, so dass dies genau passt! wirkung mit der Quantenchromodynamik (QCD ) sind es acht Phasen und somit acht Gluonen, und die Schließlich, um die Unveränderlichkeit der gesamten Symmetrie wird mit SU(3)C bezeichnet. InteressanterTheorie unter lokalen Phasentransformationen zu ga- weise ist die Kopplung der Eichfelder bei diesen hörantieren, müssen auch die A𝛾(x) auf eine bestimmte heren Symmetrien, SU(2)L, SU(3)C, notwendigerweise Weise transformieren. Diese Transformationen der universell. Das W-Boson koppelt z. B. gleich stark an A𝛾(x) heißen Eichtransformationen. Diese Eichtrans- das Elektron und das Myon, und das Gluon koppelt formationen lassen die elektrischen und magnetischen an alle Quarks mit der gleichen Stärke. Das liegt daran, ĺ ĺ Felder, E und B , unverändert. Insgesamt haben wir so dass die Phasentransformationen der W-Felder bzw. die QED konstruiert! Ausgehend von einem einfachen der Gluonen nur einmal festgelegt werden können. ExSymmetrieprinzip: Wir verlangen die Unveränderlich- perimentell ist dies mit hoher Genauigkeit bestätigt.

Spontane Symmetriebrechung im Standardmodell  S. 172 Quantenchromodynamik  S. 190

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4 Theoretische Grundlagen

Das Noether-Theorem

Symmetrien bedingen Erhaltungsgrößen Das Noether-Theorem ist eine Aussage aus der Mathematik mit tiefgreifenden Auswirkungen für die Physik. Es wurde 1915 von der deutschen Mathematikerin Emmy Noether bewiesen. Es besagt: Wenn ein System eine kontinuierliche Symmetrie besitzt, dann gibt es zugehörige Größen, die sich zeitlich nicht ändern: die Erhaltungsgrößen. Die Erhaltung der Energie, des Impulses, der elektrischen Ladung oder der Baryonenund Leptonenzahl sind sehr wichtige Konzepte in der Teilchenphysik.

erhöhten Wassers. Wenn man später das Wasser aus dem erhöhten Tank durch einen Schlauch heraus und zum Boden fließen lässt, wird die potentielle Energie in Bewegungsenergie des fließenden Wassers umgewandelt, Ekin = 1/2 mv 2, wobei v die GeschwinDie Unveränderlichkeit eines Systems unter einer digkeit des Wassers am Drehung ist eine kontinuierliche Symmetrie, da der Boden ist. Damit kann Ein Wasserturm speichert Energie in Form von potentieller Drehwinkel kontinuierlich verändert werden kann. man z. B. eine Turbine Energie des Wassers. Im Gegensatz dazu ist eine Spiegelung eine diskrete betreiben und Strom geSymmetrie. Es wird entweder alles komplett gespiegelt winnen. Ohne Reibungsverluste erhält man bei einem oder gar nichts, es gibt keinen kontinuierlich sich ver- 100 % effizienten System genau soviel Energie zurück, ändernden Parameter. Das Noether-Theorem bezieht wie hineingesteckt wurde. Die Energie ist erhalten. sich nicht auf diskrete Symmetrien, wie die Parität (P), Aber warum? die Ladungskonjugation (C) oder die Zeitumkehr (T), siehe dazu die Diskussion im Artikel zur P- und CP- Das Noether-Theorem gibt eine einfache Antwort. Verletzung (). Unser System ist zeitlich unveränderlich, da die Erdbeschleunigung g sich zeitlich nicht ändert. Am Anfang, Als Beispiel zum Noether-Theorem betrachten wir wenn wir das Wasser hochpumpen, ist g = 9,81 m/s2, einen Wassertank in 10 m Höhe, verbunden mit einer und später, wenn wir es abfließen lassen, auch. Die verPumpe, wie in der Abbildung. Wenn man 100 Liter strichene Zeit t ist ein kontinuierlicher Parameter und Wasser in den Tank hochpumpt, so muss man Arbeit somit haben wir eine kontinuierliche Symmetrie. Die verrichten, nämlich W = m g h. Hier ist m = 100 kg Erhaltungsgröße laut Noether-Theorem ist die Energie. die Masse des Wassers, g = 9,81 m/s2 die Erdbe- Das ist ein großartiger Zusammenhang! Wenn die Graschleunigung der Gravitation und h die Höhe des vitation nachts schwächer wäre als tagsüber, so könnte Wassertanks über dem Boden. Diese verrichtete Arbeit man das Wasser abends mit einem Energieaufwand W = m g h ist dann genau die potentielle Energie des EN hochpumpen und tagsüber wieder herausfließen

Diskrete Symmetrien: P- und CP-Verletzung  S. 178

Das Noether-Theorem

Der Wagen mit Pendel ist invariant gegenüber Verschiebungen – der Gesamtimpuls bleibt erhalten.

97

und wieder langsamer, wenn sie die Arme von sich streckt. Der Gesamtdrehimpuls ist dabei erhalten.

In den Beispielen haben wir eine geometrische Invarianz benutzt, um eine Eigenschaft des ganzen Systems herzuleiten: die entsprechenden Erhaltungsgrößen. Dies ist eine Aussage von fantastischer Allgemeinheit. In der Teilchenphysik sind Energie, Impuls und Drehimpuls bei den Kollisionen am LHC erhalten, weil das System entsprechend invariant bezüglich der zugehörigen Symmetrien ist. Es ist z. B. egal, ob die Protonen Emmy Noethers Theorem sagt uns, dass dieser Zu- jetzt oder zwei Nanosekunden später zusammenstosammenhang zwischen der Unveränderlichkeit des ßen (Zeitinvarianz). Systems und den Erhaltungsgrößen ganz allgemein gilt. Ist ein System z. B. räumlich verschiebungsinva- Wie im Artikel zu äußeren und inneren Symmetrien () riant, so ist der zugehörige Impuls des Gesamtsystems diskutiert, gibt es in der Quantenfeldtheorie zusätzlich erhalten. Ein Beispiel ist ein Pendel auf einem Wagen zu den genannten geometrischen Transformationen auf einem flachen Tisch, wie in der Abbildung. Das auch innere Symmetrien. Die Quantenelektrodynamik System aus Wagen und Pendel ist zusammen verschie- ist invariant unter sogenannten lokalen Veränderungen bungsinvariant in Fahrtrichtung des Wagens. Es ist egal, der Phase der Wellenfunktion. Diese Veränderungen wo auf dem langen Tisch der Wagen steht. Somit ist sind kontinuierlich. Somit muss es laut dem Noetherder Gesamtimpuls in Fahrtrichtung erhalten. Natür- Theorem eine Erhaltungsgröße geben. Das ist genau lich nur unter Vernachlässigung der Reibung. Wenn die elektrische Ladung. Bei den Eichdas Pendel hin- und herschwingt, so wackelt der Wasymmetrien () hatten wir gesehen, gen entsprechend dagegen, so dass der wie aus der Forderung der lokaImpuls erhalten ist. len Phaseninvarianz sofort die Struktur der QuantenelektroAnalog gilt: Wenn das dynamik folgte. Nun sehen wir, Gesamtsystem unverändass wir dabei auch automatisch derlich unter Drehungen um die Ladungserhaltung bekomeine Achse ist, so ist der entspremen. chende Drehimpuls erhalten. Dies nutzt eine Eiskunstläuferin bei einer Pirouette. Sie dreht sich schneller, Beim Schlittschuhfahren wird die Drehsymmetrie und die daraus folgende wenn sie die Arme einzieht,

lassen (ET), wobei man ET > EN zurückgewinnt. Das System wäre zeitlich nicht mehr unveränderlich und die Energie nicht mehr erhalten.

Drehimpulserhaltung ausgenutzt.

Äußere und innere Symmetrien  S. 92 Eichsymmetrien  S. 94

98

4 Theoretische Grundlagen

Feynman-Diagramme II Eine Bastelanleitung

Hier geben wir eine einfache Bastelanleitung, wie man Feynman-Diagramme () aus den Einzelteilen der Theorie zusammensetzt. Wir betrachten die Quantenelektrodynamik mit nur Elektronen und Photonen. Es gibt drei verschiedene Bauteile, wie in der ersten Abbildung unten gezeigt: erstens eine Elektronlinie mit einem Pfeil; zweitens eine wellige Photonlinie. Beide Linien sind Propagatoren. Im Teilbild darunter haben wir als drittes Element einen Vertex ergänzt (roter Verbindungspunkt), wo ein Photon an eine Elektronlinie koppelt. Diese Elemente werden zu Diagrammen zusammengefügt, allerdings nur über Vertices. Dabei kann jedes Element mehrmals vorkommen, und es muss mindestens einen Vertex geben. In den Diagrammen läuft die Zeit von links nach rechts. Für Teilchen (Elektronen) zeigt der Pfeil in Zeitrichtung, für Antiteilchen (Positronen) gegen die Zeitrichtung.

e−

e−

e+

e+

Photon 𝛾 e−

Photon 𝛾 e−

Streuung von Elektronen aneinander

e+

e+

Um 180° gedreht ergibt sich die Streuung von Positronen.

Photonlinien zu einem Photonpropagator zusammenkleben (oben). Wir nehmen also einen Vertex aus der ersten Abbildung, sowie einen zweiten, den wir auf den Kopf drehen. Die zwei welligen Linien fügen wir zu einer zusammen. Wir können die Figur komplett um 180° drehen und erhalten so ein neues Diagramm für die Positron-Positron-Streuung (oben rechts). Nun zeigt bei allen Linien der Pfeil von rechts nach links, gegen die Zeitrichtung und markiert damit ein Positron.

Als nächstes Diagramm fügen wir in der zweiten Abbildung zwei Vertices zusammen, indem wir die welligen Jetzt kleben wir in der unteren Abbildung zwei Vertices über eine Fermionlinie zusammen. Hierbei ist es Elektron-Propagator Photon-Propagator wichtig, dass die Pfeilrichtung über alle Fermionlinien durchgehend ist. Das Diagramm ergibt nun die Annie−

e−

e−

Vertex

Die Bauelemente für ein Feynman-Diagramm

Feynman-Diagramme  S. 48

e+

𝛾

e

e+ Photon 𝛾

𝛾

e 𝛾

𝛾

e−

Links: Elektron und Positron vernichten sich (Annihilation). Rechts: Zwei Photonen erzeugen ein Elektron-Positron-Paar (Paarerzeugung)..

Feynman-Diagramme II

99

𝛾

e−

𝛾

e−

e−

e−

𝛾 e−

e−

e−

e−

Zwei Elektronen streuen aneinander. Nach der Streuung strahlt eines der Elektronen ein Photon ab.

𝛾 Derselbe Vorgang wie im linken Diagramm, allerdings gibt hier das untere Elektron das Photon ab. Es gibt noch zwei weitere Möglichkeiten, den Endzustand (Elektron, Elektron, Photon) zu erreichen, die hier nicht dargestellt sind.

hilation von Elektron und Positron zu zwei Photonen (links), oder, um 180° gedreht, die Erzeugung eines men und erhalten das letzte Diagramm. Jetzt haben wir Elektron-Positron-Paars aus zwei Photonen (rechts), eine geschlossene Linie von Fermionen erhalten. Diese die zusammen genügend Energie, mindestens zweimal Fermionen fliegen nie frei weg, sondern werden nur im die Ruheenergie des Elektrons, haben müssen. Prozess erzeugt und wieder vernichtet, man nennt sie auch virtuell. Der physikalische Prozess ist die StreuAls nächstes kleben wir in der Abbildung oben links ung von zwei Photonen aneinander. Ein Diagramm mit drei Vertices zusammen, einmal über die Photonlinie solch einer geschlossenen Linie nennt man auch Einund einmal über eine Elektronlinie. Es streuen zwei Schleifen-Diagramm (Schleifen ). Elektronen aneinander und am Schluss strahlt eines der Elektronen noch ein Photon ab. Hier gibt es noch Dies ist ein reines Quantenphänomen; in der klasdrei weitere Diagramme, die zum gleichen Endzustand sischen Elektrodynamik streuen elektromagnetische führen, denn an jeder Elektronlinie kann das Photon Wellen nicht aneinander. In der Quantenfeldtheorie abgestrahlt werden. Im Bild oben rechts ist ein weite- können jedoch neue Prozesse über solche Ein-Schleires solches Diagramm gezeigt. Alle diese Diagramme fen-Diagramme ablaufen. müssen zu einer Gesamtamplitude addiert werden, bee vor man durch Quadrieren die Wahrscheinlichkeit der 𝛾 𝛾 Reaktion berechnen kann. e

e

Als Letztes kombinieren wir in der Abbildung rechts unten vier Vertices, aber auf eine besondere Art. Wir nehmen zweimal das gesamte Diagramm für 𝛾𝛾 ĺ e +e − von der linken Seite, rotieren das eine um 180°, kleben sie über zwei der Fermionlinien zusam-

Schleifen  S. 102

𝛾

e

𝛾

Streuung von Photonen aneinander. Dabei können virtuelle Teilchen entstehen, im Diagramm als geschlossene Elektronenlinie dargestellt (Schleife).

100

4 Theoretische Grundlagen

Quantenfeldtheorie

Erzeugung und Vernichtung von Teilchen Die Quantenfeldtheorie (QFT) ist eine Erweiterung beschleunigte Ladungen erzeugt werden, sich im der relativistischen Quantenmechanik (). Hier kom- Raum ausbreiten und sich dabei ineinander umwanmen die Begriffe der Feldtheorie und der Quanten deln (Beschleunigung und Strahlung ). Sie können zusammen. Das schauen wir uns in diesem Artikel auch durch elektrische Ladungen, z. B. in einer Angenauer an. tenne, absorbiert werden und so wieder verschwinden. Hierbei kann eine beliebig kleine Menge von Energie In der klassischen Mechanik ist das Elektron ein Punkt- in Strahlung umgesetzt oder auch vernichtet werden. teilchen, mit bestimmten Raumkoordinaten x, y, z und Interessanterweise ist schon der klassische Elektromagder Zeitkoordinate t. Außerdem hat ein Elektron zu netismus, wie Einstein früh bemerkte, eine Theorie im jedem Zeitpunkt eine bestimmte Geschwindigkeit vĺ. Einklang mit der speziellen Relativitätstheorie. Es stellt Diese Geschwindigkeit kann beliebig klein oder groß sich heraus, dass eine quantisierte Feldtheorie notwensein. In der Quantenmechanik wird ein Elektron digerweise relativistisch ist, siehe auch den Artikel zur durch eine Wellenfunktion 𝛹(x, y, z; t) beschrieben. Anwendung der speziellen Relativitätstheorie (). Das Quadrat der Wellenfunktion |𝛹(x, y, z; t)|2 gibt die Wahrscheinlichkeit an, das Elektron zu einem be- In der Quantenfeldtheorie des Elektromagnetismus, stimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort vorzu- auch Quantenelektrodynamik (QED) genannt, wird ĺ ĺ finden. Aber das Elektron ist auf jeden Fall da, d. h. zu die Physik des Elektrons und die der Felder E und B in jedem Zeitpunkt hält es sich irgendwo im Raum auf. einer Quantentheorie zusammengebracht. Die QuanDas Elektron verschwindet nie, und es enttisierung des elektromagnetischen Feldes stehen auch keine neuen Elektronen mit führt dazu, dass bei einer bestimmten neuen Wellenfunktionen. Die QFT Frequenz f der elektromagnetischen Quantenfeldtheorie geht über die Quantenmechanik hinWelle das Feld nur in festen Energieaus und erlaubt die Erzeugung und paketen, den Quanten, der Größe Vernichtung von Teilchen. E = h f vorkommt. Hier ist h die Planck’sche Konstante. Diese Relativistische Feldtheorie Ein Beispiel für eine Feldtheorie Lichtquanten, auch Photonen Quantenmechanik in der klassischen Physik ist der genannt, werden von beschleuElektromagnetismus. Hier gibt nigten Ladungen erzeugt, könĺ es elektrische, E (x, y, z; t), und nen aber ebenso von Elektronen ĺ Teilchen werden erzeugt magnetische Felder, B (x, y, z; t), absorbiert werden und verschwinund vernichtet als Funktion der Koordinaten und den dann komplett, so wie vorher die ĺ ĺ der Zeit. Diese Felder können durch klassischen E - und B -Felder. Das ein-

Grundkonzepte der Quantenmechanik  S. 40 Beschleunigung und Strahlung  S. 38 Anwendungen der speziellen Relativitätstheorie  S. 88

Quantenfeldtheorie

e−

101

𝛾 e

e+

e+

𝛾 e

𝛾

𝛾

e−

nen entstehen. Im Feynman-Diagramm geht die Zeit von links nach rechts, d. h. links ist der Anfangszustand, rechts der Endzustand. Im rechten Feynman-Diagramm zeigen wir den umgekehrten Prozess, die Erzeugung eines e + e −-Paares.

Die Quantenchromodynamik (QCD ) ist die Quantenfeldtheorie der Quarks, Antiquarks und Gluonen. Hierbei sind die Gluonen die Quanten fachste Beispiel ist das Licht in einem Zimmer: Wird des Farbfeldes der starken Wechselwirkung, die erzeugt es angeschaltet, erzeugt die Lichtquelle kontinuierlich und vernichtet werden können. Zwei Gluonen können Photonen, die durch den Raum fliegen und von den sich vernichten und ein Quark und ein Antiquark erWänden und Gegenständen absorbiert werden. Wird zeugen. Die Quarks koppeln wegen ihrer elektrischen es ausgeschaltet, werden keine neuen Photonen er- Ladung auch an Photonen, wie oben die Elektronen zeugt und alle vorher erzeugten Lichtteilchen werden und Positronen, und können so auch erzeugt und verabsorbiert und verschwinden; es wird dunkel. nichtet werden. In der Quantenfeldtheorie ist es möglich, dass sich Teilchenpaare vernichten (links) und erzeugen (rechts).

In der QED wird die Wellenfunktion des Elektrons auch zu einem quantisierten Feld. Somit muss das Elektron Teil einer relativistischen Theorie sein. Wie wir im Artikel zur Antimaterie () gesehen haben, muss es dann auch das Positron geben, das Antiteilchen des Elektrons. Die Quanten dieses einen Feldes sind die Elektronen und die Positronen. Diese Quanten können wie das Photon erzeugt und vernichtet werden. Dies bedeutet, dass Elektronen und Positronen erzeugt und vernichtet werden können, allerdings nur im Paar, damit die elektrische Ladung erhalten bleibt. Die Leptonenzahl muss ebenfalls erhalten sein: Alle Leptonen (e −, 𝜇 −, 𝜏 −, 𝜈e, 𝜈𝜇, 𝜈𝜏) haben die Leptonenzahl +1, ihre Antiteilchen die Leptonenzahl −1.

Die elektroschwache Theorie ist etwas komplizierter, da die zugehörige Eichsymmetrie spontan gebrochen ist (). Die quantisierten Felder vor und nach der Brechung der Symmetrie sind jeweils andere. Bei hoher Energie, vor der Brechung, sind es die masselosen Eichfelder W 0, W ± der SU(2)-Symmetrie, sowie das B0 der U(1)Y-Symmetrie. Bei niedrigen Energien, nach der Symmetriebrechung, mischt sich das W 0 mit dem B 0 und es ergeben sich zwei neue Felder: das massive Z 0 sowie das masselose Photon A. Des Weiteren gibt es noch nach wie vor die geladenen Bosonen W ±, die aber jetzt auch eine Masse haben. Bei hoher und niedriger Energie kommen die Quarks und Leptonen als quantisierte Felder dazu. Ein massives W −-Boson kann z. B. in ein Elektron und ein Elektron-Antineutrino zerfallen. Das Feynman-Diagramm () oben links zeigt die Ver- Dabei wird das W − vernichtet und das Elektron und nichtung eines Elektrons und eines Positrons. Da das Antineutrino erzeugt, in Übereinstimmung mit der ErPhoton masselos ist, kann Energie und Impuls nur haltung der Leptonenzahl (Feynman-Diagramme II ). erhalten sein, wenn dabei mindestens zwei Photo-

Was ist Antimaterie?  S. 18 Feynman-Diagramme  S. 48 Quantenchromodynamik  S. 190 Spontane Symmetriebrechung im Standardmodell  S. 172 Feynman-Diagramme II  S. 98

102

4 Theoretische Grundlagen

Schleifen

Quantenmechanische Spezialeffekte (a)

Für besonders Neugierige wollen wir in diesem und e+ dem nächsten Artikel noch ein wenig tiefer in die Quantenmechanik bzw. die Quantenfeldtheorie () eintauchen. Betrachten wir als Beispiel die Positron-Myonµ− Streuung (analog zu Artikel Feynman II ), so gibt es neben dem dort beschriebenen Ein-Photon-Austausch (c) auch Diagramme mit mehr als einem Photon. Alle e+ Diagramme mit einem und zwei Photonen, die zu dem Streuprozess beitragen, sind in der Abbildung rechts + dargestellt. Die Diagramme mit zwei und mehr Photonen haben eine besondere neue Eigenschaft: Die µ− Energie- und Impulserhaltung legt hier nicht die Energie und den Impuls aller Teilchen im Diagramm fest (e) (siehe Kasten). In solch einem Fall fordern die Regeln e+ der Quantenmechanik, dass alle möglichen Zwischenzustände berücksichtigt werden müssen – formal muss + dazu über alle Impulse und Energien der Teilchen inteµ− griert werden. Diagramme, in denen dies notwendig ist, bezeichnet man als Schleifendiagramme (Englisch: (g) loops). Wie wichtig sind solche Schleifen nun quantitativ? Wie + aus der Abbildung ersichtlich, bringt jeder PhotonPropagator zwei Vertices mit sich, die die Kopplung des Photons an die Leptonen erfassen. Jeder Vertex enthält als Faktor die elektrische Ladung e. Außerdem (i) liefert die Auswertung der relevanten Integrale, dass Schleifendiagramme typischerweise einen Vorfaktor + von 1/(4𝜋) generieren. Somit kommt jede zusätzliche Schleife in der Elektrodynamik mit einem Faktor von 𝛼QED = e2/(4𝜋) = 1/137. Man erwartet also, dass die Diagramme (b) – (j) eine Korrektur von lediglich 1 %

(b)

e+

e+

e+

µ−

µ−

µ−

e+

e+

µ−

µ−

e+

e+

µ−

µ−

e+

e+

(d)

e+

+ µ− (f )

e+

+ µ− (h)

e+

+ µ



µ

µ−



(j)

e+

e+

e+

+ µ−

µ−

µ−

Beiträge zur e+𝜇−-Streuung, inklusive der Ein-Schleifen-Korrekturen

Quantenfeldtheorie  S. 100 Feynman-Diagramme  S. 48 Feynman-Diagramme II  S. 98

Schleifen

103

gegenüber dem Ein-Photon-Austausch ohne Schleife (Diagramm (a)) liefern. Die explizite Auswertung zeigt auch genau das für die Diagramme (b) und (d) – (j) in der Abbildung (für manche von diesen gibt es noch eine Besonderheit, die im nächsten Artikel diskutiert wird). Allerdings liefert die Berechnung des Integrals, das zum Schleifen-Diagramm (c) gehört, einen zusätzlichen Faktor von 1/(Relativgeschwindigkeit von e+𝜇−), der für sehr kleine Geschwindigkeiten die oben erwähnte Unterdrückung der Schleifen um 𝛼QED aufhebt. Das führt dazu, dass alle Diagramme dieses Typs (also leiterartige mit Austausch von drei, vier, fünf usw. Photon – wie in der Abbildung unten gezeigt) gleich wichtig werden, so dass alle aufsummiert werden müssen. Genau das leistet die Schrödingergleichung (Quantenmechanik ). Diese Aufsummation führt dann z. B. auf Bindungszustände – in diesem Falle wäre das ein e+𝜇−-Bindungszustand, aber die Rechnung für z. B. einen e−p-Bindungszustand, also das Wasserstoffatom, würde analog ablaufen.

Impulsfluss in Schleifendiagrammen Betrachten wir eine spezielle Schleifen-Amplitude zu e+(p1) + 𝜇−(p2) → 𝜇−(p2) + 𝜇−(p4) , gezeigt in Diagramm (d) der ersten Abbildung, einmal genauer. Nach den Regeln der FeynmanDiagramme müssen an jedem Vertex die Impulse erhalten sein. Das wird z. B. durch die Impulswahl, wie in der Abbildung unten gezeigt, erreicht. Aus der Impulserhaltung am rechten unteren Vertex ergibt sich p4 = p1 + p2 − p3 , so dass die Gesamtimpulserhaltung sichergestellt ist. Allerdings ist der Impuls k damit nicht festgelegt – die Impulserhaltung ist für beliebige Werte von k gewährleistet – und deshalb muss, wie im Haupttext beschrieben, über alle Werte von k integriert werden. Diese Art Integration ist eine Eigenschaft jedes Schleifendiagramms.

In der starken Wechselwirkung ist der entsprechende Parameter 𝛼QCD bei kleinen Energien von der Größene+ ordnung 1 und dann kann generell von einer Unterdrüp1 ckung der Schleifendiagramme keine Rede mehr sein Impulsfluss im – mit drastischen Auswirkungen auf die Eigenschaften Feynman-Diagramm: stark wechselwirkender Systeme sowie die Methoden Die Erhaltung des ihrer theoretischen Beschreibung. Darauf kommen wir Viererimpulses legt den internen Impuls im Kapitel zur starken Wechselwirkung () zurück. k nicht fest. p2 µ−

Summe von Leiterdiagrammen. Die Schrödingergleichung summiert alle, was auf Bindungszustände wie Atome führt.

+

+

Grundkonzepte der Quantenmechanik  S. 40 Kapitel 8 Die Besonderheiten der starken Wechselwirkung  S. 189

+

e+ p3

p1 − k

p1−k−p3

k

p1−k−p3+p 2

+

p4 µ−

...

104

4 Theoretische Grundlagen

Renormierung

Die Zähmung der Unendlichkeit Wir möchten darauf hinweisen, dass dieser Artikel ziemlich technisch ist: Um das Thema Renormierung ansatzweise zu verstehen, müssen wir uns durch einige abstrakte Feinheiten durcharbeiten – es braucht also ein wenig Durchhaltevermögen. Aber: Es lohnt sich, denn dadurch erhalten Sie einen Einblick in ein zentrales Konzept der modernen Feldtheorie. Es gibt einen wichtigen Aspekt bei der Auswertung der Schleifendiagramme: Das Integral über alle Energien und Impulse im Zwischenzustand ergibt nicht notwendigerweise ein endliches Ergebnis. Es gibt durchaus Fälle, in denen man ein unendliches Ergebnis erhält (bei Diagrammen der ersten Abbildung des vorherigen Artikels () ist das bei den Diagrammen (b) sowie (g) − (j) der Fall), da man formal über alle Impulse und Energien integriert – also ohne jede Obergrenze. Man könnte nun argumentieren, dass man nicht belie-

big große Impulse berücksichtigen darf, sondern nur solche, die kleiner als ein vorgegebener Wert sind, den wir Pmax nennen wollen – schließlich sind unendlich große Impulse nicht physikalisch sinnvoll. Dann hängt aber das Ergebnis von dem Wert von Pmax ab und ist damit zu einem gewissen Grad willkürlich. Aber heißt das, dass unsere Theorie nutzlos ist?

Natürlich nicht: Immer dann, wenn Schleifendiagramme mit nicht definiertem Ergebnis auftreten, gibt es im Modell von vonherein schon einen adjustierbaren Parameter, der es einem erlaubt, die oben beschriebene Willkür zu eliminieren. Wie das funktioniert, wollen wir exemplarisch an den problematischen Diagrammen des vorherigen Artikels besprechen, die hier noch einmal in einer neuen Abbildung zusammengefasst sind. Das erste Diagramm (a) der Abbildung hat keine Schleifen und ist somit unproblematisch. Die anderen fünf haben zunächst nicht wohl definierte Schleifen. Zum Beispiel wird hier (a) (b) (c) das einlaufende Positron im Diagramm (a) durch die Emission und Absorption + + eines Photons im Diagramm (c) modifiziert – das ist noch einmal isoliert in der Abbildung auf der nächsten Seite oben gezeigt: Das linke Diagramm beschreibt (d) (e) (f ) einen Positron-Propagator. Dieser enthält als Parameter die Elektronmasse. + + Das rechte Diagramm ist die Ein-Schleifenkorrektur zum Positron-Propagator, die für sich genommen kein klar defiEin-Photon-Austausch-Diagramme, die zur Massen- und Ladungsrenormierung beitragen niertes Ergebnis liefert. Allerdings ist

Schleifen  S. 102

Renormierung

105

Zur Renormierung der Masse

+ e+

e+

Der Positron-Propagator inklusive seiner Ein-Schleifen-Korrektur

die Positron-Eigenschaft, die durch die Summe der beiden Diagramme beschrieben wird, die Masse; man spricht von der Massenrenormierung. Es genügt also, zu fordern, dass die Summe aus der ursprünglichen Positronmasse und der Schleifenkorrektur der physikalischen Positronmasse entspricht. Und in der Tat: Das funktioniert! Die Abhängigkeit von Pmax ist verschwunden. Im Kasten gehen wir noch etwas genauer auf diese Methode ein. Die Argumentation für die letzten drei Diagramme der ersten Abbildung läuft analog. Das zweite Diagramm – die Fermion-Schleife – trägt zur Ladungsrenormierung bei und führt auf die sogenannte laufende Kopplungskonstante (), auf die wir später zurückkommen werden.

Wir bezeichnen die ursprüngliche Masse des Positrons (ohne Schleifenkorrekturen) mit m0 und den Schleifenbeitrag mit Σ(Pmax, p 2). Hierbei ist p der Viererimpuls des Positrons und wir erlauben uns hier die Effekte des Elektron-Spins zu vernachlässigen. Der Parameter Pmax ist der zuvor erwähnte, willkürliche Abschneideparameter. Dann ergibt sich als Masseterm im Positron-Propagator M (p 2) = m0(Pmax) + Σ(Pmax, p 2) . Renormierung bedeutet nun zu fordern, dass für die physikalische Positronmasse me gilt me = m0(Pmax) + Σ(Pmax, me2) , also sich die Positronmasse ergibt, wenn man zur ursprünglichen Masse m0 die Korrektur zu einer Schleife, ausgewertet an der Positronmasse (also für p 2 = me2), hinzuaddiert. Klarerweise kann das nur dann für alle Werte von Pmax gelten, wenn wir fordern, dass auch m0 von Pmax abhängt. Damit ergibt sich für den Masseterm,

Auf diese Art und Weise lassen sich alle nicht wohl definierten Anteile aus den Amplituden in wenigen Parametern absorbieren. Und mehr noch: Es lässt sich M (p 2) = me + [Σ(Pmax, p 2) − Σ(Pmax, me2)] . zeigen, dass z. B. im Falle der Quantenelektrodynamik mit nur Elektron-, Positron- und Photon-Feldern die Der Ausdruck in der eckigen Klammer ist endlich beiden erwähnten Parameter genügen, nämlich Elekund wohl definiert (also unabhängig von Pmax) und tronladung und -masse (das Positron hat exakt die gleiverschwindet für p 2 = me2. De facto haben wir also che Masse wie das Elektron und die entgegengesetzte die Abhängigkeit der Schleifenkorrektur von (Pmax) Ladung), egal wie kompliziert das Diagramm ist. Das durch eine (Pmax)-Abhängigkeit von m0 kompengenerelle Verfahren bezeichnet man als Renormierung siert. und eine Theorie, die nur endlich viele solcher Parameter hat, als renormierbar. Übrigens ist das komplette Standardmodell renormierbar, allerdings braucht es zur Entfernung der willkürlichen Anteile führen auf die dafür 21 Parameter (weitere Kopplungskonstanten so- sogenannten Renormierungsgruppengleichungen, die wie die Massen der Quarks). Formale Betrachtungen wir bei der laufenden Kopplung wieder treffen werden.

Die laufende Kopplung  S. 196

106

4 Theoretische Grundlagen

Präzise Berechnung des nicht vollständig Lösbaren Wie man trickreich der Natur ihre Geheimnisse entlockt

Der Titel diesen Abschnitts klingt ein wenig nach Schummeln – ist es aber nicht. Allerdings ist das Konzept schon recht abstrakt und dieser Text richtet sich vor allem an die besonders neugierigen Leserinnen und Leser. Zum Einstieg wollen wir eine komplizierte Funktion durch eine einfache annähern. Dazu zeigen wir in dem Kasten sowie der Abbildung, dass es durchaus möglich ist die Sinusfunktion, sin(𝛽), durch eine Summe aus endlich vielen einfachen Termen darzustellen. So ist für kleine Werte von 𝛽 eine Gerade eine gute Näherung. Will man auch die erste Krümmung noch beschreiben, muss man von der Geraden (𝜋𝛽/180)3/6 abziehen – und so weiter. Das Ganze hat natürlich einen Haken: Je größer der Bereich, in dem man die Funktion beschreiben möchte, desto mehr Terme werden benötigt. So beschreibt der erste Term den Sinus nur bis ca. 30° gut, der nächste funktioniert immerhin schon bis 70°. Geht man bis 𝛽 13, erhält man eine gute Beschreibung bis 290° – dazu sind aber bereits sieben Koeffizienten nötig. 2

Beispiel: Sinus als Potenzreihe Zur Illustration betrachten wir die Funktion sin(𝛽), wobei 𝛽 einen Winkel in Grad bezeichnet. Die Funktion ist im Bild unten links als rote Kurve dargestellt. Die weiteren Kurven zeigen, dass man den Sinus näherungsweise durch Ausdrücke des Typs sin(𝛽) = a 𝛽 + b 𝛽 3 + c 𝛽 5 + d 𝛽 7... beschreiben kann. Übrigens treten nur ungerade Potenzen von 𝛽 auf, damit sich die Eigenschaft sin(−𝛽) = −sin(𝛽) auch in der Entwicklung wiederfindet. Für die gepunktete Kurve (blau) ist nur der erste Term mit a = 𝜋/180 berücksichtigt, für die gestrichelte (orange) ist der 𝛽 3-Term mit b = −(1/6) a 3 hinzugefügt. Entsprechend wurden für die beiden weiteren Kurven die Terme bis 𝛽 7 bzw. 𝛽 13 ergänzt – natürlich mit zunehmend komplizierteren Koeffizienten (so lautet der von 𝛽 11 z. B. −(1/39916800) a 11). Die Koeffizienten der Potenzen von 𝛽 sind übrigens mit einer klaren mathematischen Vorschrift berechenbar.

1 1 13 0 −1 3 −2

0

100



7

200 Winkel 𝛽 in Grad

300

Annäherung an die Sinusfunktion (rote Kurve) mit zunehmenden Potenzen im Winkel 𝛽. Die jeweils höchste in der Reihe berücksichtigte Potenz ist neben der Kurve vermerkt.

Präzise Berechnung des nicht vollständig Lösbaren

107

Ähnlich geht man in der modernen theoretischen Teilchenphysik vor, um experimentelle Größen wie z. B. Streuquerschnitte im Prinzip beliebig genau zu berechnen. Ein Beispiel für eine solche Rechnung wird im Artikel zu Präzisionsexperimenten () beschrieben. Was im Bild links unten der Winkel war, ist in dieser Rechnung die Stärke der elektromagnetischen Wechselwirkung, 𝛼QED = 1/137. Da diese einen so schön kleinen Wert hat, werden die Beiträge schnell kleiner, je komplizierter die berechneten Diagramme sind bzw. je höher deren Potenz von 𝛼QED ist (Schleifen ) .

Berechnung muss extrem viele Diagramme des Typs wie auf der linken Seite gezeigt berechnen. Benutzt man dagegen die effektive Feldtheorie, so wird z. B. zur Berechnung der Pion-Nukleon-Streuung bei kleinen Energien statt 𝛼QCD das Verhältnis aus Pion-Masse zur Nukleon-Masse als Entwicklungsparameter herangezogen. Der erste Term dieser Entwicklung besteht aus einem einzigen Diagramm, und das lässt sich auch noch sehr einfach berechnen. Die Korrekturen enthalten höhere Potenzen aus dem Verhältnis aus Pion- und Proton-Masse und sind somit mit 15 % sehr klein.

Will man jedoch mit den gleichen Methoden Effekte der starken Wechselwirkung berechnen, so geht das nur im Bereich sehr hoher Energien, denn nur hier wird die zu 𝛼QED analoge Größe 𝛼QCD ebenfalls klein (Laufende Kopplung ). Bei kleinen Energien jedoch, bei denen 𝛼QCD groß wird, funktioniert das nicht, denn man müsste unendlich viele Terme aufsummieren, um zu einem sinnvollen Ergebnis zu kommen. Dann hat man nur zwei Möglichkeiten: Entweder man führt aufwändige numerische Simulationen durch, wie sie im Artikel Gitter-QCD () beschrieben werden, oder man benutzt die sogenannte effektive Feldtheorie. Das Bild unten illustriert den Unterschied: Eine direkte QCD-

Die gerade skizzierte effektive Feldtheorie erfasst die Physik der leichten Quarks. Es ist auch möglich, eine effektive Feldtheorie für die Physik der schweren Quarks zu konstruieren. Diese sogenannte Heavy Quark Effective Field Theory erlaubt sogar eine Analyse basierend auf Quarks und Gluonen (unter Ausnutzung der asymptotischen Freiheit). Das Konstruktionsprinzip dieser Theorie für schwere Quarks ist zwar anders, aber die Idee hinter dem Konzept ist genau die gleiche.

Das Prinzip ist sogar noch allgemeiner: Man kann selbst das Standardmodell als führenden Ausdruck der effektiven Feldtheorie einer noch allgemeineren Theorie auffassen, die es dann vielleicht erPion Pion laubt, die offenen Fragen des StandardPion Pion modells zu beantworten. Diese Idee lässt sich auch quantitativ überprüfen, indem man die nächste Ordnung dieser effektiven Theorie konstruiert und daProton Proton rauf testet, ob die dann vorhergesagten Proton Proton Effekte in Experimenten auftreten. SolTypisches QCD-Diagramm Führender Beitrag in der effektiven che Ansätze werden z. B. bei der Suche Feldtheorie nach elektrischen Dipolmomenten () Typisches QCD-Diagramm zur Pion-Nukleon-Streuung bei kleinen Energien gegen- verfolgt. über dem führenden Beitrag in der effektiven Theorie

Präzisionsexperimente  S. 234 Schleifen  S. 102 Die laufende Kopplung  S. 196 Gitter-QCD  S. 206 Die Suche nach elektrischen Dipolmomenten  S. 294

108

4 Theoretische Grundlagen

Simulationen in der theoretischen Physik Wie Computer das Unerreichbare erreichen

ter, indem wir die Geschwindigkeitsänderung Δv hinzuaddieren. Nach dem Newton’schen Gesetz ist diese durch das Produkt von Kraft F und Zeitspanne Δt, geteilt durch die Masse m, gegeben, Δv = (F(x)/m)Δt. Um den zugehörigen Ort zu finden, geht man analog vor, indem man zum Ort die Änderung des Ortes, geDie theoretische Physik stellt einen mathematischen geben durch die gerade berechnete Geschwindigkeit Apparat bereit, der es im Prinzip erlaubt, die Weiter- mal Δt, addiert. Nun kennt man also Geschwindigentwicklung eines Systems zu berechnen, wenn der keit und Ort eine Zeit Δt später und kann die obigen Anfangszustand bekannt ist. Als Beispiel können wir Schritte nochmal durchlaufen, um einen weiteren Δtein Federpendel betrachten, wie im Kasten auf der Schritt zu schaffen. Für „angemessen“ kleines Δt kann nächsten Seite beschrieben: Zwar können wir die Be- man sich so durch die komplette Bewegung hangeln. wegung für kleine Auslenkungen und ohne Reibung (Ein etwas komplizierteres Beispiel ist ausführlich im mit bekannten Funktionen gut beschreiben, aber die unten angegebenen Artikel  diskutiert.) Bewegung eines realistischen Pendels ist deutlich komplizierter – hier bedarf es einer numerischen Simulation. Das beschriebene Programm lässt sich sehr einfach auf Für das Beispiel aus dem Kasten funktioniert das so: einem Computer realisieren. Es wird die wirkliche BeNehmen wir an, wir kennen die Geschwindigkeit und wegung umso genauer beschreiben, je genauer wir die den Ort der Masse am Anfang der Bewegung. Dann er- Kraft an einem Ort kennen und je kleiner man das Δt halten wir die Geschwindigkeit eine kleine Zeit Δt spä- wählen kann (letzteres ist z. B. dadurch bestimmt, wie lange man bereit ist, auf das Ergebnis zu warten) – man Der Supercomputer JUGENE am Forschungszentrum Jülich spricht von der numerischen Simulation des physikalischen Systems. So kann man auch sehr viel kompliziertere Systeme beschreiben, wie die Entwicklung des Wetters, wobei hier natürlich die Komplexität des Systems eine zusätzliche Herausforderung darstellt. Dann bedarf es dazu sehr großer Computer bzw. der Vernetzung vieler Computer zu sogenannten Supercomputern, um der numerischen Herausforderung Herr zu werden. Aber auch für die theoretische Kernund Teilchenphysik spielen numerische Simulationen eine zentrale Rolle. Zum einen, um die teilweise sehr Computer sind aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken: Sie bestimmen, wie wir kommunizieren, reisen und arbeiten. Dementsprechend sollte es nicht überraschen, dass sie auch in der modernen theoretischen Physik eine sehr wichtige Rolle spielen.

C. Körber et al. 2018, A primer to numerical simulations: The perihelion motion of Mercury, Physics Education, 53, 055007, doi:10.1088/1361-6552/aac487 QCD: Quantenchromodynamik  S. 190

Simulationen in der theoretischen Physik

109

Die Newton’schen Bewegungsgleichungen besagen, dass die Beschleunigung eines Körpers a durch seine Masse m und die auf ihn wirkende Kraft F bestimmt wird: F = ma . Die Kraft, die eine Feder mit der Federkonstanten D auf eine Masse ausübt, ist proportional zu der Auslenkung x, also F = −Dx. Außerdem entspricht die Beschleunigung der Änderung der Geschwindigkeit v mit der Zeit und die Geschwindigkeit selbst ist die Änderung des Ortes mit der Zeit: _ _ _ dx _ _ _ a = dv dt und v = dt , wobei das „d“ kleine Änderungen symbolisiert. Somit haben wir nun einen Zusammenhang zwischen der Änderung des Ortes und der Kraft, die vom Ort abhängt, erhalten: _ _ d _ (dx _ _ _ m dt dt )= −Dx . Dies ist eine sogenannte Schwingungsgleichung. Durch Einsetzen kann man sich davon überzeugen, dass x(t) = A sin(𝜔t) + B cos(𝜔t)

komplizierten Gleichungen des Standardmodells zu lösen; das wird im Artikel zur QCD () weiter ausgeführt. Die Grundidee hierbei ist ähnlich zu dem bisher Gesagten, auch wenn die praktische Ausführung sehr viel komplizierter ist. Zum anderen sind Simulationen notwendig, um die zu erwartenden experimentellen Signale in komplizierten Reaktionen vorherzusagen. Betrachten wir dazu einmal eine typische Reaktion am LHC (): Hier werden bei extrem hohen Energien zwei Protonen aufeinander geschossen. Die Reaktionsenergie E ist so hoch, dass in der Reaktion sehr viele neue Teilchen produziert werden können (Anwendung spezielle Relativitätstheorie ), da Energie in Masse umgewandelt wird. Das kann auch in vielen Stufen passieren, indem zunächst instabile Zwischenzustände entstehen, die letztlich nach mehreren Schritten in die Teilchen zerfallen, die in den Detektoren gemessen werden (Produktion und Zerfall ). Jede dieser Zerfallsketten tritt mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit auf, und die Summe über alle Ketten ergibt dann das vorhergesagte Signal, das mit der tatsächlichen Messung zu vergleichen ist. Auch diese Art der Simulation, in der der Computer tatsächlich die verschiedenen möglichen Ereignisverläufe „auswürfelt“, ist nur durch den Einsatz von Supercomputern machbar.

für beliebige A und B die Schwingungsgleichung löst, wenn nur 𝜔 = √D/m gilt. Die Parameter A und B werden durch die Anfangsbedingungen festgelegt (wie weit die Feder zunächst ausgelenkt wird und ob man ihr noch einen Schubs gibt oder nicht). Allerdings beschreiben diese Gleichungen eine reale Feder nur für kurze Zeiten und kleine Auslenkungen gut – will man genauer werden, muss z. B. die Reibung berücksichtigt werden. Dann ist man oft auf numerische Simulationen angewiesen.

Und wie funktionieren nun Entdeckungen und Tests der Theorie? Dazu berechnet man zunächst mit den Methoden der Quantenfeldtheorie () einen fundamentalen Übergang, den man testen möchte, und daraufhin mit den oben beschriebenen Ketten, wie daraus ein experimentelles Signal entsteht (Neue Teilchen am LHC ). Eine Entdeckung, die von der Theorie nicht vorhergesagt wurde, macht man dann, wenn das Experiment signifikante Abweichungen von den Erwartungen aus der Simulation zeigt.

Beispiel: Federpendel

Der LHC-Beschleunigerkomplex am CERN  S. 112 Anwendungen der speziellen Relativitätstheorie  S. 88 Produktion, Zerstörung und Zerfall von Teilchen  S. 50 Quantenfeldtheorie  S. 100 Neue Teilchen am LHC  S. 280

5 Detektoren und Beschleuniger Eines der Hauptwerkzeuge der Teilchenphysik sind Teilchenbeschleuniger. Hier werden Teilchen auf höchste Energien beschleunigt. Dies dient einerseits dazu, immer feinere Strukturen auflösen zu können und anderseits erlaubt es, bestimmte Teilchen überhaupt erst zu erzeugen. Die Teilchen nur auf hohe Energien zu beschleunigen bringt allein allerdings noch keine neue Erkenntnis. Daher kommt den Detektoren, die Teilchen nach einer Reaktion nachweisen und damit Rückschlüsse über Wechselwirkungen und Eigenschaften von Teilchen liefern, eine ebenso große Rolle zu. In diesem Kapitel geht es also einerseits um die Funktionsweise und Beispiele von Beschleunigern und andererseits darum, wie durch Kombination verschiedener experimenteller Techniken Detektoren entwickelt werden, die alle wichtigen Eigenschaften der Teilchen gemeinsam bestimmen können. Beides hat auch Einzug in unser tägliches Leben, vor allem im medizinischen Bereich, gefunden.

112

5 Detektoren und Beschleuniger

Der LHC-Beschleunigerkomplex am CERN Von der Wasserstoffflasche bis zur Kollision

Wir haben schon in mehreren Artikel gesehen, dass Beschleuniger eine wichtige Rolle für Entdeckungen in der Teilchenphysik spielen und in einem vorherigen Artikel wurde das Grundprinzip von Beschleunigern () erläutert. Hier stellen wir den LHC-Beschleunigerkomplex am CERN vor. Der Large Hadron Collider (LHC) ist mit seinen 27 km Umfang der derzeit größte Beschleuniger der Welt. In ihm werden je nach Bedarf der Experimentierenden Protonen oder Bleiionen beschleunigt. Bevor die Protonen ihre Endenergie von 6,8 TeV (Teraelektronenvolt) erreichen, durchlaufen sie mehrere Vorbeschleuniger. Diese Kaskadierung ergibt sich aus der Tatsache, dass ein Beschleuniger immer nur in einem bestimmten Energiebereich betrieben werden kann. In diesem Artikel beschreiben wir den Weg der Protonen von ihrer Quelle bis zum Experiment. Zunächst stellt sich die Frage, woher die Protonen kommen, die im LHC beschleunigt werden. So banal dies erscheinen mag, sie komDie Wasserstoffflasche des LHC

H−

men aus einer Wasserstoffflasche. Diese enthält jedoch nur elektrisch neutrale Wasserstoffmoleküle bestehend aus zwei Protonen und zwei Elektronen. Mit dem Inhalt einer handelsüblichen Gasflasche könnte man den LHC übrigens theoretisch mehrere Millionen Jahre lang mit Protonen füllen. Den neutralen Molekülen wird zunächst ein Proton weggenommen. So entstehen negativ geladene Wasserstoffionen H− bestehend aus einem Proton und zwei Elektronen. Diese H−-Ionen, und nicht Protonen, werden dann in einem Linearbeschleuniger auf eine Bewegungsenergie von 160 MeV beschleunigt, bevor sie auf eine dünne Kohlenstofffolie treffen, die als stripping foil bezeichnet wird. Daran streifen die H−-Ionen ihre beiden Elektronen ab. Übrig bleiben „nackte“ Protonen, die dann im ersten Ringbeschleuniger eingespeist und weiter beschleunigt werden. Sie wundern sich vielleicht, warum man zunächst elektrisch negativ geladene H−-Ionen anstatt direkt elektrisch positiv geladene Protonen beschleunigt. Wie in der Abbildung unten zu sehen ist, durchlaufen die bereits eingespeisten Protonen im magnetischen Haltestripping foil

 p

Wie funktioniert ein Beschleuniger?  S. 62

Einschuss von H−-Ionen vom Linearbeschleuniger in den ersten Ringbeschleuniger

Der LHC-Beschleunigerkomplex am CERN

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feld des Ringbeschleunigers eine Rechtskurve. Will man jetzt das nächste Paket einspeisen, erkennt man, dass es günstiger ist, wenn diese Teilchen eine Linkskurve beschreiben. Dies wird durch die entgegengesetzte Ladung gewährleistet. Das macht das Füllen des Ringbeschleunigers mit Protonenpaketen leichter und hat zur Folge, dass insgesamt mehr Protonen gespeichert werden können. Im ersten Ringbeschleuniger, dem Proton-Synchrotron-Booster (PSB) werden die Protonen auf eine Bewegungsenergie von 2 GeV beschleunigt. Im nächsten Schritt erreichen sie eine Beschleunigung auf 25 GeV im 628 m umfassenden Proton-Synchrotron (PS). Das darauf folgende Super-Proton-Synchrotron (SPS) hat immerhin schon einen Umfang von fast 7 km. Hier werden die Protonen auf 450 GeV beschleunigt. Von dort werden Protonenpakete im und entgegen dem Uhrzeigersinn in den LHC eingespeist. In jedem dieser über 2.000 Pakete pro Umlaufrichtung befinden sich jeweils 1011 Protonen. Im LHC erfolgt die Beschleunigung auf die Endenergie von 6,8 TeV. Dieser Prozess dauert etwa 20 Minuten. Die beiden gegenläufig laufenden Strahlen werden dann an vier Kollisionspunkten,

an denen sich die vier Experimente ALICE, ATLAS, CMS und LHCb befinden, zur Kollision gebracht. Das Bild (oben) zeigt das Ergebnis einer Proton-Blei-Kollision, die am ALICE-Experiment registriert wurde. Es kommt zu etwa einer Milliarde Kollisionen pro Sekunde. Da dies nur ein geringer Anteil der gespeicherten Teilchen ist, muss der LHC erst nach etwa 10 Stunden neu befüllt werden. Die Teilchen, die dann noch übrig sind, drehen innerhalb dieser Zeit 400 Millionen Runden im LHC. Das entspricht einer Strecke von 10 Milliarden Kilometern.

Linearbeschleuniger für H−-Ionen am CERN

Der LHC-Beschleunigerkomplex am CERN in der Nähe von Genf

Teilchenspuren einer Proton-Blei-Kollision am ALICE-Experiment

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5 Detektoren und Beschleuniger

Strahlführung

Nur nicht auf die schiefe Bahn geraten In einem Kreisbeschleuniger vollführt ein Teilchenstrahl, bestehend aus vielen Milliarden Teilchen, einige Millionen Umläufe über einen Zeitraum von mehreren Stunden (LHC ). Es ist schon erstaunlich, dass man nach so langer Zeit noch einen gebündelten Strahl vorfindet. Das ergibt sich nicht von selbst. Viele Effekte können dazu führen, dass Teilchen verloren gehen. Sie können zum Beispiel mit Luftmolekülen zusammenstoßen. Um das zu vermeiden, lässt man den Strahl in einem evakuierten Strahlrohr umlaufen. Dabei muss der Druck gegenüber dem Atmosphärendruck um bis zu 13 Größenordnungen gesenkt werden. Weiterhin gibt es Teilchen, die nicht genau die Energie haben, für die das Magnetfeld des Beschleunigers ausgelegt ist, oder Teilchen, die sich nicht genau in die richtige Richtung bewegen. Irgendwann werden diese auf die Begrenzung des Strahlrohres treffen und verloren gehen. Außerdem wissen wir seit Galilei: „Alle Körper fallen gleich schnell.“ Das gilt auch für Elementarteilchen in Beschleunigern. Aber warum fallen die Teilchen dann nicht nach unten? In einem Beschleuniger werden mehrere Maßnahmen ergriffen, um all diesen Effekten entgegenzuwirken. Dazu verwendet man zusätzlich zu dem sogenannten Haltefeld, das die Teilchen einer bestimmten Energie auf eine Kreisbahn mit entsprechendem Radius zwingt, weitere elektrische und magnetische Felder. Damit wollen wir uns in diesem Artikel beschäftigen.

ausgelegt. Schauen wir uns zunächst an, wie man sicherstellt, dass Teilchen, die von dieser Nominalenergie abweichen, nicht verloren gehen. Zur Beschleunigung werden sinusförmige elektrische Wechselfelder (Beschleuniger ) verwendet. Der Trick besteht darin, nicht die maximal verfügbare Feldstärke auf der Spitze der Sinuskurve auszunutzen, sondern sich mit einem etwas geringeren Wert zu begnügen. Nehmen wir zur Vereinfachung an, dass alle Teilchen schon auf 99,99... % der Lichtgeschwindigkeit beschleunigt wurden. Eine weitere Beschleunigung führt dann nicht mehr zu einer nennenswerten Vergrößerung der Geschwindigkeit, sondern zu einer Erhöhung der Energie (Relativität ). Ein Teilchen, dessen Energie zu gering gegenüber der Nominalenergie ist, wird stärker im Magnetfeld abgelenkt und bewegt sich daher auf einer Kreisbahn mit kleinerem Radius. Ähnlich einem Läufer auf der Innenbahn eines Stadions legt es weniger Strecke zurück und kommt daher früher an der Beschleunigersektion an. Dort sieht es dann ein höheres Feld und wird stärker beschleunigt. Entsprechend laufen Teilchen, deren Energie zu groß ist, eine längere Strecke, kommen später an und erfahren ein kleineres Je nach Energie laufen die Teilchen auf verschiedenen Bahnen und werden entsprechend unterschiedlich stark beschleunigt. E

Zeit

Das Magnetfeld eines Beschleunigers ist für eine bestimmte Energie, die Nominalenergie genannt wird,

Der LHC-Beschleunigerkomplex am CERN  S. 112 Wie funktioniert ein Beschleuniger?  S. 62 Spezielle Relativitätstheorie  S. 34

Strahlführung

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Feld. So wird sicher gestellt, dass alle Teilchen im zeitlichen Mittel die gleiche Energie haben. Dieser Vorgang wird als Phasenfokussierung bezeichnet. Als nächstes schauen wir uns an, was mit Teilchen passiert, die links und rechts bzw. nach oben und unten von ihrer Sollbahn abweichen oder durch den Einfluss der Gravitation drohen nach unten zu fallen. In der Optik verwendet man Linsen, um Lichtstrahlen zu bündeln. Mit Magnetfeldern kann man Teilchenstrahlen bündeln. Dazu verwendet man sogenannte Quadrupolmagnete (siehe Bilder unten). Das Magnetfeld ist so ausgelegt, dass ein Teilchen, das sich durch das Zentrum, also auf der Sollbahn, bewegt, kein Magnetfeld spürt. Teilchen, die sich zu weit links oder rechts bewegen, spüren ein Feld, das um so stärker ist, je mehr sie sich vom Zentrum weg bewegen. Dieses Feld sorgt für eine Ablenkung der Teilchen in Richtung Zentrum. Leider funktoniert das Bündeln eines Teilchenstrahles nicht in beide Richtungen wie bei einem Lichtstrahl. Befindet sich ein Teilchen zu weit oben bzw. unten, wird es noch weiter nach oben oder unten abgelenkt. Abhilfe schafft hier eine Abfolge von zwei Quadrupolen, die um 90° gegeneinander gedreht sind. Das Teilchen, das im ersten Quadrupol weiter nach oben abgelenkt wurde, wird im zweiten noch stärker Richtung Zentrum gelenkt. Das Teilchen, das im ersten Quadrupol von links Richtung Zentrum gelenkt wurde, erhält im zweiten nur

Prinzip eines Quadrupolmagneten: In Beschleunigern werden keine Stabmagnete wie in der Zeichnung, sondern Elektromagnete verwendet.

Ähnlich wie ein Schlitten durch die Form der Rodelbahn immer wieder hin zur Sollbahn abgelenkt wird, werden Teilchen durch Quadrupolmagnete abgelenkt.

noch eine kleine Ablenkung nach außen. Die Kombination beider Quadrupole führt dann zu einer Fokussierung in beiden Richtungen. Jetzt ist auch klar, warum die Teilchen aufgrund der Gravitationskraft nicht immer weiter nach unten fallen. Zunächst tun sie es natürlich. Aber dann spüren sie das Feld der Quadrupolmagnete, das dafür sorgt, dass die Teilchen nicht zu weit von der Sollbahn abweichen. Mit diesen Maßnahmen schafft man die Voraussetzungen, gebündelte Teilchenstrahlen über lange Zeiträume zu speichern. Beispiel eines Quadrupolmagneten

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5 Detektoren und Beschleuniger

Plasmabeschleunigung

Ein Beschleuniger, der auf einen Küchentisch passt Das A und O, um Teilchen auf eine möglichst hohe Energie zu beschleunigen, sind starke elektrische Felder. Gemessen wird ein elektrisches Feld in der Einheit Volt pro Meter. Wenn Sie eine 9-V-Batterie zwischen zwei Metallplatten im Abstand von einem Zentimeter anlegen, entspricht das einem elektrischen Feld von 900 V/m. Technisch möglich sind elektrische Felder von mehreren Megavolt pro Meter. Versucht man darüber hinauszugehen, kommt es zu elektrischen Überschlägen zwischen den Platten. Will man also Energien von einigen Gigaelektronenvolt (GeV) erreichen, muss man mehrere Beschleunigungsstrecken nacheinander anordnen. Das führt zu sehr langen Linearbeschleunigern () oder eine Beschleunigersektion muss sehr oft in einem Kreisbeschleuniger durchlaufen werden. Auch mit einem Kreisbeschleuniger stößt man irgendwann an Grenzen, da der Radius immer größer werden muss, um Teilchen immer höherer Energie auf einer Kreisbahn zu halten. Der Wunsch der Physikerinnen und Physiker ist es jedoch, immer höhere Energien zu erreichen. Dafür brauchen wir eine neue Methodik. Gibt es einen Ausweg, um auf kurzen Strecken höhere Felder zu erzeugen? Man kann sich die Frage stellen, welche elektrischen Felder innerhalb eines Atoms auftreten. Ein Elektron in einem Wasserstoffatom ist dem elektrischen Feld des Protons ausgesetzt. Berechnet man dessen Stärke (siehe Informationskasten) so erhält man einen unglaublich großen Wert von 500 Gigavolt pro Meter, weit jenseits der im Labor in makroskopischen Strukturen erzeugbaren Felder. Leider hilft dies nicht, Teilchen

Wie funktioniert ein Beschleuniger?  S. 62

Elektrische Feldstärke in einem Atom Wie groß ist das elektrische Feld, das ein Elektron in einem Wasserstoffatom vom Proton erfährt? Ein Elektron befindet sich im Mittel in einem Abstand vom Proton, der gleich dem sogenannten Bohr’schen Radius a0 =

𝜀0 h2 | 5,3·10−11 m 𝜋me e 2

ist. Hierbei ist 𝜀0 die elektrische Feldkonstante, e die Elementarladung, me die Ruhemasse des Elektrons und h die Planckkonstante. Die Kraft zwischen Elektron und Proton berechnet sich aus dem Coulomb-Gesetz F=

1 q1q2 . 4𝜋𝜀0 r 2

Das elektrische Feld ergibt sich dann nach der Division der Kraft durch den Betrag der Ladung des Elektrons |q1|= e. Beachtet man, dass das Proton ebenfalls eine Elementarladung trägt und dass der Abstand r = a0 ist, findet man E | 500 GV/m . zu beschleunigen, da sich in normaler Materie positive und negative Ladungen von Protonen und Elektronen neutralisieren und wir diese hohen Felder nicht wahrnehmen. Aber vielleicht gibt es ja dennoch eine Möglichkeit, wie man solche Felder nutzen kann.

Plasmabeschleunigung

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Da die freien negativ geladenen Elektronen eine viel geringere Masse haben als die positiv geladenen Ionen, können die Elektronen sich viel leichter bewegen. Somit kann die Gleichverteilung durch äußere Einwirkung aufgehoben werden und es entstehen innerhalb des Plasmas starke elektrische Felder, die für die Das Boot entspricht dem Laserpuls, das Wasser dem Plasma, der Teilchenbeschleunigung genutzt werden können. Eine Surfer den zu beschleunigenden Teilchen. Separation von Elektronen und Ionen kann zum Beispiel durch einen kurzen Laserpuls erfolgen. Hinter Hier setzt die Plasmabeschleunigung an. Neben den dem Laserpuls entsteht ein Kielfeld, ähnlich der Kielbekannten Aggregatzuständen fest, flüssig und gasför- welle eines Bootes, mit hohen elektrischen Feldern. mig kann Materie als Plasma existieren. Ein Plasma zeichnet sich dadurch aus, dass die einzelnen Elektro- In diesem Feld können Elektronen über eine sehr kurnen in einem Gas nicht mehr einem einzelnen Atom ze Strecke auf mehrere Gigaelektronenvolt beschleuzugeordnet sind. Die Gasatome sind also ganz oder nigt werden. Mit konventionellen Beschleunigern sind teilweise ionisiert. Solche Plasmen existieren zum dafür wesentlich größere Anlagen notwendig. Im Jahr Beispiel in der Sonne. Im Labor muss ein großer Auf- 2018 gelang es, in einer 20 cm langen Strecke Elektrowand betrieben werden, um Materie in einen Plasma- nen in einem Laser-Plasmabeschleuniger auf 7,8 GeV zustand zu versetzen. Auch in einem Plasma sind die zu beschleunigen. Der Laserpuls hatte eine Leistung Elektronen wie die Ionen zunächst gleichförmig über () von 850 TW.1 Auch wenn die Plasmabeschleudas Volumen verteilt, so dass keine großen elektrischen nigung bisher nur in kleinem Maßstab gelungen ist, Felder auftreten. Elektrische Felder entstehen immer eröffnet diese Technik Möglichkeiten, Teilchen mit erst dann, wenn Ladungen mit unterschiedlichen Vor- Beschleunigern überschaubarer Größe auf sehr hohe zeichen voneinander getrennt werden. Energien zu beschleunigen.

Ein Laserpuls (rot) verursacht eine Kielwelle (blau), die zur Beschleunigung eines Elektronstrahls (heller blauer Punkt hinter dem Laserpuls) genutzt werden kann.

1

A. J. Gonsalves et al. 2019, Petawatt Laser Guiding and Electron Beam Acceleration to 8 GeV in a Laser-Heated Capillary Discharge Waveguide, Physical Review Letters, 122, 084801, doi:10.1103/PhysRevLett.122.084801 Energie und Leistung  S. 32

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5 Detektoren und Beschleuniger

Beschleuniger in der Medizin Diagnose und Therapie

Teilchenbeschleuniger sind heute aus der medizinischen Diagnostik und Therapie nicht mehr wegzudenken. Es gibt ein breit gefächertes Anwendungsspektrum, auf das hier eingegangen werden soll. B

B

Schon ein Röntgengerät () setzt einen, wenn auch kleinen, Elektronenbeschleuniger voraus. Bei der Positronen-Emissions-Tomographie (PET, ) kommt schon ein mehrere Meter großer Beschleuniger, typiE scherweise ein Zyklotron, zum Einsatz. Es dient zur Prinzip eines Zyklotrons Herstellung kurzlebiger radioaktiver Präparate, die bei der PET als Positronquelle verwendet werden. dung eines Positrons wieder in 188O. Das Positron trifft schließlich auf im Körper befindliche Elektronen. Die Bei einem Zyklotron (siehe Abbildung) halten die Ma- daraus entstehenden Photonen können nachgewiesen gnetfelder links und rechts Ionen auf einer Kreisbahn, werden. Um die Strahlenbelastung für den Patienten deren Radius sich vergrößert, da das zwischen den möglichst gering zu halten, kommen nur radioaktive beiden Magnetfeldern angelegte elektrische Feld die Stoffe in Frage, die eine Lebensdauer in der GrößenIonen beschleunigt. Mit einem Zyklotron können für ordnung der Behandlungsdauer, also maximal einige die Teilchenphysik moderate Energien von einigen 100 Stunden haben. Deshalb stehen solche Beschleuniger MeV erreicht werden, die jedoch ausreichen, um die meist direkt im Krankenhaus, da nach einem längeren für medizinische Anwendungen nützlichen radioakti- Transport die meisten Kerne schon zerfallen wären. ven Präparate herzustellen. Auch für Szintigramme, z. B. der Schilddrüse, kommen Man beschleunigt zum Beispiel Protonen und lenkt in einem Beschleuniger produzierte Isotope zum Einsie auf ein Target. Befindet sich in dem Targetmaterial satz. Bei all diesen Methoden handelt es sich um DiaSauerstoff, so tritt die folgende Reaktion auf (Von Nuk- gnosemethoden, um zum Beispiel die genaue Position leonen zu Kernen ): eines Tumors im Körper zu bestimmen. 18 8

O + p ĺ 189F + n

Beschleuniger werden aber nicht nur zu DiagnosezweDas dabei entstandene Fluor-Isotop 189F wird einem cken verwendet. Neben Operation und ChemothePatienten injiziert. Im Körper zerfällt es dann mit ei- rapie kommen sie auch zum Einsatz, um Tumore zu ner Halbwertszeit von 110 Minuten u. a. unter Aussen- bekämpfen. Ziel ist es, durch Bestrahlung des Patien-

Röntgenstrahlung  S. 120 Positronen-Emissions-Tomographie  S. 134 Von Nukleonen zu Kernen  S. 210

Strahlendosis

Beschleuniger in der Medizin

Proton

en

Tumor

P ho ton en

Eindringtiefe Die deponierte Strahlendosis als Funktion der Eindringtiefe für Photonen und Protonen

ten an der Stelle des Tumors möglichst viel Energie zu deponieren, so dass dort möglichst großer Schaden an Tumorzellen entsteht, das umliegende gesunde Gewebe jedoch möglichst intakt bleibt. Hier werden Photonen oder geladene Hadronen, meist Protonen, eingesetzt. Eine Bestrahlung mit Photonen hat den Nachteil, dass, wie aus der Abbildung zu erkennen ist, die meiste Zyklotron der Firma Siemens zur Herstellung radioaktiver Isotope

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Energie bereits kurz nach Eintritt in den menschlichen Körper abgegeben wird. Mit zunehmender Eindringtiefe nimmt die Energiedeposition ab. Anders verhält es sich mit Hadronstrahlen: Sie deponieren die meiste Energie am Ende ihrer Flugbahn. Dort werden sie immer langsamer und halten sich länger auf. Da Photonen masselos sind und im Medium mit Lichtgeschwindigkeit fliegen, zeigen sie diesen Effekt nicht. Die Wechselwirkung zwischen Protonen und Materie hängt stark von der Energie der Protonen ab. Das erlaubt es, durch Variation der Strahlenergie die Eindringtiefe sehr genau einzustellen und dadurch den Tumor, dessen Position mit bildgebenden Verfahren genau bestimmt wurde, millimetergenau zu bestrahlen. Mittlerweile ist es sogar möglich, bildgebende Verfahren mit der Bestrahlung gleichzeitig zu verwenden. So kann auch ein sich im Körper bewegender Tumor immer optimal bestrahlt werden. Eine bewegliche Strahlführung (Gantry) am Paul-Scherrer-Institut (PSI) in der Schweiz. Die Apparatur erlaubt es, den Protonenstrahl aus verschiedenen Richtungen auf einen Patienten zu lenken.

120

5 Detektoren und Beschleuniger

Röntgenstrahlung Das geht unter die Haut

Der erste Nobelpreis für Physik ging 1901 an Wilhelm Conrad Röntgen für die Entdeckung einer neuen Art von Strahlung. Im deutschen Sprachraum wird sie ihm zu Ehren Röntgenstrahlung genannt. Im Englischen werden diese Strahlen als X-rays bezeichnet. Die Bezeichnung X-Strahlen hatte auch Röntgen ursprünglich gewählt, da er nicht wusste, was er da gefunden hatte. Er experimentierte mit Kathodenstrahlröhren, wie sie später auch in Fernsehgeräten zum Einsatz kamen. Ziel seiner Untersuchungen war eigentlich die Vermessung der elektrischen Leitfähigkeit in Gasen. In seinem abgedunkelten Labor beobachtete Röntgen jedoch, dass sich ein in großer Entfernung befindlicher Leuchtschirm aufhellte. Eine unbekannte Strahlung musste in dem Glaskolben entstanden sein, trat durch das Glas und eine Abdeckung hindurch und regte schließlich Moleküle auf dem Schirm zum Leuchten an. Wie kann man Röntgens Beobachtung heute im Rahmen der Teilchenphysik verstehen? Wie in der obigen Abbildung gezeigt, treten Elektronen aus der erhitzten Kathode aus und werden beschleunigt. Beim Auftreffen auf die Anode werden sie dann abrupt abgebremst, d. h. negativ beschleunigt. Wie wir heute wissen, entsteht dabei Strahlung (). In der Sprache der FeynmanGraphen () wird die Röntgenstrahlung als Wechselwirkung eines Elektrons mit einem Atomkern mit dem gleichzeitigen Abstrahlen eines Röntgenphotons verstanden. Die Wellenlänge des Photons liegt etwa im Bereich von zehn Nanometern bis zehn Pikometern.

Beschleunigung und Strahlung  S. 38 Feynman-Diagramme  S. 48 Grundkonzepte der Quantenmechanik  S. 40

𝛾

Heizspannung e−

Kathode

Anode

Anodenspannung 10 − 100 kV Prinzip der Erzeugung von Röntgenstrahlung in einer Kathodenstrahlröhre. Beschleunigte Elektronen treffen auf eine Anode, werden dort abgebremst und senden Röntgenstrahlung aus. 𝛾 e−

Kern

Feynman-Graph zur Röntgenstrahlung. Bei der Wechselwirkung mit einem Atomkern in der Anode strahlt das Elektron ein Röntgenphoton 𝛾 aus.

Röntgenstrahlung

121

Wellenlänge der Röntgenphotonen im Bereich der Atomabstände in Kristallen liegt. Man beobachtet auf einem Schirm Beugungsmuster, wie man sie auch aus der Optik kennt. Aus diesen Mustern kann man dann Rückschlüsse auf die Struktur der bestrahlten Kristalle oder Moleküle ziehen. So trug die Röntgenstrahlung zur Auflösung von Kristallstrukturen und auch zur Entschlüsselung der Struktur von DNS-Molekülen bei. Im Artikel zur Synchrotronstrahlung () wird auf weitere Anwendungen eingegangen.

Historische Röntgenaufnahme

Im Gegensatz zu sichtbarem Licht haben die Röntgenphotonen also eine viel kleinere Wellenlänge und damit verbunden auch eine vielfach höhere Energie (Quantenmechanik ). Daher können Röntgenphotonen teilweise Materie durchdringen. Je nach Beschaffenheit des Materials werden sie jedoch absorbiert. Die Wahrscheinlichkeit, wie häufig das passiert, steigt mit der Kernladungszahl Z des Materials. Daher zeichnen sich Knochen (Kalzium, Kernladungszahl Z = 20) bei Röntgenaufnahmen als Schatten ab, verglichen mit dem weicheren Gewebe (Kohlenstoff Z = 6, Stickstoff Z = 7, Sauerstoff Z = 8 und Wasserstoff Z = 1). Die Verwendung von Röntgenstrahlung beschränkt sich nicht nur darauf, ein Schattenbild eines Objekts zu erzeugen. Trifft Röntgenstrahlung auf eine geordnete Struktur, wie z. B. einen Kristall, so treten sogenannte Beugungseffekte auf. Dies hängt damit zusammen, dass die

Synchrotronstrahlung  S. 122

Mittels Röntgenstrahlung gewonnenes Beugungsmuster eines Lysozym-Kristalls

122

5 Detektoren und Beschleuniger

Synchrotronstrahlung Quellen besonderen Lichts

Beschleunigt man geladene Teilchen, so senden diese Um eine Idee von der Größenordnung zu bekomelektromagnetische Strahlung () aus, die aus Photo- men, betrachten wir den bisher größten Elektronennen besteht. Genau dieser Effekt wird bei einem Rönt- beschleuniger LEP, der bis zum Jahr 2000 am CERN gengerät () ausgenutzt, bei dem zuvor beschleunigte betrieben wurde. Darin wurden Elektronen auf eine Elektronen abgebremst werden, um Strahlung zu er- Energie von 100 GeV beschleunigt. Pro Umlauf betrug zeugen. der Energieverlust aufgrund von Synchrotronstrahlung 2,9 GeV, der ständig nachgeführt werden musste. Beim Befindet sich ein Teilchen auf einer Kreisbahn, wird LHC (), der später im gleichen Tunnel wie LEP ines ständig zur Kreismitte hin beschleunigt und sendet stalliert wurde, beträgt der Energieverlust nur 6,7 keV daher ständig Strahlung aus. Auf einer Kreisbahn wird pro Umlauf. Dies liegt an der Art der Teilchen, die das Teilchen zwar nicht unbedingt schneller, doch es beschleunigt werden. Bei leichten Teilchen wie den ändert immerzu seine Richtung, was ebenfalls einer Elektronen macht sich der Effekt sehr viel stärker beBeschleunigung entspricht, da sich der Geschwindig- merkbar als bei den schwereren Protonen, die im LHC keitsvektor des Teilchens ändert. beschleunigt werden. Solche Strahlung entsteht in einem Kreisbeschleuniger Während die Synchrotronstrahlung für Teilchenphy(), genauer einem Synchrotron, und wird deshalb als sikerinnen und -physiker ein Ärgernis ist – man will Synchrotronstrahlung bezeichnet. Für die Teilchen- ja möglichst die gesamte Energie den beschleunigten physik ist die Synchrotronstrahlung ein ungewollter Teilchen zukommen lassen – ist sie ein Segen für andeNebeneffekt, da das Teilchen durch die Abstrahlung re Bereiche der Physik. Beispielsweise um Materialien Energie verliert, die ständig nachgeführt werden muss, zu untersuchen, lenkt man die Synchrotronstrahlung um ein Teilchen auf einer Kreisbahn zu halten. auf eine Materialprobe. Die gestreuten Photonen geben dann Aufschluss über die Struktur des unterSynchrotronstrahlung in einem suchten Materials (Streuexperimente ). Ablenkmagneten

 e− 𝛾

Beschleunigung und Strahlung  S. 38 Röntgenstrahlung  S. 120 Wie funktioniert ein Beschleuniger?  S. 62 Der LHC-Beschleunigerkomplex am CERN  S. 112 Das Prinzip von Streuexperimenten  S. 46

𝛾

e−



Ein Undulator bestehend aus einer Magnetstruktur, die dafür sorgt, dass die Elektronen einen Slalomkurs durchlaufen

Synchrotronstrahlung

123

Zunächst nutzte man die abgestrahlte Synchrotronstrahlung sozusagen als Abfallprodukt. Später baute man eigens Beschleuniger, nur um die Synchrotronstrahlung nutzen zu können. Dabei kommen sogenannte Wiggler oder Undulatoren zum Einsatz. Diese bestehen aus einer Magnetfeldanordnung, die die Elektronen auf einen Slalomkurs zwingt (siehe Abbildung). Jetzt strahlen die Elektronen mehrfach Photonen in gleicher Richtung ab. Dadurch erreicht man eine feiner gebündelte, intensivere Strahlung, die zudem energieschärfer ist. Die höhere Intensität erlaubt es, Spektren oder Beugungsmuster, die charakteristisch für das untersuchte Material sind, genauer zu studieren. Die Anwendungen reichen von der Messung an einzelnen Molekülen bis zur Untersuchung von Gemälden. Die Abbildung rechts zeigt das Resultat von Messungen an einem Bild von Vincent van Gogh. Mit einer einfachen Röntgenaufnahme kann man nur schemenhaft erkennen, dass sich unter dem eigentlichen Gemälde ein weiteres Bild befindet. Mit der viel intensiveren Synchrotronstrahlungsquelle eröffnen sich mehr Möglichkeiten das Geheimnis des Bildes hinter dem Bild zu lüften. Synchrotron in Grenoble, Frankreich

Hinter dem Ausschnitt des van-Gogh-Bildes „Gras-Stelle“ im oberen Bild verbirgt sich ein Gesicht, das mit einer gewöhnlichen Röntgenaufnahme nur schemenhaft zu erkennen ist (Bild unten links). Mit durch Synchrotronstrahlung angeregter Fluoreszenz ist das Gesicht deutlich rekonstruierbar (unten rechts).

Eine Weiterentwicklung der Synchrotronstrahlungsquellen führt zu einem Freie-Elektronen-Laser (FEL). Durch eine gesteigerte Intensität und kurze Pulsdauer können chemisch schnell ablaufende Reaktionen wie z. B. die Photosynthese beobachtet werden.

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5 Detektoren und Beschleuniger

Typische Detektoren an Beschleunigern Groß und Klein unter den Detektoren

Teilchenphysikdetektoren gibt es in einer großen Vielfalt. Sie stehen z. B. kilometertief unter Fels oder Eis oder sind riesige Wassertanks und werden ständig von Teilchen aus dem Kosmos durchdrungen (). Sehr viele Experimente an Teilchenbeschleunigern lassen sich aber in zwei Kategorien einteilen: Collider oder FixedTarget-Experimente. Für diese beiden Arten soll je ein aktuelles Beispiel vorgestellt werden.

CMS bedeutet Compact Muon Solenoid, also ein kompakter Detektor mit einem Solenoid-Elektromagneten und etwas mit Myonen. Einen Solenoid-Elektromagneten kann man sich wie eine Garnrolle vorstellen, bei der der Strom durch das aufgewickelte Garn fließt. Dabei entsteht ein gleichförmiges Magnetfeld im Inneren der Wicklung der Garnrolle. „Kompakt“ ist bei CMS übrigens relativ: Der Detektor hat etwas mehr als 20 Meter Durchmesser und wiegt 14.000 Tonnen. Dies Der CMS-Detektor ist einer der beiden großen Mehr- lässt sich auf dem Foto erahnen. zweck-Detektoren für Collider-Experimente am LHC () am CERN. Das bedeutet, dass das Experiment so CMS ist ein Collider-Detektor, das bedeutet, dass er entworfen wurde, dass eine sehr große Bandbreite an den Punkt, an dem der Beschleuniger Teilchenpakephysikalischen Themen abgedeckt werden kann. Etwa te aus Protonen mit einer Schwerpunktsenergie von 4.000 Forschende aus aller Welt haben den Detek- 13,6 TeV zur Kollision bringt, von allen Seiten wie tor erbaut und betreiben seine Instrumente. Pro Jahr eine liegende Tonne umschließt. Ganz in seinem Inveröffentlichen sie gemeinsam etwa hundert Beiträge neren entstehen bei der Kollision von Protonen neue in wissenschaftlichen Journalen, die von einer großen Teilchen, die den Detektor in alle Richtungen durchBandbreite teilchenphysikalischer Themen handeln. dringen und gemessen werden. Weil die kollidierenden Der CMS-Detektor: ein Collider-Detektor

Teilchenkollision im CMS-Detektor Protonstrahl

Teilchenspuren im Detektor

Kollision Protonstrahl

Direkte Suche nach der Dunklen Materie  S. 288, Ultrahochenergetische kosmische Strahlung  S. 316, Große Detektoren tief im Berg  S. 126 und Kosmische Strahlung  S. 314 Wie funktioniert ein Beschleuniger?  S. 62 Der LHC-Beschleunigerkomplex am CERN  S. 112

Typische Detektoren an Beschleunigern

125

Protonen von beiden Seiten her mit gleichem Impuls- zweiten Target mit polarisierter Materie zur Wechselbetrag aufeinandertreffen, muss nach der Impulserhal- wirkung gebracht, und der Detektor untersucht darauftung auch das Resultat der Kollision symmetrisch ver- hin die daraus resultierenden Zerfallsprodukte. teilt sein – daher die zylindrische Form des Detektors. Nicht alle Beschleuniger sind auf die gleichen EigenIn der Zeichnung ist aus dem CMS-Detektor ein Tor- schaften hinaus optimiert. Der Beschleuniger ELSA tenstück herausgeschnitten (siehe auch Signaturen von z. B. ist eine der wenigen Anlagen auf der Welt, von der Teilchen ), so dass eine typische Teilchenreaktion in jedem Umlauf auch einzelne Elementarteilchen vom sichtbar wird. Mit dem zwiebelschalenförmigen Auf- Beschleuniger entnommen werden können. So kann bau des Detektors werden die schwarz gezeichneten dem Experiment eine Abfolge einzeln messbarer Teilund in der Kollision entstandenen Teilchen von innen chen nacheinander statt jeweils einem ganzen Paket zur nach außen in allen ihren Eigenschaften vermessen: Verfügung gestellt werden. Daraus und aus der PolarisaErst werden die Herkunftsorte und Spuren der elek- tion der Elektronen ergeben sich ganz andere Möglichtrisch geladenen Teilchen gemessen (Magenta und keiten für Messungen als an anderen Beschleunigern. Dunkelcyan), dann die Energie (Cyan und Gelb), da- Weil das Target, also das Ziel, auf das die Elektronen nach kommt die Magnetspule, der Solenoid (Grau), geschossen werden, sich nicht bewegt, sorgt der Impuls und anschließend werden die am wenigsten wechsel- der Elektronen, der bei der Wechselwirkung übertrawirkenden detektierbaren Teilchen, die Myonen, wei- gen wird, für eine Bündelung der Reaktionsprodukte: terverfolgt. Alle Teilchen fliegen wie in einem liegenden Blumenstrauß nach vorne weiter – daher ist das Experiment Aufgrund des starken Magnetfelds und der Möglich- eher wie ein Kegel und nicht wie eine Tonne aufgebaut. keit, die Myonen einmal innerhalb der Magnetspule Auch wenn das Experiment nur ca. vier Meter breit und dann noch einmal außerhalb mit einem Spurde- und zehn Meter lang ist, besteht es trotzdem auch aus tekror zu untersuchen, hat der Detektor auch seinen spezialisierten Lagen einzelner Subdetektoren, die alle Namen Compact Muon Solenoid, die „kompakte miteinander wieder die gemeinsame Mission erfüllen: Magnetspule für Myonen“. Alle wichtigen Eigenschaften aller Teilchen im Ereignis zu messen. Aber bei Weitem nicht alle Experimente sind so groß wie CMS oder werden von so vielen Physikerinnen und Physikern betrieben. Und bei Weitem nicht alle stehen an Collidern. Als weiteres Beispiel dient hier Der BGO-ODdas BGO-OD-Experiment in Bonn am Beschleuniger Detektor: ein ELSA, wo Elektronen mit der im Vergleich zu LHC Fixed-Targetwinzigen Energie von 3,2 GeV auf ein Fixed Target Experiment. geschossen werden, um daraus hochenergetische Photonen zu produzieren. Diese werden dann in einem

Signaturen von Teilchen  S. 76

126

5 Detektoren und Beschleuniger

Große Detektoren tief im Berg Die schwierige Jagd nach Neutrinos

Neutrinos () sind alles andere als reaktionsfreudig, weshalb zur Untersuchung ihrer Eigenschaften viele Neutrinos und große Detektionsvolumen notwendig sind. Die Detektoren zum ersten Nachweis von Neutrinos 1956 waren mit insgesamt ca. 400 Liter Wasser noch recht klein. Das wurde kompensiert durch den enormen Fluss an Neutrinos, die in den Reaktionen in einem Kernreaktor entstehen, so dass sehr nahe am Reaktor etwa jede halbe Stunde eine Neutrinoreaktion beobachtet wurde. Die größten heute aufgebauten Neutrinodetektoren enthalten viele tausend Kubikmeter an Detektionsvolumen. Selbst das wird noch übertroffen, wenn Meerwasser oder arktisches Eis als Detektionsmaterial verwendet wird. Alle diese Detektoren funktionieren nach demselben Prinzip: Durch Reaktionen der schwachen Wechselwirkung () mit den Protonen im Detektor wird das Neutrino in ein Elektron oder ein Myon umgewandelt. Als geladene Teilchen werden ˇ erenkovlicht () diese in den Detektoren z. B. durch C nachgewiesen.

nen Wasser, welches mit 2.048 Photomultiplieren () beobachtet wurde. Wasser wurde gewählt, da es das kostengünstigste Material mit einem sehr hohen Protonenanteil ist. Weitere derartige Detektoren standen in einem Seitenstollen des Fréjus-Tunnels in den Alpen und in der Kamioka-Mine in Japan. Der etwa 900 Tonnen schwere Fréjus-Detektor bestand aus abwechselnden Lagen aus Eisen und Szintillatorplatten. Wegen der hohen Dichte reagieren Neutrinos hauptsächlich im Eisen und erzeugen dabei geladene Teilchen, deren Spuren im Szintillator nachverfolgt werden können. Das Kamioka Nucleon Decay Experiment, kurz Kamiokande-Experiment, bestand aus 3.000 Tonnen Wasser und 1.000 Photomultiplieren zum Nachweis ˇ erenkovlicht. Es wurde 1996 durch Super-Kavon C miokande mit 50.000 Tonnen Wasser und etwa 13.000 Photomultiplieren abgelöst. Mit Super-Kamiokande Im Inneren des noch leeren Borexino-Detektors zur Untersuchung von Sonnenneutrinos. Das Bild zeigt die Photomultiplier zur Messung des Szintillationslichtes.

Angetrieben durch die ersten überraschenden Ergebnisse der Vermessung solarer Neutrinos begann in den 1980er Jahren das Interesse, Oszillationen von Sonnenneutrinos () aus Kernreaktoren oder aus der kosmischen Strahlung – sogenannte atmosphärische Neutrinos – genauer zu untersuchen. Zunächst wurden dazu schon existierende große Detektoren genutzt, die zur Suche nach einem anderen seltenen, bisher hypothetischen Ereignis, dem Protonenzerfall (), aufgebaut wurden. Ein Beispiel dafür ist der IMB-Detektor in einem Salzbergwerk in den USA mit 10.000 Ton-

Neutrinos  S. 184 Die schwache Wechselwirkung  S. 166 Îerenkov-Strahlung und Teilchenidentifikation  S. 78 Neutrinos von der Sonne  S. 320, Neutrinooszillationen  S. 186 Protonenzerfall  S. 298

Große Detektoren tief im Berg

wurden erstmals Neutrinooszillationen eindeutig nachgewiesen, das solare Neutrinodefizit des Davis-Experimentes bestätigt und Oszillationen von Neutrinos untersucht, die in 250 Kilometer entfernten Teilchenbeschleunigern erzeugt wurden ().

127

Der MINOS-Detektor, bestehend aus Eisenplatten und Szintillationsdetektoren, untersucht Neutrinos aus einem 720 km entfernten Beschleuniger.

Spektakuläres ereignete sich am 24. Februar 1987: Während es normalerweise selbst in Super-Kamiokande nur alle paar Stunden zu einem Neutrinoereignis kommt, wurden an diesem Tag von der Supernova 1987A innerhalb von nur dreizehn Sekunden elf Neutrinosignale in Kamiokande registriert. Gleichzeitig wurden im IMB-Detektor acht und in zwei Detektoren in Frankreich und in Russland je fünf weitere Neutrinosignale gemessen. Dies war der erste und bisher einzige Nachweis von Neutrinos aus einer Supernova () und eine Bestätigung der Vorstellung, dass die Energie einer Supernova hauptsächlich von Neutrinos davongetragen wird.

Mit dem KM3Net-Detektor nutzt man das Wasser des Mittelmeeres. In etwa 3.000 m Tiefe sind Photomultiplier installiert.

Kilometer entfernten Fermi-Labor. DUNE wird aus 70.000 Tonnen flüssigem Argon bestehen, was einem Volumen eines Würfels mit 37 Metern Kantenlänge entspricht.

Das größte von Menschen aufgebaute Detektorvolumen wird Hyper-Kamiokande in Japan enthalten. 260.000 Tonnen Wasser werden etwa zehn mal mehr nutzbares Volumen bereitstellen, als dies mit SuperKamiokande der Fall war. Damit wird nicht nur ein breites Spektrum an Neutrinophysik abgedeckt, sondern auch die Suche nach dem Protonenzerfall fortgesetzt. Der Einfallsreichtum einiger Physikerinnen und PhysiHeute werden die Detektoren immer größer, um die ker hat aber noch viel größere Detektoren ermöglicht. Sensitivität weiter zu steigern. JUNO wird mit 25.000 Die Idee ist, natürlich vorkommendes DetektormateriTonnen der größte Flüssigszintillatordetektor sein, al wie Meerwasser oder das Eis der Antarktis zu nutzen. der je gebaut wurde. Er wird in China ab dem Jahre Die bei Weitem größten Detektoren sind KM3Net im 2024 Oszillationen von Neutrinos aus Kernreaktoren Wasser des Mittelmeers und IceCube in der Eisdecke in 50 Kilometer Entfernung untersuchen. Die in einer am Südpol. Dabei sind Volumen von einem KubikkiAcrylkugel enthaltene Szintillatorflüssigkeit wird mit lometer, entsprechend einer Milliarde Tonnen, Wasser 53.000 Photomultiplieren beobachtet. Ebenfalls im oder Eis mit Photomultiplieren bestückt, um Spuren Aufbau befindlich ist DUNE in den USA, ein Detektor sehr hochenergetischer Neutrinos aus astrophysikalizur Vermessung von Neutrinos erzeugt in dem 1.300 schen Quellen zu beobachten ().

Szintillatoren und Photomultiplier  S. 70 Überprüfung von Neutrinooszillationen  S. 238 Supernovae als Teilchenphysiklabore  S. 300 Multimessenger-Astronomie  S. 318

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5 Detektoren und Beschleuniger

Tieftemperaturdetektoren Höchste Ansprüche bei tiefsten Temperaturen

Teilchen werden gemessen, indem ihre Wechselwirkung nachgewiesen wird. Dabei übertragen sie Energie auf die Materie des Detektors. Meistens ist es die elektromagnetische Wechselwirkung (), mit der freie Ladungen oder Licht und damit ein messbares Signal für den Nachweis des Teilchens erzeugt werden (Halbleiterdetektoren , Szintillatoren ). Wie aber weist man Teilchen nach, die nicht oder nur sehr ineffizient elektromagnetisch wechselwirken?

dem absoluten Nullpunkt betrieben, um bei einem gegebenen Energieübertrag eine möglichst große relative Temperaturerhöhung zu bekommen.

Man kann nahezu aus jedem Festkörpermaterial Tieftemperaturdetektoren herstellen und sie damit auf die physikalische Fragestellung anpassen. Beispielsweise bei der Suche nach dem neutrinolosen doppelten 𝛽-Zerfall () kommt nur eine begrenzte Anzahl von Isotopen als Quelle in Frage. Mit TieftemperaturdeUnabhängig von der Art der Wechselwirkung führt tektoren ist es möglich, Detektoren aus Materialien mit jeder Energieübertrag letztendlich zu einer Tempera- einigen dieser Isotope zu realisieren. Ein prominentes turerhöhung. Temperatur ist ein Maß für die mittlere Beispiel dafür ist das CUORE-Projekt im Gran-SassoBewegungsenergie von beispielsweise Atomschwin- Untergrundlabor in Italien, welches mit etwa einer gungen eines Materials. Wird von einem Teilchen Tonne Telluriumoxid (TeO2) das weltweit bisher größEnergie auf nur ein Atom übertragen, so verteilt sich te System aus Tieftemperaturdetektoren betreibt. die Energie nach und nach gleichmäßig auf alle Atome und wir können von einer Temperaturerhöhung spre- Kamera mit 1.200 Pixeln aus sehr kleinen Tieftemperaturdetektoren. Solche Kameras werden zur Erzeugung von Bildern im Röntchen. Die Messung dieser Temperaturerhöhung als Si- genlicht auf satellitengestützten Röntgenteleskopen eingesetzt. gnal zum Teilchennachweis ist das Prinzip sogenannter Tieftemperaturdetektoren . Tieftemperaturdetektoren werden für die Untersuchung von Neutrinos, zur Suche nach den Teilchen der Dunklen Materie () oder für die Messung schwerer Ionen eingesetzt. Auch für einige Bereiche der Astrophysik, wie bei der genauen Untersuchung des kosmischen Mikrowellenhintergrundes oder der hochauflösenden Spektroskopie von astrophysikalischen Röntgenquellen, sind sie auf Beobachtungssatelliten zu finden. Die Detektoren werden bei tiefen Temperaturen unterhalb etwa einem Zehntel Grad Kelvin über

Wechselwirkung zwischen Teilchen und Materie  S. 64 Halbleiterdetektoren  S. 66 Szintillatoren und Photomultiplier  S. 134 Dunkle Materie  S. 268, Direkte Suche nach der Dunklen Materie  S. 288 Neutrinoloser doppelter 𝛽-Zerfall: Ist das Neutrino sein eigenes Antiteilchen?  S. 278

Tieftemperaturdetektoren

129

Zur genauen Messung der Temperaturerhöhung kommt fast jede messbare Größe in Frage, die sich mit der Temperatur ändert. Am weitesten verbreitet ist die Messung des temperaturabhängigen elektrischen Widerstandes eines Halbleiters oder die dramatische Änderung des elektrischen Widerstandes eines Supraleiters. Dies sind Metalle, die unterhalb einer kritischen Temperatur ihre Phase zur sogenannten Supraleitung ändern, wobei der elektrische Widerstand komplett

Messung der Neutrinomasse  S. 240

elektrischer Widerstand R [mOhm]

verschwindet. Dabei ist die Widerstandsänderung bei kleinen Temperaturschwankungen extrem groß, was man zur sehr präzisen Temperaturmessung nutzen kann. Beim Versuch, die Teilchen der Dunklen Materie direkt nachzuweisen, haben sich Kombinationen des Nachweisprinzips von Tieftemperaturdetektoren mit den herkömmlichen Detektionsmethoden durchgesetzt. So misst man gleichzeitig zur Temperaturerhöhung auch die Menge des erzeugten Lichtes oder die erzeugte Ladung. Das Verhältnis von Temperaturerhöhung zur Licht- oder Ladungsmenge variiert bei der Messung verschiedener Teilchen, die so unterschieden werden können. Die Möglichkeiten, Teilchen zu Im CUORE-Experiment – hier beim Einbau – werden etwa 1.000 untersuchen, werden dadurch stark erweitert und die Tieftemperaturdetektoren, jeweils aus einem ein Kilogramm Sensitivität auf bisher unbekannte Teilchen erhöht. Es schweren TeO2-Kristall, bei einer Temperatur von 20 mK betrieben. geht nicht darum, die einzelnen Detektionsprinzipien gegeneinander auszuspielen – wie so oft im Leben ist Mit Tieftemperaturdetektoren sind deutlich niedrige- man auch hier gemeinsam stärker. re Energieschwellen und bessere Energieauflösungen 120 möglich als mit herkömmlichen Detektoren. Das ist der entscheidende Vorteil der wachsenden Bedeutung 100 von Tieftemperaturdetektoren in der Astrophysik wie z. B. der hochauflösenden Spektroskopie von astrophy80 sikalischen Röntgenquellen. Auch werden sie daher als Möglichkeit zur Bestimmung der Neutrinomasse ΔR 60 durch hochauflösende 𝛽-Spektroskopie untersucht (). 40 20 ΔT 0

8

10 12 Temperatur T [mK]

14

Bei der kritischen Temperatur, hier bei etwa 11 mK, ändert sich der Widerstand eines Supraleiters sehr stark. Eine kleine Temperaturänderung führt zu einer sehr großen messbaren Änderung des Widerstandes.

130

5 Detektoren und Beschleuniger

Flüssige Edelgase als Detektoren Seltene Flüssigkeiten zur Suche nach seltenen Teilchen

Häufig brauchen Forschende in der Teilchenphysik sehr große Detektoren. Dies kann notwendig sein, um hochenergetische Teilchen, die bei Reaktionen an Beschleunigern erzeugt werden, effektiv zu stoppen und zu analysieren oder einfach, weil die Reaktionen, nach denen man sucht, extrem selten sind. Sollen z. B. Neutrinos nachgewiesen werden oder nach Reaktionen hypothetischer Teilchen der Dunklen Materie gesucht werden, ist die Chance, ein Signal zu sehen, umso größer, je größer das Detektorvolumen ist. Messbare Signale nach Teilchenreaktionen werden in den meisten Detektoren durch Ionisation, also der Entstehung freier Elektronen und Ionen, oder Szintillation, also der Entstehung von Licht, erzeugt (). Freie Ladungen driften dabei in einem elektrischen Feld zu Elektroden, wo sie als Stromsignal gemessen werden, während die Photonen des Lichts von Photomultiplieren nachgewiesen werden. Da es nicht immer möglich ist, freie Ladungen über große Strecken zu transportieren, Licht sich dagegen „von selbst“ ausbreitet, sind großvolumige Detektoren in aller Regel Szintillationsdetektoren (). In vielen Fällen sind sie aus organischen Flüssigkeiten aufgebaut, da sich damit relativ kostensparend große Detektoren realisieren lassen. Für viele Anwendungen sind aber die leichten Elemente der organischen Szintillatoren, hauptsächlich Wasserstoff, Kohlenstoff und Sauerstoff, keine gute Wahl für die physikalische Fragestellung. Dann kommen flüssige Edelgase, insbesondere Argon und Xenon, die beide auch sehr gute Szintil-

Wechselwirkung zwischen Teilchen und Materie  S. 64 Szintillatoren und Photomultiplier  S. 70 Dunkle Materie  S. 268 Direkte Suche nach der Dunklen Materie  S. 288

Kontrolle der Photomultiplier zur Messung des Szintillationslichtes aus dem XENON-Detektor zur Suche nach den Teilchen der Dunklen Materie

latoren sind, zum Einsatz. Abgekühlt auf etwa −200 °C werden Argon und Xenon flüssig und sind als Szintillatoren hoher Dichte, bestehend aus relativ schweren Atomen, einsetzbar. Aufgrund ihrer hohen Dichte und im Vergleich zu organischen Flüssigkeiten hoher Kernladungszahl können hochenergetische Teilchen darin besser gestoppt werden, um über das erzeugte Szintillationslicht ihre Energie zu messen. Bei der direkten Suche nach Teilchen der Dunklen Materie () versucht man die Streuung der Teilchen an Atomkernen nachzuweisen (). Bei der Streuung überträgt das Dunkle-Materie-Teilchen einen Teil seiner Bewegungsenergie auf den Atomkern. Wie beim Billard, wenn gleich schwere Kugeln aufeinander stoßen, ist der Energieübertrag bei der Streuung am größten, je ähnlicher sich die Massen von Teilchen und Atomkern sind. Insbesondere mit Xenondetektoren – die Atommasse von Xenon beträgt 130 GeV/c 2 – kann man daher sehr effektiv nach relativ schweren Teilchen im

Flüssige Edelgase als Detektoren

Bereich um 100 GeV/c 2 in der Dunklen Materie suchen, wie etwa mit dem XENON-Experiment. Auch Flüssigargon mit einer Atommasse von 40 GeV/c 2 ist ein hervorragendes Detektormaterial zur Suche nach der Dunklen Materie, wie es z. B. vom Experiment DEAP verwendet wird. Die Edelgase Xenon und Argon werden aus der Luft gewonnen. Eine Besonderheit von Argon ist, dass dabei neben dem Hauptbestandteil 40Ar auch Spuren von 39Ar aus der Luft extrahiert werden. 39Ar ist instabil, es wird durch die kosmische Strahlung in der Atmosphäre gebildet und zerfällt mit einer Halbwertszeit von 269 Jahren durch 𝛽-Zerfall. Für den Nachweis sehr seltener Ereignisse, wie bei der Suche nach Dunkler Materie, stellt dies im Detektormaterial einen störenden Untergrund dar. Daher wird für das Dark-Side-Experiment das Argon nicht aus der Luft, sondern aus vor der kosmischen Strahlung geschützten Untergrundquellen gewonnen. Auch Xenon besteht aus einer Reihe von Isotopen. Dabei ist insbesondere 136Xe interessant, da es sich über den doppelten 𝛽-Zerfall umwandelt. Deshalb bieten Flüssigxenondetektoren, angereichert mit 136Xe, eine hervorragende Möglichkeit, nach dem neutrinolosen doppelten 𝛽-Zerfall () zu suchen, wie dies mit dem nEXO-Experiment gemacht wird. In den allermeisten Fällen beschränkt man sich nicht auf den Nachweis des Szintillationslichtes, sondern nutzt die gleichzeitig durch Ionisation erzeugte Ladung als Signal. Die Kunst dabei ist, die erzeugten Elektronen in den großvolumigen Detektoren über große Strecken zu Ausleseelektroden zu transportieren. Dazu muss das flüssige Edelgas sehr rein und das elektrische Feld sehr hoch sein. Driften die Elektronen, die entlang der Spur eines Teilchens im Detektor erzeugt wurden z. B. zu Elektroden nach unten, entsteht auf den Elektroden

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ähnlich wie bei einem Schatten ein Projektionsbild der ursprünglichen Teilchenspur. Zusammen mit dem prompten Szintillationslicht als Startsignal kann die Teilchenspur in drei Dimensionen rekonstruiert werden. Solche Detektoren nennt man TPC – time projection chamber (Zeitprojektionskammer). Ein solcher TPC-Detektor () wird für das Neutrinooszillationsexperiment DUNE () aufgebaut. Die Neutrinos werden in einem Beschleuniger am Fermi-Labor erzeugt und 1.300 Kilometer entfernt in einem TPC-Detektor nachgewiesen. Mit der Möglichkeit zur Spurrekonstruktion können Teilchen, die nicht aus der Richtung des Beschleunigerstrahls kommen, aussortiert werden. TPCDetektoren sind die Weiterentwicklung des einhundert Jahre alten Prinzips in Nebelkammern (und später in Blasenkammern) Teilchenspuren sichtbar zu machen, wobei man ausnutzt, dass sich entlang der Spur der ionisierenden Teilchen unter geeigneten Bedingungen sichtbare Tröpfchen oder Dampfbläschen bilden.

Flüssigargondetektor des DEAP-Experimentes. 255 Photomultiplier umschließen das Volumen mit 3,6 Tonnen flüssigem Argon.

Neutrinoloser doppelter 𝛽-Zerfall: Ist das Neutrino sein eigenes Antiteilchen?  S. 278 Gasbasierte Detektoren  S. 68 Überprüfung von Neutrinooszillationen  S. 238

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5 Detektoren und Beschleuniger

Teilchenfallen Eingesperrte Teilchen

Oft stellt man sich vor, dass Teilchenphysik nur mit riesigen Beschleunigeranlagen und Kollaborationen mit mehreren Tausend Mitgliedern betrieben werden kann. Doch auch mit Tischexperimenten, an denen wenige Forschende beteiligt sind, lassen sich spannende Experimente durchführen. Dies liegt an der dem Standardmodell zugrunde liegenden Quantenfeldtheorie. Neue Teilchen und deren Wechselwirkungen machen sich nicht nur bemerkbar, wenn sie an Beschleunigern in Reaktionen erzeugt werden. Sie hinterlassen auch Spuren in Eigenschaften von uns wohl bekannten Teilchen, wie zum Beispiel dem Proton und Elektron. Diese Eigenschaften können in kleineren Apparaturen untersucht werden. Ein Beispiel für solche Experimente sind Teilchenfallen, in denen einzelne Teilchen in einem kleinen Volumen von nur einigen Kubikzentimetern Größe eingesperrt werden können. Durch eine geschickte Kombination von elektrischen und magnetischen Feldern sorgt man dafür, dass das Teilchen ein vorgegebenes Volumen nicht verlassen und lange untersucht werden kann. Durch die im Bild gezeigte Anordnung eines elektriĺ schen Feldes E , das mittels der Elektroden realisiert ĺ wird, und eines magnetischen Feldes B in axialer Richtung entlang der Symmetrieachse, folgt ein geladenes Teilchen einer komplizierten Bahnkurve in einem kleinen Volumen. Eine solche Anordnung wird nach ihrem Erfinder Penningfalle genannt. Eine andere Möglichkeit, Teilchen zu speichern, ist die Paulfalle, benannt nach dem Nobelpreisträger Wolfgang Paul. Sie arbeitet mit elektrischen Wechselfeldern.

Grundkonzepte der Quantenmechanik  S. 40

Teilchenbewegung (blaue Kurve) in einer Penningfalle mit elektrischem und magnetischem Feld. Die gesamte Anordnung ist nur wenige Zentimeter groß.

In Teilchenfallen können gespeicherte Teilchen, ähnlich wie die Elektronen in Atomen und Molekülen, verschiedene Energieniveaus (siehe Abbildung, Quantenmechanik ) einnehmen, die sehr genau vermessen werden können. Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied: Während in einem Atom der Atomkern, der für die Bindung der Elektronen sorgt, von der Natur vorgegeben ist, kann man sich in einer Falle sein Atom

Teilchenfallen

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sozusagen selbst basteln. Man kann also eine an die Fragestellung angepasste Feldkonfiguration wählen.

In einer Teilchenfalle konnte auch das anomale magnetische Moment des Elektrons mit großer Genauigkeit bestimmt werden, indem man den Übergang eines Teilchenfallen finden in vielen Bereichen der Physik Elektrons zwischen zwei Energieniveaus in der Falle Anwendung. Sie werden beim Aufbau von Quanten- vermessen hat. Da es sich um eine der am besten becomputern verwendet oder sie können dazu dienen, stimmten Größen in der Physik handelt, lohnt es sich, sehr genaue Uhren zu bauen. Für die Teilchenphysik hier einmal den experimentellen Zahlenwert mit der ist die genaue Bestimmung von Massen oder das Ver- Messunsicherheit () in Klammern anzugeben: hältnis von elektrischer Ladung und Masse von Intera = 0, 001 159 652 180 91 (26) . esse, denn Massenbestimmungen liefern u. a. wichtige Beiträge zum Verständnis der Elemententstehungen An anderer Stelle (Präzision ) wird erläutert, dass man (Nukleosynthese ). Auch einzelne Antiteilchen wie diese Größe auch mit ähnlicher Präzision im Rahmen zum Beispiel Antiprotonen können in Fallen gespei- des Standardmodells berechnen kann. Die Übereinchert und vermessen werden. Der Vergleich mit Mes- stimmung von Theorie und Experiment ist einer der sungen am Proton erlaubt dann Rückschlüsse über großen Triumphe des Standardmodells der Teilchenmögliche Symmetrieverletzungen (). physik.

n=4

n=3

n=2

n=1

Vereinfachtes Energieniveauschema eines Elektrons in einer Penningfalle

Nukleosynthese im Urknall  S. 306 Symmetrien  S. 56 Messunsicherheiten  S. 82 Präzisionsexperimente  S. 234

In einer Paulfalle gespeicherte Mehlkörner

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5 Detektoren und Beschleuniger

Positronen-Emissions-Tomographie Nützliche Antimaterie-Vernichtung im Körperinneren

Wir bestehen, wie alles in der Welt um uns herum, aus Materie, deren Bestandteile im Wesentlichen aus Protonen, Neutronen und Elektronen aufgebaut sind. Es exisitiert aber auch Antimaterie () in Form von Antiteilchen, die es zu jedem der bekannten Elementarteilchen gibt. Glücklicherweise kommt Antimaterie nicht in großen Mengen vor, sondern nur in speziellen Reaktionen als einzelne Teilchen. Denn trifft Antimaterie auf Materie, vernichten sie sich gegenseitig und werden zu Strahlung (). So unheilvoll die Vernichtung klingt, man kann sie sich zunutze machen: zur dreidimensionalen Abbildung physiologischer Vorgänge im Körperinneren. Damit kann man z. B. Tumore frühzeitig lokalisieren oder Störungen der Hirnfunktion erkennen.

Die PET-Aufnahme zeigt einen Patienten nach intravenöser Injektion eines glukosehaltigen 𝛽+-Emitters. Neben den normalen Anreicherungen von Glukose in Blase, Nieren und Gehirn sind auch Metastasen eines Tumors am Darmausgang sichtbar.

in gerader Linie in 180° unterschiedliche Richtungen voneinander wegfliegen. Misst man die beiden Photonen an den Orten A und B, so weiß man, dass der Ort der Vernichtung des Positrons, wie im Bild unten gezeigt, auf der Die Idee der Positronen-Emissions-Tomographie, kurz Verbindungslinie zwischen A und B liegen muss. Bevor PET, ist, Antimaterie in Form von Positronen, den An- es mit einem Elektron vernichtet wird, muss das Posititeilchen der Elektronen, gezielt in bestimmte Strukturen im Körper einzubringen. Als geladenes Teilchen wechselwirkt das Positron heftig mit seiner Umgebung und wird innerhalb kürzester Zeit abgebremst und vernichtet sich mit einem der überall vorhandenen Elektronen zu Photonen. Wegen der Energie- und Impulserhaltung werden dabei zwei Photonen erzeugt1, die Nachdem dem Patienten der 𝛽+-Emitter injiziert wurde, wird er auf einer Liege in das PET-System eingeschoben, wo er rundherum von Photonendetektoren umgeben ist. Die beiden Photonen aus der Positron-Elektron-Vernichtung führen zu koinzidenten, d. h. gleichzeitigen, Signalen in zwei um 180° auseinanderliegenden Detektoren.

1

In weniger als 1% der Fälle werden auch drei Photonen erzeugt.

Was ist Antimaterie?  S. 18 Vernichtung Materie-Antimaterie: Feynman-Diagramme II  S. 98, Quantenfeldtheorie  S. 100

Positronen-Emissions-Tomographie

135

man z. B. FDG-Moleküle (18F-2-Fluor-2-desoxy-Dglucose), die am Glukose-Umsatz teilnehmen, werden sie sich zusammen mit dem darin enthaltenen 18F an Stellen mit hohem Energieumsatz anreichern. Damit lassen sich Tumore aufgrund ihres aktiven Zellwachstums oder die Hirnaktivität darstellen. Durch andere Moleküle kann die Aufnahme in bestimmten Organen Positronen werden hier verwendet, da sie die am ein- oder gezielt in Knochen ausgewählt werden. fachsten verfügbare Form der Antimaterie sind. Ist in bestimmten Atomkernen () die sonst übliche Balan- Danach wird der Patient auf einer Liege in das PETce von Neutronen und Protonen gestört, so wandeln System eingefahren, wo er rundum von einer Matrix sich in 𝛽 −- oder 𝛽 +-Zerfällen solange Neutronen und von Detektorelementen zur Photonmessung umgeProtonen ineinander um, bis die Anzahl der beiden ben ist. Gleichzeitig in gegenüberliegenden Detektoausgeglichen ist. Wie bei allen Teilchenreaktionen wer- relementen registrierte Photonen werden als Signal den beim 𝛽 −- und 𝛽 +-Zerfall die Erhaltungssätze für einer Positron-Vernichtung auf der Verbindungslinie Ladung und die Symmetrie von Teilchen und Antiteil- zwischen den beiden Detektorelementen interpretiert. chen eingehalten. Beim 𝛽 −-Zerfall, also der Umwand- Durch Überlagerung vieler solcher Signale kann die lung eines Neutrons in ein Proton, wird ein Elektron dreidimensionale Struktur der Verteilung des Radiound zusätzlich ein Antineutrino emittiert. Da Neutri- pharmaka im Körper rekonstruiert werden. nos () sehr schwer nachweisbar sind, lässt sich mit der Antimaterie in Form des Antineutrinos nicht viel In neueren Entwicklungen werden PET- und Magneanfangen. Ganz anders sieht es beim 𝛽 +-Zerfall aus, tresonanztomographie (MRT, ) kombiniert, um die also der umgekehrten Umwandlung eines Protons in Vorteile der beiden zu vereinen: funktionale Markieein Neutron. Dabei wird ein Neutrino und ein Positron, rung durch PET und bessere Ortsauflösung sowie gudas Antiteilchen zum Elektron, erzeugt. ter Gewebekontrast bei MRT.

tron allerdings abgebremst werden. Dabei kommt es ein bis zwei Millimeter weit. Deshalb liegt der Ort der Erzeugung des Positrons nicht weit von dem Ort der Vernichtung entfernt. Die Genauigkeit der Ortsrekonstruktion von PET ist daher auf ein bis zwei Millimeter begrenzt.

Bei einer PET-Untersuchung werden dem Patienten zuvor sogenannte Radiopharmaka verabreicht. Das sind mit einem 𝛽 +-Emitter versehene Moleküle, die der Körper nicht von den nicht-radioaktiven Versionen unterscheiden kann und somit am normalen Stoffwechsel teilnehmen. Als 𝛽 +-Emitter kommt dabei häufig 18F zum Einsatz, welches mit einer Halbwertszeit von 110 Minuten zu 18O zerfällt (). Die Moleküle, in welche das 18F eingebaut wird, wählt man je nach der Fragestellung der PET-Untersuchung. Nimmt

Von Nukleonen zu Kernen  S. 210 Neutrinos  S. 184 Beschleuniger in der Medizin  S. 118 Magnetresonanztomographie  S. 136

Überlagerung einer PET- und einer Magnetresonanztomographie-Aufnahme eines Gehirns mit Tumor. Während die MRT-Aufnahme eine hohe Ortsauflösung und einen guten Gewebekontrast liefert, markiert die PET-Aufnahme den Tumor.

136

5 Detektoren und Beschleuniger

Magnetresonanztomographie Mit dem Spin ins Innere des Körpers blicken

So abstrakt der Spin () von Teilchen des Gewebes zulässt. Damit können erscheinen mag, lässt er sich dennoch verschiedene Organe, Gefäße und sehr konkret nutzen, um in das Innere Knochen unterschieden und dreidides menschlichen Körpers zu blicken. mensional dargestellt werden. Seit Wilhelm Conrad Röntgen erstmals mit den nach ihm benannten StrahDer Spin von Protonen verhält sich len () die Möglichkeit entdeckte, das wie ein Kreisel. Ein Kreisel dreht Körperinnere schmerzfrei zu untersusich meist nicht nur um seine eigene chen, wurden eine ganze Reihe weiterer Achse, sondern oft tanzt er, wobei die Verfahren entwickelt. Eine davon ist die Drehachse eine weitere KreisbeweMagnetresonanztomographie (MRT). gung ausführt. Diese Präzession geSchnittbild eines Kopfes mit MRT. Sie ist in der medizinischen Bildgebung Die unterschiedlichen Grautöne nannte Bewegung wird durch die auf zum Erhalt unserer Gesundheit nicht spiegeln die jeweilige Dichte an den Kreisel wirkende Gewichtskraft mehr wegzudenken. Ob zur Untersu- Protonen wieder. verursacht. chung von Gelenken, des Gehirns oder der Bauchorgane, bei vielfältigen Untersuchungen ist Die Gewichtskraft spielt bei elementaren Teilchen MRT zu einem Arbeitspferd der medizinischen Bild- keine Rolle, doch man kann stattdessen mit Magnetgebung geworden. feldern Kräfte auf sie ausüben. Der Spin der Teilchen ist mit einem magnetischen Moment verbunden, desAuch unser Körper besteht aus Atomkernen, deren sen Orientierung ähnlich wie bei einer Kompassnadel elementare Bausteine einen Spin tragen. Die überwiegende Mehrheit der Atomkerne im Körper, nämlich 63 %, sind Wasserstoffkerne, die nur aus einem Proton bestehen. Mit MRT wird die räumliche Verteilung der Protonenspins in unserem Körper gemessen. Je nachdem, wie die Protonen im Körper eingebunden sind, in Wassermolekülen, Proteinen oder Fetten, ist ihre mit MRT messbare Dichte unterschiedlich. Daher erhält man mit der Verteilung von Protonen auch ein räumliDurch die angelegten Magnetfelder werden die Spins in eine Präches Bild der Strukturen im Körper. Zusätzlich zu ihrer zessionsbewegung im Gleichtakt gebracht, wobei sie Hochfreräumlichen Verteilung kann die Umgebung der Pro- quenzsignale aussenden. Mit der Zeit geraten die Spins außer Takt tonen erkundet werden, was Rückschlüsse auf die Art oder stoppen die Bewegung, wodurch das Signal abklingt.

Spin  S. 44 Röntgenstrahlung  S. 120

Magnetresonanztomographie

137

Protonen an dem entsprechenden Ort wieder. Auf diese Weise misst man die räumliche Dichteverteilung der Protonen bzw. der Wasserstoffatome und damit die Verteilung der verschiedenen Moleküle, wie Wasser, Proteine oder Fette, die Wasserstoff enthalten. Doch in den Signalen steckt noch mehr Information. Wie schnell die Signale nach einem Startpuls wieder abklingen, hängt von der umgebenden Gewebestruktur ab. Dabei führen zwei Effekte zum Abklingen der Ein zu untersuchender Patient wird in das Magnetfeld gefahren. Signale, die getrennt messbar sind und damit zum ErUm die Patientenröhre herum sind in dem MRT-Gerät die Spulen kennen der Gewebesorten beitragen. Zum einen gerazur Erzeugung der Magnetfelder und zur Messung der Signale unten die kreisenden Spins mit der Zeit aus dem Gleichtergebracht. takt. Wenn nicht mehr alle Spins zu jeder Zeit in die durch ein Magnetfeld beeinflusst werden kann. Legt gleiche Richtung zeigen, werden die erzeugten Signale man ein starkes Magnetfeld an, richten sich zunächst schwächer. Zum anderen klappen die Spins mit der alle magnetischen Momente und damit alle Spins in Zeit wieder in die ursprüngliche Richtung des MagMagnetfeldrichtung aus. Durch einen Startpuls eines netfeldes zurück und tragen nicht mehr zum Signal bei. weiteren, mit hoher Frequenz wechselnden Feldes Die beiden Effekte laufen unterschiedlich schnell ab, senkrecht dazu werden die Spins verkippt und in eine weshalb sich ihre jeweiligen Beiträge zum Abklingen Präzessionsbewegung gebracht. Die Protonenspins der Signale getrennt messen lassen. Die Stärke dieser kreisen im Gleichtakt um die Richtung des Magnetfel- beiden Beiträge lässt Rückschlüsse auf die Gewebesordes, was zu messbaren hochfrequenten Signalen führt. te zu. Die Gesetze der Quantenmechanik führen dazu, dass die Frequenz der Präzessionsbewegung proportional zur Stärke des Magnetfeldes und ansonsten charakteristisch für Protonen ist. Die Frequenz des aufgefangenen Signals verrät somit, wie stark das Magnetfeld am Aufenthaltsort der Protonen ist. Bei MRT-Untersuchungen ordnet man die Magnete so an, dass das Magnetfeld an jedem Ort eine andere Stärke annimmt, womit die Präzessionsfrequenz von Ort zu Ort verschieden ist. Die Intensität des Signals einer bestimmten Frequenz gibt damit die Zahl der

Schnittbilder des Gehirns. Gleicher Patient und gleiche Schicht mit unterschiedlichen Gewebekontrasten, d. h. unterschiedlichen Gewichtungen der beiden Abklingprozesse, womit sich jeweils andere Strukturen und Gewebe im Bild abheben.

6 Grundlagen der Auswertung von Teilchenphysikmessungen Die vorigen Kapitel erklären die Grundlagen der Wechselwirkungen von Teilchen und die Detektortypen, aus denen Teilchenphysikexperimente bestehen. Die physikalischen Ergebnisse purzeln aber nicht gleichsam aus dem Experiment von selbst heraus: Die Detektoren erzeugen elektronische Signale, die aufgezeichnet, gefiltert, zusammengefasst und interpretiert werden müssen. Diese Schritte werden insgesamt als Datennahme und Auswertung bezeichnet. In diesem Kapitel wird der Weg von der Aufnahme einzelner Wechselwirkungen bis zur Interpretation der Ergebnisse im Licht bekannter oder neuer physikalischer Theorien beleuchtet. Er führt über die Auswahl der zu speichernden Ereignisse und die Bestimmung elementarer Messgrößen der einzelnen aufgezeichneten Teilchen bis zur Auswahl der interessanten Ereignisse und Teilchen für eine bestimmte Messung.

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6 Grundlagen der Auswertung von Teilchenphysikmessungen

Trigger und Datenverarbeitung

Der Weg der Nadel im Heuhaufen vom Detektor auf die Festplatte Teilchenphysikexperimente dienen dazu, die interessanten Eigenschaften der Teilchen und ihrer Wechselwirkungen aufnehmen. Vom Ergebnis jeder einzelnen Reaktion zwischen Teilchen wird gleichsam ein Bild gemacht. Eine große Herausforderung ist aber die Frage: Wann und von was soll der Detektor ein Bild machen? Und ist es interessant genug, um die rekonstruierte Information über die gemessenen Prozesse auf einem Speichermedium aufzubewahren? Es kann zwei Gründe für diese Frage geben: Entweder passiert nur recht selten etwas Interessantes (etwa in der Suche nach einer Wechselwirkung von Neutrinos (Große Detektoren tief im Berg ) oder Dunkler Materie), oder es passiert quasi andauernd etwas, und es muss entschieden werden, was davon interessant und was uninteressant ist. Die für diese Entscheidung notwendige Komponente der Experimente heißt Trigger.

großen Festplatten pro Sekunde. Diese Datenmenge kann in ihrer Gesamtheit nicht gespeichert werden. Sie kann sogar noch nicht einmal schnell genug aus den in den Detektor eingebauten Chips entnommen werden. Doch ein Großteil der Ereignisse ist für die Auswertung nicht besonders interessant: Dass irgendeine schon gut bekannte Wechselwirkung am LHC passiert, Ein typischer Trigger besteht aus mehreren Stufen und ist z. B. in etwa eine Milliarde mal wahrscheinlicher, als ist in den meisten Experimenten eng mit der Weiter- dass ein für die Forschenden von heute interessantes verarbeitung der Daten in Computern verbunden: der Higgs-Boson produziert wird (). Data Acquisition, also der Entnahme aller Daten aus dem Detektor, der Kalibrierung der Rekonstruktions- Der Trigger soll also so genau wie möglich alle Ereigalgorithmen und der Rekonstruktion der Ereignisse. nisse mit interessanten Teilchen finden und aufzeichIn einem Experiment wie dem ATLAS- oder dem nen und von den uninteressanten nur ein paar, die entCMS-Experiment () am LHC () am CERN gesche- weder falsch identifiziert wurden oder notwendig zur hen etwa 1,7 Milliarden Kollisionen von Protonen pro Überprüfung der Funktion des Triggers sind. Es werSekunde – im Idealfall fast andauernd, mit nur kurzen den also nur deshalb mit gewaltigem Aufwand 1,7 MilPausen, wenn der Beschleuniger mit neuen Teilchen- liarden Kollisionen pro Sekunde produziert, gemessen, paketen befüllt wird. Dabei entsteht in den einzelnen und dann vom Trigger fast gänzlich weggeworfen, daDetektoren etwa ein Petabyte an Daten pro Sekunde. mit unter den etwa 2.000 vom Trigger aufgezeichneten Das wäre der Inhalt von 1.000 jeweils ein Terabyte Ereignissen pro Sekunde in etwa ein Higgs-Boson ist.

Große Detektoren tief im Berg  S. 126 Typische Detektoren an Beschleunigern  S. 124 Der LHC-Beschleunigerkomplex am CERN  S. 112 Die Hürden des Erfolgs  S. 250

Trigger und Datenverarbeitung

141

Illustration der Funktion des Triggers: die leichtere Erkennung der Nadel im Heuhaufen (unten Mitte) durch die Reduktion auf das Wesentlichste

die Stecknadel rot und sticht hervor. Dieses Ereignis wird also komplett mit aller Information aus dem Detektor ausgelesen und weiter verarbeitet, die anderen beiden verworfen. Die Fotos der Suche nach der Nadel im Heuhaufen illustrieren, wie der Trigger das macht: Die obere Zeile zeigt drei verschiedene „Ereignisse“ mit der vollen Information, die dem Detektor aufgrund der ungeheuren Datenmenge nicht entnommen werden kann. Deshalb wird in der ersten Triggerstufe nur die relevanteste Information entnommen – in der zweiten Zeile dargestellt durch die Helligkeit und die rote Farbe, da die Physikerinnen und Physiker – bildlich gesprochen – von ihrem gesuchten Ereignis erwarten, dass es eine rote Komponente enthält. In der Realität könnte dies z. B. Information aus Kalorimetern (Energiemessung ) und speziellen Komponenten des Myondetektors sein. Aber auch in der mittleren Zeile ist die Stecknadel noch schwer zu finden, und die Ereignisse sind immer noch sehr detailliert, beinhalten also immer noch zu viele Informationen, um sie dem Detektor zu entnehmen. Daher werden die Daten weiter reduziert, wobei die Vereinfachung so optimiert wird, dass die Eigenschaften der echten gesuchten Ereignisse möglichst gut erhalten bleiben. Das stellt die unterste Zeile dar: Der Kontrast ist reduziert und die Auflösung stark vereinfacht. Und siehe da: Nun ist im unteren mittleren Bild nur noch

Energiemessung von Teilchen  S. 74

Sehr stark ist der Kontrast aber immer noch nicht. In vielen Experimenten stellt der Trigger eine der herausforderndsten Komponenten dar. Ein Fehler im Design des Triggers könnte bedeuten, dass große Entdeckungen verpasst werden. Wurde das Ereignis jedoch aufgezeichnet, verbessert die folgende Kalibration und Rekonstruktion mit viel Aufwand das Bild weiter, und im Idealfall kann die Nadel im Heuhaufen gefunden werden.

Illustration des vollständig rekonstruierten Bildes: Die gespeicherten Bilder lassen in der Analyse die volle Information erkennen.

142

6 Grundlagen der Auswertung von Teilchenphysikmessungen

Datenauswertung

Aus sehr vielen Informationen das Spannende herausfinden Die Experimente der Teilchenpysik nehmen oft sehr große Datenmengen auf. Beim ATLAS- und dem CMS-Experiment am LHC () am CERN werden während der Datennahmeperioden zu fast jeder Uhrzeit, egal ob Tag oder Nacht, etwa 2.000 Kollisionen von Protonen pro Sekunde aufgezeichnet und dazu etwa 60 Terabyte an Daten pro Sekunde aus den Detektoren ausgelesen. Die Auswertung der Teilchenphysikprozesse dieser Kollisionen unter bestimmten Gesichtspunkten nennt man Analyse. Das Ziel einer Analyse ist es, aus den aufgezeichneten und rekonstruierten Informationen Zusammenhänge und Erkenntnisse über die beteiligten Teilchenphysik-Prozesse zu gewinnen. Ein Beispiel hierfür wäre, wie oft eine Reaktion mit bestimmten Teilchen stattfindet. Oft werden hierzu die Masse eines zerfallenden Teilchens (), die Größe der Impulse der Endzustandsteilchen oder komplexere Informationen genutzt. Dabei setzen die Teilchenphysikerinnen und -physiker auch Methoden des maschinellen Lernens wie neuronale Netze oder Deep Learning () ein. Die Datenauswertung einer Analyse beinhaltet sehr viele Einzelschritte, von denen hier nur zwei wichtige herausgegriffen werden sollen: die Selektion, also das Auswählen der Ereignisse, welche den größten Beitrag zum Ergebnis leisten, und die statistische Analyse des Ergebnisses der Selektion, typischerweise, um eine Ausschlussgrenze oder eine Signifikanz () zu berechnen. Einen sehr großen Anteil der Arbeit nimmt aber auch die genaue Abschätzung der Unsicherheiten () mithilfe von Simulationen und Daten ein. Oft ist es

𝜈¯e

q Z/𝛾

W

q



𝜈¯e

e− 𝜈𝜇

W–

W+ ¯q

Signal

𝜇+

¯q ′

e−

W + Jets-Untergrund

Die Erzeugung des Signals (links) und des häufigsten Untergrunds (rechts). Die untersuchte Kopplung von drei Eichbosonen ist mit dem violetten Punkt dargestellt.

Aufgabe eines oder mehrerer Doktorandinnen und Doktoranden, während der Vorbereitung ihrer Doktorarbeit eine dieser Analysen mit wachsender Verantwortung durchzuführen. Als Beispiel sehen wir uns hier eine Messung des ATLAS-Experiments an. Es wird untersucht, ob sich Ereignisse, bei denen zwei W-Bosonen produziert werden und einerseits in ein Elektron plus ElektronAntineutrino und andererseits in ein Myon plus Myon-Neutrino zerfallen, genauso verhalten, wie vom Standardmodell vorhergesagt (siehe Feynman-Diagramm oben links). Die so produzierten (Anti-)Neutrinos können im ATLAS-Detektor nur indirekt durch ihre „fehlende Energie“ (ETmiss) nachgewiesen werden – also der vom Detektor nicht gemessenen Energie, die aufgrund der erwarteten Energieerhaltung aber von irgendeinem Produkt der Reaktion getragen werden muss. Um solche Ereignisse zu selektieren, nutzt man aus, dass das gesuchte „Signal“ sich von Untergrundprozessen unterscheidet. Über mehrere Schritte fordert man daher, dass immer mehr Eigenschaften der behal-

Der LHC-Beschleunigerkomplex am CERN  S. 112 Identifikation der Teilchensorte über die Masse  S. 144 Neuronale Netzwerke und maschinelles Lernen  S. 158 Veröffentlichen, was es nicht gibt  S. 150 und Schlüsse ziehen aus Statistik  S. 148 Die Bestimmung von Messunsicherheiten  S. 146

tenen Ereignisse jeweils alle der Erwartung der Signalsimulation entsprechen. Ein Beispiel für einen Untergrundprozess ist die Produktion eines einzelnen W-Bosons (rechtes Feynman-Diagramm der Abbildung): Dieser Endzustand unterscheidet sich z. B. dadurch vom Signal, dass er im Mittel kleinere ETmiss-Werte aufweist. In den Abbildungen rechts ist eine solche Selektion Schritt für Schritt zu sehen: Die beobachtete Verteilung von ETmiss, die Zahl der Jets () und der Impulsanteil von Elektron und Myon quer zur Strahlachse des Beschleunigers (pT(e𝜇)).

Ereignisse

143

Ereignisse / 5 GeV

Datenauswertung

104 103 102

1000

10 1 0

Ereignisse / 10 GeV/c

2000

100

200

0

ETmiss [GeV]

Daten Drell-Yan top-quark W+jets WZ, ZZ WW → e𝜈𝜇𝜈 Signal 𝜎 stat+syst

250 200 150 100 50 0

0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 Anzahl Jets

0

100

Die roten Pfeile illustrieren, welche Teile der Ereignisse selektiert werden. In jeder Grafik wurden nur die Ereignisse behalten, die in der jeweils vorigen Grafik in der Region liegen, die den größten Teil des gelb dargestellten Signals relativ zum in anderen Farben dargestellten Untergrund enthält. Nach jeder Selektion wird der Signalanteil höher. Diesen Vorgang nennt man „schneiden“.

200 pT(e𝜇) [GeV/c]

Verteilung der für die Schnitte gewählten Observablen

Modellparameter 𝜆Z

Ereignisse / 20 GeV/c

ner anderen unterschieden werden kann. Im gezeigten Beispiel ist das eine Variation von Kopplungen dreier Eichbosonen. Da die beobachteten Daten (schwarze Punkte) gut mit der im Standardmodell () erwarteten Summe aus gelbem Signal und blauem Untergrund übereinstimmen, können große Variationen der Eichbosonkopplung jenseits des Standardmodells (violette Linien) ausgeschlossen werden. Das wird in der zweiDer zweite Schritt, der hier unten gezeigt wird, ist dann ten Grafik dargestellt: In einer Fläche der Parameter, der Fit.1 Dabei wird die Signifikanz berechnet, mit der die die mögliche Stärke der vom Standardmodell abeine bestimmte Hypothese anhand der Daten von ei- weichenden Prozesse angeben, ist der grüne Bereich noch erlaubt und der restliche Bereich mit 2 σ 600 ATLAS ATLAS Signifikanz ausgeschlossen. Die Analyse der gemessene Daten 0,1 500 95% C.L. Daten unter dem Gesichtspunkt der Eigensystematische Unsicherheit 400 schaften der Produktion zweier W-Bosonen ist 0 SM-Erwartung 300 damit abgeschlossen und kann veröffentlicht alternative 200 werden. Erwartung 100 20 100 200 hochenergetischstes Lepton pT [GeV/c]

Erlaubter Bereich

-0,1

-0,1 0 0,1 Modellparameter Δ𝜅Z

1

Der Fit verschiedener Signalhypothesen an die Daten (links) und der erlaubte Bereich der Theorieparameter aus dem Fit (grün, rechts)

G. Aad et al. (ATLAS Collaboration) 2013, Measurement of W+W− production in pp collisions at √s=7  TeV with the ATLAS detector and limits on anomalous WWZ and WWγ couplings, Physical Review D, 87,112001, doi:10.1103/PhysRevD.87.112001 Kann man Quarks und Gluonen sehen?  S. 202 Warum ausgerechnet das Standardmodell?  S. 228

144

6 Grundlagen der Auswertung von Teilchenphysikmessungen

Identifikation der Teilchensorte über die Masse Teilchen spielen „Wer bin ich?“

Wie wir gesehen haben, können Cˇ erenkov-Detektoren () alleine die Art eines Teilchens identifizieren. Es gibt aber sehr viele Fälle, in denen es unpraktisch ist, einen ˇ erenkov-Strahlung optimierten Detektor in das auf C Experiment einzubauen. Viele Teilchen sind außerdem so kurzlebig, dass sie in andere Teilchen zerfallen, bevor sie einen Detektor erreichen.

Zentimetern bei LHC-Energien führt. Das Bild unter der Illustration zeigt ein am LHC aufgezeichnetes Kollisionsereignis, in welchem ein KS in zwei geladene Pionen zerfallen ist. Die roten Spuren sind die rekonstruierten Teilchenbahnen (Orts- und Impulsmessung ) der beiden Pionen, die wahrscheinlich aus einem KSZerfall stammen. Sie treffen sich fast in der Mitte des Detektors, im Vakuum des Strahlrohrs. Das Teilchen, Eine Möglichkeit, Rückschlüsse über die Teilchenart aus dem das Pionen-Paar hervorgegangen ist, hat also zu ziehen, ist die Masse. In Kombination mit anderen nie einen Detektor erreicht, trotzdem kann man seine messbaren Eigenschaften wie der Ladung ist diese für Masse bestimmen und es daher als wahrscheinliches jede Teilchenart einzigartig. Es gibt aber keine „Waa- KS identifizieren. ge“ in einem Teilchenphysikexperiment, die die Masd se der Teilchen direkt misst. Woher wissen wir dann, 𝜋− mit welchem Teilchen wir es zu tun haben? Das leistet Der Zerfall eines KS-Mesons und seine Signatur im Detek¯u s Einsteins berühmte Formel, E = m c2 (SRT ). Ist ein tor: zwei Spuren, die sich nicht u Teilchen nicht in Ruhe, sondern hat einen Impuls p (), dort treffen, wo sich die andeKS 𝜋+ ren Spuren treffen verallgemeinert sich diese zu E 2 = (m c 2)2 + p 2c 2 oder m = √E 2/c 4 − p 2/c 2 . Das heißt, wenn wir die Energie E und den Impuls p eines Teilchen bestimmen können, kennen wir sogleich seine Masse m.

Als Beispiel betrachten wir das KS-Meson (Das Quarkmodell ): Es zerfällt nach einer kurzen Lebensdauer von 𝜏KS = 9 ∙ 10 −11 s z. B. in zwei Pionen (vgl. Illustration). Das KS hat vor seinem Zerfall eine Geschwindigkeit von fast 99 % der Lichtgeschwindigkeit. Die daraus resultierende Zeitdilatation verlängert die Lebensdauer im Detektor, was zu einer Fluglänge von zwei bis drei

Îerenkov-Strahlung und Teilchenidentifikation  S. 78 SRT: Spezielle Relativitätstheorie  S. 34 Kinematik  S. 36 und Anwendungen der speziellen Relativitätstheorie  S. 88 Das Quarkmodell  S. 14 Orts- und Impulsmessung  S. 72





Identifikation der Teilchensorte über die Masse

p→𝜋+

p→ou,𝜋+

p→KS p→KrekS

p→𝜋−

p→ou,𝜋−

145

den Rückschluss ziehen, dass es sich bei den beiden Teilchen um Pionen handelt. Eine Teilchenenergie ist immer positiv. Wir nutzen den gemessenen Impuls und die bekannte Masse von geladenen Pionen und erhalten E𝜋± = √(m𝜋 c 2)2 + p𝜋2 ± c 2. Damit haben wir alle Zutaten für die Massenbestimmung, denn es gilt E = E𝜋+ + E𝜋− und p = |p→KrekS|. Nun ist es möglich, die Gleichung nach der Masse m aufzulösen.

Diese Methode funktioniert tatsächlich: Die Messung der KS-Masse des ATLAS-Experiments am LHC aus genau dieser Methode1 zeigt, dass sehr viele Paare von Wie das geht, erklärt die obige schematische Zeichnung: 𝜋 + und 𝜋 −, die eine Signatur wie in dem Bild des ErDas KS-Teilchen mit Impuls p→KS zerfällt in zwei Pionen eignisses aufweisen, mit einer gemeinsamen Masse mit Impuls p→𝜋+ und p→𝜋−. Da der Impuls beim Zerfall von etwa 500 MeV/c 2 produziert werden – also bei erhalten bleibt, kann der ursprüngliche Impuls des KS, der Resonanz () des KS. Das sind also genau diejep→KS = p→𝜋+ + p→𝜋−, aus der Summe der Pion-Impulse nigen aus einem KS-Zerfall, denn dessen Masse ist bestimmt werden. Der Einfluss von Messunsicher- 497,611 ± 0,013 MeV/c 2. heiten () ist auch illustriert, was dazu führt, dass der rekonstruierte Impuls p→KrekS in eine leicht andere Rich- Diese Methode ist von zentraler Bedeutung für motung zeigt und eine andere Länge aufweist. Je schwerer derne Teilchenphysikexperimente: Das Higgs-Boson, das zerfallende Teilchen im Vergleich zu den Pionen ist, das top-Quark, das Z-Boson und viele andere Teilchen umso größer kann der Impuls der Pionen werden. Da und Prozesse wurden durch genau eine solche Masdas KS in unserer Skizze sich nur nach rechts und nicht senrekonstruktion erstmals nachgewiesen. nach oben und unten bewegt, heben sich die Impuls×103 160 anteile nach oben bzw. unten, pou, der ZerfallsprodukATLAS 140 te auf: pou = pou,𝜋+ + pou,𝜋− = pou,KS = 0. Das sieht Daten 120 Simulation man auch an der Zeichnung mit den Messunsicherheirek Fit der Signal100 ten: Die Summe der beobachteten Pion-Impulse p hypothese hat wegen der Impulserhaltung keine nennenswerte 80 Fit der Untergrundhypothese Komponente nach oben oder unten! 60 Um die Masse nach dieser Formel zu berechnen, müssen die Energien und Impulse von 𝜋 + und 𝜋 − addiert werden. Durch die Kombination der Information mehrerer verschiedener Detektoren können wir auch

1

Anzahl Pion-Paare / MeV/c 2

Die Berechnung des Viererimpulses des KS aus den Impulsen der Zerfallsprodukte π+ und π−

40 20 400 420 440 460 480 500 520 540

Die Massenverteilung der π+ und π−-Paare

G. Aad et al. (ATLAS Collaboration) 2012, K0s and Λ production in pp interactions at √s=0.9 and 7 TeV measured with the ATLAS detector at the LHC, Physical Review D, 85, 012001, doi:10.1103/PhysRevD.85.012001 Die Bestimmung von Messunsicherheiten  S. 146 Resonanzen  S. 52

M𝜋+𝜋− [MeV/c 2]

146

6 Grundlagen der Auswertung von Teilchenphysikmessungen

Die Bestimmung von Messunsicherheiten Lieber besser messen als länger messen

Weder die Vorhersage noch die Messung einer physikalischen Größe sind exakt. Die Vorhersage beruht auf einer Hypothese, die wahrscheinlich nicht exakt der Realität entspricht. Die mathematischen Methoden zur Berechnung einer Vorhersage für eine Messung beinhalten vielleicht ungenaue Näherungen oder Eingangsgrößen. Die Messung enthält Messunsicherheiten (), die von Messung zu Messung zufällig schwanken (statistische Unsicherheiten) oder auf einer möglichen unbekannten falschen Vorstellung der genauen Funktion des Messaufbaus beruhen (systematische Unsicherheiten). Diese Unsicherheiten spielen eine wichtige Rolle beim Vergleich von Vorhersage und Ergebnis. Es ist daher eines der wichtigsten Kriterien einer quantitativen Wissenschaft, dass nicht nur etwas gemessen wird, sondern insbesondere die Messunsicherheiten so genau wie möglich bestimmt werden. Wie das funktioniert, soll hier an einem einfachen Beispiel erläutert werden: der Schwingung eines Pendels. Eine wichtige Eigenschaft eines Pendels ist seine Periode, also die Dauer einer kompletten Schwingung von ganz links nach rechts und wieder zurück bis ganz nach links. Diese Dauer lässt sich auf Grundlage der „klassischen Mechanik“, also der Theorie über den Zusammenhang von Kräften und Bewegungen von Isaac Newton, hauptsächlich in Abhängigkeit von der Erdanziehungskraft und der Länge des Fadens vorhersagen. Eine Messung der Periode ist daher eine einfache Überprüfung, ob Newtons Gleichungen die Natur richtig beschreiben. Und je genauer gemessen werden kann, umso mehr kleinste Effekte müssen bei der Be-

rechnung der Periode berücksichtigt werden, um einen genauen Vergleich zwischen Theorie und Experiment zu ermöglichen. Eine Stoppuhr ist ein einfaches Instrument zur Messung der Periode. Eine einfache Abschätzung der statistischen Unsicherheit der Messung erhält man aus einer Wiederholung der Messung: Die Verteilung der Messergebnisse erlaubt die Berechnung der Standardabweichung, einem Maß für die Unsicherheit. Im gezeigten Beispiel auf der Stoppuhr messen wir 1,3; 2,0 und 2,3 s, woraus sich ein Mittelwert von 1,8 s und eine Standardabweichung von 0,4 s für die statistische Unsicherheit einer Messung ergibt. Die Arbeit der Physikerinnen und Physiker fängt nun eigentlich erst an: Das Ziel ist, diese Unsicherheit durch geschickteres Experimentieren zu verkleinern! Eine einfache Lösung wäre, noch viel öfter zu messen – aber das kann dauern und ist nicht sehr spannend. Vielversprechender ist eine Verbesserung der Messmethode. Wie aus den Bildern ersichtlich wurde die Messung immer am ganz rechten Umkehrpunkt gestartet und gestoppt, wenn das Pendel kurz zum Stillstand Die wiederholte Messung der Periode des Pendels mit der Stoppuhr. Die gemessenen Zeiten variieren.

Messunsicherheiten  S. 82 Wie macht die Physik Fortschritte?  S. 22 und Hintergründe zur wissenschaftlichen Methode  S. 26

Die Bestimmung von Messunsicherheiten

147

Die verbesserte Messung am Nulldurchgang

Die Messung mit einer Lichtschranke

kommt. Aber vielleicht wäre es besser, am Nulldurchgang zu messen, denn dort ist das Pendel schneller und das Auge erkennt den genauen Zeitpunkt des Vorbeistreichens am untersten Punkt der Bahn des Pendels genauer? Ob das wirklich so ist, kann gemessen werden: Die nächste Messreihe zeigt 2,0; 2,0 und 2,0 s als Ergebnis! Die Streuung ist nicht sichtbar. Daraus folgt aber nicht, dass die Standardabweichung gleich null ist, denn die Stoppuhr zeigt nur feste Schritte von 0,3 s Dauer an, innerhalb derer die Schwankung der Einzelmessung nicht gemessen werden kann. Die Messung muss also weiter verbessert werden!

Im ursprünglichen Aufbau ist diese Lichtschranke oben am Seil angebracht, wo es sich langsam bewegt. Schon damit erreicht man viel konsistentere Einzelmessungen: Das Ergebnis ist nun eine Periode von 1,9850 ± 0,0008 s.

Auch damit sind die Verbesserungsmöglichkeiten nicht erschöpft: Ist der Lichtstrahl, der vom Pendel unterbrochen wird, so schmal wie möglich? Wackelt die Befestigung der Lichtschranke? Wenn ja, wie viel? Wäre es nicht besser, die Lichtschranke unten anzubringen, wo das Seil sich viel schneller bewegt als oben? Mit solchen Verbesserungen sinkt die Streuung der EinzelDies kann erreicht werden, indem nicht die Dauer von messungen weiter, und das Ergebnis ist eine Unsichereiner Periode, sondern von 10 Perioden gemessen wird. heit von kleiner als 0,0003 s. Auch damit ist die Arbeit Hier ist das Ergebnis, geteilt durch die 10 Perioden, nun aber nicht beendet: Kann die Lichtschranke in noch 2,05 ± 0,03 s. Die Präzision der Einzelmessung hat sich kleineren Zeitschritten ausgelesen werden? Kann die also insgesamt um mehr als einen Faktor 10 verbessert. Auslenkung des Pendels genauer kontrolliert werden? Kann der komplette Messaufbau mit einem kompleDie Messung mit der mechanischen Stoppuhr von mentären Aufbau verglichen werden, um die UnsiHand hat aber viele Nachteile. Geht die Stoppuhr cherheiten noch objektiver zu bestimmen? Die Verbesüberhaupt genau? Wenn Sie die Zeit immer systema- serungsmöglichkeiten sind fast unbegrenzt. tisch falsch misst, würde das in der Streuung der Messergebnisse der Einzelmessungen nicht bemerkt wer- In typischen Experimenten der Teilchenphysik besteht den. Um das zu testen, muss die Stoppuhr mit einer ein Großteil der Arbeit – nach Ansicht der Autoren genaueren Uhr verglichen werden. Auch das Auslösen eine der kreativsten und spannendsten Aufgaben – in per Auge ist nicht sehr genau, besser wäre eine Licht- genau dieser Aufgabe: Unsicherheiten zu reduzieren schranke angeschlossen an Messelektronik und einen und so genau wie möglich zu bestimmen. Computer, der seine Uhr mit einer Atomuhr abgleicht.

148

6 Grundlagen der Auswertung von Teilchenphysikmessungen

Schlüsse ziehen aus Statistik

Wann ist etwas zu unwahrscheinlich, um wahr zu sein? Im vorigen Artikel wurde der Frage nachgegangen, wie die Messunsicherheit bestimmt und so klein wie möglich gemacht werden kann. Für eine sehr große Zahl von Experimenten, in denen ein numerischer Messwert wie etwa die Masse eines Teilchens gemessen wird, ist das die relevante statistische Fragestellung.

Der Ausschluss oder die Entdeckung einer solchen Hypothese in der Teilchenphysik beruht auf komplexen statistischen Verfahren, den sogenannten Hypothesentests. Vereinfacht lassen sich diese aber in den Kategorien der Messunsicherheiten beschreiben, wie sie auf den vorigen Seiten beschrieben wurden, da es sich bei der Messung um ein Zählexperiment handelt. Es gibt noch andere Fragestellungen, die z. B. bei der Man zählt, wie oft ein Vorgang mit bestimmten EigenSuche nach neuen Teilchen auftreten. Wann und wie schaften beobachtet wurde. Diese Beobachtung kann kann ich ausschließen, dass es ein neues Teilchen in ei- dann mit zwei verschiedenen Hypothesen verglichen nem bestimmten Massenbereich gibt? Oder noch bes- werden: Die Signalhypothese sagt z. B., dass es das ser: Wann und wie kann ich sagen, ich hätte ein neues Higgs-Boson mit einer bestimmten Masse gibt, und Teilchen entdeckt? Wie lief das z. B. beim Higgs-Boson die Untergrundhypothese sagt, dass es nur die schon ab und was war bei der Entdeckung 2012 anders als bei vor der Entdeckung des Higgs-Bosons bekannten Teilvorherigen Suchen nach demselben Teilchen? Wer sich chen gibt. für diese Fragen vertieft interessiert, findet hier spannende Einblicke: Gibt es ein bestimmtes Phänomen in Dabei kann es beliebig viele verschiedene Signalhypoder Natur überhaupt? Die Entdeckung neuer Teilchen thesen geben, die jeweils einzeln mit der Untergrundist schließlich eines der großartigsten Ereignisse der hypothese verglichen werden. Diese Auswertung – unTeilchenphysik. Und was passiert, wenn ein vorherge- ter Berücksichtung aller sagtes Teilchen nicht existiert? Wenn ein Teilchen im möglichen Hypothesen Detektor hätte nachgewiesen werden sollen, wir aber nicht nur für das Signal, nichts gefunden haben, dann redet die Teilchenphysik sondern auch alle sysvon einem Ausschluss. tematischen und statistischen Unsicherheiten Um Teilchen zu suchen, benötigt man eine Hypothese – ist oft numerisch sehr – eine ganz bestimmte Idee, wie die Natur aufgebaut aufwändig und benötigt sein könnte. Typischerweise ist sie mit einem mathe- große Rechenkapazitäten. matischen Modell (Wie macht die Physik Fortschritte? Das CERN Rechenzentrum für ) verbunden, das konkrete, messbare Vorhersagen () die Rekonstruktion, Simulation macht. Eine solche Vorhersage kann z. B. die Masse ei- und statistische Auswertung nes Teilchens sein oder wie häufig es produziert wird. der Experimente am Large Hadron Collider

Wie macht die Physik Fortschritte?  S. 22 Hintergründe zur wissenschaftlichen Methode  S. 26

Schlüsse ziehen aus Statistik

Messunsicherheiten  S. 82

Ein nicht hinreichend signifikanter Überschuss

Häufigkeit

Beobachtung: 107±39 Signalereignisse Signifikanz: 2,8 Erwartung: 75 Signalereignisse

100 0

Messwert

100

Ein hypothetischer Ausschluss einer Signalhypothese Beobachtung: 37±24 Signalereignisse Signifikanz: 1,5 Erwartung: 300 Signalereignisse

200

Häufigkeit

Die schematischen Darstellungen zeigen mögliche Kombinationen aus Ergebnissen und Erwartungen für die Signalhypothese. Oft zeigt eine solche Messung ein Ergebnis wie im ersten Bild: Für bestimmte Messwerte stimmen die Daten nicht besonders gut mit der Untergrundhypothese überein, dafür aber besser mit einer der Signalhypothesen. Der Hypothesentest übersetzt das Maß statistischer Übereinstimmung der Hypothesen mit den Daten in eine Signifikanz oder Konfidenz: Die Zahl der Standardabweichungen σ, die das Ergebnis von einer der Hypothesen entfernt ist. Das ist wie bei der Bestimmung eines Messwerts: Weicht ein Messwert z. B. drei mal den Wert der Standardabweichung σ von einer Vorhersage ab, so hat die Abweichung „3 σ Signifikanz“. In der Teilchenphysik hat man hohe Ansprüche an die Signifikanz einer Entdeckung – typischerweise verlangt man 5 σ Abweichung von der Untergrundhypothese! Dies entspricht einer Wahrscheinlichkeit von eins zu ca. drei Millionen, dass ein beobachtetes Signal durch eine statistische Schwankung der Untergrundhypothese erzeugt worden ist. Die im ersten Bild gezeigten Daten sind also keine Entdeckung. Mit mehr Daten verschwindet die Abweichung dann entweder (die Signalhypothese kann ausgeschlossen werden) oder sie wird signifikanter – dann kann die Untergrundhypothese ausgeschlossen werden und ein neues Phänomen ist entdeckt!

200

100 0

Messwert

100

Eine hypothetische Entdeckung Beobachtung: 321±39 Signalereignisse Signifikanz: 8,3 Erwartung: 300 Signalereignisse

200

Häufigkeit

Nehmen wir als konkretes Beispiel die Suche nach einem neuen Teilchen mit einer uns unbekannten Masse. Die Häufigkeit von beobachteten Ereignissen mit einem Messwert einer bestimmten Masse ist in den Bildern hier dargestellt (schwarze Punkte). Die blaue Linie repräsentiert jeweils die Vorhersage der Untergrundhypothese. Sie sagt aus, dass im Mittel pro gemessenem Massenwert etwa hundert Ereignisse gezählt werden sollten. Die Signalhypothese dagegen ist die erwartete Häufigkeit der Ereignisse, wenn das Signal zusätzlich zum Untergrund vorhanden ist, und in der roten, gestrichelten Linie dargestellt. Die Daten stimmen nicht unbedingt exakt mit den Hypothesen überein – das liegt an den Unsicherheiten () der Zählrate, die mit den senkrechten Balken um die Messdaten markiert sind. Ob sie aber mit hinreichender statistischer Sicherheit eine Hypothese unterstützen oder ihr gar widersprechen, ist nun die Frage des Hypothesentests!

149

100 0

Messwert

100

Drei Beispiele für mögliche statistische Resultate: keine Entdeckung und keine Widerlegung einer Hypothese (oben), Widerlegung (Mitte) und Entdeckung (unten)

150

6 Grundlagen der Auswertung von Teilchenphysikmessungen

Veröffentlichen, was es nicht gibt Nichts zu finden ist ein wichtiges Ergebnis

Wenn man den vorigen Artikel liest, könnte man denken, dass die Geschichte der Teilchenphysik einfach nur die Geschichte der Entdeckungen von Teilchen bzw. der Bestätigung von Vorhersagen solcher ist. Aber das ist ganz und gar nicht richtig! Zum einen, weil die genaue Messung der Eigenschaften von Teilchen und ihrer Wechselwirkungen eine der wichtigsten Aufgaben der Teilchenphysik ist. Zum anderen, weil auch der Ausschluss der Existenz von Teilchen ein sehr wichtiges Ergebnis der Forschung ist. Wer sich für diese weitere Vertiefung der vorigen Doppelseite interessiert, findet hier Genaueres über die Wahrscheinlichkeit, dass es etwas nicht gibt.

Erkenntnisgewinn dar, denn es schloss eine Vielzahl von Hypothesen aus, die eine leichtere Higgs-Masse vorhersagten. Es wird sogar veröffentlicht, mit welcher Signifikanz () man Variationen von vorgeschlagenen Hypothesen nicht gefunden hat. Im Unterschied zu Entdeckungen, bei denen sich die Teilchenphysik selbst eine Schwelle von 5 σ Signifikanz gesetzt hat, sind hier auch schwächere Aussagen ab 2 σ nützlich. Diese Signifikanz entspricht einer Wahrscheinlichkeit von 5 %, um ein wirklich existierendes Signal auszuschließen. Dies ist aber nicht schlimm, denn auch in schon ausgeschlossenen Bereichen wird weiter nach neuen Phänomenen gesucht.

Die Teilchenphysikerinnen und -physiker schlagen ständig neue Ideen vor, die noch nicht verstandene Phänomene in der Natur erklären können oder welche noch unbekannten Phänomene es in der Natur geben könnte (Wie macht die Physik Fortschritte ). Nehmen wir an, die Teilchenphysik hätte nicht veröffentlicht, dass ein Higgs-Boson-ähnliches Teilchen mit der halben Masse des entdeckten Higgs-Bosons ausgeschlossen ist. Dann könnten andauernd neue Hypothesen aufgestellt werden, in denen so ein zweites Higgs-Boson vorhergesagt wird. Deshalb ist es so wichtig, auch Ergebnisse publik zu machen, in denen kein Signal gefunden wurde. Bei der Suche nach dem Higgs-Boson konnten mit dieser Arbeitsweise nach und nach Massenbereiche ausgeschlossen werden. Beispielweise konnte schon im Jahr 2000 am LEP-Collider ein Higgs-Boson mit einer Masse kleiner als 114,4 GeV/c 2 ausgeschlossen werden. Dies an sich stellt auch einen

Im Bild „Ausschlüsse von verschiedenen Signalhypothesen“ ist schematisch die Suche nach einem Teilchen mit einem Messwert von etwa 65 dargestellt. Nehmen wir einmal an, dass eine Theorie eine Zählrate von 200

Ausschlüsse von verschiedenen Signalhypothesen

Häufigkeit

180 160

Ursprüngliche Erwartung: 75 Signalereignisse Signifikanz Ausschluss unterschiedlicher Signalstärken: Erwartung ×1,0: Signifikanz = 1,4 Erwartung ×1,4: Signifikanz = 2,1 Erwartung ×2,0: Signifikanz = 3,1

140 120 100 80 0

10

20

Wie macht die Physik Fortschritte?  S. 22 Signifikanz: Schlüsse ziehen aus Statistik  S. 148 und Messunsicherheiten  S. 82

30

40 50 60 Messwert

70

80

90 100

Veröffentlichen, was es nicht gibt

151

etwa 75 Ereignissen über den Untergrund hinaus vorhersagt. Die Datenpunkte legen einerseits die Existenz eines solchen Teilchens nicht nahe, andererseits ist die Vorhersage der Theorie in Form der rot gestrichelten Linie nicht hinreichend signifikant von den Daten verschieden – die ursprüngliche Hypothese kann weder bestätigt noch ausgeschlossen werden, die observierte Signifikanz ist 1,4 σ. Nehmen wir nun an, man würde in der Theorie die Kopplung der Teilchen aneinander deutlich vergrößern, was die vorhergesagte Zählrate deutlich erhöht. Dies ist im Bild mit den unterschiedlichen farbigen Kurven illustriert, die zu Ausschlüssen mit unterschiedlicher Signifikanz führen.

Genauso wie es zufällige Ausschlüsse geben kann, kann es auch zufällige Entdeckungen geben! In diesem Fall sind die Messdaten viel höher als erwartet, was rein statistisch passieren kann. Dies ist in den anderen beiden Abbildungen schematisch gezeigt. Diese Entdeckungen können außerdem nicht nur dort auftauchen, wo man sie erwartet hat, wo also die Abweichung der Daten über die Untergrundhypothese hinaus der Vorhersage entspricht. Noch schlimmer: Diese statistische Veränderung der Daten innerhalb ihrer Unsicherheiten kann überall im Messbereich auftauchen! Weil neue Entdeckungen immer viel Aufmerksamkeit erregen, wäre das ständige Veröffentlichen von statistischen Schwankungen der Daten als angebliche neue EntdeKonkret in dem Beispiel muss die vorhergesagte Häu- ckungen eine große dauernde Ablenkung für alle, und figkeit mit einem Faktor 1,4 multipliziert werden, da- das Vertrauen der Wissenschaft in neue Entdeckunmit die neue Signalhypothese mit einer Signifikanz gen wäre dahin. Das ist der Grund für die sehr hohe von 2,1 σ nicht mit den Daten übereinstimmt. Dieser Schwelle von 5 σ Signifikanz, die sich die TeilchenphyAusschluss mit mehr als 2 σ Signifikanz wird dann ver- sik für eine Entdeckung gesetzt hat (Blinde Analyse ). öffentlicht. Ein zufälliger Überschuss an genau der erwarteten Stelle?

Häufigkeit

180 160

Beobachtung: 91 ± 18 Signalereignisse Signifikanz: 5,1 Erwartung: 75 Signalereignisse Eines aus 2.488.793 unabhängigen Ereignissen

200

140

160

120

100

100

10

20

30

40 50 60 Messwert

70

80

90 100

Beobachtung: 144 ± 28 Signalereignisse Signifikanz: 5,1 Erwartung: 75 Signalereignisse Eines aus 9.190.122 unabhängigen Ereignissen

140

120

80 0

Ein zufälliger Überschuss an genau der erwarteten Stelle?

180 Häufigkeit

200

80 0

10

20

30

40 50 60 Messwert

70

80

90 100

Drei Beispiele für statistische Ergebnisse: Der Ausschluss von unterschiedlichen Hypothesen (linke Buchseite), die „Entdeckung“ einer zufälligen Fluktuation (links) und die Entdeckung eines erwarteten Signals (rechts)

Was sind „Blinde Analysen“?  S. 154

152

6 Grundlagen der Auswertung von Teilchenphysikmessungen

Ein Beispiel für die Entdeckung eines Teilchens ... anhand des Higgs-Bosons

Daten

25

Untergrund ZZ (*) Untergrund Z+Jets, tt¯

20 Ereignisse / 5 GeV/c 2

Auf den vorhergehenden Seiten wurde die Entdeckung oder der Ausschluss eines neuen Teilchens anhand abstrakter Kriterien und hypothetischer Messdaten erklärt. Am Beispiel der Entdeckung des Higgs-Bosons () am Large Hadron Collider LHC () soll dieser Vorgang hier konkret dargestellt werden.

ATLAS H → ZZ (*)→ 4l

Signal (mH = 125 GeV/c 2) Systematische Unsicherheit

15

Dazu betrachten wir die Suche nach der Produktion des Higgs-Bosons und seinem anschließenden Zerfall 10 () in zwei Z-Bosonen1. Die Ergebnisse dieser Suche zum Zeitpunkt der Entdeckung des Higgs-Bosons im Jahr 2012 sind in der ersten Grafik zusammenge5 fasst. Diese Darstellung ist sehr typisch und kommt in diesem Buch immer wieder vor: Auf der horizon0 talen Achse ist ein Messwert aufgetragen, der für jedes 100 150 200 250 m4l [GeV/c 2] einzelne gezählte Ereignis gemessen werden kann. In diesem Fall ist es die kombinierte Masse () der vier Die Verteilung der gemeinsamen Masse von vier Leptonen Leptonen, in welche die beiden Z-Bosonen zerfallen. Diese Masse variiert für die gezählten Ereignisse zwi- gemessen wurden. So wurden z. B. zwischen 100 und schen einem Wert von 90 und 250 GeV/c 2). 105 GeV/c 2 Masse genau zwei Ereignisse gezählt. Die gemessenen Daten sind wieder mit Punkten dargestellt. Zwei Gründe sorgen dafür, dass die gezählten Ereig- Die statistische 1-σ-Unsicherheit der Zählrate ist durch nisse so verschiedene Massen haben: Erstens variiert einen senkrechten Balken gekennzeichnet, und die sysje nach Art und Weise der physikalischen Prozesse, die tematische Unsicherheit durch eine schraffierte Region zur Produktion des Z-Paars geführt haben, die Masse um die Untergrunderwartung. Die unterschiedlichen des Paars. Zweitens wird aufgrund von Messunsicher- erwarteten Untergrundprozesse sind grafisch getrennt heiten () der Impuls der vier Leptonen nicht exakt dargestellt: In Hellrot oder Violett, je nachdem, ob es gemessen (Typische Detektoren ), was die rekonstru- sich um echte Z-Paare handelt, die aber nicht von eiierte Masse verändert. nem Higgs-Boson stammen (hellrot), oder um Ereignisse, die zwar für den Detektor aufgrund von UnsiAuf der vertikalen Achse ist die Häufigkeit aufgetragen, cherheiten im Messprozess wie ein Z-Paar aussehen, mit der vier Leptonen mit einer bestimmten Masse aber gar keins sind (violett).

1

ATLAS Collaboration et al. 2012, Observation of a new particle in the search for the Standard Model Higgs boson with the ATLAS detector at the LHC, Physics Letter B, 716, 1, 1, doi:10.1016/j.physletb.2012.08.020 Die Entdeckung des Higgs-Bosons  S. 230 Der LHC-Beschleunigerkomplex am CERN  S. 112 Produktion, Zerstörung und Zerfall von Teilchen  S. 50

Ein Beispiel für die Entdeckung eines Teilchens

ATLAS

ATLAS

Daten des Jahres 2012

Beobachtete Ausschlussgrenze Erwartete Ausschlussgrenze, wenn es kein H gibt ±1𝜎 H → 𝛾𝛾, H → WW → l𝜈l𝜈, H → ZZ → llll ±2𝜎

10

1

Daten der Jahre 2011 + 2012

Beobachtete Signifikanz des Signals

8 Signifikanz

Skalierungsfaktor 𝜇 der 2-𝜎- Ausschlussgrenze

10

153

6 4 2 0

10 –1 110

115

120

125 130 135 mH [GeV/c 2]

140

145

110

115

120

125 130 135 mH [GeV/c 2]

140

145

150

Der Ausschluss schwerer Higgs-Bosonen (links) und die Entdeckung eines Higgs-Bosons bei einer Masse von 125 GeV/c 2 (rechts)

Die Signalerwartung, also Ereignisse, die wirklich von einem zerfallenden Higgs-Boson stammen, ist mit der hellblauen Fläche dargestellt. Die Daten stimmen sehr gut mit der Summe aus erwartetem Untergrund und Signal überein, also mit der Signalhypothese (). Für sich allein ist die Abweichung der Messdaten von der Untergrundhypothese in dieser Messung mit weniger als 5 σ noch deutlich zu klein, um das Higgs-Boson zu entdecken. Daher wurde eine gemeinsame statistische Analyse von mehreren Suchen nach dem Higgs-Boson durchgeführt: Zerfälle des Higgs-Bosons in W-BosonPaare und in Photonpaare wurden mit der hier gezeigten Messung für die Entdeckung kombiniert.

denen die schwarze durchgezogene Linie unter dem Wert 1 auf der vertikalen Achse liegt, sind ausgeschlossen, denn das Higgs-Boson des Standardmodells kann nicht schwerer als 135 GeV/c 2 sein.

Die grüne (gelbe) Region der linken Grafik gibt den Bereich an, in dem der 2-σ-Ausschluss mit 68 % (95 %) Wahrscheinlichkeit erwartet worden wäre, wenn es kein Higgs-Boson gäbe. Um die beobachtete Higgs-Boson Masse von etwa 125 GeV/c 2 herum gibt es erwartungsgemäß keinen Ausschluss, da dort die schwarze Linie über 1 liegt, obwohl sie ohne Higgs-Boson unter 1 erwartet worden wäre. Entsprechend hoch ist genau hier die Signifikanz der Entdeckung im rechten Bild. Die In dieser gemeinsamen Messung wurde analy- Abweichung der Daten von der Untergrundhypothese siert, welche Hypothesen über das Higgs-Boson mit ist um eine Masse von 125 GeV/c 2 herum über 5 σ si2-σ-Signifikanz ausgeschlossen werden können. Das gnifikant. Damit war das Higgs-Boson mit der Masse ist in der linken Grafik oben aufgetragen: Alle mögli- von etwa 125 GeV/c 2 entdeckt! chen Higgs-Boson-Massen (horizontale Achse), bei

Identifikation der Teilchensorte über die Masse  S. 144 Die Bestimmung von Messunsicherheiten  S. 146 Typische Detektoren an Beschleunigern  S. 124 Signalhypothese: Schlüsse ziehen aus Statistik  S. 148

154

6 Grundlagen der Auswertung von Teilchenphysikmessungen

Was sind „Blinde Analysen“? Der Placebo-Effekt bei Forschenden

Wenn ein Experiment richtig durchgeführt wurde und Motive unvermeidbar beeinflusst wird. Warum also alle Unsicherheiten gründlich abgeschätzt wurden, sollte auch in der Teilchenphysik eine blinde Analyse dann müssten die Daten selbst die beste Richtschnur notwendig sein? Um das zu zeigen, sollen hier wieder sein, um zu lernen, welche Entdeckungen in den Daten simulierte Messungen verwendet werden: Angenomverborgen sind. Jedoch: Vorsicht! men, die Teilchenphysikerinnen und -physiker führen ein Experiment durch, das Messwerte zwischen dem Die Messdaten und ihre genau bestimmten statisti- Wert 0 und 1.000 messen kann. Der schon bekannte schen und systematischen Unsicherheiten sind quasi Untergrundprozess habe eine mittlere Häufigkeit von ein „Richter“ über die wissenschaftlichen Hypothesen. 10 Ereignissen pro einer Einheit des Messwerts und sei Aber wann immer man die gemessenen Daten nicht überall gleich wahrscheinlich (). Ist kein neues Signal als Richter, sondern gleichsam als „Detektiv“ zum vorhanden, wird eine beispiehalfte Messung aufgrund Aufspüren neuer Hypothesen verwendet, ist die Wahr- der erwarteten statistischen Unsicherheit eine Schwanscheinlichkeit von Problemen groß. Dieses Phänomen kung der gemessenen Rate (blau) um den Wert 10 erist auch aus anderen wissenschaftlichen Bereichen geben. bekannt: Die Studien zur Messung der Wirksamkeit und der Sicherheit z. B. eines Impfstoffs werden im- Wenn die Daten nur als Richter über eine neue Hypomer blind durchgeführt. Weder die Probanden noch these verwendet werden sollen, aber nicht als Detektiv, das verabreichende medizinische Personal weiß, ob darf die Entscheidung über die Methode der statistiein bestimmter Proband Impfstoff oder Placebo er- schen Analyse der Daten nicht von den gemessenen hält; und diejenigen, die die Daten auswerten, haben Daten selbst abhängen. Hier bedeutet das: Die Hypokeinen Kontakt zu denen, die die Probanden betreu- these, wo in den Daten das Signal erwartet wird, darf en. Das Design der Studie und alle Auswertungs- und nicht von den Daten abhängen, sondern muss blind Abbruchkriterien müssen vor Beginn der Datennahme getroffen werden. Hier soll angenommen werden, dass festgelegt werden. Werden diese Kriterien nicht strikt aufgrund einer neuen Theorie das vorhergesagte neue eingehalten, kann den Ergebnissen der Studie nicht ge- Signal bei einem Messwert von 500 in der Form einer traut werden, weil die Wahrnehmung z. B. von Neben- Gaußverteilung auftreten soll. Im gezeigten Beispiel wirkungen bewusst oder unbewusst von der Kenntnis kann beim Wert 500 kein signifikanter Anteil des Sigder zugrunde liegenden Behandlung verzerrt wird. nals () gefunden werden. Nun sind Teilchen keine Probanden und Detektoren kein medizinisches Personal, deren Wahrnehmung durch unterbewusste Prozesse auch im Fall bester

Statistik  S. 80 und Messunsicherheiten  S. 82 Schlüsse ziehen aus Statistik  S. 148

Bisher wurden die Daten als Richter, nicht aber als Detektiv verwendet. Führt man die Analyse nicht blind durch, sondern lässt sich von den Daten leiten, dann

Was sind „Blinde Analysen“?

155

Häufigkeit des Auftretens des Messwerts x 22

20

Signifikanz = 0,44

in 10 Millionen Wiederholungen, wie eigentlich für eine Entdeckung gefordert.

Häufigkeit des Messwerts x

20 18

In diesem vereinfachten Beispiel ist die Korrektur offensichtlich: Es wurde 14 kein neues Teilchen entdeckt, weil eine 0 450 500 550 12 Wahrscheinlichkeit von 2 aus 1.000 VerSignifikanz = 5,00 10 suchen nicht ausreichend für die Be20 8 hauptung einer Entdeckung ist. In der 6 10 Praxis ist es aber wesentlich komplexer, 4 weil nicht nur ein Messwert, sondern 2 0 850 900 0 100 200 300 400 500 600 700 800 900 typischerweise viele Möglichkeiten der Messwert x Durchführung und Auswertung unEin simuliertes Experiment. An einer vorgegebenen Stelle in der Mitte der Verteilung terschiedlichster Regionen von unterfindet sich selten ein zufälliger Überschuss. Aber irgendwo in der Verteilung ist oft ein schiedlichen Messwerten im Spiel sind. sehr signifikanter Überschuss vorhanden Dann wird die gezeigte Korrektur in der findet man auch ohne ein „wahres“ Signal in den Da- Praxis oft unmöglich – es ist dann umso wichtiger, die ten irgendwo eine oftmals statistisch signifikante Ab- Analyse blind durchzuführen und die Daten nicht als weichung. Im gezeigten Beispiel ist das in etwa beim Detektiv zu verwenden. Messwert 885 der Fall: Ein Signal mit 5 σ Signifikanz wurde gefunden, und damit scheinbar ein neues Teil- Im Alltag ist das oft nicht viel anders: Zufällig auffällichen entdeckt, obwohl die simulierten Daten gar kein ge Ereignisse bleiben uns im Gedächtnis, während wir Signal enthalten! dazu neigen, all die Vorkommnisse zu vergessen, an denen nichts Beachtenswertes passierte. Auch dort ist In der Teilchenphysik ist dieser spezielle Effekt auch Vorsicht angesagt! unter dem Namen Look-elsewhere-Effekt bekannt: Die relative Wahrscheinlichkeit hoher Signifikanzen bei vorgegebener Man kann immer auch woanders in die Daten schau- Auswertung (blau) und Auswertung der signifikantesten Stelle (rot) en und zufällig dort etwas finden. Ist man sich des 105 Suche immer Region genauen Umfangs dieses Vorgangs bewusst, kann er Betrachte immer mit größter Abweichung 4 10 statistisch korrigiert werden. Simuliert man die erwargleiche Region Anteil von teten Daten des Untergrunds vielfach, dann kann man 3 100.000 Experimenten 10 bestimmen, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine hohe > 2 𝜎 Signifikanz = 99,9 % > 3 𝜎 Signifikanz = 98,2 % 102 Signifikanz erreicht wird. Hier ergibt sich, dass 4 σ Sig> 4 𝜎 Signifikanz = 13,3 % > 5 𝜎 Signifikanz = 0,2 % nifikanz zufällig in 13 % aller Wiederholungen auftreten 10 und 5 σ Signifikanz in 2 von 1.000 aller Durchführun1 gen des Experiments – statt in etwas weniger als einmal 0 1 2 3 4 5 6 7 10

Häufigkeit der Signifikanz

16

Höchste Signifikanz jedes Experiments

156

6 Grundlagen der Auswertung von Teilchenphysikmessungen

Wie korrigiert man falsche Entdeckungen? Korrekturverfahren in der Teilchenphysik

Die Forschenden können daher nur wissen, dass sie erwarten, dass 68 % der Wiederholungen einer Messung ein 1-σ-Unsicherheitsintervall ergeben, das den unbekannten wahren Wert abdeckt. 95 % aller Ergebnisse decken mit ihrem 2-σ-Unsicherheitsbereich den wahren Wert ab, und 99,7 % mit dem 3-σ Bereich. Es bleibt also immer noch ein kleiner Teil aller Ergebnisse übrig, in denen etwas passiert, was um drei Standardabweichungen „falsch“ gemessen ist, auch wenn niemand etwas falsch gemacht hat! In diesem Artikel soll es anhand von Beispielen darum gehen, wie die Teilchenphysik mit dieser auf den ersten Blick beunruhigenden Situation umgeht.

40 35 Ereignisse / 10 MeV/c 2

Es ist das verwirrende Charakteristikum von Messunsicherheiten, dass sie zwar für den Durchschnitt aller Messungen genau bekannt sein können, aber nie genau bekannt sein kann, wie weit ein einzelnes Ergebnis einer Messung für sich allein vom erwarteten Mittelwert vieler Messungen entfernt ist. Denn wenn die Teilchenphysikerinnen und -physiker das wüssten, dann gäbe es keine Unsicherheit!

scheinbares Pentaquark-Signal

30 25 20 15 10 5 0 1,4

kein Signal in der Datennahme mit 5-facher Statistik

1,5 1,6 1,7 1,8 1,9 Masse von Proton und Kaon [GeV/c 2]

2

Die scheinbare Entdeckung eines Pentaquarks (Punkte mit Fehlerbalken) und die Verteilung der Daten mit mehr Statistik (durchgezogene Linie)

bald insgesamt neun andere Experimente, die mit je ähnlichen Sensitivitäten um oder knapp unter 5 σ ein zumindestens ähnliches Teilchen in ihren Daten fanden. Jede dieser Beobachtungen für sich genommen würde also fast schon eine Entdeckung darstellen. Alle Das erste Beispiel ist eine inzwischen widerlegte „Ent- gemeinsam müssten dann doch bestimmt eine sichere deckung“ von Pentaquarks1 (Exotische Zustände ) Entdeckung sein? aus dem Jahr 2003. Pentaquarks wurden 2019 tatsächlich entdeckt, aber mit anderen Eigenschaften als die Das wäre schon sehr überzeugend, wenn nicht auch „Entdeckung“ im Jahr 2003. Damals wurde vom LEPS- andere Experimente gleichzeitig glaubhaft darlegen Experiment ein Teilchen mit einer Signifikanz von 4, 6 σ konnten, eigentlich auch sensitiv auf dieses mögliche beobachtet, was offenbar weniger als die Schwelle von Teilchen sein zu müssen, wenn es dies denn gäbe, es 5 σ ist, die in der Teilchenphysik für eine unumstrittene aber eben nicht beobachteten. Auch das wird in der Entdeckung allgemein akzeptiert wird. Es folgten aber Teilchenphysik veröffentlicht ().

1

K. Hicks 2007, Pentaquark Searches, Proceedings of the Hypernuclear 2006 Conference, doi:10.1007/978-3-540-76367-3_74

Exotische Zustände  S. 214 Veröffentlichen, was es nicht gibt  S. 150

10 4

ATLAS

Daten

10 3

Untergrund-Fit Ist da ein Signal?

10 2

157

Ereignisse / 20 GeV/c 2

Ereignisse / 20 GeV/c 2

Wie korrigiert man falsche Entdeckungen?

Geringe Statistik 10

10 5

ATLAS

Daten

10 4

Untergrund-Fit

10 3

Hohe Statistik

10 2 10

1

10 −1

15 10 5 0 −5

Daten minus gefitteter Untergrund

Daten minus gefitteter Untergrund

10

1

−1 1

15 10 5 0 −5

−10

−10 200

400

600

800

1000

1200

1400

1600

500

1000

m 𝛾𝛾 [GeV/c 2]

In solch einem Fall ist es wichtig, die experimentellen Methoden extrem genau zu vergleichen, und die Konsistenz aller Beobachtungen zu studieren. Aber auch das reicht nicht immer, um die Frage zu klären. Ein gutes Mittel ist es, mit erhöhter Selbstkritik in der Untersuchung aller Unsicherheiten weiter zu messen. Das sehen wir in der Grafik des CLAS-Experiments: Die ursprüngliche „Entdeckung“ (Datenpunkte) zeigt ein scheinbares Signal bei etwa 1,5 auf der horizontalen Achse – die Daten mit 5-fach höherer Zahl an Ereignissen, die danach genommen wurden (skaliert als durchgezogene Linie), lässt diesen schmalen Peak vermissen. Es liegt also nahe zu vermuten, dass in der selektierten Region nur zufällig eine Abweichung auftauchte, und die Berechnung der Signifikanz nicht berücksichtigte, dass eine solche Abweichung nicht nur dort, sondern an jedem anderen Messwert in den Daten hätte auftreten können.

2

1500

2000

2500

m 𝛾𝛾 [GeV/c 2]

Die scheinbare Entdeckung eines neuen Teilchens mit einer Masse von 750 GeV/c2 (links) und seine Widerlegung mit 10-facher Statistik (rechts)

Ein ähnliches Phänomen bei einer ganz anderen Messung zeigte sich 2016 am CERN: CMS und dann ATLAS sahen einen bis zu 3, 8 σ signifikanten Überschuss in Ereignissen mit zwei Photonen bei einer gemeinsamen Masse von 750 GeV/c 2. Die linke Grafik zeigt den Überschuss sehr klar. Das wäre eine Sensation gewesen – aber auch hier ergab sich: Mit der zehnfachen Menge Daten ist in der rechten Grafik kein signifikanter Überschuss mehr sichtbar2. Fehleinschätzungen passieren immer, wenn es Unsicherheiten gibt. Wichtig ist, wie damit umgegangen wird: mit einer offenen Einladung zu konstruktiver Kritik.

ATLAS Collaboration 2017, Search for new phenomena in high-mass diphoton final states using 37 fb−1 of proton-proton collisions collected at √s=13 TeV with the ATLAS detector, Physics Letters B, 775, 105, doi:10.1016/j.physletb.2017.10.039

158

6 Grundlagen der Auswertung von Teilchenphysikmessungen

Neuronale Netzwerke und maschinelles Lernen Mit Köpfchen zu neuen Erkenntnissen

Wie erkennen wir eigentlich Gegenstände? Die Ant- weise eines künstlichen neuronalen Netzwerkes bei der wort auf diese Frage liegt in unserem Kopf: große Aufgabe, einen interessanten Signalprozess (rot) von Verbünde von Nervenzellen (sogenannte Neuronen) Untergrundprozessen (blau) zu unterscheiden. Hierzu verarbeiten äußere Reize für uns, so dass wir diese mit werden verschiedene Messgrößen (x1, x2, x3) in einem einem Objekt oder einer Personen assoziieren. Was an neuronalen Netzwerk mit einer einzelnen sogenannten dem Ganzen faszinierend ist: Dieser komplexe Vorgang versteckten Lage miteinander zu einer neuen Messsetzt sich aus einer Vielzahl von einfachen Teilvorgän- größe kombiniert. Die Messgrößen (xi) werden in gen zusammen. Signale werden von Dendriten eines jedem Neuron gewichtet (wij) und AxonNeurons aufgeschnappt (z. B. aus dem Sehnerv oder deren Summe inklusive eines terminale von einem anderen Neuron) und werden von der Nerkonstanten Parameters aj Ausgabe venzelle verarbeitet. Wird eine Reizschwelin einer Aktivierungsfunkle überschritten, leitet die Zelle ein tion f ausgewertet. Diese gibt Axon elektrisches Signal über das Axon einen hohen Wert aus, wenn ein Ereignis an die Axonterminale weiter, wo mit Messgrößen x1, x2 und x3 in der Gesamtein weiteres Neuron diese heit seiner gemessenen Eigenschaften eher wie dann mit ihren Dendriten Eingabe ein Signal aussieht, und einen niedrigen Wert, wenn interpretieren kann. das Ereignis eher wie Untergrund aussieht. Um dies zu tun, muss das Netzwerk „trainiert“ werden, damit Dieser biologische Prozess inses Gewichte wij und Werte für aj erlernen kann, welDendriten pirierte Forschende dazu, künstliche che eine optimale Trennung in der neuen kombinierneuronale Netze an Computern zu simulieren. Die ten Messgröße ermöglicht. Dies kann man z. B. mit Fähigkeiten von neuronalen Netzwerken und anderen einem Satz von simulierten Signal- und UntergrundMethoden des maschinellen Lernens haben durch ereignissen tun, bei denen man genau weiß, um welimmer schneller werdende Computer stetig zuge- chen Prozess es sich jeweils handelt. Man sieht in der nommen und sind heute im Alltag omnipräsent. So Darstellung auf den ersten Blick, dass die neue komsollte es nicht überraschen, dass in der Teilchenphy- binierte Messgröße Signal und Untergrund viel besser sik schon lange solche Methoden des maschinellen unterscheiden kann als die einzelnen Messgrößen x1, Lernens eingesetzt werden. Ohne diese wären viele x2 und x3 alleine. wichtige Entdeckungen erst gar nicht möglich gewesen (z. B. die Entdeckung des Higgs-Bosons () oder Wollten wir eine Unterscheidung ohne neuronale Zerfälle von einzeln produzierten top-Quarks). Die Netzwerke vornehmen, müssten wir Ereignisse in jeder Illustration auf der nächsten Seite zeigt die Funktions- Messgröße einzeln unterscheiden. Dies ist in der zwei-

Die Entdeckung des Higgs-Bosons  S. 230

Neuronale Netzwerke und maschinelles Lernen

ten Abbildung unten anhand von 0,3 0,2 x1 und x2 illustriert: Signal (rot) 0,10 −2 0 2 4 6 und Untergrund (blau) werden in Messgröße 1: x 1 der Mitte mit zwei Schnitten vonSignal einander getrennt. Nach der Tren- 64 Untergrund nung haben wir viele Signalereig- 20 0 0,1 0,2 0,3 Messgröße 2: x 2 nisse ausgeschlossen. Wenn wir stattdessen das neuronale Netz- 1 0,9 werk nutzen und einen Schnitt auf 0,8 die neue kombinierte Messgröße 0,7 0 20 40 60 80 100 Messgröße 3: x 3 vornehmen, können wir fast alle Signalereignisse von den Untergrundereignissen trennen. Das neuronale Netzwerk hat gelernt, die Eigenschaften der Kombination aus x1 und x2 auszunutzen und kann daher bei jedem Wert von x1 an einem anderen Wert von x2 trennen.

159

Versteckte Eingabe- Lage Ausgabelage lage 300 200 Neue 100 Messgröße 0

Messgröße 1: x 1 Messgröße 2: x 2 Messgröße 3: x 3

Untergrund

Signal

0,25 0,5 0,75 Neue Messgröße

f j (x→) = f (aj + ∑i wij x i )

Das Funktionsprinzip eines neuronalen Netzwerkes am Beispiel eines sogenannten Feed Forward Neural Network

neriertes. Diese Methode wird genutzt, um Ereignisse zu simulieren: Ein gut trainiertes Netzwerk kann dann täuschend echt aussehende Ereignisse simulieren ().

Heute ist die Rechenkapazität von Computern so groß geworden, dass man die Eingangsgrößen nicht weiter vorbereiten muss, sondern dem Netzwerk direkt „tiefe“ Information übergeben kann. Das Netzwerk lernt dann komplexe Zusammenhänge direkt aus den Rohdaten (den „tiefen“ Daten) des Detektors, ohne dass die elektronischen Signale des Detektors vorher durch andere Algorithmen in Messgröße 2 Messgröße 2 Messgröße 2 Untergrund Untergrund Untergrund physikalisch bedeutsame Schnitt auf Messgrößen wie Impuls Schnitt 1 neue Messgröße oder Energie übersetzt werden, also quasi vorher auf eine höhere Ebene Schnitt 2 gehoben werden. Diese Selektierte Selektierte Ereignisse Herangehensweise wird Ereignisse Deep Learning genannt Messgröße 1 Messgröße 1 Messgröße 1 Signal Signal Signal und kommt z. B. auch Jeder Punkt stellt die Kombination der Messgrößen x1 und x2 einzelner Ereignisse eines Signals und eines Untergrunds dar. Mit Schnitten entlang der ursprünglichen Messgrößen lassen sich Signal und bei Sprachmodellen wie Untergrund schlechter unterscheiden als mit einem Schnitt auf die neue kombinierte Messgröße des ChatGPT zum Einsatz. Neuronale Netzwerke finden heute auch Anwendungen bei anderen Aufgaben. So können sich Netzwerke einen Wettkampf liefern: Ein erstes Netzwerk lernt, immer originalgetreuere Bilder eines Objekts zu erzeugen, und ein zweites Netzwerk versucht zu erraten, ob ihm ein wahres Bild gezeigt wurde oder ein künstlich ge-

neuronalen Netzes. In der Abbildung erkennt man gut, dass die neue kombinierte Messgröße der Distanz zur roten Schnittlinie entspricht.

Simulationen in der Experimentalphysik  S. 84

160

6 Grundlagen der Auswertung von Teilchenphysikmessungen

Die Erfindung des World Wide Web

Offene weltumspannende Wissenschaft für eine offene Gesellschaft Teilchenphysikerinnen und -physiker aus aller Welt arbeiten an Projekten, die teilweise Tausende experimentell arbeitende Wissenschaftlerinenn und Wissenschaftler in einer gemeinsamen Arbeit an Experimenten und Publikationen zusammenführen, oder die den kritischen Austausch hochfliegender Ideen zwischen theoretisch arbeitenden Forschenden aus aller Welt betreffen. Diese Arbeit beruht auf dem offenen Austausch von Ideen in einer offenen Gesellschaft der Wissenschaft, über alle Grenzen hinweg. Dies hat grundlegende Auswirkungen auf unsere gesamte Informationsgesellschaft. Der Ursprung der massenhaften Verwendung der allgemein als Internet bezeichneten Sammlung an elektronischen Informationsdiensten wie z. B. der E-Mail oder anderen auf der bestehenden Internet-Infrastruktur beruhender Dienste liegt im Jahr 1989 bei Tim Berners-Lee am CERN. Um den vier experimentellen Kollaborationen am Large Electron-Positron Collider Die erste Webseite der Welt am CERN aus dem Jahr 1989

Tim Berners-Lee am CERN

LEP (Warum ausgerechnet das Standardmodell? ) eine bessere Möglichkeit zur weltweiten Kommuniaktion zu verschaffen, entwickelte er einen auf Visualisierung von Text (und sehr bald Bildern und Videos) basierten Informationsaustauschdienst, in dem jeder Inhalt mit jedem verknüpft werden konnte: Das World Wide Web (WWW) war geboren. CERN stellte den Dienst unter eine freie Lizenz und machte damit eine technologische Entwicklung genauso offen und frei der Menschheit zugänglich wie auch die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Experimente. Ein Bild der ersten Webseite der Welt ist in der Abbildung links zu sehen. Das, was das WWW zu einem Netz macht – die geniale Idee der einfachen Verknüpfung von Inhalten – und was unsere Informationsgesellschaft heute formt, funktioniert in diesem Buch in gedruckter Form aber nicht: Mit dem Finger auf Links zu tippen wird Sie nicht zu den verknüpften Inhalten führen.

CERN https://home.cern/science/computing/birth-web The birth of the Web (englisch) Experimentelle Forschung in der Teilchenphysik  S. 24 Wie macht die Physik Fortschritte?  S. 22 Warum ausgerechnet das Standardmodell?  S. 228

Die Erfindung des World Wide Web

Seit 1990, dem Jahr der Veröffentlichung des WWW, ist der Informationsaustausch im Internet geradezu explodiert. Im Jahr 2014 produzierte jeder einzelne Mensch auf der Erde im Schnitt schon so viel digitalen Datentransfer wie im Jahr 1984 auf der ganzen Welt insgesamt ausgetauscht wurde – vor der Erfindung des WWW. Die Vernetzung und die niedrigschwellige Zugänglichkeit des WWW waren dafür entscheidend. Dass dies nicht nur mehr Informationsaustausch, sondern auch gesellschaftliche Veränderungen großer Tragweite hervorrief, ist unter kritischen und befürwortenden Stimmen unumstritten. Doch damit endet die Geschichte des offenen Datenaustauschs nicht: Heute betreiben die LHC-Kollaborationen und das CERN ein weltumspannendes Analysenetz für wissenschaftliche Daten, in dem mehr als zehn Gigabit an Daten pro Sekunde nicht nur ausgetauscht, sondern zur Rekonstruktion () und Analyse () auch verarbeitet werden. Zum offenen Austausch gehört der freie Zugriff auf Daten und Ideen, also auch der freie Austausch von wissenschaftlichen Veröffentlichungen ohne Abhängigkeit von den Wissenschaftsverlagen. Auch dies wird durch das World Wide Web ermöglicht: Heutzutage ist ein Preprint-Server eine allgemein anerkannte Plattform zum freien und für alle zugänglichen Austausch von Resultaten unabhängig von Peer Reviews, und der Publikation durch einen Wissenschaftsverlag. Das erste und mit heutzutage ca. 16.000 neuen Artikeln pro Monat auch aktivste Preprint-Archiv ist arxiv.org, das vom Teilchenphysiker Paul Ginsparg 1991 gegründet wurde. Nicht nur beschleunigt dies den Austausch, es ermöglichte auch allen Menschen ohne Universitätszugehörtigkeit, die Artikel zu lesen. Denn ohne die

161

„Forscher ziehen es vor, dass ihr Fortschritt von härterer Arbeit oder einer wichtigen Erkenntnis abhängt und nicht von einem privilegierten Zugang zu grundlegenden Materialien.“ – Aussage von arXiv-Gründer Paul Ginsparg, 2011

Abonnements, welche die Universitätsbibliotheken mit den Verlagen schließen mussten, um auf die Erkenntnisse ihrer eigenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zuzugreifen, konnte vorher kaum ein wissenschaftlicher Artikel gelesen werden. So wäre auch die jüngere Geschichte der Mathematik ohne das arXiv anders verlaufen: Grigori Perelman veröffentlichte 2003 nur dort und nicht in einem Journal seinen revolutionären Beweis der Poincaré-Vermutung, eines der bis dahin ungelösten sieben größten bekannten Rätsel der Mathematik, für den er den weltweit wichtigsten Mathematikpreis verliehen bekam: die Fields-Medaille. Die internationalen Datenströme der Rechenzentren der Teilchenphysik

Cornell University https://arxiv.org arXiv Rekonstruktion: Orts- und Impulsmessung  S. 72, Energiemessung von Teilchen  S. 74 und Signaturen von Teilchen  S. 76 Analyse: Trigger und Datenverarbeitung  S. 140 und Neuronale Netzwerke und maschinelles Lernen  S. 158

7 Das Standardmodell der Elementarteilchenphysik Schon in der Antike haben sich griechische Philosophen gefragt: Woraus besteht die Materie? Wie oft kann man einen Gegenstand zerteilen? Gibt es unteilbare elementare Bausteine, ursprünglich A-tome genannt, unteilbar? Wir wissen heute, dass es folgende als elementar angenommene Bausteine der Materie gibt: Die drei geladenen Leptonen (e −, 𝜇−,𝜏 −), die drei Neutrinos (𝜈e, 𝜈𝜇, 𝜈𝜏 ), die sechs Quarks (u, d, s, c, b, t) und jeweils ihre Antiteilchen. Diese Teilchen wechselwirken alle miteinander über die elektromagnetische, die schwache und die starke Wechselwirkung, und zwar durch den Austausch sogenannter Eichbosonen. Davon gibt es insgesamt zwölf: Das Photon (Elektromagnetismus), das W ±- und das Z 0 (schwache Wechselwirkung), sowie acht Gluonen (starke Wechselwirkung). Diese Teilchenschar wird durch das Higgs-Boson ergänzt, das für die Massen aller Elementarteilchen verantwortlich ist. All diese Zutaten ergeben zusammen das sogenannte Standardmodell der Teilchenphysik. Der Name mag banal erscheinen, aber es ist die beste und präziseste Theorie der Natur, die wir haben. Es beschreibt Festkörper bis hinunter zu den allerniedrigsten Temperaturen bei 0 Kelvin (etwa 10−4 eV), sowie alle Phänomene vom Wasserstoffatom bei einer Energie von 10 eV bis zu den Kollisionen am LHC bei 1013 eV und gar dem Bombardement der kosmischen Strahlen auf unsere Atmosphäre bei 1020 eV. Dieses Kapitel gibt eine Einführung in die grundlegenden Konzepte des Standardmodells, insbesondere der elektromagnetischen und der schwachen Wechselwirkung. Dabei gehen wir auch auf spannende Themen wie Symmetriebrechung, Paritätsverletzung und Neutrinooszillationen ein.

164

7 Das Standardmodell der Elementarteilchenphysik

Elektromagnetismus Die alltägliche Kraft

Elektrische Ladungen ziehen sich an oder stoßen sich ab. Bewegte elektrische Ladungen, z. B. ein elektrischer Strom, erzeugen Magnetfelder. Außerdem erzeugen sich verändernde Magnetfelder wiederum elektrische Felder. Dies kann zu spektakulären Entladungen führen, wie beim Tesla-Transformator in der Abbildung. Dort wird ein elektrischer Schwingkreis resonant () angeregt, was zu sehr hoher elektrischer Spannung führt. Elektrische und magnetische Kräfte sind untrennbar miteinander verbunden und in der Theorie des Elektromagnetismus vereinigt. Diese Theorie war die erste große Vereinheitlichung von Naturkräften. Wenn man Quanteneffekte miteinbezieht und damit berücksichtigt, dass elektromagnetische Felder aus Photonen bestehen, so erhält man die Quantenelektrodynamik (QED), eine sogenannte quantisierte Eichtheorie (). Die elektromagnetische Kraft ist zusammen mit der Gravitation die bestimmende Kraft in unserem Alltag. Alles Licht, was wir sehen, besteht aus elektromagnetischen Wellen, irgendwo erzeugt durch beschleunigte elektrische Ladungen () oder Atomübergänge. Alle unsere elektronischen Geräte funktionieren mit Elektromagnetismus. Aber auch die Festigkeit gewöhnlicher, neutraler Materie beruht auf elektromagnetischen Kräften. Wenn man mit der Hand gegen eine Wand drückt, bzw. die Wand zurückdrückt, so spürt man hier die elektromagnetische Kraft. Die geladenen Elektronen und Kerne innerhalb der Atome in der Hand sowie in der Wand stoßen sich ab, wenn sie jeweils zu nah aneinander kommen.

Ein Tesla-Transformator erzeugt Entladungen.

Auf der Ebene der Elementarteilchen ist der Elektromagnetismus neben der schwachen und der starken Kraft eine der drei Kräfte im Standardmodell der Teilchenphysik. Der Elektromagnetismus wirkt zwischen elektrisch geladenen Teilchen, wie z. B. zwischen dem Elektron und dem Proton im Wasserstoffatom, und zwar durch den Austausch von Lichtteilchen, den

Resonanzen  S. 52 Eichtheorie: Äußere und innere Symmetrien  S. 92, Eichsymmetrien  S. 94 Beschleunigung und Strahlung  S. 38

Elektromagnetismus

165

Elektromagnetische Wechselwirkung zwischen einem Elektron und einem Proton durch Austausch eines Photons

können z.B. zwei W-Bosonen in der Kollision von einem Elektron mit einem Positron entstehen. Dabei wird ein Photon ausgetauscht, wie im Feynman-Diagramm unten links gezeigt.

Photonen. Diese Photonen sind masselos und fliegen mit Lichtgeschwindigkeit. Die Energie eines Photons ist proportional zur Frequenz f der Strahlung. In der Abbildung oben ist ein Feynman-Diagramm für die Wechselwirkung () zwischen einem Elektron und einem Proton gezeigt.

Neutronen sind elektrisch neutral, haben aber einen Spin, also ein magnetisches Moment. Dadurch kann man sie mit Magnetfeldern einfangen und für Präzisionsexperimente benutzen. Neutrinos und Gluonen sind ebenfalls elektrisch neutral, so dass Photonen auch mit Neutrinos und mit den Gluonen der starken Kraft nicht direkt wechselwirken.

e−

e− Photon 𝛾

Proton

Proton

Ein Großteil der Geräte in der Hochenergie-Experimentalphysik beruht auf dem Elektromagnetismus. Am LHC-Beschleuniger werden die Protonen durch Magnete auf der Kreisbahn gehalten und durch elektrische Felder beschleunigt. Wenn die neu produzierten Teilchen durch den Detektor fliegen, erzeugen sie elektromagnetische Impulse (), die aufgezeichnet werden, um die Spuren zu rekonstruieren.

Das Higgs-Boson ist ein weiteres elektrisch neutrales Teilchen, allerdings können hier Quanteneffekte zu einer Wechselwirkung mit Photonen führen. Dies ist in der Abbildung unten rechts gezeigt. Hier zerfällt ein Higgs-Boson in ein Paar aus top-Quark und top-Antiquark (von allen Quarks koppelt das Top am stärksten an das Higgs-Boson), die sich vernichten und zwei Photonen erzeugen. Das top-Quark und das topAntiquark sind hierbei virtuell (Artikel zur Reichweite Der Elektromagnetismus wirkt auch auf die Quarks, da ). So kann das Higgs-Boson letztendlich in zwei Phodiese ebenfalls elektrisch geladen sind. Wenn ein hoch- tonen zerfallen. Unter anderem durch diesen Zerfall energetisches Elektron an Protonen streut, so sieht das wurde das Higgs-Boson 2012 entdeckt (). ausgetauschte Photon die Quarks im Proton, wie im Artikel zur Struktur des Protons () erklärt wird. Feynman-Graph für den Das W -Boson der schwachen Kraft ist elektrisch geladen und wechselwirkt somit auch mit Photonen. So ±

Feynman-Graph für die Produktion von zwei W-Bosonen durch die Annihilation eines Elektron und eines Positrons

e−

Zerfall eines Higgs-Bosons in zwei Photonen. Dies ist nur über einen Ein-SchleifenProzess möglich.

top

Higgs

top top

W+ 𝛾

e+

Wechselwirkung zwischen Teilchen und Materie  S. 64 Orts- und Impulsmessung  S. 72 Die Struktur des Protons  S. 198 Über die Reichweite von Wechselwirkungen  S. 54 Die Entdeckung des Higgs-Bosons  S. 230

W−

Die elektromagnetische Kraft ist essentiell, um unseren Alltag zu verstehen. Sie ist ein fundamentaler Baustein des Standardmodells der Elementarteilchenphysik und findet in allen Experimenten Anwendung.

166

7 Das Standardmodell der Elementarteilchenphysik

Die schwache Wechselwirkung Verwandlung ist möglich

Die schwache Wechselwirkung beruht auf dem Austausch von W ±- und Z 0-Bosonen. Im Gegensatz zum masselosen Photon des Elektromagnetismus haben diese Bosonen eine große Masse: MW = 80,4 GeV/c 2 und MZ = 91,2 GeV/c 2. Damit hat diese Kraft nur eine sehr geringe Reichweite (), etwa 10 −18 m, kleiner als der Atomkernradius von 10 −15 m. Sie spielt demzufolge in unserem unmittelbaren Alltag keine Rolle. Wie wir sehen werden, ist sie aber z. B. essenziell, damit die Sonne funktioniert, und spielt eine große Rolle in Teilchenphysikexperimenten.

den ist, werden diese Reaktionen auch geladene Ströme genannt. Man beachte aber, dass die Myonmasse (105,6 MeV/c 2) und die Pionmasse (139,6 MeV/c 2) viel kleiner als die Masse des W-Bosons sind. Deswegen sind in beiden Fällen die W-Bosonen virtuell. Die Pärchen, in die jeweils das W −-Boson zerfallen kann, sind zusammenfassend:

Die schwache Wechselwirkung unterscheidet sich grundlegend von der elektromagnetischen und der starken Wechselwirkung dadurch, dass sie Teilchen ineinander umwandeln kann. So wird beim 𝛽-Zerfall des Neutrons ein d-Quark in ein u-Quark umgewandelt und dabei ein W −-Boson abgestrahlt. Das W −-Boson zerfällt daraufhin in ein Elektron und ein ElektronNeutrino (Produktion und Zerfall ).

In der oberen Reihe stehen drei Lepton-Pärchen, unten drei Quark-Pärchen. Die Pärchen, die vertikal übereinander stehen, bilden jeweils eine Familie. Es gibt also drei Familien (Up und Down, rechts und links ). Von links nach rechts gibt es drei Arten von Neutrinos, man nennt das auch drei Flavours. Ebenso gibt es drei geladene Lepton-Flavours (e −, 𝜇−, 𝜏 −) und sechs QuarkFlavours (u, c, t, d, s, b).

Weitere Beispiele sind die Zerfälle des Myons, sowie des Pions, die bei den kosmischen Strahlen, die auf die äußere Atmosphäre unserer Erde treffen, eine wichtig Rolle spielen (siehe Anwendungen spezielle Relativitätstheorie  und auch die Feynman-Diagramme): 𝜇 − ĺ 𝜈𝜇 + e − + 𝜈ē , 𝜋 − ĺ 𝜇− + 𝜈𝜇̄ . Wir sehen im ersten Fall, dass sich ein Myon in ein Myon-Neutrino umwandelt und ein W −-Boson abstrahlt. Beim Pion annihiliert sich ein d-Quark mit einem uAntiquark zu einem W −-Boson. Da das W-Boson gela-

Über die Reichweite von Wechselwirkungen  S. 54 Produktion, Zerstörung und Zerfall von Teilchen  S. 50 Anwendungen der speziellen Relativitätstheorie  S. 88 Feynman-Diagramme  S. 48 Up, Down, Rechts und Links  S. 168

𝜈 (  e −e  ) ( u ) d

(  𝜈𝜇−  ) 𝜇 ( c ) s

(  𝜈−𝜏  ) 𝜏 ( t  ) b

𝜈𝜇 𝜇− W− Feynman-Graphen für den Zerfall eines Myons (oben) und eines Pions (unten)

e− 𝜈̄e

d 𝜋





W−

𝜇− 𝜈̄𝜇

Die schwache Wechselwirkung

167

Als Anwendung schauen wir uns die Fusion von Ker- tauscht wird, könnte stattdessen auch ein Z -Boson nen in der Sonne an. Die abgestrahlte Energie der Son- ausgetauscht werden (siehe die Abbildungen in den ne wird durch eine Reihe von Reaktionen erzeugt, de- Feynman-Artikeln ), aber nicht umgekehrt. ren wichtigste man in der Summe schreiben kann als1 Das Z -Boson koppelt auch an Neutrinos. Dazu be4 H ĺ 24He + 2 e + + 2 𝜈e . trachten wir als Beispiel die Elektron-Neutrinos, die Hierbei wandeln sich u-Quarks in zwei der vier Proto- in der Sonne erzeugt werden. Sie werden auf der nen in d-Quarks um, wodurch die Protonen zu Neut- Erde im Detektor durch geladene Ströme, W-Bosonronen werden. Dabei werden zwei W-Bosonen abge- Wechselwirkungen, in Elektronen umgewandelt, die strahlt, die jeweils in ein (e +, 𝜈e)-Pärchen zerfallen. Es nachgewiesen werden können. Durch Neutrinooszilhandelt sich also offensichtlich um einen Prozess der lationen () wandeln sich manche 𝜈e unterwegs zur schwachen Wechselwirkung. Die starke Kraft ist hier- Erde in 𝜈𝜇 oder 𝜈𝜏 um. Ein 𝜈𝜇 oder ein 𝜈𝜏 ist über eibei für die Energiegewinnung zuständig, da die Bin- nen geladenen Strom nicht nachweisbar, weil die sodungsenergie des Heliumkerns (zwei Protonen, zwei laren Neutrinos nicht genug Energie mitbringen, um Neutronen) als kinetische Energie der Positronen und ein geladenes Myon- oder Tau-Lepton zu erzeugen Neutrinos frei wird. Die Gravitation hält natürlich die (m𝜇 = 105,6 MeV/c 2; m𝜏 = 1,77 GeV/c 2). Es ist aber Sonne zusammen und sorgt durch den Druck dafür, gelungen, mit dem SNO-Experiment diese Neutrinos dass die Protonen für die Fusionsreaktion nahe genug über ihren neutralen Strom nachzuweisen. Im SNOaneinander kommen. Da der Elektromagnetismus für Detektor gab es schweres Wasser, D2O, bei dem der die Photonen verantwortlich ist, können wir die Sonne Wasserstoff durch Deuterium ersetzt ist. Deuteriumnur verstehen, indem wir alle vier uns bekannten Kräf- kerne bestehen aus einem gebundenen Proton und te betrachten. einem Neutron. Ein vorbeifliegendes solares Neutrino kann nun ein Z-Boson mit einem solchen DeuteriumDas Z -Boson ist elektrisch neutral. Genau wie das Pho- kern austauschen. Die Energie des Neutrinos reicht aus, ton wandelt es nicht Teilchen ineinander um, sondern um den Deuteriumkern in ein Proton und ein Neutron es führt zu einem neutralen Strom (). Eine einfache zu spalten, wie in der Abbildung unten gezeigt. Das Beispielreaktion für das Z-Boson ist in der Abbildung entstandene Neutron kann man dann nachweisen. gezeigt. In jeder Reaktion, in der ein Photon ausge𝜈e,𝜇,𝜏

𝜈e,𝜇,𝜏 𝜇−

e−

e+

1

Ein Neutrino spaltet einen Deuteriumkern durch Austausch eines Z-Bosons.

Z0

Ein Elektron und ein Myon tauschen ein Z-Boson aus.

𝜇+

Z0 pp

Deuteriumkern

Die Zwischenschritte sind im Artikel Elemententstehung in Sternen  S. 308 beschrieben.

Die Entdeckung der neutralen Ströme  S. 220 Feynman-Diagramme II  S. 98 Neutrinos von der Sonne  S. 320, Neutrinooszillationen  S. 186

n n

pn

n

p n

168

7 Das Standardmodell der Elementarteilchenphysik

Up, Down, Rechts und Links Wer ist mit wem verwandt?

Das Standardmodell enthält zwölf Fermionen. Das sind sechs Leptonen, das geladene Elektron (e −), Myon (𝜇−) und Tauon (𝜏 −) mit ihren drei zugehörigen Neutrinos 𝜈e, 𝜈𝜇, 𝜈𝜏 und außerdem sechs Quark-Arten, sogenannte Flavours: Up, Down, Charm, Strange, Top und Bottom. Schematisch werden sie zu folgendem Muster zusammengefasst: 𝜈 (  e e  ) , eR; L u (   ) , uR, dR; d L

(  𝜈𝜇  ) , 𝜇R; 𝜇 L c (   ) , cR, sR; s L

(  𝜈𝜏  ) , 𝜏R 𝜏 L t (   ) , tR, bR b L

In der speziellen Relativitätstheorie ist die Impulsrichtung bezüglich des Spins nur für masselose Teilchen unabhängig vom Bezugssystem, weil diese immer mit Lichtgeschwindigkeit fliegen – und nichts ist schneller. Für massive Teilchen kann man immer ein schnelleres Bezugssystem in Impulsrichtung finden, so dass von diesem aus gesehen der Impuls pĺ seine Richtung umkehrt. Der Spin kehrt sich aber beim Wechsel zu einem schnelleren Bezugssystem nicht um.

Betrachten wir als Beispiel einen Beobachter am Boden, an dem ein kleines Propellerflugzeug vorbeifliegt. Der 𝜈e Die Pärchen mit Index L, z. B. ( e  )L , sind jeweils die Propeller ist ein Kreisel und dreht sich, sagen wir, vom Teilchen, die zusammen mit dem W-Boson und dem Piloten aus gesehen rechts herum, also im UhrzeigerZ -Boson wechselwirken (). Die Teilchen mit Index R sinn. Dann ist die Helizität positiv und der zugehöriwechselwirken nicht mit dem W-Boson, wohl aber mit ge Drehimpuls zeigt in Flugrichtung. Von einem viel dem Z -Boson. Wir wollen in diesem Artikel die Bedeu- schnelleren, großen Düsenflugzeug aus gesehen, betung der Indices L und R klären, sowie den Zusam- wegt sich das kleinere Flugzeug rückwärts, also ist der menhang mit der Struktur des Standardmodells. Impulsvektor umgekehrt. Der Propeller dreht sich aber für beide immer noch in die gleiche Richtung, somit Der Spin der Fermionen, z. B. der Elektronen, ist 1/2 sieht der Pilot im Düsenflugzeug eine negative Heliziund hat im Raum eine Ausrichtung (). Bezüglich des tät. Insgesamt ist die Helizität also vom Bezugssystem eigenen Impulsvektors pĺ kann er entweder parallel oder abhängig und nicht eine inhärente Eigenschaft der antiparallel ausgerichtet sein. Der dünne, orangefarbeTeilchen. Impuls p→ ne Pfeil in der Abbildung zeigt die Impulsrichtung, der Spin breite, blaue Pfeil die Spinrichtung. Ein Teilchen mit Es gibt in der relativistischen Spin in Richtung des Impulses heißt rechtshändig, mit Quantenmechanik noch entgegengesetztem Spin linkseine andere Quantenzahl, Spin händig. Man sagt: Ein rechtsgenannt Chiralität (grieDie Helizität wird durch händiges Elektron hat Helizität die Richtung von Spin chisch für „Händigkeit“). Sie +1/2, also positiv, ein linkshän- und Impuls eines Teilist leider nicht so anschauchens bestimmt. diges −1/2, also negativ. linkshändig rechtshändig lich zu verstehen wie die He-

Die schwache Wechselwirkung  S. 166 Spin  S. 44

Up, Down, Rechts und Links

169

eL− und eR− koppeln beide an das Z-Boson, aber mit unterschiedlicher Stärke, d. h. auch das Z-Boson spürt die unterschiedliche Chiralität. Man beachte auch: Es gibt kein rechtshändiges Neutrino 𝜈R im Standardmodell. Die Ladungen eines rechtshändigen Neutrinos wären so, dass es weder an das Photon, noch an das Z- oder W-Boson koppelt. D. h. es wechselwirkt im Standardmodell gar nicht und wird deshalb weggelassen. Wir wissen nicht, ob es rechtshändige Neutrinos gibt. Propeller- und Düsenflieger

lizität. Im Falle von masselosen Teilchen, die ja immer mit Lichtgeschwindigkeit fliegen, stimmt die Chiralität genau mit der Helizität überein. Die Chiralität hängt aber nicht vom Bezugssystem ab. Es ist eine Eigenschaft, die den Teilchen innewohnt. Die Teilchen heißen dann auch rechts- bzw. linkshändig, genau wie bei der Helizität. Es gibt beispielsweise vom Elektron zwei Versionen, ein linkshändiges Elektron (eL−) und ein rechtshändiges (eR−). Beim LHC-Beschleuniger sind die Energien so hoch, dass die Elektronen praktisch masselos sind und mit annähernd Lichtgeschwindigkeit fliegen. Dort sind die Chiralität und die Helizität praktisch identisch. Das Interessante daran ist, dass sich rechts- bzw. linkshändige (Chiralität) Teilchen unter der speziellen Relativitätstheorie unterschiedlich verhalten. Es sind wirklich unterschiedliche Teilchen! Und jetzt wird es noch interessanter: Die Natur weiß, dass diese Teilchen unterschiedlich sind. Es ist nur das linkshändige Elektron, welches an das W −-Boson koppelt, nicht das rechtshändige! Das ist in dem Muster mit den Pärchen am Anfang des Artikels dargestellt. Das eR− ist aber nicht in einem Pärchen. Es koppelt nicht an das W −–Boson.

QCD: Quantenchromodynamik  S. 190 Diskrete Symmetrien: P- und CP-Verletzung  S. 178

Das Photon koppelt an eL− und eR− gleich stark, und das Gluon ebenso an uL, uR. Es ist nur die schwache Wechselwirkung von W- und Z-Bosonen, die diesen Unterschied kennt. Ganz links in unserem Muster gibt es das ElektronNeutrino-Pärchen, das u-d-Quark-Pärchen sowie eR, uR und dR. Zusammen bezeichnet man diese als die erste Familie. Diese Struktur wird drei mal wiederholt. Zusammen ergibt das die drei Familien des Standardmodells. Zu dem Muster kommen noch die Antiteilchen hinzu (nicht gezeigt), die das Bild verdoppeln. Sie haben umgekehrte elektrische Ladungen und Chiralitäten. Das Pärchen (𝜈ē e +)R koppelt dann an das W + und das eL+ nicht. Zusätzlich müssen wir noch die Farbladung (QCD ) der Quarks berücksichtigen. Im Muster steht jedes Quark eigentlich für drei Quarks, z. B. uL : uLrot, uLblau, uLgrün, und analog für alle anderen Quarks. Das W −-Boson koppelt ein uLrot mit einem dLrot, das W + ein ūRrot mit einem d ̄Rrot. Diese chirale Struktur der schwachen Wechselwirkung führt dazu, dass wir keine rechtshändigen Neutrinos beobachten können und dass die Parität in Kernzerfällen gebrochen ist (P- und CP-Verletzung ).

170

7 Das Standardmodell der Elementarteilchenphysik

Die unsichtbare Breite des Z-Bosons Es gibt nur drei Neutrinos! 10 5

ALEPH DELPHI L3 OPAL

Z 10 4

Produktionsrate

Wir betrachten in diesem Artikel die Eigenschaften des Z-Bosons genauer. Von 1989 bis 2000 war am CERN der große Elektron-Positron-Speicherring LEP (Large Electron-Positron Collider, ) in Betrieb, in dessen Tunnel später der LHC gebaut wurde. Am LEP-Beschleuniger wurden Elektronen und Positronen in entgegengesetzter Richtung im Ring beschleunigt und an vier bestimmten Punkten zur Kollision gebracht, genau dort, wo die Detektoren ALEPH, DELPHI, L3 und OPAL standen. Die resultierenden Ereignisse wurden damit unabhängig voneinander genauestens untersucht und konnten verglichen werden.

e +e − → Hadronen 10 3

10 2

W +W −

10 0

20

40

60

80

100 120 140 160 180 200 220

Gesamtstrahlenergie [GeV]

Wir schauen uns nun einen Prozess genauer an: die Erzeugung eines Quark-Antiquark-Paares aus einem Elektron und Positron: e +e − ĺ qq̄ . Für diesen Vorgang gibt es ein Feynman-Diagramm mit einem Photonaustausch (γ) und ein zweites mit dem Austausch eines Z -Bosons (unten in einem Bild zusammengefasst). Addiert und quadriert man die mathematischen Ausdrücke dieser beiden Diagramme, dann ist das Resultat proportional zur Produktionsrate, also der Anzahl der produzierten qq̄ -Paare pro e +e −-Kollision (Feynman II ). Diese Produktionsrate ist in der Abbildung als Funktion der kombinierten Strahlenergie vom e −- und e +-Strahl dargestellt (schwarze Kurve; die Skala links e− Feynman-Diagramm zur Erzeugung von Myonen aus der Kollision eines Elektrons und eines Positrons

q 𝛾, Z 0

e+

LEP: Warum ausgerechnet das Standardmodell?  S. 228 Feynman-Diagramme II  S. 98



Beobachtungen (Datenpunkte) und theoretische Berechnungen (Kurve) der Produktionrate. Bei der Energie des Z-Bosons gibt es ein Maximum.

ist logarithmisch). Die Quarks werden als Hadronen beobachtet. Bei niedriger Gesamtstrahlenergie, 20 bis 60 GeV, dominiert der Photonaustausch und die Rate fällt mit steigender Strahlenergie deutlich. Ab etwa 70 GeV dominiert der Z -Bosonaustausch und die Rate steigt rasant an, bevor sie wieder abfällt. Über die gesamte Kurve stimmen die theoretischen Berechnungen mit den Beobachtungen sehr gut überein. Die Masse des Z-Bosons wird durch die genaue Ausmessung der Kurve der Produktionsrate bestimmt. Dazu wird die Strahlenergie in kleinen Schritten im Beschleuniger variiert und bei jedem Energiewert die Produktionsrate gemessen. Die Spitze der resultierenden Kurve liegt sehr nah bei der Z -Boson-Masse: 91,2 GeV.

Die unsichtbare Breite des Z-Bosons

Man kann weitere Informationen aus der Höhe des Maximums sowie aus der Breite der Kurve auf halber Höhe, also daraus, wie schmal die Spitze ist, gewinnen. Diese Breite auf halber Höhe wird ΓZ genannt („Gamma-Z“ ausgesprochen) und ist in der Abbildung rechts unten eingezeichnet. Das ΓZ kann man auch ausrechnen, was direkt von den Zerfallsmöglichkeiten des ZBosons abhängt. Davon gibt es viele verschiedene: Das Z -Boson kann in Paare geladener Leptonen, Paare von Neutrinos oder in Quark-Antiquark-Paare zerfallen e +e −, 𝜇 +𝜇 −, 𝜏 +𝜏 −, 𝜈 e 𝜈ē , 𝜈 𝜇 𝜈𝜇̄ , 𝜈 𝜏 𝜈𝜏̄ ; uū, dd ,̄ ss ̄, cc ,̄ bb ̄ .

Z→{

Ein Zerfall in tt ̄ ist nicht möglich, da das top-Quark schwerer als das Z-Boson ist. Die Neutrino-Paare kann der Detektor nicht beobachten. Je mehr solcher Zerfälle es gibt, desto größer ist in der Resonanzkurve die Breite der Kurve (ΓZ) und desto niedriger ist das Maximum. Deshalb kann man dies benutzen, um die Anzahl der leichten Neutrinos, die an das Z -Boson koppeln, zu bestimmen, obwohl die Neutrinos selbst nicht beobachtet werden. In der Abbildung rechts ist nur der Resonanzteil der vorherigen Kurve gezeigt. Es gibt jetzt drei Kurven: Die mittlere Kurve in Grün ist die des Standardmodells mit drei Neutrinos, identisch mit der vorherigen Abbildung. Die obere, rote Kurve würde man beobachten, wenn

Resonanzen  S. 52 Die zufällige Entdeckung des J/𝜓  S. 222 Messunsicherheiten  S. 82

es nur zwei Neutrinos statt drei gäbe. Die untere Kurve in Orange würde man messen, wenn es vier leichte Neutrinos gäbe. Wir sehen, dass die obere, rote Kurve am Maximum bei der Energie der Z-Boson Masse von 91,2 GeV deutlich höher ist als die grüne Kurve. Die untere, orangefarbene Kurve ist am Maximum deutlich niedriger als die grüne. Wir haben außerdem die jeweiligen Breiten auf halber Höhe des Maximums als gestrichelte Linien in entsprechender Farbe eingezeichnet. Die Daten, vor allem der Datenpunkt am Maximum, bevorzugen eindeutig die Kurve mit drei leichten Neutrinos. Wenn man die Veränderung der Neutrinozahl als kontinuierlichen Parameter betrachtet, so erhält man für die gemessene Anzahl der Neutrinos vom LEP Nν = 2,994 ± 0,012 , wobei 0,012 der Fehler der Messung ist (). Die Messung ist in exzellenter Übereinstimmung mit den drei Neutrinos des Standardmodells! Dies ist im hohen Maße erstaunlich: Ohne je direkt nach diesen Neutrinos gesucht zu haben, können wir ausschließen, dass es noch weitere leichte Neutrinos gibt, also solche mit einer Masse unterhalb der halben Z -Bosonmasse, die an das Z -Boson koppeln. 30 Produktionsrate

Dass es so eine Spitze gibt, ist ein Resonanzphänomen. Bei der Schaukel im Artikel zu Resonanzen () führte eine bestimmte Anstoßungsfrequenz, die Eigenfrequenz der Schaukel, zu maximaler Auslenkung. Wenn man im Kollider mit der Gesamtstrahlenergie genau die Z -Bosonmasse trifft, so führt dies zu maximaler Produktion (Entdeckung J/𝜓 ).

171

ALEPH DELPHI L3 OPAL

2𝜈

3𝜈 4𝜈

20

10

Ausschnitt aus der vorherigen Abbildung (Resonanzteil), mit 0 Kurven für 2, 3 oder 4 Neutrinos

Fehlerbalken um Faktor 10 vergrößert

86

ΓZ,2𝜈 ΓZ,3𝜈 ΓZ,4𝜈

90 92 88 Gesamtstrahlenergie [GeV]

94

172

7 Das Standardmodell der Elementarteilchenphysik

Spontane Symmetriebrechung im Standardmodell Das Higgs-Boson als Spielverderber

Im Artikel zur spontanen Symmetriebrechung () haben wir gesehen, wie Symmetrie spontan verschwinden kann: Kühlt man einen Permanentmagneten von hoher zu niedriger Temperatur ab, so wird die ursprüngliche Rotationssymmetrie um drei unabhängige Achsen zu einer Symmetrie um lediglich eine Achse reduziert. Diese Art, eine Symmetrie zu brechen und somit zu reduzieren, gibt es auch bei den Eichsymmetrien () im Standardmodell. Hier ist der Anfangszustand mit hohen Temperaturen das sehr heiße Plasma aus Elementarteilchen im frühen Universum. Zu diesem Zeitpunkt war die Eichsymmetrie die sogenannte SU(2)L × U(1)Y, was der schwachen Wechselwirkung (SU(2)L) zusammen mit einer weiteren Wechselwirkung namens Hyperladung (U(1)Y) entspricht. Seit dem Urknall () dehnt sich das Universum aus und kühlt sich dabei ab. Bei abfallender Temperatur verformt sich das Potential des Higgs-Bosons, so dass unterhalb einer Temperatur von etwa 246 GeV (3 · 1015 Grad Celsius) die Symmetrie gebrochen ist, zu der kleineren Symmetrie U(1)EM des Elektromagnetismus (). Insgesamt haben wir also SU(2)L × U(1)Y

die jeweils an das W −- und das W +-Boson koppeln. Das zweite Pärchen enthält die Antiteilchen des ersten Pärchens. Das H ̄0 hat die umgekehrte U(1)Y-Hyperladung zum H 0. Mit den zwei Feldern H 0 und H 0̄ ist eine potentielle Energie im System, bzw. ein Potential VHiggs, verbunden, was wir schematisch dreidimensional in den beiden Bildern unten dargestellt haben. Die Achsen im flachen Bereich sind die Werte der HiggsFelder H 0 und H ̄0, die vertikale Achse stellt die potentielle Energie im System dar. Je größer der Wert des Higgs-Feldes ist, desto höher ist die potentielle Energie, und zwar steigt sie mit der vierten Potenz der Werte des Higgs-Felds. Auf dem linken Bild ist das Potential bei sehr hohen Temperaturen gezeigt, auf dem rechten Bild weit unterhalb von 246 GeV, z. B. bei Zimmertemperatur. Bei sehr hohen Temperaturen sieht das Potential wie eine Salatschüssel aus. Es ist rotationssymmetrisch um die vertikale Achse und das Minimum der Energie und da-

U(1)EM

Wir schauen uns nun an, was genau mit den HiggsBosonen bei der Symmetriebrechung passiert. Ähnlich wie z. B. die Leptonen formen die vier HiggsFelder bei hohen Energien zwei SU(2)L-Pärchen (Up, Down, Links, Rechts ) + − ( H  0 ) ( H  ̄0  ) H , H ,

Spontane Symmetriebrechung  S. 58 Eichsymmetrien  S. 94 Urknall  S. 266 Elektromagnetismus  S. 164 Up, Down, Rechts und Links  S. 168

Higgs-Potential bei hohen (links) und niedrigen (rechts) Symmetrien

Spontane Symmetriebrechung im Standardmodell

H

H

H H

H H

H H H

H

H H

H

H

H

H

H

H

H

H

H

H

H

H

H

H H

H

H

173

In diesem Zustand hat das H 0-Feld einen konstanten Wert, den Vakuumerwartungswert 〈H 0〉 = 246 GeV. Dies bedeutet, dass das ganze Universum gleichmäßig mit einem Hintergrund von Higgs-Teilchen erfüllt ist. An diesen Higgs-Teilchen streuen notwendigerweise die anderen Teilchen, z. B. das Elektron, und erhalten so ihre Masse. Der Feynman-Vertex für die ElektronHiggs-Kopplung ist im unteren Bild links gezeigt: Ein rechtshändiges Elektron eR− koppelt zusammen mit einem linkshändigen Elektron eL− an das Higgs-Boson.

Das Universum ist gleichmäßig mit Higgs-Bosonen gefüllt.

mit der bevorzugte Grundzustand des Systems liegt am Ursprung, am Boden der Salatschüssel. Dort befindet sich dann energetisch auch das ganze Higgs-System, hier als kleine blaue Kugel gezeigt. An diesem Punkt sind die Grundzustände der beiden Felder H 0 und H ̄0 null, sie verschwinden also. Zu diesem Zeitpunkt im heißen frühen Universum werden die Higgs-Felder in Reaktionen erzeugt und vernichtet, so wie auch z. B. top-Quarks, aber es gibt keinen konstanten Hintergrund von Higgs-Teilchen und somit hat auch kein Elementarteilchen eine von null verschiedene Masse.

An diesem Vertex müssen wie immer alle Quantenzahlen erhalten sein. So wandelt sich links ein eL−, welches Teil eines SU(2)L-Pärchens ist, in ein eR− um, was nicht Teil eines solchen Pärchens ist. Das ist in Ordnung, da die beiden an das H 0 koppeln, was auch Teil eines Pärchens ist. Die Pärchenzahl ist sozusagen erhalten.

Wenn ein Elektron mit einem Hintergrund-HiggsBoson im Vakuum wechselwirkt, dann sehen wir den Higgs-Teil der Reaktion nicht. Das ist im rechten Bild mit dem ⊗ bei dem Higgs-Boson gezeigt. Für uns sieht es so aus, also ob sich ein eL− einfach in ein eR− umwandelt. Die Pärchenzahl ist verletzt, die zugehörige Wenn die Temperatur abfällt, verformt sich das Poten- Quantenzahl ist nicht mehr erhalten. Die Symmetrie tial, wie auf der rechten Seite gezeigt. Am Ursprung bil- ist spontan gebrochen! Wie wir sehen, ist in allen Redet sich eine Beule aus, die von einer Rinne umgeben aktionen die elektrische Ladung nach wie vor erhalten. ist. Die Schüssel ist immer noch rotationssymmetrisch, Dies ist die übriggebliebene Symmetrie U(1)EM. aber das Minimum ist nicht mehr am Ursprung, soneR− eR− eL− dern befindet sich in der Rinne, in einigem Abstand eL− zum Ursprung. Deshalb verschiebt sich das System zu einem Punkt in der Rinne. Alle Punkte in der Rinne sind energetisch gleichberechtigt (Rotationssymmetrie). Das System muss jedoch einen Punkt als Grundzustand auswählen – die blaue Kugel muss irgendwo H0 hin – hier gezeigt entlang der H 0-Richtung. H 0 im Vakuum Elektron-Higgs-Kopplung

174

7 Das Standardmodell der Elementarteilchenphysik

Spontane Symmetriebrechung II Woher kommt das Photon?

Wie im vorherigen Artikel () beschrieben, hat das Standardmodell im frühen Universum bei Temperaturen über 246 GeV (3 · 1015 Grad Celsius) die Eichsymmetrie SU(2)L × U(1)Y. Zu der SU(2)L-Eichsymmetrie gehören drei Eichbosonen: die geladenen W-Bosonen: W ±, und ein neutrales W-Boson: W 0. Zu der U(1)YEichsymmetrie, auch Hyperladung genannt, gehört ein elektrisch neutrales Eichboson, welches mit B 0 bezeichnet wird. Die Symmetrie sagt vorher, wie die Eichbosonen an das Higgs-Boson koppeln. Beispielsweise koppeln zwei geladene W-Bosonen an zwei neutrale Higgs-Bosonen, wie links in der Abbildung gezeigt. W−

W−

W− g 2v 2

g2 H0

W−

H0

v = 〈H 0〉

v = 〈H 0〉

Kopplung der geladenen W-Bosonen an Higgs-Bosonen

Als die Temperatur im frühen Universum unter 246 GeV absank, wurde die Symmetrie spontan gebrochen. Dadurch besitzt das Higgs-Boson einen Vakuumerwartungswert, v = 〈H 0〉, was in der rechten Abbildung als ⊗ gezeigt ist. Dies führt zu neuen Wechselwirkungen: Die W-Bosonen streuen an dem Hintergrund von Higgs-Bosonen, wie im vorherigen Artikel die Elektronen. Die Higgs-Bosonen selbst sehen wir nicht, wir haben eine reine W-W-Kopplung. Genau dadurch erhält das W ±-Boson eine Masse. Das ist der Higgs-Mechanismus: Durch spontane Symmetriebre-

Spontane Symmetriebrechung im Standardmodell  S. 172

chung streuen die Eichbosonen am Higgs-Hintergrund und erhalten eine Masse. Der Feynman-Graph links in der Abbildung ist proportional der SU(2)L-Eichkopplung zum Quadrat: g 2. Der Graph rechts in der Abbildung ist dann proportional zu g 2v 2. Der Higgs-Mechanismus im Standardmodell sagt also vorher, dass die W ±-Bosonmasse durch MW2 = ½ g 2v 2 gegeben ist. Jetzt schauen wir uns das analog für die neutralen Eichbosonen an, wo es etwas komplizierter wird. Es führt uns aber zu den etwas ungewöhnlichen Eigenschaften des Z-Bosons und zum masselosen Photon des Elektromagnetismus. Aufgrund der SU(2)L-Eichsymmetrie gibt es ein dritten Eichboson, das W 0. Dieses koppelt an die HiggsBosonen wie oben links in der Abbildung oben auf der nächsten Seite gezeigt: Zwei W 0 wechselwirken mit zwei H 0. Das Diagramm ist auch proportional zu g 2, ähnlich wie das W ± in der vorherigen Abbildung. Das Eichboson der U(1)Y Hyperladung, B 0, koppelt ebenso an das Higgs-Boson, wie oben rechts in der Abbildung gezeigt: Zwei B 0 koppeln an zwei H 0, wie bei den W 0. Allerdings ist dieses Diagramm proportional zu g' 2, wobei g' die Kopplungskonstante der Hyperladungswechselwirkung U(1)Y ist. Nun gibt es bei den neutralen Eichbosonen eine weitere Kopplung, unten in der Mitte der Abbildung gezeigt.

Spontane Symmetriebrechung II

W0

W0

B0

175

B0 g' 2

g2 H0

H0

W

H0

0

B

H0 0

gg' H0

H0

Kopplung der ungeladenen Eichbosonen B 0 und W 0 an das Higgs

Hier koppeln ein B 0 und ein W 0 zusammen an die zwei Higgs-Bosonen. Das Diagramm ist proportional zu gg'.

nun Kopplungen der Form: W 0W 0, B 0B 0, sowie einen weiteren gemischten Term: W 0B 0. Diese Massenterme sind jeweils proportional zu v 2g 2, v 2g' 2 und v 2gg'. Der letzte Term beinhaltet beide Eichkopplungen. Wir haben zwei anscheinend reine Massenterme, W 0W 0 und B 0B 0, aber auch einen gemischten Massenterm W 0B 0. Um unsere Eichbosonen und ihre Massen zu bestimmen, müssen wir das W 0 und das B 0 umschreiben und durch neue Bosonen ausdrücken. Dies ist in der letzten Abbildung verdeutlicht. Es entspricht einer Drehung von zwei Vektoren in der Ebene. Die neuen Felder sind das Photon 𝛾 und das Z-Boson. Der Winkel der Rotation wird elektroschwacher Mischungswinkel 𝜃W genannt.

Photon 𝛾

Im nächsten und letzten Schritt ersetzen wir wieder die Higgs-Bosonen durch eine Kopplung an das Vakuum, ⊗, proportional zu v, wie in der Abbildung oben rechts gezeigt. Durch die drei Kopplungen haben wir

B0 Z0

𝜃W W0

W0

W0

B0

B0 Massenmischung der Eichbosonen

g' 2v 2

g 2v 2 v

v

W

v

0

v

B

0

gg' v 2

v

v

Kopplungen der ungeladenen Eichbosonen im Vakuum

Das resultierende Teilchen ist genau das Photon des Elektromagnetismus mit den entsprechenden Kopplungen an die elektrische Ladung und mit Masse null. Allerdings lassen sich diese durch die anderen Kopplungen ausdrücken, hier z. B. e = g/sin 𝜃W. Die Kopplung des Z 0 an das eL− ist anders als an das eR− und hängt auch von sin 𝜃W ab. Eine wichtige Vorhersage aus dieser Theorie ist noch das Verhältnis der W- und Z-Bosonmassen MW/MZ = cos 𝜃W, welches experimentell ebenfalls genau bestätigt wurde.

176

7 Das Standardmodell der Elementarteilchenphysik

Spontane Symmetriebrechung III

Was hat die bottom-Quark-Masse mit dem Higgs-Zerfall zu tun? Im Standardmodell koppeln die Fermionen wie beispielsweise das Elektron oder das bottom-Quark direkt an das Higgs-Boson, wie in der Abbildung unten gezeigt. Dabei wechselwirkt immer ein links- und ein rechtshändiges Fermion mit dem Higgs-Boson (). Die Kopplungsstärke wird für das Elektron mit he und für das bottom-Quark mit hb bezeichnet, analog für die anderen Fermionen – außer den Neutrinos. Da es kein rechtshändiges Neutrino im Standardmodell gibt, koppeln die Neutrinos nicht an das Higgs-Boson und sind deshalb im Standardmodell masselos (). Die Kopplungsparameter he, ht, ... sind im Standardmodell freie Parameter, d .h. sie sind zunächst unbestimmt.

eR−

eL−

H0

bR

bL

H0 v

v

Kopplung von Elektron und bottom-Quark an das Higgs-Boson mit Vakuumserwartungswert

ist in der Abbildung mit einem ⊗ gezeigt, zusammen mit einem v, für den Vakuumerwartungswert. Dieser Hintergrund an Higgs-Bosonen ist überall identisch (homogen) und unabhängig von der Richtung (isotrop). Das Elektron erhält durch die Streuung an dieBei hohen Temperaturen im frühen Universum, ober- sem universellen Hintergrund eine universelle Eigenhalb von 246 GeV, sitzt das Higgs-Feld am Minimum schaft: die Elektronmasse. Genauso ist es auch für die des Potentials am Ursprung () und hat keinen Vaku- anderen Fermionen: 𝜇, 𝜏 und u, d, s, c, b, t. umerwartungswert. In dieser Phase ist das Elektron masselos, da es nur mit den freien Higgs-Bosonen Dieser Higgs-Mechanismus bestimmt die Masse wechselwirken kann. Wenn die Temperatur im Uni- durch die Kopplung an das Higgs-Feld multipliziert versum deutlich unter 246 GeV fällt, verformt sich das mit dem Wert v: Higgs-Potential und das Higgs-Boson bekommt eime = he · v , mb = hb · v . nen Vakuumerwartungswert von v = 246 GeV. Es gibt dann einen Hintergrund an Higgs-Bosonen, an denen Das gilt analog auch für die anderen Fermionen außer Elektronen und bottom-Quarks streuen können. Das den Neutrinos. Alle Teilchen im Standardmodell erhalten durch den Higgs-Mechanismus ihre Masse: die bL eL− Leptonen und Quarks, aber auch das W- und das ZBoson. Das Photon und das Gluon bleiben verschont, H0 H0 weil das Higgs-Feld eine verschwindende elektrische Ladung und Farbladung hat (). Das ist der Ursprung b̄R eR+ mb me der Masse der Elementarteilchen. Unsere eigene Mashb = v he = v se kommt aber vorrangig von der Masse der Protonen

Kopplung von Elektron und bottom-Quark an das Higgs-Boson

Up, Down, Rechts und Links  S. 168 Neutrinomassen  S. 256 Spontane Symmetriebrechung im Standardmodell  S. 172 Spontane Symmetriebrechung II  S. 174

Spontane Symmetriebrechung III

177

und Neutronen in unserem Körper, die ihren Ursprung in der starken Wechselwirkung hat (). Die Elektronen tragen weniger als 0,1 % zu der Atommasse bei: Masse(Elektron)/Masse(Proton) = 0,054 %. Interessanterweise hängt der Atomradius, also die Größe aller Atome, direkt von der Elektronmasse ab, und zwar umgekehrt proportional. Würde das Elektron doppelt so stark an das Higgs-Boson koppeln, wäre es doppelt so schwer, aber alle Atome wären nur halb so groß.

H 0 ĺ bb ̄

= 57,7 %

H ĺ𝜏 𝜏

= 6,3 %

0

H ĺ cc ̄ 0

Wahrscheinlichkeit:

Am LHC sind schon sehr viele Higgs-Bosonen produziert worden (). Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Higgs-Boson in ein bestimmtes Fermionpaar zerfällt, ist direkt proportional zum Quadrat der Kopplung, man muss ja den mathematischen Ausdruck vom Feynman-Diagramm () quadrieren. Dann erhält man die folgenden Zerfallswahrscheinlichkeiten: Der Zerfall eines Higgs-Bosons in zwei Photonen über virtuelle top-Quarks

= 3,2 %

H ĺ𝜇 𝜇 0



+

= 0,02 %

H ĺe e 0

− +

= 5 · 10 −9

H 0 ĺ 𝛾𝛾

= 0,04 % − *

H ĺ W (W ) 0

+

0 *

H ĺ Z (Z ) 0

Die Massen der Fermionen wurden experimentell sehr genau vermessen. Wir können die obigen Gleichungen umdrehen und für das Elektron und das bottomQuark schreiben: m m he = e , hb = b . v v Das heißt, durch die Massenmessung bestimmen wir die Higgs-Kopplungsparameter. Im Higgs-Mechanismus koppelt das Higgs-Boson () an die Fermionen proportional zur Fermionmasse! Insbesondere ist die Kopplung an bottom-Quarks um den Faktor mb/me ≈ 8.000 größer! Auch die Eichbosonen W ± und Z 0 koppeln proportional zu ihrer Masse an das HiggsBoson.

− +

0

= 21,7 % = 2,6 %

Der Zerfall in bottom-Quarks ist 100 Millionen Mal häufiger als in Elektronen, da das bottom-Quark sehr viel schwerer als das Elektron ist. Die blau markierten Zerfälle wurden schon mit der vorhergesagten Häufigkeit beobachtet, im Rahmen der experimentellen Fehler. Zuerst wurde das Higgs-Boson über den relativ seltenen Zerfall in zwei Photonen beobachtet. Das zugehörige Feynman-Diagramm ist links gezeigt, mit virtuellen top-Quarks als Zwischenzustand. Die Beobachtung der Photonen war experimentell viel leichter als die der bottom-Quarks. Das Higgs-Boson kann nicht direkt in zwei Z-Bosonen zerfallen, da diese zusammen schwerer als das HiggsBoson sind. Ein Z-Boson als Zerfallsprodukt muss deshalb virtuell sein (Reichweite ), was mit dem * in der Übersicht angedeutet ist. W+ Dasselbe gilt für das WBoson. H0 e−

top H0

top top

Woher kommt unsere Masse?  S. 204 Higgs-Boson: Ist es wirklich das Higgs-Boson?  S. 232 Die Entdeckung des Higgs-Bosons  S. 230 Feynman-Diagramme  S. 48 Über die Reichweite von Wechselwirkungen  S. 54

Zerfall des Higgs-Bosons über virtuelle W-Bosonen

W− 𝜈̄e

178

7 Das Standardmodell der Elementarteilchenphysik

Diskrete Symmetrien: P- und CP-Verletzung Gespiegelt ist ganz was anderes

Die Kräfte im Standardmodell lassen sich durch sogeL L L nannte Eichsymmetrien () beschreiben. Es gibt noch eine weitere Klasse sehr wichtiger Symmetrien in der p r Teilchenphysik: die diskreten Symmetrien. Dazu gehör r ren die Punktspiegelung im Raum, Parität P genannt, p p die Zeitumkehr T sowie die Ladungskonjugation C. In der Abbildung unten ist die Punktspiegelung eines blauen Dreiecks am Ursprung O in das rote Dreieck Spiegelung des Drehimpulses: Die Rechte-Hand-Regel gilt immer dargestellt. Wir sehen, dass z. B. der Vektor OB in noch, der Drehimpuls ist unverändert. OB' = −OB übergeht. Die Zeitumkehr kann man sich so vorstellen, dass ein Film rückwärts abläuft. Die Für die Charakterisierung eines Elementarteilchens ist Ladungskonjugation wandelt Teilchen in Antiteilchen es wichtig, wie sich die Helizität unter Spiegelungen um und umgekehrt. (P) verhält (). Die Helizität ist die Komponente des Spins in Richtung des eigenen Impulses des Teilchens, Ursprünglich erwartete man, dass diese Symmetrien wobei der Spin () der Eigendrehimpuls des Teilchens universell gültig sind. Wenn man z. B. den Stoß von ist. In der Abbildung oben ist zu sehen, wie sich der zwei Kugeln auf einem Billardtisch (ohne Reibung) auf Drehimpuls (Kinematik)) unter Punktspiegelung vereinem Film anschaut, so kann man nicht unterschei- hält. Er ist das Produkt aus Ortsvektor und Impulsvekden, ob man den realen Stoß sieht, den räumlich ge- tor, wobei die drei zusammen die Rechte-Hand-Regel spiegelten oder gar der Stoß zeitlich rückwärts abläuft. befolgen (Bild). Unter der Punktspiegelung wird der Ähnliches wurde für die elementaren Stöße in der Ortsvektor rĺ und der Impulsvektor pĺ genau umgeTeilchenphysik angenommen. Die elektromagnetische dreht und wir erhalten rĺ' = −rĺ und pĺ' = − pĺ . Wenn (QED) sowie die starke Wechselwirkung (QCD) erhal- man hier wieder die Rechte- Hand-Regel anwendet, so ĺ ĺ ten in der Tat immer sieht man, dass L' = L unverändert ist. Genauso very C, P, und T (Starkes hält es sich mit dem Spin. Unter P verändert sich der C CP-Problem ); die Spin nicht. schwache WechselB A wirkung allerdings Nun schauen wir uns den Zerfall eines Pions in ein nicht. Myon und ein Neutrino an. Wenn sich unter der Pax O A rität, also unter einer Punktspiegelung, der Impuls B umdreht, der Spin aber nicht, so ändert die Helizität Punktspiegelung eines Dreiecks am Ursprung ihr Vorzeichen. Alle rechtshändigen Teilchen gehen in C

Eichsymmetrien  S. 94 Das starke CP-Problem  S. 272 Helizität und Spiegelungen: Up, Down, Rechts und Links  S. 168 Spin  S. 44 Kinematik  S. 36

Diskrete Symmetrien: P- und CP-Verletzung

linkshändige Teilchen über und umgekehrt. Das gilt so für das Myon. Für Neutrinos () hingegen gilt dies nicht, da es keine rechtshändigen Neutrinos gibt. Auch beim Pion ist das anders: Es ändert sich unter der Parität nicht, da es keinen Spin hat. Schematisch:

179

zu sein und alle Reaktionen der schwachen Wechselwirkung erhalten CP. Wirklich alle? Nein, nicht ganz. Es gibt im Standardmodell doch noch eine kleine Verletzung der CP-Symmetrie. Klein bedeutet, das sie selten vorkommt, und selbst dann ist es ein kleiner Effekt.

P: (𝜋 +, 𝜇R+, 𝜈L ) ⇐⇒ (𝜋 +, 𝜇L+, 𝜈R ) .

Die Quarks d, s, b können sich ähnlich den Neutrinos Das bedeutet aber, dass beim Zerfall eines geladenen miteinander vermischen (). Über das unten gezeigte Pions die durch Parität verbundenen Zerfallswahr- Feynman-Diagramm vermischen sich dann das K 0scheinlichkeiten PZ nicht gleich sind: und das K ̄ 0-Meson miteinander. Wenn die CP-Symmetrie verletzt ist, führt dies dazu, dass die zwei neut99 % = PZ (𝜋 + ĺ 𝜇R+ 𝜈L ) ≠ PZ (𝜋 + ĺ 𝜇L+ 𝜈R ) = 0 . ralen K-Mesonen mit bestimmter fester Masse keinen Die Parität ist also in Zerfällen unter der schwachen reinen K 0- bzw. K ̄ 0-Zustand bilden, sondern jeweils Wechselwirkung, wie hier beim Pion-Zerfall, maximal geringfügige Beimischungen des anderen haben (siehe verletzt. Neutrinooszillationen () für einen ähnlichen Effekt bei Neutrinos). Diese Mischung führt zu Oszillationen Unter der Ladungskonjugation C gehen Teilchen in zwischen K 0 und K ̄ 0, über die man die CP-Verletzung Antiteilchen über und umgekehrt, wobei sich die Heli- beobachten kann. Der analoge Effekt bei B 0-B ̄ 0 und zität nicht ändert. Das ist für Pion und Myon möglich, D 0-D ̄ 0 wird im Artikel „Gestaltwandler unter sich“ () jedoch wieder nicht für das Neutrino, weil es keine 𝜈̄L beschrieben. gibt:

Deshalb gilt wieder: 99 % = PZ (𝜋 + ĺ 𝜇R+ 𝜈L ) ≠ PZ (𝜋 − ĺ 𝜇R− 𝜈L̄ ) = 0 ,

W

d

C: (𝜋 +, 𝜇R+, 𝜈L ) ⇐⇒ (𝜋 −, 𝜇R−, 𝜈L̄ ) . K0

c ¯s

¯ d ¯0 K

c W

Vermischung von Kaonen

s

also ist auch C in Prozessen der schwachen Wechselwirkung maximal verletzt. Nun können wir die zwei Ein grundlegendes Theorem der Quantenfeldtheorie Transformationen zu einer verbinden: besagt, dass die kombinierte Symmetrie CPT immer + − + − erhalten sein muss. Somit geht eine Verletzung von CP CP: (𝜋 , 𝜇R , 𝜈L ) ⇐⇒ (𝜋 , 𝜇L , 𝜈R̄ ) . mit einer entsprechenden Verletzung der Zeitumkehr Dann folgt für die Zerfallswahrscheinlichkeiten für das T einher. Eine CPT-Verletzung würde vorliegen, wenn die Masse oder die Lebensdauer eines Teilchen und Pion in der Tat: seines Antiteilchens unterschiedlich wären. Allerdings PZ (𝜋 + ĺ 𝜇R+ 𝜈L ) = PZ (𝜋 − ĺ 𝜇L− 𝜈R̄ ) . sind diese Unterschiede noch nie beobachtet worden CP scheint die grundlegende Symmetrie in der Natur (Teilchenfallen ).

Neutrinos  S. 184 Der Weg zu sechs Quarks in drei Familien  S. 182 und Messung der Neutrinomasse  S. 240 Neutrinooszillationen  S. 186 Gestaltwandler unter sich  S. 246 Teilchenfallen  S. 132

180

7 Das Standardmodell der Elementarteilchenphysik

Der Pion-Zerfall

Links, rechts, schneller, langsamer: Das macht einen Unterschied gedachte Drehrichtung, Ist es eine reine Frage der Definition, was rechts und die dem Spin entspricht was links ist? Oder unterscheidet auch die Physik ganz Spin fundamental zwischen links und rechts? Warum ist Bewegungsrichtung es so spannend, dass die schwache Wechselwirkung Ein linkshändiges Teilchen, also mit negativer Helizität H = −1/2: () die Spiegelsymmetrie () P (oder Parität) ver- In Bewegungsrichtung betrachtet, „dreht“ die gedachte Drehung, letzt? Wir können die Bedeutung dieser Fragen zuerst die dem Spin entspricht, links herum. anhand eines alltäglichen Beispiels verstehen: Unsere gedachte Drehrichtung, die dem Spin entspricht rechte und linke Hand sind fast perfekte SpiegelbilSpin der voneinander. Auf die Fotos unten muss man unter Bewegungsrichtung Umständen einen etwas genaueren Blick werfen, um das Spiegelbild zu identifizieren! Das heißt aber nicht, Ein rechtshändiges Teilchen, also mit positiver Helizität H = +1/2: dass sie gleich sind: Den rechten Handschuh kann In Bewegungsrichtung betrachtet, „dreht“ die gedachte Drehung, die dem Spin entspricht, rechts herum. man nicht an der linken Hand tragen, egal wie symmetrisch man gebaut ist! Spin einer Drehung nach links entspricht (gegen den Uhrzeigersinn), wenn man entlang der BewegungsDie Physik kann bei der eindeutigen Festlegung helfen, richtung blickt. Umgekehrt „dreht“ der Drehimpuls denn auch dort gibt es rechts und links. Beispielsweise des Spins des rechtshändigen Teilchens rechts herum ist der Spin () ein dem Teilchen ureigener Drehim- (im Uhrzeigersinn). puls. Die Helizität ist die Projektion des Spins auf die Bewegungsrichtung. Aus den Zeichnungen rechts wird Während die Helizität mit der Bewegung des Teilchens klar, dass ein linkshändiges Teilchen eines ist, dessen zusammenhängt, ist die Chiralität eine Eigenschaft des Teilchens selbst. Mit einer Wahrscheinlichkeit von (1 − v/c ) findet man ein rechtschirales Teilchen als linkshändig oder umgekehrt (Up, Down, Rechts und Links ). Bei fast masselosen Teilchen wie Neutrinos stimmen Chiralität und Helizität immer überein, da sie sich quasi mit Lichtgeschwindigkeit v = c bewegen und die Wahrscheinlichkeit einer unterschiedlichen Zwei Versionen rechter und linker Hände. Aber nur eine Version ist Chiralität und Helizität daher bei (1 − c /c) = 0 liegt.

eine Spiegelung in einem handelsüblichen Spiegel! Finden Sie die Symmetrieverletzung in einem der beiden Bilder, dank der Sie das Bild mit der Spiegelung eindeutig von dem Bild mit zwei verschiedenen Händen unterscheiden können?

Die schwache Wechselwirkung  S. 166 Symmetrien  S. 56 Spin  S. 44 Up, Down, Rechts und Links  S. 168

Um rechts und links durch die Physik eindeutig festzulegen, benötigen wir also eine Messung, die die

Der Pion-Zerfall

181

aber nur mit der Wahrscheinlichkeit (1 − v /c ) nicht übereinstimmen (CP- und Paritätsverletzung ). Das 𝜈µL 𝜋 𝜇+ ist um einen Faktor 200 schwerer als das e+, bewegt Der erlaubte Zerfall eines π+ mit Spin 0 in ein linkshändiges (also sich also bei ähnlichem Impuls (Kinematik ) mit eiauch linkschirales) Neutrino νL ner viel geringeren Geschwindigkeit v𝜇 als das e+ mit ve ≈ c. Die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten eines linkshändigen Myons, (1 − v𝜇/c ), ist also viel größer H = +1/2 𝜈µR 𝜋+ 𝜇+ L als die für das Auftreten eines linkshändigen Elektrons Der verbotene Zerfall eines π+ mit Spin 0 in ein nicht existierendes (1 − ve/c ) ≈ (1 − c/c ) = 0. Daher ist es wahrscheinrechtshändiges (also auch rechtschirales) Neutrino νR licher, dass das rechtschirale 𝜇R+ einem Teilchen mit Spiegelsymmetrie verletzt. Wie wir sehen werden, negativer Helizität entspricht als das sehr nah an der hat der Zerfall des geladenen Pions 𝜋 ± genau diese Lichtgeschwindigkeit fliegende eR+. Eigenschaft. Das Pion hat Spin 0 und somit Drehimpuls 0. Da der Gesamtdrehimpuls im Zerfall erhal- Somit dominiert der Zerfall in ein Antimyon über den ten bleibt (Noether-Theorem ), und der Spin auch Zerfall in ein Positron. Schon allein diese Tatsache eine Komponente des Drehimpulses ist, müssen die zeigt, ganz ohne direkte Messung der Spin-AusrichSpins der Zerfallsprodukte bei einem Zerfall in zwei tung, dass die schwache Wechselwirkung die Parität P Teilchen in entgegengesetzte Richtung zeigen, da- nicht erhält. Sonst wären immer genügend 𝜈R, ℓL Paare mit sie sich zu 0 addieren. Das 𝜋 + zerfällt mit einer vorhanden, und es würden Elektronen und Myonen in Wahrscheinlichkeit von (99, 98770 ± 0,00004) % in ein ähnlicher Größenordnung produziert. Paar aus Antimyon 𝜇+ und Neutrino 𝜈𝜇L und nur in (0, 0001230 ± 0, 0000004) % der Fälle in ein Positron e+ Wir können so also definieren: „links herum“ ist die und das dazugehörige Neutrino 𝜈eL. Das mag erst sehr Drehrichtung des Spins, in den der Spin der Antimyoverwunderlich erscheinen: Es gilt doch augenschein- nen aus dem Zerfall des positiv geladenen Pions dreht. lich, dass die schwache Wechselwirkung an alle Famili- Leider sind wir aber noch nicht ganz am Ziel: Wir haen gleich koppelt, und die Wahrscheinlichkeit für beide ben nämlich von vornherein angenommen, dass das Zerfälle daher gleich sein sollte? (Seltene Zerfälle von 𝜇− ein Teilchen und das 𝜇+ das Antiteilchen ist. Diese Bottom-Mesonen ) Des Rätsels Lösung liegt in der Unterscheidung zwischen Materie und Antimaterie Paritätsverletzung: Das Eichboson W+, das den 𝜋 +- eindeutig festzulegen schafft die CP-Verletzung () – Zerfall bewirkt, koppelt nur an ein rechtschirales Anti- eine weitere sehr wichtige Eigenschaft der schwachen lepton ℓR+ = eR+ oder 𝜇R+. Aus dem rechtschiralen Teil- Wechselwirkung. chen ℓR+ muss aber ein linkshändiges ℓ+ mit negativer Helizität werden, damit die Spins des linkshändigen Zerfall eines π+ , bestehend 𝜈ℓL u W+ Neutrinos und des in die Gegenrichtung fliegenden aus u und d–-Quark, in ein + 𝜋 Leptons sich zum 𝜋+-Spin 0 addieren! Das fordert die linkschirales Teilchen und ein ℓR+ rechtschirales Antiteilchen d¯ Drehimpulserhaltung. Helizität und Chiralität können +

𝜇+ R

H = −1/2

Das Noether-Theorem  S. 96 Seltene Zerfälle von B-Mesonen  S. 244 Diskrete Symmetrien: P- und CP-Verletzung  S. 178 Kinematik  S. 36 Die Verletzung der CP-Symmetrie in B-Mesonen  S. 242

182

7 Das Standardmodell der Elementarteilchenphysik

Der Weg zu sechs Quarks in drei Familien Wer wechselwirkt mit wem?

Mit der Entdeckung der Kaonen im Jahr 1947 (Mesonen K 0 mit Quarkinhalt s̄d und K + mit s̄u) war die Teilchenphysik plötzlich mit vielen seltsamen Eigenschaften konfrontiert (Quarkmodell ). So zerfällt z. B. das geladene K+ mehrheitlich in ein Antimyon und ein Myon-Neutrino, aber der Zerfall des neutralen Kaons in ein Myon- und ein Antimyon wurde zwar gesucht, konnte jedoch damals nicht beobachtet werden. Die hart errungene Gewissheit, dass die schwache Wechselwirkung universell an alle Teilchen koppelt und damit der Zerfall des K 0 in 𝜇+𝜇− vorkommt (Eichsymmetrien ) , schien schon wieder verletzt zu sein und die Physikerinnen und Physiker standen vor einem Rätsel. Was ging hier vor?

zielle Rolle zu, dass es das einzige Wechselwirkungsteilchen ist, welches unterschiedliche Quarkflavour und Quarkfamilien ineinander umwandelt (Illustration b). Keine andere Wechselwirkung kann das. Mit den damals bekannten Quarkflavours (u, d, s) konnte man dann die Wahrscheinlichkeit für den in Illustration c) gezeigten Übergang von K 0 ĺ 𝜇+𝜇− ausrechnen. Die so vorhergesagte Zerfallswahrscheinlichkeit war aber viel höher als vom Experiment gemessen. Die Auflösung des Rätsels kam schließlich durch die Idee von Sheldon Lee Glashow, John Iliopoulos und Luciano Maiani 1970: Wenn es ein weiteres Quark gäbe, das charm-Quark c, hätte man ein weiteres Diagramm d), welches destruktiv mit Zerfallsdiagramm c) interferieren könnte. Die Masse des c-Quarks wurde durch eine präzise Rechnung von Mary K. Gaillard und Ben Lee korrekt vorhergesagt.

Die erste Erkenntnis war, dass es in der Natur keine neutralen Ströme mit einem Z 0-Austausch gibt, welche unterschiedliche Quarkflavour aneinander koppeln: Es gibt z. B. den Prozess Z 0 ĺ dd ̄, aber nicht Z 0 ĺ ds̄ (siehe Illustration a). Dem W ± kommt deshalb die spe- Die Illustration der Wellenbilder auf der nächsten Seite zeigt, wie eine destruktive Interferenz in der Summe Feynman-Diagramme für den GIM-Mechanismus (links) und die eine verschwindend kleine Amplitude produzieren erlaubten und in der Natur nicht vorkommenden Kaon-Zerfälle kann: Die Täler und Berge zweier Wellenfunktionen (rechts) sind gerade so verschoben, dass sie sich in der Summe − a) c) 𝜇− d Vud W 𝜇− aufheben. Im Gegensatz dazu summieren sich bei der d 0 Z 0 𝜈 u konstruktiven Interferenz Täler mit Tälern und Berge K 𝜇 K0 s̄ mit Bergen und verstärken sich so. Dieser Effekt wür𝜇+ 𝜇+ s̄ Vus W + de zu der beobachteten winzigen Zerfallswahrschein+ lichkeit führen. Vier Jahre später wurde das charmb) d) − 𝜇− d Vcd W 𝜈𝜇 u Quark tatsächlich gefunden () und die Erklärung ist W+ 𝜈𝜇 c K0 K+ als GIM-Mechanismus in die Geschichte der Physik s̄ 𝜇+ 𝜇+ eingegangen. s̄ Vcs W +

Das Quarkmodell  S. 14 Eichsymmetrien  S. 94 charm-Quark: Die zufällige Entdeckung des J/𝜓  S. 222

Der Weg zu sechs Quarks in drei Familien

Feynman-Graph mit up-Quark

+

+

Feynman-Graph mit charm-Quark

183

Die einzelnen Elemente der Matrix parametrisieren, wie stark einzelne Quarks mithilfe des W ± aneinander koppeln. Die gemessenen Wechselwirkungsstärken Vud usw. sind in der Illustration unten als Dicke der Linien gezeigt.

=

=

Die Kopplung zwischen up- und down-Quark (Vud) sowie charm- und strange-Quark (Vcs | Vud) sind auch fast gleich. Die Kopplung zwischen up- und strangeQuark (Vus) ist vom Betrag auch fast genauso groß Konstruktive Interferenz Destruktive Interferenz wie die Kopplung zwischen down- und charm-Quark Illustration von konstruktiver und destruktiver Interferenz (Vus | −Vcd), hat aber das umgekehrte Vorzeichen. Das kommt daher, dass die Matrix zwischen den MassenMathematisch ergibt sich die destruktive Interferenz zuständen und den Wechselwirkungszuständen eine durch den Vorzeichenwechsel der Kopplung: Das Dia- Rotation bewirkt. Rotiert man ein Objekt, senkt sich die gramm c) mit dem up-Quark liefert fast den gleichen eine Seite (negativ) genauso stark wie sich die andere Beitrag wie das Diagramm d) mit dem charm-Quark, Seite anhebt (positiv). Genau die Kombination dieser aber mit unterschiedlichem Vorzeichen. Was hat es Effekten haben wir beim GIM-Mechanismus gesehen! denn damit auf sich? Die Auflösung dieser Frage kam Durch das unterschiedliche Vorzeichen kommt es zur von drei Wissenschaftlern: Nicola Cabibbo, Makoto destruktiven Interferenz beider Beiträge. Kobayashi und Toshihide Maskawa1. Heute wissen wir, dass es nicht nur zwei Familien ((u, d), (s, c)) sondern Man kann zeigen, dass sich die gesamte Matrix mit nur drei Familien mit sechs Quarks ((u, d), (s, c), (t, b)) vier Parametern beschreiben lässt, und zwar mit drei gibt, welche an das W ± koppeln. Die Quarks, die das Rotationswinkeln und einem weiteren Parameter, der Higgs-Boson „sieht“ (und ihnen so eine Masse ver- KM-Phase (nach Kobayashi und Maskawa). Diese leiht) sind eine Mischung () aus den Quarks, die an Winkel und die Phase können vom Standardmodell das W ±-Boson koppeln und so schwach wechselwir- nicht vorhergesagt werden, sondern müssen experiken. Diese Mischung kann als Rotation ausgedrückt mentell bestimmt werden. schwache werden, was sich elegant in der Form der sogenannten u c Kopplung t CKM-Matrix (benannt nach Cabibbo, Kobayashi und Maskawa) ausdrücken lässt. Physikerinnen und Physistarke ker schreiben diese Matrix meistens mit der Notation Kopplung Resultierende Amplitude

V V V ⎛ ud us ub ⎞ VCKM = ⎜ Vcd Vcs Vcb ⎟ . ⎝ Vtd Vts Vtb ⎠

1

Stärke der effektiven Kopplung zwischen den Familien

Kobayashi und Maskawa bekamen für ihre Beiträge den Physiknobelpreis 2008.

Spontane Symmetriebrechung II  S. 174

d

s

b

mittlere Kopplung

184

7 Das Standardmodell der Elementarteilchenphysik

Neutrinos

Die außergewöhnlichen Leichtgewichte unter den Elementarteilchen Neutrinos tanzen in mehrfacher Hinsicht aus der Reihe. Ihre Masse ist um Größenordnungen kleiner als die der anderen Fermionen und sie sind die einzigen elementaren Fermionen ohne elektrische oder starke Ladung. Deshalb nehmen sie nur an der schwachen Wechselwirkung teil.

im Jahre 1956 war es erstmals gelungen, Neutrinos aus einem Kernreaktor nachzuweisen. Von 1016 Neutrinos aus dem Kernreaktor, die den Detektor durchquerten, reagierte im Mittel nur eines mit dem Detektormaterial. Das macht ihre Untersuchung sehr schwierig, da man selbst in sehr großen Detektoren () nur selten Signale von Neutrinos zu sehen bekommt.

Die Existenz von Neutrinos wurde im Jahre 1930 von Wolfgang Pauli vorgeschlagen, um die vermeintliche Verletzung der Energieerhaltung beim 𝛽-Zerfall zu erklären. Dabei wandelt sich ein Neutron in ein Proton um (oder umgekehrt), wobei ein Elektron und ein Neutrino emittiert werden. Zunächst wurde nur die Emission eines Elektrons beobachtet, und der Energiesatz schien verletzt, da dem Elektron mal mehr oder weniger der erwarteten Energie fehlte. Das Proton erhält wegen seiner vergleichbar viel größeren Masse nur eine vernachlässigbar kleine Energie.

Alle elementaren Fermionen wie Quarks, Elektronen und Neutrinos tragen einen Spin 1/2 (). Der Spin zeigt entweder in Richtung oder in Gegenrichtung zur Ausbreitungsrichtung des Teilchens. Da der Spin einem Drehsinn entspricht, wird dabei von rechtshändigen oder linkshändigen Teilchen gesprochen, analog zu Schrauben mit Rechts- oder Linksgewinde. Normalerweise beobachten wir alle Fermionen gleich häufig rechtshändig wie linkshändig. Nicht so Neutrinos! Sie kommen, soweit wir bisher wissen, in der Natur als Neutrino ausschließlich linkshändig und als AntineuSollte man etwa die Energieerhaltung in Frage stellen? trino ausschließlich rechtshändig vor. Die Ursache liegt Paulis Vorschlag war, dass neben dem Elektron ein darin, dass die schwache Wechselwirkung () nur an weiteres ungeladenes und damit unsichtbares Teil- linkshändige Teilchen bzw. rechtshändige Antiteilchen chen (das Neutrino) emittiert wird, welches sich mit koppelt (Symmetrien () und P- und CP-Verletzung dem Elektron die zur Verfügung stehende Energie teilt. ), und Neutrinos nur dadurch erzeugt oder nachgeGlücklicherweise haben sich Neutrinos nicht als völlig wiesen werden können. Es stellt sich die Frage: Gibt es unsichtbar erwiesen. Zwar hat es lange gedauert, aber rechtshändige Neutrinos überhaupt? Damit verbun-

Massen der elementaren Fermionen. In Lila die Quarks, in Grün die Leptonen. Neutrinomassen sind ungewöhnlich leicht.

Große Detektoren tief im Berg  S. 126 Spin  S. 44 Die schwache Wechselwirkung  S. 166 Symmetrien  S. 56 Diskrete Symmetrien: P- und CP-Verletzung  S. 178

Neutrinos

185

nige weitere offene Fragen erklären könnte. So ist bisher nicht klar, warum es im Universum sehr viel mehr 𝜈e Materie als Antimaterie (Baryogenese ) gibt. Es wur+ − 𝜈e 𝜈e e e e+ den bisher keine Reaktionen von Elementarteilchen beobachtet, bei denen die sonst herrschende Balance p n n p p in der Erzeugung von Materie und Antimaterie in ausn 𝜈¯e reichendem Maß gestört wäre. Das Neutrino als sein − + 𝜈¯e e 𝜈¯e e e− eigenes Antiteilchen wäre per se eine Verletzung der Materie-Antimaterie-Balance und damit ein möglicher Zwischen den Neutrinos, die bei der Umwandlung von Protonen Beitrag, das Überangebot an Materie im Universum zu zu Neutronen entstehen, besteht ein Unterschied zu den Neutriverstehen. Auch eröffnen sich dann Möglichkeiten, die nos, die bei der umgekehrten Umwandlung erzeugt werden. Das kann man durch die Untersuchung der Möglichkeiten für Umkehr- ungewöhnlich kleine Neutrinomasse zu erklären. Die reaktionen erkennen. Frage, ob Neutrinos tatsächlich ihre eigenen Antiteilchen sind, versucht man mit der Suche nach dem neuden ist die Frage, was eigentlich der Unterschied zwi- trinolosen doppelten 𝛽-Zerfall () zu klären. Neutrinos schen Neutrinos und Antineutrinos ist. sind damit ganz besonders interessante Teilchen bei der Untersuchung der elementaren Struktur der MaBei der Umwandlung von Protonen in Neutronen terie. durch die schwache Wechselwirkung, wie z. B. in der Super-Kamiokande-Detektor in Japan. Ein großer Tank gefüllt Sonne, werden Neutrinos erzeugt, bei der umgekehr- Der mit Wasser, in dem die durch Neutrinos erzeugten Teilchen Četen Umwandlung von Neutronen zu Protonen, wie z. B. renkov-Licht erzeugen, welches mit Photomultipliern ausgelesen in Kernreaktoren, dagegen Antineutrinos. Mit Neutri- wird. Das Bild entstand, während der Tank mit Wasser gefüllt wird. nos von der Sonne ist es möglich, Neutronen zurück in Protonen zu verwandeln, aber nicht Protonen in Neutronen. Mit den Antineutrinos von Reaktoren ist es genau umgekehrt, weshalb Neutrinos und Antineutrinos unterschiedlich sein müssen. n

n

p

p

n

p

Da Neutrinos ungeladen sind, könnte es prinzipiell möglich sein, dass sie ihre eigenen Antiteilchen sind und der Unterschied in den Reaktionen alleine darin besteht, dass die Neutrinos von der Sonne linkshändig, die von den Reaktoren rechtshändig sind. Die rechtshändigen Neutrinos wären das, was wir bisher als Antineutrino interpretiert hätten. Diese Möglichkeit erscheint sehr attraktiv, da man damit elegant ei-

Baryogenese  S. 304 Neutrinoloser doppelter 𝛽-Zerfall: Ist das Neutrino sein eigenes Antiteilchen?  S. 278

186

7 Das Standardmodell der Elementarteilchenphysik

Neutrinooszillationen Wankelmütige Neutrinos

Die Elementarteilchen sind in drei Familien – auch Flavour genannt – eingeteilt. Die Flavour der geladenen Leptonen sind Elektron, Myon und Tauon. Welcher Flavour ein geladenes Lepton angehört, kann man anhand der drei unterschiedlichen Massen von Elektron, Myon und Tauon erkennen. Das Standardmodell der Teilchenphysik wurde unter der Annahme entwickelt, dass Neutrinos masselos sind (). Wenn Neutrinos masselos sind, wie erkennt man dann aber ihre Flavour?

Eine weitere Voraussetzung ist die Neutrinomischung. Zwar gibt es zu den drei Neutrinos drei unterschiedliche Massen, doch es ist nicht so, dass eine der Massen eindeutig z. B. dem Elektron-Neutrino zugeordnet werden kann. Vielmehr tritt ein Elektron-Neutrino in einer Mischung der drei Massen auf. In der theoretischen Beschreibung ist die Wellenfunktion eines Elektron-Neutrinos eine Überlagerung aus 68 % der Wellenfunktion der leichtesten der drei Massen und zu 32 % aus den beiden schwereren. Könnte man die Masse von Neutrinos direkt messen, so würde man Um die Neutrinoflavour zu bestimmen, muss ein Neu- bei Elektron-Neutrinos mit 68 % Wahrscheinlichkeit trino durch eine Wechselwirkung in ein geladenes Lep- die leichteste und mit 32 % eine der beiden schwereren ton umgewandelt werden. Dessen Flavour (und damit Massen feststellen. dessen Masse) bestimmt die Flavour des Neutrinos. Wir wissen, dass im Sonneninneren ausschließlich Um das Phänomen der Neutrinooszillationen zu verElektron-Neutrinos erzeugt werden können (). Den- stehen, betrachten wir eine Analogie: Nehmen wir noch wurden von der Sonne mit dem SNO-Experi- an, es gibt zwei Schulen, die Elektron-Schule und die ment () Myon- und Tau-Neutrinos gemessen. Wie Myon-Schule, die beide von Hasen und Igeln besucht kann das sein? Die Antwort liegt in dem erstaunlichen werden. Die Schulen ordnen Hasen und Igel unterPhänomen der Neutrinooszillationen: Neutrinos kön- schiedlich in die Klassen ein. In der Elektron-Schule nen im freien Flug ihre Flavour wechseln, was insbe- gibt es gemischte Hasen- und Igel-Klassen, während sondere nur dann möglich ist, wenn Neutrinos doch in der Myon-Schule Hasen und Igel in getrennte Masse besitzen. Klassen gehen. Sieht man auf dem Schulweg eine reie− 𝜈e 𝜈𝜇 𝜇− ne Igel- oder eine reine Hasen-Gruppe, so wird man annehmen, dass sie zur Myon-Schule gehören. Sieht man dagegen gemischte Hasen- und Igel-Gruppen, Die Flavour eines Neutrinos misst man, indem wird man sie der Elektron-Schule zuordnen. Bei einem man die Masse und daW+ W+ Laufwettbewerb starten nacheinander die gemischten mit die Flavour des bei Klassen der Elektron-Schule. Der erste Streckenposeiner geladenen Stromten (I) sieht die vorbeilaufenden gemischten Klassen wechselwirkung erzeugAtomkern Atomkern ten Leptons bestimmt. und notiert ‚Elektron-Schule‘. Nach einer Runde fallen

Neutrinos  S. 184, Neutrinomassen  S. 256 Neutrinos von der Sonne  S. 320 SNO-Experiment: Große Detektoren tief im Berg  S. 126

Neutrinooszillationen

187

Solche Oszillationen wurden erstmals mit Neutrinos beobachtet, die von der kosmischen Strahlung bei Teilchenkollisionen in der hohen Erdatmoshpäre erzeugt werden. Dabei entstehen sowohl Myon- als auch Elektron-Neutrinos. Da Neutrinos die Erde nahezu ungehindert durchdringen, ist es möglich, wie in der Abbildung unten gezeigt, Neutrinos aus allen Richtungen nach sehr unterschiedlich langen Wegen durch die Erde zu beobachten. Mit dem Super-Kamiokande-Experiment in Japan wurde dabei ein Defizit an Myon-Neutrinos von unten gefunden, während Elektron-Neutrinos aus Starten die Hasen und Igel zunächst gemeinsam, so trennen sie sich allen Richtungen wie erwartet beobachtet wurden. Die nach einer Weile in separate Hasen- und Igel-Gruppen. Analog lauErklärung sind Oszillationen der Myon-Neutrinos zu fen unterschiedliche Massenanteile der Neutrinos auseinander. Tau-Neutrinos auf ihrem Weg durch die Erde. Mit dem die Igel zurück. Es bilden sich vorneweg reine Hasen- SNO-Experiment in Kanada wurde danach bestätigt, gruppen, denen reine Igelgruppen hinterherlaufen. dass Neutrinooszillationen für das scheinbare Defizit Der nächste Streckenposten (II) sieht diese getrennten an solaren Neutrinos verantwortlich sind. Hasen- und Igel-Gruppen und ordnet sie der MyonSchule zu. Holen die Hasen der folgenden Klassen Da eine der Voraussetzungen für diese Oszillationen die Igel der vorauslaufenden Klassen in einer nächs- unterschiedliche Massen sind, zeigen deren Beobachten Runde ein, bilden sich wieder gemischte Gruppen, tung, dass Neutrinos Masse besitzen. Aufgrund der was der Streckenposten konsequenterweise wieder als großen Bedeutung dieses experimentellen Hinweises Klassen der Elektron-Schule interpretiert. Die Her- auf Physik jenseits des Standardmodells wurden Arthur kunft der Klassen ändert sich für die Streckenposten McDonald, Leiter des SNO-Experiments, und Takaaki zwischen Elektron- und Myon-Schule, d. h. sie oszil- Kajita, Leiter von Super-Kamiokande, im Jahr 2015 mit liert. Entscheidend für diesen Effekt sind die in den dem Nobelpreis ausgezeichnet. Weitere TeilchenosSchulen unterschiedlich gemischten Klassen und die zillationen werden in unterschiedlichen Geschwindigkeiten von Hasen und „Gestaltwandler unter Igeln. sich“ () beschrieben. Analog zu den Hasen und Igel bewegen sich die im Elektron-Neutrino gemischten Massen unterschiedlich schnell und laufen mit zunehmender Strecke auseinander. Die Zusammensetzung des ursprünglichen Elektron-Neutrinos ändert sich so, dass sie mehr der Massenmischung eines Myon-Neutrinos ähnelt.

Gestaltwandler unter sich  S. 246

Durch kosmische Strahlung werden in der oberen Erdatmosphäre Neutrinos erzeugt. Ein Detektor beobachtet Neutrinos aus allen Richtungen und damit nach unterschiedlich langen Wegen.

8 Die Besonderheiten der starken Wechselwirkung Die starke Wechselwirkung hält nicht nur die Protonen und Neutronen in den Atomkernen, sondern auch die Quarks in den Protonen und Neutronen, allerdings mit recht unterschiedlichen Mechanismen. Die starke Wechselwirkung ist noch immer der am schlechtesten verstandene Teil des Standardmodells – und das, obwohl die ihr zugrunde liegende Theorie, die Quantenchromodynamik (QCD), bereits seit mehreren Jahrzehnten bekannt ist. Die Schwierigkeit liegt darin, mit dieser Theorie Berechnungen durchzuführen. In diesem Kapitel erzählen wir Ihnen, warum das so ist, zu welchen überraschenden Phänomenen die QCD führt und mit welchen experimentellen sowie theoretischen Methoden wir uns der Lösung der offenen Fragen annähern. Zum Beispiel kann man einzelne Quarks nicht aus einem Proton oder Neutron herauslösen – sie sind immer in Bindungszuständen gefangen und dürfen nur in ganz bestimmten Kombinationen auftreten. Im Gegensatz dazu ist es kein Problem, Systeme, die durch elektromagnetische Kräfte gebunden sind, zu trennen, also z. B. ein Elektron aus einem Atom zu lösen. Aus dem Vergleich von Elektromagnetismus und starker Wechselwirkung kann man eine Menge lernen.

190

8 Die Besonderheiten der starken Wechselwirkung

Quantenchromodynamik

Von 1 nach 3: kleiner Unterschied mit großer Wirkung Die Theorie des Elektromagnetismus () nennt sich Quantenelektrodynamik (QED). Die Theorie der starken Wechselwirkung ist die Quantenchromodynamik (QCD). Beide Theorien werden durch dieselbe Mathematik beschrieben, mit einem grundlegenden Unterschied: In der Quantenelektrodynamik gibt es eine Ladung (−) und ihre Antiladung (+); in der Quantenchromodynamik sind es gleich drei Ladungen und drei Antiladungen. Diese benennt man zur besseren Veranschaulichung nach den drei Grundfarben Rot, Grün und Blau, auch wenn sie nichts mit wirklichen „Farben“ zu tun haben. Man spricht daher auch von Farbladungen und eben der Quanten-„Chromo“Dynamik, da chroma griechisch für Farbe ist.

tisch! In Atomen sind die Elektronen elektromagnetisch an einen Atomkern gebunden. Da die Anzahl der negativ geladenen Elektronen der Hülle mit der positiven Ladung des Kerns übereinstimmt und somit die Summe über alle Ladungen des Atoms verschwindet, sind Atome elektrisch neutral. Es ist jedoch kein Problem, Elektronen aus der Hülle zu entfernen und so Ionen entstehen zu lassen. Im Gegensatz dazu zwingt die QCD alle Teilchen, die eine Farbladung tragen, sich mit anderen so zu verbinden, dass das zusammengesetzte Objekt nach außen keine Farbladung trägt. Insbesondere erweist es sich als unmöglich, aus diesem Verband einen Baustein, der eine Farbladung trägt, herauszulösen. Dieses Phänomen ist als Farbeinschluss oder Confinement () bekannt.

Zunächst scheint der Unterschied zwischen QED und QCD winzig – drei statt einer Ladung, na und? Aber Die mathematische Struktur einer Theorie legt auch die Auswirkungen dieses Unterschiedes sind drama- fest, wie viele Austauschteilchen es gibt und welche Eigenschaften sie haben. So hat das Austauschteilchen der QED, das Photon, selbst keine elektrische Ladung. blau Die QCD hat jedoch acht Austauschteilchen, und diese tragen jeweils unterschiedliche Farbladungen. Da sie antirot antigrün die Quarks sozusagen zusammenkleben, nennt man sie Gluonen, nach dem englischen Wort glue für Klebstoff. Es sind diese Farbladungen der Gluonen, die zu den sehr besonderen Eigenschaften der QCD führen. Hier ist neben dem eben angesprochenen Confinement die Kopplungsstärke der QCD erwähnenswert, die sich in grün rot sehr besonderer Art und Weise von Energie zu Energie ändert (Die laufende Kopplung ). Die Ladungen der antiblau Austauschteilchen haben auch einen Einfluss auf die Die Farbladungen der starken Wechselwirkung Reichweite () der starken Wechselwirkung.

Elektromagnetismus  S. 164 Confinement  S. 192 Die laufende Kopplung  S. 196 Über die Reichweite von Wechselwirkungen  S. 54

Quantenchromodynamik

e

_

e+

q 𝛾

2

e

_

+ q

191

e+

q 𝛾

e

_

𝛾

e

_

q

+

𝛾

e+

q 𝜇+

e+

2

2

q

2 2

(elektrische Quarkladung) =3 2 (elektrische Myonladung)

_

𝜇

Der Beitrag eines Quarktyps zum R-Verhältnis – die 3 zählt die Farbladungen.

R-Verhältnis

Aber woher weiß man, dass es drei Farben gibt, da doch die Quarks immer in Hadronen gefangen sind? Die einfachste Größe, die direkt die Anzahl der Farben misst, ist das sogenannte R-Verhältnis. Dazu vergleicht man, mit welcher Häufigkeit ein Myon-Antimyon-Paar und mit welcher Häufigkeit stark wechselwirkende Teilchen entstehen, wenn man Elektronen und Positronen aufeinander schießt. Der Entstehung von stark wechselwirkenden Teilchen liegt die Entstehung eines

Quark-Antiquark-Paares zu Grunde. Der Beitrag eines jeden Quarktyps zum R-Verhältnis ist in der Abbildung oben gezeigt. Betrachten wir nun R in einem Energiebereich, in dem es keine Resonanzen () gibt, also z. B. zwischen 15 und 40 GeV. Diese Energien sind hoch genug, um die ersten fünf Quarktypen (zwei mit Ladung (2/3) e und drei mit Ladung (−1/3) e ) zu erzeugen. Zählt man nun also die Beiträge der einzelnen Quarktypen zusammen, so erhält man als Vorhersage für das R-Verhältnis einen Wert von

6

2̲ 2 11 1 2 ̲̲̲ 3(3(3̲) + 2(3)  ) = 3 ≈ 3,7 ,

4

wobei die führende 3 der Anzahl der Farbladungen entspricht und sich die anderen Faktoren, wie oben beschrieben, aus der Anzahl der Quarks und deren Ladungen ergeben. Das Ergebnis ist in guter Übereinstimmung mit dem Experiment, wie man an der Abbildung links sieht.

2

0

0

20

30 Energie [GeV]

40

Das R-Verhältnis: Vergleich der Messung mit der Berechnung für drei Farben

Eine noch bessere Beschreibung der Daten erhält man, wenn man zusätzlich die von der Feldtheorie (QFT ) diktierten Korrekturen berücksichtigt. Im Gegensatz dazu weichen die Ergebnisse für das R-Verhältnis für zwei oder vier Farben deutlich von den Daten ab.

Resonanzen: Produktion, Zerstörung und Zerfall von Teilchen  S. 50 Quantenfeldtheorie  S. 100

192

8 Die Besonderheiten der starken Wechselwirkung

Confinement

Warum es keine freien Quarks gibt Den englischen Begriff Confinement übersetzt man am besten mit „Einsperren“. Er beschreibt, dass man einzelne Quarks nicht aus ihrem Verband lösen kann – sie bleiben eingesperrt. Warum ist das so? Die Theorie der starken Wechselwirkung, die QCD (), hat drei Ladungen (die sogenannten Farbladungen) und ihre Antiladungen. Als Konsequenz daraus sind die Austauschteilchen der QCD, die Gluonen, im Gegensatz zu den Austauschteilchen der QED, den Photonen, nicht neutral, sondern tragen selbst eine Farbladung, was zu drastischen Effekten führt. Dies kann man sich anhand einer einfachen geometrischen Überlegung, die die Kraft der QED mit der der QCD vergleicht, klar machen. Um die Stärke eines Feldes zu verstehen, ist es hilfreich, die sogenannten Feldlinien zu betrachten. Deren lokale Dichte oder Flächendichte, also die Anzahl der Feldlinien, die eine bestimmte Fläche durchdringen, ist ein Maß für die dort wirkende Kraft. Die Richtung der Linien gibt die Richtung der Kraft an. Betrachtet man eine einzelne, isolierte elektro-

magnetische Ladung, so verlaufen die Feldlinien radial nach außen. Entsprechend nimmt ihre Flächendichte in dem Maße ab, wie die Oberfläche einer Kugel, in deren Zentrum die Ladung sitzt, zunimmt, also mit dem Radius ins Quadrat. Dies entspricht dem Coulomb-Gesetz. Im Beisein von zwei gegenteilig geladenen elektrischen Ladungen wird die Kugelsymmetrie gebrochen, doch noch immer nehmen die Feldlinien den gesamten Raum ein – das ist im linken Teil der Abbildung unten angedeutet. Ziehen sich die Feldlinien jedoch gegenseitig an, wie das bei den Gluonen, die ja eigene Farbladungen tragen, der Fall ist, so füllen sie nicht den ganzen Raum, sondern bilden eine Art Röhre, die die Farbladungen miteinander verbindet. Dies ist im rechten Teil der Abbildung unten gezeigt. In diesem Fall ist aber die Dicke der Röhre und damit die Kraft zwischen den Ladungen unabhängig von deren Abstand. Versucht man diese Farbladungen zu trennen, also ihren Abstand auf unendlich zu erweitern, so muss man unendlich viel Energie aufwenden – die Quarks bleiben also zwangsläufig gefangen. Da haben wir es: das Confinement. Leider kann man den gerade beschriebenen Effekt der Entstehung der gluonischen Flussröhren nicht experimentell nachmessen. In Experimenten zeigt sich das Confinement lediglich darin, dass Unterschiedliches Verhalten der Feldlinien der QED (links) und der QCD (rechts)

Quantenchromodynamik  S. 190

Confinement

193

zwischen den beiden Quarks eine Röhre mit gleichbleibender Energie pro Länge ausgebildet hat. Wichtig ist noch darauf hinzuweisen, dass es außer den beiden fixierten Quarks in dieser Simulation keine weiteren Quarks gab, so dass die Flussröhre nicht, wie im Artikel „Kann man Quarks und Gluonen sehen?“ () beschrieben, reißen konnte.

Berechnung der Energie im Gluonfeld zwischen zwei Punktladungen

Abschließend wollen wir uns noch kurz der Frage zuwenden, welche Kombinationen an Farbladungen zulässig sind, da doch das Confinement Farbneutralität fordert. Interessanterweise trägt auch hier die Farbenanalogie: Wie ein Regenbogen zeigt, ergibt die Kombination aus Rot, Grün und Blau Weiß. Entsprechend bilden drei Quarks mit dieser Farbkombination einen erlaubten Zustand; das sind die Baryonen des Quarkmodells ().

noch nie freie farbgeladene Objekte gemessen wurden. Es ist übrigens ziemlich ausgeschlossen, dass das zugehörige Signal übersehen wurde: Da freie Quarks () eine drittelzahlige Ladung haben, wären sie in den vielen Messungen, die Teilchenphysikerinnen und -physiker inzwischen in einem riesigen Energiebereich gemacht haben, sicherlich schon aufgefallen. Trotzdem kann man zeigen, dass die QCD tatsächlich zur Ausbildung von Flussröhren führt, und zwar anhand numerischer Simulationen. In einem der folgenden Artikel wird die Gitter-QCD () vorgestellt. Diese erlaubt es, die Wechselwirkungen der QCD auf dem Computer nachzubilden. Ein sehr schönes Beispiel dafür ist im Bild oben gezeigt: Hier wurden an den Positionen, die die scharfen Spitzen zeigen, ein Quark und ein Antiquark platziert. Dann extrahierte man aus der numerischen Simulation die Energiedichte im umliegenden Raum. In dem Bild ist deutlich zu erkennen, dass sich

Neben den Farbladungen gibt es auch die entsprechenden Anti-Farbladungen, die als Farbladungen der Antiquarks auftreten – genauso wie das Antiteilchen des Elektrons, das Positron, die zugehörige Antiladung trägt, also positiv geladen ist. Ladung und Antiladung neutralisieren sich, also kann man z. B. aus einem roten Quark mit einem antiroten Antiquark auch einen erlaubten Zustand bauen. Das sind die Mesonen des Quarkmodells. Aber auch kompliziertere Kombinationen sind formal möglich, wie Zustände, die nur aus Gluonen bestehen – allerdings sind diese sogenannten Gluebälle noch nicht eindeutig experimentell nachgewiesen. Was aber nicht als physikalischer Zustand existiert, ist z. B. die Kombination aus zwei Quarks. Aus nur zwei Grundfarben kann man eben kein Weiß zusammenmischen: Diese Kombination ist grundsätzlich farbgeladen und tritt entsprechend auch nicht isoliert in der Natur auf.

Bild: Gunnar Bali, http://www.physik.uni-regensburg.de/forschung/bali/pics.html Die Suche nach freien Quarks  S. 194 Gitter-QCD  S. 206 Kann man Quarks und Gluonen sehen?  S. 202 Das Quarkmodell  S. 14

194

8 Die Besonderheiten der starken Wechselwirkung

Die Suche nach freien Quarks

Oder wie man sich von der Statistik täuschen lassen kann Als Quarks Anfang der 1960er Jahre eingeführt wurden, um den Aufbau der Vielzahl der Hadronen aus einigen wenigen Bausteinen zu erklären, stieß dieses Konzept zunächst auf große Skepsis. Noch kein Detektor hatte je ein Quark registriert. Heute wissen wir, dass der Versuch ein freies Quark nachzuweisen, vergebens ist, da Quarks wegen des Confinements () der Quantenchromodynamik () niemals als freie Teilchen im Detektor auftreten. Bevor man zu dieser Erkenntnis kam, gab es aber Experimente, bei denen man nach freien Quarks gesucht hat. Das Besondere an Quarks ist, dass sie nur einen Bruchteil einer Elementarladung tragen, entweder ±1/3 oder ±2/3. Dies wollte man sich bei ihrem direkten Nachweis zunutze machen. Durchläuft ein geladenes Teilchen eine Nebelkammer, so formieren sich entlang der Teilchenbahn Flüssigkeitströpfchen und machen die Bahn sichtbar. Die Wahrscheinlichkeit für die Tröpfchenbildung ist dabei proportional zum Ladungsqua-

drat. Bei einem Quark, das zum Beispiel nur 1/3 einer Elementarladung trägt, ist die Wahrscheinlichkeit also um einen Faktor 1/9 ≈ 0,11 kleiner als bei einem Elektron oder Proton, die jeweils eine Elementarladung tragen. In einem Experiment wurden Teilchen der kosmischen Strahlung () untersucht, in der Hoffnung, ein einzelnes Quark nachzuweisen. Einige 10.000 Teilchen durchliefen eine Nebelkammer und im Mittel wurden 229 Tröpfchen pro Teilchenspur gezählt. Zum Vergleich: Wenn man Regentropfen zählt, die auf eine bestimmte Fläche innerhalb eines bestimmten Zeitintervalls treffen, erhält man auch einen von der Stärke des Regens abhängigen Mittelwert. Die Zahl der Tropfen wird aber mit jeder Messung um diesen Wert schwanken. Bei solchen Zählexperimenten wird diese Schwankung im Allgemeinen durch eine Poissonverteilung (Statistik ) beschrieben. Davon ist man zunächst auch beim Experiment zum Quarknachweis ausgegangen.

Nebelkammeraufnahme aus der Orginalpublikation1

In dem Experiment wurde auch eine Spur gefunden, bei der nur 110 Tröpfchen gezählt wurden. Wie man aus der Abbildung rechts oben erkennt, ist dies sehr unwahrscheinlich. Die Wahrscheinlichkeit, dass 110 Tröpfchen oder gar weniger auftreten, wenn man im Mittel 229 erwartet, liegt nur bei 1,6 · 10 −18. D. h. man erwartet im Mittel erst alle 1/1,6 · 10 −18 ≈ 6, 3 · 1017 Spuren eine, die 110 oder weniger Tröpfchen erzeugt. Da im Experiment aber nur 55.000 Spuren analysiert wurden, schloss man daraus, dass es sich bei der einen

Nachdruck des Bildes der Nebelkammer mit Genehmigung von C. B. A. Mc Cusker, I. Cairns, Physical Review Letters, 23, 658 (1969), Copyright 1969 der American Physical Society Confinement  S. 192 Quantenchromodynamik  S. 190 Kosmische Strahlung  S. 314

Die Suche nach freien Quarks

195

Spur um ein Teilchen handeln muss, das weniger als eine Elementarladung trägt, also beispielsweise ein Quark.

Jetzt ergibt sich eine Wahrscheinlichkeit von 4,2 · 10 −5 dafür, dass höchstens 110 Tröpfchen beobachtet werden. Das ist immer noch eine sehr kleine Zahl. Die Tatsache, dass ein Ereignis eine sehr kleine Wahrscheinlichkeit hat, heißt aber noch lange nicht, dass es nicht eintritt. Man muss nur oft genug probieren. Da 55.000 Spuren analysiert wurden, erwartet man 55.000 · 4,2 · 10 −5 = 2,2 Spuren mit höchstens 110 Tröpfchen. Das Messergebnis ist also durchaus mit der Hypothese vereinbar, dass auch die Spur mit 110 Tröpfchen von einem Teilchen erzeugt wurde, das genau eine Elementarladung trägt. Wie eingangs erwähnt, wissen wir heute, dass das Confinement der Quantenchromodynamik eine Erklärung liefert, warum wir isolierte Quarks nicht beobachten können. Wahrscheinlichkeiten für das Auftreten von k Ereignissen bei einer einstufigen Poissonverteilung (blau, identisch zur obigen Abbildung) und einer zweistufigen Poissonverteilun (rot) bei gleichem Mittelwert von 229. Hier wurde jetzt eine logarithmische vertikale Skala gewählt, so dass man den Wert der roten Verteilung noch ablesen kann.

1

Wahrscheinlichkeit

0,020 0,015 0,010 0,005 0,000 100

120

140

160

200 220 240 260 Anzahl der Tropfen k

10–2

10–4

10–6

10–8

10–10

0

100

C. B. A. McCusker, I. Cairns 1969, Evidence of Quarks in Air-Shower Cores, Physical Review Letters, 23, 658, doi:10.1103/PhysRevLett.23.658 2 R. Adair, H. Kasha 1969, Analysis of Some Results of Quark Searches, Physical Review Letters, 23, 1355, doi:10.1103/PhysRevLett.23.1355 Statistik  S. 80

180

Wahrscheinlichkeiten für eine Poissonverteilung mit einem Mittelwert von 229. Der Abbildung kann man zum Beispiel entnehmen, dass die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von 220 Tröpfchen bei etwa 0,022 also 2,2 % liegt. Die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von nur 110 Tröpfchen ist so klein, dass sie auf einer linearen Skala auf der vertikalen Achse gar nicht mehr ablesbar ist.

Wahrscheinlichkeit

Später stellte man allerdings fest2, dass der Prozess der Tröpfchenbildung in zwei Stufen abläuft. Ein Teilchen, das eine Elementarladung trägt, führt im Mittel etwa 57 Stoßprozesse (erste Stufe) an Molekülen in der Nebelkammer durch. Pro Stoß entstehen im Mittel 4 Tröpfchen (zweite Stufe). Das ändert nichts am Mittelwert (4 · 57 ≈ 229). Aber, da der Prozess jetzt in zwei Stufen abläuft, sind die Schwankungen der Anzahl der Tröpfchen von Spur zu Spur wesentlich größer und folgen der roten Verteilung in der Abbildung.

0,025

200

300 400 Anzahl der Tropfen k

196

8 Die Besonderheiten der starken Wechselwirkung

Die laufende Kopplung Ein Scheinriese?

Ein Grundprinzip der Quantenmechanik () ist, dass die räumliche Auflösung einer Messung von der Energie der Messsonde abhängt. Daher ist es nicht überraschend, dass die relevante Energieskala auch bei der Berechnung dieser Messgröße eine wichtige Rolle spielt. Um dies zu verdeutlichen, sehen wir uns in diesem Artikel die Ankopplung eines Eichbosons (Photon oder Gluon, Eichsymmetrien ) an ein Materieteilchen (Lepton oder Quark) einmal genauer an. Formal spricht man von der Ladungsrenormierung (). Wie kann man sich das vorstellen? Während ein Photon an ein geladenes Materieteilchen ankoppelt, kann es hierbei z. B. Elektron-Positron-Paare erzeugen (siehe letztes Bild in der Abbildung zur QED). Diese schirmen aber die Ladung des Materieteilchens ab. Somit wird mit zunehmender Energie (= zunehmender Auflösung) die effektive Kopplung an das Materieteilchen wachsen, da man der eigentlichen Ladung des Materieteilchens immer näher kommt.

onen starke Ladungen und koppeln daher nicht nur an Quark-Antiquark-Paare, sondern wechselwirken auch miteinander (siehe Abbildung). Dadurch ist die starke Ladung bei kleinen Energien und damit großen Wellenlängen (bzw. schlechter Auflösung) größer als bei großen Energien und somit hoher Auflösung. Die Stärke der starken Wechselwirkung verhält sich wie der Scheinriese aus Jim Knopf: groß von Weitem, aber klein von Nahem.

Die QCD-Vertexfunktion mit den führenden feldtheoretischen Korrekturen für die QED (oben) und die QCD (unten). Durchgezogene Linien zeigen Fermionfelder (Quarks oder Leptonen), Schlängellinien das Photon und Kringellinien die Gluonen. QED:

=

+

=

+

+

+

+ ...

QCD:

Zentral für den gerade beschriebenen Prozess ist, dass das Photon selbst keine elektrische Ladung trägt und somit nicht direkt mit sich selbst in Wechselwirkung tritt. Im Gegensatz dazu tragen Glu-

Grundkonzepte der Quantenmechanik  S. 40 Eichsymmetrien  S. 94 Renormierung  S. 104 Kann man Quarks und Gluonen sehen?  S. 202

+ ...

Die laufende Kopplung

197

Was hier in Worten beschrieben wurde, kann man direkt mithilfe der sogenannten Renormierungsgruppengleichungen der Quantenfeldtheorie ausrechnen. Im Falle der QED gehen die Diagramme der ersten Zeile im Bild links in die Berechnung ein (Renormierung ), bei der QCD sind es die Diagramme der beiden anderen Zeilen. Die Lösung für die Kopplungsstärke der QCD, 𝛼QCD, ist im Bild rechts gezeigt und für Energieskalen Q > 1 GeV mit experimentellen Ergebnissen verglichen. Der Verlauf für kleinere Werte von Q soll andeuten, dass man hier keine Berechnungen der Kopplungsstärke mehr ausführen kann. Eine Methode, 𝛼QCD aus Daten für 0,5 Jets, also gebündelten Hadronenstrahlen, zu extrahieren, werden wir im Abschnitt "Kann man Quarks und Gluonen sehen?" kennenlernen. Im Bild sind noch weitere Reaktionen 0,4 benannt, die es teilweise mit erheblichem mathematischen Aufwand erlauben, 𝛼QCD zu bestimmen.

?

𝜏-Zerfall Kontinuum bei kleinen Q Jets bei großen Q schwere Quarkonia Linienformen bei Jets in e +e − pp/pp̄ (Jets) Elektroschwache Präzisionsfits pp (top-Zerfall)

Λ QCD

0,3 𝛼QCD(Q 2)

Demnach können sich Quarks bei großen Energien also nahezu frei bewegen, da dann die Kopplung an das Gluonenfeld klein ist. Dieses Phänomen nennt man asymptotische Freiheit. Bei kleinen Energien wird die Kopplung jedoch groß. Es ist dieser Bereich großer Kopplung, in dem sich die Quarks zu gebundenen Zuständen, den Hadronen zusammenschließen. Wie im Bild gezeigt, heißt die Skala, die die Bereiche zwischen großen und kleinen Kopplungen trennt, ΛQCD (grüner Bereich). Sie hat einen Wert von 200 bis 300 MeV.

Im Gegensatz zum Verhalten von 𝛼QCD liefern die Renormierungsgruppengleichungen für die QED-Kopplung Werte, die deutlich kleiner sind und mit zunehmender Energieskala Q langsam wachsen: Für Q < 1 MeV findet man 𝛼QED = 1/137, für Q ≈ 100 GeV ist ihr Wert auf 1/128 gewachsen. Und natürlich ist auch die Kopplung der schwachen Wechselwirkung von der Energie abhängig. Auf die unterschiedlichen Energieabhängigkeiten der Standardmodell-Kopplungen werden wir im Artikel GUT () zurückkommen.

0,2

0,1 𝛼QCD(MZ2) = 0,1179 ± 0,0010 0,01

0,1

1

10 Q [GeV]

100

Abhängigkeit der starken Kopplung von der Energieskala Q

GUT  S. 258

1000

198

8 Die Besonderheiten der starken Wechselwirkung

Die Struktur des Protons Ein reichhaltiges Innenleben

Anfang der 1930er Jahre hatte sich unsere heutige Vorstellung vom Aufbau der Atome gefestigt. Sie bestehen aus einem Kern, der sich wiederum aus positiv geladenen Protonen und elektrisch neutralen Neutronen zusammensetzt, umgeben von negativ geladenen Elektronen. Nun stellte sich die Frage, ob diese Teilchen elementar sind oder ihrerseits wieder aus weiteren Bestandteilen bestehen. Das Elektron ist nach heutigem Kenntnisstand wirklich elementar und hat keine Ausdehnung. Bei Protonen und Neutronen stieß man jedoch auf ein reichhaltiges Innenleben. Wie so oft in der Teilchenphysik, spielten bei dessen Aufdeckung Streuexperimente () eine entscheidende Rolle. Durch Beschuss von Protonen mit einem Elektronstrahl konnte zunächst gezeigt werden, dass das Proton eine räumliche Ausdehnung von etwa 10 −15 m hat, also fünf Zehnerpotenzen kleiner als ein Atom ist. Ende der 1960er Jahre war dann die Elektronenergie so hoch, dass auch das Innenleben des Protons näher untersucht werden konnte.

Das Anfang der 1960er Jahre entwickelte Quarkmodell war zunächst ein elegantes mathematisches Modell, um Ordnung in die Vielzahl beobachteter elementarer Teilchen zu bringen. Durch Beschuss von Protonen mit sehr energiereichen Elektronen war es möglich, immer tiefer in das Proton zu schauen. Die dabei beobachtete Ablenkung der gestreuten Elektronen deutete darauf hin, dass Protonen im Inneren aus punktförmigen Teilchen, die schließlich als Quarks identifiziert wurden, bestehen. Durch weitere Experimente mit Neutrinostrahlen () konnte dann schließlich auch die im Quarkmodell vorausgesagte drittelzahlige Ladung von Quarks bestätigt werden. Damit war klar, dass Quarks real sind und mehr als nur ein mathematisches Konstrukt (Quarks sehen ). Sehr vereinfacht ausgedrückt, kann das Proton als ein Teilchen beschrieben werden, das aus zwei up-Quarks, die jeweils 2/3 der Elementarladung tragen, und einem down-Quark, das −1/3 der Elementarladung trägt, besteht. In der Summe ergibt sich dann eine po-

Vom Wassermolekül zum Proton

u

u

H

H

?

O

p n

d Proton aufgebaut aus drei Quarks

Das Prinzip von Streuexperimenten  S. 46 Die Entdeckung der neutralen Ströme  S. 220 Kann man Quarks und Gluonen sehen?  S. 202

Die Struktur des Protons

199

sitive Elementarladung des Protons. Ein Neutron be- Teilchen zu erzeugen. Die Frage, ob diese Teilchen Besteht entsprechend aus zwei down-Quarks und einem standteile des Protons sind oder durch die Wechselwirup-Quark. Dieses einfache Bild des Protons und kung entstanden sind, lässt sich nicht einfach beNeutrons erweist sich als sehr nützlich, um antworten. Eine Zerlegung des Protons in gewisse Eigenschaften, wie z. B. die Laseine Bausteine, wie wir das für Obu dung zu berechnen. jekte des Alltags kennen, ist also ū d nicht möglich. Die Anzahl der d̄ Weitere Experimente, aus denen Teilchen, die man im Proton u sich schließlich die Theorie antrifft, hängt sozusagen dau der starken Wechselwirkung, von ab, wie genau man hind d̄ d d̄ die Quantenchromodynamik schaut. Je höher die Energie, (QCD, ) entwickelt hat, erdesto feinere Strukturen d d̄ u ū geben jedoch ein wesentlich kann man auflösen. s ¯s komplexeres Bild, wie in der Abbildung skizziert. ZuDennoch ist es gelungen mit ¯s u ū sätzlich zu den Quarks enthält Messungen, wie sie zum Beis d das Proton Gluonen. Sie sind spiel am Beschleuniger HERA ū die Austauschteilchen der staram DESY in Hamburg durchu ken Wechselwirkung und halten die geführt wurden, und der QCD den Quarks zusammen. Gluonen können Quark- und Gluongehalt im Proton Proton aufgebaut aus Quarks und ihrerseits wieder Quark-Antiquarksehr genau zu beschreiben. Erst mitGluonen Paare bilden. Man kann sich somit hilfe dieser sogenannten Quark- und das Proton als dynamisches System vorstellen, in dem Gluonverteilungen () ist es möglich, die Proton-Proständig Gluonen und Quark-Aniquark-Paare entste- ton-Kollisionen am LHC () genau zu verstehen. hen und vernichtet werden. Wir sehen also, dass die Aussage, ein Proton bestehe aus zwei up- und einem down-Quark, sehr vereinfachend ist. Selbst die Aussage, ein Proton bestehe aus einer bestimmten Anzahl von up-Quarks, down-Quarks und Gluonen, ist nicht möglich. Das kann man sich an folgender Überlegung klarmachen. Wenn man das Proton immer genauer räumlich auflösen will, muss man dies mit Strahlteilchen immer höherer Energie tun. Diese Energie kann aber nach der Einstein’schen Relation E = mc 2 auch dazu genutzt werden, neue

Quantenchromodynamik  S. 190 Quarkverteilungen im Proton  S. 200 Der LHC-Beschleunigerkomplex am CERN  S. 112

d u

¯ u

u s g

u

¯s Zeit

Proton als dynamisches System aus Quarks und Gluonen

200

8 Die Besonderheiten der starken Wechselwirkung

Quarkverteilungen im Proton Mehr als nur drei Quarks

Im Artikel über das Innenleben des Protons () haben wir gesehen, dass ein Proton aus Quarks und Gluonen aufgebaut ist. Wir haben aber auch gesehen, dass eine Auflistung seiner Bestandteile, wie wir es von Gegenständen des täglichen Lebens gewohnt sind, nicht möglich ist. Wie man dennoch zu einer quantitativen Beschreibung des Protons gelangen kann, soll Thema dieses Artikels sein.

mehr Quarks der entsprechenden Sorte im Proton vorhanden sind. Interessanterweise ergibt sich allein aus dem Impuls des Elektrons vor und nach diesem Stoßprozess der Impulsanteil des angestoßenen Quarks. Ein solcher Streuprozess wird als tief-inelastisch bezeichnet, da das Proton hierbei auseinanderbricht.

Aus einem einzelnen Streuereignis kann man nicht herausfinden, welches der Quarks angestoßen wurde. Dazu ist es nützlich, sich das Proton als Strahl von Selbst durch die Analyse einer Vielzahl von Ereignissen Quarks und Gluonen, die in diesem Zusammenhang erfährt man nur etwas über die Summe der Beiträge alunter dem Begriff Partonen zusammengefasst wer- ler Quarks. Um etwas über die einzelnen Quarkarten den, vorzustellen (siehe Abbildung). Jedes der Parto- zu erfahren, macht man sich wieder Symmetrieübernen trägt einen bestimmten Impulsanteil x (Kinema- legungen zunutze. Dazu führt man Streuexperimente tik ) des Protons. Die Summe dieser Anteile muss sowohl an Protonen durch, bei denen man Elektronen natürlich eins ergeben, was dem Gesamtimpuls des auf ein Wasserstofftarget schießt, als auch an schweProtons entspricht. Mit dieser Vorstellung kann man rem Wasserstoff, also Deuterium (Kernstruktur ). Der jeder Quarksorte und auch den Gluonen sogenannte Kern des Deuteriums besteht aus einem Neutron und Partonverteilungen zuschreiben. Diese geben an, wie einem Proton. Die Symmetrie, die man hier ausnutzt, viele Partonen einer Sorte einen bestimmten Impulsanteil x im Proton tragen. e' Woher weiß man das? In Streuexperimenten (), bei denen Protonen mit Elektronen beschossen werden, tauschen Elektron und Proton ein Photon aus. Ist die Energie des Photons hoch genug und damit seine Wellenlänge klein genug, kann es Strukturen innerhalb des Protons auflösen (). Der Streuprozess findet dann nicht am gesamten Proton, sondern zufällig an einem der Quarks statt. In der Abbildung rechts wird ein upQuark vom Photon getroffen. Die Wahrscheinlichkeit, ein bestimmtes Quark zu treffen, ist umso höher, je

e 𝛾

d n u d

+

𝜋 ¯ d u ¯u

s

+ ¯s K u

d

p

K−

u u

Der tief-inelastische Streuprozess e + p → e' + n + 𝜋+ + K — + K + im Quarkmodell

Die Struktur des Protons  S. 198 Kinematik  S. 36 Das Prinzip von Streuexperimenten  S. 46 Kann man Quarks und Gluonen sehen?  S. 202, Confinement  S. 192 Von Nukleonen zu Kernen  S. 210

Quarkverteilungen im Proton

201

ist die Isospinsymmetrie (Quarkmodell ). Sie besagt, dass die Verteilung der up-Quarks im Proton genauso aussieht wie die Verteilung der down-Quarks im Neutron. Im Quarkmodell unterschieden sich Proton und Neutron ja nur durch das Vertauschen dieser beiden Quarkarten. Verwendet man zusätzlich noch Ergebnisse der tief-inelastischen Streuung mit Neutrinostrahlen, so kann man Impulsverteilungsfunktionen aller Quarksorten aus den experimentellen Daten extrahieren.

Das entsprechende Integral über die down-Quarks ergibt den Wert eins. Das zeigt, dass das Proton netto aus zwei up- und einem down-Quark besteht.

Diese Quarkverteilungen sind nicht statisch. So stellt sich heraus: Je tiefer man in das Proton hineinblickt, also je größer der durch das Photon übertragene Impuls und damit seine Auflösung ist, desto feinere Strukturen kann man auflösen. Dies führt dazu, dass diese Verteilungen nicht nur vom Impulsanteil x, sondern auch Was sagen diese Partonverteilungen aus? Aus der Ab- davon abhängen, wie groß die Energie des Photons ist, bildung unten kann man ablesen, wie viele Quarks mit dem man das Proton untersucht. Über diese Abeiner Sorte sich im Proton bei einem bestimmten hängigkeit kann man dann auch die Gluonverteilung Impulsanteil befinden. Wir hatten gesehen, dass das indirekt bestimmen, obwohl die elektrisch neutralen Proton im einfachen Quarkmodell aus zwei up- und Gluonen ja nicht direkt mit den Photonen wechselwireinem down-Quark besteht. Auch das spiegelt sich ken. Hier kommen wir wieder zu der eingangs gemachin den Partonverteilungen wider. Summiert man oder, ten Aussage. Man kann nicht einfach sagen, das Proton mathematisch exakter formuliert, integriert man über bestehe aus so und so vielen Quarks. Es kommt darauf alle Impulsbeiträge der up-Quarks und zieht davon die an, wie genau man hinschaut. Mit den Partonverteilungen ist es gelungen, das Proton quantitativ sehr genau Beiträge der Anti-up-Quarks ab, so erhält man: zu beschreiben. Sie sind zum Beispiel unerlässlich, um 1 ∫ (u(x) − ū(x)) = 2 . Proton-Proton-Kollisionen am LHC () zu verstehen 0 und zu analysieren. 0,6

0,4

x·(u − ū ) ¯) x·(d −d x·ū ¯ x·d x·s¯ x·g/100

0,2

0,0 10–4

10–3

10–2 Impulsanteil x

10–1

100

Die mit dem Impulsanteil x multiplizierten Quark- und Gluonverteilungen

Das Quarkmodell  S. 14 Der LHC-Beschleunigerkomplex am CERN  S. 112

Der Beschleuniger HERA am DESY in Hamburg, an dem grundlegende Experimente zur Struktur des Protons durchgeführt wurden

202

8 Die Besonderheiten der starken Wechselwirkung

Kann man Quarks und Gluonen sehen? Das Unerreichbare wird sichtbar

Energie nimmt zu

Ursprünglich wurden Quarks () eingeführt, um Ord- Wenn genügend Energie in dieser Röhre steckt, dann nung in den Teilchenzoo zu bringen. Aber wie real sind kann sich diese Energie auch in ein oder mehrere diese Objekte wirklich? Oder dienen sie lediglich der Quark-Antiquark-Paare umwandeln, die sich wiedeKlassifizierung von Teilchen? In diesem Artikel werden rum zu Gruppierungen zusammenschließen können, wir sehen, dass Quarks und auch Gluonen durchaus die keine Farbladung tragen. Dies ist in der Abbildung real sind. Man kann sie in Experimenten „sehen“, und links skizziert. So wird aus einem Quark-Antiquarkzwar noch direkter als im Artikel zur Struktur des Pro- Paar mit viel Energie in der bindenden Röhre also eine tons () beschrieben – allerdings natürlich nicht als ganze Schar von Hadronen. Diese bewegen sich mit freie Teilchen, denn das verbietet das Confinement (). großer Energie. Den gerade beschriebenen Prozess nennt man Hadronisierung, die entstehenden gebünSchießt man Elektronen und Positronen mit gleich ho- delten Strahlen vieler Teilchen heißen Jets. Da die hen Energien frontal aufeinander und entsteht daraus Ausgangsquarks genau in entgegengesetzte Richtunein Quark-Antiquark-Paar, dann fordert die Energie- gen flogen, fliegen in der gerade beschriebenen Situaund Impulserhaltung, dass diese in entgegengesetzter tion zwei Jets, bestehend aus vielen Hadronen, in entRichtung auseinanderfliegen. Nun sind aber Quark gegengesetzter Richtung aus dem Reaktionsgebiet. Auf und Antiquark farbgeladen. Also bildet sich zwischen der linken Seite in der Abbildung auf der nächsten Seiihnen eine Flussröhre aus Gluonen aus. te sieht man die Visualisierung eines solchen Zwei-JetEreignisses, wie es mit dem JADE-Experiment am PETRA-Beschleuniger des DESY gemessen wurde (wie ein solches Experiment funktioniert, wird im Kapitel zu experimentellen Grundlagen  beschrieben). Das Spannende daran ist, dass man nach dem gleichen Prinzip auch Gluonen „sehen“ kann: Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit strahlt eines der Quarks kurz nach seiner Entstehung ein Gluon ab. In diesem

Illustration der Teilchenproduktion durch Reißen der Flussröhre

Das Quarkmodell  S. 14 Die Struktur des Protons  S. 198 Confinement  S. 192 Kapitel 3 Experimentelle Grundlagen  S. 61

Kann man Quarks und Gluonen sehen?

Moment haben wir also nicht nur zwei (das QuarkAntiquark-Paar, das direkt aus dem Photon entsteht), sondern sogar drei farbgeladene Teilchen – schließlich trägt ja auch ein Gluon eine Farbladung. Es kommt also wieder zur Hadronisierung, nur dass nun nicht zwei, sondern drei Jets entstehen. Dieser Prozess wurde zum ersten mal am Beschleuniger PETRA am DESY, Hamburg, im Jahr 1979 beobachtet – ein entsprechendes Ereignis ist auf der rechten Seite der Abbildung gezeigt.

Hadronen

203

Interessanterweise ist das Verhältnis aus Drei-Jet- zu Zwei-Jet-Ereignissen ein Maß für die Wahrscheinlichkeit, dass ein Quark ein Gluon ausstrahlt und damit ein Maß für die starke Kopplung 𝛼QCD. Somit kann man also durch Abzählen der entsprechenden Ereignisse die Größe der starken Kopplungskonstante bei einer gegebenen Gesamtenergie messen. Manche der Werte von 𝛼QCD in der Abbildung im Artikel „Die laufende Kopplung“ () sind in der Tat so bestimmt worden.

Hadronen g

q̄ e−

e+



Die laufende Kopplung  S. 196

e−

e+

q

Hadronen

Hadronen

q

Hadronen

Zwei und Drei-Jet-Ereignisse, wie sie beim PETRA-Beschleuniger am DESY in Hamburg gesehen wurden

204

8 Die Besonderheiten der starken Wechselwirkung

Woher kommt unsere Masse? Verkehrte Welt?

Auf den ersten Blick scheint die Antwort auf diese Frage einfach: Unsere Masse kommt von den Bausteinen, aus denen unser Körper aufgebaut ist, also den Atomen. Deren Masse kommt vor allem von den Atomkernen. Diese sind aus Protonen und Neutronen aufgebaut, die somit die Quelle unserer Masse sind. So weit, so gut. Die spannende Frage an die Teilchenphysik, die wir im Folgenden besprechen wollen, ist aber nicht nur, wie genau das denn überhaupt stimmt, sondern auch, woher Proton und Neutron ihre Massen beziehen. Dabei werden wir auf einige Überraschungen stoßen.

Klemmbaustein

Atom Elektron Proton Atomkern Neutron

Wir schauen uns dazu beispielhaft ein paar zusammengesetzte Objekte an. Proton Steckt man z. B. zwei Klemmbausteine aufeinander, dann ist natürlich das Gewicht dieses Paares gleich der Summe Proton der Gewichte der Steine. Auf atomarem Niveau stimmt das so aber nicht mehr: Wird ein Elektron an ein Proton gebunQuarks den, so wird Energie freigesetzt, die sogenannte Bindungsenergie. Dadurch Gewichtsvergleiche zwischen Objekten und ihren Bausteinen wird das Atom jedoch wegen E = mc 2 um die Bindungsenergie, geteilt durch c 2, leichter. Das ist bei Atomen ein sehr kleiner aber passiert, wenn sich Proton und Neutron zum Deuteron messbarer Effekt: Das Gewicht des Atoms wird an- zusammentun – nur dass hier, da die starke Wechselteilig um ein Hundertmillionstel reduziert. Ähnliches wirkung am Werke ist, die Bindungenergie und damit

Woher kommt unsere Masse?

der Massenverlust mit einem tausendstel der Gesamtmasse deutlich größer ist. Und woher beziehen Proton und Neutron nun ihre Massen? Im Artikel zum Quarkmodell () haben wir gesehen, dass ihre Bausteine drei Quarks sind. Also würde man naiv erwarten, dass die Masse von Proton und Neutron etwas kleiner als die Summe dieser Quarkmassen ist. Das stimmt aber nicht: Die Quarkmassen machen nur ca. ein hundertstel der Protonund Neutronmassen aus. Der überwiegende Teil ihrer Masse kommt aus der Energie des Gluonfeldes, das die Quarks zusammenhält. Somit sind im Gegensatz zu Atomen und Atomkernen, die Bausteine der Atomkerne sehr viel schwerer als ihre Bausteine, die Quarks. Die Tatsache, dass die Feldenergie der Gluonen so groß ist, hängt eng mit dem Phänomen des Confinement () zusammen; schließlich müssen die Gluonen ja sicherstellen, dass die Quarks immer zusammenbleiben. Dass dieses Bild richtig ist, können wir tatsächlich „nachrechnen“ – wie das geht wird im Artikel zur Gitter-QCD () besprochen. In der Abbildung links sind die Massen der gerade diskutierten zusammengesetzten Objekte noch einmal mit denen ihrer Bausteine verglichen – wobei in der letzten Zeile geschummelt wird: Schließlich gibt es keine isolierten Quarks; hier stößt die Illustration an ihre Grenzen. Interessanterweise ist das Bild bei Hadronen, die schwere Quarks wie das charm- oder bottom-Quark enthalten, ein anderes: Hier wird die Masse des zusammengesetzten Systems tatsächlich durch die Masse des schweren Quarks bei Weitem dominiert. Allerdings ist auch hier die Masse der zusammengesetzten Systeme größer als die Massen der Bausteine zusammengenommen. Der Grund für diesen drastischen Unter-

Das Quarkmodell  S. 14 Confinement  S. 192 Gitter-QCD  S. 206 Die laufende Kopplung  S. 196 Spontane Symmetriebrechung  S. 58

205

Wie man die Massen der leichten Quarks abschätzt Wegen des Confinements sind Quarks nicht als isolierte Teilchen beobachtbar, was es schwierig macht, ihre Massen zu bestimmen. Aber mit dem Wissen aus dem Artikel zum Quarkmodell können wir uns zumindest eine Abschätzung verschaffen. Wie gesagt, kommt die Massendifferenz z. B. zwischen dem Proton (uud) und dem Σ+-Teilchen (uus) vor allem aus der Massendifferenz von down- und strange-Quark, die wir deshalb mit ca. 200 MeV/c 2 abschätzen. Dieser Wert ist auch eine Abschätzung der Masse des strange-Quarks, da die down-Quark-Masse sehr klein ist. Des Weiteren sind Pionen (𝜋) und Kaonen (und 𝜂-Mesonen) eng mit der spontanen Symmetriebrechung () der starken Wechselwirkung verknüpft. Insbesondere gilt M𝜋2 = B(mu + md), MK2+ = B(mu + ms) und MK2 0 = B(md + ms), wobei B ein in allen Fällen gleicher Faktor ist. Daraus kann man 20 als das Verhältnis aus strange-Quark-Masse und downQuark-Masse berechnen und erhält somit als Abschätzung für die down-Quark-Masse 10 MeV/c 2; ca. ein Prozent der Protonmasse.

schied liegt darin, dass die starke Kopplungskonstante bei so großen Energieskalen, wie sie durch die Massen der schweren Quarks gegeben sind, sehr viel kleiner ist als bei kleinen Energien (Die laufende Kopplung ), so dass die Feldenergie entsprechend reduziert ist. Der Mechanismus des Confinement greift jedoch auch hier: Ebenso wie die leichten Quarks kann man auch die schweren nicht aus einem Hadron isolieren.

206

8 Die Besonderheiten der starken Wechselwirkung

Gitter-QCD

Der Supercomputer macht's möglich Wie wir in verschiedenen Artikeln dieses Kapitels gesehen haben, ist die Physik der starken Wechselwirkung bei kleinen Energien sehr kompliziert. Die Wahrscheinlichkeit, dass Quarks Gluonen abstrahlen, ist so hoch, dass z. B. in einem Proton ständig viele Gluonen vorhanden sind. Eine weitere Komplikation ergibt sich daraus, dass die Gluonen auch direkt miteinander in Wechselwirkung treten, so dass deren Dynamik im Ganzen sehr kompliziert ist (Die Struktur des Protons ). Für besonders neugierige Leser wollen wir nun beschreiben, wie man mit numerischen Simulationen () trotzdem Vorhersagen aus der QCD beispielsweise über die Massen oder die Streuung von Hadronen machen kann. Die Grundidee ist dieselbe wie zuvor, nur dass nun nicht nur die Zeit zerstückelt werden muss, Illustration der sondern auch der Raum. Da- Gitter-QCD: Die bunten Kugeln sind durch werden die Vorgänge die Quarks, die lila Linien auf dem Computer darstell- die Gluonen. bar: Es entsteht ein Gitter, auf dem sich Quarks und Gluonen dann „bewegen“ können (siehe Abbildung). Daher wird die Methode Gitter-QCD genannt.

Die Struktur des Protons  S. 198 Simulationen in der theoretischen Physik  S. 108 Grundkonzepte der Quantenmechanik  S. 40

Was muss eigentlich simuliert werden? Im Artikel zur Quantenmechanik () haben wir besprochen, dass die Wirkung eine zentrale Größe der Quantenmechanik ist. Diese ist auch für die Feldtheorie essentiell: Um zu berechnen, wie sich Quarks von A nach B bewegen, müssen alle möglichen Konfigurationen, d. h. alle möglichen Bahnen der Quarks sowie ihre Wechselwirkungen mit den Gluonen und der Gluonen untereinander, aufsummiert werden. Dabei wird jede Konfiguration mit einem Gewichtungsfaktor versehen, der aus der Wirkung berechnet wird. Dadurch gehen sehr unwahrscheinliche Bahnen weniger wichtig in die Summe ein, als wahrscheinliche. Natürlich können nicht wirklich alle Wege berechnet werden – es gibt schließlich unendlich viele – und die Welt ist kein endliches Gitter. Aber man kann sich dem richtigen Ergebnis, mit entsprechendem Aufwand, beliebig gut annähern. Die Kunst besteht darin, abzuschätzen, welchen Effekt z. B. die endliche Größe des Gitters hat. Dazu werden Rechnungen mit verschiedenen Gittergrößen durchgeführt, um aus den Ergebnissen das Verhalten für ein unendlich großes Gitter abzuleiten. Analog verfährt man mit dem end-

Gitter-QCD

lichen Gitterabstand, sowie der Tatsache, dass eben nicht wirklich alles simuliert werden kann. Außerdem müssen noch die Parameter der Simulation so angepasst werden, dass sie die Natur repräsentieren. Das soll am Beispiel einer Berechnung der Massen einiger Hadronen bestehend aus den drei leichtesten Quarks (up, down, strange) demonstriert werden. In der Simulation, deren Ergebnisse im Bild unten gezeigt sind, wurden die beiden leichtesten Quarktypen (up und down) als massegleich angenommen (deren Massenunterschiede sind relativ klein – aber wichtig, wie im Artikel zum Quarkmasseneffekt () beschrieben wird). Damit hat die QCD für das beschriebene System drei Parameter: Die up-down-Quark-Masse, die strange-Quark-Masse und die Stärke der starken Kopplung bzw. ΛQCD (Die laufende Kopplung ).

207

anhand des Ξ-Baryons (Das Quarkmodell ). Damit sind alle Parameter fixiert, und die weiteren Hadronenmassen können vorhergesagt werden. Die Ergebnisse der Rechnung sind in der Abbildung durch die roten Kreise dargestellt – die blauen Symbole zeigen die Massen, die zur Festlegung der Parameter genutzt wurden. Die schwarzen Linien zeigen die experimentellen Werte der Teilchenmassen, die grauen Kästen ihre Breiten (Resonanzen ). Wie man sieht, ist die Übereinstimmung von Experiment und Theorie perfekt. Wir verstehen also sehr gut, wie aus der Wechselwirkung von Quarks mit Gluonen und von Gluonen untereinander die Massen z. B. der Protonen und Neutronen (in der Abbildung zusammenfassend als N (Nukleon) bezeichnet) entstehen – und damit auch unsere Masse. Schließlich kommt diese aus den Massen der Atomkerne und damit zum großen Anteil aus denen von Proton und Neutron.

Masse [MeV/c 2]

Die Masse der leichtesten Quarks wird so festgelegt, dass die Masse des Pions dem physikalischen Wert Übrigens brauchte die oben erwähnte Berechnung des entspricht. Die Masse des strange-Quarks wird durch Hadronen-Spektrums 45 Millionen Core-Stunden Redie Masse der Kaonen festgelegt und schließlich ΛQCD chenzeit bei einer Bandbreite von 13,6 GB/s pro Core. Möchte man eine solche Rechnung auf einem Laptop Mit der Gitter-QCD berechnete Massen der leichtesten Hadronen mit 8 Cores mit je ca. 6 GB/s machen, dann braucht 2000 dieser über 1.400 Jahre. Um das Ganze schneller zu Budapest-Marseille-Wuppertal Collaboration bekommen, benutzt man Supercomputer, die sehr viel Ω mehr und schnellere Cores haben und die parallel arΞ* 1500 beiten können. Auf dem Rechner JUGENE1 in Jülich, * Σ Ξ der 295 Cores mit je 13,6 GB/s besaß, hätte bei Volllast Δ eine Woche reine Rechenzeit gereicht. In der Realität Σ Λ 1000 wurden verschiedene Großrechner benutzt und jeweils N K* nur unter teilweiser Ausnutzung der Rechenleistung. 𝜌 Außerdem mussten, wie oben beschrieben, noch die Experiment 500 K Breite Parameter der Simulation fixiert werden, so dass das Input ganze Projekt alles in allem fast fünf Jahre dauerte. 𝜋 QCD Aber der Aufwand hat sich gelohnt! 0

1

Ein Bild des Supercomputers JUGENE ist auf Seite 108 zu finden.

Der Quarkmasseneffekt  S. 208 Die laufende Kopplung  S. 196 Das Quarkmodell  S. 14 Resonanzen  S. 52

208

8 Die Besonderheiten der starken Wechselwirkung

Der Quarkmasseneffekt

Warum wir den Massenunterschieden der Quarks unsere Existenz verdanken Quarks sind die Bausteine von Protonen und Neutronen, die ihrerseits die Bausteine der Atomkerne () darstellen, die wiederum etwa 10.000 mal kleiner als Atome sind. Das lässt vermuten, dass ihre Eigenschaften keinen unmittelbaren Einfluss auf unsere Existenz haben. Doch weit gefehlt: Das Proton (p) ist etwas leichter als das Neutron (n), und zwar gerade so viel, dass der 𝛽-Zerfall (Produktion und Zerfall ) n ĺ p + e − + 𝜈ē , also der Zerfall eines Neutrons in ein Proton, ein Elektron (e −) und ein Elektron-Antineutrino (𝜈ē ) (schwache Wechselwirkung ), erlaubt ist. Somit zerfallen freie Neutronen, wohingegen freie Protonen stabil sind. Wäre jedoch das Proton so viel schwerer als das Neutron, dass der umgekehrte 𝛽-Zerfall, p ĺ n + e + + 𝜈ē , energetisch erlaubt wäre, dann wäre das Neutron stabil und nicht das Proton. Da das Neutron aber elektrisch neutral ist, kann es keine Elektronen an sich binden und somit keine Atome bilden. Dann gäbe es keinen elementaren Wasserstoff, kein Wasser und in letzter Konsequenz auch kein Leben, wie wir es kennen.

𝛽-Zerfall des freien Neutrons findet statt, da:

𝛽-Zerfall des freien Protons findet nicht statt, da:

Mp + Me + M𝜈 < Mn

Mn + Me + M𝜈 > Mp

𝜈e

𝜈e

n e−

p p

e+

n

Vergleich des 𝛽-Zerfalls von Neutron und Proton

zusammen, ergibt sich wie erwartet für ein Proton die Gesamtladung 1 e und für das Neutron 0 e. Im Proton ist also mehr elektrische Ladung auf engem Raum „eingesperrt“ als im Neutron. Nun ist es aber so, dass sich gleichnamige Ladungen abstoßen. Daher kostet es Energie, diese Ladungen nahe zusammenzuhalten, Aber warum ist das Proton leichter als das Neutron? und somit bekommt ein Proton von der elektromagneDie zentralen Bausteine des Protons sind zwei up- tischen Wechselwirkung einen etwas höheren Energieund ein down-Quark, während das Neutron aus zwei gehalt als ein Neutron! down– und einem up-Quark besteht (Struktur des Protons ). Die starke Wechselwirkung unterscheidet Mithilfe von E = mc 2 lässt sich diese Energiedifferenz nicht zwischen den Quarktypen. Daher muss der Mas- in eine Massendifferenz übersetzen, so dass ein Proton senunterschied von Proton und Neutron durch Unter- schwerer sein sollte als ein Neutron. Detaillierte Unterschiede in den Quarkeigenschaften bedingt sein. Ein suchungen, die sich mit einer einfachen Abschätzung up-Quark hat die elektrische Ladung +2/3 e und ein bestätigen lassen (siehe Infokasten), haben ergeben, down-Quark −1/3 e, wobei −e die Ladung des Elekt- dass die elektromagnetische Wechselwirkung zwischen rons bezeichnet. Addiert man diese Ladungen jeweils den Quarks das Proton ca. 0,7 MeV/c 2 schwerer macht

Von Nukleonen zu Kernen  S. 210 Produktion, Zerstörung und Zerfall von Teilchen  S. 50 Die schwache Wechselwirkung  S. 166 Die Struktur des Protons  S. 198

Der Quarkmasseneffekt

209

_1 d − 3e

_2 + e u 3 r¯

_2 + e 3

u





_1 − e 3



Proton

d

_2 + e 3

Mathematische Ergänzung: Elektromagnetische Massendifferenz



_1 − e 3

u



d

Neutron

Modell der Nukleonen

als das Neutron. Wäre dies also die einzige Quelle der Proton-Neutron-Massendifferenz, würde das Proton in ein Neutron zerfallen können, mit den zuvor beschriebenen fatalen Folgen für unsere Existenz. Verantwortlich dafür, dass das Proton leichter als das Neutron ist, ist die Massendifferenz der Quarks: Da das up-Quark leichter als das down-Quark ist, gibt es einen zweiten Beitrag zur Proton-Neutron-Massendifferenz. Und dieser ist etwas größer als der elektromagnetische Effekt. Wir verdanken somit unsere Existenz der Massendifferenz der leichten Quarks (siehe auch Zufall ).

Die Größenordnung dieses Effektes kann man mithilfe einer klassischen Überlegung abschätzen: Der Mechanismus des Confinement () sorgt dafür, dass der mittlere Abstand zwischen den Quarks, r̄, unter 10−15 m = 1 fm bleibt. Wir erhalten also eine Abschätzung der vom Elektromagnetismus erzeugten Energiedifferenz zwischen Proton und Neutron, indem wir die Quarks als statische elektrische Ladungen mit relativem Abstand r̄ betrachten (siehe Abbildung). Das Coulomb-Gesetz gibt die elektromagnetische (e.m.) Energie zwischen zwei Ladungen q1 und q2 an: Ee.m. =

1 (q q ) . (4𝜋𝜀0) r̄ 1 2

Damit ergibt sich für die e.m. Energiedifferenz zwischen Proton und Neutron 1 𝛼ħc , (q 2 + 2quqd − (qd2 + 2quqd)) = (4𝜋𝜀0) r̄ u 3 r̄ wobei die elektromagnetische Feinstrukturkonstante 𝛼 = e 2/(4𝜋𝜖0ħc) ≈ 1/137 und ħc ≈ 197 MeV fm den sogenannten Umrechnungsfaktor bezeichnen. Für r̄ = 1 fm ergibt dies einen um 0,5 MeV größeren Energiegehalt des Protons. Dieser Wert liegt sehr nahe an den (0,7 ± 0,3) MeV, die eine aufwändige theoretische Analyse ergeben hat.

Übrigens: Es gilt ganz allgemein, dass die geladenen Teilchen schwerer sind als die ungeladenen, wenn keine weiteren Effekte beitragen. Da geladene und neutrale Pionen (Quarkmodell ) je gleiche Anteile an up- und down-Quarks bzw. Antiquarks enthalten (für 𝜋+, 𝜋0 und 𝜋− findet man als Quarkinhalt ud̄, uū − dd̄ und dū), sind für sie Quarkmasseneffekte stark unterdrückt und das geladene Pion ist daher schwerer als rale (ein d ̄s–Zustand), da hier die Quarkmasseneffekte das neutrale. Im Gegensatz dazu ist aber das negativ nicht nur beitragen, sondern auch größer sind als der geladene Kaon (ein ūs-Zustand) leichter als das neut- elektromagnetische Effekt.

Ist das Leben auf der Erde ein Zufall?  S. 274 Das Quarkmodell  S. 14 Confinement  S. 192

210

8 Die Besonderheiten der starken Wechselwirkung

Von Nukleonen zu Kernen Welch Vielfalt aus zwei Bausteinen

Mittlere Bindungsenergie pro Kernbaustein [MeV]

Im Artikel zur Quantenmechanik () haben wir gesehen, dass die Coulomb-Wechselwirkung Elektronen mit wohldefinierten Energien an die Atomkerne bindet. Hierbei bilden sich sogenannte Schalen aus, die die chemischen Eigenschaften der Atome bestimmen. Innerhalb der Schalen sind die Abstände zwischen den möglichen Bindungsenergien klein, zwischen den Schalen relativ groß. Analog dazu bindet die sogenannte Kernkraft, gebildet durch die starke Wechselwirkung, Protonen und Neutronen zu Atomkernen zusammen. Da jedoch die Kernkraft sehr viel stärker als die Coulomb-Kraft ist und außerdem sehr viel kurzreichweitiger (), sind Atomkerne sehr viel kleiner als ihre Hülle. Wie bei der Atomhülle gibt es auch bei der Kernstruktur Schalen. Kerne, deren besetzte Schalen komplett gefüllt sind, sind besonders stabil.

8

4 2

16 8

6

4

9 4 5 2

He

6 3 3 1

Li

12 6 7 3

Fe

O

2 1 1 1

10

Li

H

H 20 30 40 50 Anzahl der Kernbausteine im Kern

Name ,

Zwei Neutronen bilden keinen Bindungszustand, da die Anziehung zwischen ihnen etwas schwächer ist, als die zwischen Proton und Neutron – warum das so ist, weiß man nicht. Das Triton, 13H, bestehend aus einem Proton und zwei Neutronen, kann zwar entstehen, zerfällt aber mit einer mittleren Lebensdauer von etwas über zwölf Jahren durch 𝛽-Zerfall analog zum Neutron gemäß

C

He

2

0 0

Be

Anzahl der Kernbausteine Anzahl der Protonen

obwohl der Informationsgehalt von „Name“ und „Anzahl der Protonen“ identisch ist. Also ist das Symbol für das Deuteron 12H.

He 84Be* 56 26

Der leichteste Kern ist der Wasserstoffkern, Symbol H, bestehend aus einem einzelnen Proton. Auch ein Kern aus einem Proton und einem Neutron ist stabil und wird als Deuteron oder Deuteriumkern bezeichnet. Das Neutron darin kann nicht zerfallen, da seine Bindungsenergie an das Proton mit 2,3 MeV größer als die Proton-Neutron-Massendifferenz von 1,3 MeV (Produktion und Zerfall ) ist. Übrigens tragen alle Kerne mit der gleichen Anzahl an Protonen den gleichen Namen, unabhängig von der Zahl der Neutronen. Schließlich bilden sie Atome mit chemisch gleichen Eigenschaften, da für die Elektronenhülle nur die Kernladung zählt. Kerne, die sich nur durch die Anzahl an Neutronen unterscheiden, werden Isotope genannt. Häufig bezeichnet man Atomkerne mit dem Symbol

60

Grundkonzepte der Quantenmechanik  S. 40 Über die Reichweite von Wechselwirkungen  S. 54 Produktion, Zerstörung und Zerfall von Teilchen  S. 50

70

3 1

Hĺ23He + e í + Ȟ−e

Von Nukleonen zu Kernen

in einen Helium-3-Kern, der aus zwei Protonen und einem Neutron besteht. Dies ist nun möglich, da das Neutron im 13H etwas weniger gebunden ist als das Proton im 23He.

211

In der Abbildung sind fast nur stabile Kerne aufgeführt – lediglich das 48Be ist instabil und deshalb mit einem * markiert. Obwohl es sehr stark gebunden ist, kann es mit einer sehr kurzen Lebensdauer von 10 −17 Sekunden in zwei 24He-Kerne zerfallen, da letztere noch stärker geIn der Abbildung links sind die mittleren Bindungs- bunden sind. Das 48Be spielt bei der Elemententstehung energien pro Kernbaustein gegen die Zahl der Kern- in Sternen () eine wichtige Rolle, mit spannenden Imbausteine aufgetragen. Es fällt auf, dass manche Ker- plikationen (Ist das Leben auf der Erde ein Zufall? ). ne deutlich stärker als ihre Nachbarn gebunden sind. Diese sind in der Abbildung rot markiert. Das passiert genau dann, wenn sowohl die Anzahl an Protonen als 1 Proton (p) stabil 1H auch an Neutronen die entsprechenden Schalen füllt – Neutron (n) instabil diese Anzahlen, 2, 8, 20, 28, 50, 82, 126, ..., bezeichnet Zwei-Neutron bindet nicht man als magische Zahlen. Besonders sticht hier der 4 2 He-Kern, auch als 𝛼-Teilchen bezeichnet, heraus, da Deuteron stabil 2 1H 3 dieser auffallend stärker als seine Nachbarn gebunden H Triton instabil 1 ist. Übrigens hört die x–Achse der Abbildung nicht bei 3 Helium 3 stabil 2 He 70 auf. Das Diagramm ist von da an jedoch langwei4 56 Helium 4 (𝛼) sehr stabil 2 He lig, da die mittlere Bindungsenergie vom Eisen, 26Fe, dem mit 8,79 MeV am stärksten gebundenen Kern, Die leichtesten Kerne lediglich sehr langsam und gleichmäßig bis zum Uran 235 235, 92U, mit einer mittleren Bindungsenergie von 7,59 MeV abfällt. Was als Diagramm langweilig ist, hat Neben der Struktur der leichten Kerne haben wir übdrastische Implikationen: Bis zum Eisen wird bei einer rigens in diesem Artikel einige der wichtigsten KernKernfusion sehr viel Energie frei, da die schwereren zerfälle kennengelernt: Neben dem 𝛽-Zerfall, der häuKerne sehr viel stärker als die leichteren gebunden sind. figer in diesem Buch vorkommt, gibt es den 𝛼-Zerfall, Das ist eine fantastische Energiequelle, wenn es gelingt, bei dem ein Heliumkern abgestrahlt wird. Außerdem die elektrische Abstoßung zwischen den Kernen zu kann ein Atomkern in einem angeregten Zustand gebilüberwinden – und es funktioniert: Genau daher ziehen det werden und beim Übergang in den Grundzustand Sterne, auch unsere Sonne, ihre Energie. Bei schweren Photonen als 𝛾-Strahlen abgeben – analog zu atomaKernen wird bei der bereits Ende der 1930er Jahre von ren Übergängen, bei denen teilweise sichtbares Licht Otto Hahn und Fritz Straßmann entdeckten und von abgestrahlt wird (Zufall und Vorhersage ). Mit dem Lise Meitner und Otto Frisch theoretisch beschriebe- Unterschied, dass die abgestrahlten Energien bei Kernen Kernspaltung Energie freigesetzt – wenn auch sehr nen sehr viel höher sind, so dass die 𝛾-Strahlung große viel weniger pro Kernbaustein als bei der Fusion. Das Schäden anrichten kann. Es ist die gefährlichste der raist die Energiequelle der Kernkraftwerke. dioaktiven Strahlungsarten.

Elemententstehung in Sternen  S. 308 Ist das Leben auf der Erde ein Zufall?  S. 274 Zufall und Vorhersage  S. 42

212

8 Die Besonderheiten der starken Wechselwirkung

Die Karlsruher Nuklidkarte Vom Tal der Stabilität

Einen Überblick über die bekannten Atomkerne bietet die Karlsruher Nuklidkarte, die schematisch in der Abbildung dargestellt ist. Die schwarzen Symbole zeigen die stabilen Kerne. Man sieht, dass für die stabilen leichten Kerne die Zahl der Protonen (Z) nahe bei der der Neutronen (N) ist. Mit zunehmender Protonenzahl wächst jedoch die elektrische Abstoßung im Kern, so dass sich bei schwereren Kernen ein Neutronenüberschuss ausbildet – ab einer Neutronenzahl von 21 liegen alle stabilen Kerne unterhalb der in Rot einge48 zeichneten Geraden N = Z. Bereits im Kalzium 20 Ca gibt es einen Neutronenüberschus von 8, der für Blei 208 82PB bereits auf 44 angewachsen ist. Die Abbildung zeigt des Weiteren neben den stabilen Kernen auch instabile, die jedoch eine hinreichend lange Lebensdauer haben, um in der Natur vorzukommen oder zumindest im Experiment erzeugt und beobachtet werden zu können. Deutlich erkennbar ist das sogenannte Tal der stabilen Kerne. Für eine dagegen größere Anzahl an Protonen zerfallen die Kerne zumeist, indem ein gebundenes Proton im 𝛽+–Zerfall (p ĺ n + e + + 𝜈e) oder durch Einfang eines Hüllenelektrons (p + e − ĺ n + 𝜈e, in der Abbildung als 𝜺 bezeichnet) in ein gebundenes Neutron übergeht (rot markiert). In manchen Fällen kann es auch zur Abstrahlung eines Protons (hellbraun) oder eines 𝛼-Teilchens (gelb) kommen. Liegt hingegen ein Neutronenüberschuss vor, dann kommt es entweder zum 𝛽-Zerfall (n ĺ p + e − + 𝜈¯e – dunkelblau) oder zur Abstrahlung eines Neutrons (hellblau). Sehr schwere Kerne können auch einfach auseinander

fallen, was, wenn die Zerfallsprodukte von ähnlicher Größe sind, als spontaneous fission (sf), sonst als cluster emission (CE) bezeichnet wird. Schließlich sind noch Übergänge aufgeführt, bei denen langlebige angeregte Zustände in ihre Grundzustände übergehen. Diese werden als isomeric transitions (IT) bezeichnet.

Anzahl Protonen (Z)

Anzahl Neutronen (N)

Die Karlsruher Nuklidkarte

Für die instabilen Kerne enthält die Nuklidkarte noch Informationen über die Halbswertszeit – also die Zeit, in der von einer Menge von Kernen des gegebenen Typs im Mittel die Hälfte zerfallen ist – sowie weitere Zerfallscharakteristika, wie in dem Inlay dargestellt. Eine detaillierte Beschreibung findet sich z. B. im unten angegeben Fachartikel1.

Blei

Z=N

Kalzium

1 Z. Sóti, J. Magill, R. Dreher 2019, Karlsruhe Nuclide Chart – New 10th edition 2018, EPJ Nuclear Science Technology, 5, 6, doi:10.1051/epjn/2019004

213

214

8 Die Besonderheiten der starken Wechselwirkung

Exotische Zustände Ein neuer Teilchenzoo?

Das Quarkmodell () erklärte lange sehr erfolgreich Teilchen, die die starke Wechselwirkung spüren und einen ganzzahligen Spin haben, als gebundene Zustände aus einem Quark und einem Antiquark und solche mit halbzahligem Spin als Bindungszustände aus drei Quarks. Dies sind die einfachsten nach den Regeln der QCD () erlaubten Zustände (Confinement ). Doch dieses Bild geriet ins Wanken, als 2003 das erste Teilchen beobachtet wurde, das sich so gar nicht in das oben skizzierte Schema einordnen lassen wollte. Viele weitere folgten, insbesondere unter den Teilchen mit einem schweren Quark und seinem Antiquark (charm oder bottom – das top-Quark bildet keine Bindungszustände, da es zu schnell zerfällt). So wurde z. B. eine ganze Schar von Teilchen gefunden, die zwar in Endzustände mit einem schweren Quark und seinem Antiquark zerfallen, aber selbst eine elektrische Ladung tragen. Da die Kombination aus einem Quark und seinem Antiquark alleine immer zu einem elektrisch neutralen Zustand führt und die Entstehung schwerer Quarks in Zerfällen sehr unwahrscheinlich ist (bei dieser Massenskala ist die starke Kopplung () zu klein), müssen diese Zustände eine kompliziertere Struktur haben als nur Quark-Antiquark, denn die Ladung muss von zusätzlichen leichten Quarks kommen.

Hadroquarkonium

Tetraquark

Glueball

Hadronisches Molekül

Hybrid

Populäre Interpretationen von Mesonen mit zwei schweren Quarks, die nicht ins traditionelle Quarkmodellbild passen

nicht. Einen Überblick über die derzeit am meisten diskutierten Ansätze bietet das Bild dieser Seite. Als Gluebälle werden Bindungszustände bezeichnet, die nur aus Gluonen bestehen. Das ist in der QCD prinzipiell möglich, denn Gluonen tragen eine starke Ladung und treten daher mit sich selbst in Wechselwirkung. Im Gegensatz dazu sind Bindungszustände rein aus Photonen unmöglich, da Photonen nur sehr indirekt miteinander in Wechselwirkung treten können und die Kraft, die sie dann aufeinander auswirken, auch noch extrem schwach ist. Als Hybride bezeichnet man Zustände, in Doch was ist die Struktur dieser neuen Zustände? Hier denen neben den Quarks auch die Gluonen eine aktibietet die QCD viel Raum zur Spekulation, und die in ve Rolle spielen, also z. B. zu den Quantenzahlen beidiesem Feld aktiv Forschenden sind der Überzeugung, tragen. Für die oben erwähnten, elektrisch geladenen dass wir einiges mehr über die starke Wechselwirkung schweren Teilchen brauchen wir jedoch eine andere wissen werden, wenn wir erst verstanden haben, war- Erklärung, da Gluonen, wie bereits erwähnt, zwar eine um sich bestimmte Strukturen ausbilden, andere aber starke, aber keine elektrische Ladung tragen.

Das Quarkmodell  S. 14 QCD: Quantenchromodynamik  S. 190 Confinement  S. 192 Die laufende Kopplung  S. 196 Von Nukleonen zu Kernen  S. 210

Exotische Zustände

215

Hier kommen Multiquark-Zustände ins Spiel, die leichte und schwere Quarks enthalten. Für diese konzentriert sich die Literatur vor allem auf drei Gruppen, kompakte Tetraquarks, Hadroquarkonia und Hadronische Moleküle, die sich dadurch unterschieden, wie sich die Bausteine in den Teilchen zusammengruppieren. Kompakte Tetraquarks sind eine recht naheliegende Erweiterung des einfachsten Quarkmodells: Zugrunde liegt die Annahme, dass sich in diesen exotischen Strukturen zwei Quarks (Diquark) und zwei Antiquarks (Antidiquark) paarweise gruppieren, um so Diquark-Antidiquark-Bindungszustände zu bilden. Die Wechselwirkung zwischen den Bausteinen wird in Analogie zum etablierten Quarkmodell angesetzt. In Hadroquarkonia wird angenommen, dass ein kompaktes Paar aus einem schweren Quark und seinem Antiquark den Kern des exotischen Teilchens bilden, der von einer Hülle aus leichten Quarks umgeben ist. Hadronische Moleküle sind nahe Verwandte von –0 Σ+c D

1200 1000

– *0 Σ+c D

LHCb

Daten Fit Hintergrund

Zählrate

800 600 400 200 0 4200

Pc (4312)

4300

+

Pc (4440)

+

4400 m J/ψ p [MeV/c 2]

Pc (4457)

+

4500

Atomkernen (), nur dass ihre Bausteine nicht Protonen und Neutronen, sondern schwere Mesonen sind. Auf den ersten Blick scheint diese Struktur der der Tetraquarks sehr ähnlich. Was jedoch wie eine einfache Umsortierung anmutet, ändert dramatisch die Eigenschaften der Teilchen, so dass es durchaus gerechtfertigt ist, von einer neuen Struktur zu sprechen. Das kommt vor allem daher, dass Diquarks und Antidiquarks eine Farbladung tragen, schwere Mesonen jedoch nicht. Deshalb ist die Größe von kompakten Tetraquarks auf den Confinement-Radius von unter einem Fermi beschränkt. Dies gilt für Hadronische Moleküle nicht, so dass diese sehr ausgedehnt sein können. Auch zerfallen Moleküle mit größter Wahrscheinlichkeit in ihre Bausteine – andere Zerfallskanäle sind unterdrückt. Inzwischen sind auch Baryonen mit mindestens fünf Quarks (vier Quarks und ein Antiquark), die sogenannten Pentaquarks, experimentell gefunden worden und die gerade beschriebenen Konzepte wurden auf diese übertragen. In der Abbildung ist die zugehörige Messung für die Untersuchung des Zerfalls Λb ĺ KJ/𝜓 p. gezeigt. Auf der x-Achse ist hier die invariante Masse () von J/𝜓 und Proton aufgetragen. Drei Pentaquarks zeigen sich als Resonanzen (), da an drei Energien deutliche Überhöhungen zu sehen sind. Außerdem sind in der Abbildung die Energien eingezeichnet, an denen die benannten Teilchen produziert werden können. Die Nähe der Massen der Pentaquarks zu diesen sogenannten Schwellen werden als Indiz dafür gesehen, dass die Pentaquarks hadronische Moleküle aus ΣcD̄ bzw. ΣcD̄ * sind. Der Versuch, die große Zahl an exotischen Zuständen zu entschlüsseln, ist zur Zeit ein sehr aktives Feld der Teilchenphysik, das in den kommenden Jahren und Jahrzehnten noch einige spannende Einsichten verspricht.

Signale von Pentaquark-Zuständen

R. Aaij et al. (LHCb Collaboration) 2019, Observation of a Narrow Pentaquark State, Pc(4312)+, and of the Two-Peak Structure of the Pc(4450)+, Physical Review Letters, 122, 222001, doi:10.1103/ PhysRevLett.122.222001 Identifikation der Teilchensorte über die Masse  S. 144 Resonanzen  S. 52

216

8 Die Besonderheiten der starken Wechselwirkung

Die 14C-Altersbestimmung Archäologie mithilfe von Kernphysik

Die kosmische Strahlung () enthält unter anderem auch hochenergetische Neutronen. Trifft ein solches Neutron in der Atmosphäre auf den Kern eines Stickstoffatoms, entsteht in manchen Kollisionen ein Isotop des Kohlenstoffs, das aus acht Neutronen und sechs Protonen besteht, also insgesamt 14 Kernbausteine () enthält, und damit als 14C bezeichnet wird. n

+

1

+

Neutronen Protonen

N

ĺ

7

=

8

7

=

6

14

14

C

+

p

+

1

ringen Anteil von 14C. Stirbt ein Organismus ab, nimmt er kein CO2 mehr auf. Das kann man zur Altersbestimmung nutzen. Zum Zeitpunkt des Ablebens ist der 14CAnteil im Organismus so hoch wie in der Atmosphäre. Danach wird der Anteil aufgrund des radioaktiven Zerfalls immer geringer. Grob gesagt heißt das, wenn man weiß, dass anfangs der 14C-Anteil bei 10 −12 lag und bei der Messung nur noch die Hälfte nachgewiesen wird, ist das untersuchte Objekt 5.730 Jahre alt, was gerade der Halbwertszeit entspricht.

Ein Anteil von 10 −12 erscheint sehr klein. Bedenkt man Im Gegensatz zu dem am häufigsten in der Natur vor- jedoch, dass ein Gramm Kohlenstoff aus etwa 5 ∙ 1022 kommenden stabilen Kohlenstoffisotop 12C, das aus Kohlenstoffatomen besteht, so sind darin bereits sechs Protonen und sechs Neutronen aufgebaut ist, Kosmische Strahlung ist 14C radioaktiv. Es zerfällt durch einen 𝛽-Zerfall () wieder in Stickstoff, ein Elektron und ein Elektron-Antineutrino: 14

C ĺ 14N + e − + 𝜈̄e

mit einer Halbwertszeit von 5.730 Jahren. Der Anteil des 14C in der Atmosphäre beträgt nur etwa 10 −12. Also kommt auf 1.000 Milliarden C-Atome, ein 14C-Atom. Da chemisch kein Unterschied zwischen dem Isotop 14 C und den stabilen Isotopen 12C und 13C besteht, wobei letzteres etwa 1 % des Kohlenstoffs ausmacht, tragen alle drei zur Bildung von Kohlenstoffdioxid CO2 bei. Pflanzen, Tiere und Menschen nehmen Kohlenstoff, zum Beispiel in Form von Kohlenstoffdioxid (CO2) auf, darunter natürlich auch den oben genannten ge-

Kosmische Strahlung  S. 314 Von Nukleonen zu Kernen  S. 210 Produktion, Zerstörung und Zerfall von Teilchen  S. 50

Die

14 C-Altersbestimmung

217

5 ∙ 1010 14C-Kerne enthalten. Davon zerfallen in einer Minute immerhin im Mittel noch 17 Kerne. Um den 14 C-Anteil in einer Probe, deren Alter bestimmt werden soll, zu messen, kommen verschiedene Methoden zum Einsatz. Man kann entweder die Zerfälle des 14C nachweisen, oder man bestimmt mittels Massenspektroskopie den 14C-Anteil direkt. Die letztgenannte Methode ist genauer, aber auch aufwändiger. Wie so oft ist das Grundprinzip leicht erklärt, doch der Teufel steckt im Detail. Bei der obigen Rechnung wurde angenommen, dass der 14C-Anteil von 10 −12 über Jahrtausende konstant war. Dies ist aber nicht der Fall. Die Stärke der kosmischen Strahlung änderte sich im Laufe der Zeit. Außerdem wird der Kohlenstoffkreislauf durch Klimaänderungen beeinflusst. Das Magnetfeld der Erde ist zeitlich nicht konstant, was ebenfalls zu Variationen der 14C-Produktion führt. Darüber hiKalibrierungskurve: Auf der vertikalen Achse ist das sogenannte Radiocarbonalter aufgetragen, das unter der Annahme eines konstanten 14C-Anteils bestimmt wurde. Über die Kurve kann auf der horizontalen Achse das wahre Alter abgelesen werden.

Radiocarbonalter [Jahre]

50.000 40.000 30.000 20.000 10.000 0

0

10.000

20.000 30.000 40.000 wahres Alter [Jahre]

50.000

Baumringe werden verwendet, um den 14C-Anteil in der Atmosphäre in verschiedenen Jahren zu bestimmen. Diese Ergebnisse fließen dann in die Kalibrierungskurve ein.

naus nimmt auch der Mensch immer mehr Einfluss. So enthält das CO2 aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe fast kein 14C, da Öl und Kohle vor Millionen von Jahren entstanden sind. Durch Atomwaffentests wurden Neutronen freigesetzt, die kurzzeitig zu einer Verdopplung des 14C-Gehalts in der Atmosphäre führten. Um aus dem unter der Annahme eines konstanten 14 C-Anteils bestimmten Alter das wirkliche Alter zu bestimmen, muss eine Kalibrierungskurve verwendet werden, die u. a. auf die Analyse von Jahresringen von Bäumen zurückgreift. Hier kann man praktisch Jahr für Jahr den 14C-Gehalt messen. Weitere Informationen liefert der Suigetsu-See in Japan. Dessen Sedimente enthalten Jahreslagen, die ähnlich wie die Jahresringe eines Baumes abgezählt und analysiert werden können. Mit der 14C-Methode sind Altersbestimmungen bis zu etwa 50.000 Jahren möglich. Dazu bestimmt man zunächst wie oben beschrieben das Alter unter der Annahme eines konstanten 14C-Anteils in der Atmosphäre. Von diesem Wert auf der vertikalen Achse des Diagramms links, der als Radiocarbonalter bezeichnet wird, zieht man dann eine waagerechte Linie bis zur Kurve. Von dort führt dann eine senkrechte Linie zum wahren Alter, das auf der horizontalen Achse aufgetragen ist.

9 Der Triumph des Standardmodells und darüber hinaus Es ist ein lang etabliertes Ziel der Teilchenphysik, eine einzige zusammenhängende mathematische Beschreibung aller grundlegenden messbaren Phänomene finden zu wollen. In den bisherigen Kapiteln wurden die Konzepte und Ideen einer solchen möglichst umfassenden Theorie dargelegt, nämlich des Standardmodells der Elementarteilchen. Es beschreibt drei der vier bekannten fundamentalen Kräfte der Natur in einem vollständig konsistenten Modell: die elektroschwache Wechselwirkung aus der Vereinigung von Elektromagnetismus und schwacher Kraft und die starke Kraft. Zusammen mit der vom Standardmodell unabhängigen Beschreibung der Gravitation durch die allgemeine Relativitätstheorie lassen sich damit – im Prinzip – alle bekannten Phänomene, die auf der Erde in Präzisionsexperimenten gemessen werden können, beschreiben. Eine historisch vielleicht einmalige Situation und eine große kulturelle Leistung. In diesem Kapitel werden die herausragendsten experimentellen Schritte zur Etablierung des Standardmodells als die Beschreibung der Kräfte des Mikrokosmos dargelegt. Trotz der großen Erfolge des Standardmodells sind die Physikerinnen und Physiker noch sehr lange nicht am Ende ihrer Arbeit. Sie wissen, dass das Standardmodell nicht die „Theorie von allem“ sein kann. Die immer präziseren Experimente der Kosmologie verlangen nach einer Erweiterung oder dem kompletten Ersatz des Standardmodells, denn sie erfordern eine Erklärung der Dunklen Materie durch ein Teilchen und einen Mechanismus, der den beobachteten Unterschied in der Menge von Materie und Antimaterie im Universum erklärt. Auch Präzisionsmessungen von Vorhersagen des Standardmodells selbst zeigen in einigen Bereichen Abweichungen, die vielleicht zufällig sein könnten, aber vielleicht auch schon den Weg über das Standardmodell hinaus weisen. Mit Nachdruck arbeiten die Forschenden daher an der Suche nach der genauen Stelle, an der das Standardmodell die Natur des Mikrokosmos nicht mehr korrekt beschreibt. Sie suchen nach einer zukünftigen großen überraschenden Entdeckung.

220

9 Der Triumph des Standardmodells und darüber hinaus

Die Entdeckung der neutralen Ströme Der erste Durchbruch des Standardmodells

Die Geschichte der großen Entdeckungen der Wissenschaft lässt sich in drei Arten unterteilen: vorhergesagte Entdeckungen, zufällige Entdeckungen von im Prinzip schon vorher erwarteten Phänomenen und wirklich überraschende Messungen. Im ersten Fall gibt es eine Theorie, die überzeugend darlegt, warum ein ganz bestimmtes Experiment eine Entdeckung machen sollte, auf das man ohne die Theorie nie gekommen wäre.

Glashow, Abdus Salam und Steven Weinberg wurde eine neue, unerwartete Wechselwirkung postuliert: eine Wechselwirkung ähnlich dem geladenen Strom, jedoch ohne Änderung der Ladung: der (elektrisch) neutrale Strom.

Im Standardmodell werden der geladene Strom vom geladenen W ±-Boson und der neutrale Strom vom neutralen Z 0-Boson vermittelt. Beide müssen eine Die erste dieser vom Standardmodell vorhergesagten verglichen mit den anderen bis dahin bekannten EleEntdeckungen gelang im Jahr 1973 mit den neutralen mentarteilchen sehr hohe Masse besitzen, damit die Strömen der schwachen Wechselwirkung (). Seit der Vorhersage der Theorie die Messwerte erklären kann. Fermi-Theorie der schwachen Wechselwirkung, einer Wie hoch genau war aber unbekannt. Man wusste effektiven Feldtheorie () entwickelt durch Enrico Fer- nur, dass die Kopplung an die bekannten Fermionen mi im Jahr 1934, war die Idee des geladenen Stroms geteilt durch die Masse einen bestimmten Wert haben bekannt. Dabei handelt es sich um eine schwache sollte und dass die Masse sehr viel größer sein müsse Wechselwirkung, welche die elektrische Ladung q der als die aller anderen damals experimentell bekannten teilnehmenden Fermionen um Δq = ± 1 Elementarla- Teilchen. dung ändert. Durch die Vervollständigung der Theorie des elektroschwachen Standardmodells durch Sheldon Direkt als reelle Teilchen (Identifikation über die Masse ) beobachtet waren sowohl das W ±- als auch das Z 0𝜇− 𝜈𝜇 𝜈𝜇 𝜈𝜇 Boson im Jahr 1973 ebenfalls nicht. Die Idee ihrer Existenz beruhte allein darauf, dass das Standardmodell mit diesen Teilchen und den sonst von keiner bekannten Theorie konkret vorhergesagten neutralen Strömen Δq = 0 Δq = 1 0 + einfach viel symmetrischer, „schöner“ und präziser beZ W rechenbar ist als alle anderen bis dato bekannten Ideen über die möglichen fundamentalen Wechselwirkungen (). Grund genug, am CERN mit großem Aufwand 𝜈e e− e− e− mithilfe der Blasenkammer () Gargamelle nach den neutralen Strömen zu suchen. geladener Strom neutraler Strom

Die schwache Wechselwirkung  S. 166 Effektive Feldtheorie: Präzise Berechnung des nicht vollständig Lösbaren  S. 106 Identifikation der Teilchensorte über die Masse  S. 144 Äußere und innere Symmetrien  S. 92 und Hintergründe zur wissenschaftlichen Methode  S. 26 Blasenkammer: Flüssige Edelgase als Detektoren  S. 130

Die Entdeckung der neutralen Ströme

221

Flüssigkeit der Blasenkammer, werden so stark beschleunigt, dass sie als Spur sichtbar sind. Das hochenergetische Elektron überträgt auf gleicher Strecke aber sehr viel mehr Energie auf das umliegende Material als das Myon und kommt daher noch innerhalb der Blasenkammer zum Stillstand. Es geht also nichts Sichtbares in den Detektor hinein, und es kommt nichts Sichtbares heraus, weil alle erzeugten Teilchenspuren in der Blasenkammer beginnen und enden. Darum bedarf es einer Motivation durch eine Rekonstruktion eines neutralen Stroms aus Bildern der Gargamelle-Blasenkammer überzeugende schöne Theorie, weiterhin immer wieder Fotos Dabei gibt es nur ein Problem: Die einzig bekannte Art, von möglichen Ereignissen zu machen, auch wenn eine schwache Wechselwirkung zu erzwingen und den auf den meisten der Fotos mangels Interaktion nichts Elektromagnetismus auszuschalten, ist die Verwen- zu sehen ist. Im Jahr 1973 wurden endlich die ersten dung eines Neutrinostrahls (). In das Experiment tritt dieser einzigartigen Ereignisse fotografiert1, in denen daher ein quasi unsichtbarer Strahl ein, in diesem Fall nichts in den Detektor einzutreten scheint, nichts heein 𝜈𝜇-Strahl. Nur ganz selten passiert eine Wechselwir- rauszukommen scheint und doch dazwischen tatsächkung. Aus einem Myon-Neutrino 𝜈𝜇 wird durch einen lich etwas passiert! geladenen Strom ein Myon 𝜇−. Das Myon durchdringt große Teile des Detektors mit beobachtbaren elekt- Dies war der erste von vielen großen Triumphen des romagnetischen Wechselwirkungen (Signaturen von Standardmodells und überzeugte die breite PhysikTeilchen ) und kann einfach verwendet werden, um gemeinschaft, dass das Standardmodell die beste bedie Wechselwirkung zu bemerken und ein Foto vom kannte Theorie der Elementarteilchen ist! Als Teilchen Ereignis zu machen. Beim vorhergesagten neutralen entdeckt war das Z 0-Boson damit aber noch nicht Strom bleibt das Myon-Neutrino aber ein solches, und – jede große Entdeckung ist Grund für weitere Unteres verlässt nach einer möglichen Streuung selbst den suchungen, in diesem Fall der Suche nach dem reellen Detektor unbemerkt. Nur die Teilchen, an denen es Teilchen Z 0 (). streut, z. B. ein Elektron e − aus einer Atomhülle in der

F. J. Hasert et al. 1973, Observation of neutrino-like interactions without muon or electron in the gargamelle neutrino experiment, Physics Letters B, 46, 1, 138, doi:10.1016/0370-2693(73)90499-1

1

Neutrinos  S. 184 Signaturen von Teilchen  S. 76 Die Entdeckung von W- und Z-Boson  S. 224

222

9 Der Triumph des Standardmodells und darüber hinaus

Die zufällige Entdeckung des J/𝜓 Der zweite Durchbruch des Standardmodells

Selbst bei den großen und langfristig geplanten Experimenten der Teilchenphysik gibt es Überraschungen. Manchmal ist ein großes Stück Glück bei einer Entdeckung im Spiel, und auch das Wechselspiel verschiedener Arten von Experimenten ist von Bedeutung.

voneinander unterscheiden () konnte. Wenn in der Wechselwirkung zwischen Proton und den Kernen im Target ein unbekanntes Teilchen mit einer immer gleichen Masse in zwei eindeutig identifizierbare Teilchen zerfällt, kann man die Masse des Teilchens aus den Energien und Impulsen der Zerfallsprodukte bestimEine solche Entdeckung ist die erste Beobachtung ei- men (). nes Teilchens mit dem ungewöhnlichen Namen J/𝜓. Es ist ein Meson, das aus zwei Quarks besteht, einem Ein solches Experiment führte Sam Ting mit seinem charm-Quark c und seinem Antiteilchen c̄. Zu Beginn Team am Brookhaven National Laboratory im Osten des Jahres 1974 waren nur die drei leichten Quarks u, der USA 1974 durch1, und es tauchte ein schmales, vord und s experimentell bekannt. Das Standardmodell her noch nicht bekanntes Signal bei einer Masse von war eine vielversprechende Theorie, aber experimen- 3,1 GeV/c 2 auf. Da die Identifikation der Zerfallsprotell wartete sie noch auf ihre ersten Durchbrüche (). dukte – hier je ein Elektron und ein Positron – nicht Sollte das Standardmodell eine gute Beschreibung der ganz einfach war, war die Gruppe sich noch nicht ganz Elementarteilchen sein, so müsste es nach dem GIM- sicher, etwas Neues gefunden zu haben. Mechanismus () ein viertes Quark, das Charm c, geben, welches notwendig ist, um gemessene Eigenschaf- Zeitgleich führten Burt Richter und seine Kolleginnen ten von Zerfällen der Kaonen K zu erklären (Up und und Kollegen an der Westküste der USA, am SPEARDown, Rechts und Links ). Speicherring am Stanford Linear Accelerator Center (SLAC), Experimente mit der Kollision von ElektroObwohl also bekannt war, dass ein weiteres Quark nen und Positronen durch.2 Der Detektor maß zum existieren könnte, gab es keine konkrete Vorhersage, Beispiel, wie häufig eine Wechselwirkung auftrat. Die wie das zu finden sei. Verschiedene experimentelle Experimentierenden baten das Team des BeschleuAnsätze wurden verfolgt, um sich in bislang nicht un- nigers, die Energie der Kollisionen in regelmäßigen tersuchten Wechselwirkungen und Energiebereichen Abständen zu erhöhen – gleichsam als experimentelle ein Bild von der Natur zu machen – gleichsam einer Wanderung durch eine unbekannte Landschaft. Auf Expedition in unbekannte Weiten. Einer der Ansätze 3 GeV Schwerpunktsenergie der Kollisionen sollte war es, mit einem Beschleuniger hochenergetische Pro- 3,1 GeV folgen, dann 3,2 GeV, und so weiter, sobald tonen zu erzeugen und auf einen Klotz – das Target die Rate der Wechselwirkungen gemessen war. Glück– aus verschiedenen Materialien zu schießen. Dahin- licherweise nahm es die Betriebsmannschaft mit den ter stand ein Detektor, der bestimmte Teilchensorten Zahlen nicht so genau – 3,105 ist schließlich fast das

Die Entdeckung der neutralen Ströme  S. 220 GIM-Mechanismus: Der Weg zu sechs Quarks in drei Familien  S. 182 Up, Down, Rechts und Links  S. 168 Signaturen von Teilchen  S. 76 Identifikation der Teilchensorte über die Masse  S. 144

Die zufällige Entdeckung des J/𝜓

223

gleiche wie 3,1, oder? Aber ganz plötzZerfall eines J/ψ (cc ̄) in ein Produktion eines J/ψ (cc ̄) am Elektron-Positron-Paar SPEAR lich war nichts mehr, wie es vorher war, c e+ e− c̄ die Rate der Kollisionen hatte sich um einen Faktor 100 erhöht – als ob der ge𝛾 𝛾 mütliche Spaziergang auf einen 30 Meter hohen Hügel mit einem Schritt auf die c e− e+ c̄ Zugspitze hinaufgeführt hätte! Ein neues Teilchen, das in einer Resonanz () auftritt, ermöglicht bei dieser Energie neue SPEAR-Beschleuniger genau „umgekehrt“ produziert als es in Sam Wechselwirkungen und daher eine viel Tings Experiment zerfällt: ein schönes Symbol für die Kraft der Symhöhere Rate: das J/𝜓. Dabei wird es am metrie der Zeitumkehr in der Teilchenphysik. Da nun zwei unabhängige Experimente das gleiche neue Teilchen zeigten, waren sich die Teilchenphysikerinnen und -physiker einig: Etwas Neues war gefunden! Weitere Messungen zeigten, dass es sich wahrscheinlich um ein Meson aus den vom GIM-Mechanismus vorhergesagten charm-Quarks handelte – ein weiterer Triumph für das Standardmodell, da sich dieses Quark in seinen Wechselwirkungen ansonsten genau wie die anderen Quarks des Standardmodells verhält. Wichtig ist dabei auch die methodische Unabhängigkeit und Komplementarität von Experimenten mit Elektronen im Anfangszustand einerseits und Hadronen andererseits – ein wichtiges Prinzip, welches auch in der modernen Teilchenphysik fortlebt. Doch warum der ungewöhnliche Name? Er honoriert die beiden unabhängigen Experimente: Das J wurde von Sam Ting gewählt, das 𝜓 von Burt Richter.

Der beobachtete Zerfall J/𝜓 ĺ e+e−

Die beobachtete Produktion e+e− ĺ J/𝜓

1

J. J. Aubert et al.1974, Experimental Observation of a Heavy Particle J, Physical Review Letters, 33, 23, 1404, doi:10.1103/PhysRevLett.33.1404 2 J.-E. Austin et al. 1974, Discovery of a Narrow Resonance in e+e- Annihilation, Phyiscal Review Letters, 33, 23, 1406, doi:10.1103/PhysRevLett.33.1406 Resonanzen  S. 52 und Die unsichtbare Breite des Z-Bosons  S. 170

224

9 Der Triumph des Standardmodells und darüber hinaus

Die Entdeckung von W- und Z-Boson Von der Beobachtung eines Stroms zur Entdeckung eines Teilchens

Die elektromagnetische Kraft wird durch den Austausch von Photonen vermittelt. Ebenso wird die schwache Kraft des Standardmodells durch den Austausch von Teilchen vermittelt. Wenn das Standardmodell richtig ist, dann muss es daher nicht nur alle von ihm vorhergesagten Wechselwirkungen geben (Entdeckung neutraler Ströme ), sondern es muss auch möglich sein, die Austauschteilchen dieser Wechselwirkungen als reelle Teilchen in einer Resonanz () zu produzieren. „Reell“ bedeutet, dass die Wechselwirkung, in der das Teilchen produziert wird, etwa so viel Energie in das Teilchen überträgt, wie es seiner eigenen Masse entspricht. In der Quantenmechanik () ist es auch möglich, virtuelle Teilchen zu produzieren, in die von der Wechselwirkung mehr oder weniger Energie übertragen wird als es der Masse des Teilchens entspricht (EFT ).

Mischungswinkel zu messen. Mit dieser neuen experimentellen Information erlaubte das Standardmodell eine eindeutige Vorhersage der Massen der reellen W ±- und Z 0-Bosonen im Bereich von um die 80 bzw. 90 GeV/c 2. Nun konnte die konkrete experimentelle Jagd auf diese Teilchen eröffnet werden: Die Kombination der „schönen“ und „einfachen“ Theorie des Standardmodells mit seiner hohen Vorhersagekraft dank einer relativ geringen Zahl von freien Parametern auf der einen Seite und der revolutionären Messungen der neutralen Ströme auf der anderen Seite erlaubte es, alle Eigenschaften der Eichbosonen der schwachen Wechselwirkung W ± und Z 0 exakt vorherzusagen, bevor diese Teilchen entdeckt waren.

Es gab nun zwei Möglichkeiten: Entweder diese Teilchen existierten wie vom Standardmodell vorhergesagt – ein riesiger Triumph des Standardmodells. Oder Wird ein Teilchen nicht als reelles Teilchen produziert, sie existierten nicht oder mit anderen Eigenschafkönnen seine Eigenschaften nur indirekt aus der beob- ten als vorhergesagt – das wahrscheinliche Ende des achteten Wechselwirkung erschlossen werden – eine Standardmodells und der Beginn einer neuen Suche aus experimenteller Sicht unbefriedigende Situation. Das Standardmodell hatte seit 1974 große Erfolge mit 𝜈𝜇 𝜈𝜇 der erfolgreichen Vorhersage unter anderem der neutralen Ströme erzielt – aber eine direkte Entdeckung q e− ± 0 der W - und Z -Bosonen, die laut Standardmodell Z0 Z0 hinter den Wechselwirkungen der schwachen Kraft () stecken, stand noch aus. Am Ende der 70er Jahre war aber etwas sehr Wichtiges erreicht worden: Mite+ q̄ hilfe der Auswertung der Wechselwirkungsraten von e− e− neutralen und geladenen Strömen in Neutrino-StreuZ-Produktion und -Zerfall neutraler Strom am Spp̄S experimenten war es gelungen, den elektroschwachen

Die Entdeckung der neutralen Ströme  S. 220 Resonanzen  S. 52 Grundkonzepte der Quantenmechanik  S. 40 EFT: Präzise Berechnung des nicht vollständig Lösbaren  S. 106 Die schwache Wechselwirkung  S. 166

Die Entdeckung von W- und Z-Boson

225

4 selektierte Ereignisse

Rekonstruierte Z-Boson-Masse [GeV] Die ersten vier beobachteten Z-Bosonen im UA1 Experiment

nach einem alternativen Konstruktionsprinzip einer fundamentalen Theorie. In beiden Fällen eine wissenschaftliche Sensation! Aber diese garantierte Sensation war nicht einfach zu verwirklichen: Eine Masse von Carlo-Rubbia und Simon van der Meer bei der Feier der Verkün80 GeV/c 2 ist etwa 20 mal schwerer als das schwerste dung der Nobelpreisverleihung bis dahin bekannte Elementarteilchen, das b-Quark. Große experimentelle Weiterentwicklungen waren zur Verwirklichung der Messung notwendig. das Prinzip der Messung ist die Rekonstruktion einer Teilchenmasse aus dem Impuls und der Energie seiBei der Entdeckung des W ±- und Z 0-Bosons als reelle ner Zerfallsprodukte, denn die reellen Eichbosonen Teilchen spielten zwei Physiker eine besondere Rolle: entstehen und zerfallen im Strahlrohr im Vakuum des Simon van der Meer und Carlo Rubbia. Ersterer war Beschleunigers (Identifikation Teilchensorte ). Woein Beschleunigerphysiker, der eine Möglichkeit fand, nach sie suchen mussten, wussten sie genau, denn das einen Antiproton-Strahl in ausreichender Intensität am gesuchte Z-Boson wäre ja nichts anderes als ein reeller Spp̄S-Collider auf einen Protonenstrahl zu schießen – neutraler Strom – auch die Feynman-Graphen sind mit einer bis dahin unerreichten Schwerpunktsenergie quasi identisch. 1982 entdeckten beide Experimente (Kinematik ) von 450 GeV/c 2. das W ±, 1983 das Z 0 mit genau der vorhergesagten Masse. Im Histogramm von Paaren aus gleichzeitig Eine der experimentellen Kollaborationen wurde erzeugten Elektronen und Positronen im Experiment von Carlo Rubbia geleitet, der das ganze Projekt am tauchte genau bei der vorhergesagten Masse eine staSpp̄S entscheidend geprägt hatte. Die Experimen- tistisch signifikante Häufung der Ereignisse (Schlüsse te UA1 und UA2 waren von bis dato nicht gekannter ziehen aus Statistik ) auf1. Ein Triumph, für den Carlo Komplexität. Viele ihrer Eigenschaften waren wegwei- Rubbia und Simon van der Meer auf einer Galerie in send für die späteren großen Detektoren an den LEP-, der Experimentierhalle ihren Nobelpreis feierten. Tevatron- und LHC-Beschleunigern. Entscheidend für

1

L. Di Lella und C. Rubbia 2015, The Discovery of the W and Z Particles, Advanced Series on Directions in High Energy Physics, 137, doi:10.1142/9789814644150_0006

Kinematik  S. 36 Identifikation der Teilchensorte über die Masse  S. 144 Schlüsse ziehen aus Statistik  S. 148

226

9 Der Triumph des Standardmodells und darüber hinaus

Entdeckung und Besonderheit des top-Quarks Das schwerste bekannte Elementarteilchen

Die Entwicklung immer höherenergetischer Beschleuniger () ermöglichte es den Physikerinnen und Physikern, Teilchen mit immer größerer Masse zu entdecken. Im Standardmodell () der Elementarteilchen, das nach der vorhergesagten Entdeckung der W- und Z-Bosonen () fest als beste bekannte fundamentale Theorie der Natur etabliert war, gibt es nur zwei Kandidaten für Teilchen, die noch schwerer als W und Z sein können: das Higgs-Boson () und das top-Quark t. Nach der Theorie musste das top-Quark existieren, aber seine Masse konnte vor Beginn der Messungen am LEP-Beschleuniger (1989–2000) nicht präzise vorhergesagt werden.

lange genug lebt, um als eigenes Teilchen im Detektor beobachtet zu werden, bevor es in charakteristischer Weise in leichtere Hadronen und gegebenenfalls Leptonen zerfällt. Das top-Quark jedoch ist so schwer und hat dadurch so viel Energie für den Zerfall in leichtere Teilchen zur Verfügung, dass es schneller zerfällt als die starke Wechselwirkung bräuchte, um das topQuark mit einem anderen Quark in einem Hadron gemeinsam zu binden. Es entsteht und ℓ− zerfällt innerhalb von weniger als 10 −24 s. g g

Am amerikanischen Teilchenphysiklabor Fermilab wurde in den 1980er und 1990er Jahren ein Beschleuniger gebaut, mit dem Protonen und Antiprotonen bis auf eine Schwerpunktsenergie von 1,96 TeV beschleunigt werden konnten – mehr als das vierfache der Energie des Spp̄S -Beschleunigers, an dem W- und Z-Boson entdeckt wurden. Dies stellte in den 1990er Jahren mit Abstand die höchste Schwerpunktsenergie eines jeden Beschleunigers weltweit dar. Doch auch unter diesen Bedingungen ist die Entdeckung und Vermessung des top-Quarks nicht leicht, denn es ist so schwer, dass es sich anders verhält als alle anderen Quarks. Alle fünf anderen Quarks bilden mit einem oder mehreren anderen Quarks zusammen ein Hadron, bevor sie gegebenenfalls zerfallen. Das zweitschwerste unter den Quarks, das bottom-Quark, bildet zum Beispiel mit einem ū-Quark zusammen ein B −-Meson, das

g



t¯ b¯ b t

q

Produktion und Zerfall eines top- und eines Anti-top-Quarks

leichte Mesonen

q¯'

Lepton ℓ leichte Mesonen Neutrino ν

leichtes Quark q

B +-Meson bottom-Quark b

Die Unterschiede zwischen den Jets aus leichten Quarks (links) und schweren Quarks (rechts)

Wie funktioniert ein Beschleuniger?  S. 62 und Der LHC-Beschleunigerkomplex am CERN  S. 112 Kapitel 7 Das Standardmodell der Elementarteilchenphysik  S. 163 Die Entdeckung von W- und Z-Boson  S. 224 Die Entdeckung des Higgs-Bosons  S. 230

Entdeckung und Besonderheit des top-Quarks

160

CDF

Ereignisse

140 120

250

Signal+Untergrund

200

Signal+Untergrund

150

nur Untergrund

nur Untergrund

100 80 60 40

Daten

100 50

20 0 50

Links: Masse der WBoson-Kandidaten, die mit einem b-Jet zusammen die rechts dargestellte Massenverteilung der top-Quark-Kandidaten bilden

CDF

Daten

Ereignisse

180

227

60

70 80 90 100 110 Masse von zwei Jets [GeV/c 2]

120

0 100

Das hat zwei wichtige Konsequenzen: Gut für die Teilchenphysikerinnen und -physiker ist es, dass das topQuark als einziges Quark im „freien“ Zustand untersucht werden kann – alle anderen Quarks können nicht direkt, sondern nur gebunden in Hadronen vermessen werden. Schlecht ist aber, dass es in sehr viele Teilchen zerfällt – der Detektor ist voll mit vielen Zerfallsprodukten, aus deren kombinierten Eigenschaften die Eigenschaften des top-Quarks rekonstruiert werden müssen.

150 200 250 300 Rekonstruierte top-Quark-Masse [GeV/c 2]

350

oben gezeigte Messung des CDF-Experiments am Tevatron hat einen ausgeprägten Buckel bei einer Masse von etwa 175 GeV/c 2 – die Eigenschaften der Ereignisse in diesem Buckel passen genau zu einem top-Quark mit einer solchen Masse. Damit ist es das schwerste bekannte Elementarteilchen. Es wurde 1995 entdeckt und seither am Tevatron und dem LHC immer genauer vermessen. Alle seine Eigenschaften stimmen bislang genau mit der Vorhersage des Standardmodells überein, aber auch bei diesem Teilchen werden immer mehr Eigenschaften immer genauer gemessen – in der Um in so einer unübersichtlichen Situation das top- Hoffnung, eine konkrete Abweichung vom StandardQuark zu entdecken, helfen zwei Prinzipien: Zum ei- modell zu nen bilden leichte Quarks im Detektor Bündel aus Ha- finden. dronen, die sogenannten Jets (). Ein solches Bündel Jet: trägt dann insgesamt etwa den Impuls und die Energie pT = 61,7 GeV/c 𝜂 = 1,38 des ursprünglichen Quarks. Zum anderen zerfällt das Myon: pT = 64,4 GeV/c top-Quark immer auch in ein bottom-Quark, und das Jet: 𝜂 = 0,29 pT = 135,9 GeV/c kann anhand des resultierenden B-Mesons identifiziert 𝜂 = 0,79 werden. Ein Ereignis, in dem ein top- und ein Anti-topFehlende transversale Quark produziert werden, muss also aus vielen einzelEnergie: nen Elementen im Endzustand zusammengesetzt wer65,9 GeV Ein illustrierJet: den. Wird es richtig zusammengesetzt, dann kann die tes tt ̄-Ereignis Jet: pT = 51,5 GeV/c = 61,7 GeV/c p 𝜂 = – 0,12 T Masse des top-Quarks aus den Impulsen und Energi- im CMS𝜂 = 0,81 Detektor en seiner Zerfallsprodukte bestimmt werden (). Die

Jets: Kann man Quarks und Gluonen sehen?  S. 202 Identifikation der Teilchensorte über die Masse  S. 144

228

9 Der Triumph des Standardmodells und darüber hinaus

Warum ausgerechnet das Standardmodell? Präzisionsphysik am LEP und Vorhersage des Higgs-Bosons

Das Standardmodell () der Elementarteilchenphysik ist zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Buches die unumstrittene Messlatte, an der sich alle Theorien über den fundamentalen Aufbau der Natur messen lassen müssen. Doch warum ist das so? Nur weil es zufällig sechs Quarks und sechs Leptonen enthält, diese als Teilchen auch entdeckt wurden, und man wie aus Bauklötzchen daraus andere Teilchen wie Protonen und Neutronen und daraus Kerne zusammenbauen kann? Die Geschichte der Entdeckungen der Teilchen legt es manchmal nahe, dass die „richtigen“ Teilchen vorherzusagen und zu entdecken der Hauptinhalt der Teilchenphysik ist. 30 LEP

Rate

20

10 Vorhersage Standardmodell andere Theorien

0

160

180 200 Schwerpunktsenergie [GeV]

Die gemessene Rate des e+e− ĺ W+W−-Prozesses als Funktion der Schwerpunktsenergie stimmt genau mit dem Standardmodell, aber nicht mit alternativen Theorien überein.

Der größte Teil der Arbeit der Teilchenphysik liegt aber in der sehr genauen Vermessung und Berechnung der Eigenschaften der Teilchen und ihrer Wechselwirkungen. Wie viel Information darin liegt, sieht man vor allem am Beispiel des LEP-Beschleunigers am CERN, der mit den vier Experimenten ALEPH, DELPHI, L3 und OPAL von 1990 bis zum Jahr 2000 betrieben wurde. Mit 27 km Umfang war er der bis dahin größte Beschleuniger. Im Gegensatz zu den Proton-Antiproton Beschleunigern Spp̄S und Tevatron, wo W- und Z-Boson sowie das top-Quark entdeckt wurden, beschleunigte er aber Elektronen und ihre Antiteilchen, die Positronen, und brachte sie zur Kollision. Dabei werden zwar niedrigere Energien erreicht – „nur“ 90 bis 209 GeV im Gegensatz zu den 1.960 GeV des Tevatrons – aber dafür werden Elementarteilchen direkt zur Kollision gebracht. Es kollidieren also nicht zwei Bälle aus Gluonen und Quarks, wie im Fall von Protonen und Antiprotonen, sondern zwei quasi punktförmige Objekte mit genau bekannten Eigenschaften. Daraus ergeben sich viele Vorteile. Vor allem werden viele Messungen sehr viel genauer. Wie viel Information in ihnen steckt, verdeutlicht das Bild (links) der Messung der Häufigkeit der Produktion eines Paars aus W-Bosonen in Abhängigkeit von der genau bekannten Energie der kollidierenden Elektronen und Positronen. Die gemessenen Werte der Häufigkeit (schwarze und grüne Punkte) entsprechen genau der Vorhersage des Standardmodells (blaue Linie) und sind weit von alternativen Theorien (gestrichelte Linien) entfernt. Jede Theorie der Natur, die das Standardmodell als funda-

Kapitel 7 Das Standardmodell der Elementarteilchenphysik  S. 163

Warum ausgerechnet das Standardmodell?

e−

e+

229

nicht direkt beobachtete Higgs-Boson des Standardmodells, dann kann die Messung erklärt werden! Die genauen Messungen in Zusammenhang mit der Vor− + f f t hersagekraft der Theorie erlauben sogar die Vorhersage ̄ e e der Masse des Higgs-Bosons vor seiner Entdeckung: Z-Produktion und Zerfall Z-Produktion und Zerfall mit bei LEP virtuellem top-Quark Dort, wo sich in der Darstellung der Teilchenmassen die blaue Kontour der LEP-Messungen von FermionZ 0/𝛾 e+ f̄ Z 0/𝛾 Z 0/𝛾 Antifermion-Paarproduktion und die grüne Fläche der Massenmessung des top-Quarks vom Tevatron überschneiden, also bei einer Higgs-Masse von 114,4 bis ca. f H e− 280 GeV/c 2, muss das Higgs-Boson des StandardmoZ-Produktion und Zerfall mit virtuellem Higgs-Boson dells zu finden sein. Nun scheint es doch wieder nur um mentale Beschreibung der Natur ablösen soll, muss in eine Entdeckung zu gehen. Doch die Vorhersage dieser dieser und sehr vielen anderen Messungen mindestens Entdeckung war nur aufgrund einer nie dagewesenen so gut mit den Daten übereinstimmen wie das Stan- Konsistenz aller Messungen mit einer einzigen vorherdardmodell – und das ist nicht einfach! sagestarken Theorie möglich. Welch ein Triumph war es daher, dass genau in dem vorhergesagten MassenbeDieses Prinzip lässt sich nicht nur auf direkt bei LEP reich wirklich im Jahr 2012 am LHC das 1964 erstmals produzierte Teilchen wie das W-Boson anwenden, vorhergesagte Higgs-Boson gefunden wurde! sondern auch auf solche, die während der Laufzeit von LEP noch unentdeckt, aber vom Standardmodell vor- Dort, wo sich die blaue Ellipse, die grüne Linie und der gelbe Bereich überlagern, liegt die Vorhersage der Masse des Higgs-Bosons hergesagt waren. Die drei Feynman-Graphen oben zei- durch Präzisionsmessungen, bevor es entdeckt wurde. gen die Produktion eines Fermion-Antifermion-Paares bei LEP (QCD ). Das kann z. B. direkt passieren, LEP-Präzisionsmessungen oder es können andere Teilchen in Schleifen () im 200 Zwischenzustand auftreten, obwohl diese zu viel Masse haben, um im Endzustand produziert zu werden. erlaubter Trotzdem beeinflussen sie laut Standardmodell die geBereich naue Vorhersage der Eigenschaften der Fermion-Antifermion-Paare im Endzustand. Weil deren Eigenschaf180 erlaubt von der top-Quark-Masse ten von LEP mit nie vorher dagewesener Genauigkeit gemessen werden konnten, und alle Messungen mit erlaubt von dem Standardmodell übereinstimmen (Breite des ZHiggs-Boson-Suchen Bosons ), kann das Messprinzip umgedreht werden: 160 Nur wenn es ein Teilchen gibt, das sich genauso verhält 10 100 1000 wie das zum Zeitpunkt der Messungen am LEP noch 2 f̄

Z 0/𝛾

t

Z 0/𝛾



Masse des top-Quarks [GeV/c2]

Z 0/𝛾

Higgs-Masse [GeV/c ]

QCD: Quantenchromodynamik  S. 190 Schleifen  S. 102 Die unsichtbare Breite des Z-Bosons  S. 170

230

9 Der Triumph des Standardmodells und darüber hinaus

Die Entdeckung des Higgs-Bosons Ultimativer Triumph des Standardmodells

Das Higgs-Boson des Standardmodells der Elementarteilchen steht stellvertretend für viele der großen offenen Fragen der modernen Elementarteilchenphysik: Wie hängen der Elektromagnetismus und die schwache Kraft () zusammen und was bedeutet das für die Vereinheitlichung aller Kräfte in eine einzige Grand Unified Theory (GUT )? Warum gibt es Eichbosonen mit einer großen Masse wie das W- und das Z-Boson () und manche ganz ohne Masse wie das Photon und das Gluon? Und warum haben die Fermionen auch alle eine Masse? All diese (und mehr) Fragen hängen mit dem Higgs-Mechanismus und der spontanen Symmetriebrechung () im Standardmodell zusammen. Aus den Messungen an den Beschleunigern LEP und Tevatron, die auf den vorigen Doppelseiten beschrieben wurden, wussten die Physikerinnen und Physiker seit etwa dem Jahr 2000, was die Masse des Higgs-Bosons des Standardmodells sein musste: irgendwo zwischen der Grenze, bis zu der das Higgs-Boson am LEPBeschleuniger nicht gefunden wurde, und der Masse, die zur Erklärung der Präzisionsexperimente am ZBoson gerade noch nicht zu schwer wäre. Daraus ergab sich ein Bereich von 114,4 bis etwa 280 GeV/c 2. In diesem engen Bereich musste das Higgs-Boson zu finden sein, wenn das Standardmodell recht hatte. Und noch mehr als das: Da das Standardmodell bei gegebener Higgs-Boson-Masse keine weiteren freien Parameter – gleichsam Stellschrauben – besitzt, die noch nicht gemessen wurden, waren auch alle Eigenschaften des Higgs-Bosons im Standardmodell genau bekannt: z. B. wie es produziert würde, und wie es zerfällt.

Doch würde die Natur wirklich so vorhersehbar sein? Die experimentellen Bedingungen am LHC erlauben fast 1.000 Mal mehr Energie pro Wechselwirkung als in den Experimenten der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts, auf deren Grundlage das Standardmodell ersonnen worden war. Noch nie zuvor hatte ein Mensch die Natur unter den Bedingungen des LHC beobachtet – würde die Natur den Physikerinnen und Physikern endlich zeigen, wo ihre Einsicht in die fundamentalen Prozesse der Natur noch nicht gut genug ist, und endlich wieder eine große Überraschung präsentieren? Die Auswertung der Daten () der Experimente ATLAS und CMS am Large Hadron Collider lief von 2009 an auf Hochtouren. Die wichtigsten Signale, mit deren Hilfe das Higgs-Boson des Standardmodells gesucht und gefunden (Beispiel Teilchenentdeckung ) werden konnte, waren zuvorderst der Zerfall des HiggsBosons in zwei Photonen und in vier leichte Leptonen: je ein Paar aus Elektron und Positron und/oder Myon und Antimyon. Übrigens: Der Zerfall in Photonen ist bildlich im Daumenkino unten rechts auf jeder Doppelseite dargestellt. Am 4. Juli 2012 wurden die Resultate beider Experimente veröffentlicht.1,2 Beide hatten unabhängig voneinander ihre Daten analysiert, und beide fanden bei der gleichen Masse () von etwa 125 GeV/c 2 eine kleine Häufung, und zwar jeweils in beiden Zerfällen! Die statistische Analyse zeigte, dass in jedem Experiment die Wahrscheinlichkeit für eine zufällige Häufung von Untergrundereignissen bei einer Masse von 125 GeV/c 2

Die schwache Wechselwirkung  S. 166 GUT  S. 258 Die Entdeckung von W- und Z-Boson  S. 224 Spontane Symmetriebrechung im Standardmodell  S. 172 Datenauswertung  S. 142 und Neuronale Netzwerke und maschinelles Lernen  S. 158

Die Entdeckung des Higgs-Bosons

231

𝛾

g t

g Z

t

H

H Z*

W 𝛾

g

g

ATLAS

Daten Signal plus Untergrund (mH =126,5 GeV/c 2) Untergrund

80 60 40 20 8 4 0 −4 −8 100

H → 𝛾𝛾

CMS

Daten Z + Jets andere ZZ

10 Ereignisse / 3 GeV/c 2

100

Beobachtung minus Untergrund

Beobachtung / 2 GeV/c 2

12

mH = 125 GeV/c 2

8 6 4 2

110

120

130

140

150 160 m𝛾𝛾 [GeV/c 2]

Die Erzeugung eines Higgs-Bosons H am LHC und sein Zerfall in zwei Photonen 𝛾

0

80

100

120

140

160 180 m4l [GeV/c 2]

Produktion und Zerfall des Higgs-Bosons H in zwei Z-Bosonen und deren Zerfall in vier Leptonen

deutlich geringer war als 1:1.000.000. Die Schwelle einer Signifikanz von fünf Standardabweichungen war erreicht, und das Higgs-Boson war entdeckt. Ein unbeschreiblicher Triumph für Peter Higgs und seine Kollegen, die von 1964 bis 1973 die Grundlagen dieser Vorhersage gelegt hatten.

Daten ohne die Existenz eines dem Higgs-Boson des Standardmodells ähnlichen neuen Teilchens nicht erklärt werden können. Wie auch beim Z-Boson folgt nach der Entdeckung daher die möglichst präzise Vermessung aller Eigenschaften des neuen Teilchens, um herauszufinden, was wirklich entdeckt wurde und wie es in das theoretische Bild der Elementarteilchenwelt Oder war es vielleicht ein bislang unerwartetes Teil- passt. chen? Genau genommen wurde entdeckt, dass die

1 2

ATLAS Collaboration 2012, Science, 338, 6114, 1576, doi:10.1126/science.123200 CMS Collaboration 2013, Journal of High Energy Physics, 081, doi:10.1007/JHEP06(2013)081

Ein Beispiel für die Entdeckung eines Teilchens  S. 152 Identifikation der Teilchensorte über die Masse  S. 144

232

9 Der Triumph des Standardmodells und darüber hinaus

Ist es wirklich das Higgs-Boson? Experimentelles Portrait eines Teilchens

Wenn zum Zeitpunkt seiner Entdeckung das entdeckte Signal auch noch etwas kümmerlich auszusehen schien: In den Daten bis zum Jahr 2018 hatte sich das definitiv geändert. Dass bei einer Masse von 125,1 GeV/c 2 zum Beispiel im Zerfall des neuen Teilchens in zwei Photonen ein Signal ist, kann niemand leugnen. Aber nicht nur in diesem Zerfallskanal wurden alle möglichen Eigenschaften wie Winkelverteilungen und Energien von

Die Entdeckung des Higgs-Bosons  S. 230 Supersymmetrie  S. 260 Teilchenmassen: Spontane Symmetriebrechung III  S. 176 Spin  S. 44

Ereignisse / GeV/c 2

50000 40000 30000 20000 10000 1500 1000 500 0 −500

Kopplung ans Higgs-Boson

Ereignisse minus Untergrund

Das kann viel langwierige und detaillierte Arbeit bedeuten. Das Higgs-Boson und der experimentelle Stand seines Verständnisses bis zum Beginn des Jahres 2022 – also in etwa bis zum zehnjährigen Jubiläum seiner Entdeckung – soll hier als Beispiel dienen. Denn bei der Entdeckung war eine wichtige Frage offen geblieben: Was wurde da eigentlich entdeckt? Das HiggsBoson des Standardmodells? Oder ein Higgs-Boson eines erweiterten Modells (Supersymmetrie )? Oder etwas ganz anderes, was zufällig auf den ersten Blick so aussah wie ein Higgs-Boson?

ATLAS

Daten Untergrund Signal + Untergrund Signal: Higgs-Boson mit Zerfall in zwei Photonen

60000

110

1 10

−1

120

130

150 m𝛾𝛾 [GeV/c 2]

ATLAS mH = 125,09 GeV SM Higgs-Boson

10−2 10−3

140

Z t W

τb μ

10−4 Verhältnis der Kopplung zur SM-Vorhersage

Das letzte fehlende Teilchen des Standardmodells wurde mit der Entdeckung des Higgs-Bosons () im Jahr 2012 gefunden. Wäre die Geschichte der Teilchenphysik nur die Entdeckung neuer fundamentaler Teilchen, dann wären die Teilchenphysikerinnen und -physiker seither – jedenfalls bis zur Drucklegung dieses Textes – nicht sehr erfolgreich gewesen. Aber die Geschichte der Teilchenphysik ist hauptsächlich das genaue Messen – und das Verbessern des theoretischen Verständnisses – der Eigenschaften der Teilchen und ihrer Wechselwirkungen.

1,2 1 0,8 10−1

1

10 102 Teilchenmasse [GeV]

Die Massen der Teilchen stimmen genau mit der Erwartung aus ihren gemessenen Kopplungen ans Higgs-Boson überein.

Ist es wirklich das Higgs-Boson?

233

Zerfallsprodukten und anderen Teilchen im Ereignis genau gemessen, sondern auch in den Zerfällen in Wund Z-Bosonen, bottom-Quarks, 𝜏-und 𝜇-Leptonen, und auch in der gemeinsamen Produktion mit topQuarks. Aus diesen Messungen lässt sich jeweils auch ein Maß für die Kopplung zwischen dem neuen Teilchen und den bekannten Teilchen ableiten.

𝜈𝜏

𝜏−

Gemessen wird der Winkel 𝜙 zwischen den Zerfallsebenen der beiden 𝜏-Leptonen

𝜋+ H

𝜏+ 𝜈𝜏

CMS

Daten minus Untergrund Unsicherheit des Untegrunds SM Alternative Theorie

1,4 Relative Anzahl Ereignisse

Wenn das neue Teilchen nun das Higgs-Boson des Standardmodells ist, dann muss es die Masse () der anderen Teilchen erzeugen. Das bedeutet, dass die Masse der Teilchen und ihre gemessene Kopplung an das neue Teilchen in einem festen Zusammenhang miteinander stehen müssten – und siehe da, der Zusammenhang in der Grafik (linke Seite) ist eindeutig!

𝜙 𝜋−

1,2 1 0,8 0,6 0,4 0,2 0

Das ist kein Beweis dafür, dass es sich bei dem Teilchen mit einer Masse von 125,10 ± 0,14 GeV/c 2 wirklich genau um das Higgs-Boson des Standardmodells handelt. Die Physikerinnen und Physiker suchen daher immer noch nach noch kleineren Abweichungen in noch genaueren Messungen. Aber die Ähnlichkeit mit dem mittlerweile vor mehr als 58 Jahren vorhergesagten Higgs-Boson ist sehr überzeugend. Daher sind die Physikerinnen und Physiker dazu übergegangen, von dem Standardmodell-Higgs-Boson zu sprechen.

0

60

120

180

240

300

360 𝜙 (Grad)

Die Messung der CP-Symmetrie des Higgs-Bosons

Die Physikerinnen und Physiker am ATLAS- und CMS-Experiment am Large Hadron Collider gehen daher so weit, nicht nur die Rate der Higgs-Bosonen zu zählen, sondern zum Beispiel zu versuchen, von jedem Higgs-Boson, das in ein Paar aus 𝜏-Leptonen zerfällt, den Winkel zwischen den Zerfallsebenen der Teilchen, in welche die 𝜏-Leptonen zerfallen, zu rekonstruieren. Nicht nur der Zusammenhang zwischen Masse und Die mögliche CP-Verletzung zeigt sich in der WinkelKopplung zeichnet das Higgs-Boson aus. Das Stan- verteilung der beim 𝜏-Zerfall entstehenden Teilchen: dardmodell sagt auch vorher, dass es Spin 0 () besitzt Im Bild oben ist in der roten Verteilung des Winkels und keine Verletzung der CP-Symmetrie () erzeugt. zwischen den Zerfallsebenen 𝜙 die CP-Symmetrie Das ist eigentlich schade, denn vom Standardmodell exakt erhalten, in der blauen Verteilung immer verletzt. abweichende Modelle zeigen, dass eine Verletzung der Die rote Verteilung passt besser zu den Daten, wie vom CP-Symmetrie in Higgs-Kopplungen eine mögliche Standardmodell vorhergesagt. Auch bei dieser kompleErklärung für die beobachtete Asymmetrie zwischen xen Messung versagt die Natur bislang der Physik eine Teilchen und Antiteilchen im Universum ()wäre. Sensation.

Symmetrien  S. 56 und Diskrete Symmetrien: P- und CP-Verletzung  S. 178 Antimaterie: Baryogenese  S. 304

234

9 Der Triumph des Standardmodells und darüber hinaus

Präzisionsexperimente 0, 001 159 652 ...

Wie gelangt man zu neuen Erkenntnissen in der Physik? Idealerweise hat man eine Theorie und vergleicht diese mit Messungen. Das führt entweder zur Bestätigung oder zur Verwerfung bzw. Eweiterung der Theorie. So erklärt die Newton’sche Gravitationstheorie, warum die Planeten in elliptischen Bahnen um die Sonne kreiDer Grabstein Julian Schwingers auf dem Mt. Auburn Friedhof in sen. Wie wir wissen, ist das durch Beobachtungen sehr Cambridge, USA gut bestätigt. Als man später kleine Abweichungen ĺ gefunden hatte, konnten diese durch Erweiterung der Das Elektron (e) tauscht mit dem Magnetfeld (B ) ein Newton’schen Gesetze im Rahmen der allgemeinen Photon (𝛾) aus. Wäre das eben gezeigte Diagramm der Relativitätstheorie erklärt werden. einzige Beitrag, würde man ae = 0 erwarten, was auch mit den ersten Beobachtungen übereinstimmte. Der Mit dem Standardmodell steht der Teilchenphysik ein Name „anomal“ für ae deutet aber schon an, dass man Theoriekonstrukt zur Verfügung, das Vergleiche zwi- bei genaueren Messungen Abweichungen von null geschen theoretischer Vorhersage und Experiment mit funden hat. einer Genauigkeit erlaubt, die ihresgleichen sucht. Das Paradebeispiel für einen solchen Vergleich ist das soge- Diese wurden dann auch durch eine Erweiterung der nannte anomale magnetische Moment des Elektrons, Theorie bestätigt. Julian Schwinger konnte zeigen, dass für das die Variable ae verwendet wird. Diese Größe man aufgrund der Quantenelektrodynamik () einen beschreibt, wie sich ein Elektron in einem Magnetfeld Wert von ae ≈ 𝛼QED/(2𝜋) | 0,001 erwartet. Da es sich verhält. Die Messung erfolgt in Teilchenfallen (), die um einen Effekt der Quantenelektrodynamik handelt, in einem anderen Artikel besprochen werden. ist es nicht überraschend, dass die Feinstrukturkonstante () 𝛼QED hier auftaucht. 𝛾 e In der Sprache der FeynSo konnten Theorie und Ex- e e' e' man-Diagramme () wird periment zunächst wieder die Wechselwirkung eines in Einklang gebracht werElektrons mit einem Maden. In dem entsprechen𝛼QED gnetfeld durch das hier den Feynman-Diagramm ae ≈ 𝛾 𝛾 ae = 0 2𝜋 gezeigte Diagramm ausgewird zusätzlich ein Photon drückt. zwischen den beiden Elek→ → tronen ausgetauscht. B B

Teilchenfallen  S. 132 Feynman-Diagramme  S. 48 Quantenelektrodynamik: Elektromagnetismus  S. 164 Feinstrukturkonstante: Grundkonzepte der Quantenmechanik  S. 40

Präzisionsexperimente

235

Die Geschichte endet keineswegs hier. Die Abbildung Zeit immer präziser. Mittlerweile wurden Beiträge von unten zeigt, wie die Messgenauigkeit über die letzten über 12.000 Feynman-Diagrammen, von denen einige 50 Jahre um viele Größenordnungen verbessert wurde. in der Abbildung links unten gezeigt sind, berechnet. Auch die theoretische Berechnung wurde im Laufe der Stand 2020 stehen sich nun ein Messwert aeexp = 0, 001 159 652 180 91(26)

Messfehler von ae

10 −5

und eine theoretische Berechnung

10 −7

aetheo = 0, 001 159 652 181 78(76)

10 −9 10 −11 10 −13

1950

1960

1970 1980 1990 Jahr der Publikation

2000

2010

Die Entwicklung der Messfehler für das anomale magnetische Moment des Elektrons ae Einige der Feynman-Graphen, die in die Bestimmung des Theoriewertes einfließen

gegenüber. In den ersten elf Nachkommastellen stimmen der experimentelle und der theoretische Wert überein. Erst danach ergeben sich Unterschiede, die sich jedoch innerhalb der in Klammern angegebenen Unsicherheiten  () auf die letzten zwei Ziffern beschränken. Beim Schwesterteilchen des Elektrons, dem Myon, ist die Messung etwas aufwändiger und damit auch die Messunsicherheit größer. Das macht die Messung aber nicht weniger interessant. Diese diskutieren wir im Artikel zum Myon (). Die Übereinstimmung des theoretischen mit dem experimentellen Wert im Rahmen der Messfehler ist einer der großen Triumphe des Standardmodells. Es gibt wohl keine andere wissenschaftliche Disziplin, in der Theorie und Experiment mit einer derartigen Genauigkeit überprüft werden können. Der experimentelle und der aus der Theorie errechnete Wert des anomalen magnetischen Moment des Elektrons Theorie

Experiment 80

Messunsicherheiten  S. 82 Das Myon  S. 236

81 82 ae × 1012 – 1159652100

83

236

9 Der Triumph des Standardmodells und darüber hinaus

Das Myon

Schweres Schwesterteilchen des Elektrons Als das Myon 1936 entdeckt wurde, hatte man eigentlich keine Verwendung dafür. Seit Anfang der 1930er Jahre war der Aufbau der Atome aus Protonen, Neutronen und Elektronen erklärt. Weitere Teilchen waren eigentlich nicht nötig. Der Nobelpreisträger I. Rabi kommentierte die Entdeckung des Myons daher mit dem Ausspruch „Who ordered that?“ () Das Myon hat viele Gemeinsamkeiten mit dem Elektron, wie zum Beispiel elektrische Ladung und Spin. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass es etwa 200 Mal schwerer als das Elektron ist. Diese Eigenschaft macht das Myon für Untersuchungen in der Teilchenphysik besonders interessant. An anderer Stelle wurde über das anomale magnetische Moment des Elektrons () berichtet. Das magnetische Moment (Spin ) bestimmt, wie schnell sich der Spin eines Teilchens im Magnetfeld dreht. Beschrieben wird das magnetische Moment durch den sogenannten g-Faktor. Für Leptonen, wie zum Beispiel das Elektron oder das Myon, wird von der Diracgleichung, der relativistischen Variante der Schrödingergleichung, ein Wert g = 2 vorausgesagt. Aufgrund quantenfeldtheoretischer Korrekturen höherer Ordnung erwartet man Abweichungen, die man einerseits sehr genau im Rahmen des Standardmodells berechnen kann und anderseits sehr genau messen kann. Die relative Abweichung des g-Faktors vom Wert 2, a = (g − 2)/2 wird als anomales magnetisches Moment bezeichnet. Da Myonen zunächst in ausreichender Zahl aufwändig mithilfe von Beschleunigern erzeugt werden müssen und schon wieder nach einigen Mikrosekunden zer-

Ursprünge der Teilchenphysik  S. 6 Präzisionsexperimente  S. 234 Spin  S. 44

fallen, ist es nicht überraschend, dass Messungen an Myonen deutlich komplizierter sind als an Elektronen. Eine Konsequenz ist, dass man das anomale magnetische Moment des Myons nur mit einer Genauigkeit messen kann, die um einen Faktor 1.000 schlechter als beim Elektron ist. Man kann sich jetzt die Frage stellen, ob sich der Aufwand trotzdem lohnt. Die Antwort ist ein klares „Ja“. Ziel solcher Messungen ist immer, das Standardmodell auf die Probe zu stellen. Es kommt daher nicht nur darauf an, wie genau man eine Größe messen kann, sondern auch, welche Abweichungen man erwartet, wenn Physik jenseits des Standardmodells beiträgt. Da man diese Physik noch nicht kennt, ist das natürlich schwer abzuschätzen. Dennoch gilt als Faustregel: Je schwerer ein Teilchen ist, desto eher machen sich Einflüsse noch unbekannter Teilchen und Wechselwirkungen bemerkbar. Daher erwartet man soDer im Experiment verwendete Magnet wurde in einem früheren Experiment am Brookhaven National Laboratory auf Long Island verwendet. Das Bild zeigt den Magneten beim Transport zum Fermi National Accelerator Laboratory bei Chigago, wo der Magnet in einem Nachfolgeexperiment wiederverwendet wurde.

Das Myon

237



B

den Magneten. Dabei dreht sich auch ihr Spin mit einer Frequenz, die direkt Aufschluss über das gesuchte anomale magnetische Moment a gibt. Innerhalb einer Millisekunde zerfallen fast alle Myonen in ein Positron und zwei Neutrinos: s→

µ+

𝜇+ → e + + 𝜈e + 𝜈−𝜇 .

+

e

Das Positron wird dann in Detektoren nachgewiesen. Der Zerfall hat die schöne Eigenschaft, dass die Richtung des nachgewiesenen Positrons eine Aussage über Prinzipieller Aufbau des Experiment die aktuelle Richtung des Myon-Spins macht. Daher gar eher beim Myon trotz der geringeren Messgenauig- kann man aus den im Zeitspektrum der Zerfallsposikeit signifikante Abweichungen vom Standardmodell- tronen beobachteten Oszillationen (siehe Abbildung wert. unten links) direkt die gesuchte Größe a bestimmen. Um das anomale magnetische Moment des Myons zu messen, erzeugt man zunächst Myonen, indem ein Protonenstrahl auf ein Target gelenkt wird. Dort entstehen Pionen, die wiederum in Myonen zerfallen. Es handelt sich um einen Zerfall der schwachen Wechselwirkung, was zur Folge hat, dass die Spins der Myonen parallel ausgerichtet sind. Die Myonen laufen dann in einem ringförmig angeordneten supraleiten-

Die Abbildung unten rechts zeigt einen Vergleich des Messwertes mit dem aus dem Standardmodell berechneten Wert. Die Werte stimmen nicht überein. Etwas quantitativer ausgedrückt kann man sagen: Wenn Theorie und Experiment übereinstimmen würden, dann würde man nur in einem von 40.000 Wiederholungen des Experiments eine Abweichung, die größer als die hier beobachtete ist, erwarten. Diese Diskrepanz gibt Physikerinnen und Physikern einerseits Rätsel auf, andererseits lässt sie Raum, um Erweiterungen des Standardmodells vorzuschlagen, die zusätzliche Beiträge zum Theoriewert liefern und diesen wieder in Einklang mit dem experimentellen Wert bringen.

Standardmodell 17 Zeitspektrum der Zerfallspositronen aus dem Myonzerfall. Die beobachtete Modulation ist direkt proportional zum gesuchten anomalen magnetischen Moment a.

18

Experiment

19 20 a𝜇 × 109 – 1165900

21

22

Gegenüberstellung des im Standardmodell berechneten und des gemessenen Werts des anomalen magnetischen Moments des Myons

238

9 Der Triumph des Standardmodells und darüber hinaus

Überprüfung von Neutrinooszillationen Eindrucksvolle Bestätigung einer Abweichung

Während es sich bei den Elektron-Neutrinos von der Sonne um Energien im MeV-Bereich handelt, sind es bei den Myon-Neutrinos aus der Atmosphäre einige GeV. Zur Überprüfung der Oszillation von solaren Neutrinos eignen sich daher Neutrinos aus Kernreaktoren. Die 𝛽-Zerfälle der Spaltprodukte erzeugen einen hohen Fluss an Elektron-(Anti)-Neutrinos mit passenden Energien im MeV-Bereich. Myon-Neutrinos mit Energien im GeV-Bereich müssen dagegen eigens mit Teilchenbeschleunigern hergestellt werden. Ein für die Oszillation entscheidender Parameter ist der Quotient L/E aus dem Abstand L zwischen Neutrinoquelle und Detektor und der Energie E der Neutrinos. Aus der theoretischen Beschreibung der Oszillationen wird dabei für eine Energie von einigen MeV eine Oszillationslänge von dreißig bis hundert Kilometern erwartet. D. h. in der Hälfte dieses Abstands zu einem Kernre-

Neutrinooszillationen  S. 186 Neutrinos  S. 184 Neutrinos von der Sonne  S. 320

aktor sollte der Anteil der durch Oszillationen entstandenen Myon-(Anti)-Neutrinos maximal, nach diesem Abstand wieder minimal sein usw. Mit dem KamLAND-Detektor, der eigens dafür in der Kamioka-Mine in Japan aufgebaut wurde, konnte man die Elektron-(Anti)-Neutrinos aus allen über Japan verteilten Kernreaktoren nachweisen. In der Auftragung der gemessenen Rate an Elektron-(Anti)-Neutrinos als Funktion über L/E in der Abbildung bestätigt sich sehr schön das Auf und Ab der Oszillationen. Mit 1.000 km und mehr ist die Oszillationslänge für die höherenergetischen atmosphärischen Myon-Neutrinos mit Energien von einigen GeV deutlich größer. Von KamLAND gemessenes Verhältnis zwischen der Rate an Elektron-Antineutrinos und der ohne Oszillationen erwarteten Rate als Funktion über L/E. Man sieht sehr schön, wie die Rate an ElektronAntineutrinos wegen der Oszillation auf- und niederschwankt. 1 Anteil Elektron-Antineutrinos

Eine der Besonderheiten von Neutrinos () ist die Fähigkeit von Elektron-, Myon- und Tau-Neutrinos, sich im freien Flug ineinander umzuwandeln. Entdeckt wurde das Phänomen mit Elektron-Neutrinos von der Sonne () und mit Myon-Neutrinos, die von der kosmischen Strahlung in der Atmosphäre erzeugt werden. Mit dem Standardmodell hatte man diese Neutrinooszillationen nicht erwartet. Umso größer war der Bedarf zu testen, ob das Phänomen reproduzierbar ist. Beide Male stammen die Neutrinos aus natürlichen astrophysikalischen Quellen. Kann man Oszillationen auch mit Neutrinos aus menschengemachten Quellen beobachten? Wie das tatsächlich funktioniert hat, schauen wir uns in diesem Artikel an.

Gemessener Fluss der Reaktor-Elektron-Antineutrinos Fit basierend auf Oszillations-Parametern

0,8 0,6 0,4 0,2 0 20

30

40

50

60

70

L0/E 𝜈e [km/MeV]

80

90

100

Überprüfung von Neutrinooszillationen

239

In den USA wurden die Neutrinos beim Fermilab in der Nähe von Chicago erzeugt und auf eine zufällig ebenfalls 732 km lange Reise zum MINOS-Detektor in einer Mine im Norden von Minnesota geschickt. Dieser Detektor war nicht empfindlich auf Tau-Neutrinos. Stattdessen zeigte sich die Oszillation der Myon-Neutrinos durch Abweichungen im Energiespektrum. Verlauf des Neutrinostrahls vom CERN zum Gran-Sasso-Untergrundlabor in den Abruzzen östlich von Rom

Die Bestätigung der im einfachen Standardmodell mit masselosen Neutrinos nicht erwarteten NeutrinooszilUm auch diese Oszillationen mit irdischen Quellen zu lationen durch solche Experimente war ein großer Erreproduzieren, wurden mit speziellen Beschleuniger- folg der Experimentierkunst in Zusammenarbeit vieler anlagen in Japan, in den USA und am CERN in Euro- Teilchenphysikerinnen und -physiker. pa Strahlen von Myon-Neutrinos erzeugt, mit denen auf weit entfernte große Neutrinodetektoren () gezielt Das von MINOS gemessene Energiespektrum zeigt gegenüber der in Rot gezeichneten Erwartung ohne Oszillationen deutliche Abwurde. weichungen. Die Daten können mit der in Grün gezeichneten Er-

Große Detektoren tief im Berg  S. 126

wartung mit Neutrinooszillationen sehr gut beschrieben werden. Unten ist die relative Abweichung der Daten von der Erwartung ohne Oszillationen dargestellt.

Ereignisse / GeV

1600

MINOS, MINOS+ Daten Vorhersage, ohne Oszillationen MINOS, MINOS+ kombinierter Fit

1200

800

400

Verhältnis zur Erwartung ohne Oszillationen

Die in Genf beim CERN erzeugten Myon-Neutrinos, wurden auf das 732 km entfernte Gran-Sasso-Untergrundlabor östlich von Rom gerichtet, wo eigens ein spezieller Detektor – OPERA – aufgebaut wurde. Damit hat man untersucht, ob in dem Myon-Neutrinostrahl vom CERN durch Oszillationen Tau-Neutrinos entstehen, wie man es von Neutrinooszillationen erwarten würde. Tau-Neutrinos zu detektieren, ist eine große Herausforderung. Dazu müssen die Spuren der im Detektor erzeugten Teilchen millimetergenau vermessen werden. Nicht einfach in einem Detektor, der außerdem so groß sein muss wie ein Hochhaus. Gelungen ist dies durch Stapel von Millionen sehr dünner Fotoplatten, in denen nach Teilchenspuren gesucht wurde. Nach vier Jahren Messzeit wurden so fünf TauNeutrinos nachgewiesen. Das klingt nicht nach viel, entspricht aber den Erwartungen. Und die pure Existenz von Tau-Neutrinos in einem sonst reinen MyonNeutrinostrahl beweist, dass Neutrinos oszillieren.

0 1,2 0,8 0,4 0

0

5 10 15 20 30 50 Rekonstruierte Energie der Myon-Neutrinos [GeV]

240

9 Der Triumph des Standardmodells und darüber hinaus

Messung der Neutrinomasse Kleinste Masse – größte Waage

Üblicherweise bestimmt man die Masse von Elementarteilchen, indem man elektromagnetische Kräfte auf sie ausübt und ihre Reaktion, z. B. über die Krümmung ihrer Flugbahn, studiert. Auf Neutrinos gezielt Kräfte auszuüben ist leider nicht möglich, da sie ungeladen sind. Man braucht daher andere Methoden, um ihre Masse zu bestimmen. Dabei kommt einem die Äquivalenz von Energie und Masse zugute. Wird in einer Reaktion ein Neutrino erzeugt, so ist dazu mindestens die der Neutrinomasse äquivalente Energie erforderlich. Diese Energie fehlt den anderen Reaktionspartnern, deren Energie um den Energiebetrag der Neutrinomasse geringer ist als erwartet. Daher kann man durch die Messung der Energie von Elektronen, die in 𝛽-Zerfällen gemeinsam mit Neutrinos emittiert werden, die Neutrinomasse bestimmen. Untersucht wird dazu insbesondere der 𝛽-Zerfall von Tritium. Die genaue Kenntnis der Neutrinomasse ist ein wichtiger, aber noch fehlender Baustein in unserem Verständnis der elementaren Struktur der Materie. Neutrinos spielen auch kosmologisch eine große Rolle, da sie in Abhängigkeit ihrer Masse die Strukturbildung im Universum mehr oder weniger beeinflussen. Daher ist die Bestimmung der Neutrinomasse seit Jahrzehnten ganz hoch auf der Agenda der weltweiten Gesamtes Spektrum

Bereich um den Endpunkt

Anzahl Zerfälle

m(𝜈e) = 1 eV/c2

Anzahl Zerfälle

m(𝜈e) = 0 eV/c2

–3 –2 –1 0 1 Energiedifferenz zum Endpunkt [eV] 0

4 8 12 16 Elektronenenergie [keV]

Neutrinooszillationen  S. 186

Neutrino

n n p 3

𝜈–e

H

e−

Elektron

3

p

He n p

𝛽-Zerfall von Tritium zu He-3. Dabei entstehen ein Elektron und ein Neutrino. Die maximal mögliche Energie des Elektrons ist um den der Neutrinomasse äquivalenten Wert geringer als erwartet.

Teilchenphysik. Die Beobachtung von Neutrinooszillationen () und damit die Erkenntnis, dass die Neutrinomasse nicht null sein kann, hat dabei das Interesse weiter angeheizt. Das weltweit modernste Experiment ist das Karlsruhe Tritium Neutrino Experiment – KATRIN. In einer Zusammenarbeit von Universitätsgruppen und Instituten aus aller Welt wurde ein einzigartiges Spektrometer zur genauen Vermessung der Elektronenenergie beim Tritium-Zerfall realisiert. Die Form des 𝛽-Spektrums am Endpunkt wird von dem Wert der Neutrinomasse beeinflusst. Die maximale Elektronenenergie wird durch die Neutrinomasse reduziert. Eine Schwierigkeit für die Messung ist der extrem geringe Anteil der zur Massenbestimmung interessanten 𝛽-Zerfälle.

Messung der Neutrinomasse

Um die Energie der Elektronen zu messen, lässt man sie gegen eine elektrische Spannung anlaufen. Nur Elektronen, deren Bewegungsenergie ausreicht, die Spannung zu überwinden, erreichen einen Detektor, der sie zählt. Das ist in etwa so, als würde man gegen einen Ball treten, der eine Rampe hinaufrollen soll. Nur genügend schnell geschossen erreicht er das obere Ende der Rampe. Durch Variation der Spannung, die der Höhe der Rampe entspricht, kann so nach und nach die Verteilung der Elektronenenergie, das sogenannte 𝛽-Spektrum, vermessen werden. Um eine möglichst hohe Genauigkeit zu erreichen, werden die Elektronen von einem Magnetfeld geführt, was eine möglichst große Ausdehnung des Spektrometers erfordert. Daher war der Tank, in welchem das Spektrometer installiert wurde, zu groß für einen Transport über Autobahnen. Der in Deggendorf, nur 350 km von Karlsruhe entfernt, gebaute Tank musste per Schiff auf einem 8.600 km langen Weg über Donau, Schwarzes Meer, Mittelmeer, Atlantik, Ärmelkanal, Nordsee und schließlich den Rhein nach Karlsruhe transportiert werden.

241

Transportweg des KATRIN-Spektrometers

Am spektakulärsten waren dabei die letzten 7 km per Schwertransport von Leopoldshafen zum Forschungszentrum. KATRIN wird mehrere Jahre lang messen und dabei die Sensitivität soweit steigern, dass eine Masse größer 0,2 eV/c 2 sichtbar werden sollte. Dieser Wert ist zweieinhalb Millionen mal kleiner als die Masse des Elektrons. Da eine weitere Vergrößerung eines Spektrometers schwierig ist, gibt es Entwicklungsprojekte, um 𝛽-Zerfälle in Zukunft vielleicht mit anderen Methoden, z. B. mit Tieftemperaturdetektoren () zu untersuchen. Am besten lässt sich bisher die Neutrinomasse durch kosmologische Beobachtungen eingrenzen. Dabei muss man sich aber auf Annahmen in unseren kosmologischen Modellen verlassen. Daher kann umgekehrt KATRIN mit einem modellunabhängigen Wert für die Neutrinomasse auch einen Beitrag zur Kosmologie liefern. Die letzten Kilometer des Transportes waren am schwierigsten.

Tieftemperaturdetektoren  S. 128

242

9 Der Triumph des Standardmodells und darüber hinaus

Die Verletzung der CP-Symmetrie in B-Mesonen Leben wir im Spiegel oder davor?

Symmetrien () spielen eine fundamentale Rolle in der Teilchenphysik – sie sind gleichsam das Fundament des Standardmodells. Unter vielen diskreten und kontinuierlichen Symmetrien in der Teilchenphysik spielt die CP-Symmetrie – die Kombination aus Ladungssymmetrie C und räumlicher Spiegelung P – eine besondere Rolle: Eine Anwendung der CP-Spiegelung verwandelt ein links- oder rechtshändiges Teilchen in ein rechts- oder linkshändiges Antiteilchen und umgekehrt (CP-Verletzung ). Wäre die CP-Symmetrie immer eine exakte Symmetrie der Natur, dann wären Teilchen und Antiteilchen perfekte Spiegelbilder voneinander. Das heißt aber nicht, dass Teilchen und Antiteilchen identisch sind: Die positive Ladung unterscheidet das Positron vom Elektron, welches eine negative Ladung hat. Aber was wir als positive und was als negative Ladung bezeichnen – das wäre unabhängig von allen anderen Eigenschaften der Teilchen, welche für Teilchen und Antiteilchen

W− b – B0

K−

s u¯

CP

t d¯

B0

u d¯

𝜋+

identisch wären. Es wäre letztlich eine reine Frage der Definition, was wir Teilchen oder Antiteilchen nennen (Pion-Zerfall ). Im Zerfall von B-Mesonen, also gebundenen Paaren von einem bottom-Quark () mit einem up- oder down-Antiquark, lässt sich eine Abweichung und damit eine Verletzung der exakten CP-Symmetrie beobachten (Spontane Symmetriebrechung im Standardmodell ). Dafür haben die Teilchenphysikerinnen und -physiker eine Reihe spezieller Experimente an e+e−-Beschleunigern, wie das Belle- und das BaBar-Experiment, und auch am LHC (das LHCb-Experiment) gebaut. Einer der untersuchten Zerfälle des B 0-Mesons – in K +𝜋− oder seines Antiteilchens B 0 in K −𝜋+ ist in den Feynman-Diagrammen dargestellt. Beide Zerfälle laufen augenscheinlich exakt gleich ab – nur ist im zweiten Diagramm im Vergleich zum ersten jedes Teilchen durch sein Antiteilchen ersetzt worden. Wäre die CP-Symmetrie exakt erfüllt, wären also Teilchen und Antiteilchen exakte Spiegelbilder, dann müssten + K beide Zerfälle auch genau s¯ W+ gleich oft vorkommen. b¯ u t¯ u¯ d d 𝜋−

– Die Zerfälle des B 0-Mesons und seines Antiteilchens B 0 in ein Kaon K und ein Pion 𝜋: eine direkte CP-Spiegelung

Symmetrien  S. 56 Diskrete Symmetrien: P- und CP-Verletzung  S. 178 Der Pion-Zerfall  S. 180 Das Quarkmodell  S. 14 Spontane Symmetriebrechung im Standardmodell  S. 172

Die Verletzung der CP-Symmetrie in B-Mesonen

400

500

K − 𝜋+

400 Ereignisse / 2 MeV/c2

Ereignisse / 2 MeV/c2

500

300 200 100 0 5,2

243

5,25 5,3 MK −𝜋 + [GeV/c2]

K+ 𝜋− Das B̄ 0 zerfällt seltener in K −𝜋 + als sein Antiteilchen B 0 in K +𝜋 −: Die Spiegelsymmetrie ist nicht exakt!

300 200 100 0 5,2

Das gemessene Resultat des Belle-Experiments beweist: Teilchen und Antiteilchen sind nicht exakte Spiegelbilder voneinander, denn K +𝜋−-Endzustände sind häufiger als K −𝜋+. Das erkennt man sehr klar in den oberen Grafiken: Die breite Ebene des Untergrunds ist für beide Zerfälle gleich hoch, aber der spitze Berg der beobachteten K +𝜋−-Zerfälle ist höher als der Berg der K −𝜋+-Zerfälle! Die CP-Verletzung tritt in der direkten Spiegelung eines Zerfallsdiagramms auf. Daher heißt diese Art auch direkte CP-Verletzung. Wie kann aber eine Spiegelung überhaupt eine Zerfallsrate ändern, also die Häufigkeit des Auftretens eines Zerfalls? Das soll anhand der Zeichnung rechts illustriert werden: Nehmen wir an, die Länge von Pfeilen in einer zweidimensionalen Ebene repräsentiere die Zerfallsrate. Die CP-Spiegelung, angewendet auf die CKM-Matrix (), beinhaltet in dieser Grafik eine Spiegelung an der horizontalen Achse. Der Beitrag für Teilchen (roter, dünner Pfeil) zeigt z. B. nach oben, und der CP-gespiegelte Teil für Antiteilchen (blauer, dünner Pfeil) nach unten. Beide Pfeile sind aufgrund der Spiegelung gleich lang. Der Beitrag der CKM-Matrix

CKM-Matrix: Der Weg zu sechs Quarks in drei Familien  S. 182

5,25 5,3 MK+𝜋− [GeV/c2]

ist aber nicht der einzige Beitrag zum Zerfall: Es gibt auch andere Effekte von anderen Teilen des Standardmodells (grauer, dünner Pfeil), deren Beitrag von der Spiegelung unabhängig ist. Deren für Teilchen und Antiteilchen gleicher Beitrag wird im Bild zu den Beiträgen der CKM-Phase addiert. Auf diese Weise sind plötzlich die Längen der addierten Pfeile für Teilchen und Antiteilchen (dicke Pfeile) unterschiedlich, und so hat eine Spiegelung die Änderung einer Zählrate bewirkt!

B → K+ 𝜋−

CKM-Beitrag für Teilchen Andere Beiträge zum Zerfall CKM-Beitrag für Antiteilchen B¯ → K − 𝜋 +

Illustration der unterschiedlichen Vorhersage der Raten (dargestellt durch die Länge der dicken Pfeile) von B 0 ĺ K +𝜋 − und – B 0 ĺ K −𝜋 + im Standardmodell

244

9 Der Triumph des Standardmodells und darüber hinaus

Seltene Zerfälle von B-Mesonen Winzige Hinweise auf große Neuigkeiten?

Es gibt gute theoretische und kosmologische Gründe, warum das Standardmodell keine „letzte oder endgültige Antwort“ auf alle Fragen nach der Struktur der Materie und ihrer Wechselwirkungen sein kann (Warum wir weitersuchen ). Deshalb wird mit Hochdruck nach Abweichungen zwischen Messungen und Vorhersagen des Standardmodells gesucht. Eine interessante Gruppe von möglicherweise statistisch signifikanten() Abweichungen tritt in sogenannten seltenen Zerfällen von B-Mesonen auf. Von seltenen Zerfällen spricht man, wenn nur sehr wenige der Teilchen im Anfangszustand in den untersuchten Endzustand zerfallen. Meist gibt es dann bestimmte Mechanismen, die im Standardmodell solche Zerfälle unterdrücken (siehe Up, Down, Rechts und Links () und Der Weg zu sechs Quarks () als Beispiel). Ein einfaches anderes Beispiel dafür ist der Zerfall eines geladenen Pions 𝜋+ ĺ e+ 𝜈e (), der eigentlich häufig sein könnte, aber durch die Struktur der schwachen Wechselwirkung und die daraus resultierende Paritätsverletzung „unterdrückt“ wird und daher sehr selten ist. ℓ − = e−, 𝜇−

𝜏−

𝜈¯ℓ = 𝜈¯e , 𝜈¯𝜇 𝜈𝜏

b – B0

c d¯ d¯

𝜈¯𝜏

b – B0

D *+

Warum wir weitersuchen  S. 254 Signifikanz: Schlüsse ziehen aus Statistik  S. 148 Up, Down, Rechts und Links  S. 168 Der Weg zu sechs Quarks in drei Familien  S. 182 Der Pion-Zerfall  S. 180

Wenn nun aber das Standardmodell gar nicht die fundamentale Theorie der Natur ist, dann kann in solchen seltenen Prozessen schon der winzigste Beitrag von „Physik jenseits des Standardmodells“, also zum Beispiel von noch unbekannten Teilchen, die noch viel schwerer sind als das top-Quark, eine große relative Änderung verglichen mit dem winzigen Standardmodell-Anteil darstellen. Eine der zur Drucklegung dieses Buches interessantesten Messungen dieser Art ist das Verhältnis der Zahl der B-Mesonen, die in ein angeregtes D-Meson (im weiteren als D * bezeichnet) und ein Paar aus 𝜏-Lepton und 𝜏-Neutrino zerfallen, relativ zu der Zahl an B-Mesonen mit dem Zerfall in ein D * und – statt des 𝜏 und 𝜈𝜏 – in deren Schwesterteilchen: Elektron und ElektronNeutrino oder Myon und Myon-Neutrino. Diese beiden Prozesse sind in den Feynman-Graphen unten dargestellt. Hinter der Wahl dieses Verhältnisses als Messgröße steckt eine weitere Annahme: Aus verschiedenen Gründen ist es oft eine gute Annahme, dass noch unbekannte Physik ℓ − = e−, 𝜇− häufiger zusammen mit schwereren Standardmodellteilchen wie dem 𝜏 auftritt als mit leichten wie dem 𝜇. c

d¯ d¯

𝜈¯ℓ = 𝜈¯e , 𝜈¯𝜇

D *+

Das Verhältnis der Rate dieser beiden Prozesse stimmt nicht exakt mit der Standardmodellerwartung überein.

Ereignisse / (75 MeV)

Seltene Zerfälle von B-Mesonen

4000

245

LHCb

3000 2000

Daten B → D*𝜏𝜈 Signal hadronische B andere B mit Leptonen

Myonen gezählt werden, bei denen nur ein einziges unsichtbares Neutrino entstand.

B → D*𝜇 𝜈 Signal

Fehlkombinationen Fehlidentifikation 𝜇

Korrigiert werden muss die Bestimmung des Verhältnisses noch um die niedDie gemessenen Raten rigere Effizienz, ein Myon 2 verschiedener Prozesse im –2 LHCb-Experiment mit niedriger Energie zu 500 1000 1500 2000 messen, verglichen mit hoMyon-Energie im B-Meson Ruhesystem [MeV] her Energie, und um die geringere Rate an Zerfällen in Die experimentelle Untersuchung am LHCb-Expe- 𝜏-Leptonen aufgrund der höheren Masse des 𝜏 vergliriment nutzt einen weiteren Trick, um systematische chen mit dem Myon. Auch muss natürlich in Betracht Modellierungsunsicherheiten () zu reduzieren: Es gezogen werden, dass nur 17 % der 𝜏-Leptonen in ein wird nur der Zerfall des 𝜏-Leptons in ein Myon be- Myon zerfallen. trachtet. Dann unterscheidet sich der Endzustand der beiden Zerfälle nur durch die Menge an Energie, die Man stellt fest, dass die zur Erklärung der Daten notvon unsichtbaren Neutrinos davongetragen wird. Das wendige Größe der roten Fläche etwas höher ist als erreduziert zwar die 𝜏-Rate, da nicht alle Zerfallskanäle wartet. Ein Beweis konkreter neuer Physik? Oder gar gemessen werden, sorgt aber dafür, dass fast alle Mo- die Entdeckung eines neuen Teilchens wie des Leptodellierungsfehler im Zähler und Nenner des Verhältnis- quarks LQ (GUT )? Die statistische Signifikanz von ses der beiden Zerfallsraten gleichermaßen auftreten etwa 3 𝜎 reicht dafür noch nicht aus, genauere Messunwürden! Der systematische Fehler wird dadurch signi- gen werden interessante weitere Entwicklungen brinfikant reduziert. gen – für oder gegen das Standardmodell. Verhältnis Daten zu Erwartung

1000

Die Messung mit Myonen im Endzustand vergleicht in der dargestellten Abbildung die rote Fläche mit der blauen Fläche. Links im Diagramm ist die Energie der beobachteten Myonen niedrig, die Neutrinos haben also mehr Energie aus dem Detektor getragen. Dort kann der Anteil der Zerfälle in 𝜏-Leptonen bestimmt werden, bei deren Zerfall drei unsichtbare Neutrinos Energie aus dem Detektor getragen haben. Ganz rechts im Diagramm fehlt wenig Energie. Dort können die

Die Bestimmung von Messunsicherheiten  S. 146 GUT  S. 258

𝜏−

b – B0

LQ

𝜈¯𝜏

c d¯ d¯

D *+

Eine mögliche Erklärung der gemessenen Abweichung: ein neues Teilchen, das Leptoquark LQ

246

9 Der Triumph des Standardmodells und darüber hinaus

Gestaltwandler unter sich

Von Charme, Schönheit1 und seltsamen Teilchen Es gibt eine weitere Gruppe von Teilchen, welche wie W− d b Neutrinos echte Gestaltwandler sind: neutrale Meso– t t Bd Bd nen. Mesonen sind Zustände aus einem Quark und einem Antiquark. Die Verwandlungskunst von neutralen W+ d¯ b¯ Mesonen unterscheidet sich aber fundamental von den Oszillationen der Neutrinos (): Während sich NeutriW− s b nos ineinander verwandeln können, können sich man– t t Bs Bs che neutrale Mesonen in ihre Antiteilchen verwandeln! Ein weiterer Effekt kommt noch dazu: Die betrachteten s¯ W+ b¯ Mesonen zerfallen nach einer kurzen Lebensdauer in andere Teilchen. Dies macht einen experimentellen Die Umwandlung von B-Mesonen in ihre Antiteilchen und zurück Nachweis schwierig. Das erste so untersuchte System waren neutrale Kaonen, mit denen auch zum ersten lungen von Materie ĺ Antimaterie und Antimaterie ĺ mal die CP-Verletzung () nachgewiesen wurde. Materie exakt gleich wahrscheinlich wäre, dann gäbe es keine CP-Verletzung in der Oszillation. Ein besonders schönes Beispiel einer solchen Umwandlung gibt es in Systemen mit bottom-Quarks: Diese seltene Umwandlung wurde das erste Mal 1987 Dort kann sich ein b-Quark in sein Antiteilchen b̄ in einem deutschen Labor in Hamburg nachgewieumwandeln. Dies kommt vor, wenn sich ein Anti-B- sen, und zwar am Deutschen Elektronen-Synchrotron – Meson (Bd, aufgebaut aus einem b-Quark und einem DESY beim ARGUS- Experiment2. Das erste so nachdown-Antiquark d̄ ) in sein Antiteilchen (Bd, aufge- gewiesene Ereignis ist im Bild auf der nächsten Seite baut aus b̄̄ und d) verwandelt. In der Illustration wird zu sehen: Elektronen und Positronen werden aufeindies mithilfe einer Schleife aus top-Quarks und W±- ander geschossen und produzieren immer gleichzeitig Bosonen bewerkstelligt. Das Bd-Meson und sein An- ein B-Meson und sein Antiteilchen. Gezeigt wird ein titeilchen haben eine Lebensdauer von nur 1,5 · 10 −12 s. Querschnitt durch den Detektor, und der e +e −-Strahl Die durchschnittliche Periode einer Oszillation liegt geht senkrecht durch die Oberfläche der Seite. Durch aber bei ca. 1,2 · 10 −11 s. D. h. nur wenige B-Mesonen die Endzustandsteilchen kann man die stattgefundeleben lang genug, um in ihr Antiteilchen zu oszillieren. ne Zerfallskaskade rekonstruieren und mithilfe der Damit dieser Prozess möglich ist, müssen Quarks un- Ladung und kinematischen Eigenschaften kann eine terschiedlicher Familien über das W-Boson und die Zuordnung der vier geladenen Pionen und der zwei CKM-Matrix () aneinander koppeln, hier z. B. das Kaonen erfolgen (rot und blau angedeutet, siehe auch top-Quark an ein down-Quark. Wenn die Umwand- neutrale Ströme ). Obwohl eigentlich ein B-Meson

1

Das bottom-Quark heißt manchmal auch “beauty”-Quark. Daher die Schönheit im Untertitel. siehe ARGUS Collaboration et al. 1987, Observation of B0-B0 mixing, Physics Letters B, 192, 1–2, 245, doi:10.1016/03702693(87)91177-4 2

Überprüfung von Neutrinooszillationen  S. 238 Diskrete Symmetrien: P- und CP-Verletzung  S. 178 und Die Verletzung der CP-Symmetrie in B-Mesonen  S. 242

Gestaltwandler unter sich

247

und sein Antiteilchen produziert wurden, sind im Bild aber die Zerfallsprodukte zweier B-Mesonen zu sehen, d. h. das Anti-BMeson hat sich in ein B-Meson verwandelt. Fantastisch! Schöne Oszillationen gibt es auch in anderen Systemen. Besonders spektakulär wird es, wenn man das down-Quark mit einem strangeQuark ersetzt und die Oszillation von Bs-Mesonen studiert. Diese finden unheimlich schnell statt. Bei einer Lebensdauer von 1,5 · 10 −12 s oszilliert das Bs-Meson im Mittel fünf mal, bevor es zerfällt. Dieses Phänomen wurde am Tevatron-Beschleuniger am Fermilab das erste mal vermessen und mit unglaublicher Genauigkeit auch vom LHCb-Experiment am CERN bestätigt3. ¯s0 → Bs0 → Ds− 𝜋+ B

Bs0 → Ds− 𝜋+

Die Entdeckung der B-Oszillation: ein Ereignis des ARGUS-Experiments mit zwei Bd- und keinem Bd̄ -Meson

Untergrund

Zerfälle pro 0,04 ps

2500 2000 1500 1000 LHCb 6 fb−1

500 0 2

4 Zerfallszeit t [ps]

6

8

In der Abbildung links sind die Oszillationen von – Bs in Bs gezeigt: Die blaue und die rote Kurve zeigen die zu dem Zeitpunkt nachgewiesene Anzahl an Bs– und Bs-Mesonen. LHCb hat vor Kurzem auch im vierten und finalen neutralen Meson-System, bei dem Oszillationen auftreten können, ebensolche nachgewiesen: neutrale D-Mesonen, welche aus einem charm-Quark und einem up-Antiquark zusammengesetzt sind. Ein faszinierender Aspekt ist zudem, dass die Umwandlungsrate von Materie in Antimaterie nicht exakt gleich der Umwandlungsrate von Antimaterie in Materie ist.

Die Vermessung der Bs-Oszillation

3

LHCb Collaboration 2022, Precise determination of the frequency, Nature Physics, 18, 1, doi:10.1038/s41567-021-01394-x

CKM-Matrix: Der Weg zu sechs Quarks in drei Familien  S. 182 Die Entdeckung der neutralen Ströme  S. 220 Was ist Antimaterie?  S. 18 und Die Suche nach elektrischen Dipolmomenten  S. 294

248

9 Der Triumph des Standardmodells und darüber hinaus

Die Vermessung des CKM-Dreiecks Das große Treffen

B-Mesonen werden immer paarweise und quantenverschränkt produziert, und wenn man den Zustand des anderen B-Mesons zum Zerfallszeitpunkt bestimmt (z. B. B 0), kennt man den Zustand des studierten B– Mesons zu genau diesem Zeitpunkt (dann z. B. B 0). Wegen der Quantenverschränkung wird durch den – Zerfall des ersten B-Mesons der Zustand (B 0 oder B 0) –0 des zweiten B-Mesons festgelegt (B oder B 0). Der Mechanismus ist in der Skizze illustriert. Mit dieser InIm Standardmodell der Teilchenphysik ist die CP- formation kann man nun die Zeitabhängigkeit der CPVerletzung in der CKM-Matrix () verankert. Für den Verletzung vermessen: Genau dies ist in der Abbildung Zerfall von B-Mesonen in ein Kaon K und ein Pion 𝜋 gezeigt: die als B 0 erzeugten B-Mesonen (rote Linie) wurde schon erklärt, wie die CKM-Matrix durch Spie- zerfallen im Mittel später als ihre Antiteilchen (blaue gelung ihrer Phase eine CP-Verletzung erzeugen kann. Linie). Fazit: Die B 0-Mesonen leben länger!

Wie wir gesehen haben, verhalten sich Materie und Antimaterie nicht gleich: So ist der Zerfall von B 0 ĺ – K+𝜋− häufiger als B 0 ĺ K−𝜋+, was ein Beispiel für sogenannte direkte CP-Verletzung () ist. Es gibt aber noch weitere Arten, wie sich CP-Verletzung in der Natur nachweisen lässt. Wer sich für Genaueres zu diesem spannenden Aspekt interessiert, findet hier eine Vertiefung.

Eine spektakuläre Art der CP-Verletzung ist die unterschiedliche mittlere Lebensdau– er von B 0 und B 0 in Zerfällen, bei denen man die Endzustandsteilchen nicht unterscheiden kann. Dies ist bei dem Zerfall von – – B 0 ĺ J/𝜓 K 0 mit K 0 ĺ 𝜋 +𝜋 − der Fall. Dieser kann auf zwei Arten ablaufen: Das B 0 kann – direkt in ein J/𝜓 und ein K 0 zerfallen oder – sich erst in sein Antiteilchen B 0 umwandeln (Meson-Oszillation ) und dann ebenso in J/𝜓 𝜋 +𝜋 − zerfallen, wie in der Abbildung ge– zeigt. Analog kann es sich wie ein B 0 verhalten (und entweder direkt zerfallen oder sich erst in ein B 0 verwandeln). Mit einem Trick können Teilchenphysikerinnen und -physiker den ursprünglich erzeugten Zustand B 0 – oder B 0 an e +e −-Beschleunigern bestimmen:

J/𝜓

u, ¯ c¯, t¯



c

b

d





B0

s u

s

u,c,t d¯

– B0

𝜋−

d

– K0

B0

K0 d





𝜋+

d

𝜋−



s¯ c¯

s¯ u¯

c

J/𝜓 – Der Zerfall von B 0 und B 0 in den gleichen CP-Eigenzustand

Die Verletzung der CP-Symmetrie in B-Mesonen  S. 242 und Diskrete Symmetrien: P- und CP-Verletzung  S. 178 CKM-Matrix: Der Weg zu sechs Quarks in drei Familien  S. 182 Meson-Oszillation: Gestaltwandler unter sich  S. 246

u d¯

𝜋+

Die Vermessung des CKM-Dreiecks

rot umrandeten Punkt an der oberen Spitze des Dreiecks überschneiden sich alle Flächen, und damit liefert die CKM-Matrix des Standardmodells ein konsistentes Bild.

400 350 300 Ereignisse/ 0,5 ps

249

Auch hier triumphiert wieder das Standardmodell, was zum Nobelpreis 2008 für Kobayashi und Maskawa führte. Da im Standardmodell die Kombination aus CP- und T-Symmetrie (Zeitumkehr) (Antimaterie ) erhalten ist, bedingt CP-Verletzung auch die Verletzung der T-Symmetrie. Die Erhaltung der CPT-Symmetrie im Standardmodell besagt auch, dass sich die – Gesamtlebensdauer von B 0 und B 0 nicht unterscheidet.

250 200 150 100 50 0 –6

–4 –2 0 2 4 6 Zeitabstand zwischen den Zerfällen zweier B-Mesonen [ps]

– Die als B 0 erzeugten B-Mesonen zerfallen im Mittel später (rote Linie), die als B 0 erzeugten früher (blaue Line) in den gleichen Endzustand. Damit ist die T-Symmetrie und die CP-Symmetrie verletzt.

Diese und weitere Messungen kann man miteinander kombinieren, um den Charakter der CP-Verletzung von Quarks zu vermessen. Alle Messungen können grafisch im Unitaritätsdreieck zusammengefasst werden. Die bunten Flächen zeigen die von jeweils verschiedenen Messungen erlaubten Bereiche im Raum von zwei der vier Parameter der CKM-Matrix, hier als 𝜌̄ und 𝜂̄ bezeichnet. Wenn das Standardmodell die beobachteten CP-Verletzungen erklären kann, müssen die erlaubten Bereiche aller Messungen mindestens einen gemeinsamen Überschneidungspunkt haben, denn sonst gäbe es durch die CKM-Matrix keine gemeinsame Erklärung aller gemessenen Phänomene der Quark-Mischung. Dies ist der Fall: In einem winzigen

Was ist Antimaterie?  S. 18

1,5 1,0 0,5

𝜂¯ 0,0 −0,5 −1,0 −1,5 −1,0

−0,5

0,0

0,5

1,0

1,5

2,0

𝜌¯ Die bunten Flächen illustrieren die erlaubten Bereiche der Parameter des Unitaritätsdreiecks aus jeweils verschiedenen Messungen. Sie überschneiden sich alle an genau einem Punkt (kleiner roter Kreis): Die CKM-Matrix kann die Mischung der Quark-Familien und die CP-Verletzung beschreiben.

250

9 Der Triumph des Standardmodells und darüber hinaus

Die Hürden des Erfolgs Es ist ein wichtiger Teil der theoretischen Physik, neue Ideen zur Beschreibung der Natur zu entwickeln. Große Durchbrüche in der Kulturgeschichte der Menschheit sind mit ihnen verbunden: zum Beispiel das heliozentrische Weltbild von Kopernikus, Kepler und Galilei oder die Newton’sche Mechanik oder die Entwicklung der modernen Physik mit Quantenmechanik und Relativitätstheorie, auf denen unsere moderne Informationsgesellschaft in Gestalt der Quantenzustände in Computerchips basiert. Eine solche Revolution zu erleben wäre ein großartiges Ereignis. Aber alle diese vorangegangenen Revolutionen beruhten nicht nur auf ein paar sehr hellen Geistern, die neue Theorien erschaffen, sondern ebenso auf jahrzehntelangen präzisen Ausarbeitungen der Vorhersagen von Theorien sowie gründlichsten Experimenten und genauesten Messungen. So ist es auch heute: Die Teilchenphysikerinnen und -physiker hoffen, am Anfang des Endes des Standardmodells der Elementarteilchenphysik als beste und vollständige Beschreibung des Mikrokosmos zu stehen. Wir hoffen durch verbesserte Experimente konkretere Hinweise auf die kommende Revolution zu erhalten. Ein sehr wichtiges Charakteristikum dieser Revolutionen ist aber: Sie müssen weiterhin alle bisherigen ExpeDie gemessenen Eigenschaften des Higgs-Bosons in Form der gemessenen Kopplungen in sieben verschiedenen Endzuständen stimmen mit der Standardmodellerwartung mit dem Wert 1 überein.

mW [GeV/c 2]

Worüber neue Theorien springen müssen 80,5

mW = 80,360 ± 0,016 GeV/c 2 mt = 172,84 ± 0,70 GeV/c 2 mH = 125,09 ± 0,24 GeV/c 2 68 % and 95 % Konfidenzintervalle Direkte mW und mt Messungen Fit ohne mW, mt Messungen

ATLAS

80,4

80,3 165

170

175

180

185 mt [GeV/c 2]

Die gemessenen Massen von top-Quark t, W-Boson und HiggsBoson H sind im Standardmodell miteinander konsistent: Alle Messungen treffen sich an einem Punkt.

CMS

Beobachtung ±1 Sigma (stat, syst) ±2 Sigma (stat, syst) Stat Syst +0,07 −0,06

𝜇𝛾𝛾

1,13 ±0,09

𝜇ZZ

0,97 −0,11

𝜇WW

0,97 ±0,09

±0,05 ±0,08

𝜇𝜏𝜏

0,85 ±0,10

±0,06 ±0,08

𝜇bb

1,05 −0,21

𝜇𝜇𝜇

1,21 −0,42

+0,45

+0,42 +0,17 −0,38 −0,16

𝜇Z𝛾

2,59 +1,07 −0,96

+0,97 +0,45 −0,93 −0,25

±0,06

+0,12 +0,08 +0,09 −0,07 −0,08

+0,22

0

0,5

1

1,5

2

2,5

3

Gemessener Parameterwert

3,5

±0,15

+0,16 −0,15

Die Hürden des Erfolgs

251

rimente erklären – schließlich waren die Experimente nicht falsch. Jede neue Theorie muss daher all das fast exakt so (nämlich innerhalb teils winziger Unsicherheiten (Präzisionsexperimente )) erklären, wie es das Standardmodell auch tut. Die Forschenden sagen: Die bessere, fundamentalere, einfachere, schönere, umfassendere neue Theorie muss die alte mit enthalten. So war es auch in der Vergangenheit.

sie erst, wenn diese hypothetische Theorie zellulärer Automaten mindestens all das innerhalb der Messunsicherheiten genau so erklären würde, was vom Standardmodell erfolgreich erklärt wird! Und diese erfolgreiche komplett alternative Theorie gibt es bisher nicht.

Produktionsrate [pb]

Die wachsende Herausforderung für die Theoretikerinnen und Theoretiker: Die Menge an präzisen Messungen aus der Geschichte der Teilchenphysik (auf Es reicht also nicht, zum Beispiel zu behaupten: „Wir dieser Seite in ausgewählten Beispielen festgehalten) ist leben in Wahrheit in einer Computersimulation, in der enorm. Diese Messungen stimmen unter Berücksichz. B. zelluläre Automaten die fundamentale Einheit tigung der zu erwartenden Verteilung der Messergebdarstellen“. Das mag eine interessante Vorstellung () nisse innerhalb ihrer Unsicherheiten () alle mit dem sein – als physikalische Theorie ernstzunehmen wäre Standardmodell überein. Dieses gesamte Erbe der präzisen Messungen der Messung der Produktionsraten von Standardmodellprozessen Stand:Februar2022 Teilchenphysik soll –1 500 μb 1011 eine zukünftige einATLAS 80 μb–1 Theorievorhersage fachere Theorie auch √s̄ = 7,8,13 TeV 106 Schwerpunktsenergie = 13 TeV mit beschreiben, plus Messung viele neue Phänome105 ne: eine monumentaSchwerpunktsenergie = 8 TeV le Aufgabe. Messung 104 Schwerpunktsenergie = 7 TeV Messung

103 102 total

101

2 fb–1

VBF WH WWW

1 ZH VH

10−1

tt̄H (× 0,3)

WWZ (× 0,2)

10

−2

alle Prozesse

W

Z

tt̄

t

Wt

H

Erzeugte Teilchenkombination

Präzisionsexperimente  S. 234 Vorstellung und Realität  S. 28 Schlüsse ziehen aus Statistik  S. 148

WW

WZ

ZZ

tt̄tt̄ t tt̄W tt̄Z WWV

Die Vorhersagen der Produktionsraten von verschiedenen Prozessen am LHC stimmen über 13 Zehnerpotenzen mit dem Standardmodell überein.

10 Die Grenzen des Standardmodells In diesem Kapitel schauen wir hinaus in die unbekannte Welt jenseits des Standardmodells, oder vielleicht besser: Wir spekulieren. In den vorangegangenen Kapiteln haben wir gesehen, dass Materie aus immer kleineren Bausteinen besteht und wie die Elementarteilchen gefunden und untersucht werden können. Lässt sich das vielleicht zu noch kleineren Substrukturen fortsetzen? Das scheint nicht der Fall zu sein. Solche Modelle mit weiteren Substrukturen sind konstruiert worden, aber sie wurden alle von den sehr präzisen Daten vom LEP-Kollider widerlegt. Es bleiben aber noch andere Fragen offen: Wo kommen die Neutrinomassen her? Wie können wir die im Universum indirekt beobachtete Dunkle Materie erklären? Und was hat es eigentlich mit der Dunklen Energie auf sich? Hier wollen wir auf weiterführende Ansätze jenseits des Standardmodells eingehen. Elektrizität und Magnetismus sind zum Elektromagnetismus vereinheitlicht. Sie sind verschiedene Seiten derselben Medaille. Vielleicht entstammen alle Kräfte des Standardmodells einer großen vereinheitlichten Kraft? Vielleicht gibt es neue grundlegende Symmetrien oder sogar eine Supersymmetrie? Vielleicht liegen wir auch falsch, wenn wir die Elementarteilchen als punktförmig annehmen, und es handelt sich tatsächlich um dünnen Schnüre? Oder leben wir gar in einer höherdimensionalen Welt? Bei der Erforschung dieser Fragen können wir vielleicht erahnen, wie die Welt jenseits des Standardmodells aussehen könnte.

254

10 Die Grenzen des Standardmodells

Warum wir weitersuchen Ungelöste Probleme im Standardmodell

Mit der Entdeckung des Higgs-Bosons 2012 war das Standardmodell der Teilchenphysik vollständig. Als komplette Theorie ist es ein grandioser Erfolg; es beschreibt alle bisherigen Laborexperimente, z. T. mit sensationeller Präzision. Die Experimente spannen mehr als 13 Größenordnungen in der Energie, von weniger als 1 eV in der Atomphysik bis zu 13 TeV am LHC. Mithilfe des Standardmodells reicht unser Verständnis weit hinaus (Urknall ) ins Universum. Wir verstehen im Detail, wie die Sonne funktioniert, einschließlich des Stroms von Neutrinos (), der seinen Ursprung tief im Inneren der Sonne hat. Im Zusammenspiel von Standardmodell und allgemeiner Relativitätstheorie verstehen wir die Zusammensetzung von Neutronensternen und die Streuung der Neutrinos in einer Supernova kurz nach der Explosion, die ihre Ankunft auf der Erde verzögern. Wir verstehen, wie die leichten Elemente Wasserstoff, Helium und Lithium in den ersten drei Minuten im frühen Universum erzeugt wurden und in welchem Mengenverhältnis (). Auch die Erzeugung der schwereren Elemente in Sternen () verstehen wir weitgehend.

1. Die unterschiedlichen Massen der über 100 verschiedenen Elemente im Periodensystem werden durch unser Verständnis des Atomaufbaus mit einem Kern () aus Protonen und Neutronen sowie einer Schale aus Elektronen erklärt. Im Gegensatz dazu haben wir im Standardmodell zwölf verschiedene Fermionen, mit zum Teil sehr unterschiedlichen Massen, die nur durch freie Parameter beschrieben werden. Warum sind die Massen der Fermionen so unterschiedlich? 2. Wie groß sind die Neutrinomassen genau? Wir kennen die Differenz der Neutrinomassen, aber nicht die absoluten Werte. Insbesondere: Ist das leichteste Neutrino masselos? Haben die Neutrinos eine Dirac- oder eine Majoranamasse ()? Und in Anlehnung an Punkt 1: Warum sind die Neutrinos so viel leichter als die anderen Fermionen im Standardmodell?

3. Warum ist die Ladung des Wasserstoffatoms exakt null? Experimentell wissen wir, dass die Summe aus Protonladung und Elektronladung geteilt durch den Betrag der Elektronladung (qp + qe)/e < 10 −21 ist! Anders ausgedrückt: Warum sind die Ladungen der u- und d-Quarks genau +2/3 e bzw. −1/3 e ? Dieses Problem wird auch das Problem der LadungsquanDa möchten wir uns zufrieden zurücklehnen und das tisierung genannt. In den vereinheitlichten Theorien Werk genießen – und doch schweift unser Blick weiter. (GUTs) gibt es eine Antwort. Aber sind die Kräfte verEs tun sich neue Fragen auf, die uns ermutigen, weiter- einheitlicht? Haben sie einen gemeinsamen Ursprung? zusuchen. Hier präsentieren wir eine Liste der für uns wichtigsten offenen Fragen im Standardmodell. Ihre 4. Das Universum enthält eine große Menge an DunkBeantwortung liegt in zukünftigen neuen Experimen- ler Materie. Dies kann wahrscheinlich durch ein oder ten sowie in tieferliegenden theoretischen Strukturen. mehrere neue(!) Elementarteilchen erklärt werden. Im

Urknall  S. 266 Neutrinos von der Sonne  S. 320 Nukleosynthese im Urknall  S. 306 Elemententstehung in Sternen  S. 308 Von Nukleonen zu Kernen  S. 210

Warum wir weitersuchen

Standardmodell geht das nicht. Was sind diese neuen Teilchen? Wie können wir sie nachweisen? Und wie fügen sie sich in die Gesamttheorie ein?

255

keit bietet die Stringtheorie, die für Größenordnungen der Planck-Energieskala (1019 GeV) formuliert ist. Dort sollte die Gravitation von gleicher Stärke wie die anderen Kräfte sein. Aber wie können wir 5. Das Universum fing als zeigen, dass es eine StringtheFermionmassen extrem heißes Plasma orie gibt? Alle VorhersaNeutrinomassen nach dem Urknall an. gen sind bisher expeDunkle Materie Die Thermodynamik rimentell energetisch Gravitation quantisieren sagt uns, dass es in weit außerhalb der so einem heißen ZuReichweite heutiger Dunkle Energie TEILCHENPHYSIK KOSMOLOGIE stand genauso viele Experimente. Teilchen wie AntiteilLadungsquantisierung Baryogenese chen geben muss und 8. Das Higgs-Boson die Baryonenzahl sollte hat eine Masse von Hierarchieproblem exakt null gewesen sein. etwa 125 GeV/c 2. Bei sehr Heute beobachten wir im gekleinen Abständen, 10 −35 m, der samten Universum nur Materie, keine Plancklänge (bzw. sehr hohen Energien, 1019 GeV), Antimaterie. Die Baryonenzahl ist heute ungleich null. sollte die Gravitation vergleichbare Stärke mit den anWie konnte das Universum von seiner ursprünglichen deren Kräften erlangen und es sollten Quanteneffekte Materie-Antimaterie-Symmetrie zur heutigen Asym- auftreten. Diese sollten mittelbar oder gar unmittelbar metrie übergehen, obwohl die Baryonenzahl im Stan- in die Higgs-Masse einfließen und sie sehr viel größer dardmodell zu einem hohen Grad erhalten ist? Dies ist machen als beobachtet. Dies ist das sogenannte Hierdas Problem der Baryogenese (). archieproblem. Eine mögliche Lösung wäre die Theorie der Supersymmetrie (), die die Higgs-Masse vor 6. Wir beobachten heute eine beschleunigte Expansion den Hochenergiekorrekturen schützt. Für die Superdes Universums, die mit einer kleinen Vakuumenergie symmetrie gibt es aber noch keinen experimentellen zu erklären ist, auch Dunkle Energie () genannt. Was Nachweis. ist der Ursprung dieser Vakuumenergie? Und wieso trägt die extrem viel größere Vakuumenergie im Stan- Das Standardmodell ist eine in sich abgeschlossene dardmodell nicht zur Expansion des Universums bei? komplette Theorie. Wie wir hier beschrieben haben, gibt es aber vielfältige Fragen, die das Standardmodell 7. Die drei Kräfte des Standardmodells sind alle durch aufwirft bzw. unbeantwortet lässt. Außerdem können Quantenfeldtheorien exzellent beschrieben. Was ist wir mittlerweile so weit zurück und präzise in die Gemit der Gravitation? Gibt es für sie auch eine zugrun- schichte des Universums schauen, dass sich dadurch de liegende Quantentheorie? Gibt es ein Graviton als auch vielfältige kosmologisch unbeantwortete Fragen Austauschteilchen? Wir wissen es nicht. Eine Möglich- mit Bezug auf das Standardmodell ergeben.

Neutrinomassen  S. 256 Baryogenese  S. 304 Dark Sector: Dunkle Energie  S. 270 Supersymmetrie  S. 260

256

10 Die Grenzen des Standardmodells

Neutrinomassen Warum so klein?

Im Standardmodell sind die drei Neutrinos 𝜈Le, 𝜈L𝜇 Impuls p→ Impuls p→ Spin und 𝜈L𝜏 alle linkshändig (Up, Down, Rechts und Links Spin ) und masselos. Aus den Oszillationsexperimenten mit solaren und atmosphärischen Neutrinos sowie mit Spin Neutrinos an Reaktoren und Beschleunigern () wisSpin sen wir, dass mindestens zwei der drei Neutrinomaslinkshändiges rechtshändiges linkshändiges rechtshändiges sen zwar sehr kleine, aber nicht verschwindende Werte top-Quark top-Quark Neutrino Neutrino von etwa 0,01 eV/c 2 haben. Wie können die Neutrinos Im Standardmodell gibt es keine rechtshändigen Neutrinos. Masse haben? Und warum ist ihre Masse so viel kleiner als die der geladenen Leptonen sowie der Quarks? werden und die Neutrinos sind masselos, auch nach der spontanen Symmetriebrechung – im Gegensatz Beim Higgs-Mechanismus im Standardmodell kop- zur experimentellen Beobachtung. Nun können wir pelt z. B. ein linkshändiges Anti-top-Quark (tL̄ ) und das Standardmodell um drei rechtshändige Neutrinos ein rechtshändiges top-Quark (tR) an das Higgs- erweitern: 𝜈Re, 𝜈R𝜇 und 𝜈R𝜏. Dies führt, analog zu den Boson (H 0). Der sogenannte Massenterm dafür ist geladenen Leptonen und den Quarks, über den Higgsht H 0 tL̄ tR. Nach der spontanen Symmetriebrechung Mechanismus zu drei Dirac-Neutrinomassen. Prob() SU(2)L ×U(1)Y ĺU(1)EM erhält das Higgs-Boson lem gelöst! – Zumindest im Prinzip. Es bleibt die Frage, einen Vakuumerwartungswert H 0 ĺ v und die Kopp- warum die Neutrinomassen so sehr viel kleiner als die lung führt zur top-Quark-Masse: mt tL̄ tR, mit mt = ht v. anderen Fermionmassen sind. Vor der spontanen Symmetriebrechung ist das topQuark masselos, da der Term mt tL̄ tR weder SU(2)L noch U(1)Y eichinvariant ist. Eine Masse, die auf einer Rechts-Links-Kopplung basiert, wird Dirac-Masse genannt. Alle Quarks und alle geladenen Leptonen sind vor der spontanen Symmetriebrechung masselos. Nach der spontanen Symmetriebrechung haben sie eine Dirac-Masse, d. h. einen Massenterm mit einem linkshändigen und einem rechtshändigen Teilchen.

Zur Erinnerung: Die top-Quark-Masse ist etwa 173 GeV/c 2 und damit ähnlich groß wie der Vakuumerwartungswert des Higgs-Bosons (v = 246 GeV), was der natürlichen Energieskala der spontanen Symmetriebrechung entspricht. Die Elektronmasse ist etwa eine Million Mal kleiner, also schon recht klein. Dazwischen liegen die Massen der anderen geladenen Leptonen und Quarks. Die Neutrinomassen sind aber etwa 10 −13 Mal (!) kleiner als die top-Quark-Masse, was ein riesiger Unterschied ist. Wie kann man diesen enorDa es im Standardmodell keine rechtshändigen Neu- men Unterschied erklären? Warum sind die Neutrinos trinos gibt, kann für sie keine Dirac-Masse generiert so besonders?

Up, Down, Rechts und Links  S. 168 Überprüfung von Neutrinooszillationen  S. 238 Spontane Symmetriebrechung III  S. 176 und Spontane Symmetriebrechung im Standardmodell  S. 172

Neutrinomassen

257

Schauen wir uns der Einfachheit halber nur ein linkshändiges, 𝜈L, und ein rechtshändiges Neutrino, 𝜈R, an. Beide sind elektrisch neutral. Das 𝜈L ist Teil eines SU(2)L-Pärchens und hat außerdem eine U(1)Y -Quantenzahl. Das 𝜈R hat aber weder eine SU(2)L- noch eine U(1)Y -Quantenzahl; es hat gar keine Eichquantenzahl! (Es koppelt somit an kein Eichboson im Standardmodell.) Aus der Quantenfeldtheorie wissen wir, dass so ein Spin-1/2-Teilchen (Fermion) ohne Eichladung sein eigenes Antiteilchen sein kann. Es wird dann Majorana-Teilchen genannt. Kann der Wipp-Mechanismus die kleine Neutrinomasse erklären?

In diesem Fall ist es möglich, einen eichinvarianten Massenterm nur mit den rechtshändigen Neutrinos zu bilden: MR 𝜈R 𝜈R, auch Majorana-Masse genannt. Diese Majorana-Masse ist unabhängig vom HiggsMechanismus und somit nicht an die Energieskala des Higgs-Vakuumerwartungswertes v = 246 GeV gebunden. Das Besondere an den rechtshändigen Neutrinos als Teilchen ohne Quantenzahlen ist also: Nur sie können eine Masse unabhängig vom Higgs-Mechanismus haben. Diese Masse kann somit leichter oder eben auch sehr viel schwerer sein als z. B. die top-Quark-Masse. Nun haben wir für unsere Neutrinos also beides: eine Dirac-Masse (links-rechts) wie bei den anderen Teilchen, aber zusätzlich auch eine Majorana-Masse (rechts-rechts). Dies führt dazu, dass die linkshändigen und die rechtshändigen Neutrinos mischen, eine Besonderheit der Quantenmechanik, die ja auch bei den Neutrinooszillationen () eine wichtige Rolle spielt. Es stellt sich heraus, dass es dann zwei gemischte Zustände gibt: einen leichten mit Masse mL und einen schweren mit der Masse MS. Das Produkt dieser beiden Massen ist konstant, unabhängig von der Majorana-Masse MR:

mL·MR = mD2 = Konstante . Hier ist mD die Dirac-Masse vom Higgs-Mechanismus. Wenn wir also die unbekannte Masse MR sehr groß machen, dann muss die andere Masse mL sehr klein werden, und umgekehrt: Ist MR sehr klein, so wird mL sehr groß. Das ist wie bei einer Wippe auf dem Spielplatz: Geht eine Seite runter, muss die andere hoch. Darum wird dies auch der Wipp-Mechanismus genannt. Als Beispiel, wenn wir mD = mt und MR = MGUT = 1015 GeV/c 2, die große Vereinheitlichungsskala (GUT ), setzen, so erhalten wir für mL = 0,01 eV/c 2. Der leichte Zustand ist jetzt übrigens ein fast reiner 𝜈LZustand und auch ein Majorana-Neutrino. Das sind in diesem Modell die Neutrinos, die wir in unseren Experimenten beobachten. Falls es also in der Natur so ist, das wir linkshändige und rechtshändige Neutrinos, 𝜈L und 𝜈R, sowie den Wipp-Mechanismus haben, sollten wir bald z. B. den neutrinolosen doppelten 𝛽-Zerfall experimentell beobachten (). Dies wäre ein sehr starker Hinweis auf den Wipp-Mechnismus. Das schwere Neutrino ist experimentell in diesem Fall momentan noch nicht erreichbar.

Neutrinooszillationen  S. 186 GUT  S. 258 Neutrinolosen doppelten 𝛽-Zerfall: Ist das Neutrino sein eigenes Antiteilchen?  S. 278

258

10 Die Grenzen des Standardmodells

GUT

Die große Vereinheitlichung in der ersten Abbildung gezeigt. An der y-Achse ist die inverse Kopplung 1/𝛼i gegen die Energie aufgetragen. Dies wird so gewählt (statt 𝛼i aufzutragen), weil sich dadurch im Diagramm Geraden ergeben. Hier sind 𝛼1, 2, 3 jeweils die Kopplungsstärken der elektromagnetischen, schwachen und starken Kraft. Die (geringen) Breiten der Kurven reflektieren den kleinen experimentellen Fehler bei niedrigen Energien, bei denen die Kopplungen gemessen werden. Wir sehen, dass sich die Kopplungen bei der extrem hohen Energie von etwa 1015 GeV sehr nahe kommen; sie treffen sich aber nicht in einem Punkt und auch nicht in einer sehr kleinen Fläche. Als dieser Graph zum ersten Mal 1974 gemacht wurde, waren die Unsicherheiten der gemessenen Kopplungsstärken bei niedriger Energie so hoch, Unter der Annahme, dass es jenseits des top-Quarks, dass im Diagramm statt der heutigen Linien breitere dem massereichsten Teilchen im Standardmodell, kei- Bänder aufgetragen wurden, die sich in der Tat bei ne neuen Teilchen gibt, kann man die Stärke der drei einer Energie an einem ausgedehnten Dreieck trafen. Kräfte zu sehr hohen Energien extrapolieren. Dies ist Dies führte zu Spekulationen um eine große Vereinheitlichung der Kräfte. Heute 60 60 wissen wir allerdings, dass U(1) U(1) 50 50 sich die inversen Kopplungsstärken nicht in einem 40 40 Punkt treffen. SU(2) SU(2)

Die elektrische und die magnetische Kraft sind zum Elektromagnetismus vereinigt (). Die Idee der großen vereinheitlichten Theorie (Grand Unified Theory, GUT) besagt, dass es eine einzige Kraft gibt, die den drei Kräften des Standardmodells, der elektromagnetischen, der schwachen und der starken Kraft, zugrunde liegt. Diese drei Kräfte haben sehr unterschiedliche Stärken. Die Stärke dieser Kräfte ändert sich aber, wenn man sie z. B. bei sehr viel höheren Energien betrachtet (Die laufende Kopplung ). Wie genau sich die Kräfte ändern, hängt vom Teilchenspektrum unterhalb der Energieskala ab, also welche Quarks, Leptonen, HiggsBosonen und Eichteilchen leichter als die jeweilige Energieskala sind.

1 𝛼 30

1 𝛼 30

20

20

10

10

SU(3)

0 2 10

104

106

108 1010 1012 1014 1016 1018

Energieskala [GeV]

?

SU(3)

0 2 10

104

106

108 1010 1012 1014 1016 1018

Energieskala [GeV]

Veränderung der inversen Kopplungen mit zunehmender Energie, Extrapolation im Standardmodell (links) und mit Supersymmetrie (rechts)

Spontane Symmetriebrechung im Standardmodell  S. 172 Die laufende Kopplung  S. 196 Supersymmetrie  S. 260

Interessanterweise stellte man um 1990 Folgendes fest: Wenn man das Standardmodell um die Supersymmetrie erweitert () und das supersymmetrische Spektrum bei etwa

GUT

einem TeV oder darunter ansiedelt, dann treffen sich die Kopplungen sehr wohl in einem Punkt. Allerdings liegt dieser Treffpunkt bei der noch höheren Energie von 1016 GeV. Die Steigungen der Linien ändern sich durch die zusätzlichen supersymmetrischen Teilchen im Spektrum leicht, wie im rechten Teil der Abbildung gezeigt. Ab dem Knick bei etwa 103 GeV tragen die supersymmetrischen Teilchen zur Kopplung bei. Dies motiviert die Suche nach der großen Vereinheitlichung und verdeutlicht die Bedeutung der Supersymmetrie. Wenn es eine einzige vereinheitlichte Kraft bei 1016 GeV gibt, so muss es auch eine zugrunde liegende Eichsymmetrie () geben. Das ist in der Abbildung durch die schwarze Linie gekennzeichnet. Diese neue Symmetrie muss die drei Strukturen der Symmetrietransformationen des Standardmodells beinhalten: SU(3)C, SU(2)L, U(1)Y. Die kleinste mathematische Struktur, die das leisten kann, nennt sich SU(5). SU(5) hat 24 unabhängige Phasen, zu denen es Eichtransformationen gibt, und dementsprechend 24 Eichbosonen: die 12 Eichbosonen des Standardmodells plus 12 neue, die wir Xa± 4/3, Ya±1/3 nennen. Dabei ist a = r, b, g die Farbladung und ± 4/3 und ±1/3 sind die elektrischen Ladungen. Die spontane Symmetriebrechung () durch einen Higgs-Sektor ergibt:

259

In der SU(2)L im Standardmodell gibt es die folgenden Dubletts für eine Familie (): (𝜈e, e −)L und (u, d)L. Das W ±-Eichboson der SU(2)L koppelt dabei an die Elemente des Dubletts (Die schwachen Wechselwirkung ). Ähnlich sind in SU(3)C die drei verschiedenen Farben von Quarks zu einem Triplett zusammengefasst, und sechs der acht Gluonen koppeln jeweils an zwei verschiedene Farben. In der SU(5) ist eine Familie des Standardmodells in einem Quintuplett (5) und einem Dekuplett (10) enthalten: 5 = (dRr, dRg , dRb , eL−, 𝜈eL ) 10 = (uRr, uRg , uRb , uLr , uLg , uLb , dLr , dLg , dLb , eR−) wobei z. B. uRr das rechtshändige (R) rote (r) up-Quark ist. Das W ±-Boson und die Gluonen koppeln jeweils an verschiedene Elemente des Quintupletts oder Dekupletts, genau wie im Standardmodell. Die neuen Eichbosonen X ± 4/3- und Y ±1/3 vermitteln neue Wechselwirkungen zwischen den Elementen der 5- bzw. 10-plets. Zwei Beispiele sind die Zerfälle Xr+ 4/3 ĺ u g + u b , Xr+ 4/3 ĺ e + + d ̄Rr , Yr+1/3 ĺ 𝜈e + d R̄ r , Yr+1/3 ĺ uLb + dLg .

Da X 4/3, Y 1/3 gleichzeitig an Leptonen und Quarks koppeln, werden sie auch Leptoquarks genannt. Diese Zerfälle verletzen Baryonen- und Leptonenzahl, erhalten aber die Kombination B − L. Das ermöglicht den Protonenzerfall (), wie z. B. in dem Feynman-DiaSU(5) ĺ SU(3)C × SU(2)L × U(1)Y , gramm gezeigt. Dies ist die wichtigste experimentelle so dass wir bei niedrigen Temperaturen das Standard- Vorhersage der großen Vereinheitlichung und deshalb modell zurückbekommen. Durch die Symmetriebre- wird danach intensiv gesucht. chung erhalten die neuen X ±4/3- und Y ±1/3-Eichbosoe+ u nen eine Masse von etwa 1016 GeV/c 2. Die spontane X 4/3 Symmetriebrechung im Standardmodell findet in eiu d¯ Zerfall des nem zweiten Schritt nach wie vor bei Temperaturen 𝜋 0 Protons d d von etwa 246 GeV statt. Proton

Eichsymmetrien  S. 94 Spontane Symmetriebrechung im Standardmodell  S. 172 Dubletts und Familien: Up, Down, Rechts und Links  S. 168 Die schwache Wechselwirkung  S. 166 Protonenzerfall  S. 298

260

10 Die Grenzen des Standardmodells

Supersymmetrie

Wie viel Symmetrie ist möglich? Die Supersymmetrie ist eine aufregende mögliche Erweiterung des Standardmodells. Hierbei werden die äußeren Symmetrien () um eine zusätzliche Transformation ergänzt, und zwar zwischen Teilchen mit unterschiedlichem Spin ():

𝛾̃. Der Partner vom Gluon heißt Gluino und wird g̃ geschrieben. Die Partner vom W ± und Z 0 heißen Wino und Zino und werden mit W̃ ± und Z ̃ 0 notiert.

Für die mathematische Konsistenz der Theorie muss im supersymmetrischen Fall der Higgs-Sektor erweitert Standardmodell Neue Teilchen werden. Zu dem Higgs-Boson des Standardmodells Spin 1 Spin 1_2 ⟵⟶ 0 (H ) gibt es drei weitere Spin-0-, also skalare, HiggsSpin 1_2 Spin 0 ⟵⟶ Bosonen: H̄ 0, A, H ±. Die zugehörigen supersymmetriSpin 0 Spin 1_2 ⟵⟶ schen Spin-1/2-Partner heißen Higgsinos und werden zusammengefasst als H̃u, Hd̃ geschrieben. Unser einfaFalls die Theorie invariant unter diesen Transforma- ches Standardmodell ist doch deutlich komplizierter tionen ist, dann handelt es sich um eine äußere Sym- geworden. metrie, da der Spin als Eigendrehimpuls der Teilchen eine äußere Eigenschaft in Raum und Zeit ist. Wichtig Die Supersymmetrie fordert ein Spin-0-Teilchen mit hierbei ist: Die Transformation ändert nur den Spin, derselben Masse und Ladung wie das Elektron. Das alle anderen Quantenzahlen, wie Masse, elektrische hätte man schon längst beobachten müssen – hat Ladung und Farbladung, bleiben gleich. man aber nicht. Es gibt kein Selektron mit der Masse 511 keV/c 2. Daher kann die Supersymmetrie-TransDie Supersymmetrie postuliert, dass es zu jedem formation nicht exakt sein. Sie muss eine gebrocheSpin-1/2-Teilchen (z.B. Elektron) ein neues Teilchen ne Symmetrie sein, falls sie tatsächlich existiert. Die gibt, das in jeder Hinsicht gleich ist – aber mit Spin Energieskala der Supersymmetrie-Brechung führt zu 0. Da Spin-0-Teilchen auch Skalare genannt werden, entsprechend schweren Selektronen, die noch nicht heißen die neuen Teilchen: skalares Elektron, oder kurz beobachtet werden konnten. Ähnliches gilt für alle anSelektron; Smyon, Stau, Sneutrino und Squark (Sup, deren supersymmetrischen Partner. Der LHC hat nach Sdown, Scharm, Sstrange, Sbottom und Stop). Wir intensiver Suche bisher untere Schranken von etwa 1 erweitern hierbei das Teilchensymbol um eine Schlan- TeV/c 2 für die meisten Massen gesetzt (). Die Supergenlinie: (ẽ, 𝜇̃, 𝜏̃ ); (𝜈̃e, 𝜈̃𝜇, 𝜈̃𝜏 ); (ũ, c̃, t̃ ); (d̃, s̃, b̃ ). Für die symmetrie ist also experimentell bislang nicht bestätigt. Eichbosonen (Spin 1) werden neue Spin-1/2-Partner postuliert. Diese neuen Teilchen werden mit dem Zu- Wieso führt man diese sowieso gebrochene Symmesatz „-ino“ benannt. So heißt der Partner vom Photon trie überhaupt ein? Es gibt zwei Gründe: 1. aus maPhotino und wird ebenfalls mit einer Tilde versehen: thematisch-ästhetischen Gründen, und 2. aufgrund

Spin  S. 44 Äußere und innere Symmetrien  S. 92 Neue Teilchen am LHC  S. 280

Supersymmetrie

261

wenn man zusätzlich die äußere Symmetrie nochmals um eine beliebige Transformation erweitert, dann sind alle Streuverteilungen trivial, und demzufolge findet gar keine Streuung oder Wechselwirkung mehr statt. Eine Welt, in der wir nicht leben wollen oder gar können!

Standardmodell

Supersymmetrie mit erweitertem Higgs-Sektor

eines technischen Problems im Standardmodell, das Hierarchieproblem. Beide werden im Folgenden kurz beschrieben. Ohne Symmetrieeinschränkung kann ein dreidimensionales Objekt beliebig geformt sein. Wenn es um eine Achse rotationssymmetrisch sein soll, so kann es beliebig lang sein, aber um die Symmetrieachse sieht es wie ein gedrechseltes Holzstück aus. Es gibt immer noch viele mögliche Formen, aber schon deutlich weniger als ohne Symmetrie. Wenn der Gegenstand komplett rotationssymmetrisch sein soll, also um drei Achsen, so bleibt nur noch eine Form: die perfekte Kugel. In der Teilchenphysik gibt es viele Symmetrien, und je mehr man einführt, desto restriktiver sind die möglichen Formen der Streuverteilungen, wie z. B. e +e − ĺ 𝜇+𝜇−. Es gibt nun eine außerordentliche mathematische Aussage in der Theorie, die wir kurz erläutern möchten. Man betrachtet eine Quantenfeldtheorie mit den äußeren Symmetrien des Standardmodells, also denen der speziellen Relativitätstheorie (). Erweitert man nun diese Theorie um die Supersymmetrie, dann ist das die maximale äußere Symmetrie. Das bedeutet,

Spezielle Relativitätstheorie  S. 34 GUT  S. 258 Ist das Leben auf der Erde ein Zufall?  S. 274

Somit ist die Supersymmetrie die letzte mögliche Erweiterung der äußeren Symmetrien des Standardmodells; die Theorie mit der höchstmöglichen Symmetrie. Es stellt sich die Frage, ob die Natur das Potential voll ausgeschöpft hat oder nicht, also ob die Supersymmetrie tatsächlich existiert. Das versuchen wir am LHC herauszufinden. Der zweite Punkt, das Hierarchieproblem ist noch technischer. Es geht um Korrekturen zur Higgs-Masse in der Quantenfeldtheorie. Gibt es eine höhere Energieskala jenseits des Standardmodells, wie z. B. in den GUT-Theorien (), so sind diese Korrekturen so, dass die Higgs-Masse genauso groß sein müsste wie diese neue Skala. Aber das Higgs-Boson wiegt 125 GeV/c 2 und nicht 1015 GeV/c 2. Der einzige Ausweg innerhalb des Standardmodells wäre, die Parameter der vereinheitlichten Theorie extrem abzustimmen (Ist das Leben auf der Erde ein Zufall? ), und zwar auf einen Teil in 1030! Dies erscheint extrem unnatürlich. Eine Lösung dafür bietet die Supersymmetrie, denn in der exakten Supersymmetrie sind diese Korrekturen genau null. Die Beiträge der Bosonen (Spin 0 und Spin 1) und Fermionen (Spin 1/2) heben sich genau auf; das garantiert die Symmetrie. Ein erstaunliches Resultat! Wenn die Supersymmetrie spontan gebrochen ist, so bleiben die Korrekturen klein, solange die Massen der neuen supersymmetrischen Teilchen kleiner als etwa 10 TeV/c 2 sind. Damit dieser Mechanismus greift, sollten supersymmetrische Teilchen am LHC gefunden werden.

262

10 Die Grenzen des Standardmodells

Extra-Dimensionen

Vielleicht ist die Gravitation ja gar nicht so schwach Das Standardmodell lässt einige Fragen unbeantwortet: Woher kommt der große Überschuss an Materie gegenüber Antimaterie () im Universum? Was ist der Ursprung von Dunkler Materie () und Dunkler Energie ()? Außerdem ist es bisher nicht gelungen, die Gravitation in das Standardmodell einzubeziehen oder auch nur zu verstehen, warum sie so viel schwächer als alle anderen Kräfte der Natur ist. Wie im Artikel zur Reichweite () ausführlich diskutiert wurde, gilt das natürlich nur, solange man sich im Wechselwirkungsbereich der anderen Wechselwirkungen befindet – dann aber sind die Unterschiede dramatisch. Beispielsweise ist die Gravitation bei atomaren Abständen von 10 −10 m über 30 Größenordnungen gegenüber dem Elektromagnetismus unterdrückt. Solch große Unterschiede verlangen nach einer Erklärung. Ein möglicher Erklärungsansatz sind die sogenannten Extra-Dimensionen. Diese Idee soll hier beschrieben werden, unter anderem auch deshalb, weil sich daran gut aufzeigen lässt, wie die wissenschaftliche Methode auf solche Rätsel anzuwenden ist: Ist ein möglicher Lösungsansatz für eine bestimmte Fragestellung gefunden, so ist dieser auszuarbeiten und beobachtbare Konsequenzen zu identifizieren, an denen er getestet werden kann – und dann wird getestet.

dimensionen ausbreiten können, die den anderen Wechselwirkungen und Teilchen des Standardmodells versperrt sind. In einer solchen Welt wäre die Gravitation, die wir wahrnehmen, deshalb so schwach, weil wir lediglich einen Bruchteil ihrer vollen Stärke spüren. Dieser Effekt ist in der Abbildung angedeutet. Eine mögliche Analogie ist, dass man einem Gebäude von der Kopfseite (zweidimensional) aus auch nicht ansieht, wie tief es ist (dritte Dimension), und damit weiß man z. B. auch nicht, wie viele Wohnungen sich darin befinden. Die Stärke der Gravitation, die wir wahrnehmen können, wäre genauso wenig repräsentativ für ihre wahre Stärke wie die Kopfseite eines Gebäudes für dessen wahre Größe. Allerdings hätten solche zusätzlichen Dimensionen, sofern sie existieren, auch Einfluss auf unsere Welt. Sie würden z. B. das Newton’sche Gravitationsgesetz modifizieren, denn n Extra-Dimensionen würden das Newton'sche Gravitationsgesetz von 1/r 2 auf 1/r 2+n ändern. Das ist eine naheliegende Verallgemeinerung der geometrischen Herleitung des Coulomb-Gesetzes, die wir im Artikel zum Confinement () besprochen haben. Da aber das Newton'sche Kraftgesetz experimentell bestätigt

Schwerkraft

Die Idee ist hierbei, dass die Gravitation deshalb so schwach sein könnte, weil die Gravitationsfelder sich neben den drei Raum- und der einen Zeitdimension außerdem noch in zusätzliche Raum-

Schwerkraft

ExtraDimensionen Unser 3D Universum in 2D dargestellt

Materie und Antimaterie  S. 290 Dunkle Materie  S. 268 Dark Sector: Dunkle Energie  S. 270 Über die Reichweite von Wechselwirkungen  S. 54 Confinement  S. 192

3D Universum in 1D dargestellt

Extra-Dimensionen

ist, dürfen sich die zusätzlichen Dimensionen nicht unendlich ausdehnen, sondern müssen z.B. auf einen Kreis kompaktifiziert sein. Auch das ist in der Abbildung dargestellt.

263

technischem Aufwand. Die Abbildung unten zeigt den Aufbau, mit dem es möglich war, das Newton’sche Gravitationsgesetz auf 55 μm = 55 ∙ 10−6 m zu bestätigen. Bei der Durchführung des Experiments2 führt die obere Lochscheibe über der unteren eine schwingende Um die Schwäche der Gravitation zu erklären, ist für Drehbewegung um die vertikale Achse aus, deren zeitdie Extra-Dimensionen eine gewisse Mindestgröße er- licher Verlauf gemessen wird – mit einer faszinierenden forderlich. Andererseits darf ihre Ausdehnung R nicht Sensitivität: Die Apparatur registriert sogar, wenn Rezu groß sein, da für Abstände kleiner als R die oben gentropfen auf den Bäumen außerhalb des Labors das erwähnte Modifikation des Newton’schen Gesetzes Gravitationsfeld ändern. einsetzen würde. Es zeigt sich, dass auch die Anzahl der Extra-Dimensionen eine Rolle spielt: Will man Weitere Tests auf zusätzliche Dimensionen kann man mit dieser Idee mit nur einer zusätzlichen Dimension am LHC durchführen (). Außerdem ist es überradie Stärke der Gravitation in die Größenordnung der schenderweise möglich, die Abkühlung eines Neutschwachen Wechselwirkung bringen, dann müsste die- ronensterns nach einer Supernovaexplosion auf die se so groß sein, dass bereits die Planetenbewegungen Existenz der beschriebenen Extra-Dimensionen zu in unserem Sonnensystem nicht mehr durch die 1/r 2- testen, da dessen Wärme von der Gravitation auch in Kraft bestimmt werden. Das ist klarerweise nicht der eben diese zusätzlichen Dimensionen getragen werden Fall.1 Ab zwei Extra-Dimensionen wird es spannend, könnte, so dass der Stern schneller abkühlen würde als da sich nun die Gravitation erst bei Abständen von we- nach dem Standardmodell erlaubt. Diese spannende niger als einem Millimeter ändern würde. Idee wird im Artikel zu Supernovae () ausgeführt. Wie kann man das überprüfen? Eine Möglichkeit sind direkte Tests. Dazu schaut man sich zum Beispiel an, ob sich eine pendelnde Masse wirklich genau so verhält, wie das Gravitationsgesetz dies vorgibt. Das klingt einfach; will man aber eine solche Messung auf Entfernungen kleiner als einen Millimeter machen, bedarf es schon einiges an Mit diesem Drehpendel konnte man die Gültigkeit des Newton’schen Gravitationsgesetzes bis auf Mikrometer-Abstände nachweisen. Der Durchmesser der Lochscheibe ist zehn Zentimeter. Die Aufhängung ist so gestaltet, dass sich der obere Teil gegenüber der unteren Lochscheibe um die Symmetrieachse drehen kann.

1

In der Tat werden Abweichungen vom Newton’schen Gravitationsgesetz beobachtet, aber diese können vollständig mit der allgemeinen Relativitätstheorie erklärt werden. 2 Experiment: E. G. Adelberger et al. 2009, Progress in Particle and Nuclear Physics, 62, 102 Zusätzliche Raumdimensionen am LHC  S. 284 Supernovae als Teilchenphysiklabore  S. 300

264

10 Die Grenzen des Standardmodells

Stringtheorie

Eine vibrierende Schnur als Vereinheitlichung Die Stringtheorie ist eine hypothetische, also bisher unbewiesene Theorie für die Erweiterung des Standardmodells. Sie ist aber unser bester Kandidat, um ein ambitioniertes, grundlegendes Problem zu lösen: die Vereinheitlichung der drei Kräfte des Standardmodells mit der Gravitation zu einer Quantentheorie.

rere Elektronen gibt), die allerdings unterschiedlich angeregt sein können. Wenn eine Schnur auf eine bestimmte Weise schwingt, ist sie ein Elektron; schwingt sie auf eine andere Weise, ein Photon. Dies stellt eine erstaunliche Vereinheitlichung dar: Alle Teilchen sind verschiedene Manifestationen ein und derselben Art von Schnur. Interessanterweise sind die Eichbosonen Das Standardmodell ist eine Quantenfeldtheorie, in der notwendigerweise offene Schnüre und die Fermionen, die grundlegenden Bestandteile, z. B. das Elektron und wie das Elektron oder die Quarks, sind geschlossene das Photon, durch Quantenfelder für jeweils verschie- Schnüre. Das äquivalent von einem Feynman-Diadene Punktteilchen beschrieben werden. Die Punkt- gramm – hier für einen Zerfall – wird im unteren Teil teilchen sind unabhängig und haben unterschiedliche der Abbildung für offene und geschlossene Schnüre Quantenzahlen, z. B. Spin oder elektrische Ladung. gezeigt.

Zeit

Die Stringtheorie basiert stattdessen auf der Annahme, Wenn man eine quantisierte Stringtheorie formulieren dass es nur eine einzige Sorte von Grundbaustein gibt, möchte, tauchen im Vergleich zur Quantenfeldtheorie nämlich eine sehr sehr kleine (10 −35 m) Schnur (Schnur für Punktteilchen einige Besonderheiten auf. = string, im Englischen). Diese Schnur kann offen oder geschlossen sein, siehe ers1. Aus der Struktur der allgemeinen te Abbildung oben links und oben Relativitätstheorie wissen wir, dass rechts. Wenn sich diese Schnüre in einer quantisierten Theorie der bewegen, streichen sie wie gezeigt Gravitation das Austauschteilchen in der Raum-Zeit eine offene Fläein masseloses Spin-2-Teilchen sein che bzw. eine Röhre aus. Bei einem muss, nicht Spin 1, wie die EichboPunktteilchen ist es immer eine Lisonen im Standardmodell. Es wird Raum nie. Graviton genannt. Interessanterweise gibt es in der quantisierten StringDie verschiedenen Teilchen, wie theorie immer automatisch genau ein wir sie kennen, sind verschiedene masseloses Spin-2- Teilchen, das man Grundschwingungen dieser einen mit dem Graviton identifizieren kann. Art von Schnur. Es gibt durchaus Das Graviton ist eine besondere Anoffener String geschlossener String mehrere Schnüre (so wie es mehregung der geschlossenen Schnur, die

Stringtheorie

265

immer erlaubt ist. Somit ist die Stringtheorie auch automatisch eine quantisierte Theorie der Gravitation. Dies macht sie so überaus attraktiv! Alle anderen Versuche, die Gravitation zu quantisieren, sind bisher gescheitert.

Dies bedeutet, dass es für die Anregungen auf der Schnur eine Symmetrie gibt, die verschiedene Spins in Bezug setzt. Dies ist auch eine Motivation für die niederenergetische Supersymmetrie ().

2. Es gibt in der Stringtheorie nur eine Energie- oder Massenskala. Das ist die Planck-Skala bei etwa 1019 GeV. Dort werden Quantengravitationseffekte signifikant. Dies ist eine extrem hohe Energie, um die Effekte der Stringtheorie direkt zu erproben, weit jenseits aller heutigen Experimente. Allerdings hat man bewiesen, dass die allgemeine Relativitätstheorie sowie die Quantenfeldtheorie als niederenergetische Grenzwerte der Stringtheorie konsistent erzielt werden. (Dies ist eine hohe Hürde, welche neue Theorien erfüllen müssen ().) Das kann man sich so vorstellen, als würde man eine einen Meter lange Leuchtstoffröhre betrachten: Wenn man sich weit genug entfernt, erscheint sie als punktförmige Lichtquelle, nicht als Stab. Der Planck-Energieskala entspricht nach der Quantentheorie die Planck-Längenskala von etwa 10 −35 m. Das ist die Länge der Schnur, ein Proton ist 10 20 Mal größer! Die niedrigeren Energieskalen, wie die elektroschwache Energieskala, entstehen durch Renormierung der Kopplungen ().

4. Die supersymmetrische, quantisierte Stringtheorie kann nur in 10 Raumzeit-Dimensionen konsistent formuliert werden. Bei den Energieskalen, die wir im Alltag und im Labor erproben, erleben wir nur 4 Raumzeit-Dimensionen. Die übrigen 6 Dimensionen müssen demnach, wie wir sagen, kompaktifiziert sein (). Als Beispiel kann man sich das Brückenkabel der Bonner Nordbrücke mit Ameisen darauf vorstellen, wie in der Abbildung. Von Weitem betrachtet, sieht das Kabel wie eine eindimensionale Schnur aus. Wenn man ganz nah herangeht, so sieht man eine Ameise, die sich in zwei Richtungen bewegen kann. Eine sehr lang ausgedehnte Richtung entlang des Kabels und eine kurze, senkrecht dazu. Letztere bildet einen geschlossenen Kreis, um das Kabel herum, so dass die Ameise nach kurzer Zeit wieder ihren Anfangspunkt erreicht. Diese zweite Richtung ist kompaktifiziert, hat also nur eine endliche Ausdehnung. Dies muss mit 6 der 10 Dimensionen geschehen.

3. Die quantisierte Stringtheorie muss die Supersymmetrie mit beinhalten, damit die Theorie auch Fermionen enthält.

Ein Brückenkabel hat für Ameisen zwei Dimensionen.

Die Hürden des Erfolgs  S. 250 Renormierung  S. 104 Spontane Symmetriebrechung  S. 58 Supersymmetrie  S. 260 Extra-Dimensionen  S. 262

Die Stringtheorie ist eine faszinierende, konzeptionelle Erweiterung der Quantenfeldtheorie zur Vereinheitlichung aller vier Kräfte in der Natur. Leider ist nicht klar, ob und wann wir sie experimentell überprüfen können.

266

10 Die Grenzen des Standardmodells

Urknall

Das erste Teilchenlabor Aus Beobachtungen wissen wir, dass sich das Universum ausdehnt und abkühlt. Es muss daher am Anfang den Urknall, einen extrem dichten und heißen Anfangszustand gegeben haben. Höhere Temperaturen bedeuten höhere Teilchenenergien. Daher entstanden in dieser Phase alle möglichen Teilchen, deren Eigenschaften einen großen Einfluss auf die Entwicklung des Universums hatten. Es besteht ein sehr enger Zusammenhang zwischen der heutigen Struktur des Universums und den Eigenschaften der Elementarteilchen. Deshalb lohnt sich ein Blick in die frühen Phasen des Universums nach dem Urknall, dem ersten Labor der Teilchenphysik.

das Universum auf eine Temperatur von etwa 1015 GeV abgekühlt hatte.1 Danach wurde durch eine spontane Symmetriebrechung () die Stärke der starken Wechselwirkung von der Stärke der beiden anderen Kräfte unterscheidbar.

Selbst in sehr weit voneinander entfernten Regionen des Universums beobachten wir gleiche Bedingungen, wie Temperatur oder Strukturgrößen. Es wird angenommen, dass diese Homogenität durch eine kurze Phase plötzlicher Ausdehnung um viele Größenordnungen, der sogenannten Inflation, in der Frühphase des Universums erzeugt wurde. Die Inflation lässt sich in der mathematischen Beschreibung des Universums zwar verstehen, es müsste allerdings ein Feld – das sogenannte Inflaton – existieren, zu dessen Existenz es bisher keinen experimentellen Beweis gibt. Wir vermuten, dass kurz nach dem Urknall (wirklich kurz, etwa 10 −35  s) die starke, schwache und elektromagnetische Kraft zu einer „Urkraft“ vereint waren (GUT ), und zwar so lange, bis sich

1

Da die Temperatur ein Maß für die mittlere Energie der Teilchen ist, ist es praktikabel, sie in Energieeinheiten anzugeben.

GUT  S. 258 Spontane Symmetriebrechung  S. 58

Urknall

Erst ab einer Abkühlung auf etwa 103 GeV können wir vergleichsweise sicher sein, was geschehen ist, da solche Energien in Beschleunigern wie dem LHC erreicht werden und wir die Vorgänge messen können. Seit dem Beginn des Urknalls waren bis zu dieser Temperatur nur etwa eine Pikosekunde (1 ps = 10 −12 s) vergangen. Spätestens ab diesem Zeitpunkt existierten alle Teilchen, die wir im Standardmodell kennen. Fällt bei weiterer Abkühlung die Temperatur und damit die mittlere Energie unter die Masse mc 2 eines Teilchens, vernichten diese sich mit ihren Antiteilchen zu Strahlung. So verschwanden nach und nach erst die schweren, dann die leichteren Teilchen, bis nur noch die leichten uund d-Quarks, Elektronen, Myonen und Neutrinos mit ihren jeweiligen Antiteilchen vorhanden waren. In diesem Verlauf kam es zu einer weiteren Symmetriebrechung, in deren Folge das Higgs-Teilchen den Bosonen der schwachen Wechselwirkung eine Masse gab. Danach waren auch die elektromagnetische und schwache Kraft unterscheidbar.

267

ten daher im Mittel nicht mehr miteinander und ihre Vernichtung war gestoppt. Die im Urknall erzeugten Neutrinos existieren bis heute und sind zusammen mit Photonen die häufigsten unter den bekannten Teilchen. Lange hielt man sie daher für die perfekte Erklärung der Dunklen Materie (), was sich aber als falsch herausgestellt hat. Im Verlauf der bisher beschriebenen Ereignisse müssen daher noch weitere uns noch unbekannte Teilchen entstanden sein.

Nach nur zwei Minuten, bei etwa 0,1  MeV, bildeten Protonen und Neutronen die ersten leichten Elemente, deren Häufigkeit man heute messen kann (Nukleosynthese im Urknall ). Dies macht die Entstehung der leichten Elemente zum frühesten durch Messungen belegten Stadium des Urknalls. Danach dauerte es 10.000 Jahre zum nächsten Meilenstein. Denn dann, bei einer Temperatur, die 1 eV entspricht, war die Energie der Photonen so weit gefallen, dass trotz ihrer ungeheuren Überzahl ihre Energiedichte unter die der Materieteilchen fiel. War das Universum bis dahin durch Bei einer Temperatur von etwa 200 MeV bildeten sich Strahlung dominiert, so überwog ab nun die Materie. aus den Quarks die ersten Hadronen. Die Quarks () Erst damit konnte die Bildung der Strukturen beginnen, und Antiquarks wurden hauptsächlich zu Pionen (z. B. aus denen später Galaxien entstanden. 𝜋+ = ud ̄) gebunden. Lediglich ein winziger Überschuss an Quarks im Vergleich zu Antiquarks von etwa einem 380.000 Jahre nach dem Urknall, die Temperatur entin einer Milliarde bildete Protonen (uud) und Neutro- sprach etwa 0,3 eV – immer noch eine 1.000 mal hönen (udd). Wieso dieser winzige Überschuss von Ma- here Temperatur als heute – konnten sich Elektronen terie gegenüber Antimaterie existiert, ist im Standard- und Atomkerne zu neutralen Atomen binden. Wurden modell bisher unverstanden (Baryogenese ). Photonen zuvor an den geladenen Atomkernen und Elektronen gestreut, konnten sie sich nun nahezu frei Nach etwa einer Sekunde, bei etwa 2 MeV, war die durch das Universum bewegen und werden heute als Dichte von Neutrinos und Elektronen, den einzigen überall vorhandene Strahlung des kosmischen Mikrosonst verbliebenen Teilchen, soweit gesunken, dass die wellenhintergrundes () gemessen. Die Entdeckung Zeit zwischen zwei Reaktionen eines Neutrinos länger dieser Hintergrundstrahlung im Jahre 1964 gilt daher wäre als das Alter des Universums. Neutrinos reagier- als erster erfolgreicher Test der Urknall-Theorie.

Das Quarkmodell  S. 14 Baryogenese  S. 304 Dunkle Materie  S. 268 Nukleosynthese im Urknall  S. 306 Kosmischer Mikrowellenhintergrund  S. 310

268

10 Die Grenzen des Standardmodells

Dunkle Materie

Eine Herausforderung für die Elementarteilchenphysik Seit Johannes Kepler und Isaac Newton die Gesetze der Planetenbewegung aufstellten und viel später Albert Einstein das Verständnis entscheidend verbesserte, können wir die Bahnen und Geschwindigkeiten aller Objekte im Sonnensystem sehr genau berechnen. So genau, dass wir Sonden zu anderen Planeten schicken können, die vorbestimmte Orte präzise erreichen. Daher ist es umso erstaunlicher, dass die dabei verwendeten bekannten Gesetze der Gravitation nicht zu gelten scheinen, wenn wir größere Skalen betrachten, wie Galaxien oder Galaxienhaufen. Bei großen Entfernungen kreisen Objekte mit höherer Geschwindigkeit umeinander, als dies nach dem Gravitationsgesetz der Fall sein sollte. Dies haben in den 1930er Jahren Jan Hendrik Ort und Fritz Zwicky in Galaxienhaufen beobachtet. In den 1960er Jahren wurde dies durch Vera Rubin mit systematischen Untersuchungen von Galaxien bestätigt. So sollten Galaxienhaufen aufgrund der zu hohen Fliehkräfte eigentlich auseinanderfliegen. Das passiert aber nicht, weshalb die Massenanziehungskraft stärker sein muss, als wir annehmen. Dazu gibt es zwei mögliche Lösungsansätze: Entweder müssen wir die Gravitationsgesetze, wie wir sie aus dem Sonnensystem kennen, auf größeren Entfernungen modifizieren, oder es gibt zusätzliche, für uns unsichtbare Materie im Universum, welche Kreisen Objekte um eine Galaxie, besteht eine Balance zwischen Massenanziehungskraft und Zentrifugalkraft. Die gemessene Geschwindigkeit ist bei großen Abständen aber deutlich höher, als mit der sichtbaren Materie allein zu erwarten ist. Die dadurch verursachte größere Zentrifugalkraft ist zu groß, als dass sie nur mit der Anziehungskraft der sichtbaren Materie ausgeglichen werden könnte.

für eine größere Massenanziehung sorgt. Es ist bisher nicht gelungen, eine widerspruchsfreie Änderung der Gravitationsgesetze zu formulieren, die alle Beobachtungen unter einen Hut bringt, weshalb wir von zusätzlicher Materie ausgehen. Da diese Materie bisher unsichtbar ist, wird sie Dunkle Materie genannt. Dabei handelt es sich nicht um eine kleine Korrektur, vielmehr besteht mit etwa 85 % der überwiegende Teil der Materie im Universum aus Dunkler Materie. Dass die Natur des größten Teiles unseres Universums unbekannt ist, ist einerseits etwas unheimlich, andererseits aber eine spannende Frage für Forschende in Kosmologie und Teilchenphysik. Zur Erklärung, woraus die Dunkle Materie besteht, scheiden alle bekannten Elementarteilchen des Standardmodells aus. Tatsächlich sind die astrophysikalischen Beobachtungen der Dunklen Materie der bisher eindeutigste Beweis, dass das Standardmodell der Teilchenphysik erweitert werden muss.

Dunkle Materie

Bevor man neue Elementarteilchen als Erklärung heranzieht, mag es naheliegender sein, nicht-leuchtende Objekte aus normaler Materie, wie z. B. schwarze Löcher, hinter der Dunklen Materie zu vermuten. Sie werden als MACHOs bezeichnet, was für Massive Compact Halo Objects steht. Aber alle Versuche mit aufwändigen Beobachtungskampagnen MACHOs in ausreichender Zahl aufzuspüren, waren erfolglos, so dass man sie zur Erklärung der Dunklen Materie ausschließen kann. Genaue Untersuchungen des kosmischen Mikrowellenhintergrundes () zeigen uns auch heute noch das Muster der Schwingungen und Dichteschwankungen von Elektronen und Atomkernen in der Frühphase des Universums. Erstaunlich dabei ist, dass die beobachteten Dichteschwankungen bei Weitem nicht ausreichen, um daraus später die heute beobachtete Struktur im Universum mit Galaxien, Galaxienhaufen usw. zu bilden. Zusätzlich zu Elektronen und Atomkernen müssen also weitere Formen der Materie existieren, die schon lange vor der Entstehung des Mikrowellenhintergrundes begonnen hatten, Strukturen zu bilden. Dabei kann es sich nur um ungeladene Teilchen handeln, da sie ansonsten die messbaren Dichteschwankungen des Mikrowellenhintergrundes sichtbar beeinflusst hätten. Die einzigen bekannten ungeladenen Elementarteilchen sind Neutrinos, die aber viel zu leicht sind und daher in der Frühphase des Universums viel zu schnell waren, um Strukturen bilden zu können (). Um früh Strukturen zu bilden, müssen die Teilchen langsam sein – also entweder schwere Teilchen sein oder aus anderen Gründen in Ruhe erzeugt werden – und außer an der gravitativen Wechselwirkung maximal an der schwachen Wechselwirkung teilhaben. Physikerinnen und Physiker nennen die hypothetischen schweren

Kosmischer Mikrowellenhintergrund  S. 310 Das Größte und das Kleinste  S. 312 Die Suche nach Axionen  S. 296 Das Rätsel der Dunklen Materie  S. 286 Direkte Suche nach der Dunklen Materie  S. 288

269

Zusammensetzung des Universums: 71,4 % bestehen aus einer unbekannten Energieform, sogenannter Dunkler Energie, 24 % aus Dunkler Materie. Nur 4,6 % bestehen aus der uns bekannten Materie.

Teilchen WIMPs (Weakly Interacting Massive Particles) – „schwach wechselwirkende massive Teilchen“. Mit dieser Bezeichnung werden kurz und knapp die notwendigen Eigenschaften zusammengefasst, die ein Teilchen zur Erklärung dieser Dunklen Materie haben muss. Es gibt allerdings noch eine Variante, in der auch superleichte Teilchen, sogenannte Axionen (), die Dunkle Materie erklären könnten, wenn sie als langsame Teilchen erzeugt werden. Es gibt weltweit viele Anstrengungen WIMPs oder Axionen () aufzuspüren, sei es, sie direkt () als Teil der uns umgebenden Dunklen Materie nachzuweisen, nach indirekten astrophysikalischen Signalen zu suchen, die von möglichen Zerfallsprodukten erzeugt werden, oder sie an Hochenergiebeschleunigern zu erzeugen. Bisher hat man keine Spur von ihnen gefunden. Es bleibt die erstaunliche Erkenntnis, dass bisher die überwiegenden Bestandteile des Universums für uns unbekannt bleiben und dass die von uns gewonnenen Erkenntnisse zur elementaren Struktur der Materie unvollständig sind.

270

10 Die Grenzen des Standardmodells

Dark Sector: Dunkle Energie

Eine Herausforderung für die Kosmologie und Elementarteilchenphysik Das gesamte Universum dehnt sich aus, und zwar vergleichbar einem Luftballon, den man aufbläst. Das dreidimensionale Universum wird durch die zweidimensionale Oberfläche des Ballons dargestellt. Wenn man auf den Ballon wie in der Abbildung unten Papiergalaxien klebt und ihn dann aufbläst, so wächst der Abstand zwischen allen Galaxien, weil die Ballonhaut sich zwischen den Papierschnipseln ausdehnt. Die Papierschnipsel selbst, die Galaxien, dehnen sich jedoch nicht aus.

zum roten Farbbereich, verschoben, wie im Bild unten auf der rechten Seite gezeigt. Die Lichtwellen sind auf ihrem langen Weg zur Erde im sich ausdehnenden Raum gestreckt worden. Außerdem gilt: Je weiter eine Galaxie von uns entfernt ist, desto mehr ist ihr Spektrum zum Roten verschoben. Auf dem Ballon verhält es sich ähnlich: Papierschnipsel, die einen größeren Abstand zueinander haben, entfernen sich rascher.

Das sich ausdehnende Universum kann im Rahmen einer ursprünglichen kosmologischen Explosion, eiWie beobachten wir die Ausdehnung unseres realen nem Urknall (), verstanden werden. Die allgemeine dreidimensionalen Universums? Alle Atome senden Relativitätstheorie sagt uns, dass die gesamte Materie, Licht aus, wenn sie angeregt werden, und zwar mit also die gesamte Masse der Teilchen sowie die gecharakteristischen Wellenlängen, den Atomspektren samte elektromagnetische Strahlung im Universum, (). Diese Spektren können wir im Labor genau mes- zusammen stetig zu einer Verlangsamung der Ausdehsen. Alle Sterne in Galaxien sind heiß und enthalten nungsgeschwindigkeit führen müssten. Wie bei der Atome, die leuchten. Ihr Licht können wir auf der Erde Gravitation auf der Erde: Wenn man einen Ball vertikal mit Teleskopen empfangen und die Spektren ausmes- hochwirft, so entfernt er sich eine Weile und wird imsen. Diese galaktischen Spektren sind alle im Vergleich mer langsamer, bis er stehen bleibt und umkehrt. zur Messung im Labor zu längeren Wellenlängen, also In jüngerer Zeit kam neben den Ausmessungen der Galaxienspektren durch verbesserte Beobachtungstechniken auch eine große Anzahl von Supernova-Beobachtungen hinzu. Thermonukleare Supernovae (Typ Ia) sind explodierende Sterne, die physikalisch sehr gut verstanden sind. Sie schlucken Masse aus ihrer Umgebung und explodieren bei einer bestimmten Masse. Diese Masse wird dabei in Licht umgewandelt, so dass die Supernovae Ia eine bekannte absolute Leuchtkraft haben. Wenn man die Leuchtkraft auf der Erde misst, Das Universum dehnt sich aus, ähnlich wie die zweidimensionale dann kann man aus dem Verhältnis der Vorhersage und Oberfläche eines Luftballons beim Aufpusten.

Spektren: Zufall und Vorhersage  S. 42 Urknall  S. 266

Dark Sector: Dunkle Energie

der Messung sehr gut die Entfernung der Supernova bestimmen. Zusammen mit der eben besprochenen Rotverschiebung erhält man verbesserte Messungen der Ausdehnungungsgeschwindigkeit des Universums. Dabei wurde festgestellt, dass seit etwa 10 Milliarden Jahren das Universum angefangen hat, sich beschleunigt auszudehnen! Dies bedeutet, dass die Galaxien immer schneller auseinander fliegen, nicht langsamer. Dies ist nur mit (massiver) Materie und (elektromagnetischer) Strahlung nicht zu verstehen. In einem sich ausdehnenden Universum bleibt die Menge an Materie gleich, aber das Volumen nimmt zu. Somit nimmt die Energiedichte der Materie ab. Bei der Strahlung fällt das Verhältnis sogar noch schneller, da sich durch die Ausdehnung des Universums die Wellenlänge vergrößert. In der allgemeinen Relativitätstheorie kann man neben Materie und Strahlung noch einen weiteren Energiebeitrag hinzufügen, eine kosmologische Konstante. Dies ist eine räumlich und zeitlich konstante Energiedichte, ganz im Gegensatz zur Materie und Strahlung. Diese Energie ist nicht direkt beobachtbar, sie ist dunkel, und wird deshalb auch dunkle Energie genannt. Die Gleichungen der allgemeinen Relativitätstheorie ergeben, dass eine solche konstante Energiedichte im Universum, wenn sie dominiert, zu einer sich exponentiell beschleunigenden Ausdehnung führt. Dann sieht es so aus, als ob sich die verschiedenen Teile des Universums abstoßen! Dieses Verhalten ist in Übereinstimmung mit der Beobachtung. Absorptionslinien im Spektrum der Sonne (oben) und einer entfernten Galaxie (unten). Die Linien sind ins Rote verschoben.

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Ein sehr dichter, weißer Zwergstern (links) saugt Materie von seinem Begleiter. Wenn er dabei eine kritische Masse erreicht, explodiert er als Supernova (Typ Ia).

Interessanterweise ergibt die Vakuumenergie des Higgs-Bosons nach der spontanen Symmetriebrechung im Standardmodell genau eine solche konstante Energiedichte im Universum. Sie ist allerdings über 60 Größenordnungen zu groß! Einen Wert, der unsere Existenz ausschließen würde. Das Universum wäre schon so früh auseinanderexpandiert, dass nie Sterne und Planeten entstanden wären. Dies wird als das Problem der kosmologischen Konstante beschrieben. Zur Lösung braucht man einen Mechanismus, der den Beitrag des Higgs-Bosons zur Vakuumenergiedichte ausgleicht – durch eine Symmetrie. Gleichzeitig muss aber durch ein anderes unbekanntes skalares Feld ein sehr viel kleinerer Beitrag zur Vakuumenergiedichte erzeugt werden, der die Beobachtungen wiedergibt. Diese Probleme sind momentan ungelöst. Es sollte erwähnt werden, dass die Interpretation der Supernova-Daten nicht so einfach ist, wie hier beschrieben. Die absolute Leuchtkraft der Supernovae ist nicht immer genau gleich. Es gibt noch nicht vollständig verstandene Effekte in der Streuung der Daten. Obwohl es für die Entdeckung der beschleunigten Expansion anhand von Supernova-Daten 2012 den Nobelpreis gab, wird die Interpretation weiterhin kontrovers diskutiert.

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10 Die Grenzen des Standardmodells

Das starke CP-Problem Wie Theoretiker Probleme wegwaschen

Zwei wichtige Symmetrien () in der Teilchenphysik sind die Punktspiegelung, P (Paritätstransformation) und die Ladungstransformation C, bei der jedes Teilchen durch sein Antiteilchen ersetzt wird. C, P und die kombinierte Symmetrie CP werden im Standardmodell nur in der schwachen Wechselwirkung verletzt (). Das ist überraschend, denn aufgrund seiner komplizierten Struktur sollte die QCD auch die CPSymmetrie verletzen. Die Stärke der zugehörigen CPverletzenden Wechselwirkung wird mit der Variable Θ parametrisiert – die entsprechende Wechselwirkung heißt Θ-Term. Θ verhält sich wie ein Winkel und kann somit beliebige Werte zwischen 0 und 360 Grad annehmen. Da ein nicht verschwindender Θ-Term jedoch notwendigerweise zu einem nicht verschwindenden elektrischen Dipolmoment () des Neutrons führen würde und ein solches trotz extrem präziser Messungen noch nicht gefunden wurde, wissen wir, dass die starke Wechselwirkung die CP-Symmetrie höchstens sehr schwach verletzt. Experimentell muss der Wert von Θ kleiner als 10 −10 Grad sein. Obwohl die starke Wechselwirkung die CP-Symmetrie verletzen darf, macht sie davon anscheinend keinen Gebrauch. Warum, ist unverstanden – dies wird als das starke CPProblem bezeichnet.

len Quinn (Ursprünge der Teilchenphysik ) und dem Physiker Roberto Peccei. Hierbei wird ein zusätzliches skalares Feld sowie eine zusätzliche Symmetrie der QCD postuliert. Die Konstruktion funktioniert so: Das skalare Feld erzeugt ein Potential in Sombreroform. Dies führt zu einer spontanen Symmetriebrechung (), die dadurch veranschaulicht wird, dass eine Kugel von der Mitte des Sombreros in den Rand rollt und dort zum Liegen kommt. Dies ist verbunden mit dem Auftreten eines neuen, zunächst masselosen Teilchens (analog den Mesonen 𝜋, 𝜂 und K in der starken Wechselwirkung), das wir a nennen wollen. Das Ganze ist so gemacht, dass dieses zusätzliche Teilchen genauso an Gluonen koppelt wie der Theta-Term – Θ und a treten also immer gemeinsam auf. Bisher haben wir noch nichts gewonnen: Es kann immer noch eine beliebige CP-Verletzung geben. Peccei und Quinn haben jedoch darauf hingewiesen, dass die komplexe Struktur der QCD dazu führt, dass die erwähnte neue Symmetrie zusätzlich zur spontanen Symmetriebrechung auch noch explizit gebrochen ist. In dem Sombrerobild entspricht das einer Neigung des Hutes. Gemäß Konstruktion ist die Neigungsrich-

Eine Lösung dieses Problems wäre die Identifikation eines natürlichen Grundes, warum der Wert von Θ so klein ist. Ein Mechanismus, der dies leistet, ist höchst wahrscheinlich außerhalb des Standardmodells zu suchen. Eine sehr populäre Lösung ist der Peccei-QuinnMechanismus, vorgeschlagen von der Physikerin HeDas Sombrero-Potential

Symmetrien  S. 56 Diskrete Symmetrien: P- und CP-Verletzung  S. 178 und Die Verletzung der CP-Symmetrie in B-Mesonen  S. 242 Die Suche nach elektrischen Dipolmomenten  S. 294 Ursprünge der Teilchenphysik  S. 6 Spontane Symmetriebrechung  S. 58

Das starke CP-Problem

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tung genau so, dass der Effekt von Θ immer von a exakt kompensiert wird, so dass es keine CP-Verletzung mehr gibt. Somit ist ein konstanter Teil des a-Feldes gebunden; es muss ja die Wechselwirkung proportional zu Θ kompensieren. Doch sind gegenüber diesem Grundzustand noch Anregungen von a möglich. Diese Anregungen entsprechen einem Teilchen, das wir Axion nennen. Durch die explizite Symmetriebrechung bekommt das Axion eine Masse. Den Mechanismus kann man sich wie eine um den Aufhängepunkt symmetrische Schiffschaukel vorstellen. Ohne Schwerkraft könnte diese in jede beliebige Richtung weisen – alle Winkel sind gleichberechtigt, es liegt eine Symmetrie vor. Das gilt nicht mehr, wenn die Schwerkraft wirkt und diese Symmetrie bricht. Dann hängt die Schaukel immer nach unten. Und das gilt selbst dann noch, wenn der Boden geneigt ist. Der geneigte Boden entspricht Θ ≠ 0 und somit gäbe es eine starke CP-Verletzung, wenn die Schaukel dem Boden folgte. Das tut sie jedoch nicht.

Die Schiffschaukel hängt immer gerade, egal wie der Untergrund geneigt ist.

Wir wissen, dass z. B. neutrale Pionen in zwei Photonen zerfallen können. Da Axionen (wenn sie existieren) wie Pionen ihre Existenz einer spontanen Symmetriebrechnung verdanken, sollte man erwarten, dass Axionen das Gleiche tun. Dies ist eine experimentell überprüfbare Konsequenz der vorgeschlagen Lösung des starken CP-Problems. Die Suche nach Axionen () versucht also, die Frage zu klären, ob die CP-Erhaltung der starken Wechselwirkung einen tieferen Grund Damit wird das starke CP-Problem gelöst! Die Lösung hat oder doch nur Zufall ist. Die Motivation zu dieser hat aber ihren Preis in Form eines neuen Teilchens, Suche wird erheblich verstärkt durch den Umstand, dem Axion. Das kann man übrigens auch in unserer dass die Eigenschaften von Axionen sie zu einem perAnalogie sehen, denn die Schiffschaukel kann um ihre fekten Kandidaten der Dunklen Materie () machen. Ruhelage schwanken. Schwingungen um die Ruhela- Axionen, die im frühen Universum entstanden sind, ge entsprechen dem Axion. Bewegt sich eine der bei- könnten damit den Großteil der Materie im Univerden Personen in der Schaukel, wird die Schaukel in sum ausmachen. Schwingung geraten. Die Person hat etwas von ihrer Bewegungsenergie an die Schaukel abgegeben. Teil- Zwei unabhängige Probleme auf einen Schlag lösen zu chenphysikalisch würde man sagen, sie hat ein Axion können, macht Axionen zu sehr beliebten Teilchen unemittiert. Die zweite Person wird daher auch wackeln. ter den Physikerinnen und Physikern. Der NobelpreisÜber den Austausch eines Axions – über die Schwin- träger Frank Wilczek gab den Axionen ihren Namen gung der Schaukel – haben die beiden Personen Ener- nach einem komerziellen Waschmittel, da das Teilchen gie ausgetauscht. zwei Probleme so schön „wegwaschen“ kann.

Die Suche nach Axionen  S. 296 Dunkle Materie  S. 268

274

10 Die Grenzen des Standardmodells

Ist das Leben auf der Erde ein Zufall? Verstehen wir, warum Leben entstehen konnte?

Basierend auf Darwins Evolutionstheorie wird häufig diskutiert, ob die Entstehung von Leben durch zufallsgesteuerte Mutationen realistisch ist. Schließlich ist die Bildung von komplexen Molekülen, die dafür notwendig sind, bereits extrem unwahrscheinlich. Allerdings gibt es im Universum sehr viele Planeten – und es gibt ja auch Gewinner im Lotto. So ist es doch zumindest nachvollziehbar, dass Leben auf der Erde (und vielleicht sogar nicht nur auf der Erde – wer weiß?) entstehen konnte. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit, auf die die Überschrift abzielt, eine andere.

entstehen kann, wenn man annimmt, dass die Parameter des Standardmodells zufällige Werte haben? Oder anders formuliert: Wie besonders ist unser Standardmodell mit genau den gemessenen Werten der Parameter? Das ist in der Tat eine sehr relevante Fragestellung. Wenn z. B. die Massen der leichten Quarks nur um wenige Prozent anders wären, gäbe es in Sternen keine hinreichende Produktion von Kohlenstoff und/oder Sauerstoff und Leben in der Form, wie wir es kennen, wäre im Universum unmöglich (Elemententstehung in Sternen ). Die Erde wäre dann vermutlich nicht der wunderbare Ort, der sie ist, sondern ein eher unDer Zufall, der dort gemeint ist, bezieht sich auf den freundlicher, ungastlicher Gesteinsbrocken. Ein weiteTeil dieser Fragestellung, der die Teilchenphysik be- res Beispiel aus dieser Kategorie ist die Dunkle Energie rührt: Wie wahrscheinlich ist die Entstehung von Le- () – der noch völlig unverstandene Mechanismus, der ben oder besser von Bedingungen, in denen Leben das Universum auseinandertreibt. Hätte dieser früher die Dynamik im Universum dominiert, dann hätte eventuell die Zeit nicht ausgereicht, Strukturen wie Galaxien und Planetensysteme zu bilden. Das anthropische Prinzip erlaubt einen anderen Blick auf die Zusammenhänge. Es besagt im Kern, dass die Parameter der fundamentalen Wechselwirkungen so sein müssen, wie sie sind, damit Leben überhaupt entstehen konnte und jemand (wir Menschen!) die Entstehung des Lebens hinterfragen kann. Daraus Illustration zum Einfluss von Kohlenstoffproduktion in Sternen auf das Leben auf der Erde

Elemententstehung in Sternen  S. 308 Dark Sector: Dunkle Energie  S. 270

Ist das Leben auf der Erde ein Zufall?

275

kann man ableiten, dass eine Frage nach der Wahrscheinlichkeit von Leben nicht sinnvoll ist, da Leben ja offensichtlich entstanden ist und somit der möglicherweise sehr unwahrscheinliche Fall eingetreten sein muss. Ein wichtiger Forschungsschwerpunkt der modernen Teilchenphysik ist, Hinweise darauf zu finden, welche fundamentalere Theorie sich hinter dem Standardmodell „versteckt“. Diese sollte dann idealerweise die Probleme des Standardmodells lösen (Warum wir weitersuchen ) und auch Einsichten darüber liefern, wieso z. B. die QuarkMassen genau die Werte annehmen, die sie haben und eben nicht leicht andere.

Diese Spiralgalaxie ist hundert Millionen Lichtjahre von uns entfernt und nur eine von unzähligen Galaxien im Unversum. Wäre die Dunkle Energie im frühen Universum stärker gewesen, hätten sich Strukturen wie diese vermutlich nicht bilden können. Dann würden auch wir Menschen gar nicht existieren.

Im Lichte dieser Diskussion kann man die Frage, mit der dieser Artikel überschrieben ist, umformulieren: Kann man verstehen, warum die Parameter des Standardmodells genau die Werte annahmen, die Leben ermöglichen?1 Eine ganz besondere Würze bekommt diese Diskussion im Licht der anerkanntermaßen recht schwachen experimentellen Evidenz2 dafür, dass die fundamentalen Parameter der Physik orts- oder zeitabhänging sein könnten. Sollte sich dies bestätigen, würde dies die Art, wie wir über das Universum nachdenken, revolutionieren. Die Frage nach den Werten der Parameter lautet dann nicht mehr: „Warum haben die Parameter die Werte, die sie haben“, sondern vielmehr müsste man sagen: „Leben ist in der Zone und dem Zeitpunkt des Universums entstanden, an dem die fundamentalen Parameter des Standardmodells in den geeigneten Wertebereichen lagen.“ Dies wirft gleich-

1

zeitig die spannende Frage auf, wie wohl die anderen Bereiche des Universums aussehen. Eine alternative, prinzipiell denkbare Erklärung, die keine Feinabstimmung der Parameter in unserem Universum braucht, wären auch Multiversen. In diesem Szenario existiert eine große Zahl von Universen parallel, geformt von verschiedenen Sätzen von fundamentalen Parametern. Dann lebten wir eben in dem Universum, das unser Leben erlaubt. Leider ist es nicht klar, ob es überhaupt möglich ist, diese Theorie oder besser Hypothese jemals zu testen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wissen wir die Antwort auf die zentrale Frage dieses Artikels noch nicht – und auch nicht, ob wir diese je finden werden. Das sollte uns jedoch nicht vom Suchen danach abhalten.

z. B. R. N. Cahn 1996, Reviews of Modern Physics, 68, 951, doi:10.1103/RevModPhys.68.951 z. B. J. K. Webb et al. 2011, Indications of a spatial variation of the fine structure constant, Physical Review Letters, 107, 191101, doi:10.1103/PhysRevLett.107.191101

2

Warum wir weitersuchen  S. 254

11 Die Suche nach Physik jenseits des Standardmodells So erfolgreich das Standardmodell zur Vertiefung unseres Verständnisses über die elementare Struktur der Materie und bei der exakten Beschreibung aller bisher beobachteten teilchenphysikalischen Vorgänge auch ist, so gibt es dennoch – wie wir im vorherigen Kapitel lesen können – eine Reihe offener Fragen. So ist es mit dem Standardmodell nicht verständlich, weshalb wir im Universum nur Materie, aber keine oder nur sehr wenig Antimaterie beobachten. Eigentlich sollten beide gleich häufig vorhanden sein. Auch reichen die Teilchen des Standardmodells nicht aus, um alle Bestandteile des Universums daraus aufzubauen. Zur Erklärung der Natur der Dunklen Materie im Universum benötigen wir weitere Teilchen. Erweiterungen der Theorie mit dem Ziel, diese offenen Fragen zu erklären, müssen experimentell überprüfbar sein. Es ist eine spannende Aufgabe, nach beobachtbaren Effekten zu suchen, die solch gut motivierte theoretische Überlegungen vorhersagen. In diesem Kapitel betrachten wir eine Reihe derartiger experimenteller Suchen nach Teilchen, nach Zerfällen oder anderen Effekten, die sich aus Erweiterungen des Standardmodells ergeben. Sollte bei einem dieser Experimente das Gesuchte gefunden werden, wäre das ein wichtiger Hinweis darauf, in welche Richtung die Theorie weiterentwickelt werden muss.

278

11 Die Suche nach Physik jenseits des Standardmodells

Ist das Neutrino sein eigenes Antiteilchen? Die Suche nach dem neutrinolosen doppelten 𝛽-Zerfall

Warum gibt es im Universum Materie, aber kaum Antimaterie (Baryogenese )? Wenn das Neutrino () sein eigenes Antiteilchen wäre, könnte es viel zur Klärung dieser Frage beitragen. Eine Möglichkeit, dies zu prüfen, ist die Untersuchung doppelter 𝛽-Zerfälle. Dabei handelt es sich um zwei simultan ablaufende Zerfälle eines einzigen Atomkerns. Der Zerfall wurde 1935 von Maria Goeppert-Mayer vorhergesagt und 1986 erstmals nachgewiesen. Doppelte 𝛽-Zerfälle sind extrem selten, wurden aber trotz der sehr langen Halbwertszeiten bei einer ganzen Reihe von Kernen schon beobachtet. Bei dem Zerfall Das LEGEND-Experiment ist von einem Wasser-Čerenkov-Detektor umgeben, um eindringende kosmische Strahlung zu erkennen. Im Zentrum befinden sich die Germaniumdetektoren innerhalb eines Flüssigargontanks.

werden zwei Elektronen und zwei Antineutrinos emittiert. Wenn das Neutrino sein eigenes Antiteilchen wäre, so könnte das in einem der Zerfälle emittierte Antineutrino beim anderen Zerfall als Neutrino absorbiert werden und so zu einem neutrinolosen doppelten 𝛽-Zerfall (0𝜈𝛽𝛽) führen. Die Suche nach dem 0𝜈𝛽𝛽-Zerfall ist ein weltweit sehr aktives Feld. Dabei konstruiert man Detektoren aus Materialien, die eines der in Frage kommenden Isotope (insbesondere 7632Ge, 13052Te, 13654Xe und 15060Nd) enthält. Die beim Zerfall emittierten beiden Elektronen deponieren ihre Bewegungsenergie im Detektor. Im Gegensatz zum 𝛽𝛽-Zerfall mit Neutrinos, bei dem die Neutrinos einen Teil der Energie wegtragen, sollte dies bei einem 0𝜈𝛽𝛽-Zerfall zu einem Signal bei einer genau bekannten Energie führen.

Reinraum (Decke) Myonveto (Szintillator) Schleuse Glove−Box Reinraum (Boden)

Kryostat ( LAr ) (Ø 4m, 64m3 )

Ge Detektoren & LAr Veto System PMT des Myonveto ( Čerenkov ) Wassertank (Ø 10m, 590m 3 )

Baryogenese  S. 304 Neutrinos  S. 184

Um die hohen Anforderungen zu erfüllen, welche die Suche nach einem so extrem seltenen Zerfall stellt, kommen unterschiedliche Techniken zum Einsatz: Halbleiter, verschiedene Arten von Szintillatoren, Gaszähler und Tieftemperaturkalorimeter. Bisher hat man dabei noch nichts gefunden. Es gab bei der Suche aber erstaunliche Fortschritte bei der Erhöhung der Sensitivität, so dass man zurzeit Lebensdauern bis etwa 1027 Jahre testen kann. Um auch nur ein Zerfallsereignis im Mittel pro Jahr zu beobachten, braucht man dazu 1027 Atomkerne, was in etwa 100 Kilogramm des entsprechenden Isotops entspricht. Da die Isotope in der Regel nicht sehr häufig sind, muss das Material angereichert werden. Natürliches Germanium besteht aus

Ist das Neutrino sein eigenes Antiteilchen?

279

des LEGEND-Experimentes sind in flüssiges Argon eingetaucht. Das Argon kühlt dabei die Detektoren nicht nur auf die zum Betrieb notwendige Temperatur von etwa 80 K (etwa minus 190 °C), es wird auch als Szintillationsdetektor verwendet, um noch einmal, nahe an den 3276GeDetektoren, von außen eindringende Strahlung zu erkennen. Ebenfalls im Gran-Sasso-Untergrundlabor befindet sich CUORE, das weltweit Tieftemperaturdetektoren aus TeO2 des Ein Blick in den Wasser-Čerenkov-Detektor bisher größte TieftemperaturdetekCUORE-Experiments im Gran-Sasso-Unter- des LEGEND-Experiments, im Zentrum der torsystem. Dazu wurden 1.000 Degrundlabor Tank mit den Germaniumdetektoren tektoren bestehend aus insgesamt fünf Isotopen und nur zu 7,8 % aus 3276Ge. Um daraus einer Tonne Telluroxid (TeO2) bis auf 20 tausendstel Detektoren zur Suche nach dem 0𝜈𝛽𝛽-Zerfall herzu- Grad vom absoluten Nullpunkt abgekühlt. In den ehestellen, wird dieses Isotop erst in aufwändigen Verfah- maligen Detektoren zur Messung von solaren Neutriren auf 86 % Häufigkeit angereichert. Hat man eine nos KamLAND in Japan und SNO in Kanada werden ausreichende Menge an Detektormaterial, muss man mit Xenon oder Tellur beladene Szintillatoren eingedie natürliche Radioaktivität so weit reduzieren, dass füllt, womit sich im Prinzip sehr große Isotopenmassen ein mögliches 0𝜈𝛽𝛽-Ereignis nicht in einer Flut von untersuchen lassen. Das EXO-Experiment, zurzeit in Störsignalen aus natürlichen 𝛼-, 𝛽- oder 𝛾-Zerfällen einem Untergrundlabor in den USA aufgebaut, nutzt unerkannt untergeht. Außerdem kann auch kosmische flüssiges Xenon als Szintillator, um in 13654Xe nach den Strahlung zu störenden Signalen führen. 0𝜈𝛽𝛽-Zerfällen zu suchen. Wenn der neutrinolose doppelte 𝛽-Zerfall existiert, sollte er sich in mehreren Deshalb sind zur Abschirmung vor kosmischer der Experimente zeigen. Strahlung alle Experimente in unterirdischen Laboren aufgebaut. Das LEGEND-Experiment steht im Für die Teilchenphysik wäre dies in mehrfacher HinGran-Sasso-Untergrundlabor in Italien und ist damit sicht ein großartiger Gewinn: Man hätte gezeigt, dass rundherum durch 1,5 Kilometer Gestein gegen kos- Neutrino gleich Antineutrino ist. Dies wäre eine Verletmische Strahlung geschützt. Dennoch gelangen immer zung der Materie-Antimaterie-Symmetrie und damit noch zu häufig Teilchen der kosmischen Strahlung ein möglicher Baustein zur Erklärung der Dominanz zum Experiment. Um diese zu erkennen, befindet sich von Materie über Antimaterie (). Auch könnte damit der gesamte Aufbau innerhalb eines großen Wasser- der extrem kleine Wert der Neutrinomasse erklärt werCˇ erenkov-Detektors (). Die Germaniumdetektoren den ().

Îerenkov-Strahlung und Teilchenidentifikation  S. 78 Materie und Antimaterie  S. 290 Neutrinomassen  S. 256

280

11 Die Suche nach Physik jenseits des Standardmodells

Neue Teilchen am LHC Suchen mit einer konkreten Idee

Bei der Suche nach Neuer Physik zeigen sich zwei interessante Dilemma: Erstens sind alle Ressourcen begrenzt, alles nur Vorstellbare zu suchen geht also schon aus praktikablen Gründen nicht. Zweitens ist es statistisch nicht sehr sensitiv, nach beliebigen Abweichungen vom Altbekannten zu suchen, denn wer einfach nur nach Abweichungen der Daten von einer Vergleichsgröße an einer beliebigen Stelle eines extrem großen Raumes fragt, der läuft meist zufälligen Schwankungen hinterher (Blinde Analysen ). Es kann daher durchaus sinnvoll sein, mit einem gewissen „theoretischen Vorurteil“ an die Suche nach neuen Teilchen oder Wechselwirkungen heranzugehen. Erfolgreiche Grundprinzipien der Konstruktion physikalischer Theorien lassen Einfachheit, maximale Symmetrie, maximale Vorhersagekraft über viele physikalische Gebiete hinweg und das Fehlen von „Finetuning“ () als gute Grundlage erscheinen. Einige Forschende hängen daher dem „Vorurteil“ an, es wäre anzunehmen, dass die Natur supersymmetrisch () wäre. Dann gäbe es einige recht genau vorhersagbare Signaturen, also Eigenschaften von Ereignissen, die sich an Hochenergiebeschleuniq gern wie dem LHC finden lassen sollp 0 q̃ χ̃ 1

χ̃10

q̃ p q

Die mögliche Erzeugung supersymmetrischer Teilchen, von Squarks q̃ und Neutralinos χ̃10

1

ten. Die Teilchenphysikerinnen und -physiker richten gleichsam einen Scheinwerfer auf bestimmte bislang im Dunkel liegende Gebiete der Natur. Dadurch ist der Blick schärfer, die Ablenkung durch zufällige Abweichungen kleiner, und die Suche erfolgversprechender – wenn die Theorie stimmt. Ein Beispiel für eine solche Signatur am LHC findet sich im hier gezeigten Feynman-Diagramm.1 Die q̃ sind die Squarks, die supersymmetrischen Partner der Quarks mit Spin 0, mit den gleichen Kopplungen wie die Standardmodell-Quarks, aber deutlich höherer Masse. Das χ̃10 ist das Neutralino – ein für den Detektor unsichtbares supersymmetrisches Partnerteilchen von Photon und Z-Boson mit Spin 1/2. Dieses Teilchen ist hochinteressant: Es verbindet Teilchenphysik und Kosmologie, denn es könnte die Dunkle Materie () ausmachen. Seine Eigenschaften zu messen könnte es erlauben, die kosmologische Entwicklung des Universums wesentlich genauer vorherzusagen. Im Detektor wären daher zwei Jets zu sehen, die von den Quarks im Endzustand erzeugt werden, sowie sehr viel fehlender transversaler Impuls, der von den im Feynman-Diagramm gezeigten ungeladenen und undetektierten Neutralinos weggetragen wird. Der LHC ist ideal geeignet, um nach diesem Prozess zu suchen, denn die neuen Squarks wechselwirken mit der starken Wechselwirkung, und könnten sehr schwer sein – genau das Richtige für den leistungsstärksten Beschleuniger mit stark wechselwirkenden Teilchen im Anfangszustand.

ATLAS Collaboration 2021, Search for squarks and gluinos in final states with jets and missing transverse momentum [...], Journal of High Energy Physics, 143, doi:10.1007/JHEP02(2021)143

Was sind „Blinde Analysen“?  S. 154 Finetuning: Ist das Leben auf der Erde ein Zufall?  S. 274 Supersymmetrie  S. 260

Neue Teilchen am LHC

2500

3000

3500

4000

4500

5000

[GeV/c 2]

Beobachtete Ereignisraten in der Suche nach Supersymmetrie

Die Suche nach dieser Signatur ist hier anhand von Beispielen des ATLAS-Experiments dargestellt. Die beobachtete Verteilung der effektiven Masse betrachtet ein Maß für die invariante Masse (), berechnet aus den Impulsen der beobachteten Jets und des fehlenden transversalen Impulses. Dieser beruht darauf, dass die Supersymmetrie fundamentale Eigenschaften des Standardmodells wie die Energie- und Impulserhaltung (Noether-Theorem ) erhält. Wenn die Teilchen im Anfangszustand – also die Protonen im Beschleuniger – genau auf einer Linie miteindaner kollidieren, addiert sich ihr Impuls im Anfangszustand nach rechts und links bzw. oben und unten genau zu null. Dann hat das gesamte System im Anfangszustand keinen Impuls transversal zur Achse der Protonstrahlen. Es muss dann aufgrund der Impulserhaltung auch der Endzustand den Gesamtimpuls von null in Richtung oben/unten bzw. rechts/links tragen. Sind die beiden

Dunkle Materie  S. 268 Identifikation der Teilchensorte über die Masse  S. 144 Das Noether-Theorem  S. 96 Veröffentlichen, was es nicht gibt  S. 150

1600

ATLAS

1400 1200

en

2000

Effektive Masse der Objekte im Ereignis

Beobachtete Ausschlussgrenze

ss

1500

lo

2 1,5 1 0,5 0 1000

ch

Daten / SM

1

1000

es

10

Auch hier sehen die Teilchenphysikerinnen und -physiker ein vertrautes Bild: Die Daten stimmen mit der Standardmodellerwartung gut überein, und es kann alles auch ohne neue supersymmtrische Teilchen verstanden werden. Viele mögliche Eigenschaften der Squarks und Neutralinos konnten auf diese Weise schon ausgeschlossen werden (). Die Physikerinnen und Physiker suchen aber weiter – von der Supersymmetrie und anderen guten Ideen geleitet, richten sie den Scheinwerfer der Experimente und der Analysen immer wieder neu ins Unbekannte und erhellen ein vorher nie von einem Menschen betrachtetes Stück der Natur auf möglichst fundamentaler Ebene.

sg

10

2

au

10 3

h

10 4

isc

10 5

800

m at

10 6

beobachteten Jets auf eine Seite des Detektors gerichtet, dann muss etwas anderes – der fehlende transversale Impuls von unsichtbaren Teilchen – diesen Impuls in die entgegengesetzte Richtung aufwiegen.

ne

gesamtes SM Daten Z+Jets W+Jets tt̄ Diboson Multi-Jet Squark-Signalerwartung x 50

600

Ki

ATLAS

Neutralinomasse m(χ̃10) [GeV/c 2]

Ereignsse

10 7

281

400 200 0

500

1000

1500

2000 2500 Squark-Masse m(q̃) [GeV/c 2]

Im Bereich der Massen der SUSY-Teilchen unterhalb der roten Linie hätte Supersymmetrie am LHC entdeckt werden müssen, wenn die Teilchen mit diesen Parametern in der Natur vorhanden wären.

282

11 Die Suche nach Physik jenseits des Standardmodells

Das unspezifische Unbekannte am LHC Suchen ohne konkrete Idee

Im vorigen Artikel wurde die „Scheinwerferstrategie“ der Suche nach Neuer Physik erklärt. Eine offensichtliche Kritik daran ist: Wenn es eine wirklich deutliche Abweichung zwischen Messwerten und Vorhersage des Standardmodells gibt, an die noch niemand gedacht hat, dann ist es gut möglich, dass niemand diese eigentlich leicht messbare Abweichung je bemerkt. Einfach nur, weil niemand dort den Scheinwerfer hingerichtet hat. Aufgrund dessen gibt es auch „modellunabhängige“ Suchen nach neuer Physik – von der CMS-Kollaboration scherzhaft „MUSiC“ getauft.1 Auch dort wird nicht wirklich alles betrachtet, denn auf einem unfassbar hohen Untergrund aus altbekannten Standardmodellprozessen ließen sich winzige Beiträge unbekannter Herkunft gar nicht identifizieren. Daher ist es notwendig, minimale Annahmen über die noch unbekannten Signaturen zu machen. Im hier gezeigten Beispiel werden Ereignisse gesucht, die mindestens ein Myon, ein Elektron, einen Jet oder eine bestimmte Kombination daraus enthalten. Werden nur diese Objekte beobachtet, nennt man die Rekonstruktion „exklusiv“. Sie können auch in Zusammenhang mit fehlendem transversalen Impuls (Neue Teilchen am LHC ) auftreten oder von beliebigen anderen Objekten X begleitet sein. In letzterem Fall heißt die Rekonstruktion „inklusiv“. Die Grafik zeigt die untersuchten Kategorien. Natürlich steckt auch darin wieder eine Vorauswahl in Bezug auf die findbaren Phänomene. Diesmal stammt die Vorauswahl aber nicht aus

1

Jet-inklusive Ereignisklassen

1e + 2𝜇 + 1 Jet

1e + 2𝜇 + N Jets

Exklusive Ereignisklassen 1e + 2𝜇 + 1 Jet + N Jets

1e + X

1𝜇 + X

1e + 1 Jet + X 1e + 1𝜇 + X

1e 2𝜇 1 Jet

1𝜇 + 1 Jet + X 2𝜇 + X

1e + 1𝜇 + 1 Jet + X 1e + 2𝜇 + X

2𝜇 + 1 Jet + X 1e + 2𝜇 + 1 Jet + X

Inklusive Klassen

Klassifizierung von Ereignissen

einem Vorurteil über vielversprechende Theorien, sondern folgt dem „Hier ist Licht, hier kann ich suchen“Prinzip: Alle Ereignisse zu untersuchen ist hoffnungslos, also schauen die Physikerinnen und Physiker dort genauer hin, wo ihnen der Detektor ein sehr genaues Messen ungewöhnlicher Signaturen erlaubt. In jeder dieser Kategorien kann nun gezählt werden, wie viele Ereignisse vom Standardmodell erwartet werden und wie viele beobachtet wurden. In der Grafik rechts sieht man eine im Rahmen der Messungenauigkeit gute Übereinstimmung, und wieder lässt sich die Messung auch ohne neue Physik erklären. Aus einer Vielzahl von Ereignisklassen sind nur diejenigen mit den signifikantesten Abweichungen der Daten

CMS Collaboration et al. 2021, MUSiC: a model-unspecific search for new physics in proton–proton collisions at √s=13 TeV, The European Physical Journal C, 81, 629, doi:10.1140/epjc/s10052-021-09236-z Neue Teilchen am LHC  S. 280

Das unspezifische Unbekannte am LHC

283

10 7

Exklusive Ereignisklassen

10 5 Ereignisse

10 4

0,10

0,10

0,10

0,097

0,091

0,084

0,083

0,081

0,081

Daten tt̄ Drell-Yan Single t Multiboson

CMS

10 6

0,077

0,069

0,068

0,068

0,065

0,064

0,046

0,045

0,020

0,018

0,015

Wahrscheinlichkeit der Abweichung der Daten von der Erwartung

Gezählte (Punkte) und vom Standardmodell erwartete (farbige Balken) Ereignisse in den unterschiedlichen Ereignisklassen. Gezeigt sind nur die Klassen mit den größten beobachteten Abweichungen.

W + Jets Higgs-Boson 𝛾 + Jets Multijet

10 3 10 2 10 1

von der Erwartung dargestellt, sortiert in absteigender Reihenfolge der Signifikanz. Die stärkste Abweichung, ganz links in der Grafik, weist eine Wahrscheinlichkeit von 1,5 % auf, dass die Daten aufgrund des Standardmodells zustande kommen – bei Hunderten von Ereignisklassen ist das nicht unerwartet. Innerhalb jeder Kategorie wird außerdem nach dem höchsten Signal gesucht, zum Beispiel in einer Verteilung der gemeinsamen Masse () verschiedener Teilchen. Dann tritt aber unweigerlich das im Artikel „Was sind ‘Blinde Analysen’?“ () beschriebene Problem auf: Irgendwo innerhalb einer weiten Verteilung ist mit hoher Wahr-

Identifikation der Teilchensorte über die Masse  S. 144 Was sind „Blinde Analysen“?  S. 154

2 e + 1b

2 e + 1b + p

miss T

2 e + 1 𝜇 + 1 b + 3 Jets

1 e + 1 𝜇 + 1 Jet

1 e + 1 𝜇 + 1 Jet + p miss T

miss T

1e + 1 𝛾 + 1 b + 5 Jets + p

Ereignisklasse

1𝜇 + 4 b + 2 Jets

1 e + 2 𝛾 + 2 Jets

1 𝜇 + 1 𝛾 + 2 b + 4 Jets

2 e + 1 𝜇 + 1 Jet + p

3 𝜇 + 1 b + 3 Jets

miss T

1 𝜇 + 4 b + 1 Jet + p

3 e + 1γ

miss T

1 e + 1 𝜇 + p miss T

3 e + 1 b + 2 Jets

1e + 1 𝜇 + 1 𝛾 + 1 b + 1 Jet

1𝜇 + 2 𝛾

2 e + 2 𝜇 + 1b

1e + 1 𝜇 + 1 𝛾 + p

miss T

4 𝜇 + 1 b + 1 Jet + p miss T

10

−1

scheinlichkeit immer eine – für sich allein genommen – scheinbar signifikante zufällige Variation, wenn man nur oft genug an verschiedene Stellen schaut. Aber auch das kann man berechnen: Wie wahrscheinlich ist eine zufällige Abweichung zwischen Daten und Hypothese an irgendeiner Stelle, wenn man an eine bekannte Zahl unterschiedlicher Stellen schaut? Die Verteilung der Signifikanz unterschiedlicher Regionen müsste dann wieder mit der Erwartung übereinstimmen, wenn es keine neue Physik zu beobachten gibt – und auch das ist wieder der Fall. Es wurde bislang keine unerwartete neue Physik gefunden.

284

11 Die Suche nach Physik jenseits des Standardmodells

Zusätzliche Raumdimensionen am LHC Wohin verschwindet die Gravitation?

Sollte es mehr unabhängige Raumdimensionen als die drei bekannten – oben/unten, vorwärts/rückwärts und links/rechts – geben, müssten sich diese vor der bisher bekannten Physik verstecken: So könnten sie z. B. winzig klein aufgerollt sein (Stringtheorie ) oder es könnte sein, dass nur die schwächste bekannte Kraft, die Gravitation, sich in diese zusätzlichen Dimensionen () ausbreiten kann und die Kräfte des Standardmodells nicht. In beiden Möglichkeiten wäre die Gravitation nicht schwach. Sie würde nur schwach erscheinen, weil sie zum größten Teil in einen für uns Menschen, als dem Standardmodell unterliegende Organismen, unerreichbaren Teil der multidimensionalen Raumzeit entschwindet. Das könnte bedeuten, dass die Gravitation über ihr Austauschteilchen, das Graviton G, in Teilchenphysikexperimenten doch nicht so schwach ist, dass sie komplett verachlässigt werden kann. Bei sehr hohen Energien (die Gravitation wechselwirkt umso stärker, je höher die (gespeicherte) Energie) könnten Gravitonen immerhin so häufig erzeugt werden wie Neutrinos. Und dann dem Detektor genauso unbemerkt wie Neutrinos entkommen. q q

q q Z

g

G

g 𝜈

Graviton-Produktion (links) und ein ähnlich aussehender Standardmodellprozess (rechts) am LHC

Stringtheorie  S. 264 Extra-Dimensionen  S. 262 Datenauswertung  S. 142 Neutrinos  S. 184

𝜈¯

Z → 𝜈 𝜈¯ + Jet-Untergrund

zusätzliche Dimension Signalprozess

Jeet J et Jet

Jet p

p 𝜈's

p

p

Graviton

Das Standardmodell existiert in einer dreidimensionalen Welt – links als Ebene dargestellt. Alle Standardmodellprozesse geschehen bildhaft in dieser Ebene. Ein Graviton (rechts) könnte in einem Modell mit zusätzlichen Dimensionen viel stärker an die bekannte Materie koppeln als im Standardmodell, und damit bei hohen Energien in etwa so häufig wechselwirken wie Neutrinos.

Die Folge sind spektakuläre Signaturen1, bei denen ein einziger sehr hochenergetischer Jet (Monojet) im Detektor sichtbar ist und nichts sonst – genau wie bei Neutrinos, aber relativ gesehen häufiger bei hohen Energien als bei niedrigen. Um die Gravitonen zu suchen werden Ereignisse mit hohem fehlendem Transversalimpuls und nur einem hochenergetischen Monojet untersucht (Datenauswertung ). Eine gute Messgröße ist der Impuls des Jets projiziert auf die transversale Ebene pT – also senkrecht auf die Strahlrichtung. Im Histogramm der Zählraten oben rechts erkennt man die Untergrundprozesse des Standardmodells, angeführt von der Produktion eines Z-Bosons, das sich von einem Quark „abstößt“ (das dann als Monojet sichtbar wird) und dann selbst in zwei für den Detektor unsichtbare Neutrinos () zerfällt. Ein einziges Ereignis dieser Art kann nicht eindeutig dem Standardmodell oder einem Graviton zugeord-

285

Ereignisse / 50 GeV/c

Zusätzliche Raumdimensionen am LHC

Jet

10 8 10 7

ATLAS

10 6 10 5 10 4 10 3

Daten Standardmodell Z(→ 𝜈𝜈) + Jets W(→ l 𝜈) + Jets Z(→ ll) + Jets top Quarks ZZ, WW, WZ Signal zusätzlicher Dim. ED x 100, n=4, MD= 6400 GeV/c2

10 2

fehlende transversale Energie

Daten / SM

10

Ein aufgezeichnetes Monojet-Ereignis im ATLAS-Detektor

1 1,2

Stat. + Syst. Unsicherheiten

1 0,8

Untere Grenze auf MD [TeV/c2]

net werden. Was sich aber eindeutig unterscheidet, ist 400 600 800 1000 1200 Jet pT [GeV/c] die Form der Verteilung der Ereignisse in der ObserDie Verteilung der Impulse der Monojets stimmt mit dem Stanvable pT : Die magentafarben gestrichelte Kurve des dardmodell und nicht mit dem Signal zusätzlicher Dimensionen Signals fällt flacher ab als die Standardmodellprozesse, (magenta) überein. weil die Gravitation an Energie koppelt – also umso stärker, je hochenergetischer das Ereignis. Folgen die Die gemessenen Datenpunkte stimmen – einmal mehr Daten der Form des Standardmodells, dann wurde – sehr gut mit der Standardmodellerwartung überein. kein Graviton gefunden. Von einem flacheren Abfall der Datenpunkte als vom Standardmodell erwartet ist nichts zu sehen. Daher kann ausgeschlossen werden, dass zusätzliche Dimensionen existieren, es sei denn, sie erfüllen bestimmte 11 ATLAS Bedingungen: Die Ausschlussgrenzen verbieten z. B. 10 bei zwei zusätzlichen Dimensionen eine Planck-Masse Gemessene Ausschlussgrenze Erwartete Ausschlussgrenze von etwa 7,6 · 103 GeV/c 2 oder weniger (Warum wir 9 weitersuchen ). In einem einfachen Modell mit aufErw. Ausschl. ± 1 𝜎 gerollten zusätzlichen Dimensionen entspricht das ei8 Erw. Ausschl. ± 2 𝜎 nem Durchmesser der aufgerollten Dimension von nur noch etwa einem hundertstel Millimeter oder weniger! 7 Die Gravitation wäre mit zwei zusätzlichen Dimensio6 nen dann maximal einen Faktor 1019/103 = 1016 stärker als in einer dreidimensionalen Welt! 5 4

2

3 4 5 Anzahl zusätzlicher Dimensionen

1

6



Ausschlussgrenzen auf die Planck-Skala MD. Bei zwei zusätzlichen Dimensionen muss MD größer sein als 7,6 TeV/c2.

ATLAS Collaboration et al. 2018, Search for dark matter and other new phenomena in events with an energetic jet and large missing transverse momentum using the ATLAS detector, Journal of High Energy Physics, 126, doi:10.1007/JHEP01(2018)126 Warum wir weitersuchen  S. 254

286

11 Die Suche nach Physik jenseits des Standardmodells

Das Rätsel der Dunklen Materie Woher wissen wir, wonach wir suchen müssen?

Eine der größten Herausforderungen für die moderne Teilchenphysik ist die ungeklärte Frage, woraus der größte Teil der Materie im Universum besteht, die wir als Dunkle Materie () bezeichnen. So erfolgreich das Standardmodell zur Erklärung aller bisher an Beschleunigern beobachteten Teilchenreaktionen ist, zum Verständnis der Dunklen Materie müssen wir das Modell erweitern und mindestens ein neues Teilchen einführen. Eine der dabei unter Physikerinnen und Physikern populärsten Teilchensorten sind sogenannte WIMPs – Weakly Interacting Massive Particles.

selwirkung der Dunkle-Materie-Teilchen in seltenen Fällen eine Reaktion von WIMPs mit normaler Materie beobachten können, um sie so direkt nachzuweisen. Die wahrscheinlichste der sehr seltenen Reaktionen eines WIMPs ist eine Streuung an einem Atomkern. Bei dieser Reaktion überträgt wie beim Billardspiel eine Kugel (WIMP) Bewegungsenergie auf die zweite Kugel (Atomkern). Dieser Kernrückstoß wäre das Signal, welches im Detektormaterial sichtbar gemacht werden müsste. Die großen Probleme dabei sind die sehr geringe Rate und der sehr geringe Energieübertrag. Von den bisherigen Experimenten, die versuchen WIMPs Die Dunkle Materie nimmt offenbar nicht an der elek- nachzuweisen, wissen wir, dass die Rate kleiner als ein tromagnetischen und der starken Wechselwirkung teil, Signal pro Jahr in einem Kilogramm sein muss. sonst hätte man sie längst beobachtet. Wenn WIMPs dennoch selten mit normaler Materie reagieren, dann höchstens über die schwache Wechselwirkung. Die Dunkle Materie durchdringt auch unsere unmittelbare Umgebung auf der Erde. Berechnungen ergeben eine mittlere Dichte von etwa 300 GeV/c 2 in jedem Liter. D. h. wären WIMPs mit einer Masse von m = 1 GeV/c 2 so schwer wie Protonen, dann gäbe es 300 WIMPs pro Liter. Mit den erwarteten Geschwindigkeiten der Teilchen kann man daraus berechnen, dass uns auf jedem cm2 bis zu einige Millionen Teilchen pro Sekunde durchströmen. Dieser große Teilchenfluss lässt uns hoffen, dass wir trotz der extrem schwachen WechZur Abschirmung vor kosmischer Strahlung sind Experimente zur direkten Suche nach Dunkler Materie in Untergrundlaboren aufgebaut. Das Laboratori Nazionali del Gran Sasso – LNGS befindet sich seitlich zu einem Autobahntunnel durch die Abruzzen. In drei großen Hallen gibt es zahlreiche Experimente zur Untersuchung von Neutrinos und zur Suche nach Dunkler Materie.

Dunkle Materie  S. 268

Das Rätsel der Dunklen Materie

287

Im Vergleich dazu ist die Rate an Signalen ver- Blick auf den Flüssigargonursacht durch natürliche Radioaktivität um detektor des Dark-Side-Experiments zur Suche nach viele Größenordnungen höher. Selbst in unse- Teilchen der Dunklen Materie. rem Körper sind es pro Kilogramm mehr als Der Detektor in der Mitte ist 100 Zerfälle pro Sekunde und damit mehrere von Photomultiplieren umgeMilliarden pro Jahr. Will man WIMPs nach- ben. Damit wird die kosmische Strahlung erkannt, die trotz der weisen, ist daher ein erster wichtiger Schritt Abschirmung durch den Berg die Verwendung hochreiner Materialien. Man das Experiment erreicht. muss die verbleibende Radioaktivität sehr gut kontrollieren können, die Materialien mit hohem Auf- gen nötig sind, um sie zu stoppen. Zum Schutz vor der wand sorgfältig aussuchen und, wenn möglich, ständig kosmischen Strahlung sind daher alle Experimente zur von radioaktiven Isotopen reinigen können. direkten Suche nach den Teilchen der Dunklen Materie in Laboren im Untergrund aufgebaut. Das größte Doch selbst mit den reinsten Materialien wird man europäische ist das Gran-Sasso-Untergrundlabor in keinen Erfolg haben, wenn man die Detektoren nicht Italien, das Laboratori Nazionali del Gran Sasso – zusätzlich gegen die kosmische Strahlung schützt. LNGS. Parallel zum zehn Kilometer langen AutobahnMyonen erreichen die Erdoberfläche mit einem Fluss tunnel unter dem Gran-Sasso-Massiv in den Abruzvon etwa 100 Myonen pro Sekunde pro m2. In einem zen, das Rom mit der Adria verbindet, sind drei große Kilogramm Detektor werden von der kosmischen Hallen für solche Experimente gebaut worden. Darin Strahlung so leicht mehrere zigtausend Signale pro Tag ist man in alle Richtungen mit mindestens 1,5 km Geerzeugt. Leider sind Myonen sehr durchdringend, wes- stein gegen die kosmische Strahlung geschützt und der halb mindestens einen Kilometer dicke Abschirmun- Fluss von Myonen ist auf etwa eines pro Stunde und m2 reduziert. Neben Experimenten zur Messung von Sonnenneutrinos und zur Suche nach dem doppelten 𝛽-Zerfall beheimatet das LNGS auch eine Reihe von Experimenten zur direkten Suche nach den Teilchen der Dunklen Materie. Trotz intensiver Suche hat man noch keine WIMPs gefunden. Dennoch kann man mit jedem Jahr Messzeit die Grenzen für eine mögliche Kopplung an Materie immer weiter einschränken.

Blick in eine der Hallen des LNGS. Zu sehen ist ein zylindrischer Tank, der das Experiment XENON enthält, daneben ein Gebäude zur Versorgung und Kontrolle des Experiments.

288

11 Die Suche nach Physik jenseits des Standardmodells

Direkte Suche nach der Dunklen Materie Auf der Jagd nach unsichtbaren Teilchen

Wie im vorangegangenen Artikel () beschrieben, ist die direkte Suche nach Weakly Interacting Massive Particles (WIMPs) als mögliche Erklärung der Dunklen Materie wegen extrem geringer Reaktionsraten eine große Herausforderung. Eine weitere Schwierigkeit sind die zu erwartenden sehr kleinen Rückstoßenergien, meist am Limit dessen, was in Detektoren gerade noch zu messbaren Signalen führt. Zusätzlich erschwerend kommt hinzu, dass dabei weniger Ladungen durch Ionisation erzeugt werden, als dies bei 𝛾- oder 𝛽-Strahlung der Fall ist. Da die Signalerzeugung durch Ladungs- oder Lichtnachweis von Detektoren auf der Ionisationswirkung der Teilchen beruht, sind Signale von Kernrückstößen kleiner (Wechselwirkung zwischen Teilchen und Materie ). Im DAMA/LIBRA-Experiment werden 25 jeweils 10 kg schwere Na-I-Szintillations-Kristalle () verwendet, die mit großer Sorgfalt hochrein hergestellt wurden. Um die kleinen Signale von WIMPs sehen zu können, wird jeder Kristall von zwei Photomultiplieren ausgelesen. Die Messergebnisse von DAMA/LIBRA zeigen eine interessante jahreszeitliche Schwankung, die als Signal von Dunkler Materie interpretiert werden kann. Die Geschwindigkeit und Richtung der DunkleMaterie-Teilchen, mit der sie auf der Erde ankommen, ist durch die Bewegungsrichtung des Sonnensystems in der Milchstraße gegeben1. Hinzu kommt die Bewegung der Erde um die Sonne. Dies führt zu einer jahreszeitlichen Schwankung der Geschwindigkeit, mit der die WIMPs bei uns ankommen. Im Sommer sollte sie etwas höher, im Winter etwas niedriger sein. Die-

1

se Geschwindigkeitsmodulation führt im Sommer zu etwas höheren Rückstoßenergien und damit höheren Signalen, im Winter entsprechend zu niedrigeren Signalen. Das passt zu den Messergebnissen von DAMA/ LIBRA. Daher gehen die beteiligten Forschenden davon aus, die Teilchen der Dunklen Materie entdeckt zu haben. Leider ist diese Interpretation nicht kompatibel mit den Ergebnissen vieler anderer mindestens ebenso empfindlicher Experimente, die das Signal hätten sehen müssen, bisher aber nirgendwo sonst etwas Passendes gesehen haben. Detektoren des DAMA/LIBRAExperiments. Um radioaktive Verunreinigungen zu vermeiden, wird unter Reinraumbedingungen an dem Experiment gearbeitet.

 Detektorkristalle des CRESSTExperimentes werden in den Kryostaten eingebaut, welcher die notwendigen tiefen Temperaturen erzeugt.



Dabei nimmt man aus guten Gründen an, dass nicht alle Teilchen der Dunklen Materie in der gleichen Richtung und mit der gleichen Geschwindigkeit wie das Sonnensystem um das Zentrum der Milchstraße kreisen. Das Rätsel der Dunklen Materie  S. 134 Wechselwirkung zwischen Teilchen und Materie  S. 64 Szintillatoren und Photomultiplier  S. 70

Direkte Suche nach der Dunklen Materie

289

Kernrückstöße erzeugen in einem Detektor weniger messbare Ladungen als Strahlung, die von Radioaktivität erzeugt wurde. Dies kann genutzt werden, um Kernrückstoßsignale von durch Radioaktivität verursachten Signalen zu unterscheiden. Das CRESST-Experiment geht diesen Weg mit Tieftemperaturdetektoren (). Damit lassen sich von allen Detektoren die niedrigsten Energien nachweisen, was insbesondere bei der Suche nach WIMPs mit geringerer Masse notwendig ist. Kombiniert man Tieftemperatur- und Szintillationsdetektoren, kann man aus dem Verhältnis von Temperatur- zu Lichtsignal unterscheiden, ob man es Arbeiten am Detektor des XENON-Experimentes. Der Behälter wird später mit flüssigem Xenon befüllt. Am unteren Ende kann man die mit einem Kernrückstoß, der potenziell von WIMPs Photomultiplier zur Detektion des Szintillationslichtes erkennen. verursacht wurde, oder mit der uns wohl bekannten 𝛼-, 𝛽- oder 𝛾-Strahlung zu tun hat. CRESST verwendet und immer wieder gereinigt werden. Mit größerem Vodazu szintillierende Kristalle, wie z. B. CaWO4, Al2O3 lumen und geringerem Untergrund ist man empfindoder LiAlO2. lich auf Ereignisse mit wesentlich geringerer Rate. Damit hat XENON die weltweit zurzeit beste Sensitivität Mit der Möglichkeit der Unterscheidung der Signale bei der Suche nach WIMPs erreicht. wurde die Gefahr, durch Radioaktivität störenden Untergrund zu produzieren, enorm reduziert und die Sen- Alle diese Experimente arbeiten an der Grenze der sitivität bei der Suche nach Dunkler Materie um viele Messbarkeit seltener Ereignisse. Immer wieder gab es Größenordungen gesteigert. Daher nutzen die meisten unerklärbare Signale, die für Aufregung gesorgt haben Experimente heute eine passende Kombination meh- und als Hinweis auf die Dunkle Materie interpretiert rerer Signale. wurden. Doch hat sich meist herausgestellt, dass es sich um eine Art von störenden HintergrundereignisIm XENON-Experiment werden in flüssigem Xenon sen handelt, die man bisher nicht kannte. Auch wenn gleichzeitig Licht- und Ladungssignale gemessen () keines dieser Experimente bisher ein eindeutig von und aus deren Verhältnis Kernrückstöße von Radio- WIMPs verursachtes Signal beobachtet hat, ist die Moaktivität unterschieden. Das Dark-Side-Experiment ist tivation groß, die Projekte weiter voranzutreiben. Mit ein ganz ähnliches Projekt, bei dem flüssiges Argon als den Ergebnissen wurden viele Modellvorstellungen Detektionsmedium genutzt wird. Das Detektionsvolu- der Teilchenphysik widerlegt und sie helfen, die Themen einer Flüssigkeit wie Xenon oder Argon kann we- orien jenseits des Standardmodells der Teilchenphysik sentlich einfacher vergrößert werden als mit den Kris- zu formen. Daher arbeiten Physikerinnen und Physiker tallen von Tieftemperaturdetektoren. Darüber hinaus weiter daran, immer sensitivere und damit größere Exkann eine Flüssigkeit während der Messung zirkuliert perimente zu entwerfen.

Tieftemperaturdetektoren  S. 128 Flüssige Edelgase als Detektoren  S. 130

290

11 Die Suche nach Physik jenseits des Standardmodells

Materie und Antimaterie Warum gibt es uns überhaupt?

Nach unserem heutigen Kenntnisstand waren nach einem Bruchteil einer Sekunde nach dem Urknall Materie und Antimaterie () im Gleichgewicht. D. h. es gab genauso viele Quarks wie Antiquarks, genauso viele Elektronen wie Positronen, etc.

Wie in der Abbildung gezeigt, entstehen beim Zusammentreffen von Materie und Antimaterie Photonen. Aus zwei ganz unterschiedlichen Beobachtungsgrößen, einerseits der Häufigkeit von Kernen im Universum () und anderseits der kosmischen Hintergrundstrahlung (), kann man das Verhältnis der Dichte von Baryonen Heute sind wir jedoch fast nur von Materieteilchen nB zur Dichte von Photonen n𝛾 im Universum bestimumgeben. Antiteilchen findet man lediglich in einem men. Mit der zusätzlichen Information, dass man keikleinen Anteil in der kosmischen Strahlung, in be- ne Antibaryonen beobachtet(nB̄ ≈ 0), erhält man das stimmten Kernzerfällen oder man muss sie aufwändig als Baryonenasymmetrie bezeichnete Verhältnis: in Beschleunigern produzieren. Was ist also aus der nB − nB̄ Antimaterie geworden? | 6 ∙ 10 −10 . n 𝛾

Grundsätzlich gibt es zwei Erklärungsansätze. Entweder ist die Antimaterie verschwunden, so dass heute nur das, was wir Materie nennen, übrig geblieben ist. Oder die Antimaterie versteckt sich in uns noch nicht zugänglichen Bereichen des Universums. Beide Möglichkeiten werden diskutiert und entsprechende Experimente durchgeführt, worauf in gesonderten Artikeln () eingegangen wird. Hier verfolgen wir den ersten Erklärungsansatz etwas weiter.

q

𝛾



𝛾

Umwandlung eines Quarks und eines Antiquarks in Photonen

Dies ist eine ziemlich kleine Zahl. Auf ein Baryon im für uns sichtbaren Universum kommen also etwa 109 Photonen aus der Zerstrahlung von Materie und Antimaterie kurz nach dem Urknall. Was sagt uns dieses Verhältnis? Hierzu ein paar Überlegungen: Würde die Natur keinen Unterschied zwischen Materie und Antimaterie machen, wäre die Baryonenasymmetrie null. Wenn man nämlich mit der gleichen Anzahl von Baryonen und Antibaryonen startet, hätte jedes Baryon mit einem Antibaryon reagiert. Dabei wären dann vor allem Photonen entstanden. Am Ende wären weder Baryonen (Materie) noch Antibaryonen (Antimaterie) übrig geblieben. Das Buch, das Sie gerade in den Händen halten, gäbe es nicht und auch keine Hände, die es halten könnten. Zum Glück liegt dieser Wert, wenn auch nur knapp, über null! Das kleine Verhältnis von etwa 10 −9 bedeutet, dass vor der gegenseitigen Vernichtung von Baryonen und An-

Was ist Antimaterie?  S. 18 Die Suche nach elektrischen Dipolmomenten  S. 294, Teilchenphysik im Weltall  S. 292 Häufigkeit von Kernen: Baryogenese  S. 304, Nukleosynthese im Urknall  S. 306 Kosmischer Mikrowellenhintergrund  S. 310

Materie und Antimaterie

291

Der russische Physiker und Friedensnobelpreisträger Andrei Sakharov hat bereits 1967 darauf hingewiesen, dass die kombinierte Verletzung der Spiegelsymmetrie (P) und der Symmetrie gegenüber dem Austauschen von Teilchen und Antiteilchen (C), die in der Teilchenphysik als CP-Verletzung () bezeichnet wird, notwendig ist, um von einem anfänglichen Gleichgewicht zu einer Dominanz der Materie zu kommen. Die CPVerletzung ist zwar fester Bestandteil des Standardmodells, jedoch stellt sich heraus, dass diese viel zu klein ist, um das Ungleichgewicht zwischen Materie und Antimaterie zu erklären. Es muss also zusätzliche CPverletzende Prozesse geben. Wie kommt man jetzt diesen auf die Spur? Man kann das Rad der Zeit nicht zurückdrehen und beobachtibaryonen auf 1.000.000.001 Baryonen 1.000.000.000 ten, wie die Materie in den ersten Mikrosekunden Antibaryonen kamen. Nach der gegenseitigen Vernich- des Universiums Oberhand über die Antimaterie getung blieb damit unter einer Milliarde Paaren nur ein wonnen hat. Man kann aber mit Experimenten nach Baryon übrig. Nur aus diesem winzigen Unterschied ist Symmetriebrechungen jenseits des Standardmodells unser heutiges Universum aufgebaut! suchen. Darüber wird im Artikel über elektrische Dipolmomente die Rede sein (). Ein Nachweis solcher Wenn aber direkt nach dem Urknall Materie und Anti- Dipolmomente würde dann Erklärungsansätze für das materie im Gleichgewicht waren, wie konnte dann der Verschwinden der Antimaterie liefern. für uns so wichtige Überschuss an Materie entstehen? Wie so oft spielen dabei Symmetrieüberlegungen () eine große Rolle. Würden die Gesetze der Physik keinen Unterschied zwischen Materie und Antimaterie machen, wäre also die entsprechende Symmetrie exakt, hätten sich Materie- und Antimaterieteilchen jeweils gegenseitig vernichtet. Wir würden heute nicht existieren, wenn wir Zunächst waren Materie und Antimaterie im Gleichgewicht. Durch noch unbekanndem ersten Erklärungsansatz folgen. te Prozesse kam es zu einem kleinen Überschuss von Materie. Materie und Antimaterie vernichten sich. Heute sind wir nur noch von Materie und Photonen umgeben.

Symmetrien  S. 56 Diskrete Symmetrien: P- und CP-Verletzung  S. 178 und Die Verletzung der CP-Symmetrie in B-Mesonen  S. 242

292

11 Die Suche nach Physik jenseits des Standardmodells

Teilchenphysik im Weltall Hoch hinaus

Während man auf der Erde aufwändige Beschleunigeranlagen betreibt, um Teilchen hoher Energie zu erzeugen, findet man in der kosmischen Strahlung () Teilchen so hoher Energie, wie sie kein Beschleuniger auf der Erde zu erzeugen vermag. Je nach Teilchenart und Energie erreichen diese die Erdoberfläche oder reagieren vorher in der Erdatmosphäre mit anderen Teilchen. Um Teilchen vor einer möglichen Wechselwirkung in der Atmosphäre nachzuweisen, muss man also einen Detektor im Weltall betreiben. Erste Versuche gehen auf Victor Hess zurück, der Anfang des 20. Jahrhunderts mit einem Ballon aufstieg. Das für die damalige Zeit überraschende Der AMS-Detektor auf der Internationalen Raumstation ISS Ergebnis war, dass die Intensität der gemessenen Strahlung mit zunehmender Höhe anstieg. weiten Energiebereich nachzuweisen. Die HerausforDies ist ein Indiz dafür, dass Strahlung aus dem Weltall derung bestand darin, den Detektor so zu konzipieren, auf die Erde trifft und nicht, wie vorher vermutet, von dass er zunächst die Erschütterungen beim Start des Radioaktivität in der Erdkruste stammt. Space Shuttles unbeschadet übersteht und dann über Jahre ohne größere Wartungsarbeiten auskommt. Das Um diese Strahlung genauer zu untersuchen, wurde im ist dem Team von etwa 500 Forschenden gelungen, da Jahr 2011 mit der letzten Mission des Space Shuttle En- der Detektor nunmehr seit über 10 Jahren beständig deavor ein 7,5 Tonnen schwerer Detektor zur Internati- Daten produziert. onalen Raumstation (ISS) transportiert. Der als Alpha Magnetic Spectrometer (AMS) bezeichnete Detektor Von besonderem Interesse ist der Nachweis von Anenthält zahlreiche Komponenten, die es erlauben, Teil- titeilchen. Das hängt mit einem der großen Rätsel der chenspuren verschiedener Teilchenarten über einen Teilchenphysik und Kosmologie, der Frage nach dem

Kosmische Strahlung  S. 314

Teilchenphysik im Weltall

293

Neben dem Nachweis von Positronen ist die Suche nach Antikernen, wie zum Beispiel Antihelium- oder sogar Antikohlenstoffkernen, von großem Interesse. Ein paar Minuten nach dem Urknall haben im Prinzip Bedingungen geherrscht, Antiheliumkerne zu bilden (). Wie im Artikel zur Elemententstehung in Sternen () beschrieben, können schwere Kerne wie Kohlenstoff nur in Sternen entstehen. Der Nachweis eines Antikohlenstoffkerns wäre daher ein Beweis für die Bildung eines Sterns aus Antimaterie. Einen Antikohlenstoffkern konnte man bisher nicht nachweisen. Allerdings hat man im AMS-Detektor bisher etwa eine Spur pro Jahr gefunden, die auf einen Antiheliumkern hinweisen könnte. Detaillierte Untersuchungen laufen noch. Es bleibt also spannend.

Der AMS-Detektor hat eine Größe von (5 × 4 × 3) m3.

Die Abbildung unten zeigt den gemessenen Fluss von Positronen, also den Antiteilchen der Elektronen, als Funktion ihrer Energie. Während man den grau unterlegten Teil der Messungen durch die uns vertraute kosmische Strahlung versteht, muss für den rosa unterlegten Teil des Spektrums bei höheren Energien eine unbekannte Quelle angenommen werden.

25 Energiegewichteter Positronenfluss

Schicksal der Antimaterie (), zusammen. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder ist die Antimaterie im Laufe der Zeit verschwunden oder sie hält sich hauptsächlich in weit von uns entfernten Bereichen des Universums auf. Ab und zu sollte dann ein solches Antimaterieteilchen den AMS-Detektor treffen und nachgewiesen werden können.

AMS-02 Fit

20

Positron-Spektrum

15 Quellterm

10 Diffuser Term

5

1

10

100

1000 Energie [GeV]

Der gemessene Fluss von Positronen als Funktion der Energie. Während der linke Teil verstanden ist, gibt der hochenergetische Teil des Spektrums Rätsel auf.

Materie und Antimaterie  S. 290, Baryogenese  S. 304, Die Verletzung der CP-Symmetrie in B-Mesonen  S. 242 Nukleosynthese im Urknall  S. 306 Elemententstehung in Sternen  S. 308

294

11 Die Suche nach Physik jenseits des Standardmodells

Die Suche nach elektrischen Dipolmomenten Wo ist die Antimaterie geblieben?

Elektrische Dipolmomente, kurz EDMs genannt, entstehen dann, wenn in einem System positive und negative Ladungen unterschiedliche Schwerpunkte haben (siehe Informationskasten). Im alltäglichen Leben hat eine Batterie also ein elektrisches Dipolmoment. Auch beim Wassermolekül ist ein solches Dipolmoment vorhanden und sorgt für die Anziehung zwischen den Molekülen. Das EDM ist auch eine fundamentale Eigenschaft eines subatomaren Teilchens, wie Masse, Ladung, Spin oder magnetisches Moment. Jedoch hat man hier bisher noch bei keinem der uns bekannten Teilchen ein von null abweichendes EDM nachweisen können. Das hat gute Gründe. Im Gegensatz zu komplexeren Objekten wie Molekülen können bei subatomaren Teilchen wie z. B. Elektron, Proton und Neutron, unter sehr allgemeinen Voraussetzungen EDMs nur entstehen, wenn eine kombinierte Verletzung gegenüber Ladungaustausch (charge conjugation, C) und Raumspiegelung (parity, P), CP-Verletzung () genannt, vorliegt. Die aus dem Standardmodell bekannte CP-Verletzung ist einfach zu klein, um ein messbares EDM zu generieren. Warum sollte man dennoch weiter danach suchen? Das hängt mit einem der größten ungelösten Rätsel in der Kosmologie und Teilchenphysik zusammen, dem Verschwinden der Antimaterie aus einem anfänglichen Gleichgewicht von Materie und Antimaterie () im frühen Universum. Die uns bekannten Wechselwirkungen im Standardmodell, speziell deren CP-Verletzung, die ja zwischen Materie und Antimaterie unterscheidet, reicht bei Weitem nicht aus, um dieses Rätsel zu lösen.

Erweiterungen des Standardmodells, wie zum Beispiel die Supersymmetrie sagen jedoch weitere CP-verletzende Wechselwirkungen voraus, die auch zu nachweisbaren EDMs führen (Higgs-Boson ). Findet man also ein EDM, hätte man sowohl Erklärungsansätze für die beobachtete Dominanz der Materie im Universum als auch Physik jenseits des Standardmodells gefunden! Kein Wunder also, dass danach intensiv gesucht wird. Um EDMs zu messen, kommen, je nach Teilchenart, verschiedene Methoden zum Einsatz: Teilchenfallen () für elektrisch neutrale Teilchen wie Neutronen und

Apparatur zur Messung des elektrischen Dipolmoments des Neutrons am Paul-Scherrer-Institut in der Schweiz. Das Bild zeigt im Zentrum die beiden Elektroden zur Erzeugung des elektrischen Feldes, umrahmt von der Magnetfeldabschirmung.

Diskrete Symmetrien: P- und CP-Verletzung  S. 178 und Die Verletzung der CP-Symmetrie in B-Mesonen  S. 242 Materie und Antimaterie  S. 290 Ist es wirklich das Higgs-Boson?  S. 232 Teilchenfallen  S. 132

Die Suche nach elektrischen Dipolmomenten





B

Elektrische Dipolmomente

B





S

S →

E



 ↑↑ = M DM + EDM

295

E

Befinden sich zwei entgegengesetzt geladene Punktladungen q in einem Abstand r, dann erzeugen sie ein Dipolmoment der Größe d = q · r. Das elektrische Dipolmoment wird meist +q in der Einheit Elementarladung mal Zentimeter, e · cm angegeben. Der Dipol ist ein Vektor und zeigt r→ von der negativen zur positi−q ven Ladung.

 ↑↓ = M DM −  EDM

Messprinzip eines EDM-Experiments. Das EDM ergibt sich aus der Differenz der Spindrehungen in einer Konfiguration→mit parallelen und anti-parallelen Stellungen eines elektrischen (E ) und magne→ tischen Feldes (B ) .

Trotz aller Bemühungen wurde bisher noch kein von null abweichender Wert für ein EDM gemessen. Aber auch daraus kann man wichtige Schlüsse ziehen (). Aus dem Nullergebnis für das Neutron zum Beispiel Atome sowie Speicherringe für geladene Teilchen wie kann man mit einer Sicherheit von 90 % Werte größer Protonen. Das Messprinzip beruht darauf, dass genau- als 1, 8 ∙ 10 −26 e cm ausschließen. Wie man der Zeichso wie ein magnetisches Dipolmoment zu einer Dre- nung unten entnehmen kann, lassen sich damit auch hung des Spins in einem Magnetfeld führt, ein elekt- manche Bereiche der Voraussagen supersymmetririsches Dipolmoment zu einer Drehung des Spins in scher Erweiterungen des Standardmodells, SUSY geeinem elektrischen Feld führt. Was die Messung des nannt, bereits ausschließen (). EDMs so schwierig macht, ist die Tatsache, dass der erwartete Effekt so klein ist. Aufgrund seines magne- Es lohnt sich also, die Messgenauigkeit immer weiter tischen Moments vollführt ein Neutron etwa 1.500 zu verfeinern, um entweder einen von null verschiedeUmdrehungen pro Sekunde im Magnetfeld der Erde, nen Wert zu finden oder den Ausschlussbereich immer während aufgrund eines EDMs nur eine Umdrehung weiter nach links zu verschieben. alle 100 Jahre zu erwarten ist! In der Praxis schirmt man durch Experiment ausgeschlossener Bereich die Apparatur daher gegen das Magnetfeld der Erde ab und erzeugt ein sehr gut kontrollierbares Magnetfeld SM SUSY im Labor. Jetzt misst man die Präzessionsfrequenz 10–34 10–26 10–22 10–20 10–32 10–30 10–28 10–24 der Neutronen in einer Kombination aus dem magneNeutron EDM/e · cm tischen Feld und einem elektrischen Feld. Dreht man Standardmodell (SM) und Vorraussagen der Supersymmetrie das elektrische Feld um, so kann man aus der Differenz (SUSY) für das Neutron. Der durch den roten Pfeil abgedeckte Bereich ist durch Experiment ausgeschlossen. der beiden Frequenzen das EDM bestimmen.

Schlüsse ziehen aus Statistik  S. 148, Veröffentlichen, was es nicht gibt  S. 150 Supersymmetrie  S. 260, Neue Teilchen am LHC  S. 280

296

11 Die Suche nach Physik jenseits des Standardmodells

Die Suche nach Axionen Zwei Fliegen mit einer Klappe

Manchmal werden zur Lösung von Problemen mit dem Standardmodell neue Teilchen erfunden. Ein Beispiel dafür sind Axionen. Sie sind ein Nebenprodukt einer vorgeschlagenen Lösung des starken CP-Problems (). Die mathematische Beschreibung der starken Wechselwirkung im Standardmodell lässt Beiträge zu, welche die CP-Symmetrie verletzen (). Bisher hat man keinerlei Anzeichen dafür gefunden, so dass die CP-verletzenden Beiträge der starken Wechselwirkung verschwinden oder mindestens zehn Größenordnungen kleiner sein müssen als erwartet. Licht durch die Wand

10 –12

SHAFT

ABRA CAST

Astrophysik

Sterne Teleskope

10 –10

Haloskope

Axion-Photon-Kopplung [GeV–1]

10

–8

10 –14

10 –16

n io Ax D QC

10 –18 10 –10

10 –8

10 –6 10 –4 Axionenmasse [eV]

10 –2

10 0

Kopplungsstärke von Axionen ga𝛾𝛾 gegen ihre Masse ma aufgetragen. Der gelbe Bereich zeigt Axionen aus der Lösung des starken CP-Problems (QCD-Axionen). Mit Massen ma von 10 −6 eV bis 10 −4 eV könnten sie auch die Dunkle Materie erklären. Außerhalb des Bandes befinden sich ALP. Die farbigen Bereiche sind durch Experimente und astronomische Beobachtungen ausgeschlossen.

Das starke CP-Problem  S. 272 Diskrete Symmetrien: P- und CP-Verletzung  S. 178 Spontane Symmetriebrechung  S. 58 Dunkle Materie  S. 268

Durch eine zusätzliche Symmetrie, die sogenannte Peccei-Quinn-Symmetrie, die spontan gebrochen sein muss (), kann man das erklären. Der CP-verletzende Term wird dadurch zu null, was aber auch zur Existenz eines neuen Teilchens – hier Axion genannt – führt. Die Eigenschaften des Axions machen aus dem zunächst lästigen Nebenprodukt auch ein Teilchen zur möglichen Erklärung, woraus die Dunkle Materie () im Universum besteht. Die Materie im Universum wird durch eine unsichtbare Dunkle Materie dominiert, für die es im Standardmodell keine Erklärung gibt. Axionen könnten eine Lösung sein, mit der schönen Eigenschaft, dass man sie prinzipiell in entsprechenden Experimenten nachweisen könnte: Nach der Theorie koppeln Axionen an Photonen externer Felder, z. B. in Magnetfeldern, und erzeugen dabei ein reelles Photon. Axionen und Photonen können sich so in Magnetfeldern ineinander umwandeln. Wenn Axionen mit passenden Eigenschaften zur Lösung des starken CP-Problems existieren, dann besteht ein direkter Zusammenhang zwischen ihrer Masse ma und ihrer Kopplung an Photonen ga𝛾𝛾 (gelbes Band in der Abbildung). Wenn QCD-Axionen die Dunkle Materie wären, so würden sie überall um uns herum existieren. Bei der Umwandlung in ein Photon wird die Masse ma in Photonenenergie überführt, was im passenden Massenbereich Mikrowellenphotonen im Gigahertz-Frequenzbereich entspricht. Das Experiment ADMX sucht seit vielen Jahren nach dem Auftauchen von solchen Photonen. Um die Wahrscheinlichkeit zur Umwand-

Die Suche nach Axionen

Feynman-Graph der Kopplung von Axionen an Photonen. Das Axion koppelt an ein Photon eines externen Magnetfeldes und wandelt sich in ein reelles Photon um.

297

ga𝛾𝛾

spektakulär. Das Ziel eines ebenfalls ALPS genannten Experimentes am DESY in Hamburg ist es, mit Licht durch eine Wand zu leuchten. Ein starker Laser leuchtet durch ein Magnetfeld und trifft auf eine Wand. → B Wandelt sich ein Photon in ein ALP um, so kann es die lung von Axionen zu Photonen zu erhöhen, führt man Wand durchdringen. Hinter der Wand befindet sich diese Suche bei sehr tiefen Temperaturen in einem ein weiteres Magnetfeld, in dem sich die ALPs wieHohlraumresonator durch, der auf eine bestimmte der in Photonen zurückverwandeln könnten. Sollte es Photonen-Frequenz ausgelegt ist. Mit der Abstim- gelingen, hinter der Wand Photonen zu messen, also mung auf eine bestimmte Frequenz kann immer nur durch die Wand zu leuchten, wäre das ein sehr starker in einem sehr schmalen Massenbereich nach Axionen Hinweis auf die Existenz von ALPs. gesucht werden. Mit neuen Ideen, wie zum Beispiel im MADMAX-Projekt, versucht man daher, die Suche ef- In der Sonne herrschen perfekte Bedingungen, Axifektiver zu gestalten. In einem Magnetfeld können sich onen oder ALPs zu erzeugen. Daher sucht man mit an den Oberflächen dielektrischer Platten Axionen der sogenannten Helioskopen wie IAXO oder dem VorDunklen Materie in eventuell detektierbare Photonen gängerexperiment CAST nach Axionen oder ALPs umwandeln. Durch Veränderung der Plattenabstände von der Sonne. Dazu schaut man mit einem Teleskop kann man verschiedene Photonfrequenzen verstärken. durch ein Magnetfeld hindurch zur Sonne. Im Magnetfeld wandeln sich die Teilchen in Photonen um, die Axion-ähnliche Teilchen, die dem Zusammenhang dann beobachtet werden können. zwischen ihrer Masse ma und ihrer Kopplung an Photonen ga𝛾𝛾 nicht folgen (außerhalb des gelben Bandes Bisher hat man keine Axionen oder ALPs gefunden. in der Abbildung), nennt man ALPs (Axion Like Da man sich durch ihre Existenz eventuell die Lösung Particles). ALPs hätten mit dem starken CP-Problem von gleich zwei Problemen mit dem Standardmodell nicht unbedingt etwas zu tun, könnten aber die Dunkle der Teilchenphysik erhofft, lohnen sich die wachsenMaterie erklären. Die Suche nach ALPs entwickelt sich den Anstrengungen, weiter nach ihnen zu suchen. a

𝛾

Magnet des ALPS-Experiments, um „Licht durch die Wand“ zu leuchten

 CAST-Experiment. Durch den Magneten (blaue Röhre) wird die Sonne beobachtet und nach Photonen gesucht, die durch Umwandlung von solaren Axionen im Magnetfeld entstehen.



298

11 Die Suche nach Physik jenseits des Standardmodells

Protonenzerfall Lang lebe das Proton!

Das Proton ist eine Verbindung aus drei Quarks (uud, ) und somit ein Baryon, mit der Baryonenzahl +1. Es ist das leichteste Baryon, also leichter als z. B. das Neutron (udd) und das Lambda (Λ, uds). Somit kann ein freies Proton nicht in ein anderes Baryon zerfallen. Sollte das Proton dennoch zerfallen, müsste sich also notwendigerweise die Baryonenzahl ändern, die Erhaltung der Baryonenzahl wäre verletzt. Im Standardmodell ist jedoch die Baryonenzahl erhalten, d. h. bei allen Reaktionen gibt es am Anfang und am Ende gleich viele Baryonen. Die elektromagnetische, schwache und starke Kraft erhalten jeweils die Baryonenzahl. (Die Leptonenzahl ist ähnlich erhalten.) Somit ist das Proton im Rahmen des Standardmodells stabil.

u

Zerfall eines freien Protons in ein neutrales Pion und ein Positron

u

e+

X d¯

d Proton

𝜋0

d

Diese Eichbosonen heißen auch Leptoquarks, da sie gleichzeitig an Quarks und Leptonen koppeln können.

Die Gesamtenergie des Positrons nach dem Zerfall ist hier etwa 470 MeV, die Hälfte der Ruheenergie des Protons. Die Positrongesamtenergie ist also etwa 1.000 Mal größer als seine Ruheenergie (mec 2 = 511 keV), es ist somit hoch relativistisch (). Dies führt im Detektor zu besonderen Effekten (siehe unten). Das neutrale Durch den Mechanismus der Baryogenese () wissen Pion zerfällt praktisch sofort in zwei hochenergetische wir, dass baryonenzahlverletzende Wechselwirkungen Photonen mit Energien um die 100 MeV, was Gambei höheren Energien im frühen Universum relevant mastrahlung entspricht. Einige dieser Zerfallsprodukte gewesen sein müssen. Solche Wechselwikungen gibt müsste man nachweisen, um zu demonstrieren, dass es typischerweise in großen vereinheitlichten The- mindestens ein Proton zerfallen ist. orien (GUTs, ). Als Relikt aus den Anfängen des Universums würden wir erwarten, dass heute noch Die Protonlebensdauer sollte deutlich länger als das baryonenzahlverletzende Wechselwirkungen existie- Alter des Universums mit etwa 1010 Jahren sein, sonst ren, allerdings sehr stark unterdrückt, nach der Quan- wären wir nicht mehr am Leben. Wie wir sehen wertenfeldtheorie etwa um einen Faktor 10 −7 im Vergleich den, ist sie sogar deutlich länger als 1030 Jahre! Der Prozum Zerfall des Neutrons. tonenzerfall ist ein quantenmechanischer Prozess, der dem radioaktiven Zerfallsgesetz gehorcht. In 1.000 kg Wie würde ein Protonenzerfall aussehen und wie reinem Wasser sind etwa 3 · 1026 Protonen enthalten. könnte man ihn nachweisen? In der einfachsten GUT- Bei einer Lebensdauer von 1027 Jahren würde davon Theorie ist der Zerfall in ein neutrales Pion und ein etwa alle drei Jahre ein (!) Proton zerfallen. Der derzeit Positron am wahrscheinlichsten, vermittelt durch ein größte Detektor, mit dem man sich auf die Suche nach neues Eichboson () X, siehe Feynman-Diagramm1. dem Protonenzerfall macht, ist Super-Kamiokande2 in

1

Die X-Bosonen werden oft auch mit Angabe der Ladung als X ± 4/3 bezeichnet (siehe GUT).

Die Struktur des Protons  S. 198 Baryogenese  S. 304 GUT  S. 258 Eichsymmetrien  S. 94

Protonenzerfall

Japan mit 50 Millionen Kilogramm Wasser. Er befindet sich vor der kosmischen Strahlung geschützt tief unter einem Berg in Japan. Der riesige Wassertank ist von lichtempfindlichen Detektoren umgeben, sogenannten Photomultipliern (), die Licht in Stromimpulse umwandeln. Bei einer Lebensdauer von 1030 Jahren müsste es hier etwa 15.000 Zerfälle pro Jahr geben. Wie könnten diese Zerfälle beobachtet werden? Das zerfallende Proton ist im Gesamtdetektor von sehr viel Wasser umgeben. Die energetischen Photonen vom Pion-Zerfall können dieses Wasser nicht bis zu den Photomultipliern durchdringen, sie bleiben somit unbeobachtet. Aber das relativistische Positron erzeugt ˇ erenkov-Strahlung () beim Flug durch das Wasser C im sichtbaren Bereich. Die Cˇ erenkov-Photonen haben eine sehr viel geringere Energie als die Photonen des Pion-Zerfalls und können bis zu den Detektoren an den Wänden gelangen. Die Cˇ erenkov-Strahlung ergibt an der Detektorwand jeweils einen ringförmigen Lichtkegel. Für den Protonenzerfall hat Super-Kamiokande eine untere Schranke für die Lebensdauer des Protons von etwa 1034 Jahren bestimmt. Nimmt man fünf Menschen (je 75 kg), die je 100 Jahre alt werden, dann gibt es weniger als einen Protonenzerfall für alle fünf zusammen über ihre gesamten Leben. Wir können also alle beruhigt schlafen.

299

Die untere Grenze für die Protonlebensdauer von etwa 1034 Jahren ist so strikt, dass sie die einfachsten GUT-Theorien schon ausschließt, insbesondere die GUT-Theorie ohne Supersymmetrie. In supersymmetrischen Theorien wird der Zerfall eines Protons zu einem Kaon und einem Neutrino bevorzugt: p ĺ K+ + 𝜈̄. Dies ist schwerer nachzuweisen und die untere Schranke für die Lebensdauer ist um etwa einen Faktor 10 schwächer. Der erste Detektor in Japan, Kamiokande, wurde gebaut, um nach Protonenzerfällen zu suchen. Er wurde dann als Neutrinodetektor sehr erfolgreich. Die Erweiterungen Super-Kamiokande und Hyper-Kamiokande hatten von Anfang an beide Physikaspekte im Visier. 2024 soll der Detektor JUNO in China anfangen Daten aufzunehmen. Dieser Detektor wurde für Neutrinophysik entwickelt, kann aber auch nach Protonenzerfällen suchen. JUNO ist deutlich kleiner als die Kamiokande-Detektoren, aber aus einem viel dichteren Material. Es basiert auf einem anderen Detektorprinzip, womit sich Kaonen besser nachweisen lassen. So soll es Lebensdauern im Kaonzerfall um etwa einen Faktor zehn länger messen können als Super-Kamiokande. Das geplante DUNE-Experiment in den USA ist in dieser Hinsicht ähnDurchmesser 68 m lich zu JUNO. Zugangs-

Der Hyper-Kamiokande-Detektor in Japan befindet sich tief unter der Erde.

Eingangssperre (Beton)

Fotos des Super-Kamiokande-Detektors sind in den Artikeln Große Detektoren tief im Berg  S. 126 und Neutrinos  S. 184 zu sehen.

2

Spezielle Relativitätstheorie  S. 34 Szintillatoren und Photomultiplier  S. 70 Îerenkov-Strahlung und Teilchenidentifikation  S. 78

Wassertiefe 71 m

tunnel

2027 soll in Japan der Detektor Hyper-Kamiokande seinen Betrieb aufnehmen. Der Zylinder hat einen Durchmesser von 68 m und ist 71 m hoch. Er befindet sich ebenfalls tief unter der Erde und ist im Innenraum an den Wänden mit zahlreichen Photomultipliern bestückt. Hyper-Kamiokande wird 20 Mal größer (im Volumen) als Super-Kamiokande und entsprechend empfindlicher sein.

300

11 Die Suche nach Physik jenseits des Standardmodells

Supernovae als Teilchenphysiklabore Dramatische Ereignisse mit ungeahnten Fähigkeiten

Supernovae gehören zu den spektakulärsten Ereignissen im Universum – und können gleichzeitig vielfach „genutzt“ werden, um spannende physikalische Fragen zu untersuchen. Wieso das so ist und was das mit Teilchenphysik zu tun hat, soll hier erzählt werden.

dass er den beschriebenen Elektronendruck überwindet: Die Elektronen, die wegen der hohen Kompression sehr hohe Energien haben, werden in die Kerne gedrückt. Dort werden sie von den Protonen eingefangen, die dadurch unter Freisetzung hochenergetischer Neutrinos zu Neutronen werden. Damit verschwindet aber Im Artikel Elemententstehung in Sternen () beschrei- der stabilisierende Elektronendruck, so dass der Eisenben wir die Veränderungen, die ein Stern in seinem kern des Sterns kollabiert (Bild C), und zwar so lange, Leben durchmacht: Wird eine Gaswolke durch die bis das Pauli-Prinzip der Neutronen einsetzt und den Schwerkraft zusammengezogen, so setzt bei einer hin- Kollaps zum Stoppen bringt. Das ist ein ganz schön drareichend großen Dichte und Temperatur die Kernfu- matischer Kollaps, da eine Elektronenwolke ca. 100.000 sion ein. Dadurch entstehen unter anderem Photonen Mal größer als komprimierte Neutronenmaterie ist. und Neutrinos, die nach außen drängen. Die Photonen bauen hierbei einen Strahlungsdruck auf, der den Stern Die ganze Energie des Kollapses wird in einer Schockgegen die Gravitation stabilisiert. Die Neutrinos hinge- welle mit dem Material der Hülle außerhalb des Eisengen können (fast) ungestört den Stern verlassen. Im in- kerns wieder nach außen geschleudert (Bild D). Dies nersten Kern sind zuerst alle Protonen zu Deuteronen ist die Dynamik einer Typ-II-Supernova. Zurück bleibt, verschmolzen und die Fusion zu schwereren Kernen je nach Größe des Ausgangssterns, ein Neutronenstern setzt ein, während weiter außen noch Protonen fusio- (so etwas wie ein Riesenatomkern vor allem aus Neutnieren. So reichern sich im Inneren immer mehr immer A B schwerere Kerne an. Mit Eisen kommt diese Kette zum Erliegen.

Der wachsende Eisenblock im Inneren (Bild A der Abbildung, blauer Kern) wird nun dadurch stabilisiert, dass man die dort vorhandenen Elektronen nicht beliebig zusammenquetschen kann, denn das Pauli-Prinzip verbietet, dass sich zwei Elektronen im gleichen Energieniveau befinden (Fermionen und Bosonen ). Wird der Eisenblock jedoch schwerer als 1,4 Sonnenmassen und damit die sogenannte Chandrasekhar-Grenze erreicht (Bild B), so ist der Gravitationsdruck so groß,

Elemententstehung in Sternen  S. 308 Fermionen und Bosonen  S. 90

C

Phasen des Lebens eines Sterns

D

Supernovae als Teilchenphysiklabore

301

wurde: Die durchgezogene Linie im Bild ist das Ergebnis einer entsprechenden Simulationsrechnung. Nun mag man fragen: „Das ist ja alles spannend, aber was hat das mit Teilchenphysik zu tun?“ Die Verbindung macht die folgende Überlegung deutlich: Gäbe es außer Neutrinos noch andere Mechanismen, die in etwa so stark wie Neutrinos an die Standardmodell-Teilchen koppeln, so könnten diese den NeutriÜberbleibsel der SN1987A Neutrinos aus SN1987A nos bei der Kühlung Konkurrenz maronen, wenige Kilometer groß, aber mehrere Sonnen- chen und somit den Kühlprozess beschleunigen. Das massen schwer) oder sogar ein Schwarzes Loch. erlaubt es uns, die Eigenschaften möglicher Prozesse jenseits des Standardmodells einzuschränken. Das Spannende für unsere Diskussion ist, dass die Gesamtenergie der Schockwelle sehr gut bekannt ist: Die beiden zusätzlichen Kurven in der Abbildung zeiSie entspricht der Energie, die in dem Eisenkern mit gen z. B. welcher zeitliche Verlauf des Neutrinosignals 1,4 Sonnenmassen gespeichert war. Nur ein Prozent zu erwarten gewesen wäre, wenn es zwei zusätzliche dieser Energie geht in sichtbares Licht, der komplette Dimensionen für die Gravitation gegeben hätte () mit Rest wird von Neutrinos davongetragen. Man kann einem Radius von 4 · 10 −7 m (kurz gestrichelt) oder sogar berechnen, über welchen Zeitraum nach dem 10 −6 m (lang gestrichelt). In ersterem Fall wären keine Kollaps noch hochenergetische Neutrinos zu erwarten Neutrinos mehr nach 10 Sekunden (Kurve wird flach) sind. Und dass die Rechnung funktioniert, sieht man und in letzterem nach 5 Sekunden zu erwarten gewesen. am Vergleich mit Daten einer echten Supernova, deren Offensichtlich ist insbesondere die letztere Kurve nicht Neutrinos 1987 auf der Erde eintrafen. Zum Beispiel mehr mit den Daten kompatibel. In anderen Worhat der Neutrinodetektor Kamiokande insgesamt 11 ten: Das gezeigte Neutrinosignal schließt aus, dass es hochenergetische Neutrinos in 13 Sekunden gemes- zwei Extra-Dimensionen mit einem Radius größer als sen; danach war der entstandene Neutronenstern so 10 −6 m gibt. Somit hat das Neutrinosignal einer Superweit abgekühlt, dass keine hochenergetischen Neutri- nova uns erlaubt, etwas über eine mögliche Erweiterung nos mehr abgestrahlt wurden. In der Abbildung oben des Standardmodells zu lernen. Die Idee funktioniert rechts sind die gezählten Neutrinos als Sternchen übrigens analog auch für andere Teilchen, die als mögeingetragen. Das Diagramm ist so zu lesen, dass z. B. liche Erweiterung des Standardmodells vorgeschlagen das 9. Neutrino nach 10 Sekunden eintraf. Diese 13 Se- wurden wie z. B. Neutralinos (Supersymmetrie ) oder kunden entsprechen der Zeitskala, die auch berechnet Axionen (Das starke CP-Problem ).

Extra-Dimensionen  S. 262, Zusätzliche Raumdimensionen am LHC  S. 284 Supersymmetrie  S. 260 Das starke CP-Problem  S. 272

12 Die Verbindung des Größten mit dem Kleinsten Es ist erstaunlich, wie eng die allergrößten Strukturen des gesamten Universums mit den allerkleinsten Strukturen, den Elementarteilchen, verwoben sind. Wir haben in diesem Buch die kleinsten und, soweit wir wissen, elementaren Bausteine der Welt betrachtet. In den ersten Artikeln konnten wir lesen, wie aus den elementaren Teilchen über Atome und Moleküle auf immer größeren Längenskalen schrittweise komplexere Strukturen aufgebaut werden, deren Aussehen und Gesetzmäßigkeiten scheinbar nichts mehr mit Elementarteilchen zu tun haben. Der Weg vom Kleinsten bewegt sich aber nicht immer weiter weg hin zum Größten, sondern eher in einem Kreis, wieder zurück zum gemeinsamen Ursprung. In diesem letzten Kapitel des Buches wird dieser Kreis geschlossen und wir betrachten einige Beispiele der engen Verknüpfung kosmologischer Beobachtungen mit teilchenphysikalischen Erkenntnissen.

304

12 Die Verbindung des Größten mit dem Kleinsten

Baryogenese

Wieso gibt es (fast) keine Antimaterie im Universum? Direkt nach dem Urknall war unser Universum sehr heiß und enthielt genauso viele Baryonen wie Antibaryonen. Somit war die Gesamtbaryonenzahl null und das Universum war symmetrisch bezüglich der Baryonen. Heute beobachten wir jedoch, dass alle Materie in Planeten, Sternen und Galaxien aus Baryonen besteht und es keine stabilen Strukturen mit Antibaryonen gibt. Das Universum besitzt eine Baryonenasymmetrie: Die Anzahl der Baryonen minus der Antibaryonen ist ungleich null. Wie sich aus dem ursprünglich symmetrischen Universum das heutige asymmetrische entwickeln konnte, beschreibt die dynamische Theorie der Baryogenese. In diesem Artikel wollen wir zwei Fragen beantworten: (1) Ist das Universum heute in der Tat asymmetrisch? und (2) Wie sieht die dynamische Theorie aus und was braucht sie, damit sich das Universum zur Asymmetrie entwickeln konnte? Zu (1): Wenn wir Materie und Antimaterie () zusammenbringen, so vernichten sie sich zu Strahlung (). Trifft also ein Elektron auf ein Positron, entstehen zwei hochenergetische Photonen, Gammastrahlung, mit je 511 keV. Bei der Annihilation eines Protons und eines Antiprotons entstehen über den Umweg von Pionen und Myonen auch Elektronen und Positronen. Als die ersten Ast-

1

ronauten auf dem Mond landeten, fand keine solche Annihilation statt. Zur Venus und zum Mars geschickte Proben verschwanden ebenfalls nicht in einem Gammablitz. Der Mond, die Venus und der Mars bestehen also aus Materie, so wie wir. Der solare Wind transportiert sogar Materie von der Sonne bis jenseits der Grenzen unseres Sonnensystems. Nirgendwo beobachten wir die charakteristischen Gammastrahlen der Annihilation. Unser gesamtes Sonnensystem besteht also vollständig aus Materie, nicht Antimaterie. Auf größeren Skalen im Universum können wir nur indirekte Hinweise finden. In unserer Galaxie gibt es Gaswolken, die Kontakt mit mehreren Sternen haben. Auch hier beobachten wir keine Vernichtung von Materie und Antimaterie. Unsere gesamte Milchstraße ist demzufolge aus Materie aufgebaut. Auf sehr viel größeren Skalen finden Kollisionen von Galaxienhaufen statt, den größten bekannten Strukturen im Universum. Selbst dabei gab es keine beobachtbare MaterieAntimaterie-Vernichtung. Nach den bisherigen Erkenntnissen gibt es keine Anhäufung von Antimaterie im gesamten für uns sichtbaren Universum. Es ist also asymmetrisch bezüglich der Anzahl der Baryonen. Sollten uns einmal Außerirdische besuchen, so können wir ihnen

Andrej Sacharow erhielt übrigens 1975 den Friedensnobelpreis.

Was ist Antimaterie?  S. 18 Paarvernichtung, Annihilation: Feynman-Diagramme II  S. 98, Positronen-Emissions-Tomographie  S. 134 Symmetrien  S. 56

Baryogenese

wahrscheinlich getrost die Hand schütteln, wenn sie eine haben. Wer vorsichtiger ist, könnte ihnen auch erst einen Tennisball zuwerfen. Zu (2): Wie kann sich ein symmetrisches Universum dynamisch in ein asymmetrisches umwandeln? Dazu muss nach Andrej Sacharow1 (1967) die zugehörige Theorie der Natur drei Bedingungen erfüllen:

305

nehmen wir an, dass es neue Teilchen X gibt, die auf zwei Arten zerfallen können: in zwei up-Quarks oder in ein Anti-down-Quark und ein Positron, X ĺ u + u , X ĺ d ̄ + e +.

Solche X-Eichbosonen kommen in Theorien der großen Vereinheitlichung (GUTs ) vor. Die beiden möglichen Endzustände haben eine unterschiedliche Baryonenzahl: +2/3 bzw. −1/3, und X hat somit selbst (i) Baryonenzahlverletzung keine bestimmte Baryonenzahl. Die Baryonenzahl ist (ii) Das Universum muss sich außerhalb des thermi- in diesen Reaktionen verletzt. schen Gleichgewichts begeben. (iii) Die CP-Symmetrie () muss in den Wechselwir- Im thermischen Gleichgewicht finden die Umkehrkungen verletzt sein. reaktionen genauso schnell statt. Im expandierenden Universum sinkt aber die Dichte der Teilchen und irDass die erste Voraussetzung notwendig ist, sollte klar gendwann finden sich z. B. die zwei up-Quarks nicht sein, wir wollen ja die Baryonenzahl verändern. Die 2. mehr. Die Umkehrreaktionen hören auf. Die X-TeilBedingung können wir uns anhand einer Kochsalzlö- chen zerfallen, aber werden nicht mehr erzeugt. Das sung veranschaulichen: Wir sagen, dass die Lösung im thermische Gleichgewicht ist gestört. Da die Baryothermischen Gleichgewicht ist, wenn sich die Tempe- nenzahl in den Zerfallsreaktionen verletzt ist, wird sie ratur und auch die Anzahl gelöster Atome nicht mehr durch die Zerfälle verändert. ändern. Für jede Reaktion (Salzmolekül löst sich) passiert die Gegenreaktion (Salzmolekül fällt aus) genauso Es gibt aber notwendigerweise auch die Antiteilchen –, und zwar im thermischen Gleichgewicht in gleicher oft. Das gleiche Prinzip gilt, wenn wir eine Reaktion X a + b ĺ c + d haben, die die Baryonenzahl verletzt. Anzahl wie die X. Die X– zerfallen in die Anti-EndzuDie Umkehrreaktion c + d ĺ a + b erfolgt im thermi- stände mit umgekehrten Baryonenzahlen schen Gleichgewicht genauso oft und folglich ändert – ĺ ū + ū , X – ĺ d + e −. X sich insgesamt die Baryonenzahl nicht. Wenn sich nun aber die Randbedingungen ändern, z. B. die Tempera- Insgesamt haben wir also immer noch die Baryonen– zerfallen, weil sie sich tur, so ist das Gleichgewicht – zumindest für eine ge- zahl null, wenn alle X und X wisse Zeit – verletzt, und die Anzahl der gelösten Salz- genau aufheben. Sollte die Theorie zusätzlich noch ein moleküle oder der Baryonen ändert sich. wenig die CP-Symmetrie verletzen (), so sind die X–-Zerfallsraten nicht mehr gleich und insgesamt und X Weil die Bedingung (i) im Standardmodell nicht ge- ist die Baryonenzahl verletzt. Dies führt dann im weiter geben ist, betrachten wir zur Erklärung der dritten Be- expandierenden Universum zu einer Baryonenasymdingung eine Erweiterung des Standardmodells. Dazu metrie, wie wir sie heute im Universum beobachten.

Hätte die CP-Verletzung ein negatives Vorzeichen, dann wäre es umgekehrt und wir hätten einen Überschuss an dem, was wir heute Antimaterie nennen.

2

GUT  S. 258 Diskrete Symmetrien: P- und CP-Verletzung  S. 178, Die Verletzung der CP-Symmetrie in BMesonen  S. 242 und Der Weg zu sechs Quarks in drei Familien  S. 182

306

12 Die Verbindung des Größten mit dem Kleinsten

Nukleosynthese im Urknall

Helium, Neutrinos und die Materie-Antimaterie-Asymmetrie Photons 𝛾 abgestrahlt. Das Deuteron kann von einem Photon mit genügend hoher Energie in der Umkehrreaktion wieder gespalten werden. Es kann also nur nachhaltig gebildet werden, wenn die Dichte hochenergetischer Photonen durch die Abkühlung des Universums weit genug abgesunken ist. Das war erst zwei Minuten nach dem Urknall der Fall. Zwei Minuten klingt nicht viel, ist aber im Vergleich zur Lebensdauer Wie im Artikel zu Materie und Antimaterie () be- der Neutronen von fünfzehn Minuten schon spürbar schrieben, haben sich fast alle Teilchen, die im Urknall lange. Da Neutronen etwas schwerer als Protonen sind entstanden sind, mit ihren jeweiligen Antiteilchen zu (Quarkmasseneffekt ), hatte sich mit der Abkühlung Photonen vernichtet. Aufgrund einer winzigen Asym- des Universums das Zahlenverhältnis zwischen den metrie zwischen Materie und Antimaterie blieb nur beiden sowieso schon zu einem Überschuss an Protoein kleiner Überschuss an Teilchen von eins in einer nen verschoben. Zusammen mit dem Zerfall der NeutMilliarde übrig. Insbesondere existierten danach zwar ronen während der zwei Minuten führte das dazu, dass Quarks, aber keine Antiquarks, sowie eine Milliarde es sieben Mal mehr Protonen als Neutronen gab, bevor mal mehr Photonen. Nachdem das Confinement () Deuteron und danach weitere Elemente gebildet werkeine freien Quarks zulässt, mussten sich diese zu Ha- den konnten. Die meisten Protonen fanden somit kein dronen zusammenfinden. Mesonen sind aus Quarks Neutron als Partner zur Fusion, weshalb Wasserstoff und Antiquarks aufgebaut, aber die Antiquarks waren das häufigste im Urknall gebildete Element blieb. bereits verschwunden. Deshalb bildeten sich nur die leichtesten Baryonen, nämlich Protonen und Neu- Aus den entstandenen Deuteronen werden durch Fusitronen – zunächst in gleicher Anzahl. Damit war der on mit einem Neutron oder einem Proton schrittweise leichteste Atomkern schon vorhanden: der Kern von Proton DeuteriumWasserstoff, der nur aus einem Proton besteht. Zusamkern men mit den Neutronen standen auch alle Bausteine für schwerere Atomkerne zur Verfügung. Zu Beginn war das Universum sehr heiß und in den ersten Minuten nach dem Urknall gab es alle möglichen Elementarteilchen, wie z. B. Quarks, Neutrinos und Leptonen, in großer Zahl. Als das Universum zwei Minuten nach dem Urknall hinreichend abgekühlt war, sind daraus die ersten Atomkerne entstanden. Wie? Das wollen wir uns hier anschauen.

Wie auch in Sternen ist der erste Schritt zum Aufbau weiterer Kerne die Fusion eines Neutrons und eines Protons zu einem Deuteron n + p ĺ d + 𝛾. Dabei wird die Bindungsenergie von 2,2 MeV in Form eines

Materie und Antimaterie  S. 290 Confinement  S. 192 Der Quarkmasseneffekt  S. 208

Neutron

Tritiumkern

Heliumkern

Bei der Bildung der ersten Elemente verschmelzen zunächst ein Proton und ein Neutron zu Deuteron. Durch weitere Anlagerung je eines Neutrons und eines Protons entsteht daraus Helium.

Nukleosynthese im Urknall

307

erst Tritium- und dann Heliumkerne erzeugt. Helium besteht aus vier Nukleonen: zwei Protonen und zwei Neutronen. Da es, wie man im Ausschnitt der Karlsruher Nuklidkarte () in der Abbildung unten sehen kann, kein stabiles Element mit fünf Nukleonen gibt, kam die Elementsynthese im Urknall nicht weiter. Lediglich in Spuren entstand etwas Lithium mit sieben Nukleonen aus der Fusion von Helium und Tritium. Alle Elemente schwerer als Helium wurden im Wesentlichen erst später in Sternen gebildet (). Die Häufigkeiten der leichten Elemente im Universum – und hier insbesondere von Wasserstoff und Helium – geben das Verhältnis der Häufigkeiten von Neutronen und Protonen zum Zeitpunkt der Entstehung der ersten Elemente im Urknall wieder. Das Verhältnis von Protonen zu Neutronen wurde, wie zuvor beschrieben, Zentralgebiet der Antennengalaxie. Junge Sterne leuchten blau und sind von rosa-roten Wolken aus ioniertem Wasserstoff umgefestgelegt durch das Baryon-Photon-Verhältnis, der ben. Die Häufigkeit von Wasserstoff und Helium im Universum erHäufigkeit von Protonen und Neutronen im Vergleich laubt Rückschlüsse auf die Materie-Antimaterie-Asymmetrie. zur Häufigkeit von Photonen. Letzteres entspricht der Asymmetrie zwischen Materie und Antimaterie, die Da Neutronen und Protonen durch 𝛽-Zerfälle, also man daher umgekehrt aus den Elementhäufigkeiten Reaktionen mit Neutrinos, ineinander umgewandelt bestimmen kann. werden, spielt auch die Neutrinodichte im Universum eine wichtige Rolle. Gäbe es mehr als die drei bekannten Neutrinoflavours (Elektron-, Myon-, Tau-Neutrino), wäre daher das Neutron-Proton-Verhältnis bei der Elementsynthese anders gewesen. Interessanterweise kann man so mit den Messungen der Elementhäufigkeiten im Universum ausschließen, dass es mehr als die bekannten drei Neutrinoflavours gibt.

Ausschnitt der Nuklidkarte bei leichten Elementen. Es gibt kein stabiles Nuklid mit der Kernmasse 5.

Die Karlsruher Nuklidkarte  S. 212 Elemententstehung in Sternen  S. 308

Die Häufigkeit von Wasserstoff und Helium kann anhand von Spektrallinien im Licht von Gaswolken im Universum bestimmt werden. So kann man mit optischen Teleskopen und astronomischen Beobachtungen Teilchenphysik betreiben.

308

12 Die Verbindung des Größten mit dem Kleinsten

Elemententstehung in Sternen Wie war das mit dem Sternenstaub?

Im Artikel zu Nukleonen und Kernen () haben wir gesehen, dass es eine riesige Vielfalt an stabilen und instabilen Kernen gibt. Aber wie sind diese entstanden? Schließlich nehmen wir an, dass das Universum vor ca. 14 Milliarden Jahren im Urknall aus Strahlungsenergie entstand. Zwar konnte zumindest eine gewisse Menge an leichten Kernen (Wasserstoff, Helium und Lithium) in den ersten drei Minuten nach dem Urknall entstehen (), aber woher kommen die anderen leichten und insbesondere die schwereren Kerne? Um bei dieser Frage weiterzukommen, muss man sich Sterne genauer ansehen. Diese gehen aus riesigen Gaswolken hervor, die vor allem aus Wasserstoff bestehen. Zwar ist die Anziehung durch die Schwerkraft zwischen den Gasteilchen sehr schwach, aber das reicht trotzdem aus, damit sich eine Wolke zusammenzieht. Dabei wird sie immer dichter und vor allem heißer, denn die gleiche Energie, die man aufbringen müsste, um den Stern in seine Bausteine zu zerlegen, wird bei seiner Entstehung frei und geht als Wärmeenergie in eben diese Bausteine über. Irgendwann sind Dichte und Temperatur so hoch, dass zwei Protonen unter Abstrahlung eines Positrons und eines Elektron-Neutrinos zum Deuteron verschmelzen können (siehe Abbildung rechts). Die Neutrinos können dann auf der Erde nachgewiesen werden und gaben den Forschenden lange ein Rätsel auf (Sonnenneutrinos ). Bei diesem Fusionsprozess wird die Bindungsenergie des Deuterons freigesetzt, abzüglich der Elektronmasse und der Proton-Neutron-Massendifferenz. Das ist aber immer noch eine ganze Menge, insbesondere da mit 98 % fast

Von Nukleonen zu Kernen  S. 210 Nukleosynthese im Urknall  S. 306 Neutrinos von der Sonne  S. 320

die gesamte Energie als Strahlungsenergie abgestrahlt wird – der Stern beginnt zu leuchten! Dieser Prozess braucht sehr große Dichten und Temperaturen, da ansonsten die Abstoßung zwischen den gleich geladenen Protonen nicht überwunden werden kann. Genau deshalb ist es so schwierig, Kernfusion als Energiequelle auf der Erde nutzbar zu machen. Im nächsten Schritt kann ein weiteres Proton an das Deuteron gebunden werden und 3He bilden (siehe Abbildung). Sind erst genügend dieser Helium-3-Kerne gebildet, können zwei von ihnen, unter Abstrahlung zweier Protonen, zum 4He, dem 𝛼-Teilchen, fusionieren. Man mag sich fragen, warum nicht direkt zwei Deuteronen zum 𝛼 fusionieren. Der Grund ist, dass letztere Reaktion sehr viel unwahrscheinlicher als die Erzeugung von 3He ist, da in der Sonne sehr viel mehr Protonen als Deuteronen verfügbar sind und weil der direkte Übergang von zwei 2H zum 𝛼 nur unter Abstrahlung von zwei Photonen möglich ist. Die Energieerhaltung erlaubt den Übergang von zwei stabilen

Erste Kernfusionsprozesse in einem Stern

Elemententstehung in Sternen

309

Teilchen in ein stabiles nur unter Abstrahlung mindestens eines weiteren Teilchens, da die Bindungsenergie abgeführt werden muss. Dass hier sogar zwei Photonen nötig sind, liegt in den quantenmechanischen Auswahlregeln begründet. Ein solcher elektromagnetischer Übergang passiert jedoch sehr viel seltener als Übergänge, die von der starken Wechselwirkung ermöglicht werden – wie die oben beschriebene Verschmelzung der 3He-Kerne. Unsere Sonne befindet sich noch in dieser Phase. Bei älteren oder schwereren Sternen finden weitere Fusionsreaktionen statt, bei denen das sehr stabile 4He als eigener Baustein eine wichtige Rolle spielt. Zunächst verschmelzen zwei 𝛼-Teilchen zum Beryllium-8, das dann mit einem weiteren zum Kohlenstoff, 12C, fusioniert. Aber hier gibt es ein Problem: Beryllium-8 ist instabil und es zerfällt nach einiger Zeit wieder in zwei 𝛼-Teilchen. Somit kann Kohlenstoff in großen Mengen nur dann entstehen, wenn die Rate für die Verschmelzung von 4He mit 8Be sehr groß ist. Dies ist nur dann möglich, wenn es im Kohlenstoff eine genau passende Resonanz () gibt. Aufgrund dieser Überlegungen hat der britische Physiker Fred Hoyle bereits 1954 eben diese Resonanz im Kohlenstoff vorhergesagt, die drei Jahre später auch experimentell gefunden wurde. Diese Feinabstimmung der Resonanzenergie im Hoyle-Zustand und der Energie von 8Be + 𝛼 wirft die spannende Fragen auf, wie viel Feinabstimmung es im Standardmodell geben muss, damit das kohlenstoffba-

Zweite Stufe der Kernfusionsprozesse in einem Stern

Resonanzen  S. 52 Ist das Leben auf der Erde ein Zufall?  S. 274 Supernovae als Teilchenphysiklabore  S. 300

Aufbau eines Sterns

sierte Leben, wie wir es kennen, entstehen konnte (Ist das Leben auf der Erde ein Zufall? ). Weitere Fusionsprozesse führen dazu, dass alle Elemente bis zum Eisen erzeugt werden. Dann kommt die Fusion zum Erliegen, da Eisen das am stärksten gebundene Element ist. Somit reichert sich im Inneren von Sternen nach und nach Eisen an, während in den äußeren Hüllen noch leichtere Elemente zu finden sind. Es ergibt sich eine Struktur wie im Bild oben dargestellt. Woher kommen dann Kerne, die schwerer als Eisen sind? Ein Teil kann durch den Einfang von Neutronen nebenbei produziert werden. Der Rest sowie insbesondere die sehr schweren Kerne können jedoch nur erzeugt werden, wenn ein Atomkern viele Neutronen gleichzeitig aufnimmt. Das bedarf jedoch einer Neutronendichte, wie sie nur in Supernovaexplosionen () oder der Verschmelzung von Neutronensternen zu finden ist. In beiden Prozessen werden außerdem riesige Energiemengen freigesetzt, wodurch die Kerne im All verteilt werden.

310

12 Die Verbindung des Größten mit dem Kleinsten

Kosmischer Mikrowellenhintergrund Ein Blick ins frühe Universum und seine Zusammensetzung

In den sechziger Jahren arbeiteten Arno Penzias und Robert Wilson an einer Antenne zur Satellitenkommunikation. Dabei mussten sie sich mit einem ständigen Rauschen im Signal auseinandersetzen. Alle Versuche, dieses Rauschen loszuwerden, wie z. B. durch das Wegputzen von Taubendreck, waren erfolglos – bis sie erkannten, auf was sie da gestoßen waren.

aus und kühlt dabei ab. Umgekehrt war das Universum früher dichter und heißer. Mit welchem Tempo sich das Universum ausdehnt, hängt von seiner Zusammensetzung ab. Aus welchen Teilchen ist das Universum aufgebaut? Welche Rolle spielt Strahlung? Nach der allgemeinen Relativitätstheorie beeinflusst die Energiedichte des Universums auch die Geometrie des Raumes. Weicht die Energiedichte im Universum von einer bestimmten kritischen Dichte ab, so ist der Raum gekrümmt (Entwicklung des Universums ). Wie groß ist die Dichte des Universums im Vergleich zur kritischen Dichte? Diese Frage konnte erstmals mit der genauen Untersuchung des CMB mit den amerikanischen Satelliten COBE und WMAP und dem europäischen Planck-Satelliten beantwortet werden.

Zur gleichen Zeit stellten die Astrophysiker Robert Dicke, Jim Peebles und David Wilkinson durch Überlegungen fest, dass der Urknall noch heute messbare Mikrowellenstrahlung erzeugt haben sollte. Als Penzias und Wilson deren noch unveröffentlichtes Manuskript zu sehen bekamen, realisierten sie, was ihre Antenne mit dem Rauschen gemessen hatte: den kosmische Mikrowellenhintergrund, kurz CMB (cosmic microwave background), einen Nachhall des Urknalls. Diese Entdeckung war die erste experimentelle Bestätigung der Bis etwa 400.000 Jahren nach dem Urknall bestand alle Urknalltheorie. Penzias und Wilson brachte dies im bekannte Materie aus Wasserstoff, etwas Helium und Jahre 1978 den Nobelpreis ein. Spuren von Lithium. Die Temperatur war bis zu dieser Zeit noch so hoch, dass alle Atome durch die Photonen Die genaue Untersuchung des CMB hat der Kosmo- ionisiert waren, d. h., es gab negativ geladene Elektrologie eine Fülle von neuen Erkenntnissen zur Struktur nen getrennt von positiv geladenen Atomkernen. An des Universums gebracht. Wir leben in einem expan- diesen geladenen Teilchen wurde Strahlung sehr stark dierenden Univer- gestreut, so dass die Photonen nur kurze Strecken gerasum, d. h. es dehnt deaus fliegen konnten, bevor sie durch Streuung wieder sich immer weiter abgelenkt wurden. Arno Penzias und Robert Wilson vor der Antenne, die zu ihrer Entdeckung des kosmischen Mikrowellenhintergrundes geführt hat

Die Entwicklung des Universums  S. 322

Erst 400.000 Jahre nach dem Urknall war die Temperatur so weit gesunken, dass sich Elektronen und Atomkerne kombinieren konnten und nur noch elektrisch neutrale Atome vorhanden waren. Ohne gela-

Kosmischer Mikrowellenhintergrund

311

dene Teilchen fiel die Streuung 70 % des Universums? Es muss der Strahlung weg und die sich um eine andere, bisher Photonen wurden frei. rätselhafte Energieform Wir sprechen von der handeln, die wir DunkEntkopplung der Strahle Energie () nennen. lung. Die Strahlung ist seither nahezu ungestört 70 % Dunkle Energie im Universum unter anund 26 % Dunkle Materie derem zu uns unterwegs – wir müssen feststellen, und bildet, wenn wir sie dass wir 96 % des UniHimmelskarte der Temperatur des kosmischen Mikrowellenhinterbeobachten, den CMB. versums nicht kennen grundes. Rote Bereiche sind etwas heißer, blaue etwas kälter. Die und nicht wissen, ob und Temperaturschwankungen entsprechen Dichteschwankungen in Die Materie war in wenn ja welche Teilchen der Frühphase des Universums. Schwingungen versetzt, dahinter stecken. Doch angetrieben einerseits von der Anziehung durch die die Rätsel gehen noch weiter. Die Teilchenphysik hat Gravitationskraft und andererseits durch den Druck, bisher auch keine Antwort auf die Frage, wieso es im den die Strahlung aufgrund der Streuung an der Ma- Universum Materie aber keine Antimaterie gibt (Baryterie erzeugte. Genaue Untersuchungen des CMB ogenese ). Damit wissen wir auch über die verbleibenzeigen uns auch heute noch einen Schnappschuss des den 4 % bekannter Materie nicht, wieso sie überhaupt Musters dieser damaligen Schwankungen der lokalen existieren. Die hervorragenden Erfolge der genauen Dichte von Elektronen und Atomkernen. Die Intensi- Untersuchung des CMB haben uns so mit hoher Präzität und die Größe der Schwingungen hängen sehr stark sion gezeigt, dass unser teilchenphysikalisches Wissen von der Gesamtdichte im Universum und den Dichten zur Erklärung des Universums im Wesentlichen aus von Strahlung und Materie ab, weshalb man diese aus Unwissen besteht. der Untersuchung des CMB bestimmen kann.

Dark Sector: Dunkle Energie  S. 270 Baryogenese  S. 304

Temperaturschwankungen [μK2·1000]

Demnach hat das Universum ziemlich exakt die kritische Dichte, d. h. auf großen Skalen ist der Raum nicht gekrümmt. Während die Strahlungsdichte heute sehr klein ist und keine Rolle mehr spielt, beträgt die Materiedichte etwa 30 % der kritischen Dichte. Interessanterweise zeigen die Schwingungsmuster auch, dass die uns bekannten Teilchen dazu nur etwa 4 % beitragen, die restlichen 26 % bestehen aus bisher unbekannten, ungeladenen Teilchen, der Dunklen Materie. Es bleibt die große Frage: Woraus bestehen die restlichen

Das Spektrum der Dichteschwankungen des CMB zeigt, wie häufig Schwankungen einer bestimmten Ausdehnung vorkommen. 6 5 4 3 2 1 0

90°

18°



0,2° räumliche Ausdehnung

0,1°

0,07°

312

12 Die Verbindung des Größten mit dem Kleinsten

Das Größte und das Kleinste

Einfluss der Neutrinomasse auf die großräumige Struktur im Universum Es besteht eine erstaunliche Verbindung zwischen den größten beobachtbaren Objekten im Universum mit Ausdehnungen von hundert Millionen Lichtjahren und Neutrinos, den leichtesten und flüchtigsten aller Elementarteilchen. Neutrinos sind mit einer Dichte von etwa 330 pro cm3 neben Photonen die häufigsten Teilchen im Universum. Würden die drei Neutrinomassen zusammen nur 50 eV/c 2 auf die Waage bringen, würden sie die Gesamtmasse im Universum dominieren. Im Vergleich dazu ist das ansonsten leichteste bekannte elementare Materieteilchen, das Elektron, mit einer Masse von 511.000 eV/c 2 um vier Größenordnungen schwerer. Für die Entwicklung des Universums könnten die Neutrinos daher eine bedeutende Rolle spielen und insbesondere die Struktur der Verteilung der Galaxien wesentlich beeinflussen. Im frühen Universum vernichteten sich Teilchen und Antiteilchen gegenseitig, wenn sie aufeinandertrafen und miteinander reagierten (Baryogenese ). Je schwächer die Teilchen wechselwirken, desto seltener geschieht das. Außerdem werden die Zusammentreffen mit der Ausdehnung des Universums und der damit sinkenden Teilchendichte immer seltener. Da Neutrinos nur schwach wechselwirken, wurde sehr früh nach dem Urknall die Zeitspanne, in der man im Mittel eine Reaktion zwischen einem Neutrino und seinem Antiteilchen erwartet, länger als das aktuelle Alter des Universums. Anders als für die anderen geladenen Teilchen kam damit die Vernichtung von Neutrinos zum Stillstand, weshalb sie bis heute mit der sehr hohen Dichte von 330 pro cm3 überlebt haben. Die Dichte

Baryogenese  S. 304 Nukleosynthese im Urknall  S. 306 Kosmischer Mikrowellenhintergrund  S. 310

von Protonen und Elektronen ist etwa eine Milliarde mal geringer. Da diese Neutrinos heute eine extrem niedrige Energie haben, ist ihr Nachweis nahezu unmöglich, ihre Existenz passt aber zu allen anderen kosmologischen Beobachtungen, wie zum Beispiel der Häufigkeit von Wasserstoff und Helium (). Heute beobachten wir mit Galaxienhaufen und dazwischen leeren Bereichen eine reichhaltige Struktur. Im frühen Universum war die Materie jedoch fast gleichmäßig verteilt. Dies kann man mit dem kosmischen Mikrowellenhintergrund () beobachten, welcher ca. 400.000 Jahre nach dem Urknall eine konstante Materiedichte mit Schwankungen von nur 1/100.000 der mittleren Dichte zeigt. Diese kleinen Schwankungen sind seither aufgrund der gravitativen Anziehung von Simulationen der Galaxienverteilung im Universum mit großer (links) und mit kleiner Neutrinomasse (rechts). Die Farben geben die im Universum sichtbare Materie an. Rechts wurde eine Neutrinomasse von null angenommen, links von 1,9 eV/c 2. Mit einer höheren Masse (links) wächst der Einfluss von Neutrinos auf die Bildung von Strukturen, welche daher mehr verwaschen sind.

Das Größte und das Kleinste

Materie zu den heute sichtbaren Strukturen angewachsen. Es dauert eine gewisse Zeit, bis eine Wolke aus Teilchen durch die Gravitationskraft kollabiert und dabei die Dichte anwächst. Der Kollaps steht dabei im Wettbewerb zum Entweichen der Teilchen aufgrund ihrer zum Teil sehr hohen Geschwindigkeit. Fliegen die Teilchen davon, bevor die Wolke kollabieren kann, dann wird sie wieder verschwinden, bevor die Teilchenund Materiedichte anwachsen kann. Strukturbildung ist dann nicht möglich. Je leichter die Teilchen sind, umso länger dauert es, bis sie durch die Abkühlung des Universums langsam genug sind, um Strukturbildung überhaupt zu ermöglichen. Je größer daher der Beitrag von Neutrinos als sehr leichte Teilchen wäre, desto länger wäre der Beginn der Strukturbildung in der Entwicklung des Universums hinausgezögert worden – mit sichtbaren Konsequenzen auf das Aussehen des heutigen Universums. Um die großräumige Struktur im Universum zu vermessen, gibt es aufwändige Himmelsdurchmusterungen mit Messungen der Positionen von einigen Millionen Galaxien. Dazu muss das Licht der vielen Millionen Galaxien spektroskopisch untersucht werden. Eine Aufgabe, die erst mit dem Aufkommen moderner Computer und Digitalkameras zu bewältigen war. Die Messungen zeigen, dass die Galaxien im Universum nicht gleichmäßig, sondern eher wie in einem Schwamm verteilt sind, mit „Wänden“ hoher Galaxiendichte und leeren Blasen dazwischen. Wie man aus Modellrechungen weiß, wäre die Größe dieser Blasen von im Mittel etwa 100 Millionen Lichtjahren heute anders, hätten Neutrinos bei der Strukturbildung eine große Rolle gespielt. Aus diesen Messungen können wir heute die Summe der drei Neutrinomassen auf maximal 0,5 eV/c 2 einschränken. Durch die Entwick-

Neutrinooszillationen  S. 186

313

lung neuer Methoden wird man in ein paar Jahren die Strukturen im Universum so genau vermessen können, dass man den Einfluss von Neutrinomassen von nur 0,03 eV/c 2 sehen würde. Aus den Oszillationsexperimenten () wissen wir, dass eine der Neutrinosorten mindestens eine Masse von 0,05 eV/c 2 haben muss. Daher sollten wir bald den Einfluss der Neutrinos auf die Struktur im Universum nicht nur eingrenzen, wir müssten ihn sehen können. Tatsächlich ist der Weg über die großräumige Struktur des Universums zur Zeit unsere beste Chance, die Neutrinomasse einmal messen zu können.

Schnitte einer gemessenen dreidimensionalen Verteilung von Galaxien. Jeder Punkt repräsentiert eine Galaxie mit typischerweise 100 Milliarden Sternen. Der äußere Kreis ist von der Erde im Zentrum des Bildes zwei Milliarden Lichtjahre entfernt.

314

12 Die Verbindung des Größten mit dem Kleinsten

Kosmische Strahlung Teilchen aus dem All

Nach der Entdeckung der Radioaktivität durch Henri Becquerel im Jahr 1896 erkannte man, dass es instabile Atomkerne () gibt, die zerfallen und Strahlung aussenden. Victor Hess untersuchte im Jahr 1912, wie sich die Intensität der Strahlung mit steigender Höhe über der Erdoberfläche verändert. Wenn die Strahlung von radioaktiven Elementen im Erdboden ausgesandt wurde, dann erwartete er eine Abnahme der Intensität, je höher er mit seinen Messinstrumenten in einem Ballon aufstieg. Überraschenderweise fand er ab einer gewissen Höhe aber eine Zunahme der Strahlungsintensität und damit Strahlung, die von außen vom All auf die Erde trifft. Heute ist diese kosmische Strahlung in vielen Details sehr genau untersucht. Demnach besteht sie zu 85 % aus Protonen und zu 12 % aus Helium und weiteren schwereren Kernen. Weitere etwa 2 % sind Elektronen. Die Energien der Teilchen überspannen einen enormen Bereich von 106 bis hin zu 1020 Elektronenvolt (eV). Die Intensität der Strahlung ist unterhalb von 10 GeV relativ konstant und fällt dann über den gesamten, viele Größenordnungen erstreckenden Energiebereich fast gleichmäßig proportional zur 2,7ten Potenz der Energie ab. D. h. die Intensität der Strahlung ist z. B. bei E = 1011 eV einen Faktor 10 2,7 = 500 Mal kleiner als bei der zehnmal niedrigeren Energie E = 1010 eV. So trifft auf jeden Quadratmeter etwa ein Teilchen niedriger Energie pro Sekunde auf die Erdatmosphäre. Bei den höchsten Energien ist es nur noch ein Teilchen pro km2 pro Jahr. Für die Untersuchung der Teilchen mit den höchsten Energien müssen daher riesige Flächen mit Detektoren überwacht werden(). Eine plausible Erklärung, woher die Teilchen kommen und wie sie beschleunigt wurden, lieferte Enrico Fermi 1949. Bewegt sich ein Teilchen auf eine Schockwelle zu, kann es, ähnlich wie ein Tennisball vom Tennisschläger, mit höherer Geschwindigkeit zurückgeworfen werden. Schockfronten aus sehr heißer und ionisierter Materie treten z. B. in Supernovaexplosionen () oder in der Umgebung Schwarzer

Von Nukleonen zu Kernen  S. 210 Ultrahochenergetische kosmische Strahlung  S. 316 Supernovae als Teilchenphysiklabore  S. 300 Wie funktioniert ein Beschleuniger?  S. 62

Energiespektrum der kosmischen Strahlung oberhalb 100 MeV. Die Zahlen an der Kurve geben an, wie viele Teilchen mit Energien oberhalb der Markierung auf die Erde treffen.

Löcher auf. Dabei erzeugt die Bewegung der ionisierten Materie elektrische Ströme und damit Magnetfelder. Magnetfelder lenken die Teilchen auf Kreisbahnen und so immer wieder durch die Schockfront, mit jedes Mal steigender Energie. Je höher die Energie der Teilchen wird, desto größer wird ihr Kreisbahnradius (). Solange der Radius kleiner als die Ausdehnung der Region ist, in der die Beschleunigung stattfindet, werden die Teilchen immer weiter Energie gewin-

Kosmische Strahlung

315

nen. Wird dagegen bei höherer Energie der kosmischen Strahlung bestimmt der Radius immer größer, entkommen werden. Beispiele dafür sind der PAsie und ihre Energie wird nicht weiter MELA-Satellit oder der AMS-Detektor anwachsen. Entsprechend hängt die auf der Internationalen Raumstation. maximal erreichbare Energie von der Ergänzt durch Messungen kosmischer Ausdehnung und der Größe der MagStrahlung auf der Erde mit Detektoren netfelder der Beschleuniger-Region ab. wie Auger oder dem kleineren Vorgänger In der Milchstraße können Protonen KASCADE des Forschungszentrums in maximal eine Energie von etwa 1015 eV Karlsruhe, konnte so die Zusammenerhalten, bevor ihr Radius die Größe der Der Supernovaüberrest Cassio- setzung der kosmischen Strahlung bei Galaxie erreicht. Im Spektrum der kos- peia A. Supernovaexplosionen niedrigen Energien und insbesondere in sind ein möglicher Entstemischen Strahlung zeigt sich dies durch hungsort für die Teilchen der der Region des Knies oberhalb 1015  eV einen Knick und einen steileren Abfall kosmischen Strahlung. studiert werden. Damit erkannte man, der Intensität oberhalb dieser Energie. dass bei diesen Energien das Ende der Man nimmt an, dass bei etwa 1.000fach höheren Ener- Beschleunigung in der Milchstraße erreicht wird. gien oberhalb von 1018 eV extragalaktische kosmische Strahlung dominant ist, da man dort im Spektrum Der genaue Ursprung der kosmischen Strahlung ist wieder einen Knick nach oben beobachtet und die In- noch nicht bekannt. Dazu müsste man die Richtung, tensität danach wieder etwas flacher proportional zu aus der die Teilchen kommen, messen. Weshalb das 1/E 2,7 verläuft. Das Bild dieses Spektrums ähnelt ei- einfacher gesagt als getan ist, wird im nächsten Artikel nem menschlichen Bein, deshalb wird der erste Knick erklärt. als Knie der zweite als Knöchel bezeichnet. Bei niedrigen Energien bleiben die Teilchen bei ihrer Ankunft sehr hoch oben in der Erdatmosphäre stecken. Um sie zu untersuchen, bleibt nur die Möglichkeit, die primären kosmischen Teilchen direkt mit Detektoren hoch in Ballons oder auf Satelliten im All () nachzuweisen. Da der Fluss der Teilchen bei niedrigen Energien ausreichend groß ist, reichen Detektorflächen von ~ 1 m2 aus. Dabei wird fast die gesamte Vielfalt an Detektionsmethoden () eingesetzt, um Teilchenspuren nachzuweisen. Ähnlich wie bei den Detektoren am CERN () können die Teilchen anhand der Krümmung ihrer Bahn in Magnetfeldern identifiziert (Ortsund Impulsmessung ) und so die Zusammensetzung

Teilchenphysik im Weltall  S. 292 Kapitel 3 Experimentelle Grundlagen  S. 61 Typische Detektoren an Beschleunigern  S. 124 Orts- und Impulsmessung  S. 72

AMS-Experiment auf der Internationalen Space Station – ISS. Das AMS-Spektrometer misst Art, Ladung und Energie der Teilchen der kosmischen Strahlung. Der Detektor ist hier huckepack auf einem Seitenarm der ISS zu sehen.

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12 Die Verbindung des Größten mit dem Kleinsten

Ultrahochenergetische kosmische Strahlung Die Suche nach den kosmischen Hochleistungsbeschleunigern

Die Energien der auf die Erdatmosphäre treffenden kosmischen Teilchen () überspannen einen enormen Bereich: von 106 eV bis hin zu 1020 eV. Die bisher höchste gemessene Energie eines Teilchens war 3 ∙ 1020 eV, das ca. 20 Millionenfache dessen, was wir mit unserem größten Beschleuniger, dem LHC, bisher erreichen können.1 3,3 ∙ 1020 eV sind umgerechnet 50 Joule. Das entspicht der Bewegungsenergie eines Tennisballes mit 110 km/h, eine Größenordnung, die wir sonst von einzelnen Teilchen überhaupt nicht kennen. Die spannende Frage ist: Was sind die Quellen dieser Teilchen? In welchen Objekten im Universum gibt es Schockfronten und Magnetfelder mit ausreichend großer Ausdehnung, um mit dem von Enrico Fermi vorgeschlagenen Mechanismus (Kosmische Strahlung ) Teilchen auf so unvorstellbar hohe Energien zu beschleunigen? Die Beobachtung und Lokalisierung von Objekten wie Sternen und Galaxien in der (optischen) Astronomie ist möglich, da mit Teleskopen die Richtung gemessen werden kann, aus der das Licht die Erde erreicht. Um die Quellen der hochenergetischen kosmischen Strahlung zu finden, müsste man die Richtung messen können, aus der die kosmischen Teilchen kommen. Doch das ist leider alles andere als einfach.

Teilchenschauer nach Reaktion eines hochenergetischen kosmischen Teilchens in der Erdatmosphäre. Bei hohen Energien erreicht der Schauer die Erdoberfläche. Man kann über kilometerweite Abstände gleichzeitig ankommende Teilchen nachweisen.

Energien der Teilchen sind, desto weniger werden die Flugbahnen abgelenkt und desto geradliniger breiten sie sich aus. Um also zu erkennen, woher sie kommen, und um Himmelskarten der Quellen zu erstellen, muss man Teilchen mit den höchsten Energien beobachten. Leider sind die Teilchen, wie in der Intensitätsverteilung im vorherigen Artikel gezeigt, umso seltener, je höher ihre Energie ist. Gerade bei den interessanten Energien kommt auch noch der kosmische Mikrowellenhintergrund () in die Quere. Bei hohen Energien Da die Teilchen der kosmischen Strahlung elektrisch reicht die Energie bei einer Reaktion zwischen kosmigeladen sind, wird ihre Flugbahn auf dem Weg von scher Strahlung und Mikrowellenphotonen aus, neue der Quelle der Beschleunigung zur Erde von Magnet- Teilchen wie Pionen oder Neutronen zu erzeugen. Das feldern abgelenkt, weshalb die Richtung, aus der die ursprüngliche Teilchen wird entweder absorbiert oder Teilchen beobachtet werden, nichts mehr mit der Rich- fliegt nur mit stark reduzierter Energie weiter. Dieser tung ihrer Quelle zu tun hat. Dennoch: Je höher die nach den Physikern Kenneth Greisen, Vadim Kusmin

1

Für Teilchenreaktionen ist die im Schwerpunktsystem zur Verfügung stehende Energie relevant. Am LHC entspricht dies der gesamten Energie der beiden kollidierenden Teilchen, während bei der Kollision auf ruhende Teilchen der Erdatmosphäre nur ein Bruchteil der Energie für Reaktionen zur Verfügung steht, die dennoch mehr als das Hundertfache der Schwerpunktsenergie des LHC beträgt. Kosmische Strahlung  S. 314

Ultrahochenergetische kosmische Strahlung

und Georgi Zatsepin benannte GKZ-Cut-Off führt zu einem steilen Abfall der Intensität im Spektrum der kosmischen Strahlung bei den höchsten Energien. Da nur sehr wenige kosmische Teilchen mit den interessanten höchsten Energien die Erde erreichen, müssen riesige Flächen überwacht werden, um sie in genügender Zahl beobachten zu können. Das internationale Pierre-Auger-Obervatorium, aufgebaut in der argentinischen Pampa, besteht aus 1600 Detektoren verteilt über 3000 km2. Dass damit hochenergetische kosmische Strahlung gemessen werden kann, verdankt man der Tatsache, dass die Teilchen beim Auftreffen auf die Atome der Atmosphäre durch Reaktionen Teilchenschauer erzeugen. Dadurch werden z. B. Pionen erzeugt, die ihrerseits wieder in Myonen, Elektronen und Neutrinos zerfallen. Bei hohen Energien können die erzeugten Teilchen wiederum neue Teilchen erzeugen, weshalb es zu einem anwachsenden Schauer von Teilchen kommt. Aus dem Schauer können insbesondere die hochenergetischen Myonen den Erdboden erreichen. Die Schauerfront gleichzeitig ankommender Myonen kann sich dabei über viele Kilometer erstrecken, umso weiter, je höher die Energie des primären kosmischen Teilchens ist. Solche ausgedehnten Schauer wurden erstmals 1938 von Pierre Auger mit weit auseinander stehenden Detektoren auf dem Jungfraujoch in der Schweiz entdeckt. Die Schauer der kosmischen Strahlung machen etwa die Hälfte unserer natürlichen Stahlenbelastung aus und sind auch der Grund dafür, weshalb in großen Höhen, insbesondere im Flugzeug, die Strahlenbelastung größer ist als auf Meeresniveau. In der Atmosphäre regen die Teilchenschauer die Stickstoffmoleküle der Luft zum Leuchten an. Mit

Kosmischer Mikrowellenhintergrund  S. 310 Multimessenger-Astronomie  S. 318

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diesem Fluoreszenz genannten Phänomen kann man die Schauer in mondlosen Nächten zusätzlich mit Teleskopen beobachten, auch wenn die Schauer den Erdboden nicht erreichen. Da die Struktur des Schauers besser mit Fluoreszenzteleskopen und die Energie besser am Erdboden gemessen werden kann, nutzt das Pierre-Auger-Observatorium die Kombination beider Techniken. Mit dem Auger-Observatorium beobachtet man einen steilen Abbruch im Spektrum wie vom GKZ-Cut-Off erwartet. Es ist aber noch unklar, ob es sich wirklich um den GKZ-Cut-Off handelt, oder ob das Ende der Beschleunigerenergie extragalaktischer Quellen erreicht ist. Dieses Problem, sowie die Frage, welche Objekte überhaupt als Beschleuniger geeignet wären, versucht man in der Zusammenarbeit vieler Projekte mit Multimessenger-Astronomie () zu klären. Verschiedene denkbare Szenarien zur Beschleunigung der kosmischen Teilchen erzeugen gleichzeitig unterschiedliche Energiespektren an Gammastrahlung und Neutrinos. Daher sucht man mit vielen unterschiedlichen Detektoren nach gleichzeitigen Signalen erzeugt von Neutrinos, Photonen und hochenergetischer kosmischer Strahlung, um so den Quellen der extrem hohen Teilchenenergien auf die Spur zu kommen. Einer der 1600 Detektoren des Pierre-Auger-Observatoriums. Ein solcher Detektor weist in einem Wassertank über den Čerenkov-Effekt ankommende Myonen nach. Die Detektoren sind in etwa 1,5 km Abstand zueinander über eine Fläche von 3000 km2 verteilt.

318

12 Die Verbindung des Größten mit dem Kleinsten

Multimessenger-Astronomie Neue Blicke ins Teilchen-Universum

Wenn die hochenergetischen Teilchen der kosmischen Strahlung (), meist Protonen, in ihren Herkunftsregionen mit Materie oder Photonen kollidieren, entstehen Pionen. Die Pionen wiederum zerfallen in Photonen und Neutrinos, welche uns ungestört auf direktem Wege und mit Lichtgeschwindigkeit erreichen können. Sie sind damit perfekte Botenteilchen aus den Quellen der kosmischen Strahlung. Je nach Art der vermuteten Quelle erwartet man unterschiedliche Zusammenhänge zwischen den Energiespektren und Häufigkeiten von Protonen, Photonen und Neutrinos. Die Beobachtung der verschiedenen Teilchensorten kann daher Aufschluss über die Natur der Quellen und die zugrunde liegenden Beschleunigungsvorgänge geben. Da in den Quellen meist große Massen sehr schnell bewegt werden, entstehen oft auch Gravitationswellen. Dies sind von Albert Einstein vorausgesagte Verzerrungen der Raumzeit, die sich mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten. Auch sie erreichen uns ungestört direkt und können das Bild über die Quellen komplettieren. Die vier Boten (englisch: messenger) – kosmische Teilchen, Neutrinos, Photonen und Gravitationswellen – gemeinsam zu beobachten, ist das Ziel der sogenannten Multimessenger-Astronomie.

die man z. B. am Boden mit ausgedehnten Detektorarrays wie Auger nachweisen kann. Der größte Detektor für hochenergetische Neutrinos () ist IceCube. Am Südpol ist dazu ein Eisvolumen von etwa einem Kubikkilometer mit Photomultiplieren instrumentiert worden, um von hochenergetischen Neutrinos erzeugte geladene Elektronen, Myonen oder Tauonen zu detekˇ erenkov-Teleskope wie H.E.S.S. oder MAGIC tieren. C dienen der Astronomie mit dem Nachweis von Gammastrahlung. Mit Gammastrahlung bezeichnet man Photonen bei höchsten Energien. Sie erzeugen in der ˇ erenkovlicht Erdatmosphäre schnelle Elektronen, die C () aussenden. Dieses Cˇ erenkovlicht wird auf eine Kamera aus Photomultipliern () abgebildet und dient damit als Nachweis der Gammastrahlung. Der erste Nachweis von Gravitationswellen im Jahr 2015 war ein großer wissenschaftlicher Durchbruch. Seither sind mit den großen Laserinterferometern

Für jeden der Boten werden eigene Detektoren genutzt. Hochenergetische kosmische Teilchen erzeugen in der Erdatmosphäre Teilchenschauer, Der Gravitationswellendetektor VIRGO in der Nähe von Pisa in Italien. Durch die Überlagerung der in den zwei 3 km langen Armen zirkulierenden Laserstrahlen können kleinste Verzerrungen der Raumzeit gemessen werden.

Kosmische Strahlung  S. 314, Ultrahochenergetische kosmische Strahlung  S. 316 Neutrinos  S. 184 Îerenkov-Strahlung und Teilchenidentifikation  S. 78 Szintillatoren und Photomultiplier  S. 70

Multimessenger-Astronomie

LIGO und VIRGO viele weitere Signale, z. B. von der Kollision schwarzer Löcher und Neutronensternen, detektiert worden. Mit dem Nachweis von Photonen über die elektromagnetische Wechselwirkung, von Protonen über die starke Wechselwirkung, von Neutrinos über die schwache Wechselwirkung und von Gravitationswellen kann das Universum mit allen bekannten vier Grundkräften () der Natur untersucht werden.

319

Beobachtung eines kurzzeitigen Ausbruchs, der sich in allen Messenger-Teilchen zusammen mit einem Gravitationswellensignal zeigen würde. Ein Beispiel, bei dem das zumindest teilweise gelang, ist die Supernova 1987 A (), von der Neutrinos und zwei Stunden später optische Photonen gemessen wurden. Ein anderes Beispiel sind die von LIGO und Virgo gemessenen Gravitationswellensignale mit der fast gleichzeitigen Detektion von hochenergetischen Photonen mit dem Fermi-Satelliten. Sie stammen vermutlich von der Verschmelzung zweier Neutronensterne oder eines Neutronensterns mit einem Schwarzen Loch. Auch gibt es Indizien für die gleichzeitige Beobachtung von hochenergetischen Neutrinos und Gammastrahlung.

Mit den bisherigen Messungen konnte man sowohl Protonen als auch Neutrinos und Photonen mit so hohen Energien beobachten, dass sie extragalaktischen Ursprungs sein müssen, da die Ausdehnung der Milchstraße und ihrer Magnetfelder nicht ausreichen, Teilchen so hoch zu beschleunigen. Wenn man Neutrinos, Photonen und vielleicht sogar kosmische Strahlung häufig aus der gleichen Himmelsrichtung beobachten würde, könnte man die Quellen identifizieren. Um die Wahrscheinlichkeit solcher Ereignisse zu erhöBisher war dies wegen einer noch zu geringen Anzahl hen, werden die Instrumente für alle Messenger weiter an Beobachtungen nicht möglich. Spektakulär wäre die verbessert und alle Projekte sind durch ein weltweites Netzwerk verbunden, mit dem an zentraler Stelle von allen Detektoren Signale zusammengeführt werden. Mit einem Alarmsystem können damit bei Auftreten eines Signals in einem Detektor alle anderen vorgewarnt werden. Die Multimessenger-Astronomie hat in den letzten Jahrzehnten eine vielversprechende Entwicklung genommen und steht an der Schwelle, unseren Blick auf die teilchenphysikalischen Vorgänge im Universum weit über die klassische Astronomie hinaus zu erweitern. Das Teleskop H.E.S.S. in Namibia zur Messung hochenergetischer Photonen. Der 28 m große Spiegel bildet Čerenkovlicht auf die in der Spitze befindliche Kamera aus Photomultipliern ab.

Die vier Grundkräfte der Natur  S. 12 Supernovae als Teilchenphysiklabore  S. 300

320

12 Die Verbindung des Größten mit dem Kleinsten

Neutrinos von der Sonne Ein Blick ins Innere der Sonne

Kann man aus einem Bergwerk 2.000 Meter tief unter der Erde heraus die Sonne beobachten? Mit Neutrinos geht das! Neutrinos sind die einzigen elementaren Fermionen, die ausschließlich über die schwache Wechselwirkung reagieren (und über die noch schwächere Gravitation). Das macht zwar einerseits die Messung von Neutrinos sehr schwer, andererseits ist es ihnen möglich, auf direktem Weg und ungehindert aus sonst unzugänglichen Bereichen extrem hoher Dichten zu entkommen, womit man mit ihnen direkt in das Zentrum der Sonne blicken kann. Die Energie der Sonne wird durch die Fusion von Wasserstoff zu Helium erzeugt (). Dabei entstehen Elektron-Neutrinos, wovon auf der Erde auf jedem Quadratzentimeter pro Sekunde 65 Milliarden ankommen Ray Davis bei seinem Experiment in der amerikanischen Homestake-Mine. Der Tank enthält 600 Tonnen C2Cl4.

Elemententstehung in Sternen  S. 308

Die Sonne ist ein aktiver Stern; hier im ultravioletten Licht sind die Strukturen ihrer äußeren Schicht erkennbar. Ihre Energie wird durch Kernfusion erzeugt. Dabei entstehen Elektron-Neutrinos, mit denen man die Prozesse im Sonneninneren studieren kann.

sollten. Der amerikanische Physiker Ray Davis und sein Team haben als erste versucht, Sonnenneutrinos zu messen. Dazu lagerten sie über 600 Tonnen C2Cl4 in einem Tank tief in einem Bergwerk. Im Mittel etwa alle zwei Tage sollte ein Elektron-Neutrino von der Sonne ein Chloratom in ein Argonatom umwandeln (sogenannter inverser 𝛽-Zerfall). Die große Kunst bestand darin, die wenigen Argonatome aus dem Tank herauszufischen und nachzuweisen. Was er dabei fand, war verblüffend: Es zeigten sich nur etwa ein Drittel der erwarteten Argonatome und somit der Neutrinos. Zwar beweist das Ergebnis, dass Kernfusion in der Sonne stattfindet, aber weshalb nur so wenige Neutrinos dabei entstehen sollten, war unklar.

Neutrinos von der Sonne

321

Das SNO-Experiment besteht aus einer Acrylkugel gefüllt mit 1.000 Tonnen schwerem Wasser (D2O). Im Bild sind von außen die etwa 10.000 Photomultiplier zu sehen, mit denen Čerenkovlicht gemessen wird, das darin von Teilchen erzeugt wird. Zwei Wasserstoffkerne fusionieren im Sonneninneren zu einem Deuteriumkern, wobei auch ein Elektron-Neutrino entsteht. Über einen weiteren Schritt zu Helium-3 entstehen Helium-4-Kerne. Bei der Bildung eines Helium-4-Kerns entstehen daher jeweils zwei Elektron-Neutrinos.

Lange stand die Wissenschaft dem Ergebnis skeptisch gegenüber und zweifelte an der Fehlerfreiheit des Experimentes. Viel spannender ist aber die alternative Erklärung, dass das Defizit durch Neutrinooszillationen () verursacht wird. Da in der Sonne nur ElektronNeutrinos erzeugt werden und der Detektor nur Elektron-Neutrinos messen kann, wäre eine Oszillation zu Myon-Neutrinos auf dem Weg zur Erde eine Erklärung für das Defizit.

Bild der Sonne, gemessen mit Neutrinos im Super-KamiokandeExperiment

Neutrinooszillationen  S. 186

Um das Rätsel der Sonnenneutrinos zu klären, wurde eine Reihe weiterer Experimente aufgebaut: GALLEX in Italien, SAGE in Russland, Super-Kamiokande in Japan, Borexino in Italien und SNO in Kanada. Dabei konnte Super-Kamiokande bei hohen Energien auch die Richtung der Neutrinos messen und damit ein Bild der Sonne im Neutrinolicht erstellen. Mit SNO, welches auch eine Möglichkeit hatte, Myon- und Tau-Neutrinos zu messen, wurde eindeutig bewiesen, dass Neutrinooszillationen für das beobachtete Defizit verantwortlich sind und tatsächlich alle von der Kernfusion in der Sonne erwarteten Neutrinos ausgesendet werden. Die Experimente von Davis und SNO wurden für diese Erkenntnisse 2002 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Mittlerweile konnte man viele Details der solaren Kernfusionsprozesse studieren, die genaue Temperatur im Sonneninneren bestimmen und das Vorhandensein anderer Atomkerne als Wasserstoff und Helium im Sonnenzentrum nachweisen. Mit unserem gewachsenen Wissen über die Eigenschaften von Neutrinos dienen sie damit heute auch als Botenteilchen aus dem Inneren der Sonne.

322

12 Die Verbindung des Größten mit dem Kleinsten

Die Entwicklung des Universums Blick in die sehr ferne Zukunft

Auf den kurzen Distanzen der Teilchenphysik spielt die Gravitation keine Rolle. Ganz anders sieht es aus, wenn wir größere Objekte betrachten wie beispielsweise Sterne, in denen sich die Gravitation und die Wirkungen der anderen Kräfte gegenseitig beeinflussen. Die Gravitation ist die alles beherrschende Kraft, wenn wir das Universum betrachten, bei den Vorgängen in einem Planetensystem, bei der Bildung von Sternen und Galaxien oder der Entwicklung des Universums als Ganzes, die wir uns in diesem Artikel anschauen wollen. Die beste Beschreibung der Gravitation ist die allgemeine Relativitätstheorie von Albert Einstein. Darin wird die Wirkung der Gravitation durch die Verzerrung der Raumzeit beschrieben. Eine Masse und die Krümmung der Raumzeit in ihrer Umgebung stehen in direktem Zusammenhang. Was wir als Ablenkung z. B. eines Lichtstrahls in einem Gravitationsfeld wahrnehmen, ist demnach ein Lichtstrahl, der sich geradlinig in einer gekrümmten Raumzeit ausbreitet. Man kann versuchen, sich eine Vorstellung von gekrümmten Räumen zu machen, wenn man gekrümmte Flächen betrachtet. Auf einer gebogenen Fläche, wie z. B. auf einem Globus, ist die Winkelsumme in Dreiecken, anders als auf einer flachen Fläche, größer als 180°. Ganz analog verhält es sich mit Dreiecken in gekrümmten Räumen. Tatsächlich entspricht die Messung der Krümmung des Universums mit der Anisotropie des kosmischen Mikrowellenhintergrundes () der Bestimmung der Winkelsumme eines sehr großen Dreiecks.

Kosmischer Mikrowellenhintergrund  S. 310 Spezielle Relativitätstheorie  S. 34

Die Winkelsumme eines Dreiecks ist je nach Krümmung der Fläche größer oder kleiner als 180°.

Nach der Relativitätstheorie () besteht mit E = mc2 eine Äquivalenz zwischen Energie und Masse, weshalb Energie in jeder Form, egal ob als Masse, als Strahlungs- oder als Bewegungsenergie, eng mit der Verzerrung der Geometrie der Raumzeit verknüpft ist. In der Raumzeit spielt, wie der Name schon sagt, auch die Zeit eine wichtige Rolle. Wie sich das Universum als Ganzes mit der Zeit entwickelt, ist daher identisch mit der Frage, wie sich der Energieinhalt des Universums zusammensetzt. In ihrer einfachsten Form können die Verzerrungen durch zwei einfache Parameter beschrieben werden: eine Raumkrümmung k (Winkelsumme größer oder kleiner 180°) und ein zeitlich veränderlicher Skalenfaktor R. Wenn wir davon reden, dass sich das Universum ausdehnt, so ist damit das Wachstum des Skalenfaktors R gemeint. Wird R größer, so vergrößern sich alle Längenskalen. Dass R in unserem Universum tatsächlich wächst, können wir an der Veränderung der Wellenlänge von Licht beobachten. Licht aus entfernten Galaxien ist ins Rote verschoben, da sich das Universum und damit auch die Wellenlänge des Lichts seit dessen Aussendung ausgedehnt hat. Da R größer wird, muss es früher kleiner gewesen sein und wir nehmen an, dass alles mit R = 0 im Urknall begann.

Die Entwicklung des Universums

Die Krümmung k und die Entwicklung von R sind mit dem Energieinhalt des Universums verknüpft. Die Energiedichte Ω0 messen wir in Einheiten einer kritischen Energiedichte, die etwa 5 GeV/m3 beträgt. Ist die Energiedichte gleich der kritischen Dichte (Ω0 = 1), so ist das Universum flach (k = 0). Bei größerer oder kleinerer Energiedichte (Ω0 größer oder kleiner 1) ist es gekrümmt. Wie sich R zeitlich entwickelt, hängt von der Krümmung und der Natur der Energiedichte ab. Wäre das flache Universum materiedominiert, d. h. überwiegend mit massiven Teilchen gefüllt, so würde die Energiedichte proportional zu 1/R 3 abnehmen. Wäre das Universum nur mit Strahlung gefüllt, also mit masselosen Teilchen wie den Photonen, würde mit wachsendem R die Energiedichte proportional zu 1/R 4 stärker abnehmen und die Expansionsrate würde schneller sinken.

Skalenfaktor R

Tatsächlich spielen beide Beiträge eine Rolle, und für die ersten 10.000 Jahre nach dem Urknall war das Universum durch Strahlung, danach durch Materie dominiert. Wäre die Energiedichte höher als die kritische Dichte, so könnte sich die verlangsamende Ausdehnung irgendwann sogar umkehren und zu einer Schrumpfung des Universums und damit letztendlich zu einer Umdurch Dunkle Energie dominiert

durch Materie dominiert

𝛺0 > 1 Zeit Zeitliche Entwicklung des Skalenfaktors R und damit der Ausdehnung des Universums für verschiedene Formen der Energiedichte

Dark Sector: Dunkle Energie  S. 270 Materie und Antimaterie  S. 290 Dunkle Materie  S. 268

323

kehrung des Urknalls, dem sogenannten Big Crunch (im Gegensatz zum Urknall Big Bang) führen. Wie wir heute aber wissen, ist das Universum flach, d.h. es herrscht die kritische Energiedichte. Lange sah es daher so aus, als wäre die Zukunft unseres Universums eine ewige, immer langsamere Ausdehnung. Doch genaue Messungen der Rotverschiebungen von Supernovae zeigen, dass sich im Gegenteil die Ausdehnung unseres Universums beschleunigt. Erklären kann man dies, wenn dem Raum eine konstante Energiedichte, eine sogenannte Dunkle Energie () innewohnt. Dann ist die Rate, mit der R wächst, proportional zu R selbst, was zu einem exponentiellen Wachstum führt. Es liegt nahe, dass alle Materie, Strahlung und letztendlich auch die Dunkle Energie teilchenphysikalisch erklärbar sein sollten. Was kann das Standardmodell der Teilchenphysik zur Zusammensetzung des Universums sagen? Etwa 70 % der Energiedichte kommen aus der Dunklen Energie, zu der es im Standardmodell keine Erklärung gibt. Die restlichen 30 % verhalten sich zum größten Teil wie Materie. Von diesen 30 % bestehen aber nur etwa 4 % aus den bekannten Teilchen des Standardmodells, die allerdings wegen der Symmetrie zwischen Materie und Antimaterie () gar nicht existieren sollten. Die anderen 26 %, deren Teilchennatur bisher unbekannt ist, nennen wir Dunkle Materie (). Das Universum bleibt nicht gleich, sondern verändert sich dynamisch. Vermutlich wird es sich immer schneller ewig ausdehnen. Bei dem Versuch die Entwicklung des Universums zu verstehen, zeigt sich, dass wir trotz aller Erfolge in der Teilchenphysik vieles – insbesondere das große Ganze des Universums – noch nicht vollständig verstanden haben und daher noch viele spannende Entdeckungen vor uns liegen.

Lohnt sich das alles?

325

Lohnt sich das alles? Häufig wird die Frage gestellt: Warum das alles? Grundlagenforschung, insbesondere in der Teilchenphysik, gibt es nicht zum Nulltarif: Es ist nicht nur das Personal, das bezahlt werden muss, auch die Experimentiereinrichtungen sind teuer in Aufbau und Betrieb, so dass viele denken: Das Geld könnte man auch „sinnvoller“ einsetzen. Aber was heißt eigentlich sinnvoll? Die Grundlagenforschung der Teilchenphysik ist ein wichtiger Teil unserer Kultur und erfüllt als solcher natürlich einen Sinn – aber da ist noch mehr; viel mehr: Wir wollen dieses Buch mit einem Plädoyer für die Grundlagenforschung in der Teilchenphysik abschließen.

Hätte man sich immer nur auf die Forschung beschränkt, bei der man von vornherein die Anwendung erahnen konnte, wären all diese genannten Anwendungen nie gefunden worden. Mancher Nutzen einer Entwicklung erschließt sich eben erst, wenn sie vorliegt. Aber nicht nur das: Studierende können in der Teilchenphysik schon sehr früh in ihrem Studium (also bereits im Rahmen ihrer Bachelorarbeit – aber natürlich noch sehr viel mehr während der Master- und Doktorarbeit) nicht nur einen essentiellen Beitrag zur Bearbeitung aktueller Fragestellungen leisten – ohne diese Beiträge würde unsere Forschung nicht funktionieren (!) – sondern auch spannende Einblicke in eine international agierende Forschungslandschaft bekommen. Letzteres trägt natürlich sehr positiv zur Persönlichkeitsbildung und Weltoffenheit der StuEinen direkten Nutzen für die Gedierenden bei. Da diese sellschaft sieht man z.B. in den Spindabei außerdem an den Offs wie Magnetresonanztomographie und abstrakten FragestellunPositronen-Emissions-Tomographie, die ohne gen der Teilchenphysik Grundlagenforschung undenkbar wären. Des Weitetrainiert werden, lernen ren braucht die Forschung an der Front der aktuellen sie z. B. mit modernen MeErkenntnis Technologien, die erst entwickelt werden thoden des maschinellen Lermüssen. Dazu gehört eine ultraschnelle Elektronik nens umzugehen und sogar solche genauso wie neue Kommunikationstechniken. Es ist Methoden zu entwickeln. Damit sind sie ideal darauf kein Zufall, dass das World Wide Web, mit dem das vorbereitet, einen wichtigen Beitrag in der Wirtschaft Internet seine Umwälzung unserer gesamten Kom- und anderen Wissenschaften zu leisten. Das hat die munikation und das Zusammenrücken der ganzen deutsche Industrie schon lange erkannt, mit der KonWelt auf einer virtuellen Ebene antrat, am CERN zum sequenz, dass Absolventinnen und Absolventen unZweck der effizienteren Kommunikation innerhalb der serer Institute, die keine Karriere in der Wissenschaft internationalen Teilchenphysikexperimente erfunden anstreben wollen, typischerweise in kürzester Zeit atwurde. Ein stark wachsender Bereich in der Tumor- traktive Berufsfelder auch außerhalb der Wissenschaft therapie ist die Bestrahlung mit leichten Atomkernen, finden. die gegenüber der etablierteren Photonenbestrahlung einige Vorteile hat. Diese Entwicklung wäre undenkbar, wenn es zuvor nicht Physikerinnen und Physiker gegeben hätte, die mithilfe von Teilchenbeschleunigern den damals fundamentalen Fragen der Natur nachgingen.

326

Die Grundlagenforschung und Kern- und Teilchenphysik besitzt noch weitere Bedeutung. Natürlicherweise ist die folgende Diskussion stark geprägt von unserer subjektiven Sichtweise und ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Aber es wäre schade, wenn Forscherinnen und Forscher, die im Bereich der Grundlagenforschung arbeiten, an diesem Punkt aufhören würden für die Notwendigkeit der Grundlagenforschung zu argumentieren. Wir sind fest davon überzeugt, dass die Grundlagenforschung auch einen Wert bzw. einen Sinn aus sich selbst heraus hat. Dieser liegt vor allem in dem urmenschlichen Bedürfnis zu wissen. Wir wollen verstehen, warum die Welt um uns herum so aussieht, wie sie aussieht. Hierzu gehört auch die Fragestellung danach, wie die fundamentale Theorie der Teilchenphysik aussehen kann – Gibt es vielleicht eine Formel, die alles vereint? Was sind die fundamentalen Prinzipien, nach denen diese Theorie aufgebaut ist? Wie viel Zufall hat dazu beigetragen, dass das Universum so aufgebaut ist, wie es ist? Einsichten in diese Richtung könnten unsere Sicht auf die Welt verändern – vielleicht sogar so sehr, wie astronomische Beobachtungen dazu geführt haben, vom anthropozentrischen Weltbild mit einer ruhenden Erde in der Mitte des Universums abzurücken und die Rolle des Menschen in der Welt komplett zu revidieren. Interessant ist hierbei nämlich der Blick zurück: In der Geschichte der großen Errungenschaften der Kulturgeschichte der westlichen Welt spielen Wissenschaftle-

Lohnt sich das alles?

rinnen und Wissenschafter eine zentrale Rolle. Galileo Galilei und Johannes Kepler kennt fast jeder und sie spielten für den kulturellen Sprung in die Renaissance eine mindestens so zentrale Rolle wie Michelangelo und Leonardo Da Vinci; Erwin Schrödinger und Albert Einstein trugen durch ihre Beiträge zu Quantenmechanik und Relativitätstheorie wahrscheinlich mehr zur Entstehung der kulturellen Umwälzungen der Moderne bei als die meisten anderen Personen. Wir wissen nicht, welche kulturellen Umwälzungen die Teilchenphysik für uns bereit hält – was wäre, wenn es sich bestätigen würde, dass die fundamentalen Parameter des Standardmodells raum- und zeitabhängig sind und das Universum in weit entfernten Gegenden vielleicht ganz anders aussieht? Das ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt reine Spekulation – aber es könnte so kommen. Und genau das ist der springende Punkt: Wenn wir nun aufhören, diese Art der Grundlagenforschung zu betreiben, dann werden wir nie wissen, was wir verpasst haben. Die Revolutionen der Quantenmechanik, auf der all unsere Computer und unsere gesamte Informationsgesellschaft beruhen, waren genauso wenig vorherzusehen wie irgendeine mögliche Entdeckung der Zukunft. Wir sollten die Entdeckungen der Vergangenheit, die wir nur aufgrund unserer Kultur der Grundlagenforschung machen konnten, genauso wenig als selbstverständliches Wissen begreifen wie mögliche zukünftige Entdeckungen: Beides sind wertvolle kulturelle Güter.

Danksagung

327

Danksagung Dieses Buch würde es ohne die Initiative und das Engagement von Lisa Edelhäuser als verantwortlicher Redakteurin bei Springer nicht geben. Insbesondere hat sie mit uns den strukturellen Rahmen erarbeitet, mit dem ein komplexes und aufeinander aufbauendes Themengebiet auf den modularen Rahmen dieses Buches abgebildet werden kann. Wir möchten ihr auch sehr für die Arbeit am Stil der Artikel danken, die immer noch viel von ihrem Ansatz beinhalten, zugängliches und einfaches Wissen genauso wie abstraktere und tiefgründigere Erklärungen nebeneinander aufzunehmen. Von Seiten des Springer-Verlags wurden wir des Weiteren von Bianca Alton und Caroline Strunz entscheidend unterstützt und betreut – auch dafür bedanken wir uns sehr.

Ein Buch wie dieses mit vielen, teils schon historischen Abbildungen wäre ohne Unterstützung bei der Organisation der Bildrechte für Abbildungen von Laboren oder Experimenten nicht möglich. Beigetragen haben Eric Adelberger, Dagmar Baroke, Siegfried Bethke, Markus Büscher, Roberto Giacomelli, Klaus Kirch, Kurt Riesselmann und Thomas Zoufal.

Abbildungen wurden uns freundlicherweise auch von Jacob Bourjaily, Angel Ferran Pousa, Eckhard Hofmann und Stefan Schael zur Verfügung gestellt. Wir bedanken uns ebenfalls bei CERN, DESY, Fermilab, Forschungszentrum Jülich, Gran-Sasso-Untergrundlabor, Karlsruher Institut für Technologie (KIT), PaulScherrer-Institut (PSI), Stanford Linear Accelerator Center (SLAC) und der Universität Bonn für die ZurEine Vielzahl von Freundinnnen und Freunden, Kolle- verfügungstellung von Bildmaterial. ginnen und Kollegen hat uns zu diesem Buch ermutigt sowie bei der Erstellung und Verbesserung kritisch un- Wir möchten unserem Freund und Kollegen Michael terstützt. Wir danken besonders Gunnar Bali, Thomas Kortmann, der uns beim Aufbau und der fotografiBurwick, Doug Cowen, Klaus Desch, Anna Francko- schen Dokumentation von Demonstrationsexperiwiak, Henning Gast, Jana Heysel, Bernhard Holzer, menten für dieses Buch unersetzlich war, sowie dem Susanna Jochum, Stefan Krieg, Rachel Leuthold, Da- gesamten Team der Bonner „Physikshow“ für eine jahvid Newman, Ewald Paul, Anke Pretz, Pascal Pretz, relange inspirierende Zusammenarbeit in der lehrreiChristoph Schürmann, Christoph Sieg, Anna Stock- chen und unterhaltsamen öffentlichen Vermittlung von hausen, Liv Wiik-Fuchs, Birgit Westernstroer, Andreas Physik danken, die auch diesem Buch entscheidend Wirzba, Tiziana von Witzleben. zugute kommt. Viele der grafischen Darstellungen und Bilder in die- Zuletzt, aber ganz besonders herzlich, möchten wir sem Buch haben wir Autoren selbst erstellt oder in uns bei Rolf-Dieter Heuer für das inspirierende VorDiskussion mit grafisch begabten Kollegen, Freunden wort dieses Buches bedanken. und Familienmitgliedern entwickelt. Zutiefst bedanken wollen wir uns bei Ella Dreiner, Joseline Heuer, Saurabh Nangia, Anke Pretz, Deborah Rönchen und Martin Schürmann für ihre Hilfe und die direkten Beiträge bei der grafischen Umsetzung. Malin Heuer danken wir besonders für die Idee des Daumenkinos in diesem Buch.

Die Eigenschaften der Elementarteilchen Übersicht und Tabellen

Typ

1. Familie Name

Masse [1/c ]

Up (u )

2,16 −0,26 MeV

Down (d )

+0,48 −0,17

+0,49

Quark

Lepton

Antiquark

Antilepton

2. Familie 2

4,67

MeV

3. Familie

Name

Masse [1/c ]

Charm (c)

1,27 −0,02 GeV

Strange (s)

+8,6 −3,4

+0,02

93,4

MeV

elektr. Ladung

starke Ladung

schwache Ladung

172,5 −0,7 GeV

+(2/3) e

r, g, b

ÿ

+0,03 −0,02

−(1/3) e

r, g, b

ÿ

Name

Masse [1/c 2]

Top (t ) Bottom (b )

2

+0,7

4,18

GeV

ElektronNeutrino (𝜈e )

< 0,8 eV

MyonNeutrino (𝜈𝜇 )

< 0,19 MeV

Tau-Neutrino (𝜈𝜏 )

< 18,2 MeV

0



ÿ

Elektron (e −)

0,511 MeV

Myon (𝜇−)

106 MeV

Tauon (𝜏 −)

1,777 GeV

−e



ÿ

Anti-Up (u ̄ )

2,16

+0,49 −0,26

MeV

Anti-Charm (c ̄ )

1,27

+0,02 −0,02

GeV

Anti-Top (t ̄ )

172,5

GeV

−(2/3) e

r ̄ , g ̄ , b̄

ÿ

Anti-Down (d ̄ )

4,67 −0,17 MeV

+0,48

Anti-Strange (s ̄)

93,4 −3,4 MeV

+8,6

Anti-Bottom (b̄ )

4,18 −0,02 GeV

+(1/3) e

r ̄, g ̄, b̄

ÿ

ElektronAnti-Neutrino (𝜈̄e )

< 0,8 eV

Myon-AntiNeutrino (𝜈̄𝜇 )

< 0,19 MeV

Tau-AntiNeutrino (𝜈̄𝜏 )

< 18,2 MeV

0



ÿ

Positron (e +)

0,511 MeV

Antimyon (𝜇+)

106 MeV

Antitauon (𝜏 +)

1,777 GeV

+e



ÿ

+0,7 −0,7

+0,03

Eigenschaften der Elementarteilchen der drei Familien von Fermionen (Spin ½) unter den Elementarteilchen. Zusätzlich haben die sechs Leptonen alle Leptonenzahl +1 und die Antileptonen −1. Die sechs Quarks haben Baryonenzahl + (1/3) und die Antiquarks − (1/3). Wegen des Confinements hängen die Quarkmassen von der Berechnungsskala ab.

Name Photon (𝛾 )

Masse [1/c 2]

Spin

elektr. Ladung

starke Ladung

schwache Ladung

0

1

0





91,2 GeV

1

0



ÿ

+

80,4 GeV

1

+e



ÿ

W−

80,4 GeV

1

−e



ÿ

Gluon (g)

0

1

0

r g ̄ , r b̄ , g r ̄ , g b̄ , b r ̄, b g ̄, r r ̄ − g g ̄, rr + gḡ − 2 b b̄



Graviton

0

2







125,1 GeV

0

0





Z W

Higgs

Vergleich der Eigenschaften der Bosonen (ganzzahliger Spin, Feldteilchen und Higgs-Boson)

Glossar

329

Glossar 𝛼 oder 𝛼QED

siehe Feinstrukturkonstante

𝛼QCD

Stärkeparameter der starken Wechselwirkung bzw. QCD.

ADMX

Experiment zur Suche nach Axionen als Bestandteil der Dunklen Materie.

ALICE

Experiment am Large Hadron Collider mit einem Schwerpunkt auf der Erforschung des Quark-Gluon-Plasmas und von Fragen der Hadron- und Kernphysik.

Alphateilchen, 𝛼-Teilchen

Kern des Heliumatoms bestehend aus zwei Protonen und zwei Neutronen.

Alphazerfall, 𝛼-Zerfall

Zerfall eines Atomkerns, bei dem ein Heliumkern (Alphateilchen) ausgesendet wird.

ALPS

Experiment zur Suche nach Axionen. Dabei wird untersucht, ob man mit einem intensiven Laserstrahl durch eine Wand scheinen kann. Wenn Axionen existieren, könnten Photonen, umgewandelt in Axionen, ungehindert eine Wand durchqueren.

AMS

Experiment auf der Internationalen Raumstation ISS im Weltraum. Der Teilchendetektor hat die Besonderheit, zusätzlich zur Messung von Energie und Teilchenart die elektrische Ladung von Teilchen der kosmischen Strahlung zu messen.

Analyse (Experiment)

Auswertung experimenteller Daten.

anomales magnetisches Moment

Relative Abweichung des sog. gyromagnetischen Faktors g vom Wert 2, der von der Diracgleichung vorhergesagt wird: a = (g − 2)/2.

Antimaterie

Partnerteilchen eines Materieteilchens mit umgekehrtem Vorzeichen der Quantenzahlen im Vergleich zu Materie. Zu den umgekehrten Größen zählt die elektrische Ladung.

40 18

Zwei Isotope von Argon (Ordnungszahl 18) mit den Massen 40 und 39. Flüssiges Argon wird häufig als Szintillator verwendet. Natürliches Argon besteht hauptsächlich aus dem stabilen Isotop 1840Ar. Erzeugt von der kosmischen Strahlung enthält es aber auch Spuren des radioaktiven Isotops 1839Ar.

asymptotische Freiheit

Beschreibt das Phänomen, dass die starke Wechselwirkung bei hohe Energien schwächer wird, so dass sich Quarks und Gluonen dann wie (nahezu) freie Teilchen verhalten.

ATLAS

Mehrzweck-Experiment am Large Hadron Collider.

Atomspektrum

siehe Spektrallinie

Auger

siehe Pierre-Auger-Experiment

Ar, 1839Ar

330

Glossar

Austauschteilchen

In der Quantenfeldtheorie werden Kräfte durch Austauschteilchen übertragen. Beim Elektromagnetismus ist das das Photon, bei der schwachen Wechselwirkung die W ±und Z 0-Bosonen und bei der starken Wechselwirkung die Gluonen.

Axion

Ein hypothetisches Teilchen, welches als Beiwerk einer Erklärung der verschwindenden CP-Verletzung der starken Wechselwirkung auftritt. Es ist gleichzeitig ein guter Kandidat für die Dunkle Materie. Teilchen bestehend aus einem bottom-Quark und einem leichten Antiquark (ū, d,̄ s̄) (oder einem bottom-Antiquark und einem leichten Quark).

B-Meson Baryon

Hadronen mit halbzahligem Spin. Die einfachsten möglichen Baryonen, wie Proton und Neutron, enthalten drei leichte Quarks.

Baryonenasymmetrie

Die Tatsache, dass sehr viel mehr Materie als Antimaterie im Universum beobachtet wird.

Belle / Belle-II

Experiment zur Vermessung der CP-Verletzung und anderer Eigenschaften von BMesonen am e +e −-Kollider KEKB in Japan.

Beschleuniger

Eine Anlage, in der Teilchenstrahlen mithilfe elektrischer Felder auf die gewünschte Energie beschleunigt und mithilfe von Magnetfeldern fokussiert und meist auf einer Kreisbahn gehalten werden.

Betazerfall, 𝛽-Zerfall

Umwandlungen zwischen Neutronen und Protonen unter Entsendung eines Leptonpaares (e − 𝜈̄e beim Neutronzerfall, e + 𝜈e beim Protonenzerfall). Bei einem 𝛽-Zerfall ändert sich die Ordnungszahl eines Atomkerns um eine Einheit. Protonen können nur so zerfallen, wenn sie in Atomkernen gebunden sind und der entstehende Kern stabiler als der Ausgangskern ist.

BNL

Brookhaven National Laboratory, Forschungszentrum auf Long Island, New York, USA.

BOREXINO

Experiment im Gran-Sasso-Untergrundlabor in Italien zur Untersuchung von Neutrinos aus der Sonne.

Boson

Teilchen mit ganzzahligem Spin. Die Austauschteilchen der Wechselwirkungen (Photonen, W, Z und Gluonen) und das Higgs-Teilchen sind Bosonen.

Breite einer Resonanz

Der Energiebereich, über den sich eine Resonanz als Überhöhung in den Daten zeigt. Die Breite einer Resonanzkurve ist umgekehrt proportional zur Lebensdauer der Resonanz.

c

siehe Lichtgeschwindigkeit

CAST

Experiment zur Suche nach Axionen von der Sonne.

CaWO4

Kalziumwolframat.

Glossar

331

ˇ erenkov-Effekt C

Bewegt sich ein geladenes Teilchen in einem Medium (z.B. Wasser oder auch Luft) schneller als die Lichtgeschwindigkeit in dem Medium, so wird Licht, sogenannte ˇ erenkov-Strahlung, erzeugt. Im Medium ist die Ausbreitungsgeschwindigkeit von C Licht geringer als die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum. Daher kann sich ein Teilchen darin schneller als Licht bewegen, obwohl es nie schneller als die Vakuum-Lichtgeschwindigkeit sein kann.

Cˇ erenkov-Teleskop

Dringt ein Teilchen der kosmischen Strahlung in die Erdatmosphäre ein, so wird von ˇ erenkov-Licht emittiert. ihm und insbesondere dem resultierenden Teilchenschauer C Mit speziellen Teleskopen kann dies beobachtet werden, woraus Richtung und Energie des ursprünglichen Teilchens bestimmt werden können.

CERN

Europäische Organisation für Kernforschung. Internationales Teilchenphysiklabor, in Genf in der Schweiz, 1954 gegründet. Hier gab es den LEP-Beschleuniger und gibt es, neben anderen, noch heute seinen Nachfolger, den LHC-Beschleuniger.

Chiralität und Händigkeit

Bezeichnet eine Teilcheneigenschaft. Linkshändige Teilchen wechselwirken mit dem W- und dem Z-Boson, rechtshändige Teilchen nur mit dem Z-Boson. Links- und rechtshändige Teilchen wechselwirken beide mit dem Photon und dem Gluon, sofern sie elektrische Ladung oder Farbladung tragen.

CKM-Matrix

Beschreibt mathematisch den nach den Wissenschaftlern Cabibbo, Kobayashi und Maskawa benannten Zusammenhang, nach dem das Higgs-Boson an eine andere Kombination aus Quarks koppelt als die W ±-Bosonen. Verantwortlich für die CPVerletzung im Standardmodell.

CMS

Mehrzweck-Experiment am Large Hadron Collider (LHC).

Confinement

Beschreibt das empirisch beobachtete Phänomen, dass Teilchen, die eine starke Ladung (auch Farbladung genannt) tragen, nicht als freie Teilchen beobachtet werden können. Sie sind lediglich als Bausteine von zusammengesetzten Objekten zu finden, deren Farbladungen sich gegenseitig neutralisieren.

COBE

Satelliten-Experiment zur Vermessung des kosmischen Mikrowellenhintergrunds.

COMPASS

Experiment am CERN, an dem Experimente zur Spinstruktur des Protons und zur Hadronspektroskopie durchgeführt wurden.

COSY

Steht für COoler SYnchrotron und ist ein Teilchenbeschleuniger für Protonen und Deuteronen am Forschungszentrum Jülich.

CPT-Theorem

Besagt, dass alle Systeme in der Quantenfeldtheorie unter der kombinierten Symmetrietransformation aus Ladungsumkehr (C, charge conjugation), Raumspiegelung (P, parity) und Zeitumkehr (T, time reversal) unverändert sind.

332

Glossar

CP-Verletzung

Die Verletzung der kombinierten CP-Symmetrie und damit, nach dem CPT-Theorem, auch der T-Symmetrie. Im Standardmodell nur in der schwachen Wechselwirkung durch die Phase der CKM-Matrix beobachtet.

CsI

Cäsium-Jodid, transparentes, szintillierendes, kristallines Material.

CUORE

Experiment mit Tieftemperturdetektoren im Gran-Sasso-Untergundlabor zur Klärung der Frage, ob das Neutrino sein eigenes Antiteilchen ist.

D-Meson

Teilchen bestehend aus einem charm-Quark und einem leichten Antiquark (u,d,s) (oder einem charm-Antiquark und einem leichten Quark).

D*-Meson

Anregungszustand des D-Mesons.

DarkSide

Experiment mit flüssigem Argon im Gran-Sasso-Untergrundlabor zur Suche nach den Teilchen der Dunklen Materie.

Davis-Experiment

Erstes Experiment zum Nachweis von Neutrinos von der Sonne, realisiert von Ray Davis in der Homestake-Mine in den USA.

DEAP

Experiment mit flüssigem Argon im SNOLAB in Kanada zur Suche nach den Teilchen der Dunklen Materie.

DESY

Deutsches Elektronen-Synchrotron. Ein Labor in Hamburg zur Forschung mit Beschleunigern im Bereich der Teilchenphysik und der Forschung mit Synchrotronstrahlung. Hier wurde das Gluon und die Oszillation von B-Mesonen entdeckt und die starke Wechselwirkung sowie die Struktur des Protons sehr präzise vermessen.

Detektor

In der Teilchenphysik versteht man darunter ein Instrument zur Messung eines Teilchens. Dabei kann es einfach nur um den Nachweis des Auftretens eines Teilchens gehen, bis hin zur Messung aller Eigenschaften und der Flugbahn.

Deuterium

Wasserstoffisotop mit Massenzahl zwei. Der Atomkern, das Deuteron, besteht aus einem Proton und einem Neutron.

Deuteron

siehe Deuterium

Drehimpuls

Kinematische Größe, die zur Beschreibung von Drehbewegungen in der Mechanik und speziell in der Quantenmechanik eine große Rolle spielt.

DUNE

Experiment zur Bestimmung der CP-Verletzung bei Neutrinooszillationen.

Dunkle Energie

Eine von kosmologischen Messungen motivierte Energieform, die eine beschleunigte Expansion des Raumes bewirkt. Bislang ist unbekannt, welcher Natur diese Energie ist.

Dunkle Materie

Eine von einer Vielzahl kosmologischer Messungen verlangte Form von nicht elektromagnetisch oder stark wechselwirkender Materie im Weltraum. Es gibt starke Anzeichen, dass es sich dabei um Teilchen handeln muss. Kein Teilchen des Standardmodells erfüllt die Eigenschaften der Dunklen Materie. Daher ist die Dunkle Materie einer der klarsten Hinweise für Physik jenseits des Standardmodells.

Glossar

333

Eichsymmetrie

Konstruktionsprinzip der Wechselwirkungen des Standardmodells: Aus der Forderung einer lokalen Symmetrie leitet sich die Existenz von Eichfeldern ab, die mit den Austauschteilchen der elektromagnetischen, schwachen und starken Wechselwirkung identifiziert werden können.

elektrisches Dipolmoment

In der klassischen Physik entsteht ein elektrisches Dipolmoment, wenn entgegengesetzte Ladungen räumlich voneinander getrennt sind. So sorgt zum Beispiel ein elektrisches Dipolmoment dafür, dass Wassermoleküle sich gegenseitig anziehen. Punktförmige Teilchen mit Spin, wie z. B. das Elektron, können auch ein elektrisches Dipolmoment besitzen, das jedoch anderer Natur ist und nur exisieren kann, wenn Parität und Zeitumkehrinvarianz verletzt sind.

elektromagnetische Wechselwirkung

Neben der Gravitation, der schwachen und der starken Wechselwirkung eine der vier elementaren Grundkräfte.

Elektron

Lepton, fundamentaler Baustein des Standardmodells sowie aller Atome. Spürt die elektromagnetische und die schwache Wechselwirkung.

Elektronenvolt (eV)

Energieeinheit, die der Energie entspricht, die ein Elektron aufgenommen hat, wenn es eine Spannung von 1 Volt überwunden hat. Es gilt 1 eV = 1,60218·10 −19 Joule.

ELSA

Elektronen-Stretcher-Anlage. Elektronenbeschleuniger, der an der Universität Bonn betrieben wird.

Energie

Wichtige Größe zur Beschreibung des Zustands eines Teilchens/Systems. Setzt sich zusammen aus der kinetischen bzw. Bewegungsenergie und der potentiellen Energie. Die Gesamtenergie eines abgeschlossenen Systems ist immer erhalten, zwischen Teilchen kann aber Energie ausgetauscht werden.

EXO

Experiment mit flüssigem Xenon zur Klärung der Frage, ob das Neutrino sein eigenes Antiteilchen ist.

Familie von Teilchen

Gruppe von Elementarteilchen, auch Generation genannt, bestehend aus einem geladenen Lepton, einem zugehörigen Neutrino sowie zwei zugehörigen Quarks. Es gibt drei Familien, in der ersten Familie befinden sich (e −, 𝜈e); (u, d), in der zweiten (𝜇 −, 𝜈𝜇); (c, s) und in der dritten Familie (𝜏 −, 𝜈𝜏); (t, b).

Farbeinschluss

siehe Confinement

Farbladung

Zusammenfassender Name für die drei Ladungen der starken Wechselwirkung bzw. Quantenchromodynamik.

Feinstrukturkonstante

Charakteristische Stärke der elektromagnetischen Wechselwirkung, Symbol: 𝛼QED – häufig auch als 𝛼 abgekürzt. Bestimmt z. B. die Bindungsenergien von Atomen.

334

Glossar

Fermi oder Femtometer [fm]

In der Kern- und Teilchenphysik verwendete Längeneinheit. Es gilt 1 fm = 10 −15 m. Ein Femtometer ist die typische Ausdehnung eines Hadrons.

Fermilab

Teilchenphysiklabor nahe Chicago, Illinois, USA. Hier wurden das bottom-Quark, das top-Quark und das Tau-Neutrino 𝜈𝜏 entdeckt.

Fermion

Teilchen mit halbzahligem Spin. Gehorcht dem Pauli-Prinzip. Die elementaren Bausteine der Materie sind Fermionen.

Flavour

Anderer Begriff für die Art eines Fermions.

Fotoplatte

Lichtempfindliche Platte, wie sie in frühen Fotokameras verwendet wurde. Sie reagiert auch auf den Durchgang geladener Teilchen und kann somit als Detektor verwendet werden.

GALLEX

Experiment im Gran-Sasso-Untergrundlabor zur Messung der Neutrinos von der Sonne.

Gammastrahlung, Gammaphoton, 𝛾-Strahlung

Photon mit hoher Energie (> einige 100 keV).

gasbasierter Detektor

Ein typischerweise hauptsächlich mit einem Edelgas gefülltes Volumen, in dem die Ionisation des Gases durch geladene, hochenergetische Teilchen gemessen wird. Oft als Spurdetektor verwendet.

76 32

Germanium (Ordnungszahl 32), Isotop mit Masse 76. Germanium ist ein Halbleiter und wird in sehr vielen Anwendungen als Detektormaterial verwendet. Natürliches 76 Germanium enthält zu 7,4 % das Isotop 32 Ge, welches eines der wenigen Isotope ist, die durch doppelten 𝛽-Zerfall zerfallen.

geladener Strom

Eine von einem virtuellen geladenen W ±-Boson vermittelte schwache Wechselwirkung.

GeV

Energieeinheit, 1.000.000.000 Elektronenvolt = 1.000 MeV.

GHz

Gigahertz. Hertz ist die Einheit für Frequenzen. Giga steht für 1 Milliarde (109). 1 GHz bezeichnet 1 Milliarde Zyklen pro Sekunde.

Gitter-QCD

Methode zur numerischen Lösung der Quantenchromodynamik (QCD) mithilfe von aufwändigen Simulationen auf Supercomputern.

Gluon

Austauschteilchen der starken Wechselwirkung (QCD). Entspricht dem Photon im Elektromagnetismus (QED). Den drei starken Ladungen entsprechend gibt es acht Gluonen.

Gran-SassoUntergrundlabor

Labor im Inneren des Gran-Sasso-Massivs in den Abruzzen, Italien. Durch die Gesteinsabdeckung wird kosmische Strahlung von den Experimenten ferngehalten, weshalb dadurch fast keine Störsignale mehr ankommen.

Grand Unified Theory (GUT)

Große vereinheitlichte Theorie. Hypothetische Theorie, die die drei Kräfte des Standardmodells bei sehr hoher Energie (1016 GeV) zu einer Kraft vereinheitlicht.

Ge

Glossar

335

Gravitationsgesetz

Mathematische Beschreibung der Abhängigkeit der Massenanziehungskraft (Gravitationskraft) vom Abstand zwischen den Massen.

h und ħ

siehe Planck’sches Wirkungsquantum

Hadronen

Bindungszustände aus Quarks und Gluonen, die nach außen keine Farbladung tragen. Prominente Hadronen sind z. B. Protron und Neutron, die Bausteine der Atomkerne, sowie das Pion.

Helium

Element, dessen Atomkern aus zwei Protonen und typischerweise zwei Neutronen besteht. Helium ist ein Edelgas und gehört zu den leichten Elementen.

HERA

Beschleuniger am Labor DESY in Hamburg, an dem Positronen in die eine Richtung und Protonen in die andere Richtung beschleunigt und zur Kollision gebracht wurden.

Higgs-Boson

Das Teilchen, das im Standardmodell für die elektroschwache Symmetriebrechung und die Existenz der Massen der Elementarteilchen verantwortlich ist. Entdeckt 2012 am Large Hadron Collider (LHC).

Hohlraumresonator

Gefäß aus elektrisch leitendem Material, welches aufgrund seiner Form auf eine bestimmte Frequenz für die Schwingungen elektromagentischer Felder in seinem Inneren abgestimmt ist. Typischerweise liegen die Frequenzen im Mikrowellenbereich.

Hyper-Kamiokande

Experiment in der Kamioka-Mine in Japan zur Suche nach dem Zerfall des Protons, sowie dem Nachweis astrophysikalischer Neutrinos.

IAXO

Experiment zur Suche nach Axionen von der Sonne.

IceCube

Experiment am Südpol zur Untersuchung hochenergetischer kosmischer Neutrinos.

Impuls

Größe zur Beschreibung des Zustands eines Teilchens/Systems. Der Impuls ist ein Vektor, ist also gekennzeichnet durch Richtung und Betrag. In der Regel ist der Betrag des Impulses |pĺ| eines Teilchens mit seiner Energie verknüpft, E 2 = m 2c 4 + |pĺ|2c 2 (Ausnahme: virtuelle Teilchen). Bei kleinen Energien ist der Impuls gleich der Geschwindigkeit des Teilchens multipliziert mit seiner Masse. Die Summe der Impulse aller Teilchen in einer Teilchenreaktion ist immer erhalten, zwischen Teilchen kann aber Impuls ausgetauscht werden.

invariante Masse

Bei einem Mehrteilchensystem bezeichnet die invariante Masse die Wurzel aus der Differenz aus dem Quadrat der Summe aller Energien der Teilchen und dem Quadrat der Summe aller Impulse. Sie ist gleich in allen Bezugssystemen.

Ionisation

Herauslösen von Elektronen aus Atomen. Das verbleibende Atom ist nicht mehr elektrisch neutral und wird als Ion bezeichnet.

336

Glossar

Isotop

Atom des gleichen Elements, mit gleicher Anzahl von Protonen im Kern, aber unterschiedlicher Zahl an Neutronen.

JUNO

Experiment in China zur Bestimmung der Ordnung der Neutrinomassen durch genaue Untersuchung von Neutrinooszillationen.

Kalibration

Der Vorgang, in dem einem elektronischen Signal einer bestimmten Stärke ein bestimmter Wert einer physikalischen Größe zugeordnet wird.

Kalorimeter

Der Teil eines Experiments, mit dem die Energie von Teilchen gemessen wird.

KamLAND

Experiment in der Kamioka-Mine in Japan zum Nachweis von Neutrinos von umgebenden Kernreaktoren.

KASCADE

Experiment am Forschungszentrum Karlsruhe zur Untersuchung der kosmischen Strahlung.

KATRIN

Experiment am Forschungszentrum Karlsruhe zur Bestimmung der Neutrinomasse durch genaue Vermessung des 𝛽-Zerfalls von Tritium.

Kernfusion

Verschmelzung leichter Atomkerne zu schwereren Atomkernen. Für Kerne leichter als Eisenkerne wird dabei Energie frei. Sterne produzieren ihre Energie durch Kernfusion.

KM3Net

Experiment im Wasser des Mittelmeers zur Messung hochenergetischer kosmischer Neutrinos.

Konfidenz

siehe Signifikanz

Kosmische Strahlung

Die hochenergetischen kosmischen Strahlen sind hauptsächlich Protonen, die aus dem All auf die Erde treffen.

ΛQCD

Charakteristische Energieskala der QCD von ungefähr 250 MeV. Für Energien/Massen sehr viel größer als ΛQCD wird die QCD-Kopplung klein. Für Energien kleiner als ΛQCD zeigt die QCD ihre sehr komplexe Seite.

Large Hadron Collider (LHC)

Der zur Zeit der Drucklegung dieses Buches größte und leistungsstärkste Teilchenbeschleuniger. Betrieben vom Labor CERN in Genf.

Lebensdauer

Die durchschnittliche Zeit im Ruhesystem des instabilen Teilchens, bis es in andere Teilchen zerfällt.

LEGEND

Experiment mit Germanium-Detektoren zur Klärung der Frage, ob das Neutrino sein eigenes Antiteilchen ist.

LEP-Beschleuniger

Large Electron-Positron Collider. Elektron-Positron-Kollider am CERN in Betrieb von 1989 bis 2000.

Leptonen

Elementarteilchen mit Spin 1/2, die nicht die starke Wechselwirkung spüren. Im Standardmodell gilt das für das Elektron, das Myon, das Tauon sowie die zugehörigen Neutrinos.

Leptoquark

Hypothetisches Teilchen, das in Vereinheitlichten Theorien (GUTs) auftritt und mit der Vereinigung der starken und der elektroschwachen Kraft verbunden ist.

Glossar

337

LHCb

Experiment am Large Hadron Collider, spezialisiert auf die Untersuchung von BMesonen und anderen Hadronen.

LiAlO2

Lithiumaluminat. In Kristallform transparentes, nicht leitendes Material.

Lichtgeschwindigkeit (c) Naturkonstante. Es gilt c = 299.792.458 m/s. Lichtjahr

Strecke, welche Licht in einem Jahr zurücklegt (9.460 Milliarden Kilometer).

LuAlO2

Lutetiumaluminat. In Kristallform transparentes, nicht leitendes Material. Wird als Szintillator verwendet, z. B. in PET.

MACHO

Massive Compact Halo Object. Kompakte Himmelskörper aus Baryonen. Kandidat für die Dunkle Materie.

MADMAX

Experiment zur Suche nach Axionen als möglicher Bestandteil der Dunklen Materie im Universum.

magnetisches Moment

Maß dafür, wie ein Teilchen auf ein äußeres magnetisches Feld reagiert.

Majorana-Neutrino

Möglicher Typ eines Neutrinos, welches sein eigenes Antiteilchen ist. Vielleicht sind die beobachteten Neutrinos Majorana-Neutrinos.

Mesonen

Hadronen mit ganzzahligem Spin und Baryonenzahl 0, also aus gleich vielen Quarks und Antiquarks. Beispiel: Pion.

Messunsicherheit

siehe Unsicherheit

MINOS

Experiment in den USA zur Vermessung von Neutrinooszillationen über eine Distanz von etwa 750 km.

MRT

Magentresonanztomographie. Bildgebendes Verfahren der Medizin. Nutzt das magnetische Moment von Protonen aus.

Myon 𝜇

Schweres Schwesterteilchen des Elektrons. Das zweitschwerste bekannte Lepton.

NaI

Natrium-Jodid, transparentes, szintillierendes, kristallines Material.

natürliche Radioaktivität

Radioaktive Strahlung, emittiert von natürlich vorkommenden instabilen Isotopen.

150 60

Neodym (Ordnungszahl 60), Isotop mit Masse 150. Natürliches Neodym enthält zu 5,6 % das Isotop 150 60Nd, welches eines der wenigen Isotope ist, die durch doppelten 𝛽-Zerfall zerfallen.

Nd

338

Glossar

neuronales Netzwerk

Eine Aneinanderreihung nicht linearer mathematischer Operationen, mit denen verschiedene Messgrößen miteinander so kombiniert werden können, dass eine Entscheidung auf Basis der kombinierten Größe so sensitiv wie möglich getroffen werden kann oder eine Größe bestmöglich vorhergesagt werden kann. Kann auch für die Simulation von Ereignissen oder ganz andere Fragestellungen außerhalb der Naturwissenschaften verwendet werden.

neutraler Strom

Eine von einem neutralen, virtuellen Z 0-Boson vermittelte schwache Wechselwirkung.

Neutrino

Elektrisch neutrales Lepton. Fundamentaler Baustein des Standardmodells. Jede Familie hat ihr eigenes Neutrino.

Neutrinomasse

Die Massen der Neutrinos sind sehr klein und noch unbekannt. Da es drei Neutrinoflavours gibt (Elektron-Neutrino, Myon-Neutrino und Tau-Neutrino) gibt es auch drei verschiedene Neutrinomassen.

Neutron

Ungeladenes Baryon, bestehend aus drei Quarks (down-down-up). Neben dem Proton einer der beiden Bausteine von Atomkernen.

Neutronenstern

Wenn die Energieerzeugungsprozesse durch Kernfusion im Inneren eines Sterns zu Ende gehen, kollabiert der innere Kern des Sterns aufgrund der Gravitation zu einem kompakten Objekt. Hat der Stern eine Masse zwischen 8 und 25 Mal die Masse der Sonne, so entsteht dabei ein Neutronenstern. Darin wird die Materie auf eine Dichte höher als in Atomkernen komprimiert und es entsteht ein Überschuss an Neutronen. Ein typischer Neutronenstern hat eine Masse von etwa 1,5 Sonnenmassen, misst aber nur 25 km im Durchmesser.

nEXO

Experiment mit flüssigem Xenon zur Klärung der Frage, ob das Neutrino sein eigenes Antiteilchen ist.

Nukleon

Kollektive Bezeichnung für die Kernbausteine Proton und Neutron.

OPERA

Experiment im Gran-Sasso-Untergrundlabor zur Vermessung von Neutrinooszillationen über eine Distanz von etwa 750 km. Die Neutrinos wurden am CERN in Genf erzeugt.

Oszillation (Teilchen)

Hier die periodische Umwandlung eines Teilchens in ein anderes (z. B. Neutrinos) oder zwischen Teilchen und Antiteilchen (z. B. neutrale Mesonen).

PAMELA

Satelliten-Experiment zur Untersuchung der kosmischen Strahlung.

Paritätsverletzung

Die Verletzung der Spiegelsymmetrie P in der schwachen Wechselwirkung.

Pauli-Prinzip

Identische Fermionen (z. B. zwei Elektronen) können in einem Quantensystem (z. B. einem Atom) nicht in allen Quantenzahlen, wie Energie, Spinausrichtung, Bahndrehimpuls und dessen Ausrichtung, übereinstimmen.

PbWO4

Bleiwolframat. In Kristallform transparentes, nicht leitendes und szintillierendes Material.

Glossar

339

PET

Positron-Emissions-Tomographie. Bildgebendes Verfahren der Medizin. Dabei wird die Vernichtungsstrahlung der Annihilation von Positronen mit Elektronen genutzt.

Photomultiplier

Sehr empfindliches Messgerät für Photonen (Lichtquanten). Das elektrische Signal wird dadurch erzeugt, dass durch den Photoeffekt erzeugte Elektronen vervielfacht werden.

Photon

Austauschteilchen der QED und die Quanten des elektromagnetischen Feldes.

Pierre-AugerExperiment

Experiment in der argentinischen Pampa mit großflächig verteilten Detektoren zur Untersuchung der ultrahochenergetischen kosmischen Strahlung.

Pion

Das leichteste aus Quarks aufgebaute Teilchen. Pionen gehören zu den Mesonen, die aus einem Quark und einem Antiquark bestehen. Bausteine der Pionen sind up- und down-Quarks.

Planck-Satellit

Satelliten-Experiment zur Vermessung des kosmischen Mikrowellenhintergrundes.

Planck’sches Wirkungsquantum (h bzw. ħ)

Naturkonstante. Es gilt h = 6,62607015·10 −34 Js. Häufig wird auch die Größe ħ = h/ (2𝜋) benutzt.

Potential

In nicht-relativistischen Systemen kann jedem Ort das zu einer Wechselwirkung gehörende Potential zugeordnet werden: Bringt man ein Teilchen an eine bestimmte Stelle in diesem Potential, kann ihm damit eine potentielle Energie zugeordnet werden.

potentielle Energie

Teil der Energie eines Teilchens, die nicht in Bewegung steckt.

Proton

Baryon mit positiver elektrischer Ladung, bestehend aus drei Quarks (up-up-down). Neben dem Neutron einer der beiden Bausteine von Atomkernen. Die Anzahl der Protonen legt die Kernladung und damit das Element fest.

QCD

Quantenchromodynamik. Die Quantenfeldtheorie der starken Wechselwirkung.

QED

Quantenelektrodynamik. Die Quantenfeldtheorie der elektromagnetischen Wechselwirkung.

QFT

Quantenfeldtheorie. Die allgemeine, relativistische Quantentheorie für Felder. In der Quantenfeldtheorie können Teilchen erzeugt und vernichtet werden.

Quantenzahl

Der Zustand eines Teilchens wird durch einen vollständigen Satz von Quantenzahlen charakterisiert. Für ein Elektron in einem Wasserstoffatom sind das z. B. Energiewert (Hauptquantenzahl), Gesamtdrehimpuls und seine Projektion auf die Quantisierungsachse und Bahndrehimpuls.

340

Glossar

Quark

Fundamentaler Baustein des Standardmodells. Spürt alle Wechselwirkungen, insbesondere die starke Wechselwirkung (QCD). Es gibt sechs Quarks, drei leichte (up, down, strange) und drei schwere (charm, bottom, top), wobei ΛQCD als Vergleichsskala dient.

Rekonstruktion

Das mathematische Verfahren, mit dem die Messdaten des Experiments (also z. B. die Stärke einzelner elektronischer Signale in verschiedenen Komponenten des Detektors) in physikalische Messgrößen wie z. B. die Energie eines Teilchens überführt werden.

Relativitätstheorie

Die spezielle Relativitätstheorie erlaubt es, Observable zwischen verschiedenen Inertialsystemen (Systemen, die sich relativ zueinander mit konstanter Geschwindigkeit bewegen) ineinander umzurechnen. Die allgemeine Relativitätstheorie ist die Erweiterung auf beschleunigte Bezugssysteme und die Theorie der Gravitation.

Resonanz

Wenn ein System so angeregt wird, dass die Anregungsfrequenz genau zu seiner charakteristischen Frequenz passt, ist der Energieübertrag maximal. In der Teilchenphysik zeigt sich eine Resonanz als stark erhöhte Übergangswahrscheinlichkeit, die sich als deutliche Überhöhung in Zählraten bemerkbar macht.

Rückstoßenergie

Emittiert ein Atomkern ein Teilchen, so wird ein Teil der freiwerdenden Energie als Rückstoß auf den verbleibenden Atomkern übertragen. Auch wenn ein anderes Teilchen an einem Atomkern streut und dabei einen Teil seiner Energie auf den Atomkern überträgt, wird dies als Rückstoßenergie bezeichnet.

SAGE

Sowjetisch-amerikanisches Experiment im Kaukasus zur Messung von Neutrinos von der Sonne.

Schalen

Nahe beieinander liegende Energieniveaus z. B. in Atomen oder Atomkernen werden zu Schalen zusammengefasst.

Schrödingergleichung

Fundamentale Wellengleichung der nicht-relativistischen Quantenmechanik.

schwache Wechselwirkung

Neben der Gravitation, der elektromagnetischen und der starken Wechselwirkung eine der vier elementaren Grundkräfte.

Schwarzes Loch

Wenn die Energieerzeugungsprozesse durch Kernfusion im Inneren eines Sterns zu Ende gehen, kollabiert der innere Kern des Sterns aufgrund der Gravitation zu einem kompakten Objekt. Hat der Ausgangsstern eine Masse größer als etwa 25 Mal die Masse der Sonne, so entsteht ein Schwarzes Loch. Dabei zieht sich der Kern des Stern so stark zusammen, dass selbst Photonen aufgrund der Gravitationskraft nicht mehr aus der Umgebung entweichen können.

Schwellenenergie

Entspricht der Energie, die mindestens benötigt wird, um einen bestimmten Endzustand zu produzieren.

schwere Ionen

Elektrisch geladene schwere Atomkerne. Werden zur Untersuchung von Kernmaterie genutzt.

Glossar

341

Signifikanz

Die statistische Sicherheit einer Aussage, abgeleitet aus dem Maß für die Unsicherheit. Innerhalb von ±1 σ (der Einheit der Signifikanz und der Unsicherheit) werden 68 % aller Ergebnisse eines Experiments erwartet. Innerhalb von ± 2 σ sind es etwa 95 %. Außerhalb des Bereichs, der der Signifikanz von 5 σ entspricht, wird nur in 2,7·10 −7 aller Fälle ein Ergebnis erwartet.

Siliziumdetektor

Ein typischerweise (aber nicht immer) in dünne Streifen oder winzige Rechtecke unterteilter Detektor, der die Ionisation des Halbleitermaterials Silizium beim Durchgang von geladenen Teilchen misst.

SLAC-Labor

Teilchenphysiklabor in Kalifornien, USA.

SNO

Experiment im SNOLAB in Kanada zur Messung von Neutrinos von der Sonne.

solare Neutrinos

Neutrinos, die im Sonneninneren erzeugt werden. Bei der Kernfusion von Wasserstoff zu Helium wandeln sich je zwei Protonen durch inverse 𝛽-Zerfälle in Neutronen um, wobei unter anderem Neutrinos emittiert werden.

Spektrallinie

Leuchtende Atome senden Licht bei für das Isotop typischen Frequenzen aus, anhand derer man das Isotop identifizieren kann. Diese Frequenzen entsprechen den Energiedifferenzen der Niveaus des Atoms. Quantenmechanisch wird das dadurch erklärt, dass beim Übergang von einem zum anderen Energieniveau die freiwerdende Energie von Photonen davongetragen wird.

Spektroskopie

Untersuchung der von einer Strahlungsquelle (z. B. Stern als Lichtquelle) emittierten Frequenzen.

Spin

Quantenmechanische Eigenschaft eines Teilchens, die auch als Eigendrehimpuls bezeichnet wird und zum Gesamtdrehimpuls beiträgt.

Spurdetektor

Ein Teil eines Experiments, mit dem meist der Verlauf der Teilchenbahnen durch ein Magnetfeld vermessen wird, um den Impuls der Teilchen zu bestimmen. Oft als gasbasierter Detektor oder Siliziumdetektor ausgeführt.

Super-Kamiokande

Experiment in der Kamioka-Mine zur Messung von atmosphärischen und solaren Neutrinos sowie der Suche nach dem Zerfall des Protons.

Supersymmetrie (SUSY) Eine hypothetische Symmetrietransformation zwischen Fermionen und Bosonen. SU(3)C×SU(2)L×U(1)Y

Die grundlegende Eichsymmetrie des Standardmodells. Hierbei bezeichnen SU(n) bzw. U(1) bestimmte Symmetrietransformationen in einem mindestens n-dimensionalen Raum. Das „ד (Tensorprodukt) beschreibt, dass die Operationen in den verschiedenen Räumen unabhängig voneinander ausgeführt werden können.

342

Glossar

starke Wechselwirkung

Neben der Gravitation, der elektromagnetischen und der schwachen Wechselwirkung eine der vier elementaren Grundkräfte

starkes CP-Problem

Bezeichnet die Beobachtung, dass die starke Wechselwirkung die CP-Symmetrie (zumindest mit hoher Genauigkeit) erhält, obwohl sie diese aus formal theoretischen Gründen eigentlich verletzen müsste.

Statistik

Die mathematische Beschreibung von Zufall.

statistische Unsicherheit

Die natürliche Schwankung eines Messergebnisses (z. B. einer Zählrate). Kann durch wiederholtes Messen reduziert werden.

Streuung

Reaktion zwischen zwei Teilchen, bei der Energie und Impuls von einem auf das andere Teilchen übertragen wird. Dabei können auch neue Teilchen entstehen.

Stringtheorie

Eine spekulative Theorie, auf deren Basis eine Vereinheitlichung der Gravitation mit den Kräften ders Standardmodells möglich ist.

Supraleitung

Einige Materialien verlieren unterhalb einer kritischen Temperatur jeglichen elektrischen Widerstand. Diese Phase wird als supraleitend bezeichnet.

Symmetrie (-transformation)

Eine Symmetrie liegt vor, wenn sich ein Objekt unter Anwendung der Symmetrietransformation nicht ändert – so kann man einen gedrehten Kreis nicht von einem ungedrehten unterscheiden. Hier liegt also eine Dreh- oder Rotationsymmetrie vor.

Symmetriebrechung

Diese liegt vor, wenn die Symmetrie in einem System nicht (exakt) realisiert ist. Eine Symmetrie kann explizit oder spontan gebrochen sein.

Synchrotron

Eine kreisförmige Bauart von Beschleunigern, bei der das Magnetfeld synchron mit zunehmender Teilchenenergie angepasst wird.

systemematische Unsicherheit, Systematik

Eine Unsicherheit, die dem Bereich möglicher Fehlmodellierung der Messapparatur, des Messprozesses oder der numerischen Ungenauigkeit einer Berechnung entspricht. Sie muss oft durch aufwändige Vergleiche unabhängiger Methoden ermittelt werden.

Szintillator

Ein aus einem transparenten Kunststoff, transparentem Kristall oder transparenter Flüssigkeit bestehender Detektor, in dem die Energie von durchfliegenden Teilchen in sichtbares Licht umgewandelt wird. Das Licht kann von Photodetektoren (wie etwa Photomultipliern) registriert und so die Energie der Teilchen gemessen werden.

Tau-Lepton, Tauon, 𝜏

Das schwerste bekannte Lepton, Schwesterteilchen von Elektron und Myon.

130 52

Tellur (Ordnungszahl 52), Isotop mit Masse 130. Natürliches Tellur enthält zu 33,8 % das Isotop 13052Te, welches eines der wenigen Isotope ist, die durch doppelten 𝛽-Zerfall zerfallen.

TeO2

Telluroxid. In Kristallform transparentes, nicht leitendes Material.

Tevatron

Ein Beschleuniger am Fermilab nahe Chicago.

Theorie

Mathematische Beschreibung der Natur, die gut mit den Messergebnissen übereinstimmt.

Te

Glossar

343

TieftemperaturKalorimeter

Messung von Energien anhand von Temperaturerhöhungen. Die Methode ist in der Regel umso empfindlicher, je tiefer die Temperatur des Kalorimeters ist.

top-Quark

Das schwerste bekannte Quark. Entdeckt 1995 am Tevatron-Beschleuniger.

Trigger

Der Teil der Ausleseelektronik eines Experiments, mit dem entschieden wird, ob ein bestimmtes Ereignis aufgezeichnet werden soll.

Tritium

H, ein Isotop von Wasserstoff; zerfällt durch 𝛽-Zerfall zu 3He. Die dabei freiwerdende Energie entspricht der sehr genau bekannten Massendifferenz zwischen Tritium und 3He und beträgt 18,574 keV.

Unsicherheit

Ein Intervall, innerhalb dessen aufgrund statistischer Schwankungen ein Messergebnis zu erwarten ist, wenn eine bestimmte theoretische Aussage stimmt, oder das einem Messergebnis anhaftet.

Urknall

Heißer und dichter Anfangszustand des Universums.

Vektor

Mathematisches Objekt, das charakterisiert ist durch seine Richtung und seine Länge. Typische Vektoren sind Geschwindigkeit und Impuls.

Vertexdetektor

Detektorkomponente, die typischerweise aus dünnen Silizium-Platten aufgebaut ist und sich nahe am Wechselwirkungspunkt in Beschleunigerexperimenten befindet. Durch Extrapolation kann auf den Ursprungsort von beobachteten geladenen Teilchen und damit auf den Ort, an dem die Reaktion stattgefunden hat, geschlossen werden.

Verzweigungsverhältnis

Anteil der Zerfälle eines Teilchens in einen bestimmten Endzustand, im Verhältnis zu allen möglichen Zerfällen.

virtuelles Teilchen

Ein Teilchen, dessen Energie, Masse und Impuls nicht dem Zusammenhang E 2 = m 2c 4 + p 2c 2 entspricht, und das daher nicht als reales Teilchen existieren darf. Virtuelle Teilchen spielen aber eine wichtige Rolle als Zwischenzustände in quantenmechanischen Systemen. Ihre Existenz ist wegen der Heisenberg’schen Unschärferelation für eine kurze Zeit erlaubt.

Wasserstoff

Element, dessen Atomkern in den allermeisten Fällen aus nur einem Proton besteht. Es ist das leichteste Element.

Wellenfunktion

Beschreibt den quantenmechanischen Zustand eines Teilchens bzw. eines Systems von Teilchen. Das Betragsquadrat entspricht der Wahrscheinlichkeitsverteilung des Aufenthaltsortes des Teilchens.

WMAP

Satelliten-Experiment zur Vermessung des kosmischen Mikrowellenhintergrundes.

3

344

Glossar

W ±-Boson

Das Austauschteilchen der schwachen Wechselwirkung, das den geladenen Strom verursacht.

A Z

Schreibweise für Atomkerne. X steht für das chemische Symbol, Z ist die Ladungszahl, d. h. die Anzahl der Protonen. A ist die Massenzahl. Die Anzahl der Neutronen ergibt sich aus N = A − Z. Da das chemische Symbol die Protonzahl festlegt, findet man oft auch nur die Schreibweise AX.

X

136 54

Xenon (Ordnungszahl 54), Isotop mit Masse 136. Flüssiges Xenon wird als Szintillator verwendet. Natürliches Xenon enthält zu 8,9 % das Isotop 136 54Xe, welches eines der wenigen Isotope ist, die durch doppelten 𝛽-Zerfall zerfallen.

XENON

Experiment mit flüssigem Xenon im Gran-Sasso-Untergrundlabor zur Suche nach den Teilchen der Dunklen Materie.

Z 0-Boson

Das Austauschteilchen der schwachen Wechselwirkung, das den neutralen Strom verursacht.

Zeitdilatation

Nach der speziellen Relativitätstheorie: Zeitdehnung bei Teilchen, die sich mit einer Geschwindigkeit nahe der Lichtgeschwindigkeit bewegen.

Zerfallsbreite

siehe Breite

Xe

Bildnachweis

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Bildnachweis Im Bildnachweis werden folgende Abkürzungen verwendet: PB FB HD CH JJ JP KR

Philip Bechtle Florian Bernlochner Herbi Dreiner Christoph Hanhart Josef Jochum Jörg Pretz Kristin Riebe

Kaltschmidt, Lawrence Berkeley National Laboratory; rechts unten (BaBar/SLAC): Peter Ginter; Collage von KR

Vorwort S. VII: oben (Spiralgalaxie NGC 6956): NASA, ESA, and D. Jones (University of California – Santa Cruz); Processing: Gladys Kober (NASA/Catholic University of America); unten (Blasenkammeraufnahme): CERN S. VIII: CERN

Eine weltweite Reise in die Teilchenphysik S. 2: FB S. 3: von oben nach unten, links nach rechts: BaBar/SLAC: Peter Ginter; Fermilab; Pierre Auger Observatory / Miguel Salvadores; IceCube Collaboration / NSF; H.E.S.S.: Christian Föhr, LHC: CERN; KATRIN: Marcus Breig/ KIT; Daya-Bay: Roy Kaltschmidt, Lawrence Berkeley National Laboratory; Super-Kamiokande: Kamioka Observatory/ICRR (Institute for Cosmic Ray Research) / The University of Tokyo; SABRE-Experimentierhalle: SABRE Collaboration

Über dieses Buch S. IX: KR S. X: links: CERN, CMS-Experiment S. X: rechts: CERN, ALICE-Experiment

Was ist Teilchenphysik S. 4: Netzwerk Teilchenwelt S. 5: Joseline Heuer, Teilbilder links und unten: CERN

Inhalt S. XI: Marcus Breig/KIT S. XII: ASSOCIATED PRESS / Uncredited / picture alliance S. XIII: CERN S. XIV: CERN, CMS-Experiment S. XV: Roy Kaltschmidt, Lawrence Berkeley National Laboratory S. XVI: ESA & NASA/Solar Orbiter/EUI team; Data processing: E. Kraaikamp (ROB) S. XVII: oben: NASA, ESA and the Hubble Heritage Team (STScI/AURA)-ESA/ Hubble Collaboration S. XVII: Daumenkino: KR, nach Vorlagen von JP und PB

Ursprünge der Teilchenphysik S. 6: oben: Rolf Kickuth/Wikimedia Commons S. 6: unten: Wikipedia S. 7: CERN

1 Die Welt der Teilchen Kapiteleingangsseite S. I: Proton mit Quarks (oben links) und Wasserstoffatom (unten rechts): Joseline Heuer; Bohr-Atom: KR; Detektor in der Mitte (KATRIN): Marcus Breig, KIT; links unten (Daya-Bay): Roy

Längenskalen und Einheiten S. 8: Forschungszentrum Jülich Die Elementarteilchen S. 10: Forschungzentrum Jülich S. 11: CH

Detektoren im Alltag S. 20: PB, KR S. 21: PB Wie macht die Physik Fortschritte? S. 22: CH, KR S. 23: PB Experimentelle Forschung in der Teilchenphysik S. 25: CERN Hintergründe zur wissenschaftlichen Methode S. 27: PB Vorstellung und Realität S. 28: PB S. 29: PB, KR

2 Allgemeine Grundlagen Kapiteleingangsseite S. 31: Schneeflocke: Hayri Er/Getty images/iStock; Glühbirne: macrovector auf Freepik; Stabmagnete im Hintergrund: Joseline Heuer; Stern-GerlachExperiment: B. Bahr, J. Resag, K. Riebe, Faszinierende Physik, Springer-Verlag 2019; Rest: KR; Collage von KR Energie und Leistung S. 32: H. Blossey/blickwinkel/picture alliance S. 33: JP Spezielle Relativitätstheorie S. 34: HD, KR

Die vier Grundkräfte der Natur S. 12: Joseline Heuer

Kinematik S. 36: HD S. 37: HD, Ella Dreiner

Das Quarkmodell S. 14: CH, KR S. 15: CH, KR

Beschleunigung und Strahlung S. 39: Saurabh Nangia

Was ist eigentlich ein Elementarteilchen? S. 16: HD S. 17: HD Was ist Antimaterie? S. 18: HD S. 19: oben: HD S. 19: Mitte: KR

Grundkonzepte der Quantenmechanik S. 40: Joseline Heuer

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Zufall und Vorhersage S. 42: Joseline Heuer S. 43: CH, KR Spin S. 44: JP S. 45: aus: B. Bahr, J. Resag, K. Riebe, Faszinierende Physik, Springer-Verlag 2019; kleines Schwarz-Weiß-Bild: aus W. Gerlach, O. Stern 1922, Zeitschrift der Physik, doi:10.1007/BF01326983 Das Prinzip von Streuexperimenten S. 46: JP S. 47: JP Feynman-Diagramme S. 48: HD S. 49: HD Produktion, Zerstörung und Zerfall von Teilchen S. 50: Joseline Heuer S. 51: P. A. Zyla et al. (Particle Data Group), Prog. Theor. Exp. Phys., 2020, 083C01 (2020) and 2021 update Resonanzen S. 52: oben: CH, KR S. 52: unten: CH S. 53: Deborah Rönchen Über die Reichweite von Wechselwirkungen S. 55: CH Symmetrien S. 56: JP S. 57: links: Schneeflocke: Hayri Er/Getty images/iStock, Dom: Peter Schickert/ picture alliance, Synagoge: Dimitrios Karamitros/Getty Images/iStock, Moschee: RudyBalasko/Getty Images/iStock S. 57: rechts: JP Spontane Symmetriebrechung S. 58: Joseline Heuer S. 59: Andreas Wirzba, KR

3 Experimentelle Grundlagen Kapiteleingangsseite S. 61: links oben (AGATA): S. Akkoyun et al., NIMA 668(2012)26–58 und https:// www.agata.org/; links unten (SiliziumVertexdetektor): CERN; Mitte Hintergrund (Teilchenspuren): CERN; Mitte vorn: CH; Atom mit Elektronen: PB; Kurve rechts: JP; Collage von KR

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Wie funktioniert ein Beschleuniger? S. 62: JP S. 63: oben und unten links: JP S. 63: unten rechts: Forschungszentrum Jülich Wechselwirkung zwischen Teilchen und Materie S. 65: oben: CERN S. 65: unten: PB, KR

S. 79: links unten: JP S. 79: rechts unten: ASSOCIATED PRESS / Uncredited / picture alliance Statistik S. 80: PB S. 81: PB Messunsicherheiten S. 82: JP S. 83: JP

Halbleiterdetektoren S. 66: links: Product Image courtesy of Mirion Technologies, Inc. S. 66: rechts: Yury Suvorov INFN Naples S. 67: links: S. Akkoyun et al., NIMA 668(2012)26–58 und https://www.agata. org/ S. 67: rechts: CERN

Simulationen in der Experimentalphysik S. 85: oben links: PB S. 85: oben rechts: CERN S. 85: unten: aus J. Allison et al. 2016, Nuclear Instruments and Methods in Physics Research Section A, doi:10.1016/j. nima.2016.06.125

Gasbasierte Detektoren S. 68: PB S. 69: oben: PB S. 69: unten links und rechts: Physikalisches Insitut, Universität Bonn (links: nachbearbeitet und vereinfacht durch KR)

4 Theoretische Grundlagen

Szintillatoren und Photomultiplier S. 70: oben: CERN S. 70: unten: https://www.gammaspectacular.com.au S. 71: links: JJ S. 71: rechts oben: Hamamatsu Photonics K.K. S. 71: rechts unten: Kamioka Observatory, ICRR (Institute for Cosmic Ray Research), The University of Tokyo

Kapiteleingangsseite S. 87: Atommodelle: JP; Wasserwellen im Hintergrund: Michael Kortmann (Physikalisches Institut, Universität Bonn); Supercomputer: Forschungszentrum Jülich; Kurven: HD, Gluonen (oben): Feynman-Diagramme: HD, CH und KR; Collage von KR Anwendungen der speziellen Relativitätstheorie S. 88: HD S. 89: oben: HD S. 89: unten: KR, Hintergrundbild von Joshua Woroniecki auf Pixabay

Orts- und Impulsmessung S. 72: Mitte: PB S. 72: unten: CERN S. 73: links: IOP Publishing Ltd and Sissa Medialab, CC BY 4.0 S. 73: rechts: CERN

Fermionen und Bosonen S. 90: Joseline Heuer S. 91: JP

Energiemessung von Teilchen S. 74: PB S. 75: oben links: Saint-Gobain Crystals S. 75: oben rechts: CERN S. 75: unten: CERN

Eichsymmetrien S. 94: HD S. 95: HD

Signaturen von Teilchen S. 76: KR S. 77: CERN Čerenkov-Strahlung und Teilchenidentifikation S. 78: JP S. 79: links oben:CERN

Äußere und innere Symmetrien S. 92: Michael Kortmann S. 93: Michael Kortmann

Das Noether-Theorem S. 96: Chris Yarzab, Warner Bros Studios, flickr.com, CC BY 2.0 S. 97: Michael Kortmann S. 97: Ella Dreiner Feynman-Diagramme II S. 98: HD S. 99: HD

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Quantenfeldtheorie S. 100: HD S. 101: HD Schleifen S. 102: CH, KR S. 103: CH, KR Renormierung S. 104: CH S. 105: CH Präzise Berechnung des nicht vollständig Lösbaren S. 106: CH, KR S. 107: CH, KR Simulationen in der theoretischen Physik S. 108: Forschungszentrum Jülich

5 Detektoren und Beschleuniger Kapiteleingangsseite S. 111: Teilchenspuren oben links: CERN. ALICE-Experiment; Kugel oben rechts: DEAP Collaboration; unten links: CERN, CMS-Experiment; unten rechts: CERN; Mitte: JP; Collage von KR Der LHC-Beschleunigerkomplex am CERN S. 112: links: CERN S. 112: rechts: JP S. 113: oben: CERN, ALICE-Experiment S. 113: unten links: CERN S. 113: unten rechts: CERN, JP Strahlführung S. 114: JP S. 115: oben und unten links: JP S. 115: unten rechts: JP, Forschungszentrum Jülich Plasmabeschleunigung S. 117: oben: Anke Pretz S. 117: unten: Ferran Pousa, DESY/University of Hamburg, doi.org:10.1140/epjst/ e2020S. 117: 000127-8 Beschleuniger in der Medizin S. 118: JP S. 119: oben: JP S. 119: unten links: Siemens Healthineers S. 119: unten rechts: Scanderbeg Sauer Photography

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Röntgenstrahlung S. 120: JP S. 121: oben: Aufnahme von W. Röntgen S. 121: unten rechts: Eckhard Hofmann, Ruhr-Universität Bochum Synchrotronstrahlung S. 122: JP S. 123: links: mmac72/Getty Images/iStock S. 123: rechts: Reprinted with permission from Joris Dik, Koen Janssens, Geert Van Der Snickt, et al, Analytical Chemistry, American Chemical Society. Copyright 2008 American Chemical Society Typische Detektoren an Beschleunigern S. 124: CERN, CMS-Experiment S. 125: BGO-OD Große Detektoren tief im Berg S. 126: Borexino Collaboration S. 127: links: Reidar Hahn, Fermilab S. 127: rechts: KM3NeT Tieftemperaturdetektoren S. 128: SRON Netherlands Institute for Space Research S. 129: links: Yury Suvorov INFN Naples S. 129: rechts: JJ Flüssige Edelgase als Detektoren S. 130: XENON Collaboration/LNGSINFN S. 131: DEAP Collaboration Teilchenfallen S. 132: JP S. 133: links: JP S. 133: rechts: Jan Pavelka/Wikimedia Commons, CC BY 4.0 Positronen-Emissions-Tomographie S. 134: oben: Fabian Schmidt, Universitätsklinikum Tübingen S. 134: unten: Fabian Schmidt, Universitätsklinikum Tübingen & Jens Maus S. 135: Universitätsklinikum Tübingen Magnetresonanztomographie S. 136: oben: Dominik Blum, Universitätsklinikum Tübingen S. 136: unten: JJ S. 137: oben links: Universitätsklinikum Tübingen S. 137: unten rechts: Dominik Blum, Universitätsklinikum Tübingen

6 Grundlagen der Auswertung von Teilchenphysikmessungen Kapiteleingangsseite S. 139: Supercomputer: CERN; Teilchenspuren links: CERN, ATLAS-Experiment; Erde: CERN, WLCG; Kurve: PB, KR; Eventdisplay (rechts unten): CMS, CERN; Collage von KR Trigger und Datenverarbeitung S. 140: PB S. 141: PB Datenauswertung S. 142: CERN, ATLAS-Experiment S. 143: CERN, ATLAS-Experiment Identifikation der Teilchensorte über die Masse S. 144: oben: PB S. 144: unten: CERN, ATLAS-Experiment S. 145: oben: PB S. 145: unten: G. Aad et al. 2012, Physical Review D, doi:10.1103/PhysRevD.85.012001 Die Bestimmung von Messunsicherheiten S. 146: PB S. 147: PB Schlüsse ziehen aus Statistik S. 148: CERN S. 149: PB Veröffentlichen, was es nicht gibt S. 150: PB S. 151: PB Ein Beispiel für die Entdeckung eines Teilchens S. 152: CERN, ATLAS-Experiment S. 153: CERN, ATLAS-Experiment Was sind „Blinde Analysen“? S. 155: PB Wie korrigiert man falsche Entdeckungen? S. 156: B. McKinnon et al. (CLAS Collaboration) 2006, Physical Review Letters, doi:10.1103/PhysRevLett.96.212001 S. 157: CERN, ATLAS-Experiment

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Neuronale Netzwerke und maschinelles Lernen S. 158: PB, FB S. 159: PB, FB Die Erfindung des World Wide Web S. 160: CERN S. 161: oben: Image provided by arXiv and used with permission S. 161: unten: CERN, WLCG

7 Das Standardmodell der Elementarteilchenphysik Kapiteleingangsseite S. 163: Blitze: HD und Michael Kortmann; Hintergrund links oben: HD, KR; Hintergrund rechts oben (Supernova-Überrest): X-ray: NASA/CXC/Caltech/S. Kulkarni et al.; Optical: NASA/STScI/ UIUC/Y.H.Chu & R.Williams et al.; IR: NASA/JPL-Caltech/R.Gehrz et al.; links unten (Potential): Martin Schürmann; Teilchenübersicht: KR, nach einer Grafik von DESY; Collage von KR Elektromagnetismus S. 164: HD und Michael Kortmann S. 165: HD Die schwache Wechselwirkung S. 166: HD S. 167: HD Up, Down, Rechts und Links S. 168: HD S. 169: Ella Dreiner Die unsichtbare Breite des Z-Bosons S. 170: unten: HD S. 170: oben und nächste Seite rechts unten: The ALEPH Collaboration, the DELPHI Collaboration, the L3 Collaboration, the OPAL Collaboration, the SLD Collaboration, the LEP Electroweak Working Group, the SLD electroweak, heavy flavour groups 2005, Physics Reports, doi:10.48550/arXiv.hep-ex/0509008; angepasst von KR; Spontane Symmetriebrechung im Standardmodell S. 172: Martin Schürmann S. 173: HD, KR

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Spontane Symmetriebrechung II S. 174: HD S. 175: HD Spontane Symmetriebrechung III S. 176: HD S. 177: HD Diskrete Symmetrien: P- und CP-Verletzung S. 178: links: HD S. 178: rechts: HD und Ella Dreiner S. 179: HD Der Pion-Zerfall S. 180: PB S. 181: PB, FB Der Weg zu sechs Quarks in drei Familien S. 182: PB, FB S. 183: PB, FB Neutrinos S. 184: Peter Grabmayr S. 185: oben: FB S. 185: unten: Kamioka Observatory, ICRR (Institute for Cosmic Ray Research), The University of Tokyo Neutrinooszillationen S. 186: KR S. 187: Anke Pretz

8 Die Besonderheiten der starken Wechselwirkung Kapiteleingangsseite S. 189: Gitter im Hintergrund: CH; Atomkern links: KR; Atomkern rechts; Joseline Heuer; großes Proton mit Quarks und Gluonen: JP; Diagramm rechts unten: Gunnar Bali; Tetraquark: Sören Lange, KR; Collage von KR Quantenchromodynamik S. 190: aus B. Bahr, J. Resag, K. Riebe: Faszinierende Physik, Springer Verlag 2019 S. 191: CH Confinement S. 192: CH S. 193: Gunnar Bali Die Suche nach freien Quarks S. 194: Mc Cusker et al. 1969, Physical Review Letters, doi:10.1103/PhysRevLett.23.658, American Physical Society S. 195: JP

Die laufende Kopplung S. 196: CH, KR S. 197: P. A. Zyla et al. (Particle Data Group), Prog. Theor. Exp. Phys., 2020, 083C01 (2020) and 2021 update, ergänzt durch CH Die Struktur des Protons S. 198: JP S. 199: JP Quarkverteilungen im Proton S. 200: JP S. 201: links: JP S. 201: rechts: Deutsches Elektronen Synchrotron DESY, Hamburg Kann man Quarks und Gluonen sehen? S. 202: CH S. 203: oben: JADE Experiment, DESY S. 203: unten: KR Woher kommt unsere Masse? S. 204: Joseline Heuer Gitter-QCD S. 206: CH S. 207: Christian Hoelbling, Daten siehe S. Durr et al. 2008, Science, doi:10.1126/ science.1163233 Der Quarkmasseneffekt S. 208: CH, KR S. 209: CH, KR Von Nukleonen zu Kernen S. 210: CH S. 211: CH Die Karlsruher Nuklidkarte S. 212: Doppelseite: Z. Sóti, J. Magill, R. Dreher 2019, EPJ Nuclear Sci. Technol.,, doi:10.1051/epjn/2019004 Exotische Zustände S. 214: Sören Lange, KR S. 215: R. Aaij et al. (LHCb Collaboration) 2019, Physical Review Letters, doi:10.1103/PhysRevLett.122.222001 Die 14C-Altersbestimmung S. 216: Anke Pretz S. 217: links: JP S. 217: rechts: LUHUANFENG / Getty Images / iStock

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9 Der Triumph des Standardmodells und darüber hinaus Kapiteleingangsseite S. 219: Plot und Event Display links: CERN, ATLAS-Experiment; Blasenkammer (unten): CERN; Kegel in der Mitte: PB, Teilchenpfade darunter: CERN; Collage von KR Die Entdeckung der neutralen Ströme S. 220: PB S. 221: CERN Die zufällige Entdeckung des J/ψ S. 223: oben: PB S. 223: links: J. J. Aubert et al. 1974, Physical Review Letters, doi:10.1103/PhysRevLett.33.1404 S. 223: rechts: J.-E. Augustin et al. 1974, Physical Review Letters, doi:10.1103/ PhysRevLett.33.1406 Die Entdeckung von W- und Z-Boson S. 224: PB S. 225: CERN Entdeckung und Besonderheit des topQuarks S. 226: PB S. 227: oben: T. Aaltonen et al. 2012 (CDF Collaboration), Physical Review Letters, doi: 10.1103/PhysRevLett.109.152003 S. 227: rechts: CERN Warum ausgerechnet das Standardmodell? S. 228: KR, nach: G. Giacomelli & R. Giacomelli 2005, doi:10.1142/ 9789812701893_0016 S. 229: oben: PB S. 229: unten rechts: KR, nach ALEPH Collaboration et al. 2005, Physics Report, doi:10.1016/j.physrep.2005.12.006 Die Entdeckung des Higgs-Bosons S. 231: links und rechts oben: PB S. 231: links unten: ATLAS Collaboration 2012, Phys. Lett. B, doi:10.48550/arXiv.1207.7214 S. 231: rechts unten: CMS Collaboration 2013, JHEP, doi:10.48550/arXiv.1303.4571 Ist es wirklich das Higgs-Boson? S. 232: CERN, ATLAS-Experiment S. 233: oben: PB S. 233: unten: CERN, CMS-Experiment

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Präzisionsexperimente S. 234: oben: Jacob Bourjaily/Wikimedia Commons S. 234: unten: JP S. 235: JP Das Myon S. 236: Reider Hahn, Fermilab S. 237: oben: JP S. 237: unten links: Physik-Journal Juni 2021 S. 237: unten rechts:JP Überprüfung von Neutrinooszillationen S. 238: RCNS (Research Center for Neutrino Science), Tohoku University; Übersetzung: JJ S. 239: oben: CERN, adaptiert von JJ, KR S. 239: unten: Tom Caroll, angepasst von KR Messung der Neutrinomasse S. 240: oben: KR S. 240: unten: JJ, KR, nach einer Vorlage der KATRIN-Kollaboration S. 241: oben: JJ, Karte: NASA, Visible Earth, Blue Marble Collection S. 241: unten: Markus Breig/KIT Die Verletzung der CP-Symmetrie in B-Mesonen S. 242: PB, FB S. 243: oben: Y. Chao et al. (Belle Collaboration) 2004, Phys. Rev. Lett., doi:10.48550/arXiv.hep-ex/0408100 S. 243: unten: PB, FB

10 Die Grenzen des Standardmodells Kapiteleingangsseite S. 253: links: KR; Luftballon: HD und Michael Kortmann; Mitte unten: Joseline Heuer; Mitte rechts: KR; Supernova (rechts unten): ESO, M. Kornmesser; Collage von KR Warum wir weitersuchen S. 255: HD Neutrinomassen S. 256: HD S. 257: Ella Dreiner GUT S. 258: Stephen Martin S. 259: HD Supersymmetrie S. 261: HD Extra-Dimensionen S. 262: Joseline Heuer S. 263: Eric Adelberger Stringtheorie S. 264: KR S. 265: Ella Dreiner Urknall S. 266: KR, nach einer Vorlage vom CERN; Spiralgalaxie: NASA, ESA, and D. Jones (University of California – Santa Cruz)

Seltene Zerfälle von B-Mesonen S. 244: PB S. 245: oben: CERN, LHCb Experiment S. 245: unten: PB

Dunkle Materie S. 268: JJ, Galaxie: NASA, ESA and B. W. Holwerda S. 269: KR nach NASA/WMAP Science Team

Gestaltwandler unter sich S. 246: FB S. 247: oben: DESY, ARGUS-Experiment S. 247: unten: CERN, LHCb-Experiment

Dark Sector: Dunkle Energie S. 270: HD und Michael Kortmann S. 271: links unten: KR; rechts oben: ESO, M. Kornmesser

Die Vermessung des CKM-Dreiecks S. 248: FB S. 249: links: Belle Collaboration, KEK S. 249: rechts: CKMFitter Group Die Hürden des Erfolgs S. 250: oben: CERN, ATLAS-Experiment S. 250: unten: CERN, CMS-Experiment S. 251: CERN, ATLAS-Experiment

Das starke CP-Problem S. 272: Andreas Wirzba, KR S. 273: Anke Pretz

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Ist das Leben auf der Erde ein Zufall? S. 274: Dean Lee, KR, Landschaftsbilder von MenielDM, ThankYouFantasyPictures und JCK.H auf Pixabay S. 275: ESA/Hubble & NASA, V. Antoniou; Acknowledgement: Judy Schmidt

Teilchenphysik im Weltall S. 292: NASA S. 293: links: S. Schael/Wikimedia Commons S. 293: rechts: M. Aguilar et al. (AMS Collaboration) 2019, Phys. Rev. Lett., doi:10.1103/PhysRevLett.122.041102

11 Die Suche nach Physik jenseits des Standardmodells

Die Suche nach elektrischen Dipolmomenten S. 294: nEDM collaboration at PSI, picture: M. Fischer/PSI S. 295: JP

Kapiteleingangsseite S. 277: Krebsnebel (inks oben): NASA, ESA, NRAO/AUI/NSF and G. Dubner (University of Buenos Aires) Berge links unten: Laboratori Nazionali del Gran Sasso; Mitte: nEDM collaboration at PSI, picture: M. Fischer/PSI; Teilchenstrom: ATLAS-Kollaboration, CERN; Beschleuniger unten rechts: DESY, Heiner Müller-Elsner; Collage von KR Ist das Neutrino sein eigenes Antiteilchen? S. 278: GERDA Collaboration S. 279: links: CUORE Collaboration, Yury Suvorov INFN Naples S. 279: rechts: Kai Freund Neue Teilchen am LHC S. 280: CERN, ATLAS-Experiment S. 281: CERN, ATLAS-Experiment Das unspezifische Unbekannte am LHC S. 282: CERN, CMS-Experiment S. 283: CERN, CMS-Experiment

Die Suche nach Axionen S. 296: Ciaran O'Hare, doi:10.5281/zenodo.3932430, https://cajohare.github.io/ AxionLimits S. 297: oben: FB, KR S. 297: unten links: DESY, Heiner MüllerElsner S. 297: unten rechts: CERN

Kosmischer Mikrowellenhintergrund S. 310: Nokia Corporation and AT&T Archives S. 311: ESA and the Planck Collaboration Das Größte und das Kleinste S. 312: S.Agarwal, H.A.Feldman 2011, Monthly Notices of the Royal Astronomical Society, doi:10.1111/j.13652966.2010.17546.x S. 313: rechts: Sloan Digital Sky Survey Kosmische Strahlung S. 314: H. Blümer, Auger Collaboration S. 315: oben: NASA/CXC/MIT/UMass Amherst/M.D. Stage et al. S. 315: unten: NASA

Supernovae als Teilchenphysiklabore S. 300: Joseline Heuer S. 301: links: ESA/Hubble, NASA S. 301: rechts: Hanhart et al. 2001, Phys.Lett.B, doi:10.1016/S03702693(01)00544-5

Ultrahochenergetische kosmische Strahlung S. 316: Auger Collaboration S. 317: Auger Collaboration

12 Die Verbindung des Größten mit dem Kleinsten

Das Rätsel der Dunklen Materie S. 286: Laboratori Nazionali del Gran Sasso S. 287: links: Corrieri-De Perio/LNGSINFN S. 287: rechts: Dark Side collaboration, Yury Suvorov INFN Naples

Kapiteleingangsseite S. 303: Antennen-Galaxie (links oben): NASA, ESA and the Hubble Heritage Team (STScI/AURA)-ESA/Hubble Collaboration; Spiralgalaxie: ESA/ Hubble & NASA, V. Antoniou; Acknowledgement: Judy Schmidt; Sonne: ESA & NASA/Solar Orbiter/EUI team; Data processing: E. Kraaikamp (ROB) ; Teleskop: H.E.S.S. Kollaboration, Christian Föhr; rechts unten: US Department of Energy; Kosmische Strahlung und Kernfusion (Mitte): KR; Collage von KR

Materie und Antimaterie S. 290: JP S. 291: oben: A. Pretz S. 291: unten: JP

Elemententstehung in Sternen S. 308: Joseline Heuer S. 309: oben: NASA/CXC/M.Weiss S. 309: unten: Joseline Heuer

Protonenzerfall S. 298: HD S. 299: Kamioka Observatory, ICRR(Institute for Cosmic Ray Research), The University of Tokyo

Zusätzliche Raumdimensionen am LHC S. 284: PB S. 285: CERN, ATLAS-Experiment

Direkte Suche nach der Dunklen Materie S. 288: oben: DAMA/LIBRA Collaboration S. 288: unten: CRESST Kollaboration S. 289: oben: CRESST Kollaboration S. 289: unten: Luigi Di Carlo, XENON Collaboration

Nukleosynthese im Urknall S. 306: FB, KR S. 307: links: JJ S. 307: rechts: NASA, ESA and the Hubble Heritage Team (STScI/AURA)-ESA/ Hubble Collaboration

Baryogenese S. 304: Ella Dreiner

Multimessenger-Astronomie S. 318: EGO/Virgo/Nicola Baldocchi S. 319: H.E.S.S. Kollaboration, Christian Föhr Neutrinos von der Sonne S. 320: rechts oben: ESA & NASA/Solar Orbiter/EUI team; Data processing: E. Kraaikamp (ROB) S. 320: links unten: US Department of Energy S. 321: oben links: Joseline Heuer S. 321: rechts: Lawrence Berkeley Lab, SNO Collaboration S. 321: unten links: RCNS (Research Center for Neutrino Science), Tohoku University Die Entwicklung des Universums S. 322: NASA/WMAP Science Team S. 323: JJ

Bildnachweis

Anhang S. 324: oben: CERN, WLCG S. 324: Mitte: CERN, CMS-Experiment S. 324: unten: ESA/Hubble & NASA, V. Antoniou; Acknowledgement: Judy Schmidt Lohnt sich das alles? S. 325: Joseline Heuer S. 326: NASA, ESA, CSA, and STScI Die Eigenschaften der Elementarteilchen S. 328: Daten aus: https://pdg.lbl. gov/2023/html/authors_2023.html S. 328: Bild: KR Das Autorenteam S. 360: Philip Bechtle: Philipp König S. 360: Florian Bernlochner: FB S. 360: Herbi Dreiner: Beatrice Mack - fotobox.org S. 360: Christoph Hanhart: Bastian Kubis S. 361: Josef Jochum: C. Strandhagen, Uni Tübingen S. 361: Jörg Pretz: JP S. 361: Kristin Riebe: AIP

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Index

Index Symbole 𝛼-Teilchen 16–17, 28–29, 46–47, 88, 211, 212, 308–309 𝛼-Zerfall 211 𝛽-Spektrum 241 𝛽-Zerfall 50, 135, 166, 184, 208, 211, 212, 241 doppelter Siehe doppelter 𝛽-Zerfall 𝛾-Zerfall 211 𝜋-Meson Siehe Pion A Abschirmungseffekt 54 absoluter Nullpunkt 128 Absorptionslinie (Spektrum) 271 ADMX-Experiment 296 ALEPH-Experiment 170, 228 ALICE-Experiment 113 allgemeine Relativitätstheorie 322 ALP Siehe Axion Like Particle ALPHA-Experiment 19 Alpha Magnetic Spectrometer (AMS) 292–293, 315 ALPS-Experiment 297 Altersbestimmung mit C-14 216 Amplitude Feynman-Diagramm 49, 103, 105 Welle 94, 182 AMS-Detektor Siehe Alpha Magnetic Spectrometer (AMS) Analyse Siehe Datenauswertung Annihilation Siehe Vernichtung anomales magnetisches Moment Elektron 234 Myon 236–237 anthropische Prinzip 274 Antiatomspektren 19 Anti-Farbladung 193

Antimaterie Asymmetrie zu Materie 185, 290–291, 304–305, 307 Siehe auch Baryogenese Außerirdische 57, 304 CP-Verletzung Siehe CP-Verletzung Definition 18–19 im Sonnensystem 304 Medizin 134 Neutrino 278 Siehe auch Antineutrino Antineutrino 19, 184–185, 278 Antineutron 18 Antiproton 19 Antiteilchen 10, 18 Siehe auch Antimaterie Feynman-Diagramm 48 Antiwasserstoff 19 ARGUS- Experiment 246 arXiv 161 Asse 14 Astrophysik 127–129, 268–269, 310 asymptotische Freiheit 107, 197 ATLAS-Experiment 7, 25, 67, 72–73, 142–143, 145, 157, 230–231, 281, 285 Atomkern 208, 210–213, 267 Entdeckung 6 Atomspektrum 18, 270–271 Magnetfeld (Spin) 45 Auge 20 Auger Siehe Pierre-Auger-Observatorium Ausschluss (einer Teilchenentdeckung) 148, 150–153

B Baryogenese 255, 298, 304–305 Sacharow-Bedingungen 305 Baryon 14–15 Baryonenasymmetrie 304–305 Baryonenzahl 298, 304–305 Baryon-Photon-Verhältnis 307 Batterie 33 Belle-Experiment 242–243 Berners-Lee, Tim 160 Beschleuniger 7, 62, 111–146 Beschleunigung 38 Betazerfall Siehe 𝛽-Zerfall Beweise in der Naturwissenschaft 27 Bezugssystem 34–35, 38, 168–169 BGO-OD-Experiment 125 Bindungsenergie 41, 43, 204, 210–211, 306, 308–309 Binomialverteilung 83 Blasenkammer 131, 220–221 blinde Analyse 154–155 B-Meson 242–249 CP-Verletzung 242–243 Oszillation 246–247 seltene Zerfälle 244–245 Borexino-Experiment 70, 126, 321 Boson 45, 90–91 Siehe auch Eichboson Brechungsindex 78 Breite einer Resonanz 53, 170–171

äußere Symmetrie 92–93, 260–261 Austauschteilchen Siehe Wechselwirkung Siehe auch Boson Axion 269, 273, 301 Suche 296–297 Axion Like Particle (ALP) 297

CDF-Experiment 227 ˇ C erenkov-Strahlung 78, 126, 299 CERN 24, 112–113 Chandrasekhar-Grenze 300 Chiralität 168–169, 180 CKM-Dreieck 248–249 CKM-Matrix 183, 243, 248–249

C CAST-Experiment 297

Index

CKM-Phase 243 CMB Siehe kosmischer Mikrowellenhintergrund CMS-Experiment 71, 77, 124–125, 142, 157, 230–231, 282 COBE-Satellit 310 Collider-Experiment 124–125 Compton-Streuung 49 Computersimulation Siehe Simulation Confinement 55, 190, 192–193, 202, 205, 209 Cosmic Microwave Background Siehe kosmischer Mikrowellenhintergrund Coulomb-Gesetz 41, 192, 209 CP-Symmetrie 7, 233, 242, 296 CPT-Symmetrie 179, 249 CPT-Theorem 19, 57 CPT-Verletzung 179 CP-Verletzung 178–179, 233, 246, 248–249, 291, 294, 296, 305 B-Mesonen 242–243 direkte 243 K-Meson-Mischung 179 CUORE-Experiment 128, 279 D DAMA/LIBRA-Experiment 288 Data Acquisition 140 Datenanalyse Siehe Datenauswertung Datenauswertung 142–143 Datenverarbeitung 140–141 Davis-Experiment 320 Deep Learning 142, 159 DELPHI-Experiment 170, 228 DESY 202–203, 246 Detektor 2–3, 76–77, 111–146 flüssige Edelgase 130–131 gasbasiert 68 im Alltag 20–21 Szintillatoren 70–71 Deuteriumkern Siehe Deuteron Deuteron 210, 300, 306, 308

353

Diracgleichung 18, 236 Dirac, Paul 18 Doppelspaltexperiment 42 doppelter 𝛽-Zerfall 19, 128, 278–279 nEXO-Experiment 131 Wipp-Mechanismus 257 Drehimpuls 36–37, 44–45, 168 Parität 178 Driftkammer 65 DUNE-Experiment 127, 131, 299 Dunkle Energie 255, 270–271, 274, 311, 323 Dunkle Materie 7, 128, 254, 268–269, 273, 286–289, 296, 311 Dynode 71 E E = mc2 35, 50, 144, 208 effektive Feldtheorie 107, 220 Eichboson 95, 163, 174–175, 177, 196, 259, 264 Eichkraft 92 Eichsymmetrie 92, 94–95, 172, 174, 259 Eichtransformation 95, 259 Einheit 8–9, 33 Ein-Schleifen-Diagramm Siehe FeynmanDiagramm, Ein-Schleifen-Prozess elektrisches Dipolmoment 294–295 elektrisches Feld 38, 62, 69 elektromagnetische Welle 38 Elektromagnetismus 8, 12, 64, 164–165 Parität 178 Elektron 10, 16 Entdeckung 6 Interferenz, Doppelspalt 42–43 Elektronenvolt 9, 32 Elektron-Positron-Paarerzeugung Siehe Paarerzeugung elektroschwacher Mischungswinkel 175 elektroschwache Theorie 101, 172–175 Elementarteilchen 10–11, 16–17, 163

Elemententstehung im Urknall 306–307 in Sternen 308–309 ELSA-Beschleuniger 125 Energie 18, 32–33, 36, 144 Energiemessung 74–75 Energieniveau 43, 64, 90–91, 132–133 Entdeckung falsche 156 von Teilchen 148–149, 152–153 Ereignisrate 49 Erhaltungsgröße 7, 37, 96 Erkenntnisgewinn 23 EXO-Experiment 279 exotische Hadronen 214–215 Expansion Siehe Universum, Ausdehnung explizite Symmetriebrechung 59, 273 Extra-Dimension 262–263 am LHC 284–285 F Familie Quarks 182–183 von Elementarteilchen 10, 166, 169 Farbladung 190–192 Feinstruktur der Atomspektren 18 Feinstrukturkonstante 41, 209, 234 Feldlinie 192 Feldteilchen Siehe Wechselwirkung, Austauschteilchen Feldtheorie 100 Femtometer Siehe Fermi Fermi 9 Fermion 45, 90–91, 168 im Feynman-Diagramm 48 Fermionmasse Ursprung 176, 254

354

Fermi-Theorie 220 Feynman-Diagramm 48–49, 98–99 Ein-Schleifen-Prozess 99, 165 Elektron-Proton-Streuung 165 Propagator 48, 98 Quantenelektrodynamik 98 Schleifen 102–103 spontane Symmetriebrechung 175–178 Vertex 48, 98 Wechselwirkung 48 Fixed-Target-Experiment 124–125 Flavour 166, 168, 186 Flussröhre 193–194, 202 Fusion Siehe Kernfusion G GALLEX-Experiment 321 Galton-Brett 80–81 Gammaastronomie 318 Gammastrahlung 67, 298, 304, 318–319 Gargamelle-Experiment 220–221 Gauß’sche Normalverteilung Siehe Gaußverteilung Gaußverteilung 80–83 Geiger-Müller-Zahlrohr Siehe Zählrohr geladener Strom 166–167, 220–221, 224 GIM-Mechanismus 182–183, 222–223 Gitter-QCD 206–207 GKZ-Cut-Off 317 Glueball 193, 214 Gluon 54–55, 95, 101, 190, 192–193, 196–197, 199–201 im Feynman-Diagramm 48–49 Siehe auch starke Wechselwirkung Gran-Sasso-Untergrundlabor 239, 279, 287 Gravitation 8, 12, 322 Extra-Dimension 262, 284 Quantentheorie 264 schwach 262, 284 Gravitationswelle 318–319 Graviton 54, 255, 264, 284–285

Index

große vereinheitlichte Theorie (GUT) 258–259 vereinheitlichte Eichsymmetrie 259 Siehe auch Vereinheitlichung von Kräften Grundkräfte 12 H hadronische Moleküle 215 Hadronisierung 202–203 Hadroquarkonia 215 Halbleiter 66, 129 Halbleiterdetektor 66 Halbswertszeit 213 Heisenberg'sche Unschärferelation Siehe Unschärferelation Heisenberg, Werner 41 Helium 46, 88, 167, 211, 306–308, 320–321 Siehe auch 𝛼-Teilchen Helizität 168–169, 178 Parität 178 Spin 178 HERA-Beschleuniger 199, 201 Hierarchieproblem 255, 261 Higgs-Boson 172–177, 228–233 Entdeckung 152, 230–231 Kopplungen 176–177 Symmetriebrechung 172–173 Vakuumerwartungswert 173–175 Vorhersage 228–229 Zerfall 165, 177 Higgs-Mechanismus Atomradius 177 Bosonmassen 174–175 Fermionmassen 176–177 Neutrinomassen 256–257 Higgs-Potential 172 Hoyle-Zustand 309 Hyper-Kamiokande-Experiment 127, 299 Hyperladung 172–175 Hypothesentest 148–149

I IAXO-Experiment 297 IceCube-Experiment 2, 79, 127, 318 Impuls 36, 168, 200 Parität 178 relativistisch 144 Impulsmessung 72–73 Inertialsystem Siehe Bezugssystem Inflation 266 Interferenz 42, 182–183 Internationale Raumstation (ISS) 292, 315 Internet 160 Ionisation 65–66, 68 Isotop 210, 216–217, 278–279 ISS Siehe Internationale Raumstation (ISS) J Jets 143, 197, 202–203, 227, 280–281 Siehe auch Monojet JUNO-Detektor 70, 127, 299 J/𝜓-Teilchen 215, 222–223, 248 K Kalorimeter 74–75, 76–77 KamLAND-Detektor 238, 279 Kaon 78, 182, 299 Oszillation, CP-Verletzung 179 Karlsruher Nuklidkarte 212–213 KASCADE-Experiment 315 Kathodenstrahlröhre 6, 120 KATRIN-Experiment 2, 240–241 Kernfusion 167, 211, 300, 306–307, 308–309, 320–321 Kernspaltung 7, 211 Kernstruktur 7, 210 Kernzerfall 211 Siehe auch 𝛼-Zerfall; Siehe auch 𝛽-Zerfall; Siehe auch 𝛾-Zerfall Kinematik 36–37 KM3Net-Experiment 127 K-Meson Siehe Kaon

Index

Kombinatorik 81 kompaktifizierte Dimension 263, 265 Konfidenz 149 Siehe auch Signifikanz kosmischer Mikrowellenhintergrund 267, 269, 310–311, 312 kosmische Strahlung 131, 166, 216, 287, 290, 292–293, 314–315, 318 extragalaktische 315 spezielle Relativitätstheorie 88 ultrahochenergetische 316–317 kosmologische Konstante 271 Kraft Siehe Wechselwirkungen Kreisbeschleuniger Siehe Ringbeschleuniger L L3-Experiment 170, 228 Ladungserhaltung 19, 97 Ladungskonjugation 56–57, 96, 178–179, 242, 272 Ladungsquantisierung 254 Ladungsrenormierung 104–105, 196 Ladungssymmetrie Siehe Ladungskonjugation Ladungstransformation Siehe Ladungskonjugation Längenkontraktion 35, 89 Längenskala 8–9, 265 Large Electron-Positron Collider (LEP) 122, 170, 228 Large Hadron Collider (LHC) 24–25, 38, 88, 112–113, 122, 165, 230, 280–285 laufende Kopplung 105, 196–197, 258 LEGEND-Experiment 66, 278–279 Leistung 32–33, 117 LEP Siehe Large Electron-Positron Collider (LEP) Lepton 168–169 Elektron Siehe Elektron Myon Siehe Myon Neutrino Siehe Neutrino

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Leptonenzahl 101 Leptoquark 245, 259, 298 LHC Siehe Large Hadron Collider (LHC); Siehe auch LHC-Experimente LHCb-Experiment 215, 245–247 LHC-Experimente ALICE Siehe ALICE-Experiment ATLAS Siehe ATLAS-Experiment CMS Siehe CMS-Experiment LHCb Siehe LHCb-Experiment Lichtgeschwindigkeit 18, 34–36, 39, 55, 78, 88, 168, 318 atmosphärische Myonen 89 konstant 34 Lichtteilchen Siehe Photon Linearbeschleuniger 62–63, 112–113 linkshändiges Teilchen 168–169, 173, 179–181, 184–185 Siehe auch Neutrino, linkshändig LNGS Siehe Gran-Sasso-Untergrundlabor Look-elsewhere-Effekt 155 Loops Siehe Schleifendiagramm M MACHO 269 magische Zahlen 211 Magnetfeld 44–45, 63, 72, 114–115, 136–137, 164–165, 295–297, 314–316 Siehe auch magnetisches Moment magnetisches Moment 236 Elektron 133 Siehe auch anomales magnetisches Moment; Siehe auch Spin Magnetresonanztomographie 136–137 Majorana-Neutrino 19, 257 maschinelles Lernen 142, 158–159 Masse Antimaterie 18 Elementarteilchen 11 Hadronen 207

Herkunft 204 Quarks 14, 205 und Energie 9, 35 Siehe auch E = mc2 Siehe auch Higgs-Mechanismus Massenbestimmung 144–145 Materie-Antimaterie-Annihilation Siehe Vernichtung medizinische Anwendung Beschleuniger 118 Magnetresonanztomographie 136–137 Positronen-Emissions-Tomographie 134–135 Röntgenstrahlung 120–121 Meson 14–15, 222 Messfehler Siehe Messunsicherheit Messunsicherheit 80, 82–83, 146–147, 156 MINOS-Experiment 239 Modell 26–27 Monojet 284–285 MRT Siehe Magnetresonanztomographie Multimessenger-Astronomie 318–319 Multiplett 14–15 Multiversen 275 Myon 236–237 Entdeckung 7 kosmische Strahlung 88, 287 Zerfall 166 N Nadel im Heuhaufen 140–141 Nebelkammer 194 neue Physik modellabhängig 280 modellunabhängig 282 neuronales Netzwerk 158–159

356

Index

neutraler Strom 167, 220–221, 224–225 Neutralino 280–281, 301 Neutrino 10–11, 126–127, 184–187,

Neutron 10, 17, 184–185, 208–209 Antimaterie 18 Entdeckung 6

312–313 Antineutrino 19, 278–279 Flavour 171, 186 linkshändig 184, 256 Majorana Siehe Majorana-Neutrino Masse Siehe Neutrinomasse Paulis Vorhersage 184 rechtshändig 169, 184, 256 schwache Wechselwirkung 167 Sonne 126, 320–321 Supernova 301 Neutrinodetektor 126–127 Neutrinodichte im Universum 307 Neutrinoexperimente Siehe Borexino-Experiment; Siehe CUORE-Experiment; Siehe Davis-Experiment; Siehe DUNE-Experiment; Siehe EXO-Experiment; Siehe GALLEX-Experiment; Siehe Hyper-Kamiokande; Siehe IceCube-Experiment; Siehe JUNO-Detektor; Siehe KamLAND-Detektor; Siehe KATRIN-Experiment; Siehe KM3Net-Experiment; Siehe LEGEND-Experiment; Siehe MINOS-Experiment; Siehe OPERA-Experiment; Siehe SAGE-Experiment; Siehe SNO-Experiment; Siehe Super-Kamiokande Neutrinomasse 240–241, 254, 256–257, 312–313 Neutrinooszillation 126, 167, 186–187, 238–240, 321 Neutrinostrahl 221

Spin 165 Zerfall 10, 50, 88–89 Neutronenstern 263, 300–301, 309, 319 nEXO-Experiment 131 Nobelpreis 7, 15, 78, 120, 132, 187, 225, 236, 249, 271, 273, 310, 321 Noether, Emmy 7, 96

P Paarerzeugung 19, 99, 101 Paarvernichtung Siehe Vernichtung PAMELA-Satellit 315 Parität 56–57, 96, 178

Pauli, Wolfgang 184 Peccei-Quinn-Mechanismus 272, 296 Penningfalle 132 Pentaquarks 156, 215 PET Siehe Positronen-Emissions-Tomographie Phase 93–94, 97, 183, 259 Phasentransformation 94–95 Photomultiplier 70–71, 74, 126–127, 130–131 Photon 11, 71, 100, 164–165 Antimaterie 19 im Feynman-Diagramm 48 Pierre-Auger-Observatorium 315, 317–318 Pion kosmische Strahlung 88 Reichweite starke WW 55 Zerfall Siehe Pion-Zerfall Pion-Zerfall 166, 180–181 CP-Erhaltung/Verletzung 179 Helizität, Parität 178 Placebo-Effekt 154 Planck-Masse 265, 285 Planck, Max 40 Planck-Satellit 310–311 Planck'sche Konstante Siehe Planck’sches Wirkungsquantum Planck’sches Wirkungsquantum 41, 100 Planck-Skala 265, 285 Plasma 117, 172, 255 Plasmabeschleunigung 116–117 Poissonverteilung 81, 194–195 Positron 10, 18, 101, 134 Entdeckung 18 Fluss 293

Siehe auch Paritätsverletzung Paritätsverletzung 7, 56–57, 178–179, 180–181, 272–273 Siehe auch CPT-Verletzung; Siehe auch CP-Verletzung Paulfalle 132–133 Pauli-Prinzip 66, 90–91, 300

kosmische Strahlung 293 Positronen-Emissions-Tomographie 134–135 Potenzreihe 106 Präzession 136–137, 295 Präzision 147, 228 Präzisionsexperiment 228, 234–235

Noether-Theorem 96–97 Nukleon 210–211 Siehe auch Neutron; Siehe auch Proton Nukleosynthese 306–307 Nullresultat 150 Siehe auch Ausschluss (einer Teilchenentdeckung) numerische Simulation Siehe Simulation O OPAL-Experiment 228 OPERA-Experiment 239 Ortsmessung 72 Oszillation B-Mesonen Siehe B-Meson, Oszillation K-Mesonen 179 neutrale Mesonen 246 Neutrinos Siehe Neutrinooszillation

Index

Preprint 161 Produktion von Teilchen 50 Propagator Siehe Feynman-Diagramm, Propagator Proton 12–13, 18, 184–185, 208–209 Beschleunigung 88 Entdeckung 6 Lebensdauer 299 Quarkverteilungen 200–201 Struktur 198–199 Protonenzerfall 126, 259, 298–299 PS210-Experiment 19 Pumpspeicherkraftwerk 32 Punktspiegelung Siehe Parität Punktteilchen 10, 16–17, 100, 264 Q QCD Siehe Quantenchromodynamik QED Siehe Quantenelektrodynamik QFT Siehe Quantenfeldtheorie Quadrupolmagnet 115 Quanten 6, 40, 100–101 Quantenchromodynamik 95, 101, 190–191, 199 Gitter-QCD 206–207 Vertexfunktion 196 Quantenelektrodynamik 93–95, 98, 100–101, 164–165, 234 Quantenfeldtheorie 40, 100–101 Erzeugung/Vernichtung von Teilchen 100 relativistisch 19 Symmetrien 92 Wechselwirkungen 93 Quantenmechanik 18, 24, 40–43, 94 relativistisch 19 Quantisierung eines Feldes 100 Quarkmasseneffekt 208–209 Quarkmodell 14–15, 198 Quarks 4, 10–11, 14–15 3 Farben 191–192 Entdeckung 17

357

freie 194–195 Masse 205, 208–209 Mischung 179 sechs 182 sehen 202–203 Substruktur des Protons 200–201 Quarkverteilung im Proton 200–201 R Radioaktivität 6–7, 118, 211, 216, 279, 287–289, 298, 314 Siehe auch 𝛼-Zerfall; Siehe auch 𝛽-Zerfall; Siehe auch 𝛾-Zerfall Entdeckung 6 Radiocarbonalter 217 Raumkrümmung 322 Raumzeit-Dimensionen 262–263 Stringtheorie 265 Rechte-Hand-Regel 37, 57, 178 rechtshändiges Teilchen 168–169, 173, 178–181, 184–185 Siehe auch Neutrino, rechtshändig reelles Teilchen 224–225, 296–297 Reichweite Siehe Wechselwirkungen, Reichweite Relativitätsprinzip 34 Relativitätstheorie 322 spezielle Siehe spezielle Relativitätstheorie Renormierung 104–105 Siehe auch Ladungsrenormierung Renormierungsgruppengleichung 197 Repräsentation 29 Resonanz 51–52, 145, 164, 215, 224 Resonanzfrequenz 52 Richter, Burt 222 Ringbeschleuniger 112–114, 116 Röntgenröhre 38 Röntgenstrahlung 38, 120–121 Rotverschiebung 270–271, 323 Rubbia, Carlo 225

Ruheenergie 35 Rutherford-Experiment 16–17, 28–29, 46–47 S Sacharow-Bedingungen 305 SAGE-Experiment 321 Schalen (Atom) 90, 210 Schauer 74 Schleifen 102–103 Siehe auch Feynman-Diagramm, EinSchleifen-Prozess Schleifendiagramm 102–103 Schrödingergleichung 18, 40–41, 103 schwache Wechselwirkung 8, 12, 56–57, 166–167 CP-Erhaltung/-Verletzung 179 Paritätsverletzung 56–57, 181 Reichweite 54–55, 166 Umwandlung von Teilchen 166 Siehe auch 𝛽-Zerfall; Siehe auch geladener Strom; Siehe auch neutraler Strom Schwarzes Loch 301 Schwerkraft Siehe Gravitation Schwinger, Julian 234 seltene Zerfälle von B-Mesonen 244 Signal 142–143 Signalhypothese 148–150 Signifikanz 142, 149–151, 153–157 Siliziumdetektor Siehe Halbleiterdetektor Simulation 84–85, 108–109, 142, 148, 193, 206–207, 312 Sinusfunktion 106, 114 Skalar 260, 272 skalares Elektron 260 Skalenfaktor (Universum) 322–323

358

SNO-Experiment 167, 279, 321 Sombrero-Potential 59, 172–173, 272 Sonne

Index

Synchrotronstrahlung 122–123 systematische Unsicherheit 82, 146 Szintigramm 118 Szintillation 64, 70–71, 74

Spurdetektor 21, 67, 76–77

starkes CP-Problem 272–273, 296–297 starke Wechselwirkung 8, 12, 189–217, 192 Symmetrieerhaltung 178 Statistik 80–81, 146, 148–149 Stern Aufbau 309 Elemententstehung 308 Sternenstaub 308 Stern-Gerlach-Versuch 45 Strahlführung 114–115 Strahlung 38, 65 Strangeness 15 Streuexperiment 46–47, 200 Siehe auch Rutherford-Experiment Stringtheorie 264–265 Strukturbildung im Universum 8–9, 240, 269 Neutrinos 312–313 Super-Kamiokande-Experiment 71, 126–127, 185, 187, 298–299, 321 Supernova 270–271, 300–301, 309, 314–315, 319 Ausdehnung des Universums 270 Supersymmetrie 93, 258–261, 281, 294–295 Brechung 260 Stringtheorie 265 Supraleitung 129 SUSY Siehe Supersymmetrie Symmetrie 56–57, 92–93, 96–97, 180 äußere und innere 92 diskrete 96, 178–179 globale und lokale 94–95 kontinuierliche 96 Siehe auch Eichsymmetrie

Squark 260, 280–281 stabile Kerne 212 Standardabweichung 146 Standardmodell 163–187 Grenzen 253–275 Stanford Linear Accelerator Center (SLAC) 2–3, 62, 222

Symmetriebrechung 291 explizite Siehe explizite Symmetriebrechung spontane Siehe spontane Symmetriebrechung Symmetrietransformation 94, 259 Synchrotron 63, 113

Ununterscheidbarkeit 90–91 Urknall 266–267, 270, 290, 306–307, 310, 312 Ursprung der Masse 176

Kernfusion 167, 308 Siehe auch Kernfusion Neutrinos 167, 185–187, 238, 320–321 vier Kräfte 167 Spektrum Absorptionslinien 271 spezielle Relativitätstheorie 34–35, 39, 88–89, 168–169 Elektromagnetismus 100 Gesamtenergie von Teilchen 18 Helizität (Chiralität) 169 und Quantenmechanik 18 Spiegelsymmetrie Siehe Parität Spiegelung 96 Spin 14, 16, 37, 44–45, 57, 92–93, 136–137, 260 Händigkeit von Teilchen 168 Parität 178–179 Spin-Statistik-Theorem 45 spontane Symmetriebrechung 58–59, 172–177, 272, 296 Fermionmassen 176–177 Feynman-Diagramme 175 Higgs-Potential 172 im Standardmodell 172–173 masseloses Photon 175 Neutrinomasse 256 Sombrero-Potential Siehe SombreroPotential Temperatur im Universum 174 Vakuumserwartungswert 172–173

T Teilchenbeschleuniger Siehe Beschleuniger Teilchendetektor Siehe Detektor Teilchenfalle 132–133, 234 Teilchenidentifikation 75–76, 144–145 Teilchenzoo 14 Tesla-Transformator 164 Tetraquarks 215 Tevatron-Beschleuniger 227–230, 247 Theorie 27 Anforderungen 250–251 Siehe auch neue Physik Thompson, Joseph J. 6 Tieftemperaturdetektor 128–129, 279, 289 Ting, Sam 222 top-Quark Entdeckung 226–227 Trigger 140–141 Tritium 240, 307 Triton 210 Siehe auch Tritium U Undulator 122–123 Universum Ausdehnung 270–271 Energiedichte 310–311, 323 Entwicklung 322–323 Unschärferelation 41, 55, 90 Unsicherheit 26, 80–81 Untergrundhypothese 148–149, 153

Index

V Vakuumenergiedichte 271 Vakuumerwartungswert Siehe Higgs-Boson van der Meer, Simon 225 Van-der-Waals-Kraft 54 van Gogh, Vincent 123 Vereinheitlichte Theorie Siehe große vereinheitlichte Theorie (GUT) Vereinheitlichung von Kräften 266 Elektrizität und Magnetismus 164 Siehe auch große vereinheitlichte Theorie (GUT) Vernichtung 290–291, 304 Elektron-Positron 19, 98, 134, 165 Neutrinos 267, 312 Positronen-Emissions-Tomographie 134–135 Quantenfeldtheorie 100–101 Siehe auch Antimaterie veröffentlichen 150–151 Vertex 73 Siehe auch Feynman-Diagramm Vertexdetektor Siehe Spurdetektor Viererimpuls 103, 105, 145 virtuelles Teilchen 55, 99, 165, 177, 224 Vorhersage 26, 42–43, 228 W Wahrscheinlichkeit 40–41, 42–43, 80–84 Wahrscheinlichkeitsrechnung 80–81 Wahrscheinlichkeitsverteilung 43, 81 Wasserstoffatom Bindungsenergie 41, 43 Spektrum 43 W-Boson 11, 166–167 Elektromagnetismus 165 Entdeckung 224–225 Kopplung an Higgs 174–175 Siehe auch geladener Strom; Siehe auch schwache Wechselwirkung

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Wechselwirkungen Austauschteilchen 11, 54 Reichweite 8, 54–55 Stärke 12 Siehe auch Elektromagnetismus; Siehe auch Gravitation; Siehe auch schwache Wechselwirkung; Siehe auch starke Wechselwirkung Wechselwirkung mit Materie 64–65 Wellenfunktion 40–42, 90–95, 100–101 Wellenlänge 9, 40–41, 94, 120–121, 270–271 Widerlegung 27, 149, 156–157 WIMP 269, 286–289 Wipp-Mechanismus 257 wissenschaftliche Methode 26–27 WMAP-Satellit 310 World Wide Web 25, 160–161 WWW Siehe World Wide Web X X-Eichboson 305 Siehe auch Leptoquark XENON-Experiment 130–131, 287, 289 Z Zählrohr 68 Z-Boson 11, 166–167 Entdeckung 224–225 Resonanzbreite, Zerfall 170–171 Siehe auch neutraler Strom; Siehe auch schwache Wechselwirkung Zeitdilatation 35, 144 Zeitprojektionskammer 69, 73, 131 Zeitumkehr 56, 96, 178–179 zelluläre Automaten 251 Zentripetalkraft 72 Zerfall 50 Siehe auch Kernzerfall; Siehe auch Neutron, Zerfall; Siehe auch Pion-Zerfall; Siehe auch Protonenzerfall

Zerfallsgesetz 43, 298 Zufall 42–43, 80–81, 155, 222, 274–275 Zyklotron 118–119

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Das Autorenteam

Das Autorenteam Philip Bechtle ist experimenteller Teilchenphysiker und Privatdozent an der Universität Bonn. Er beschäftigte sich bisher hauptsächlich mit der Suche nach noch unbekannten Phänomenen an HochenergiephysikPhilip Bechtle experimenten am DESY in Hamburg, am CERN in Genf und am SLAC in Stanford. Seit 2007 erforscht er im Rahmen der ATLAS-Kollaboration am Large Hadron Collider die Eigenschaften des Higgs-Bosons und anderer präzise messbarer Größen des Standardmodells. Er setzt auch die in der Grundlagenforschung gewonnenen Methoden in der Erforschung anderer Gebiete ein, sei es im Bereich erneuerbarer Energien oder der Epidemiologie.

Herbi Dreiner studierte Physik in Bonn und Madison, Wisconsin (Promotion) und arbeitete am DESY in Hamburg, der University of Oxford, der ETH Zürich und am Rutherford Appleton Labor. Seit 2000 Herbi Dreiner ist er Professor an der Universität Bonn und forscht im Bereich theoretischer Physik, hauptsächlich an der Physik jenseits des Standardmodells bei Kollidern und in der Astrophysik und Kosmologie. Im Jahr 2001 gründete er mit Michael Kortmann die Bonner Physikshow, wofür sie 2009 gemeinsam den Hochenergiephysik Outreach Preis der Europäischen Physikalischen Gesellschaft (EPS) erhielten. Herbi Dreiner ist Mitglied der renommierten Particle Data Group.

Florian Bernlochner ist Professor für experimentelle Teilchenphysik an der Universität Bonn. Er erforscht die Eigenschaften von schweren Quarks, Neutrinos und dem Higgs-Boson, um nach neuen, unbekannten Teilchen und PhänoFlorian Bernlochner menen zu suchen. Dies tut er mit dem Belle-II-Experiment in Japan, und den FASER- und ATLAS-Experimenten am Large Hadron Collider.

Christoph Hanhart studierte Physik in Bonn und Sydney. Heute forscht er als theoretischer Physiker im Grenzbereich zwischen Kernund Teilchenphysik an Phänomenen der starken Wechselwirkung am Forschungszentrum Jülich Christoph Hanhart und an der Universität Bonn, wo er auch eine außerplanmäßige Professur innehat. Er ist Mitglied der renommierten Particle Data Group (PDG) und erhielt 2018 den Lehrpreis der Universität Bonn.

Das Autorenteam

Josef Jochum studierte in Tübingen und München Physik. Nach der Promotion an der TU München beschäftigte er sich in Berkeley mit der Entwicklung supraleitender Detektoren für die Suche nach den Teilchen der Josef Jochum Dunklen Materie. Seit 2004 ist er Professor für Experimentelle Teilchenphysik an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Neben der Untersuchung der Natur der Dunklen Materie widmet er sich Experimenten zur Bestimmung der Eigenschaften von Neutrinos.

Jörg Pretz studierte Physik in Mainz und Marseille. Nach der Promotion in Mainz arbeitete er an der Yale University, am CERN in Genf und der Universität Bonn. Seit 2012 ist er Professor für Experimentalphysik Jörg Pretz an der RWTH Aachen und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungszentrum Jülich. Seine Forschungsgebiete sind die Untersuchung der Struktur des Nukleons und Präzisionsexperimente an Speicherringen.

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Kristin Riebe studierte Physik in Heidelberg und promovierte an der Universität Potsdam. Seit ihrer Doktorarbeit im Bereich der Kosmologie ist sie am LeibnizInstitut für Astrophysik Potsdam tätig. Nach ProKristin Riebe jekten zur Visualisierung und der Veröffentlichung von Daten widmet sie sich nun der Entwicklung von Webseiten und der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Sie arbeitete bereits mehrfach als Autorin und Grafikerin an erfolgreichen Buchprojekten mit.