Fanny Hensel geb. Mendelssohn: Musikerin der Romantik
 9783412312077, 9783412048068

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Peter Schleuning

FANNY H E N S E L GEB. ti EN I E L S S O H N

EUROPÄISCHE KOMPONISTINNEN Herausgegeben von Annette Kreutziger-Herr und Melanie Unseld Band 6

Peter Schleuning

F 3 SI l' • lì SEI GEB. MENDELSSOHN Musikerin der Romantik

§ 2007

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Die Reihe »Europäische Komponistinnen« wird ermöglicht durch die Mariann Steegmann Foundation

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Moritz Daniel Oppenheim, Fanny Hensel-Mendelssohn, 1842 (Daniel M. Friedenberg, USA, Photo John Parnell, New York)

© 2007 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Gesamtherstellung: Freiburger Graphische Betriebe Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-04806-8

INHALT

Vorwort der Herausgeberinnen. »Wärst Du ein Mann oder nicht meine Schwester...« Bruder und Schwester - ein ungleiches Paar Vorbemerkung Einleitung

VII 1 3

Leben und Werke

I Die Familie Moses Mendelssohn, der Großvater Verwandschaft und »Salons« Die Frauen Die Männer

9 9 13 16 26

II Fanny Mendelssohn 1805-1815 Eltern und Kindheit

30 30

III Fanny Caecilia Mendelssohn 1816-1822 Antisemitismus und Taufe Unterricht Nochmals: Antisemitismus Die Briefe von Abraham Mendelssohn Der Briefwechsel der Geschwister bis 1830 Die Jahre 1821 und 1822

42 42 47 55 57 65 76

IV Fanny Caecilia Mendelssohn Bartholdy Die Jahre 1823-1825 1825: Leipziger Straße 3 Die Jahre 1826-1828 1829/1: Matthäuspassion und Brautzeit

85 85 90 95 111

V Fanny Caecilia Hensel, kurz: Fanny Hensel 1829/11: Hochzeit und Silberne Hochzeit

132 132

Inhalt

V

Die Jahre 1830-1839 Komponieren und Musizieren Veröffentlichungen Lob, Kritik und Selbstkritik 1839/1840: Italien Musik Vorurteile Politik und Judentum Der weibliche Gegenpol: Madame Daubray Die Jahre 1841-1847 Leipziger Straße und Sonntagsmusiken Verschwiegenes: Sebastian Hensel und Charles Gounod Humor Tiefen und Höhen Hören und Musizieren Komponieren und Veröffentlichen Fanny Hensels Tod

140 146 159 164 177 186 190 195 197 202 207 214 217 220 223 230 241

Werkanalysen Lied aus dem Klaviertrio op. 11 Lied Nachtwanderer op. 7, Nr. 1 Sonatensätze Klavierstücke Kantaten: Choleramusik Chöre: Nachtreigen

255 270 281 291 298 303

Anhang Notenbeispiele Bibliographie Abbildungsnachweis Personenregister Sachregister Fanny Hensel Werkregister Fanny Hensel

311 321 337 339 346 348

VI

Inhalt

Vorwort der Herausgeberinnen »Wärst Du ein Mann oder nicht meine Schwester...« Bruder und Schwester - ein ungleiches Paar

»Kannst Du Dich dem allgemeinen Schicksal Deines Geschlechts entziehen, das nun einmal seiner Natur nach die zweite Stelle in der Reihe der Wesen bekleidet?« Heinrich von Kleist an seine Schwester Ulrike von Kleist

Wir fragen nach den Schwestern - und beginnen doch sogleich über die Brüder zu sprechen. Uberall. Wenn man in der Hamburger Staatsbibliothek in den achtziger Jahren unter dem Stichwort »Schwester« nachschauen wollte, gab es den Hinweis »siehe Bruder und Schwester«. Könnte klarer zum Ausdruck gebracht werden, dass das Leben von Frauen so sehr in das Leben ihrer Brüder hineinverwoben ist, dass sie nur als »Schwester von« zu denken sind, ein Nachdenken über sie nur über das brüderliche Bewusstsein ermöglicht wird? Sie selbst also, zwar gestützt und eingespannt in ein Netz aus Bezügen und Beziehungen, sowohl für die Familien- als auch für allgemeine Geschichte nicht von Belang zu sein scheinen? Oder solange von Belang, wie sie für die Familie von Nutzen sind? Ein Echo von Otto von Bismarcks Brief an seine Schwester Malwine ist vielfach in Briefen des 18. und 19. Jahrhunderts erklungen: »Wie unnatürlich und selbstsüchtig es ist, wenn Mädchen, die Brüder haben und obendrein unverehelichte, sich rücksichtslos verheiraten!« Wie rücksichtslos, die Brüder im Stich zu lassen. Auch Jacob Grimm schrieb über seine Schwester - die auf Reproduktionen des berühmten Grimm-Portraits übrigens häufig abgeschnitten wird: »Unsere einzige Schwester [...] verließ uns nach der Trauung, so dass wir drei anwesende Brüder jetzt wieder einen halbstudentischen Haushalt fuhren müssen.« Die Schwer stern verschwinden in der Geschichtsschreibung, so wie auch niemand die Haushälterin oder Dienstmagd erinnert, die dem Künstler mit ihrer Arbeit den Rücken freihielt. Wenn wir also nach einer Schwester fragen, wo finden wir die Erinnerungen an sie? In einer Studie zu Willemina Jacoba van Gogh (1862-1941), der Schwester von Vincent, analysiert Renate Berger: »Der Wunsch, ein Leben zu erkennen, dessen materiell fassliche authentische Quellen unbeachtet oder in geringer Zahl erhalten blieben bzw.

Vorwort der Herausgeberinnen

VII

vernichtet wurden, fiigt sich leicht der brüderlichen Legende oder mündet vorschnell in eine kollektive Geschlechter-Geschichte, die jedem weiblichen Leben zugrunde liegt, ohne es jedoch in seiner Besonderheit ganz verständlich zu machen; auch das kollektive Geschick wird individuell erfahren.« Das Werk der Brüder wird befördert, erinnert in Tagebüchern, Briefen, Autobiographien. Im Falle der Familie van Gogh sind 22 Briefe aus den Jahren 1887 bis 1890 von Vincent van Gogh an seine Schwester Willemina Jacoba erhalten, Auszüge aus Briefen Theodoras van Goghs und ein Schreiben Joseph Roulins. Die Briefe Willeminas an ihren Bruder sind nicht mehr vorhanden, allein Photos, Zeichnungen und Gemälde geben Aufschluss über ihre Person. Sie erscheint nur im Spiegel, konstruiert über den Blick und die Erzählungen anderer: »Wärst du ein Mann oder nicht meine Schwester, ich würde stolz sein, das Schicksal meines ganzen Lebens an das Deinige zu knüpfen«, schreibt der 21jährige Heinrich von Kleist an seine Schwester Ulrike (1774-1849). Aber Ulrike ist kein Mann, der zweite Platz ist für sie in der Familienaufstellung eine Selbstverständlichkeit. Bei Geschwistern erscheinen die Dichotomien von Begabung und Erziehung, von Vererbung und äußerem Einfluss wie in einem Reagenzglas als Versuchsanordnung. Im Falle der Mendelssohns, dem berühmtesten und wichtigsten komponierenden Geschwisterpaar der Musikgeschichte, gilt das in ganz besonderem Maße, zudem ist die Quellenlage phänomenal gut: Zu Anfang kennt die Förderung keine erste und zweite Stelle im Familienverbund. Beide Kinder erhalten schon früh eine exzellente Ausbildung und gelten als hochbegabt, beide lernen die Musik Johann Sebastian Bachs kennen und lieben, beide erhalten Klavierunterricht bei Marie Bigot-Kiene und Ludwig Berger, beide erhalten Musiktheorie- und Kompositionsunterricht bei Carl Friedrich Zelter. Am 11. Dezember 1819 schreibt Fanny Mendelssohn ihre erste Komposition ein Geburtstagslied für den Vater - und drei Jahre später findet die erste Sonntagsmusik statt, für die der Vater ein kleines Orchester engagiert hatte und Fanny und Felix auf dem Klavier vorspielten. Beide Kinder hören in diesen Konzerten nicht nur eine Fülle an zeitgenössischer Musik, sie kommen auch mit der musikalischen Elite Berlins in Kontakt und haben die Gelegenheit, eigene Kompositionen einem erlesenen Publikum zu präsentieren. Ein absolut paralleler Lebensweg, engagiert begleitet und geprägt von der Mutter, die beiden Kindern die gleiche musikalische Erziehung angedeihen lässt. Aber mit zunehmendem Alter übernimmt der Vater die Erziehung - und da beginnen sich die Wege zu trennen: Schon früh äußert VIII

Vorwort der Herausgeberinnen

der Vater, Fanny sei vielleicht doch nicht so begabt wie ihr Bruder und schreibt 1820 einen der demotivierendsten Briefe an seine fünfzehnjährige Tochter: »Die Musik wird für ihn [= Felix] vielleicht Beruf, während sie für Dich stets nur Zierde, niemals Grundbaß Deines Seins und Tuns werden kann und soll; ihm ist daher Ehrgeiz, Begierde, sich geltend zu machen in einer Angelegenheit, die ihm sehr wichtig vorkommt, weil er sich dazu berufen fühlt, eher nachzusehn, während es Dich nicht weniger ehrt, dass Du von jeher Dich in diesen Fallen gutmütig und vernünftig bezeugt und durch Deine Freude an dem Beifall, den er sich erworben, bewiesen hast, dass Du ihn Dir an seiner Stelle auch würdest verdienen können. Beharre in dieser Gesinnung und diesem Betragen, sie sind weiblich, und nur das Weibliche ziert die Frauen.« - Der Brief ist ein Paradebeispiel für den unerbittlichen, sanften Zwang, mit dem das überschäumende Talent gebändigt und gezüchtigt werden sollte. Welch Talentvergeudung, welch Deformation. - Fanny schreibt 1829 mit kühler Ironie: »Daß man [..] seine elende Weibsnatur jeden Tag, aufjedem Schritt seines Lebens von den Herren der Schöpfung vorgerückt bekommt, ist ein Punkt, der einen in Wut, und somit um die Weiblichkeit bringen könnte, wenn nicht dadurch das Übel ärger würde.« Bruder und Schwester werden nach unterschiedlichem Maß gemessen, man erkennt, welch überwältigenden Einfluss Ausbildung, Förderung, liebevolle Zuwendung, Vertrauen auf den Entwicklungsweg eines Menschen haben. Dass Fanny und Felix dabei ein starkes inneres Band aneinanderkittete, sich ihr Leben lang gegenseitig Kompositionen vorlegten, in einem regen Briefwechsel standen und die innigsten gegenseitigen Ratgeber waren, steht außer Zweifel und ist ein Zeugnis für die Kraft, die das Herz zu entwickeln vermag. Doch auch Felix, nach dem Tod des Vaters das Familienoberhaupt der Familie, riet immer wieder vom Publizieren ab - und es ist frappant, dass dieses ablehnende Urteil schwerer wog als die Ermutigung von Mutter und Ehemann. Erst nach Fannys unerwartetem Tod kümmerte sich Felix um die Herausgabe einiger ihrer Werke und edierte op. 8 bis op. 11. Und gleichzeitig erscheint Fanny als zentrale Säule im Leben ihres Bruders, als geheime Kraft- und Inspirationsquelle, nach deren Tod ein Weiterleben auf merkwürdige Weise nicht möglich schien, so als sei mit Fannys Tod im Mai 1847 auch eine Lebensquelle in ihm selbst versiegt. Annette Kreutziger-Herr und Melanie Unseld

Vorwort der Herausgeberinnen

Berlin/Hamburg, Herbst 2006

IX

Vorbemerkung

Die für dieses Buch wichtigen Personen der Familie Mendelssohn werden nicht als »Fanny« oder »Felix« angesprochen, wie es teilweise in falscher Intimität üblich ist. Warum dann nicht den Vater »Abraham«, den Ehemann »Wilhelm« nennen? Man kennt das ja: den alten Bach als »Johann Sebastian« in den Arm nehmen. Fanny Hensels mehrfache Namensänderungen als Zeichen ihrer jüdischen Geschichte und ihrer Eheschließung bestimmen die Titel der Hauptteile der Lebensdarstellung und schließen jene komplizierten oder unzutreffenden Namensbildungen aus wie »Mendelssohn-Bartholdy«, »Mendelssohn-Hensel«, »Hensel-Mendelssohn« oder gar »Mendelssohn-Bartholdy-Hensel«. Allerherzlichster Dank für freundlichen Rat und tätige Unterstützung gilt Annegret Huber in Wien, Hans-Günter Klein in Berlin und dem Sophie-Drinker-Institut in Bremen mit seiner Leiterin Freia Hoffmann. Ohne diese Personen und Institutionen wäre die Entwicklung mancher Gedanken und die Beschaffung umfangreicher Literatur äußerst mühsam und teilweise erfolglos gewesen.

Vorbemerkung

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Einleitung

Hans Georg Nägeli, Schweizer Gesangslehrer, Komponist, Chorgründer, Verleger und Publizist, ließ im Jahre 1826 die musikalischen Vorträge, welche er in den vorangegangenen Jahren landauf, landab, vor allem in der Schweiz und im Süden Deutschlands mit viel Erfolg gehalten hatte, in Buchform erscheinen (Stuttgart und Tübingen), und zwar mit dem Titel Vorlesungen über Musik mit Berücksichtigung der Dilettanten. Dass er Mozart verehrte, »das übertriebene, ausschweifende Contrastiren« in seiner Instrumentalmusik aber als »Geniefehler« brandmarkte (S. 157f.), erscheint zwar etwas eigentümlich, zeigt Nägeli jedoch als eigenständigen, von der gängigen Meinung unabhängigen Denker. Dies gilt auch für jene Passagen, die den Beitrag betreffen, welchen die beiden Geschlechter zur Musikkultur geleistet haben. Unter die Gründe, die laut Nägeli zum Emporwachsen der Instrumental-, vor allem der Klaviermusik zu beherrschender Stellung geführt haben, zählt er folgende (S. 174f.): »Sechstens muß als eine überaus wichtige, der Kunstentwicklung unermeßlich förderliche Erscheinung ausgehoben werden, daß das w e i b l i c h e G e s c h l e c h t an dieser Klavierspielkunst eben so wohl, ja im Verfolg noch allgemeiner Antheil nahm als das männliche; da die Männer sich unter die verschiedenen Bogen- und Blasinstrumente zu theilen hatten, deren Spiel, wie es scheint, aus ästhetischen Gründen der Darstellung unter dem weiblichen Geschlecht nie Sitte wurde, weil nämlich das Handthieren mit der Violine einer Jungfrau übel anstehe, das Blasen eines Instruments aber schöne Lippen verunstalte. Ueberhaupt hat die Theilnahme des weiblichen Geschlechts, und zwar nicht nur der höhern Stände, sondern auch des Mittelstandes, und dessen Entwickelung so großer Talente an dieser Kunst, das Zeitalter M o z a r t s und seiner Zeitgenossen, zum Zeitalter eines so allgemein verbreiteten Kunstlebens gemacht, daß die Culturgeschichte dazu nur ein Gegenbild aus der Blüthezeit der Griechischen Kunst aufzuweisen hat, jedoch unzureichend, weil dort ausübende Kunst jeder Art sich fast ausschließlich in den Händen der Männer befand.«

Falls Fanny Mendelssohn Bartholdy, damals einundzwanzig Jahre alt, dies gelesen haben sollte - in ihrer bildungshungrigen Familie sehr wahrscheinlich -, dürfte sie sich am Vergleich der Mozartschen Epoche mit den »goldnen Zeiten« der Antike erfreut haben, auch wenn dieses Bild nicht unüblich war (vgl. Schleuning 2000, S. 347). Ebenso dürfte ihr behagt haben, wie bei Nägeli der weibliche Anteil an dieser Entwicklung Einleitung

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herausgestellt wird, ja als Argument für die Behauptung dient, man sei zu Mozarts Zeiten der männlich dominierten griechischen Antike sogar überlegen gewesen. Konnte das nicht als Antrieb verstanden werden, nun mit verstärktem weiblichen Impetus wiederum solche Höhen zu erklimmen? Was sie über Nägelis Gedanken zur Einschränkung der weiblichen Instrumentenwahl gedacht haben könnte, ist schwerer vorzustellen. Carl Ludwig Junker dürfte sie nicht gekannt haben, der die genannten Begründungen für das Kostüm des Frauenzimmer Spielens, für das sittengerechte Verhalten musizierender Frauen, bereits 1783 in gleichem Sinne wesentlich ausfuhrlicher und unangenehmer ausgebreitet hatte (dazu HofFmann 1991, Teil I). Sprachlich feinsinnig, wie sie war, dürfte ihr aber aufgefallen sein, daß Nägeli »wie es scheint« geschrieben und danach den Konjunktiv genutzt hatte. Er hatte nur eine Meinung wiedergegeben, dabei aber anklingen lassen, sie sei nicht unbedingt seine eigene. Aber er hatte auch nicht darauf verzichtet, jene offiziellen Gründe für die Einschränkungen anzugeben, wie sie - und wohl nicht nur in konservativen Kreisen - offenbar noch 1826 gängig waren, wonach Frauen, was Instrumentalspiel betrifft, im Wesentlichen aufs Klavier beschränkt blieben. Wie Fanny Mendelssohn Bartholdy über diese Bedingungen der weiblichen Musizierpraxis gedacht haben mag, dürfte von ihrer schon frühen Konzentration aufs Klavierspiel abgehangen haben. - Oder etwa auch aufs Komponieren? Zu diesem Thema ist Nägeli noch direkter und ideenreicher. Wie er die Nadel führt, um das komplizierte Gewebe der - noch bis heute wirksamen - Argumentation in eine reißfeste Verbindung zu bringen, dürfte Fanny Mendelssohn Bartholdy als potentielle Leserin in Widersprüche geführt haben, aber auch in Selbstzweifel. Schließlich war sie später in einigen ihrer Äußerungen gar nicht so weit von Nägeli entfernt. Was Nägeli schreibt, ist bemerkenswert noch für die heutige Situation, spürbar etwa in der Spannung zwischen der sogenannten Kunst- und der so genannten Populären Musik. Es geht um die Unterdrückung des »Rythmus« (!) in der Musik in der neueren Entwickung des Komponierens (S. 42f.): »Hiernach wurde das Zusammenklingen, also Harmonik, nicht Rythmik, für das Element der Tonkunst angesehen, und so zum Fundament der Tonsetzkunst gemacht. Daraufbaute man eine Compositionslehre, die sich, z. B. in den sogenannten Generalbaß-Schulen, fälschlich für eine Elementarlehre ausgab. So machte man auch das tonkünstlerische Schaffen allzusehr zur K o p f s a c h e , ganz im Widerspruch zu dem sonst gültig anerkannten Theo-

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Einleitung

rem, welche die Musik >die Sprache des Herzens< nannte. Auf solch falschem Wege kamen, im Allgemeinen gesprochen, immer mehr Männer von Kopf als Männer von Herz in die höhere Compositionskunst hinein; so wie wir auf der andern Seite den vielen tausend Componisten gegenüber auch keine einzige C o m p o n i s t i n auch nur von einiger Auszeichnung bekommen haben, aus dem natürlichen Grund, weil dem weiblichen Geschlechte der Ausgang aus dem Herzen, das Schöpfen aus dem Gefühl, durch das Gitterwerk der Harmonik gesperrt war.«

Zunächst zur ersten Hälfte des Textes, der keineswegs ohne Konsequenzen fiir die zweite Hälfte und deren Beurteilung ist: Diese Sätze, geschrieben von einem der größten Bewunderer Johann Sebastian Bachs, dem Abgott der Familie Mendelssohn! Hätte Nägeli, der sich zu Beginn des Jahrhunderts mit Neudruck der Kunst der Fuge und des fiir Fanny Mendelssohn Bartholdy so bedeutsamen Wohltemperierten Klaviers als Kenner der Bachschen Musik ausgewiesen hatte, sich nicht klar darüber sein müssen, daß Bach - wie alle seine Zeitgenossen - den Generalbass als »Elementarlehre« der Musik verstand? Schließlich war dies schon damals oder besser damals immer noch vielen Kennern geläufig, etwa Carl Friedrich Zelter, dem Kompositionslehrer der MendelssohnGeschwister. Nägelis Mängel in Kenntnis historischer Musik betreffen auch die Kennzeichnung des Generalbasses als Hemmnis für die »Sprache des Herzens«. Sie gerade hatte sich doch durch das ganze 18. Jahrhundert und trotz Jean-Philippe Rameaus Funktionstheorie auf der Grundlage des Generalbasses wunderbar artikulieren können. Welche »Männer von Kopf« sollen es denn gewesen sein, die allmählich durch solch intellektuelles Gift die »Männer von Herz« an Zahl überflügelten? Doch wohl nicht Mozart. Zumal » B e e t h o v e n , der große Kunstheld... die Kunstwelt erneuerte, wiedergebar«: Durch ihn nämlich trat wieder »das Sprungwesen mehr hervor« (S. 178f.), was für die Rhythmusgestaltung der Werke von Fanny Mendelssohn Bartholdy, aber auch ihres Bruders, in ihrer Bewunderung des »Kunsthelden« von bedeutendem Einfluss war. Nägelis Theorie vom Rhythmusmangel bildet die Voraussetzung für seine Interpretation eines weiteren Mangels, nämlich jenes des weiblichen Anteiles an der kompositorischen Produktion. Hierin sticht er von fast allen männlichen Zeitgenossen ab: Er predigt nicht das in der »Natur des Weibes« begründete »unschöpferische«, lediglich »dienende«, zur »höheren Fantasietätigkeit unfähige« Wesen der Frau - weitverbreiteter, hier nicht nochmals zu dokumentierender Topos bis ins

Einleitung

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20. Jahrhundert -, sondern er begründet den Mangel, von dessen komponierenden Ausnahmen er nichts zu wissen scheint. Er verteidigt die Frauen, und zwar im Angriff auf die Männer. Das ist zweifellos neu und selten. Doch bedient er sich dazu einer weiteren, ebenso vorgefassten Meinung über das »Wesen« der Frau: Sie sei zu solchen Kopfgeburten wie dem Zahlenwerk des Generalbasses gar nicht in der Lage. Nicht Logik und Berechnung seien ihre Sache, vielmehr tätige sie allein mit dem Herzen ihre Erfindungen. Sie sei also gar nicht Schuld an ihrem Austritt aus dem Kompositionsprozess, sondern die Männer, die sich auf solch abwegige Art von allem verabschiedet hätten, was normal und der Musik eigen sei, und so die Frau von der Produktion verdrängt hätten. Wie Nägeli argumentiert, kann man zwar anständig und außergewöhnlich nennen. Doch ist es bei genauer Betrachtung wiederum gegen die Frauen gerichtet, nur auf einer anderen Stufe als jener, auf der die Frauen als grundsätzlich zur Kunstproduktion unfähig erachtet werden: Der Mann bedient das Gehirn - wenn hierbei auch in falscher Weise -, die Frau das Gefühl, ebenfalls eine bis heute mitgeschleppte Denktradition, der jedoch eine bemerkenswerte Wendung Nägelis fehlt, die nicht übersehen werden sollte: Er fordert, die Männer sollten endlich zu derjenigen Art des Produzierens zurückkehren, die Eigentum des weiblichen »Wesens« sei, so einseitig er dieses auch annimmt. Er ist parteiisch, wenn auch auf einer falschen Basis, genau so wie es bereits in seiner Argumentation bezüglich des Generalbasses der Fall war. Eine falsche Voraussetzung kann nicht zu einer richtigen Folgerung fuhren, so gut diese auch gemeint sein mag. Der Verdacht drängt sich auf, dass Nägeli mit dem Ziel der Verteidigung der Frauen trotz besseren Wissens eine fehlerhafte Theorie über die bösen Folgen des Generalbasses ersann. Fehlt nur noch, dass er die Frauen zu vertriebenen Hüterinnen des Rhythmus ernannt hätte! Dennoch sollten wir ihm Achtung zollen.

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Einleitung

I Die Familie Moses Mendelssohn, der Großvater

Ein Unding wäre es zu sagen, die Mendelssohns hätten keiner deutschen, sondern einer jüdischen Familie angehört. Besteht man aber auf dem Gegenteil - sie hätten keiner jüdischen, sondern einer deutschen Familie angehört -, kommt man zu Gedankengängen, die nicht unkompliziert sind und dies auch schon für die Mitglieder der Familie waren, nicht nur für die Eltern Lea und Abraham, nicht nur für deren Kinder Fanny, Felix, Rebecka und Paul, sondern auch schon für deren Großvater, den Philosophen Moses Mendelssohn: Er löste auf seine Weise das Problem der nationalen Zugehörigkeit, indem er die fünf Bücher Mose (ab 1780) »zum Gebrauch der jüdischdeutschen Nation« übersetzte. 1729 in Dessau geboren, gestorben 1786 in Berlin, ist dieser bedeutendste Vertreter der jüdischen Aufklärung - hebräisch »Haskalah« -, Freund Lessings und offenbar Mitauslöser zu dessen Drama Nathan der Weise, zum Propheten jenes Prozesses geworden, den man gewöhnlich und im Begriff schon wertend Judenemanzipation oder -assimilation nennt, wo doch der »Terminus >Akkulturation< bei der Darstellung dieser diffizilen Zusammenhänge« wesentlich geeigneter erscheint (Gerhard 1999, S. 2ff.). Durch den unermüdlichen Eifer, mit dem er sich um die Popularisierung aufklärerischer Gedanken mühte, hat er eine weit über die Grenzen Deutschlands hinaus gehende Bedeutung erlangt, unter anderem auch als einer der Mitbegründer der deutschen Literaturkritik. 1763 erhielt der vom Studium selbstverständlich ausgeschlossene Autodidakt für seine Arbeit Über die Evidenz in metaphysischen Wissenschaften den ersten Preis der Berliner Akademie der Wissenschaften - vor Kant! Bettelarm aufgewachsen, meisterte dieser »dritte Moses« - nach dem biblischen Moses und dem mittelalterlichen Philosophen und Arzt Moses Maimonides - sein Leben durch Tugenden, die zum Vorbild für die Nachfahren wurden: Ständiges Lernen, immerwährendes Streben, Strenge gegen sich selbst und unbeugsames Sich-treu-Bleiben, auch trotz heftigster Probleme und Widerstände. Deren Zahl war in Mendelssohns Leben - als Jude im Preußen - nicht gering, selbst als er schon einflussreich und berühmt war. So verlieh ihm König Friedrich II. im Jahre des Akademie-Preises zwar das Privileg eines »ausserordentlichen Schutzjuden« - höchste erreichbare Kategorie -, »vor seine Person wohl gratis, aber nicht vor seine Kinder«, wie der König anmerkte. Und 1771 weigerte Die Familie

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sich der König, die Wahl des Gelehrten in die Akademie zu bestätigen. Ständig planend und anregend, war Mendelssohn auch Auslöser der einflussreichen Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden des preußischen Beamten Christian Wilhelm von Dohm, deren erster Band 1791 erschien. Der Text von 1784 Ueber die Frage: Was heißt aufklären? schließt mit einem Gedanken, den man als Wendung gegen Nationalismus verstehen könnte, als Reflexion über das Ende des Römischen Reiches - oder etwa als Vorausschau auf die Zukunft Frankreichs? (1791, zwei Jahre nach der Revolution, machte sich die verfassungsgebende Versammlung in der Debatte über den künftigen Status der französischen Juden Mendelssohns Gedanken zu Nutze.) »Eine gebildete Nation kennt in sich keine andere Gefahr, als das Uebermaß ihrer Nationalglückseligkeit, welches, wie die vollkommenste Gesundheit des menschlichen Körpers, schon an und für sich eine Krankheit genannt werden kann. Eine Nation, die durch die Bildung auf den höchsten Gipfel der Nationalglückseligkeit gekommen, ist eben dadurch in Gefahr, zu stürzen, weil sie nicht höher steigen kann.«

Der Anfangssatz setzt in Erstaunen: Vollkommenste Gesundheit = Krankheit? Ohne das Rätsel dieses Gedankens auflösen zu wollen, ist darauf hinzuweisen, dass Mendelssohn ein buckliger Zwerg war, körperlich wenig belastbar, 1771 von einer schweren, lang anhaltenden Lähmungskrankheit befallen, auch dies wiederum Eigenheiten, die er teilweise vererbte: Auch Fanny Hensel war leich bucklig und starb nach Lähmungserscheinungen: »Die meisten von Moses' unmittelbaren Nachkommen starben wie er rasch und ohne viel zu leiden.« (Tillard 1994, S. 23) Ohne die Mühen, die Mendelssohn im Verfolgen seines Zieles auf sich nahm, wäre es undenkbar, dass zwei Jahre vor seinem Tode, 1784, in der von vielen namhaften Aufklärern der »Mittwochsgesellschaft« getragenen Berliner Monatsschrift etwas nicht nur für die damalige Zeit Erstaunliches zu lesen war: »Wenn das Volk der Juden jemals aufgeklärt werden soll, so muß dies - da nun doch einmal die Regierungen nichts dazu tun werden - durch des Volkes eigene innere Kraft geschehen, durch die Bildung, die die Juden sich selbst erwerben und sie dann den Jüngeren und dazu Empfanglicheren wiederum mitteilen. Wahrlich ein schweres Problem, dessen Auflösung unmöglich

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Leben und Werke

scheint: daß ein durch seine unglückliche Lage und durch unsere Schuld jahrtausendelang gedrücktes Volk [...] in sich Mut und Kraft und Geschicklichkeit finden soll, sich wieder aufzurichten.« (Zit. nach Knobloch 1987, S. 265)

Wer immer - wie Fanny Mendelssohn Bartholdy - einen so wichtigen Vorfahren hat, wird dessen Werk bewahren, aber sicherlich auch als Auftrag empfinden. Deshalb ist es notwendig, sich mit weiteren Gedanken des Großvaters zu beschäftigen, beileibe nicht mit den eigentlich wichtigen, den philosophischen, sondern nur mit jenen, die sich mit Musik beschäftigten. Insgesamt stechen sie in ihrer - wenn auch oft kritischen - Anlehnung an die zeitübliche Nachahmungs- und Gefiihlsästhetik nicht weit vom Üblichen ab, betonen dann im Eingehen auf die Genieästhetik der 1770er Jahre den Wert negativer Empfindungen und streifen schließlich auch bereits das Autonomieverständnis fiir Musik im Sinne des 19. Jahrhunderts (vgl. Grimm 1999). Jedoch zeigt sich auch manch Eigenständiges: Welcher Philosoph - nicht nur des 18. Jahrhunderts - hat sich je bemüht um einen Versuch, eine vollkommen gleichschwebende Temperatur durch die Construction zufindend (vgl. Lütteken 1999, S. 144f.) Dürfte dieser sich nicht unmittelbar auf die folgenden Generationen ausgewirkt haben, so vielleicht doch eine in Fragen der Musik und ihrer verschiedenen Arten eher konservative Haltung. So betrachtet der Großvater 1757 in seiner Schrift lieber die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaflen die Musik, wenn sie innerhalb der Vokalmusik mit der Dichtung verbunden ist, ganz selbstverständlich als »Nebenkunst«, die mit der »Hauptkunst« eine Verbindung einzugehen habe, allerdings mit allen denkbaren Freiheiten fiir den »Tonkünstler«, denen der Dichter nicht durch allzu extravagante Texte hinderlich sein dürfe: »Er muß die Empfindungen, die Bilder und alle musikalischen Schönheiten nur gleichsam durch Aussenlinien bezeichnen, und der Musik Gelegenheit geben, sie auszuführen, den Empfindungen ihr wahres Feuer, den Bildern Leben, und den Gleichnissen Aehnlichkeit zu geben.« (Ausgabe Otto F. Best, S. 193)

Fast erscheint die Musik hier schon als Hauptkunst. Und dies gilt auch fiir jene Jahre nicht unbedingt selbstverständlich - im Zusammenhang mit der Instrumentalmusik, der neuartigen Sinfonie-, Ensemble- und Klaviermusik, welche gerade im Berlin jener Jahre durch einen ihrer großen Begründer vertreten und bekannt wurde, Carl Philipp Emanuel Bach:

D i e Familie

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»Der Musikus hat nur darauf zu sehen, daß er die Möglichkeit der Verbindung seiner Kunst mit der Poesie nicht aufhebe. Er muß in theatralischen Werken die allgemeine Verwirrung der Empfindungen vermeiden, die in einer Symphonie an dem rechten Orte angebracht sein kann.« (Ebda.)

Zwei Jahre früher, 1755, formulierte Mendelssohn bereits einen emphatischen Lobpreis jener Neuerung, die vor allem die Instrumentalmusik auf ihre Fahnen schrieb, des Affektwechsels (Über die Empfindungen, vgl. Gerhard 1999, S. 21; hier Zit. nach Lütteken 1999, S. 144, nach der redigierten Fassung von 1761): »Göttliche Tonkunst! Du bist die einzige, die uns mit allen Arten von Vergnügen überraschet! Welche süße Verwirrung von Vollkommenheit, sinnlicher Lust und Schönheit! Die Nachahmungen der menschlichen Leidenschaften, die künstliche Verbindung zwischen widersinnigen Uebellauten: Quellen der Vollkommenheit! [...] die Beschäftigung der Geisteskräfte in Zweifeln, Vermuthen und Vorhersehen: Quellen der Schönheit! Die mit allen Saiten harmonische Spannung der nervigten Gefäße: eine Quelle der sinnlichen Lust! Alle diese Ergötzlichkeiten bieten sich schwesterlich die Hand und bewerben sich wetteifernd um unsere Gunst. Wundert man sich nun noch über die Zauberkraft der Harmonie?«

Ja, es besteht sogar die Vermutung, daß es unter den Berliner Musikfreunden neben den reformierten Hugenotten vor allem die Juden waren, welche zu einer frühzeitigen ästhetischen Emanzipation der Instrumentalmusik beitrugen (vgl. Gerhard 1999, S. 25f.). Moses Mendelssohn und Fromet Gugenheim hatten ohne verwandtschaftliche oder synagogale Vorbestimmung eine Liebesheirat geschlossen. Und das in einer jüdisch-orthodoxen Umgebung! Von ihren zehn Kindern überlebten sechs die frühen Kinderjahre, drei Mädchen und drei Jungen, darunter Abraham, der Vater von Fanny und Felix Mendelssohn (zu Fromet Gugenheim vgl. Goch 2000). Für einen Aufklärer muss es zentrale Aufgabe sein, sich mit Fragen der Erziehung zu beschäftigen. Und so war Moses ständig darum bemüht, fiir eine den Anfordernissen einer aufgeklärten Menschheit notwendige Ausbildung der eigenen und fremder jüdischer Kinder zu sorgen, auch der Mädchen. Nicht nur führte er 1778 mit Johann Heinrich Campe, dem damaligen Leiter der von Johann Bernhard Basedow begründeten Dessauer Erziehungsanstalt Philanthropin, einen Briefwechsel über den Plan, auch jüdische Kinder aufzunehmen. Nicht nur half er mit, dass nach langen Planungen in Berlin 1781 die erste deutsche Jüdische Freyschule entstand. Sondern zusammen mit David Friedländer verfasste er nach dem 12

Leben und Werke

Vorbild des Kinderfreundes von Friedrich Eberhard von Rochow (1776) ein Lesebuchfiir Jüdische Kinder, das 1779 erschien. Eine Textprobe (S. 8; nach Knobloch, S. 271) macht deutlich, nach welchen Gesichtspunkten Kinder und wohl auch Enkel des Paares Mendelssohn erzogen wurden. Zweifellos kannte der 1776 geborene Abraham Mendelssohn das Lesebuch so gut wie auswendig und gab dessen Inhalte seinen eigenen Kindern weiter. »Leßübungen. Der Mit-lei-di-ge, der dem E-len-den nicht zu na-he kom-men will, weil er E-kel fiirch-tet, ver-räth Weich-lich-keit, und Här-te zu-gleich. Was du thust, tu-e recht; sprichst du mit je-man-den, so den-ke auf das, was du hö-rest, lie-sest du, so prü-fe was du lie-sest. Ge-he nie-mals mü-ßig, so hast du nie-mals Lan-ge-wei-le, und Lan-ge-weile macht Ver-druß. Sprich und thu-e nichts, wo-von du nicht willst, daß es die gan-ze Welt sehen und hö-ren kön-ne.«

Vor allem der dritte Satz hat deutliche Spuren in der Lebensführung seiner Kinder und Kindeskinder hinterlassen.

Verwandtschaft und »Salons« Beschäftigt man sich mit Fanny Hensel, sind einige Kenntnisse der drei Generationen der Familie Mendelssohn seit ihrem Stammvater Moses unabdingbar, weil auf der Grundlage einer solchen Gesamtschau die widersprüchliche und für Fanny Hensel bestimmende Entwicklung der jüdischen Aufklärungs- und Akkulturationsbewegung zu beobachten ist. Dass Frauen in dieser Familiengeschichte oft entscheidende Kulturträgerinnen gewesen sind, dürfte von besonderem Gewicht gewesen sein für die Prägung von Selbstsicht und Zukunftsperspektive eines Mädchens. Beispiele hierfür aus der Kindheit von Fanny Mendelssohn, ob von ihr selbst erlebt oder von Verwandten mitgeteilt, können sich aus der folgenden Darstellung erahnen lassen (ein Familienbild bis ins 20. Jahrhundert bei Lackmann 2005). Die Spandauer Strasse, in welcher die Familie Moses Mendelssohns wohnte, war eine Art jüdisches Zentrum. Heute thronen Marx und

Die Familie

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Engels am einen Ende der Straße, und am anderen Ende liegt der Hackesche Markt, hinter dem der Alte Jüdische Friedhof liegt. Die Mendelssohns und einige ihrer engsten Freunde wohnten dort nah beieinander, etwa die Arzte Bloch und Herz sowie dessen Frau Henriette (1764-1847). Sie begründete Ende des Jahrhunderts nach französischem Vorbild einen der legendären Berliner jüdischen »Salons«, in welchem die Philosophen Schleiermacher und Fichte, die Brüder Humboldt, die Dichter Börne, Karl Philipp Moritz und Jean Paul sowie Fanny Mendelssohns Vater Abraham verkehrten. Dieser hat - doch wohl nicht als Einziger der Runde - während der Treffen auch musiziert, wie die Zeichnung eines weiteren Gastes zeigt, des Graphikers und Bildhauers Johann Gottfried Schadow - deijenige, der 1789 die Quadriga auf dem Brandenburger Tor entwarf (vgl. Schoeps 1992, S. 405). Ob im Hinblick auf die Intellektuellentreffen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts bereits von Salons zu sprechen ist, scheint in der Forschung umstritten (vgl. Borchardt 1999, Fußn.l; Wilhelmi 1989; Ballstädt 1998; Klein 2006). Lea Mendelssohn jedenfalls spricht 1798 nur von »Zirkel«, wenn sie diese Treffen meint (Klein 2005, S. 104), worin ihr die Tochter noch im Mai 1830 mit der Erwähnung von Berliner »cercles« nachfolgt (W), während der Sohn am 9. Mai 1825 - aus Paris - deutlich macht: »Soireen sind Concerte für Geld, u. Salons Gesellschaften.« (W) Allerdings gibt es 1835 auch bereits den Bilder-»Salon« (C, Nr. 69). Doch scheint es in diesem Jahre schon den Begriff im Verständnis der späteren bürgerlichen Wohnkultur zu geben (15. August aus Boulogne-sur-Mer, vielleicht aus fränzösischem Sprachgebrauch zitiert; W): »Zu der Thätigkeit, in den Salon zu gehen, u. dort nach einer Zeitung zu angeln, erheben wir uns selten, dazu muß man sich erst putzen.« Also das vornehmere Gesellschaftszimmer der großbürgerlichen Wohnung. Dass in jüdischen Zirkeln über Literatur, Theater und philosophisches Bildungsgut raisonniert, kaum jedoch musiziert wurde (Hahn 1999), dürfte für einige Zirkel, die Fanny Mendelssohn, dann Fanny Hensel besuchte, kaum gegolten haben, etwa für den Herzschen, eher vielleicht für denjenigen von Rahel Levin (1771-1833), seit 1814 verehelichte Varnhagen von Ense, da ihr umfangreicher und höchst informativer Briefwechsel Bemerkungen über Musik kaum enthält. Wenn sie selbst offenbar auch kaum musiziert hat, so tat es doch sicher einer ihrer Gäste, der ausgezeichnete Pianist Prinz Louis Ferdinand von Preußen, verstorben 1806. Ihm dürften Viele der aus dem Herzschen Salon Bekannten wie auch andere gelauscht haben, so Rahel Levins Freundin Pauline Wiesel und

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zwei Personen, die im Zusammenhang mit den Töchtern Moses Mendelssohns zu weiterer Erwähnung gelangen werden, der Dichter Clemens Brentano und der Philosoph Friedrich Schlegel. Dass in den jüdischen »Salons« durchaus Musik erklang, vermittelt eine gänzlich andere historische Quelle als diejenige der Briefkultur, nämlich »die Polemik gegen das akkulturierte Berliner Judentum« (Och 1999), geäußert in lebendigstem, vom Neid anderer Salons getragenen Antisemitismus, in einem Ton und einer Ausdrucksweise vorgetragen »Judengenossen«! -, die aus jüngerer Vergangenheit vertraut sind. Von hier bekannt sind auch die Argumente vom unverdauten, nur nachgeäfften Bildungsgut, welches die Juden sich aneigneten, um aus ihrer Niedrigkeit aufzusteigen und sich in der Nachahmung wirklicher und reflektierter Kultur großzutun. Die bei Och gesammelten Belege sind bedrückend in ihrer Häme und Hetze. Sie enthalten aber neben Kritik an den angeblich so aufgeblasenen Schwärmereien über Dichtung und Theater auch Bemerkungen über Bemühungen der Juden um Musikübung, etwa 1792 und 1797 über das »weibliche Geschlecht der Juden«, welches »recht viel zärtliche Arien singen und spielen gelernt« habe, oder einen »jungen, aufgeklärten Juden«, der aus einem Singspiel »eine oder die andere Arie daraus zum Zeitvertreibe [singt] - kurz, er verspricht in seiner Person, was wir von der aufblühenden Generation cultivirter Juden bei vermehrter politischer Freiheit zu erwarten haben.« (Zit. ebda., S. 77f.) Diese Zirkel der jüdischen Geistesgemeinschaft, wie sie sich in der ausufernden Briefkultur jener Zeit dokumentieren, darf man sich wohl nicht in allen Fallen allzu prächtig vorstellen als rauschende Versammlungen in geschmückten Sälen wie in den spätbürgerlichen Salons des 19. Jahrhunderts. Auch wenn oft von den »großen jüdischen Häusern« reicher Bankiers die Rede ist, waren es doch oft kleinere Zirkel ohne Standesschranken, vereint beim Tee in keineswegs sehr großen Räumlichkeiten - bei Rahel Levin war es eine Mansarde. Berichtet man von der väterlichen und mütterlichen Verwandtschaft der Geschwister Mendelssohn und vom engeren Bekanntenkreis dieser Verwandten, steht - wie schon bei Erwähnung der »Salons« - eine große Zahl wichtiger Mitglieder der frühromantischen Bewegung vor Augen, dabei auch Musikerpersönlichkeiten der Zeit um 1800. Vor allem die weiblichen Verwandten waren es, die diese Kontakte herstellten. Unter gut bürgerlichen Gesichtspunkten führten einige von ihnen ein geradezu wildes Leben, selbstbewusst, unangepasst, bewegt, respektlos und

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wissbegierig, und suchten auf diese Weise ihren Weg aus den engen jüdischen Familienkreisen in die nichtjüdische Kultur, in die Akkulturation der »Haskalah«.

Die Frauen

Von den Kindern Fromet und Moses Mendelssohns sollen zunächst die weiblichen aufgezählt werden, Fannys Tanten, ergänzt durch die Töchter Itzig der mütterlichen Linie. Zwei der drei Mädchen Mendelssohn wurden nach jüdischer Sitte vom Vater verheiratet. Die Folgen davon dürften für Fanny Mendelssohn im Hinblick auf Gedanken zur Eheschließung nicht ohne Einfluss gewesen sein. Brendel (1764-1839), die älteste Tochter, wurde mit dem zehn Jahre älteren Bankier Simon Veit verheiratet. Aus der Ehe entsprangen zwei Söhne, Jonas (Johannes) und Philipp Veit, beide Maler und so genannte Nazarener, die wie so viele andere dieser geistig-religiösen Künstlerbewegung in Rom ab 1810 der altitalienischen Malerschulen um Guido Reni und Raffael nacheiferten. Folgerichtig konvertierten sie im gleichen Jahr zum Katholizimus. Die Mutter hatte in ihren letzten Frankfurter Jahren außer einem Nachstich ihres Sohnes Philipp nach Raffaels Grablegung Christi auch Philipp Veits Gemälde Der anklopfende Heilande ihrem Zimmer hängen. 1797 verliebte sich Brendel, die sich inzwischen Dorothea nannte, im Berliner »Salon« der Henriette Herz in den acht Jahre jüngeren Friedrich Schlegel, mit Tieck, Novalis, Fichte und Schelling unter den frühen deutschen Romanikern. Schlegel, vergleichender Sprachwissenschaftler, Philosoph und Literaturkritiker, war befreundet mit dem Theologen Friedrich Schleiermacher (1768-1834), welcher das Paar, aber auch andere wichtige Personen der romantischen Bewegung während seiner Berliner Zeit begleitete, auch die Familie Mendelssohn. Dorothea Mendelssohn verließ ein Jahr später ihren reichen Ehemann für den mittellosen Intellektuellen und ließ sich 1799 scheiden. Ob sie hier und in der Zukunft dem weit verbreiteten Gebot der absoluten Unterwerfung des »Weibes« unter den Mann folgte oder selbstbewusst und unabhängig ins Risiko ging, lässt sich schwer entscheiden. Immerhin waren es für Fanny Hensel vertraute Autoren wie der Philo16

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soph Johann Gottlieb Fichte oder oder der Wissenschaftler Wilhelm von Humboldt, die schrieben: »Das Weib gibt, indem sie sich zum Mittel der Befriedigung des Mannes macht [...] Sie hat aufgehört, das Leben eines Individuums zu fuhren [...] Die Ruhe des Weibes hängt davon ab, daß sie ihrem Gatten unterworfen sei, und keinen anderen Willen habe als den seinigen [...] Je größer das Opfer, desto vollkommener ist die Befriedigung ihres Herzens.« (Zit. nach Stern 2004, S. 112)

Und: »Das Weib muß dienen und gehorchen, scheiden von jeder eigenen Lust, und sonder Klage im sauren Dienst der Stirne Schweiß vergeuden [...] Vergiß es nie; zu dulden und zu lieben Den, dem sie dient, ist das Weib geboren. Denn sie ist nicht zum Glück nach eigenen Trieben zu fremden Vorteils Werkzeug nur erkoren.« (Ebda., S. 261f.)

Vielleicht sah Rahel Levins Ehemann, der Diplomat und Schriftsteller Karl August Varnhagen von Ense, richtig, als er seiner Frau über Friedrich Schlegels Gefahrtin schrieb: »Ich kenne nichts peinlicheres als eine Frau, die ihrer Selbständigkeit zu Gunsten des Mannes, und wär's auch der Liebhaber, mit Fleiß entsagt.« (Ebda., S. 258) Umschrieben worden ist die Begegnung in Schlegels Roman Luctnde, erschienen 1799, für heutige Verhältnisse recht hochgestochen und philosophisch verbrämt, fiir Wohlanständige aus jener Zeit jedoch allzu freizügig, ja geradezu skandalös, da nicht nur der in der romantischen Bewegung propagierten freien Liebe das Wort geredet, sondern auch Sexuelles angedeutet wurde. Drei Jahre später schon erschien eine theatralische Parodie von Johann Daniel Falk, in welcher eine »Judenfrau« und »einige Berliner Jüdinnen« auftreten sowie ein »struppige[r] Tituskopf, der den modernen jüdisch-ästhetischen Kunstrichter machte.« (Zit. nach Och 1999, S. 88) Falls - vielleicht gegen 1820 - der heranwachsenden Fanny Mendelssohn die Lektüre nicht verboten worden war, konnte sie Folgendes aus der Feder ihres Onkels lesen: »Die Wollust wird in der einsamen Umarmung wieder, was sie im großen Ganzen ist - das heiligste Wunder der Natur, und was fiir andre nur etwas ist, dessen sie sich mit Recht schämen müssen, wird fiir uns wieder, was es an und für sich ist, das reine Feuer der edelsten Lebenskraft.« (Schlegel 1963, S. 98) Die Familie

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Oder: »Denn gewiß ist es, daß Männer von Natur bloß heiß und kalt sind: zur Wärme müssen sie erst gebildet werden. Aber die Frauen sind von Natur sinnlich und warm und haben Sinn für Wärme jeder Art.« (Ebda., S. 32)

Ein weiterer Einblick in Schlegels Gedanken ist insofern sinnvoll, als Schlegel neben dem Großvater Moses Mendelssohn der einflussreichste und wichtigste männliche Verwandte Fanny Mendelssohns war und man davon ausgehen muss, dass sie sich mit ihnen auseinandersetzte. Von Schlegel stammt die berühmte Formel von der »romantischen Poesie« als »progressiver Universalpoesie« (.Lyceum-Fragmente [1797], Schlegel 1964, S. 38). Er sprach - wie auch andere der frühen romantischen Zeitgenossen - ein überschwängliches Lob der »modernen Musik« aus, nämlich der neuen Instrumentalmusik, als unirdische Metapher des Unendlichen, ideologische Basis der Begeisterung ftir Mozart und Beethoven, wie sie die frühromantische Bewegung und mit ihr die Mendelssohns bewegte. Es sei »der heilige Hauch, der uns in den Tönen der Musik berührt [...] Er ist ein unendliches Wesen [...] für den wahren Dichter ist er alles dieses, so innig es auch seine Seele umschließen mag, nur Hindeutung auf das Höhere, Unendliche, Hieroglyphe der einen ewigen Liebe und der heiligen Lebensfülle der Natur. Nur die Phantasie kann das Rätsel dieser Liebe fassen und als Rätsel darstellen; und dieses Rätselhafte ist eine Quelle von dem Phantastischen in der Form aller poetischen Darstellung.« (Gespräch über die Poesie-, ebda., S. 513)

Mag Fanny Mendelssohn dieser Auffassung nahegestanden, vielleicht dadurch auch der ersten zitierten Passage aus der hucinde etwas abgewonnen haben, so ist es doch fraglich, ob ein Spross eines auf Rationalität ausgerichteten Bankiershauses eine andere der Schlegelschen Grundwahrheiten akzeptieren oder gar übernehmen konnte: »Denn das ist der Anfang aller Poesie, den Gang und die Gesetze aller vernünftig denkenden Vernunft aufzuheben und uns wieder in die schöne Verwirrung der Phantasie, in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen.« (Ebda., S. 502)

Darüberhinaus: Schlegel formulierte in seiner 1810 erschienenen Geschichte der alten und neuen Literatur eine äußerst eindrucksvolle und

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für die gesamte Zukunft leicht zu handhabende Rechtfertigung des politischen Sonderweges Deutschlands in der Umbruchssituation der Zeit um 1800: »Wie in Frankreich die alles beherrschende und alles auflösende Vernunft ihre zerstörerischen Wirkungen nach außen hin gewandt und das gesamte Leben der Nation zum furchtbaren Schauspiel für die Mitwelt und Nachwelt ergriffen hat; so nahm in Deutschland, dem Charakter der Nation gemäß, bei der äußern Gebundenheit der edelsten Kräfte, die absolute Vernunft ihre Richtung ganz nach innen, statt der bürgerlichen Revolutionen, in metaphysischem Kampfe Systeme erzeugend und wieder zerstörend.« (Schlegel 1961, S. 411f.)

Konnten die belesenen Geschwister in dieser Äußerung ihres berühmten Onkels nicht die allgemein kolportierte psychische und politische Physiognomie Beethovens wiedererkennen, wie er bei aller Begeisterung für die Französische Revolution und Bonaparte dann doch Deutschland und der Kunst treu geblieben sei, und konnten sie nicht, hierin zweifellos bestärkt durch ihre Eltern, diesen Satz als Auftrag erkennen, sich auch in anderen Situationen äußerer Unruhe und sozialer Spannungen - etwa antisemitischer Angriffe oder Behinderungen weiblicher Selbstständigkeit - »ganz nach innen« zu wenden und damit einen Beitrag zu einer typisch deutschen kulturellen Identität zu leisten? Dorothea und Friedrich Schlegel reisten nun gemeinsam und hielten sich zunächst in Jena auf, wo sich im Hause der noch zu erwähnenden Schwägerin von Friedrich Schlegel, Caroline Schlegel, unter Beteiligung auch der Dichter Novalis und Ludwig Tieck sowie des Philosophen Friedrich Wilhelm Schelling eine Art Wohn- und Arbeitsgemeinschaft herausbildete, die als »Romantikertreffen« bekannt wurde. Ab 1802 lebte das Paar einige Jahre in Paris und heiratete dort 1804, nachdem Dorothea zum Protestantismus übergetreten war. Hier veröffentlichte sie unter Friedrich Schlegels Namen Bücher über die Jungfrau von Orléans, Margarete von Valois und den Zauberer Merlin. 1808 wurde sie in Köln mit ihrem Mann katholisch - zwei Jahre vor den Söhnen. Ab 1809 führte Dorothea Schlegel in Wien einen sehr angesehenen »Salon«, in welchem neben vielen anderen der für Fanny Hensels Lieder so wichtige Dichter Joseph von Eichendorff verkehrte und eine noch zu erwähnende Musikerin des mütterlichen Zweiges der Geschwister Mendelssohn, Fanny von Arnstein. In den jüdischen Zirkeln scheint eine Art Aufbruchsstimmung geherrscht zu haben, sowohl die jüdische als auch ganz allgemein eine

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gesellschaftliche Emanzipation betreffend. Hier und da gibt es antifeudalistische Ausbrüche, so einmal einen brieflichen von Dorothea Schlegel (vgl. Stern 2004, S. 72), Hinweis darauf, dass anfangs die Französische Revolution Einfluss auf die Salon-Themen ausgeübt hat. Bald schon aber gewinnen patriotische und antifranzösische Haltungen an Gewicht, da doch Dorothea Schlegel die sogenannten Befreiungskriege ab 1813 zum »heiligen Krieg« und »Sache Gottes« stilisierte und ihren Sohn Philipp mit Hilfe des mütterlichen Erbteils ausrüstete, so dass er in einer Schwadron unter Führung des Dichters Friedrich de la Motte Fouque an der Völkerschlacht von Leipzig teilnehmen konnte (vgl. ebda., S. 264f.). Friedrich Schlegel, der als österreichischer Staatsbeamter an den Verhandlungen des Wiener Kongresses teilnahm, starb 1829. Dorothea, als Literatin und Briefautorin gerühmt, lebte ab 1818 flir zwei Jahre bei ihren Söhnen in Rom - und zwar wie viele Deutsche und so auch 1839 Fanny Hensel am Monte Pincio -, dann wieder in Wien und schließlich ab 1830, von ihren Brüdern Abraham und Joseph finanziell unterstützt, fiir ihre zehn letzten Jahre in Frankfurt am Main bei ihrem Sohn Philipp Veit, inzwischen Direktor des Städelschen Museums. Ein kurzer Ausflug in die weitere Verwandtschaft: Er verweist weiterhin darauf, dass der Kreis der Verwandten und Bekannten um die Familie Mendelssohn anmutet wie ein Who-is-who der deutschen Frühromantik. Andere Kinder als die Geschwister Mendelssohn hätte das wahrscheinlich belastet, nicht so diese. Sie scheinen diese Tatsache zu umfassender Bildung und Menschenkenntnis genutzt zu haben, nicht zur Ausbildung von Dünkel. Eine ganz andere Bedeutung und einen womöglich noch beunruhigenderen Einfluss als das Leben ihrer Tante Dorothea Schlegel dürfte dasjenige von deren Schwägerin Caroline (1763-1809) auf Fanny Mendelssohn Bartholdy gehabt haben. Tochter des Orientalisten Michaelis, lebte die junge Witwe nach kurzer Ehe in der französisch besetzten Mainzer Republik und trat in Kontakt mit Georg Forster, Naturforscher, Weltumsegler, Freund Alexander von Humboldts, seit 1792Jakobiner mit wichtigen Amtern des Rheinisch-Deutschen Nationalkonvents. Die inzwischen Dreißigjährige begeisterte sich für die Ideen der Französischen Revolution, wurde daraufhin nach dem Ende der Mainzer Republik inhaftiert, befreundete sich später mit Friedrich Schlegel, um 1796 dessen Bruder August Wilhelm zu heiraten, der als Literaturwissenschaftler, Indologe, Kunstkritiker, als einer der wichtigsten Theoretiker der Frühromantik überzeitliche Bedeutung gewann, vor allem aber durch 20

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seine Übersetzungen klassischer Dramen (Shakespeare, Calderón u. a.). 1803 verließ sie ihn und heiratete den Philosophen Friedrich Wilhelm Schelling. Ihr Jenaer Salon wurde bereits erwähnt. Unter anderem von hier ging die weiterwirkende Begeisterung für Goethe aus, für jenen Nimbus um den Weimarer »Olympier«, der auch Abraham Mendelssohn und seine Kinder anzog. Zum Kreis um Caroline Schlegel gehörten zeitweilig auch die Geschwister Clemens und Bettina Brentano, ersterer Herausgeber der Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn (1806-08) und wenig später wie der Mitherausgeber Achim von Arnim in einem antisemitisch agierenden Zirkel tätig (vgl. S. 42), letztere, Ehefrau von Arnims, eine der ungewöhnlichsten Frauen der Romantik, in ihrer Überspanntheit nicht immer leicht verständlich, angeblich Vertraute Beethovens und weitgereiste Brief- und Buchautorin, von 1810-1812 Mitglied in Carl Friedrich Zelters Berliner Singakademie, schließlich auch Komponistin zahlreicher Lieder, vor allem nach Texten ihres Mannes und Goethes. Seit 1811 bis zu ihrem Tode 1859 lebte sie in Berlin und führte ab 1836 einen - auch musikalischen - Salon, gehörte demnach zu den Bekannten von Fanny Hensel, vielleicht nicht zu den liebsten. Jedenfalls wird sie in Briefen und Tagebüchern kaum erwähnt. Zurück zu den Töchtern von Moses und Fromet Mendelssohn. Auch die Ehe der jüngeren Schwester Dorotheas, Recha (1767-1831), mit Mendel Meyer, einem mecklenburgischen Bankierssohn, endete bald. Nach der Scheidung betrieb sie eine Pensionsanstalt für junge Mädchen in Altona. Später lebte sie in Berlin in der Familie ihres Bruders Abraham. Ihre Nichte Fanny dürfte so aus erster Hand etwas über die Großeltern sowie über jene Probleme erfahren haben, die sich aus jüdischen Eheschließungen ergaben. Schließlich führten die Scheidungen der beiden Tanten in die Extreme des bürgerlichen Frauenbildes: Blaustrumpf und Hüterin. Recha dürfte sich sehr darüber gegrämt haben, dass in einer ab 1804 in Berlin aufgeführten Posse mit dem Titel Der travestirte Nathan der Weise die halbgebildete, aber lese-, musik- und theatersüchtige, immer wieder ins Jiddische verfallende Tochter ihren Namen trug. Die Titelvignette illustriert eine besonders perfide Szene des Stückes, in welcher Recha, indem sie Vater Nathan mit der Notenrolle taktiert, die Stelle aus Carl Heinrich Grauns Passionskantate Der Tod Jesu (1755) singt: »Jesus hat uns ein Vorbild gelassen, auf daß wir sollen nachfolgen seinen Fußstapfen« (vgl. Och 1999, S. 90ff.). Die Szene spielt auf einen angeblichen Widerspruch von jüdischer Teilnahme bei der Aufführung von Passionen

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an, welchen Jean Paul in einem Brief von 1797 in die Worte fasste, dass Juden »in Grauns Passion gegen sich selber« sängen (Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, Dritte Abteilung, Bd. III, hg. Eduard Berend, Berlin 1959, S. 19; zit. nach Och 1999, S. 81). Die Wiederaufführung der Matthäuspassion 1829 durch Fanny Mendelssohn Bartholdy und ihren Bruder Felix - ausgerechnet durch »einen Judenjungen«, wie er selbst sagte - dürfte bei einem Teil des Publikums ähnliche Gedanken ausgelöst haben und wohl auch bei einigen Mitgliedern der Berliner Singakadamie, als es wenig später um die - vergebliche - Bewerbung des »Judenjungen« um deren Leitung ging (vgl. S. 89). Die jüngste Schwester, offenbar zum Teil geleitet von dem, was die Schwestern vorlebten, bildete ein weiteres Extrem aus, wiederum verbunden mit dem Zauberwort Salon, nämlich jenes des Grande Dame: Henriette (1768-1831), die Tante »Jette«, war von ihrem Vater nicht verheiratet worden. Er hatte sie offenbar nicht - wie es hier zu Recht heißen darf - an den Mann bringen können oder wollen, weil sie wie er selbst »unansehnlich, etwas verwachsen« war, wie Rahel Levins Ehemann Varnhagen von Ense in seinen Lebenserinnerungen berichtet (zit. nach H I, S. 50). Zunächst Erzieherin in Wien, traf sie zu Beginn ihres langen Pariser Aufenthaltes ihren Bruder Abraham im Bankhaus Fould an, wurde bald wie die älteste Schwester Katholikin, nannte sich Maria Henriette, leitete zunächst ein Mädchenpensionat, und arbeitete ab 1812, finanziell gut abgesichert, als Erzieherin von Fanny Sebastiani, der Tochter eines napoleonischen Generals. Neben diesen Tätigkeiten war ein anderes Zentrum ihres Lebens, ihrer Ausstrahlung und ihrer überdauernden Bedeutung ihr »Salon«, das Treffen großer Geister, welches sich in ihrer luxuriösen Wohnung abspielte: Madame de Staël, Benjamin Constant, Friedrich und August Wilhelm Schlegel, Alexander von Humboldt - nach seiner grossen Südamerika-Expedition -, schließlich auch Bonapartes Staatskomponist Gaspare Spontini. 1825 kehrte sie in ihre Geburtsstadt Berlin zurück, wo Fanny Mendelssohn Bartholdy sie noch sechs Jahre lang erlebte. Die Briefe, die Henriette Mendelssohn ab 1803 an ihre Schwägerin Lea schrieb (Klein 2005), zeugen von ihrem wachen Verstand und ihrem klaren Urteil und dürften, da offenbar fast alle im Hause Mendelssohn eingehenden Briefe vorgelesen wurden, großen Einfluss auf die umfangreiche Briefkultur ihrer Nichte gehabt haben. Die Tante Henriette war offenbar, was Politik betrifft, aus einem anderen Holz als ihre älteste Schwester. Ausgerechnet an diese, welche die Befreiungskriege als »Sache Gottes« sah, und an deren Mann Friedrich

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Schlegel schrieb sie im Blick auf die patriotischen Wallungen in Deutschland kritische Sätze, deren Haltung sie wohl auch nicht ihrem Bruder Abraham vorenthalten haben dürfte, Unterstützer der kriegerischen Aktionen Preußens: »Es ist mir, als wäre Patriotismus keine christliche Tugend, und als wäre der Nationalhaß unvereinbar mit der Liebe, die Christus gelehrt und zu der er uns ermahnt [...] Für die Menschen hat der Herr gelitten, nicht für diese oder jene Nation!« (Zit. nach Stern 2004, S. 262)

Carl Friedrich Zelter, Leiter der Berliner Singakademie, Bach-Bewunderer und Kompositionslehrer der beiden Geschwister Mendelssohn Bartholdy, schrieb über Henriette Mendelssohn und ihr Auftreten in Paris (zit. nach Knobloch 1987, S. 308f.) an seinen Freund Goethe folgende Sätze, die es zu bedenken gilt: »Es gehört doch zu den Besonderheiten, wenn ein berlinisches Judenmädchen [,] ohne Persönlichkeit zur Dame eines der ersten Pariser Standeshäuser geworden, gar keinen Abstand in Sprache, Sitte und ökonomischem Benehmen bemerken läßt.«

Die späteren abschätzigen Äußerungen Zelters gegenüber Juden - wiederum an Goethe gerichtet - , lassen kaum vermuten, dass seine Äußerung von Bewunderung getragen ist, wohl eher von Verwunderung, dass eine solche Niedrigkeit »ohne Persönlichkeit«, also ohne gute Herkunft, es zu so Hohem gebracht hatte und das auch noch ausfüllte, da er doch sonst wie andere Autoren den »unverbesserliche [n] Charakter der angestammten Juden-Natureppes Rores< wenn aus einem Judensohne ein Künstler würde.« (zit. nach Konoid 1996, S. 29, nach Briefausgabe Goethe/Zelter, hg. Friedrich Wilhelm Riemer, Berlin 1834, Bd. III, S. 211f.)

Das vorgefasste Urteil: Aus Juden kann nichts Rechtes werden. Ausnahmen - »etwas Rares«, wie Zelter in nachgeahmtem Jiddisch schreibt sind umso erstaunlicher, so bereits in Zelters Urteil über Henriette Mendelssohn (vgl. S. 23). 1818 heiratet Recha Mendelssohns Tocher Rebecka (Betty) Heinrich Beer, Bruder von Giacomo Meyerbeer. Dieser schreibt ein Jahr später aus Italien an seinen Bruder Michael: »Vergiß nicht, was ich bei der Wahl meines Berufsstandes vergaß, das eiserne Wort Richesse [Judenhaß]. Von Individuum zu Individuum kann dies

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Wort für eine Zeitlang in Vergeßenheit gerathen (immer auch nicht) bei einem v e r s a m m e l t e n Publikum nie, denn es bedarf nur e i n e s der sich daran erinnert um der ganzen Maße ihr Natürel zurückzurufen.« (Zit. nach Becker 1980, S. 15)

Bereits ein Jahr später, 1819, bewahrheitete sich diese Ansicht. Durch Deutschland ging eine antisemitische Welle, Judensturm genannt, die sich auf Karlsruhe und Heidelberg konzentrierte, aber nicht beschränkte. Plünderungen, Angriffe, Verfolgungen, Beschimpfungen und Vertreibungen waren an der Tagesordnung. Vor dem zehnjährigen Felix Mendelssohn spuckte ein Prinz aus und rief: »Hep hep, Judenjunge!« So mitgeteilt in den Erinnerungen Varnhagens von Ense (zit. nach Konoid 1996, S. 76), wobei das Schimpfwort unterschiedliche Erklärungen gefunden hat, etwa als Abkürzung verstanden werden kann von »Hierosolyma est perdita« (Jerusalem ist verloren). Rahel Varnhagen, aus Karlsruhe informiert, war entsetzt (29. August 1819): »Ich bin gränzenlos traurig; und in einer Art wie ich es noch gar nicht war. Wegen der Juden. Was soll diese Unzahl Vertriebener thun. Behalten wollen sie sie: aber zum Peinigen u Verachten; zumjudenmauschel schimpfen; zum kleinen dürftigen Schacher; zum Fußstoß, und Treppenrunterwerfen. Die Gesinnung ist's die verwerffliche gemeine, vergiftete, durch und durch faule die mich so tief kränkt, bis zum herzerkalten? Schrek. Ich kenne mein Land! Leider. Eine unseelige Cassandra! Seit 3 Jahren sag' ich: Die Juden werden gestürmt werden: Ich habe Zeugen. Dies ist der deutsche Empöhrungs Muth. Und wie so? Weil es das gesitteste [!], gutmüthigste, friedliebenste, Obrigkeitsehrendste Volk ist, was es zu fordern hätte, weiß es nicht: nur Unterrichtete unter diesem Volk möchten es ihm lehren: unter diesen sind aber viele Ungebildeten, mit rohen Herzen; w o auch Raum für Neid ist, gegen eine große Zahl solcher Juden - die man kraft Relligionsauswüchse als Untergeordnete Wesen hassen, verachten und verfolgen dürfte.« (Rahel-Bibliothek 1983, Bd. IX, S. 582f.)

Felix Mendelssohn dürfte wie die ganze Familie ebenso »tief gekränkt« gewesen sein. Wie auch sollte sich der tief in einem Großteil der Bevölkerung eingewurzelte Judenhass verflüchtigen, da auch die geistigen Führer ihn in sich hatten, wie Rahel Varnhagen im Anschluss beklagt und Namen nennt, etwa den Beethovens: »da sie weder jud noch Italiener [...], so werden wir schon zusammen kommen.« (15. Dezember 1800 an Fr. A. Hoffmeister) Keine Wunder also, dass gerade in diesem Jahr die jüngste Errungenschaft der auf Moses Mendelssohn zurück gehenden Jüdischen Frey-

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schule, auch christliche Kinder aufzunehmen, wieder verboten wurde, so wie auch wesentliche Teile des Emanzipationsediktes von 1812 allmählich wieder zurück genommen wurden. Jedoch brachten die Hep-hep-Krawalle auch jüdische Aktivität hervor, etwa die von dem Hegel-Schüler und Familienfreund der Mendelssohns Eduard Gans am 7. September 1819 in Berlin betriebene Gründung des VereinsfiirCultur und Wissenschaß der Juden, der aber nur fünfJahre lang Bestand hatte und es nicht über 50 Mitglieder hinaus brachte, mithin sein Ziel, das Judentum zugleich zu reformieren und in die Gesellschaft zu integrieren, kaum verfolgen konnte. Die Absicht von Gans, auf der Basis des Emanzipationsediktes als Judaist in den Hochschuldienst zu treten, wurden 1822 durch königliche Ordre zunichte gemacht wie der gesamte Anspruch von Juden, an Hochschulen zu unterrichten (Angaben u. a. Schoeps 1992, Art. Freischulen, Gans, Verein; Klein 1997, S. 19).

Die Briefe von Abraham Mendelssohn Der Vater war in den Jahren 1817,1819 und 1820 auf Geschäftsreisen und hat von Hamburg, Amsterdam und Paris aus Briefe an die Kinder oder speziell an seine Tochter Fanny geschrieben, welche einen tiefen Einblick in seine Beziehung zu den Kindern, aber auch in sein eigenes Wesen geben. Ein späterer Brief zum 23. Geburtstag der Tochter im Jahre 1828, bei Sebastian Hensel im Anschluss an die genannten mitgeteilt, soll hier schon mit erwähnt werden, da er einen zusätzlichen Akzent setzt und Anlass für eine erstaunliche Reaktion des Enkels ist (H I, S. 90-100). Der Vater zeigt sich den Kindern fast durchgehend äußerst ernst und distanziert, fast ohne jede Regung eines Gefühls, ohne jeden Wunsch, man möge froh oder gar fröhlich sein. Nur in den Schlussformeln scheint etwas Gefühl auf. An die Kinder: »Ich freue mich sehr Euch alle bald wieder zu sehn, und grüsse Euch herzlich«, an Fanny: »[...] ich gedenke Eurer täglich und stündlich in Liebe. Dein treuer Vater« oder gar: »Dein Vater und Freund.« Hauptsächlich aber geht es um Pflicht, Verpflichtung, Ermahnung und Beurteilung. Der Schreiber strahlt nach innen und außen Disziplin aus, erscheint fast schon als tragische Person, als Vorbild für die Kinder nur tauglich, soweit es um ein geordnetes, arbeitsames und anständiFanny Caecilia Mendelssohn 1816-1822

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ges, nicht aber ein von Lebenslust und Fantasie bestimmtes Leben geht. Seinen Ausspruch »Früher war ich der Sohn meines Vater, jetzt bin ich der Vater meines Sohnes«, wie ihn Sebastian Hensel überliefert hat, kann man zwar als »bescheidenes humoristisches Wort« auffassen (Büchter-Römer 2001, S. 18), aber auch als ein Signal: Ich bin nichts neben ihnen. Weniger Fragen als Maximen zu menschlichen Werten, vor allem aber zu Religion und Judentum bilden das Zentrum dessen, was der ferne Vater den Kindern mitzuteilen hat. Diese Briefe sind insofern für ein Verständnis von Fanny Mendelssohn wichtig, als Elemente ihres Inhalts als Ersatz dienen können für fehlende überlieferte Bekenntnisse von Fanny Hensel über Sinn und Zweck des Lebens und über Glaubensfragen. Als sie die Briefe las, war sie zwischen 12 und 15 Jahren alt. »[...] durch Gehorsam zur Liebe, durch Ordnung zur Freiheit und Heiterkeit zu gelangen. Es ist das die würdigste Art, dem Schöpfer zu danken und ihn zu ehren«, heißt es einmal 1819, wobei mit Heiterkeit nicht Munterkeit oder gar Lustigkeit gemeint ist, sondern jene betrachtende Gelassenheit, die dem durch Moses Mendelssohn philosophisch geprägten Vater offenbar - wie auch schon Beethoven Anfang des Jahrhunderts von Plutarchs Schrift Von der Heiterkeit der Seele sowie von Heraklit als stoische Grundhaltung vermittelt worden war und die ihm wohl gerade für einen Juden in der Unsicherheit dieser Jahre als die einzig angemessene erschien. Uber die »stoischen Mienen« des Vaters äußerte sich ja gerade 1818 auch dessen Schwester Henriette (vgl. S. 50), um jedoch 1819, als sie ihn in Paris wieder sah, ihr Urteil völlig zu verändern: Ein »lieber, edler Mann« sei er, schreibt sie der Schwägerin. Er »scheint mir ganz resignirt, und ich muß es sagen, in manchem Andern noch sehr vortheilhaft verändert; er erkennt, dass er glücklich ist, fühlt es lebendig in sich, und das hat ihn veijüngt; ich finde ihn gar nicht mehr so heraklitisch, bloß ernst [...]« (H I, S. 105f.) Mit Resignation ist nicht etwa ein Aufgeben gemeint, sondern ein Sich-Ergeben, welches mehr im Betrachten als im Betreiben des Lebens besteht - »er erkennt, dass er glücklich ist«! Kein Wunder, dass der Vater sich zu Beginn der 1820er Jahre aus dem Geschäftsleben zurückzog. Die Schwester verwendete diesen zweiten Begriff der stoischen Lebensauffassung genau wie Beethoven in seinen Briefen an Franz Wegeier von Mitte 1801 - »Plutarch hat mich zu der Resignation geführt« - und wie nun auch der Vater selbst im Brief von 1819: Von Wichtigkeit 58

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sei, »was Euch zur Liebe, zum Gehorsam, zur Duldung und zur Resignation hinweist [...].« Gehorsam ist einer der beiden pädagogischen SchlüsselbegrifFe Abraham Mendeslssohns. Er entstammt der traditionellen jüdischen Sicht von Lebensführung und Erziehung - alttestamentarisch. Der andere Begriff heißt Gewissen - urprotestantisch. Auf Luther, dessen Thesenanschlag von 1517 gerade gefeiert worden war, geht die inhaltliche Neubestimmung des Wortes zurück, durch welche der Gehorsam dem Individuum verinnerlicht wird: Nicht mehr Gott oder die Mitmenschen prüfen, ob richtiges oder Fehlverhalten zu beobachten ist, sondern der Mensch selbst nimmt diese Beurteilung in ständiger Selbstprüfung und eigener Verantwortung vor. Das Gewissen gleicht dem Freudschen UberIch. Vor ihm ist kein Entrinnen möglich, wie es beim Gehorsam durch eine Verweigerung möglich wäre. In der Formulierung des Vaters von 1819: »Allein ich weiss, dass es in mir und in Dir und in allen Menschen einen ewigen Hang zu allem Guten, Wahren und Rechten und ein Gewissen giebt, welches uns mahnt und leitet, wenn wir uns davon entfernen.« »Jetzt aber sei, was Deine Menschenpflicht von Dir fordert, sei w a h r , t r e u , g u t , Deiner Mutter, und ich darf wohl auch fordern [!], Deinem Vater bis in den Tod gehorsam und ergeben, unausgesetzt aufmerksam auf die Stimme Deines Gewissens, das sich betäuben aber nicht berücken lässt, und so wirst Du Dir das höchste Glück erwerben, das Dir auf Erden zuteil werden kann, Einigkeit und Zufriedenheit mit Dir selbst.«

Den Eltern bis in den Tod gehorsam zu sein, ist eine im christlichen Abendland wenig bekannte Forderung, nicht aber in der Tradition des Judentums. Meyerbeer hat noch bis ins Alter bei vielen seiner Entscheidungen zuvor bei der Mutter - der Vater war bereits gestorben - Rat und Zustimmung eingeholt. Insofern ist der Frage nachzugehen, ob es der Tod des Vaters 1835 war, der dem Wunsch der Tochter nach Veröffentlichung ihrer Werke Auftrieb gegeben hat. Die erste Veröffentlichung unter ihrem Namen, das Lied Die Schiffende, erschien 1836! Denn der Gehorsam gegenüber dem väterlichen Gebot, musikalisch keinesfalls professionell zu werden, wie es der Brief von 1820 erstmals aufstellen wird, sollte j a nur »bis in den Tod« dauern. Was die Genauigkeit in der Auslegung der Gebote und ihrer Buchstaben angeht, ist die jüdische Denkkunst unübertrefflich. Allerdings: Die Familienautorität scheint bei den Mendelssohns nach dem Tod des Vaters nicht auf die Mutter über-

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gegangen zu sein, sondern auf den ältesten Sohn. Die Mutter regte ihn 1837 an, das Verbot zu lockern. Doch stimmte er nicht zu. Erstaunlich nüchtern und distanziert, zugleich wenig deutlich ist auch das, was Abraham Mendelssohn seiner Tochter zur Frage der Religion mitzuteilen hat, schon vor 1820, aber dann auch in diesem Jahr ihrer Konfirmation. 1817 heißt es in Nachfolge Moses Mendelssohns über denjenigen, dem mit einer vorbildlichen Lebensführung zu danken sei - typisch aufklärerisch die Verbindung von Deismus mit Gefühls- sowie Vernunfturteil: »Unser a l l e r Schöpfer. Es giebt - die Religion sei welche sie wolle nur e i n e n Gott, nur e i n e Tugend, nur e i n e Wahrheit, nur e i n Glück. Du findest alle, wenn Du der Stimme Deines Herzens folgst, lebe so, dass sie immer im Einklänge mit der Stimme Deiner Vernunft bleibt.« Nachdem die Familie, wahrscheinlich im Frühjahr 1820, aus dem Stägemannschen Hause - Pfarrer Stägemann war am 20. März gestorben in die etwas beengtere Wohnung im Hause von Lea Mendelssohns Mutter Bella an der Neuen Promenade umgezogen war, wiederum in der von Juden belebten Spandauer Vorstadt nahe dem Hackeschen Markt, wurde Fanny Mendelssohn am 21. Mai in der Parochialkirche konfirmiert. Dies war der Anlass für den Vater, ihr aus Paris einen Brief zu schreiben, der die Religionsfrage etwas direkter anspricht und aus welchem das Gewissen und Gehorsam Betreffende bereits genannt wurde. Schon die Einleitung befremdet: Er schreibt der nunmehr Fünfzehnjährigen, er fühle sich »gedrungen, über Manches, was bis jetzt zwischen uns nicht zur Sprache gekommen, ernsthaft zu reden.« Sollten die im folgenden gestellten Fragen - »Ob Gott ist? Was Gott sei? Ob ein Theil unserer Selbst ewig sei und, nachdem der andere Theil vergangen, fortlebe? und wo? und wie?« - tatsächlich in diesen für Juden in Fragen der Religion und eines Religionsübertrittes äußerst bedrohlichen Zeiten im Hause Mendelssohn, zumindest durch den Vater, noch nie angesprochen worden sein? Kaum vorstellbar, aber offenbar der Wahrheit entsprechend, wohl auch deshalb, weil die Antwort des Vaters lautet: »Alles das weiß ich nicht, und habe Dich deswegen nie etwas darüber gelehrt.« Stattdessen folgen die Auslassungen über das Gewissen mit dem Schluss: »Ich weiß es, glaube daran, lebe in diesem Glauben und er ist meine Religion.« Eine Religion ohne höheres Wesen? Auf die Bemerkung aus dem Vorjahr, es gebe »- die Religion sei welche sie wolle - nur e i n e n Gott«, kommt er nicht zurück, sondern ersetzt sie durch Gedanken, welche laut Wolfgang Dinglinger (1999,

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S. 291) teilweise auf Lessing zurückgehen. Sie sind in ihrer philosophischen Knappheit von einem Pragmatismus geprägt, der den weihevollen Gefühlen, welche eine Konfirmation auslösen kann, wenig entspricht. Fasst man zusammen, wie der Vater der Tochter gegenüber den Wechsel zum Christentum rechtfertigt, kann man kaum schließen, der Glaube der Eltern habe sich tatsächlich zu dieser Religion geneigt: »Vor einigen tausend Jahren war die jüdische Form die herrschende, dann die heidnische [offenbar die der griechisch-römischen Antike], jetzt ist es die christliche. Wir, Deine Mutter und ich, sind von unseren Eltern im Judenthum geboren und erzogen worden und haben, ohne die Form verändern zu müssen, dem Gott in uns und unserem Gewissen zu folgen gewußt. Wir haben Euch, Dich und Deine Geschwister, im Christenthum erzogen, weil es die Glaubensform der meisten gesitteten Menschen ist und nichts enthält, was Euch vom Guten ableitet, vielmehr Manches« Manches! -, was zu den bereits zitierten höheren Werten bis hin zur »Resignation« hinleite, »sei es auch nur das Beispiel des Urhebers von so Wenigen erkannt, und noch Wenigeren befolgt.« Und schließlich: »Du hast durch Ablegung Deines Glaubensbekenntnisses erfüllt, was die G e s e l l s c h a f t von Dir fordert und h e i s s e s t eine Christin. Jetzt aber sei, was Deine Menschenpflicht von Dir fordert, sei w a h r , t r e u , g u t [...].« Und es folgt die Mahnung zu Gehorsam und zum Hören aufs Gewissen.

Vor allem die letzten beiden Sätze mit den von Sebastian Hensel überlieferten Sperrungen und den zweierlei Arten von Forderungen lassen doch Erinnerungen an die Zweifel lebendig werden, die Lea Salomon 1799 äußerte (vgl. S. 36). Das »Jetzt aber...« könnte auf fatale Weise interpretiert werden und von der Tochter interpretiert worden sein: Nachdem Du alles hinter Dir hast und so den gesellschaftlichen Anforderungen Genüge geleistet hast, kannst Du endlich Mensch sein, ohne einen bestimmten Glauben! Auch wenn der Vater gezweifelt haben mochte, ob es recht war, die Kinder taufen zu lassen, und auch wenn er in den Briefen an die Tochter in der Darstellung des Religionswechsels recht moderat erscheint, so dürfte doch im Grunde eine völlig andere und radikalere Haltung hinter all dem stehen, die sich entweder um 1820 in Abraham Mendelssohn erst bildete oder schon immer vorhanden war: Sie betrifft »Vaters tiefen Haß gegen das Judentum«, an den sich Fannys Schwester Rebecka 1855 Sebastian Hensel gegenüber erinnert (Sebastian Hensel, ein Lebensbild..., S. 185; zit. nach Schwarz-Danuser 1999, Desiderata, S. XXV), und seine dementsprechende Wendung gegen die »veraltetste, verdorbenste, zweckwidrigste« aller Religionen, wie er seinem Sohn Fanny Caecilia Mendelssohn 1 8 1 6 - 1 8 2 2

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Felix am 8. Juli 1829 mit der Aufforderung schreibt, den »lächerlichen« Namen Mendelssohn zugunsten Bartholdy aufzugeben (W, S. 432f., Anm. 280): »Einen christlichen Mendelssohn giebt es eben so wenig als einen jüdischen Confucius. Heißt Du Mendelssohn, so bist Du eo ipso ein Jude, und das taugt Dir nichts, schon weil es nicht wahr ist.« Oben wurde gefragt: Eine Religion ohne höheres Wesen? Klang es bisher so, als sei dies tatsächlich des Vaters Haltung gewesen - »der Gott in uns« -, so stellt sich in anderen Passagen der Briefe heraus: Es gibt ein höheres Wesen, und zwar eines, das für Fanny Mendelssohns Selbstbild als Frau von immenser Bedeutung gewesen sein musste und gewesen ist: die eigene Mutter. Auf welche Weise der Vater sie zum Vorbild weiht, geht über alles hinaus, woran man sich bei Sakralisierung der Mutterrolle hat gewöhnen müssen, und macht es schwierig, sich Abraham Mendelssohns Verhältnis zu seiner Frau auszumalen. 1819 äußert sich der Vater zufrieden darüber, was er über Fannys Fortschritte im privaten Konfirmandenunterricht erfahren hat, und gibt weiterführende Ermahnungen, die in dem Hinweis gipfeln: »Laß es vor allem d i e Wirkung haben, dass Du stets eifriger bemüht seiest, der nie genug zu liebenden und zu ehrenden Mutter zu Gefallen zu leben [...]«. Meint man, diese Mahnung sei noch durchaus im Rahmen des einst Üblichen wie auch die Schlusswendung des Konfirmationsbriefes - »und hoffe stets in Dir die würdige Tochter Deiner, unserer Mutter zu finden« -, so wird man doch anderen Sinnes, wenn man zu Beginn dieses Schriftstückes eine Passage findet, welche offenbar zum Ersatz dient für die Ratlosigkeit, die der Vater bei der Anforderung einräumt, Ratschläge zu religiösen Fragen zu erteilen. Die Gewissensreligion, zu welcher sich der Vater bekennt, könne »Niemand erlernen«, es sei denn, dass er sie »absichtlich oder wissentlich verläugnet; und dass Du das nicht würdest, dafiir bürgte mir das Beispiel Deiner Mutter, dieser edelsten, würdigsten Mutter, deren ganzes Leben Pflichterfüllung, Liebe, Wohlthun ist, dieser Religion in Menschengestalt. Du wuchsest heran unter ihrem Schutze, in stetem Anschauen und unbewusster Nachahmung und Gewohnheit dessen, was dem Menschen einen Werth giebt. Deine Mutter war und ist, und mein Herz sagt mir, sie wird noch lange bleiben Deine und Deiner Geschwister und unser Aller Vorsehung und Leitstern aufunserm Lebenspfade. Wenn Du sie betrachtest, wenn Du das unermessliche Gute, das sie Dir, solange Du lebst mit steter Aufopferung und Hingebung erwiesen, erwägst und dann in Dankbarkeit, Liebe und Ehrfurcht Dir das Herz auf- und die Augen übergehen, so fühlst Du Gott und bist fromm.«

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Und er scheut sich nicht, unmittelbar anzuschließen: »Das ist Alles, was ich Dir über Religion sagen kann, alles, was ich davon weiss; aber das wird wahr bleiben, solange ein Mensch in der Schöpfung existirt, wie es wahr gewesen, seitdem der erste erschaffen worden.« Solches zu formulieren, scheint der Vater die Schriftform nötig gehabt zu haben. Ein Brief solchen Inhalts an den Bruder ist nicht überliefert. Und es muss nicht unbedingt eine gewisse, aus dem Pariser Heimweh geborene überschießende Gedankeschwäche sein, die den Vater zu solcher Blasphemie gebracht hat. Wie soll eine Tochter Selbständigkeit erlangen, der die Mutter als gottähnliches Wesen angepriesen wird, und wie soll eine Mutter sich ihrer Tochter gegenüber noch unbefangen verhalten, wenn sie von solchen Zuschreibungen erfahrt, was im Hause Mendelssohn bei der öffentlich gehandelten Briefkultur eine Selbstverständlichkeit war? Geht doch solche Heiligung der Mutter zur Schwester Christi wesentlich weiter als der »sehr jüdische Kult um die Muttergestalt und Vatergewalt« (Tillard 1994, S. 67). Vielmehr ist es durchaus möglich, dass der Vater diese Heiligenlegende der Selbstaufopferung ersann, um die Tochter auf den zweiten Brief aus Paris vorzubereiten und einzustimmen, der zwei Monate nach dem ersten verfasst wurde und den ersten wahrscheinlich als begründenden Hintergrund benötigt. Dessen Fazit: Nimm Dir Deine unerreichbare Mutter als Vorbild - »besser als sie wird man nun einmal nicht.« (1819) Dieser zweite Brief des Vaters von 1820 enthält eine Ermahnung zur musikalischen Enthaltsamkeit, was Françoise Tillard zu der Kapitelüberschrift Gebrochene Schwingen verfuhrt hat, zwar der deutschen Ubersetzung von 1994 entstammend, aber doch wohl genauso mit dem Placet der Autorin versehen wie der ähnlich larmoyante Buchtitel Die verkannte Schwester - wie insgesamt das Buch getragen ist von einem Ton ständigen Mitleids für die angeblich fortwährend herabgesetzte Fanny Mendelssohn bzw. Hensel, der dem Bild der Protagonistin eher schadet als nützt (auch Dege 2001, S. 83ff.). Der Vater: »Was Du mir über Dein musikalisches Treiben im Verhältniss zu Felix in einem Deiner früheren Briefe geschrieben, war eben so wohl gedacht wie ausgedrückt. [Sollte etwa die Tochter in vorauseilendem Gehorsam bereits vorgedacht haben, was sie »im Verhältnis zu Felix« anders geplant habe als er, nämlich Dasjenige, was in der väterlichen Ausformung nun folgt?] Die Musik wird für ihn vielleicht Beruf, während sie fur Dich stets nur Zierde, niemals Grundbass Deines Seins und Thuns werden kann und soll; ihm ist daher

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Ehrgeiz, Begierde, sich geltend zu machen in einer Angelegenheit, die ihm sehr wichtig vorkommt, weil er sich dazu berufen fühlt, eher nachzusehn, während es Dich nicht weniger ehrt, dass Du von jeher Dich in diesen Fallen gutmüthig und vernünftig bezeugt und durch Deine Freude an dem Beifall, den er sich erworben, bewiesen hast, dass Du ihn Dir an seiner Stelle auch würdest verdienen können. Beharre in dieser Gesinnung und diesem Betragen, sie sind weiblich, und nur das Weibliche ziert die Frauen.« Ist der Schlusssatz von bedrückender, aber zeitüblicher Flachheit, an Schillers Lehrgedichte über Frauen und die weiblichen Werte gemahnend, so fallt der vorletzte, der diese Sentenz begründen soll, durch seine schwer durchdringbare Unlogik auf, ausgelöst offenbar durch die Unmöglichkeit, die Zukunftsbestimmung aus bisherigen Erfahrungen abzuleiten- »dass Du ihn Dir an seiner Stelle auch würdest verdienen können«. Warum soll ein Mädchen, das dem Bruder die Erfolge gönnt, nicht Musikerin werden können? Weitere erzieherische Eingriffe des Vaters erscheinen nur auf den ersten Blick unbedeutend. Einmal enthalten sie die Ermahnung, die Tochter solle nicht »blos vom Theater« berichten - sie zählt 14 Jahre! -, sondern von ihren eigenen Gedanken und Gefühlen sowie von der Familie. Auch Äußerungen zu anderen Bereichen sind nicht ohne Brisanz und erweitern die Möglichkeiten, von Fanny Mendelssohns Erziehung zu erfahren. Sie seien hier unkommentiert aufgeführt: »Führe Dich gut, fleissig und folgsam auf, ich bringe Dir etwas sehr Schönes mit, das Du Dir aber auch verdienen musst.« [1817] »Es macht Dir Ehre, dass Dich B.s üble Spässe nicht erfreuen; ich finde auch keinen sonderlichen Geschmack daran, und es ist ein sündhaftes Bestreben, Lachen erregen zu wollen auf Kosten des Guten und Schönen. Leider beschränkt sich hierauf fast allein die Unterhaltung und das Leben in der Gesellschaft.« [1817] »Du schreibst: >M. versichert mich, wenn Du hier gewesen wärest, sei sie nach B. mitgegangen< - das ist fehlerhaft, es muss heißen, >würde sie nach B. mitgegangen seinmüssen< instead of >muß.wendensenden< fits here, so perhaps she made a mistake. The latter is assumed for the translation.« Sieht man vom falschen Wortverständnis ab, so hätte man eine Übersendung von Noten vom Haupthaus Leipziger Straße Nr. 3, wo die Mutter wohnte, ins Gartenhaus, wo Hensels wohnten, ohnehin schon als wenig wahrscheinlich annehmen müssen. Eine ausfuhrliche Darstellung der zahlreichen Fehler bei Weissweiler ist zu finden bei Rudolf Elvers (1999). Der Autor las die Briefe in Original oder Kopie wie die Herausgeberin. Felix Mendelssohn Bartholdy schreibt am 27. März 1825 aus Paris, beginnend mit einem für ihn typischen Scherz: »Um gleich ab ovo zu deutsch den Variationen anzufangen [...]«. In Weissweilers Ausgabe, kaum glaublich und ohne Erklärung: »ab 000«! Wenig später, immer noch auf die Variationen bezogen: »Auf welches Thema? Norwegen!« So liest Elvers. Bei Weissweiler: »Von wegen!« Es wird also notwendig sein, mit größter Vorsicht zu zitieren, und zwar nur solche Stellen, die nach Abgleich der beiden Ausgaben gleich sind und daher als fehlerlos anzunehmen sind, auch unter Berücksichtigung der Bemerkungen von Elvers. Zu den Desiderata der Forschung (SchwarzDanuser 1999, Vorwort) gehört mit Sicherheit in erster Linie eine wissenschaftlich exakte Edition des Briefwechsels. Werden im Folgenden Briefe nur mit Daten zitiert, so sind sie entweder nur in einer der beiden Ausgaben enthalten oder in beiden und zeigen beim Vergleich weitestgehende Textübereinstimmung. In anderen Fallen ist mit den Siglen diejenige Ausgabe gekennzeichnet, welcher die spezielle Version entspringt, oder es sind mit Siglen die Unterschiede der beiden Ausgaben markiert. (Wegen des Geschwisterverhältnisse werden entgegen der Vorbemerkung des Buches die Beiden lediglich mit Vornamen genannt.) Fanny nennt Felix bis 1830 recht häufig »Mein Sohn« und »Mein lieber Sohn«, einmal auch »Mon fils«, sicherlich ironisch angesichts der nur vier Jahre Altersunterschied, offenbar Rest aus einstigen Fürsorgejahren der älteren Schwester, die den »lieben Sohn« - wie ihn Zelter auch nennt (H I, S. 139) - auch jetzt noch in Einigem zurechtweisen muss, so am 3. November 1821: Er hat doch tatsächlich seinen letzten Brief mit dem 32. Oktober datiert. »Zweitens mußt Du bei der Aufschrift Deiner Briefe, den Ort rechts setzen, u. nicht links [...].« (C). Weitere Namen: Lieber Bursche, mein Junge, alter Junge, mein Alter, Balg, Clown, mein Hamletchen, Du armer Tantalus, geliebter Schatz, Fanny Caecilia Mendelssohn 1 8 1 6 - 1 8 2 2

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Haupthahn, mein Generalstab, Du großer Censor, Lamm, Liebes Lamm oder volksliednah Lieb Lamm - am 16. Februar 1827 einmal recht rätselhaft: »grüß den Löwen, der ein Lamm von mir ist [...]« (C). Auch taucht im Juli 1930 eine Kindheitserinnerung auf (W): »Weißt Du noch, wie wir Dich sonst [einst] Grelix nannten?« Eine Verballhornung des Vornamens, wie sie auch eine weitere erstaunliche Wortbildung bestimmt: »Was sagst Du nun, Flesch?« (C, 3. November 1821, »Flesch« nur als Vermutung eines »nickname«, da nicht deutlich lesbar, bei W dagegen unbefragt, jedoch unter dem falschen Datum 6. November 1821; vgl. Elvers 1999, S. 139). Nach 1830 nehmen die Kosenamen ab aus Gründen, die noch zu erörtern sind. Doch tauchen andere auf, die sicherlich nicht neu erdacht, sondern zuvor nur nicht schriftlich in Erscheinung getreten sind: Felixmännchen, Felixchen, Feiice, mein Dummerchen, einmal sogar nach der Frage, warum er denn einige seiner Lieder vierstimmig gesetzt habe: »Sprich, guter Ali.« (W 18. Februar 1834, bei C circa 27. Februar 1834) Eine Aufforderung an ein Tier, etwa einen Hund oder einen Papagei, ein Literaturzitat wie so viele andere in den Briefen, vielleicht aus Kinderbüchern oder 1001 NacM Da die Schwestern in der Familie als Fischottern oder auch als Geren bezeichnet werden - Gören, niederdeutsch für Kinder -, nennt sich Fanny häufig »ältere Fischotter« oder auch »älteste Gere«, grüßt von den »Gerenheimern« insgesamt (29. Juli 1829) und geht später am 5. Juli 1839 sogar so weit, sie habe noch »keine pikantere Verbindung von frischer Grandiosität mit dörflichem, winkligem, wiesigem Kleinleben u. Gerengenre« gefunden als in Heringsdorf, Ferienaufenthalt an der Ostsee. Felix bleibt für Fanny bei Otter, hat aber noch einige spezielle Bezeichnungen parat, die offenbar der Bach-Liebe der Schwester entspringen: Cantor, Cantorgesicht oder gar einen »weisen, u. cantormäßigen Otter« (30. April 1829 aus London). Standardbezeichnung ist Fenchel, wohl eine kindliche Namensverdrehung, und zwar maskulin: »Lieber Fenchel!«, sicherlich entstanden nach der Bezeichnung der Genuß- und Heilpflanze, deren Tee doch so nützlich ist zur Beruhigung kleiner Kinder. Der »Fenchel« durchzieht alle Briefe bis in die späteren Jahre, wie überhaupt ein Einschnitt beim Gebrauch von Kosenamen und teilweise auch Witzen um 1830 wie bei Fanny nicht zu erkennen ist. Ja, er zieht in späteren Jahren sogar noch einige bisher unbekannte Spitznamen aus dem Ärmel, die schon älteren Datums sein dürften, angefangen mit dem erstaunlichen »schönen Dank, mein alter Junge« (14. Februar 1841) bis

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hin zu so bemerkenswerten Namen wie Grimmhild - »von jeher« habe Felix sie so bezeichnet, erinnert sich Fanny (2. Juni 1837) -, Drude und »Tallyerand« (beides 29. Dezember 1838; richtig »Talleyrand«, Irrtum von Felix oder bei W), schließlich sogar zum Geburtstag 14. November 1843 (13. November): »Geburtstagsfenchel, Cantorgesicht, Drude, Catomutter, lebewohl, auf baldig Wiedersehen!« Im Unterschied zu den Spitznamen für den Bruder, die zwischen Burschikosität und freundlicher Nähe schwanken, zeugen jene fiir die Schwester, vor allem die letztgenannten, von einigem Respekt gegenüber der Alteren. Immerhin kann das Gesicht von Bach, dem »Cantor mit den schwerfalligen Augenbrauen« (C, S. 396; 23. April 1829), Ehrfurcht einflößen - vielleicht konnte die kleine Fanny es besonders gut nachmachen -, ist eine Drude ein nächtlicher Geist, der auch Kinder schreckt, entsprechend Grimmhild statt Krimhild, ist Talleyrand einer der ganz Großen der Revolution und der napoleonischen Kriege, allerdings auch der bourbonischen Reaktion, all dies zur Kinderzeit der Geschwister. Die Catomutter bleibt ein Geheimnis, es sei denn, es werde auf die Mutter der altrömischen Catonen angespielt, welche einen Ruf als Alleinerziehende genoss. Die Anrede »Mein Sohn!« würde dann einen neuerlichen und doppelt ironischen Sinn erhalten, aber auch einen ernsten. Schreibt doch die Schwester 1822 (H I, S. 135): »Bis zu dem jetzigen Zeitpunkt besitze ich sein uneingeschränktes Vertrauen. Ich habe sein Talent sich Schritt vor Schritt entwickeln sehen und selbst gewissermassen zu seiner Ausbildung beigetragen. Er hat keinen musikalischen Rathgeber als mich, auch sendet er nie einen Gedanken auf s Papier, ohne ihn mir vorher zur Prüfung vorgelegt zu haben. So habe ich seine Opern [offenbar die Jugendsingspiele] z. B. auswendig gewusst, noch ehe eine Note aufgeschrieben war.«

Sie legte sogleich einen Lebensabriss und ein - verschollenes - Werkverzeichnis des Bruders an, welches sie bis 1830 fortführte (vgl. Klein 1997, S. 136). In der Menge von Witz und Humor ist die Schwester dem Bruder überlegen. Erfindet sie oft grössere ironische Bild- und Wortzusammenhänge, bleibt er eher bei Einzelwörtern, sieht man von zwei Ausnahmen ab, die die Schwester ungemein amüsiert haben müssen, da es dabei um zwei für den Austausch zwischen den Geschwistern zentrale Punkte geht, einmal Kritik der Schwester am Bruder, dann ihr Interesse an seinen Produktionen. Fanny Caecilia Mendelssohn 1 8 1 6 - 1 8 2 2

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Die Schwester hatte sich beschwert, dass Felix im Sommer 1824 aus Bad Doberan nur Familienbriefe, nicht aber separate Briefe an sie geschrieben hat. Er lehnt die Forderung von »Fräulein Fanny Caecilie Mendelssohn Bartholdy« - im Brief vom 14. Juli dreimal wiederholt - ab, weil zu umständlich, und schließt an: »Erzürne mich nicht! Du weißt, wenn der Löwe brüllt, so hallen Wälder und Schluchten wieder, vom dumpfen Geräusch seines Rasens« - nicht ohne vorsichtshalber noch anzufügen: »(ich weiß, Du liebst Unsinn)«. Am 7. Juli 1826 berichtet er von einem Gespräch mit dem preußischen Generalmusikdirektor Gaspare Spontini, in der Berliner Szene genannt »Pupini«, in welchem er die Auffiihrungsvorbereitungen seiner eigenen Oper Die Hochzeit des Camacho zu beschleunigen sucht (Uraufführung im April 1827). Spontini sagt während des Gesprächs die Auffuhrung für September, kurz darauf aber »schon im Oktober« (!) voraus. Im Brief daraufhin »ein kleines Regle de foi - Exempel [Offenbar ein Lesefehler bei W, da eine règle de trois gemeint ist, eine Dreisatzaufgabe] : Wenn sich ein Ding in einer halben Stunde um einen Monat verschiebt, um wieviel Jahre verschiebt sich's dann in 14 Tagen? Indessen hör' ich doch schon vom Ausschreiben [der Stimmen] sprechen, und das ist doch etwas. Lassen se se man; sagt Frau Möllern.« Der Ausflug in die Berliner Alltagssprache kommt zwischen Beiden immer wieder vor und weist auf die Gemeinsamkeit der Berliner Jugend. »Wir huckten auf der Erde« oder »Ja Kuchen!« statt »Von wegen!« heißt es da in Briefen von 1825. Uber alle Jahre hinweg garniert das Modewort »hübsch« alles, vor allem von Fannys Seite, ob niedrig, ob hoch, wenn es nur positive Gefühle auslöst. Eine Liebesbegegnung kann genauso »hübsch« sein wie der Duft eines Blümchens oder - ironisch - ein Misserfolg. Heute: »cool«. Bei den Witzen und Späßen der Schwester kommt man durch das Jahrzehnt auf mindestens zwanzig gute Beispiele. Für einige von ihnen sollte außer auf Heinrich Heine auch auf Jean Paul als Vorbild hingewiesen werden. Obwohl die Daten der Briefe, auch bei Fortsetzung am nächsten Tag, recht genau vermerkt werden, plötzlich nach einem Abbruch, etwa am 29. Juni 1829: »Irgend einen Abend«. Nach der Lektüre eines brüderlichen Briefes »[...] bin ich so butterweich, dass man mich auf jedes Brodt streichen kann.« (1. Mai 1829) Eine dicke Backe nach gezogenem Zahn kann die Hochzeitsvorbereitungen nicht hindern: »Ich stehe über mir selbst, und kenne mich u. die Welt, (patetico)« (22. September 1829) Ein

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sehr hochgestochenes Gespräch über Kunstausstellungen: »Zuweilen gibt es auch hier solche Musikkunstgespräche, wobei zw/-den Mund aufsperren, u. mit der Nase hören.« (25. Oktober 1828) Am 25. April 1825 an den Bruder in Paris, dass »Deine Anlage zum Schuhuhismus sich glänzend in P. entwickelt« - Schuhu ist im Familienjargon ein Kritikaster -, gefolgt von einem Gedanken zu einer seltsame Berliner Programmfolge: »Ist es nicht eine ungemein glückliche Idee, die Pastoralsymphonie vor dem [Händel-Oratorium] Samson zu geben? Samson war just so ein Landmann, mit Dudelsack, Wachtel u. Nachtigall.« Karl Klingemann, einer der engsten Freunde der Geschwister, Hannoverscher Gesandter in Berlin - wo er ab 1825 im Mendelssohnschen Hause wohnte -, ab 1827 dann in London, trifft dort 1829 oft mit Felix Mendelssohn Bartholdy während dessen Englandreise zusammen. Die Schwester beklagt sich am 12. Mai, dass in den Briefen des Bruders von dem Freund so wenig die Rede ist und warum »der Rüpel selbst nicht schreibt? Siehst Du ihn denn so wenig, thust Du's, so erinnere ihn doch, dass ich ein junger Mensch bin, heiße so u. so, bin der u. der, wohne da u. da [...; Auslassungen bei W, in C fehlt der Brief] Adieu, mein Schatz, befinde Dich wohl in Deinem weiten Himmelbett, welches wieder in einem noch weiteren Himmelbett, London, steht, wo schon Platz für einen Sterblichen ist, sich umzudrehen. Addio, leb wohl, u. sey vergnügt.« 10. November 1829, frei nach Eichendorffs und anderer Naturgedichten: »Die Luft ist blau, das Thal ist weiß, so fanden wirs diesen Morgen, u. sind dieser Weisheit gar nicht grün, so lange Du nicht zu Hause bist.« Ein Scherz von Juni 1829, offenbar hervorgegangen aus der Freude am Gartenleben in der seit 1825 bewohnten Leipziger Straße Nr. 3 (W 13., C 11. Juni, evtl. gar von Rebecka). Bezugspunkt ist ein Gedicht von Heinrich Heine, wohlbekannt aus der Komposition von Robert Schumann, nämlich die Nr. 3 aus dem Lyrischen Intermezzo von 1822/23: Die Rose, die Lilie, die Taube, die Sonne, Die liebt ich einst alle in Liebeswonne. Ich lieb sie nicht mehr, ich liebe alleine Die Kleine, die Feine, die Reine, die Eine; Sie selber, aller Liebe Bronne, Ist Rose und Lilie und Taube und Sonne.

Fanny - noch - Mendelssohn Bartholdy (Hochzeitstag 3. Oktober 1829): »O Rose, o Lilie, o Stachelbeere! Daß doch jedes Ding so wie Fanny Caecilia Mendelssohn 1 8 1 6 - 1 8 2 2

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nach Marx seine Philosophie, so nach mir seine Poesie hat.« (Eine kleine Kritik an dem mit den Mendelssohns befreundeten Musikschriftsteller Adolf Bernhard Marx?) Heine war übrigens gerade in diesem Jahre bei Mendelssohns zu Gast und ließ später brieflich von dem Familienfreund Johann Gustav Droysen auf eine ihm eigene, recht unangenehme Art »Fräulein Fannys schöne Augen« grüßen, »die zu den schönsten gehören, die ich jemals gesehen. Die dicke Rebecka, ja, grüßen Sie mir auch diese dicke Person, das liebe Kind, so hübsch, so gut, jedes Pfund ein Engel.« (Zit. nach Droysen Briefwechsel I, S. 9, bei W, S. 429, Anm. 215) Ein Scherzrätsel, das in den beiden Briefen vom und unmittelbar nach dem 16. Februar 1827 auftaucht, allerdings nur bei C, nämlich eine Unterschrift in Noten - ohne Notenschlüssel! - nach dem Wort »Deine«: Zwei Achtel eis' und eis' sowie ein Viertel fis', falls man Violinschlüssel liest. Die Schlüsselung mit c-Schlüsseln (Diskant, Alt, Tenor) ergibt keinen Sinn, eher schon eine mit Violin- und Bassschlüssel, da in beiden Fallen ein eis auftritt und in beiden Briefen von extremer Kälte die Rede ist. Die Version mit Bassschlüssel könnte zusätzlich Bedeutung gewinnen, da sie einen weiteren Ton betrifft. Denn das Eis ist zugleich F (Fanny), und das Ais ist zugleich B (Bartholdy): Fanny Bartholdy ist wie Eis? Aber das Gis - als As? Die Lesenden mögen sich an weiteren Lösungsversuchen dieses Notennamen-Symbolrätsels der B-A-C-H-Klasse versuchen. Ein Kosename der Schwester für ihren Bruder wurde in der obigen Aufzählung ausgenommen: »lieber Mann«. Geschrieben am 8. August 1829, knapp zwei Monate vor ihrer Hochzeit mit Wilhelm Hensel. Diese Beobachtung fuhrt auf die ungemein enge seelische Beziehung der Geschwister, wie sie sich in den Briefen äußert, durch die Schwester leidenschaftlicher und direkter als durch den Bruder, wenn dieser auch hin und wieder innerhalb des Jahrzehnts Deutliches schreibt: »Süßes Kind, ich liebe Dich ganz entsetzlich« (21. Juli 1824), »meine süsse Dlle. Schwester« (27. März 1825). Äußerungen dieser Art durch die Schwester sollen hier auszugsweise und ohne Datumsnennung entlang der Jahre zu einem durchgehenden Text montiert werden, der ihre tiefsten Gefühle unmittelbarer widerspiegeln könnte als viele von Daten, Anführungszeichen und eckigen Klammern unterbrochene Sätze und Halbsätze. Auch ist die Orthographie modernisiert worden, einschließlich der Satzzeichen. Dieses Verfahren, falls nicht zu häufig angewendet, könnte als wissenschaftliches Instrument Rechtfertigung erfahren durch Gedanken von Beatrix

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Borchard (2004, S. 41), in denen in Nachfolge von Walter Benjamin die Montage mit Klaus Füßmann verstanden wird als »Moment der inneren Verknüpfung der selektierten Geschehensmomente«, wie sie in den Quellen vereinzelt und weit verstreut, wenn auch durch gleiche Thematik verbunden sind. Als Einleitung zur Montage ein weiteres Notenrätsel: Der allererste Brief, ein Brief der Schwester, beginnt (nur bei C) mit einem viertaktigen, textlosen Notenzitat in As-Dur und der Erklärung: »Weißt Du wohl noch die Worte zu diesem Liede Mozarts junior? Dann wirst Du Dir leicht erklären können, warum ich meinen Brief damit anfange.« Es handelt sich um das erste der Lieder op. 21 (Hamburg 1820) von Franz Xaver Mozart, auch genannt Wolfgang Amadeus der Jüngere, um 1820 in Berlin konzertierend (Dank an Rudolph Angermüller und Ulrich Leisinger). Die ersten beiden der drei Strophen lauten (Text aus dem Französischen von Jean-Jacques Rousseau): Wie der Tag mir schleichet, ohne dich vollbracht. Die Natur erblasset, rings um mich wird's Nacht. Ohne dich hüllt alles sich in Trauer ein; und zur öden Wüste wird der schöne Hain. Kömmt der Abend endlich ohne dich heran, lauf ich bang, und suche dich Berg ab, Berg an, hab ich dich verloren, bleib' ich weinend steh'n, glaub' in Gram versunken langsam zu vergehn. Nun weitere Brieftexte als Montage: »Vergiß nicht, daß Du meine rechte Hand und mein Augapfel dazu bist. Ich lobe Dich, ich liebe Dich. Mein Felix ist nicht da. Ach, Felix, jetzt wird erst die Lücke fühlbar werden. Bis jetzt war es mir noch immer, als kämest Du etwa mit den Anderen wieder. Die Gardinen an Deinem Fenster sind hängen geblieben, und am Tage sehe ich fleißig herüber, ob Du wohl zu Hause bist, aber am Abend ist's finster. Überhaupt, wie wir wohl in tiefster Stille so im Innern etwas wie Musik hören, so habe ich umgekehrt bei jedem Geräusch, mitten im Gespräch und bei allen hohen und niederen Geschäften des Lebens eine große Stille in mir, den Gedanken an Dich, der mich in keinem Moment verlässt.

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Gestern, als ich auf dem Hof Dein Fenster grüßte, sah ich etwas Weißes davor. Es war, als hättest Du eben ein Papier weggeworfen oder Dein Schnupftuch verloren. Als ich näher kam, flog die Taube fort. Es war eine kurze, hübsche Täuschung. Ich liebe Dich. Du bist unsere Seele und unser Herz und der Kopf dazu. Für mich gibt es eigentlich zwei Gattungen von Menschen, Du und dann die Anderen. Ja, Du bist der Klügste. Und ich kann Dir versichern, daß Du der Vernünftigste aller Sterblichen bist. Daß Hensel mich liebt, sehe ich hauptsächlich und am liebsten aus der Art, wie er meine Liebe für Dich respektiert und ihr gewissermaßen den Vortritt läßt. Und wir gingen in all der Herrlichkeit und dachten viel an wen? Und sprachen auch wovon? Von Einem, den uns keine Nähe näherbringen könnte, von Einem, der ein guter Bruder ist und der Beste, den es gibt, und der gewiß heut an dem duftigen, sonnigen, klaren, lieben Sonntagmorgen seine Schwestern recht nah bei sich hat. Warum kann man nun nicht tagelang ein so liebes stilles Zusammenleben fortfuhren, warum muß man wieder reden und Menschen sehen und unterbrochen werden wie ich jetzt? Einen Kuß auf Deine Stirn, so, nun ist der schöne Morgentraum vorbei. Komm Du bald! Es wird mir manchmal ganz verzweifelt kribbelig nach Dir, so gestern Abend, wo ich Dir gewiß noch geschrieben hätte, wenn ich nicht vor sentimental Furcht gehabt hätte, [so bei C] Ich brauche durchaus einmal wieder die Versicherung von Dir, daß Du zufrieden bist. Sie ist mir zuweilen so nötig wie die Luft zum Leben, dann hält es wieder ein Weile vor. Ich stehe vom Klavier auf trete vor Dein Bild und küsse es und vertiefe mich so ganz in Deine Gegenwart. Ich habe Dich unendlich lieb. Unendlich lieb. Ach, liebster Felix, Du bist aber wirklich ein Phönix. Du bist eine Gattung Engel, bleibe es um Gottes Willen. Übrigens sage ich Dir, du magst es glauben oder nicht, daß, wenn wir beisammen sind, Du, und wieder Du, allezeit der Gegenstand unserer Gespräche bist. Ich träumte oder fürchtete, eine solche Verbindung [mit Hensel] würde mich von Dir losreißen oder doch entfernen, und es ist, womöglich, gerade das Gegenteil. Ich habe mehr Bewußtsein gewonnen als früher, und daher bin ich Dir näher. Ich denke mehr, daher denke ich mehr an Dich. Und je mehr ich habe, je mehr ich haben werde, desto mehr werde ich Dich brauchen und haben. Es ist nicht möglich, daß Du mir je von Deiner Liebe etwas entziehst, denn Du mußt es wissen wie ich, daß ich nicht den kleinsten Teil davon entbehren kann. Ich werde Dir an meinem Hochzeitstage dasselbe wiederholen, denn bis jetzt habe ich noch keine Empfindung und keine Stellung kennen gelernt, in der ich nicht desselbe gedacht und gesagt hätte. Wenn Du uns mit nächster Post aus Schottland schreibst, Du habest einen Ruf als Hofcompositeur im Kaffernlande angenommen und das ganz Haus sich vor Entsetzen auf den Kopf stellte, würde ich vergnüglich aussehen und in meiner Seele überzeugt sein, daß die wahre Musik fortan im Kaffernlande blühte.

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Ich muß mit tausend Freuden wieder einmal bekennen, daß Du überall und immerfort das belebende, bessernde, reinigende, durch Liebe erziehende Prinzip bist. Adieu, Leben. Adieu, Seele. Ich weiß nicht warum, ich schreibe schon so lange nichts und kann kein Ende finden. Ich stehe etwa bei Dir oben auf der Stube mit der Klinke in der Hand, während Du recht viel zu tun hast, und störe Dich und kann nicht fort. Felix, Bruder, Engel, was soll ich Dir sagen? Noch ist nichts überlegt, nichts besprochen, aber Beckchen hat mir Deinen Brief vorgelesen. Ich bin ihr Vicefelix. Das hör ich gerne, und es macht mich froh. Mein liebster Felix! Heut ist der dritte Oktober und mein Hochzeitstag, und meine erste Freude an diesem Tage, daß ich die ruhige Viertelstunde finde, die ich mir längst wünschte, um gerade heut an Dich zu schreiben und Dir alles noch einmal zu sagen, was Du längst weißt. Ich bin ganz ruhig, lieber Felix, und Dein Bild steht neben mir, aber indem ich Deinen Namen niederschreibe und Du mir dabei so ganz vor leiblichen Augen stehst, weine ich. Ich habe zwar immer gewußt, daß nichts kommen könnte, was Dich auch nur für den zehnten Teil eines Augenblicks aus meinem Gedächtnis entfernen könnte. Ich freue mich aber, es nun erlebt zu haben, und ich werde Dir morgen und injedem Moment meines Lebens dasselbe wiederholen können, und ich glaube nicht, Hensel damit Unrecht zu tun. Und daß Du mich so liebst, das hat mir einen großen inneren Wert gegeben, und ich werde nie aufhören, sehr viel auf mich zu halten, so lange Du mich so liebst. Daß Du am Hochzeittage immer im Vorgrunde meiner Gedanken standest, brauche ich Dir nicht zu sagen. Ich sehe Hensel überaus zufrieden mit mir, bin es ebenso mit ihm, und er liebt Dich, Felix, sonst könnte er mich und ich ihn nicht lieben. Adieu, mein Felix. Jetzt aber will ich ein Tagebuch an Dich anfangen. Du Einziger!«

Eine außergewöhnliche Beziehung der Schwester zu ihrem Bruder zeigt sich hier, eine seelische Bindung von solcher Intensität, dass sie sogar die Liebe zu ihrem Ehemann Wilhelm Hensel überlagert. Im Blick auf die zeitgenössische Briefkultur scheint diese Bindung weit darüber hinaus zu gehen, was man vom schwärmerischen Uberschwang brieflicher Intimität auch aus Fanny Mendelssohns Umkreis kennt. Es macht den Eindruck, als sei die Sentenz des Vaters von 1819, durch die Verehrung für die Mutter könne Fanny das erfahren, was Frömmigkeit bedeute, von jener auf den Bruder umgelenkt worden. Man kann sich zudem fragen, warum von Wilhelm Hensel in den Briefen an den Bruder, die doch sonst nichts zu verschweigen scheinen, bis in die späteren 1820er Jahre niemals die Rede ist. Zur Beantwortung dieser Frage ist ein Rücksprung zum Beginn des Jahrzehnts erforderlich, um von dort aus in chronologischer

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Folge, auch unter Einbeziehung anderer Aspekte des Briefwechsels, die wichtigsten Begebenheiten im Leben Fanny Mendelssohns zu beleuchten.

Die Jahre 1821 und 1822 Die beiden Jahre halten fiir die musikalische Zukunft der Geschwister Mendelssohn manches Wichtige bereit - so gelegentlichen Klavierunterricht bei Johann Nepomuk Hummel oder die Bekanntschaft mit dem Flötisten Louis Drouet -, aber auch Entscheidendes, etwa den Fortgang des Komponierens, die beginnende Abwesenheit des Bruders Felix, Fanny Mendelssohns Zusammentreffen mit Wilhelm Hensel und den Beginn ihres halböffentlichen Auftretens. 1821 oder 1822 kam es zur entscheidenden Begegnung der späteren Eheleute während einer Ausstellung mit Bildern Hensels, staatlicher Auftrag als Geschenke nach Russland, verbunden mit der Zusage eines fünfjährigen Ausbildungs-Stipendiums in Rom. (Hierzu sowie zu allem Weiteren über Hensel bei Lowenthal-Hensel 2004.) Hensel, geboren 1794 als brandenburgischer Pfarrerssohn, Freiwilliger während der Befreiungskriege, schwankte, obwohl Zeichner von Jugend auf, ob er Maler oder Dichter werden solle. Zum Letzteren drängten ihn seine Berliner Dichterfreunde Clemens Brentano, Adalbert von Chamisso und Achim von Arnim, allesamt auf unterschiedliche Weise mit der Familie Mendelssohn bekannt. Auch auf einem weiteren Gebiet geriet er ins Schwanken, dem der Religion, da einige der Freunde und insonderheit der Kreis um die in Rom wirkenden Nazarener zum Katholizismus übergetreten waren, was den Protestanten, der dem Sog dieser so genannten Raffaeliten folgte und im Weiteren ohne Zweifel den Nazarenern zuzurechnen ist, vor die Entscheidung stellte, ob er sich dem Konfessionswechsel unter den Malern und Dichtern anschließen solle. Wenige Monate nach der Begegnung von 1821/22 hielt er um Fanny Mendelssohns Hand an. Was folgte, zeigt die Beiden in beispielhafter Charakterstärke, die sich am Widerstand der Mutter Lea zu schärfen und zu bewähren hatte. Hatte Vater Abraham sich mehr auf dem Feld allgemeiner Moral als Erzieher hervorgetan, so packte die Mutter das Konkrete an und erzwang unmittelbare Entscheidungen. Sie bemängelte folgende Punkte: 76

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Der Mann sei zu alt für Fanny, nämlich um elfJahre. Der mögliche Übertritt zum Katholizismus, Inbegriff des Irrationalen und der Unvernunft für Menschen, die in Preußen lebten und gerade nach vielerlei Bedenken dabei waren, vom Judentum zum Protestantismus zu wechseln, machte den Bewerber zum unwägbaren Risiko für die seelische Integrität der möglichen Braut, vor allem da diese schon Einiges über die religiösen Strebungen des angehenden Malers erfahren hatte. Daher bestimmte die Mutter, die Tochter dürfe nicht allein, ohne Aufsicht, mit Hensel sprechen. Ferner dürfe es, solange er ab Ende 1823 sein fünfjähriges Stipendium in Rom durchlebe, keinerlei brieflichen Kontakt zwischen den beiden geben. Dies Verbot hat die Mutter wahrscheinlich auch durchsetzen können. Sie selbst führte in der Zeit einen Briefwechsel mit ihm, sozusagen in Vertretung. Das erste Verbot und die sich daran knüpfenden Auseinandersetzungen schildert Wilhelm Hensel sehr eindrucksvoll seiner Schwester Luise aus Rom in einem langen Brief vom Dezember 1823. Entscheidend darin ist der Auftritt von Fanny Mendelssohn, siebzehnjährig: »Da sagte die Tochter mit einer wilden Festigkeit, deren Ton ich noch heut höre: Mutter, ich werde ihn sprechen. Diese Worte sind der Fels, auf den ich das Haus meiner Zukunft baue. [...] Die Mutter, wie erschreckend vor der Festigkeit des Kindes, ging still hinaus, und ich hatte eine lange ernste Unterredung mit der Tochter, worin ich sie aufs Gewissen fragte, ob ich ihrer gewiß sein könnte in jedem Fall. Sie bejahte es feierlich und versprach mir auch, sich Kenntnis von der Kirche zu verschaffen, soviel Eltern und Umstände es irgend zuließen.« (Zit. nach Gilbert 1975, S. 57ff.; zum Übrigen weiterhin neben Lowenthal-Hensel 2004 die Kapitel zu Hensel bei Tillard, S. 73ff. und bei H I)

Die Beiden waren damit - wie man einst sagte - versprochen. In einem Brief, den Hensel seiner Auserwählten vor seiner Abreise nach Rom schrieb (11. Mai 1823), hoffte er zwar auf ein »stärkendes Wort« von ihr, vertraute aber auf den gemeinsamen Wahlspruch, »welchen Sie mir gegeben«, nämlich, dass »unsre Lippen vereinigt sprechen: >Treue!Meine liebe Tochter, von heut ab bist Du kein M ä d c h e n mehr, von heut an bist Du G e s e l l i n . Ich mache Dich zur Gesellin im Namen Mozart's, im Namen Haydn's und im Namen des alten Bach.< - Dann fasste er das Mädchen in seine Arme und drückte und küsste es herzlich.« Beethoven wird nicht genannt, was angesichts des bereits erwähnten Zelterschen Widerstandes gegen ihn nicht verwundert (vgl. S. 54). Anlässlich ihres 19. Geburtstages wird in der Sonntagsmusik Mozarts Klavierkonzert c-Moll gespielt. Dass Felix den Solopart spielt und nicht die Schwester, dürfte als Geschenk verstanden worden sein. Zur MozartEhrung bei der Sonntagsmusik am 5. Dezember - dem Todestag von 1791 - erklingt das Requiem. Wiederum ist es Felix, der den Orchesterpart am Klavier darstellt. Die Schwester wird im Alt mitgesungen haben. Während des Besuches der Sonntagsmusik am 28. November 1824 äußert sich der berühmte Pianist Ignaz Moscheies bewundernd über die junge Künstlerin: »unendlich begabt.« (Zit. nach Klein 1997, S. 114). Auf Bitten der Mutter Lea erteilt er den Geschwistern über den Jahreswechsel hinweg Unterricht, mehr wohl was die Komposition betrifft. Eine lebenslange Freundschaft erwächst aus diesem Treffen. Am 7. Dezember ist ein anderer Klaviervirtuose zu Gast, Friedrich Kalkbrenner, der mit großem Lob das Spiel der Geschwister hört, etwa bei dem oben erwähnten Doppelkonzert für die Schwester, die Kalkbrenners Kunst und auch seine feine menschliche Art bewundert (vgl. ebda., S. 105, 114). Vater und Sohn sowie Lehrer Heyse verleben im Juli und August des Jahres einen Badeurlaub in Doberan. Felix schreibt vom Schwimmen in der See, von der örtlichen Blaskapelle (»Harmoniemusik«), vom Widerstand gegen den Adel, von seiner »Componierlaune«, von seiner Neugier »auf Dein Urtheil« über seine gerade entstehende Oper Die Hochzeit des Camacho nach Cervantes. Diese Briefe - Antwortbriefe der Schwester sind nicht erhalten - werfen zwei Fragen auf. Zum Einen: Die Fixierung auf Johann Sebastian Bach und auf die Schwester - kann sie nicht auch bedenkliche Züge zeigen? Der Bruder schreibt am 17. Juli 88

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(W), indem er ein Sonata o Capriccio genanntes Klavierwerk der Schwester erwähnt (HU Nr. 113; vgl. Elvers 1999, S. 140): »Doch auf dem Heimwege fiel mir ein Thema ein, das ich auf dem Rückwege ausführte; und als wir nun zu Hause kamen, schrieb ich's auf, u. schicke es hier vor Deinen Richterstuhl. Du weißt, wenn die Richter den Dieb nicht kriegen können, so nehmen sie das Gestohlene. So geht's auch hier. Kaum war mir das Thema eingefallen, so dacht ich: halt! Dieb! Sebastian! Aber wie ein tröstender Engel stand mir Dein lOOOstimmiges Stück aus f moll zur Seite, und ich dachte: wenn's Fanny selbst gethan hat, so wird sie mich wol nicht deshalb verdammen, und weiter will ich nichts.«

Zum Zweiten: Tillard (1994, S. 123) und Konoid (1996, S. 76f.) geben an, Bruder und Schwester seien gemeinsam während des Urlaubs im August von Straßenjungen als »Judenkinder« (Tillard) bzw. »Judenjungen« (Konoid) beschimpft worden, und Felix habe sich nach Heyses Bericht »wie ein Mann« betragen, ja - laut Tillard - habe »sich und seine Schwester wacker« verteidigt, sei aber später unfähig gewesen, seine »Wuth und Indignation über die Demütigung« zu unterdrücken, sei am Abend »in einen Sturm von Thränen und wilden Beschuldigungen allgemeiner Art« ausgebrochen. Alle Briefe stammen vom Juli, als die Schwester u. a. das Lied Heimweh komponierte, und zwar in Berlin (vgl. Klein 1997, S. 97). Reiste sie im August nach? An anderer Stelle jedoch (Konoid 1996, S. 18) ist von einer Reise von Bruder und Vater nach Bad Doberan nur für den Monat Juli die Rede. Und schließlich W (S. 14): »Am Strand von Bad Doberan wird Felix mit Steinen beworfen und als >Judenjunge< beschimpft.« Wer hat wann wen wie verteidigt? Am 4. August 1824 wird nach langer Planung das Königstädter Theater jenseits der Spree, am Alexanderplatz, eröffnet, in der Folgezeit häufig besucht von den Mendelssohns. Eine Aktiengesellschaft hatte die Finanzierung übernommen, darunter auch der reiche Bankier Meyer Beer in der Hoffnung, sein Sohn Giacomo, der vor Kurzem in Venedig mit seiner Oper II Crociato in Egitto Begeisterung ausgelöst hatte, werde in Anerkennung dieser väterlichen Verdienste Kapellmeister des Hauses werden. Entweder man berücksichtige ihn als Juden nicht, oder er dachte nicht daran, in der Provinz arbeiten zu wollen, wenn er in Paris Ruhm erringen konnte (vgl. Otto 1985, S. 166).

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1825: Leipziger Straße 3

Ob die 1825 aus finanziellen Gründen erfolgte Schließung der Jüdischen Freyschule Bestürzung bei den Mendelssohn Bartholdys ausgelöst hat wie drei Jahre zuvor die königliche Maßnahme, Juden vom Beruf des Hochschullehrers auszuschließen - wie etwa den Familienfreund Eduard Gans (»Lex Gans«)? Gans trat 1825 zum Christentum über und wurde 1828 tatsächlich Berliner Hochschullehrer, dessen Vorlesungen Felix Mendelssohn besuchte (Klein 1997, S. 61f.). Sehr wird der Tod von Jacob Bartholdy im Juli in Rom die Familie geschmerzt haben. Der Onkel war nicht nur Namenstifter der Familie, sondern in wichtigen Fragen auch Berater der Eltern gewesen, etwa was die Konversion betraf. Nun erwies sich der große Wert Wilhelm Hensels für die Familie und dürfte die Bedenken gegen eine Eheschließung verringert haben: Er regelte die Nachlassangelegenheiten, kümmerte sich also auch um die verbliebenen Kunstschätze. Die dankbaren Eltern in Berlin, die nicht nur mit ihm korrespondierten, sondern auch einen Zuschuss zu seinem staatlichen Stipendium gaben, zahlten ihm eine zusätzliche Summe für diese Dienste. Vielleicht haben sie aus seinen Briefen auch erleichtert entnehmen können, dass inzwischen »alles Süßliche und Frömmelnde« von ihm gewichen war, wie Karl Friedrich Schinkel aus Rom über Hensels neue Werke berichtete (zit. nach Tillard 1994, S. 87). Von März bis Mai reisten Vater und Sohn nach Paris. Der eine Zweck der Reise war, Abrahams Schwester Henriette nach Berlin zurückzubringen, nachdem deren Zögling Fanny Sebastiani geheiratet hatte, der andere ein Besuch bei Luigi Cherubini, dem Direktor des Pariser Konservatoriums und Hauptvertreter der »klassischen« Tradition Frankreich, auch von Beethoven als einer der ganz wenigen zeitgenössischen Komponisten geschätzt. Abraham Mendelssohn Bartholdy wollte sich von dieser Autorität die Bestimmung des Sohnes zum Berufskomponisten bestätigen lassen. Es gelang, so dass der Vater den Entschluss fassen konnte, den Sechzehnjährigen nicht etwa ins Geschäftsleben zu schicken, wie es für fast alle männlichen Vertreter der wohlhabenden jüdischen Familien selbstverständlich war, sondern Künstler werden zu lassen. Während dieses Vierteljahres komponierte die Schwester Lieder u. a. nach Goethe-Texten, etwa Wanderers Nachtlied, und eines nach Text von Marianne von Willemer, Suleika, beide später gefolgt von anderen Versionen der Vertonung, wie überhaupt das Festhalten an bestimmten Lieblingstexten auffallt. 90

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Der Briefwechsel zwischen den Geschwistern blüht erneut auf. Dass die Schwester »in Berlin eingesperrt sitzt« und daher vor ungestilltem »Verlangen«, ebenfalls in die Ferne zu ziehen, über Passagen in den brüderlichen Briefen »in Zorn« gerät und »protestiert«, ja »fast zornig« wird (Tillard 1994, S. 120ff.), erscheint als parteiische Uberzeichnung der zweifellos als Mangel empfundenen Situation der Zurückgebliebenen. Ebenso parteiisch und daher ebenso übertrieben wäre zu sagen: Wie reizend von dem Bruder, dass er so sensibel ist und der zurück gelassenen Schwester so viele interessante Briefe schreibt. Der Bruder berichtet ausfuhrlich vom Pariser Musikleben, meist negativ, so auch in Briefen an die Familie. Fanny dazu, das Familienwort »Schuhu« fiir einen Kritikaster noch erweiternd (25. April, Zitate nach W): »So viel scheint mir gewiß, daß Deine Anlage zum Schuhuhismus sich glänzend in P. entwickelt. Mein Sohn, Deine Briefe sind ja ganz aus Kritik zusammengenäht. [...] Was hat sich da Alles zusammengefunden u. schöne Dinge gesagt, Rossini u. Meyerbeer, Hummel, Moscheies u. Kalkbrenner, die sich doch wahrscheinlich einer den Anderen ins Pfefferland wünschen.«

Der Bruder spricht gegen zu lange Kadenzen und zu viele Verzierungen, dann ironisch zu Anton Reichas Quintenhass, auch über die Unkenntnis Beethovens in Frankreich. Überhaupt ist ein Vorurteil gegenüber der französischen Kultur, vielleicht von der Mutter übernommen (vgl. S. 37), nicht zu verkennen: »Das Lügen habe ich mir in Paris noch nicht angewöhnt.« (9. Mai) Am 20. April, ohne kritischen Unterton: »Auch wird aus der Mitte dirigiert.« Gerade zu dieser Zeit geht die Orchesterleitung allmählich vom Cembalisten und/oder vom Konzertmeister auf einen zentral vor den Musikern stehenden Dirigenten über, der nicht mehr mitspielt, sondern die Musiker nach der Partitur leitet, wobei keineswegs Weber, Spohr, Moser oder Mendelssohn diejenigen waren, welche hierzu als erste den Taktstock benutzten. Er wird bereits Ende des 18. Jahrhunderts erwähnt (vgl. MGG 2 , Sachteil, Bd. 2, 1985, Sp. 1263). Ein Jahr später schreibt der Bruder wie selbstverständlich vom »Taktstock« beim Leiter der Berliner Hofkapelle, Carl Moser (W, 18. Juli 1826). Das Missfallen über zu schnelle Tempi - Hummel dirigierte - teilt die Schwester: Spontini (»Sapupi«) dirigierte (29. April), und zwar Beethovens Pastoralsinfonie. Deren Charakterisierung durch die Schwester zeigt eine traditionell gefärbte Ästhetik des Gefuhlsausgleichs mit dem Ziel der Werkeinheit, wie man sie von Johann Nikolaus Forkel und ande-

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ren Schriftstellern des 18. Jahrhunderts kennt, deren Lehren durch Zelter auf seine Schüler übergegangen sein dürften: »Clarheit u. Wahrheit, Reichthum u. Einheit von einem Ende bis zum Andern. Die Scene am Bach ist wirklich ein Ideal von Anmuth, das ganze Stück in heiterer, heller Farbe gehalten, nur das schwere Gewitter bildet den nöthigen Schatten in der Landschaft.« Der Bruder offenbart seine Überlegenheit, Orchestrales betreffend, als die Schwester im gleichen Brief die Hoffnung auf Hörner und Klarinetten in nur einer Stimmung äußert: »dann lese ich die Partituren wie Wasser.« Der Bruder zehn Tage später: Wer solche Instrumente erfinden sollte, »nimmt ja offenbar dem Orchester seine Nuancen weg, wenn er sie den Instrumenten wegnimmt, denn aus denen ist es ja zusammengesetzt. Glaube mir, laß Dir lieber von Ritz [Eduard Rietz] ernstlich zeigen, wie man Clarinetten und Hörner liest, und Du wirst Partituren spielen, und die Clarinetten wollen [?] und lassen, wie sie sind. Beim Hercules!« Weniger überlegen zeigt sich der Bruder im Erkennen von Stilmerkmalen. Erstaunlich, mit welcher Selbstsicherheit er einen fundamentalen Unsinn zu äußern vermag, sinnigerweise formuliert am 1. April über eines der edelsten Werke Mozarts, KV 581: »Dann kam ein Quintett von Mozart aus a Dur, für die Saiteninstrumente und eine Clarinette. Es sind sehr schöne Sachen drin, aber die Jugendarbeit giebt sich in jeder Note, besonders in den Variationen, die statt des letzten Stücks stehen, deutlich zu erkennen.« Der Sinn von »statt« sollte reflektiert werden. Anfang des Jahres 1825 kündigt sich auch das bedeutendste und für Fanny Mendelssohn Bartholdy zukunftsträchtigste Ereignis der Zeit an, der Ende des Jahres stattfindende Einzug in das umfangreiche, bereits am 18. Februar für 50000 Taler gekaufte von der Recksche Palais mit Park und Garten in der Leipziger Straße Nummer 3 in dem häuserarmen, nach einem Café benannten Stadtteil »Der blaue Himmel« vor den östlichen Toren Berlins (vgl. Cullen 1982, S. 38). Der Kauf war offenbar Ergebnis einer seit seinem Dienstende 1821 betriebenen Suche des Vaters nach einer der Familiengröße und den künstlerischen Ambitionen der Kinder angemessenen Bleibe. Uber die Pläne informiert die Mutter am 1. Februar den fernen Wilhelm Hensel (H I, S. 141f.). Er scheint nun als zukünftiger Schwiegersohn akzeptiert. (Informationen zur Leipziger Straße in speziellen Abschnitten bei H I, Klein 1997, Maurer 1997, Borchard 1997 und 1999, sehr genau bei Cullen 1982, u. a. auch zu den Bewohnern, also auch den Mietern.) 92

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Schnell stellt sich heraus: Das Haus mit der großen, mehrstöckigen Straßenfront und den nach hinten weisenden Seitenflügeln ist für die Familie zu groß: »Ich wünsche Väterchen Glück zu angenehmen u. erwünschten Vermiethung der mittleren Etage.« (29. April) Im größeren Teil dieser »Bel-Etage« mit dem Zimmer der Mutter Lea, das sich hervorragend als Theatersaal nutzen lässt, wohnt bis aufWeiteres die gesamte Familie, den kleineren hat die Hannoversche Gesandtschaft gemietet mit Karl Klingemann bis zu seiner Abberufung nach London 1827 und Baron von Reden bis zu dessen Tod 1831. Bruder Felix wird im linken Seitenflügel wohnen, die übrigen Geschwister im Gartentrakt. Dass der Bruder und der Vater direkt nach Ubergabe des Hauses am 1. Juli für zwei Monate nach Bad Doberan fahren, während die Mutter offenbar allein - vom Gartenhaus aus die Renovierungs- und Umbauarbeiten überwacht, hat etwas bedrückend Bekanntes. Mutter Lea (vermutlich): Fahrt ihr beide man bloß an die Ostsee und möglichst lang, bis ich hier fertig bin mit den Maurern! Ihr seid mir hier nur im Weg mit Euren zwei linken Händen. (Dieser kleine Scherz bricht in sich zusammen, wenn diese Sommerreise mit jener des Voijahres identisch ist, was der Literatur nicht eindeutig zu entnehmen ist.) Zurück zum Briefwechsel. Die Schwester am 25. April 1825 nach Paris: »Es scheint mir fast, als tödtete die leidige Soireemusik jeden Genuß in Dir. Nun, die unsrige, kräftige, wird Dir schmecken, wenn wir erst in unserm großen, gewölbten Gartensaal Deine Symphonie streichen« (op. 11 c-Moll vom Voijahr). Fanny Mendelssohn Bartholdy war keine Streicherin. Die Bemerkung weist auf etwas Anderes hin, auf einen weiteren, wichtigen Anziehungspunkt, der für den Ankauf bestimmend gewesen sein dürfte, nämlich den Gartensaal, in welchem »Fanny Hensel (1805-1847) verheiratet mit dem Hofmaler Wilhelm Hensel ihre berühmten Sonntagsmusiken« veranstaltete, wie es heute auf einer Tafel am Nachfolgebau heißt. Dieser große Saal, Zentrum des den Innenhof abschließenden Gartenhauses, war zum dahinter gelegenen Park durch verschiebbare Fenster zu öffnen und wirkte dann wie eine Säulenhalle, ermöglichte nun größer besetzte orchestrale und chorische Konzerte. Fanny Mendelssohn Bartholdys Abschrift der Bach-Kantate Aus tiefer Not schrei ich zu dir aus diesem Jahre mag auf solche Auffiihrungsmöglichkeiten hinweisen (vgl. Elvers/Jones 1993, S. 90). Die Leitung der Musiken lag nun bei ihr, wohl manchmal selbst dann, wenn der Bruder nicht auf Reisen war. Es könnte scheinen, als greife solFanny Caecilia Mendelssohn Bartholdy

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chen Anforderungen und Möglichkeiten jener Vorschlag zur Errichtung eines Dilettantenvereins für Instrumentalmusik voraus, den sie bereits am 17. März des Jahres niederschrieb (vgl. Salomon 1987, S. 45ff., hier jedoch ohne die beiden letzten Titelwörter). Er betrifft nichts weniger als die Gründung eines Konzertvereins mit dem Ziel öffentlicher Abonnements-Konzerte und erscheint als Versuch, das Konzertwesen Berlins zu beleben. Entsprechendes ist im 18. Jahrhundert hunderfach geplant worden und zur Ausfuhrung gekommen, vielfach auch in Berlin. Der Vorschlag offenbart die Folgen, die die allgemeine Krise des öffentlichen Konzertes um 1800 und deren durch die nachfolgenden Kriege ausgelöste Verschärfung bewirkten, allerdings in wenigen Städten mit solchen Auswirkungen wie in Berlin (vgl. Schleuning 2000, Kap. II). Dass der Vorschlag sich nicht unmittelbar auf die Sonntagsmusiken bezieht, zeigt sich in der Ausschließlichkeit, mit der von Männern die Rede ist, ob als Mitglieder oder Leiter des Vereins und Orchesters, dies offenbar mit Blick auf Eduard Rietz, welcher im Folgejahr eine Philharmonische Gesellschaft fiir Liebhabermusiker begründete, deren Musiker den Sonntagsmusiken häufig verpflichtet waren. In ihrem Text findet sich ein Satz über die Zeltersche Singakademie, »deren Mitglieder zum größeren Theil aus Frauen u. Mädchen bestehen«, wobei es so selten zu öffentlichen Aufführungen komme, »weil Frauen aus dem Privatstande [also keine professionellen Musikerinnen] jedes Auftreten vor einem Publicum scheuen.« Wer wird sie dahin gebracht haben? Im Gartensaal traten sie auf, vor einem Publikum, aber einem geladenen und keinem zahlenden. Ein großer Nachteil des Gartensaales für Musizierende und Publikum bestand darin, dass er im Winter, also ausgerechnet in der Konzertsaison, kaum zu heizen war, höchstens auf 13 Grad gebracht werden konnte, weshalb hörend, spielend und singend gefroren wurde und die Bewohner der beiden Wohnungen des Gartentraktes, ab 1829 beispielsweise das Ehepaar Hensel, ständig erkältet waren, was die Schwester dem Bruder weiterhin in zyklischer Jahresfolge klagt. Wie groß das frierende Publikum war, lässt sich nur schwer ermessen. Durchgehend wird die Grundfläche des Saales mit etwa 14 mal 7,5 Meter angegeben, also etwa 105 m 2 bei 8 Metern H ö h e (vgl. Cullen 1982, S. 48f.). Das entspricht etwa der Größe, die die Salons im ersten Oberstockwerk der noch erhaltenen größeren gründerzeitlichen Jugendstilhäuser haben. Sehr viele, j a Hunderte von Menschen habe er fassen können: Im Juni 1837 »war das Publicum, nach einer mäßigen Schätzung, 94

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etwa 300 Pers. stark«, wozu man noch die Aufführenden rechnen muss, hier im Falle des Paulus die Solisten, einen »zahlreichen Chor« und Fanny Hensel selbst, die den Orchesterpart am Klavier übernahm, unterstützt von einem Kontrabassisten und Bruder Paul am Cello (vgl. Tb, S. 85). Da es Sommer war, dürfte ein Teil der Hörenden im Park plaziert worden sein. Am 3. Dezember des Jahres waren zur Sonntagsmusik »12030 personen hier«, wie die Konzertgeberin dem Bruder neun Tage später berichtet, offenbar plus Musikern. Der Park konnte nicht als Aushilfe dienen, denn es war Winter.

Die Jahre 1826-1828

Dass unter den vier Geschwistern Mendelssohn Bartholdy und ihren Freunden auch schon vor dem Umzug in die Leipziger Straße ein recht munterer Ton herrschte, ist wohl deutlich geworden. Mit dem Umzug jedoch scheint in dieser Hinsicht ein qualitativer Sprung erfolgt zu sein, der auch von dem neuen Mitbewohner und Freund Karl Klingemann ausging, erkennbar bereits an einem Geschenk für Fanny Mendelssohn Bartholdy zum Geburtstag am 14. November 1825, also um die Zeit des Einzuges in das neue Haus - und nicht erst 1828 (Tillard 1994, S. 138). Es bestand aus einem Exemplar von Beethovens »Hammerklavier«Sonate op. 106 und einem fingierten Brief des Komponisten an »Mein werthestes Fräulein!« (Zit. nach Elvers 1997). Der Beschenkten empfiehlt der Komponist zur Analyse der Sonate »meinen Kenner Marx«, den um die Kenntnis und das Verständnis von Beethovens Werken bemühten Adolf Bernhard Marx, welcher ebenfalls zu dem Kreis um die Mendelssohn Bartholdys gehörte. Ansonsten wird, sicher auch unter dessen Anleitung, am Beethoven-Mythos gearbeitet: »[...] so viel Beifall könnte mich beinahe kränken und mich an meinen Werken irre machen,« Arnold Schönberg lässt grüßen! - »mich alten einsamen Mann«. Beethoven war damals 55 Jahre alt und alles andere als einsam. Weiter sarkastisch: »[...] ich bin des aber müde geworden und habe Musik gemacht wie der H von Beethoven, und dazu fahren mir in meinen Jahren und in meiner Verlassenheit auf meinem öden Zimmer Dinge durch den Kopf wie sie vielleicht nicht Jedermann angenehm sind.« Man kann sich die Atmosphäre und den Wechsel der Unterhaltungen in diesem Kreise nur als eine Art begeisterndes geistig-künstlerisches Fanny C a e c i l i a M e n d e l s s o h n Bartholdy

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Feuerwerk vorstellen wie auch in manch anderen der romantischen Künstlerkreisen. Die um die Geschwister geschalte Gruppe nannte sich »Die junge Garde« oder auch »Das Rad«, benannt nach dem vielen Klatsch und Tratsch - heute in Bayern noch »ratschen« das in diesem Kreis üblich war, wie das noch zu erwähnende Mitglied Droysen bekundet (zit. nach Lowenthal-Hensel 2004, S. 162, dort auch Mitgliederliste). Zu diesem »Rad« gehörten neben anderen Verwandten wie Marianne Seeligmann, enger Freundin von Fanny Mendelssohn seit Jahren und dann Ehefrau von Cousin Alexander Mendelssohn, der Schauspieler und Sänger Eduard Devrient, der Geiger Eduard Rietz, das Dichterehepaar Friederike und Ludwig Robert, der schon genannte Marx und der Historiker Eduard Gans, nach Fanny Mendelssohn Bartholdys Charakterisierung »überhaupt halb Mensch und halb Kind oder Wilder« (1829 an Klingemann; zit. nach HI, S. 197), dann die von der Schweizer Reise her bekannten Schwestern Saaling, der Hauslehrer Heyse, der Arzt Wilhelm Horn und die Brüder Heydemann, Ludwig, der Jurist, zeitüblich genannt Louis, und Albert, der Historiker, genannt »Nase«, schließlich etwas später - auch der Historiker und Liedertext-Lieferant Johann Gustav Droysen (weitere Namen bei Devrient 1872, S. 37; zu Droysens Neubestimmung der Geschichtswissenschaft, vielleicht schon damals im Gespräch, vgl. Oexle 2004, S. 337ff). In diesem Kreis wurde viel musiziert und vorgelesen, so auch das Lieblingswerk der Mendelssohnschen Geschwister, Shakespeares Sommernachtstraum. Daneben aber fand vieles statt, was mehr der leichteren Sorte bis hin zum »Unsinn« zuzurechnen ist - so Fanny Mendelssohn Bartholdy (H I, S. 181) -, Rätselspiele, Charaden, lustige Theaterauffuhrungen, musikalisch und literarisch Witziges, so auch zwei kurzlebige Periodika, im Herbst 1826 die Gartenzeitung, Ende 1827 die Schnee- und Thee-Zeitung, gefüllt von Witzen, Geschichten, Anekdoten, Zeichnungen, Gedichten und Rätseln. Immer wieder sprechen die Briefe davon, man habe bis zum Umfallen gelacht. Am 30. April 1825 schreibt die Schwester dem Bruder (W, S. 43): »Da Klingemann u. Beckchen ausgerast haben, will ich einmal wieder die Feder ergreifen [...]« Es geht dabei kaum um geistiges »Rasen«: Fanny Mendelssohn Bartholdy erwähnt 1828, dass »sich Gans zu prügeln, oder auf gut Deutsch, zu b a 1 g e n pflegt, wie ein Schuljunge«, und zwar mit einem Neuzugang, dem Mathematikprofessor Peter Gustav Lejeune Dirichlet, den die Berichterstatterin eine »sehr hübsche und liebenswürdige, lebenslustige, studentenhafte, gelehrte« Person nennt und den wenig später Schwester Rebecka hei96

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raten wird, um mehrere Jahre mit ihm in der Leipziger Straße zu wohnen. Auch einige noch nicht genannte Beteiligte der Sonntagsmusiken berühren hin und wieder diesen Kreis, so der Geiger Ferdinand David, die Sängerinnen Anna Milder-Hauptmann und Pauline Decker, verehelichte Schätzel, auch Tante Recha Meyer mit Tochter Rebecka (»Betty«), die schon über sechzigjährige Sara Levy-Itzig und seit 1825 auch die aus Paris heimgekehrte Henriette (»Jette«) Mendelssohn. Wie des am 5. Juni 1826 verstorbenen, allgemein hochverehrten Carl Maria von Weber in diesem Kreis und in den Sonntagsmusiken gedacht wurde, würde man gerne wissen. Der Bruder jedenfalls nimmt Mitte Juli »mit heiligem Respect« an einer Probe zur Ouvertüre des Oberon teil, wie er seiner Schwester nach Bad Doberan mitteilt, wo sie mit dem Vater einen Badeurlaub macht (W, S. 51). Selbstverständlich hat man sich auch der musikästhetischen Weiterbildung neben der kompositorischen gewidmet, offenbar regelmäßig bei Lektüre der von Marx geführten Berliner allgemeinen musikalischen Zeitung (vgl. 7. Juli 1826 an die Schwester), aber wohl auch durch Neuerscheinungen, etwa zweien von 1826, den Vorlesungen über Musik mit Berücksichtigung der Dilettanten von Hans Georg Nägeli - zu Beginn dieses Buches angesprochen - und Über Reinheit der Tonkunst von Anton Friedrichjustus Thibaut (1825, im Folgejahr revidiert und erweitert), geradezu der Bibel des musikalischen Nazarenertums, des so genannten Caecilianismus, Palestrina und die gesamte altkatholische Chormusik vergötternd. Sicherlich wird manches Wort gegen Modisches und Flaches älterer und neuerer Zeit in der Leipziger Straße Anklang gefunden haben. Wenig Freude wird es jedoch ausgelöst haben, wenn folgende Passage vorgelesen wurde - einer schmalen Tradition der Bach-Kritik von Johann Adolf Scheibe über Abbé Vogler folgend (71893; Reprint Darmstadt 1967, S. 9): » S e b a s t i a n B a c h , vor dessen Herrlichkeit man niederfallen möchte, wenn er in voller Einfalt einherschreitet, wäre ganz zum Retter geschaffen gewesen. Allein seine Neigung ging mehr dahin, die Kunst im Figurirten zur höchsten Vollendung zu bringen, oder die höchste Stufe der Kunst zu erreichen [...], ohne auf das Rücksicht zu nehmen, was dem frommen Sinn des Volkes zusagt; und so mußten freilich seine, an sich unvergleichlichen vierstimmigen Choräle flir das Volk, und die Mehrzahl unserer Organisten ganz unfruchbar bleiben.«

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Dass die Familie das Buch kannte und Felix Mendelssohn Bartholdy trotz solcher Kritik an Bach den Autor hochschätzte, zeigt ein Brief von seiner Sommerreise durch Süddeutschland, in welchem er von intensiven Treffen mit Thibaut berichtet, der diesmal Bach wesentlich positiver beurteilte (20. September 1827; H I, S. 159f.). Weniger intim wird es zugegangen sein, wenn die Berliner Elite von Mutter Lea eingeladen wurde, wenn von auswärts eingetroffene Geistesgrößen bei den Sonntagsmusiken erschienen oder durchreisende Virtuosen wie erneut der Freund Ignaz Moscheies, dem Felix und Fanny Mendelssohn Bartholdy im November 1824 vierhändig die neue Ouvertüre zum Sommernachtstraum vorspielten, kurz vor der Uraufführung, bei der der Bruder mitgeigte. Hegel konnte man da treffen und Wilhelm von Humboldt, den Gründer der Berliner Universität (1810), auch Rahel Varnhagen, geborene Levin und Schwester von Ludwig Robert, die wie Henriette Herz einen großen Berliner Salon führte und häufig im Mendelssohnschen Hause verkehrte, hier wenig geschätzt, wie auch der 1829 kurzfristig auftauchende Heinrich Heine. Fanny Mendelssohn Bartholdy an Klingemann in London mit bemerkenswerter psychologischer Scharfsicht (H I, S. 197): »Heine ist hier und gefällt mir garnicht; er ziert sich. Wenn er sich gehen Hesse, müsste er der liebenswürdigste ungezogene Mensch sein, der je über die Schnur hieb; wenn er sich im Ernst zusammennähme, würde ihm der Ernst auch wohl anstehen, denn er hat ihn, aber ziert sich sentimental, er ziert sich geziert, spricht ewig von sich und sieht dabei die Menschen an, ob sie ihn ansehn.«

Die Heine-Kritikerin ist allerdings in der Lage, zwischen Autor und Werk zu differenzieren, eine Fähigkeit, die nicht vielen Menschen eigen ist. Sie fahrt nämlich fort: »Sind Ihnen aber Heine's Reisebilder aus Italien vorgekommen? Darin sind wieder prächtige Sachen. Wenn man ihn auch zehnmal verachten möchte, so zwingt er einen doch zum elften Mal zu bekennen, er sei ein Dichter, ein Dichter! Wie klingen ihm die Worte, wie spricht ihn die Natur an, wie sie es nur den Dichter thut.«

»Sind I h n e n ...«! Trotz der körperlichen Nähe und engen Freundschaft sagen die Mädchen und die familienfremden Männer des »Rades« nicht »Du« zueinander. Offenbar gebietet der Anstand diese sprachliche Distanz. Ein »Du« würde kompromittierend wirken, wohl nur erlaubt, 98

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wenn eine Frau und ein Mann ein Liebespaar oder besser noch Brautleute sind. Ab wann wird sich das spätere Ehepaar Hensel geduzt haben? Einen Tag vor ihrem Geburtstag, am 13. November 1826, muss Fanny Mendelssohn Bartholdy ihrem Bruder bei der Berliner Uraufführung der Neunten Sinfonie von Beethoven gehört haben. Die Vossische Zeitung berichtet (vgl. Konoid 1996, S. 20f.), Hofkapellmeister Carl Moser habe Kenner und Liebhaber eingeladen, »um ihre Stimme über die neue große Sinfonie Beethovens und ihren Rat, wie dies ungemein schwierige Werk Beethovens ausgeführt werden möchte, abzugeben. Herr Felix Mendelssohn Bartholdy trug die Sinfonie am Pianoforte vor, und schon das war ein Genuß zu hören, wie dieser junge Künstler es fertig brachte [...], das ganze Orchester im beschränkten Rahmen der Tastatur mittels der Kraft und Fertigkeit der zehn Finger so zu übertragen, daß man ein durchaus deutliches Bild des Ganzen erhielt.«

Was werden die Hörenden über die Art geäußert haben, wie das Werk aufzuführen sei, wenn nicht auf die Art, die Beethoven vorgeschrieben hatte? Streichquartett und Chor? Zwei Klaviere und Solisten? (Wer Antworten auf die Fragen sucht, sei verwiesen auf Andreas Eichhorn: Beethovens Neunte Symphonie. Die Geschichte ihrer Auffuhrung und Rezeption, Kassel usw. 1993.) Da keine Sänger dabei waren, wie der Bericht nahelegt, käme die Kunst des Bruders jener gleich, die Franz Liszt in seinen Übertragungen aller neun Sinfonien Beethovens aufs Klavier zeigte. Ähnlich den Gedanken, welche zu Eduard Devrients Eindruck vom Beginn der 1820er Jahre geäußert wurden, die Schwester habe »jetzt noch« besser Klavier gespielt als der Bruder (vgl. S. 87), wird man auch hier annehmen können, die Schwester habe genauso das Zeug dazu gehabt, eine solche Leistung zu vollbringen: Aber wozu sich solche Fertigkeiten aneignen, wenn man damit nicht auftreten kann? Die Diskrepanz zwischen Fähigkeit und deren öffentlicher Darstellung wird in diesem Jahr 1826 und dem nächsten deutlicher noch durch Beispiele fragwürdiger Art: Der Bruder, der schon fleißig begonnen hat zu veröffentlichen, lässt in seinen zwei Liederheften op. 8 drei Lieder der Schwester ohne Nennung von deren Autorschaft erscheinen, darunter Das Heimweh nach Friederike Robert von 1824 und Italien nach Franz Grillparzer von 1825, damals noch unter dem Titel Zwischen Gaeta und Capua. Vergleichbares findet sich, u. a. mit einem Lied nach Text von Johann Gustav Droysen, in op. 9 des Bruders von 1830, nun aber mit dem für die Interpretation des Vorganges wichtigen Unterschied, dass die

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Schwester auf Bitten des in Schottland weilenden Bruders die Endredaktion 1829 selbst übernimmt (vgl. Klein 1997, S. 97ff. und Maurer 1997; dass der Bruder in ihre Liedmanuskripte hinein korrigierte, ist vielfach belegt, doch gab es offenbar auch den umgekehrten Fall, wie ein Brief an ihn vom 16. Februar 1827 zeigt; vgl. C, S. 382). Ist zwar die Aufnahme in die brüderlichen Veröffentlichungen also mit ihrem Einverständnis geschehen, kann man dennoch fragen: War sie dabei euphorisch, verbittert oder resigniert? Hatte der Vater darauf bestanden, dass dies die einzige Möglichkeit einer Veröffentlichung sei? Hatte etwa eine Empfehlung Goethes zur Veröffentlichung von Liedern der »gleichbegabten Schwester« während des Weimarer Besuches 1822 dergleichen nötig gemacht, jedoch in der vom Vater gewünschten Vermummung, zu der sich der Bruder in geschwisterlicher, wenn auch gehorsamer oder gar dem Vater ähnlichen Haltung erboten hatte? Wie konnte sich die Schwester in ihrer Selbstsicht einer Ubergeordneten (vgl. S. 69) nun, wenn es mit der Kunst ernst, nämlich professionell werden sollte, ohne Schmerz dem Bruder unterordnen? Hier schon ist ein Vorschein der späteren Auseinandersetzungen innerhalb der Familie um das »Recht« zur Veröffentlichung von Werken Fanny Hensels zu erkennen. Wie 1826 der Kompositionunterricht bei Zelter endete im Folgejahr auch der Hausunterricht, da Dr. Heyse auf den Lehrstuhl für Philologie an der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität berufen wurde. Felix Mendelssohn Bartholdy hörte ab dem Sommersemester 1827 dessen Geschichtsvorlesungen, weitere zur neueren Geschichte bei dem befreundeten Eduard Gans, vornehmlich zur Französischen Revolution, sowie zur Geographie bei Karl Ritter und zur Ästhetik bei Georg Friedrich Wilhelm Hegel, wobei die Vorlesungen teilweise im gerade Anfang des Jahres errichteten Neubau der Singakademie stattfanden (vgl. Eberle 1991, S. 75ff.). Da Frauen in jener Zeit in Deutschland noch nicht studieren durften - erst ab 1908 -, war die Schwester nicht eingeschrieben, hörte aber dennoch manche der Vorlesungen, wie sie dem 1827 zum großen Kummer des »Rades« nach London übergesiedelten Karl Klingemann schreibt (H I, S. 173, 25. Dezember): »Ob er sich vorstellen könne, dass an den Vorlesungen im Singakademie-Saal alles teilnehme, >was nur einigermassen auf Bildung und - Mode Anspruch macht, vom König und ganzen Hof, durch alle Minister, Generale, Offiziere, Künstler, Gelehrte, Schriftsteller, schöne und hässliche Gesichter, Streber, Studenten und Damen bis zu der unwürdigen Correspondentin hinab? Das Gedränge ist fürchterlich, das Publikum imposant und das Kollegium unend-

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lieh interessant. Die Herren mögen spotten soviel sie wollen, es ist herrlich, dass in unseren Tagen uns [den Frauen!] die Mittel geboten werden, auch einmal ein gescheutes Wort [älteres Deutsch] zu hören, wir geniessen das Glück und müssen uns über das Spötteln zu trösten suchen. Um uns nun vollends Ihrem Spotte Preis zu geben, muss ich Ihnen bekennen, dass wir noch eine zweite Vorlesung hören und zwar eine von einem Ausländer gehaltene über Experimentalphysik. Auch dieser Kursus wird grösstentheils von Damen besucht.«

Der kluge Text verdient ein paar Gedanken: Dass Frauen, ohne immatrikuliert zu sein, die Vorlesungen belagern, ist bemerkenswert und Zeichen der auch schon damals so genannten »Emancipation« - die Worte »herrlich« und »Glück« gilt es festzuhalten. Die »Mode« als Antrieb ist offenbar kritisch erwähnt, wie der Gedankenstrich verrät etwa auch ein wenig selbstkritisch? Oder sind nur die anfanglich genannten Besucher gemeint bis hinunter zum »Streber«? Eines droht bei der Lektüre des Textes und seiner Reflexion unter zu gehen: Der König ist anwesend - allerdings bei Alexander von Humboldt, wohl kaum bei Eduard Gans, dem er doch zuvor, als er noch mosaischen Glaubens war, die Hochschullaufbahn verboten hatte (vgl. S. 57). Aber er besucht Vorlesungen. Welcher König tat das sonst noch? Noch zwei Beobachtungen zum Jahr 1827, ehe man im Ubergehen zum Jahr 1828 auf die grossen, entscheidenden Ereignisse des Jahres 1829 vorbereitet wird, die Wiederaufführung der Matthäuspassion, die Eheschließung und den Abschied des Bruders vom gemeinsamen Wohnen für immer. Zum Einen: Wie kommt es, dass auch nicht eine einzige Bemerkung oder Reaktion aus der Familie bekannt ist, die den Tod Ludwig van Beethovens am 26. März 1827 betrifft? Offenbar war gerade zu diesem Zeitpunkt niemand auf Reisen, so dass es keine brieflichen Äußerungen gibt. Und die Sonntagsmusiken waren nach ihrem Winterzyklus wohl gerade beendet worden. Man kann sich kaum vorstellen, dass die Familie und »das Rad« nichts unternomen haben, um diesen Verlust zu bedenken - verbal und musikalisch. Geheimnisvoll und womöglich doch eine solche Reaktion betreffend ist eine Bearbeitung des Finale von Beethovens Quintett op. 29 für Klavier vierhändig durch J. P. Schmidt, in Berlin 1828 erschienen, in der Marxschen Berliner Allgemeinen musikalischen Zeitung am 19. November besprochen und »Fanny und Felix Mendelssohn gewidmet« (Kinsky/Halm: Das Werk Beethovens. Thematisch-bibliographisches Verzeichnis seiner sämtlichen vollendeten Kompositionen, 1955, S. 72).

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Das Stück wurde in der Originalbesetzung am 9. August 1829 in der Leipziger Straße aufgeführt mit Eduard Rietz als Primgeiger (vgl. Tb, S. 20; Brief an den Bruder 8./10. August bei W). Zum Anderen: »Wie es dazu kam, daß Goethe Verse für Fanny schrieb, ist nicht genau bekannt. Als Zelter Mitte Oktober 1827 in Weimar weilte, wird - natürlich - auch die Rede auf die Mendelssohns gekommen sein. Möglicherweise hat er dabei auch von einer Klage Fannys über den Mangel an gut komponierbaren Texten erzählt. Goethe schrieb am 13. Oktober ein kleines >Ged[icht] für Fanny Mendelssohn^ wie er in seinem Tagebuch notierte, und gab das Blatt an Zelter mit den Worten >Gieb das dem lieben KindeGefiihl< unausstehlichen Brautpaare verstehe ich nicht.« (Zit. nach H I, S. 193) 30.: »Mont.fiiih spielte Fin der Garnisonkirche. Etwas Furchtbareres habe ich nie gehört, als den ersten Chor aus der Passion, wie ihn F. spielte. [...] Es war sehr schön: das werden wir nicht mehr hören, wenn Felixfort ist.« (Zum Topos des Furchtbaren bei Bach vgl. Schleuning 2006) 30.: Ein Geburtstagsbrief an Wilhelm Hensels Schwester Luise (zit. nach Gilbert 1975, S. 76f.): »Ich muß dem Himmel doppelt danken, der ihn [Luises Bruder] mir gerade jetzt gegeben hat, wo wir alle uns auf längere Zeit von meinem ältesten Bruder trennen, eine Trennung, die mir schwerer fallt, als ich Dir oder irgend jemand sagen kann, weil es sich eigentlich nicht sagen läßt [...]. Ich kann überhaupt diese Enge des Herzens nicht begreifen, worin der Bruder oder die Freundin dem Geliebten erst Platz machen muß, als wär's eine Wohnung mit abgeschlossenen Räumen.« Unklar ist, ob Hensel in seiner Nachschrift bei seiner alten Frömmelei geblieben ist oder nur der übermäßig religiösen Schwester zu Gefallen einen Vergleich seiner Trennung von ihr mit deijenigen seiner Braut von deren Bruder in den Satz münden läßt: »So wollen wir sie auch als eine Vorbereitung aufs Jenseits betrachten.« Gerne hätte man seine Braut, in deren Briefen auch nicht der leiseste Hauch solchen Fühlens zu bemerken ist, bei der Lektüre dieses Satzes beobachtet. April 8.: »Uebermorgen reisen sie«, nämlich der Vater und die Schwester Rebecka mit Bruder Felix, um ihn nach Hamburg zur Uberfahrt zu begleiten. »Mir ist unbeschreiblich zu Muth.« Der Bruder ist bis Dezember in England und Schottland. 13./14.: Fanny Mendelssohn Bartholdy empfindet bei den Proben zur dritten Aufführung der Matthäuspassion unter Leitung Zelters »Feuerpein«. Die Generalprobe findet am 16. April statt, »über die ich gern schweige.« 17.: Der Bericht vom Folgetag an den Bruder über die dritte Passionauffuhrung unter Zelter ist geprägt vom Wort »Angst« und der Schilderung eines unvorstellbaren Chaos, welches die Auffuhrenden in Schrecken versetzt, dem anwesenden König aber vielleicht verborgen geblieben ist. Diese Karfreitagsauffuhrung ersetzt den sonst üblichen Tod Fanny Caecilia Mendelssohn Bartholdy

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Jesu von Carl Heinrich Graun, ein Wechsel, der grundsätzlich erst später im Jahrhundert erfolgt. 25.: Beginn eines Liederkreises für Felix mit Texten von Droysen (HU Nr. 236). 25.: »Ach Felix, jetzt erst wird die Lücke fühlbar [...]«. Weiteres Briefzitat S. 73f. 29.: »Ich hatte ein paarmal Kampf mit H. zu bestehen.« Es ist ja nicht die einzige Nachricht aus diesem Jahr über Streit zwischen den Brautleuten. Sieht man von der Selbsterniedrigung ab (5. Februar), so ist doch an der Haltung der Braut erstaunlich: Sie ordnet sich nicht unter, wie es sicherlich viele gegenüber den Launen ihres »Zukünftigen« haben tun sollen und auch getan haben. Sie behauptet sich. Sie hat gegenüber der Mutter streiten gelernt, gegenüber beiden Eltern Diplomatie und Taktik, gegenüber den Geschwistern zum Teil auch Konkurrenz und gegenüber allen Liebe und Zärtlichkeit, dies auch im Kreis des »Rades«. All das hat Hensel in seiner ärmlichen und lieblosen Jugend nicht gelernt. Sein Vater stirbt 1811, und jetzt erst darf der Autodidakt sich auch professionell ausbilden lassen, später dann auch in Rom. Dort entfremdet er sich den Künstlerkollegen, lebt zurückgezogen. Nun platzt er in das andere Extrem, eine quirlige Großgruppe höchster Intelligenz und Künstlerschaft. Mit einer so lebendigen, streitbaren und lebensklugen Braut hatte er nicht rechnen können. Es scheint, sie habe die hereinbrechenden Stürme in den meisten Fallen bald dämpfen können, einmal beschwichtigend, einmal ausgleichend, dann wieder fest auftretend, aber auch zu Kreuze kriechend. Mai 1.: Brief über Pauls Konfirmation: »Da wir neulich in der Kirche so unser letztes Geschwisterchen in die Welt schickten, traten mir die großen Veränderungen des letzten Jahres wieder recht lebendig vor, was sich da Alles auseinander- u. zusammen geschoben hat!« 8.: »Hensel hat mir neulich Morgens, nach einem kleinen Streit, den wir miteinander hatten, eine Zeichnung geschickt, die ich Dir mitschicken würde, wäre sie nicht so gräulich. Es steht darüber >Mißverständnis< und Du bists, im Verständnißmit einer Miss, die Du nach Hause führst.« (C) 13.: Abschiedskonzert Paganinis, gleichzeitig eine Eintragung von ihm in das Notenalbum von Fanny Mendessohn Bartholdy. 20.: »Heut früh weckte mich der Schornsteinfeger um 6, sonst stehe ich so früh nicht auf, die Frucht meiner Ueberwindung war ein gutes 118

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Lied, des Du Dich freuen wirst, an der Wendung dieser Phrasen kannst Du nicht zweifeln, daß es von Droysen ist.« (C, bei W: »Windung«; es handelt sich um das verschollene Lied HU Nr. 234) Im gleichen Brief: »Mutter hat immer noch nicht gelernt, zu irgend einer Sache ja zu sagen, u. das giebt nach wie vor die unangenehmsten Momente. Noch neulich hatte ich wegen meiner Heirath eine der schlimmsten Scenen mit ihr.« Offenbar konnte die Mutter sich nicht daran gewöhnen, dass die Tochter inzwischen 24 Jahre alt, also volljährig war und ihre Entscheidungen selbst treffen konnte. Es handelt sich dabei um das »Familienunglück« (2. März), die üble Laune, die oft von den Eltern ausgeht und die schon Tante Henriette in Paris ähnlich bezeichnet hatte (vgl. S. 50; siehe auch 4. Juni). Juni 3.: »Die [Sing-] Akademie stagnirt, es ist nicht auszuhalten vor Langeweile.« Nicht so in der Leipziger Straße:»[...] wir singen und spielen aus der Passion.« (C) 4.: »Eben habe ich meine Lieder fertig geschrieben u. bitte Dich, verfahre damit, nicht als seyen sie aus der Ferne an Dich gerichtet, denn das giebt der Sache nur einen relativen Werth, sondern als hätte ich Lieder mit den u. den Fehlern gemacht, u. bäte Dich um eine kritische Rücksicht darauf. Eins ist darunter, welches ich für eins meiner besten Lieder halte, ich will einmal sehn, ob Du auch der Meinung seyn wirst, Du wirst es sehr schön singen.« (C) Entsprechend am 25. August: »Besseres wie die Lieder für Dich habe ich noch nicht gemacht [...].« Es ist der am 25. Mai begonnene Liederkreis. An Felix, während seiner ersten Anwesenheit in England 1829. Droysen. Das Widmungsexemplar trägt den Titel Lieder von Fannyfür Felix 1829 und ist durch Zeichnungen von Wilhelm Hensel geschmückt. Der Bruder lobt die sechs Lieder in einem Brief vom 3. Juli überschwänglich: »Ich denke es ist die schönste Musik, die jetzt ein Mensch auf der Erde machen kann [...].« Das zweite Lied war sein Lieblingslied {Grüner Frühling, süße Mailuft!) - »Das ist die innere, innerste Seele von der Musik« (zit. nach HU S. 214). Genau dieses Lied meinte auch die Komponistin, wie sie dem Bruder am 13. Juli schreibt (C). Bemerkenswert eine Wendung im Brief vom 4. Juni über ein Portrait Hensels von Lea Mendelssohn Bartholdy, das zunächst nicht, dann Fanny Caecilia Mendelssohn Bartholdy

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jedoch besser gelang, wohl weil »durch viele Mühe, u. vieles Andere wirklich das Böse heraus, u. das Gute hineingekommen ist [...].« Die Tendenz Hensels, die Portraitierten zu veredeln und zu schönen, zeigt sich durchgehend, so auch bei einer Zeichnung seiner Braut, die für den fernen Bruder bestimmt war: »Trotz meiner Protestationen hat er mir wieder einen Kranz aufgesetzt, die Leute müssen glauben, ich sey mit einem solchen Möbel geboren.« (C, 20. Juni) Der Bruder ist dann auch wenig begeistert und zeigt dabei ein Kunstverständnis, das sich zweifellos auch übertragen lässt auf seine - und wohl auch der Schwester - Haltung zur Komposition: »[...] in der ganzen sybilligen Prophetenhaftigkeit und schwärmerischen Begeisterung ist mein Cantor nicht getroffen! Da liegt die Begeisterung nicht so oben auf, mehr innen drin, und zeigt sich nicht in gen Himmel sehen, oder im Ausstrecken des Arms, oder im wilden Blumenkranz, denn alles das sieht einer auf den ersten Blick. Das muß er aber nicht, sondern erst nach und nach draus klug werden. Nimm mir das nicht übel, Hofmaler, aber ich kenne meine Schwester doch länger als Du, habe sie als Kind auf meinen Armen getragen (Uebertreibung) [...].« (Zit. nach Felix MB Briefe 1984, S. 93) Die Schwester nimmt es gelassener, wie ein Bemerkung vom 6. September zeigt: »Ein Mädchen habe ich schon lange, es ist aber keine von den schönen Liverpooler Köchinnen, sondern eine zarte kleine Berlinerinn, über deren ausnehmende Häßlichkeit Hensel sich schwer zufrieden geben kann. So wie er alles hübscher sieht, u. mir gern alle Umgebungen, alles Geräth des gemeinen Lebens zierlich u. angenehm einrichtet, so möchte er auch das Volk, das Einen umgiebt, gern angenehm u. erfreulich anstreichen, es geht nur halt nit.« (W) Wie die Braut in ihren begeisterten Schilderungen von der Schweizer Reise 1822 ist Hensel, unbeeindruckt von moderner Kunst, weiterhin Anhänger der Kunsttheorie von der »wohlgewählten Natur«, wie sie weite Teile des 18. Jahrhunderts bestimmte und sich auch noch in den die Malerei betreffenden Passagen Hegels über »idealisierte Natur« wiederfindet. Die Braut jedoch scheint inzwischen ihren Standpunkt verändert zu haben, was sich später auch in den ästhetischen Diskussionen mit ihrem Bruder zeigen wird. Offenbar in der Schönheitskonkurrenz mit Schwester Rebecka unterlegen, ja sogar der »Häßlichkeit« geziehen (vgl. S. 151), favorisiert sie Realismus der Darstellung, auch hinsichtlich ihres eigenen Abbildes. Ihre Portraits von Wilhelm Hensel, wie sie viele Buch- und 120

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Notentitel der Gegenwart zieren, dürften demnach nur eine eingeschränkte Vorstellung vom Aussehen der Komponistin vermitteln, von anderen Künstlern hergestellte vielleicht weit eher. Zeitgenössiche Versuche, ihr Aussehen zu beschreiben - später noch mitgeteilt -, tragen nicht dazu bei, Hensels Zeichnungen als besonders authentisch zu betrachten. Das Verhältnis zur Schwester war im Wesentlichen ungetrübt, auch wenn gelegentlich Kritik über deren Gefallsucht und Anhimmeln berühmter Männer - etwa Paganinis - anklingt, auch in Form von Neckereien, deren eine einen bisher noch nicht beobachteten Zug Fanny Mendelssohn Bartholdys offenlegt, nämlich den theatralischer Fähigkeiten. Er dürfte Aufführungen in der Wohnung der Mutter im Vorderhaus sehr zu Gute gekommen sein: »Zuweilen amüsire ich das kleine Töpfchen [W: »Zöpfchen«] damit, daß ich ihr nach der Reihe die verschiedenen Urtheile der Menschen über sie vorführe, als da sind: Ideal der Weiblichkeit - drolliges Gesichtchen - tragisches Gesicht - altes Testament - wie sich die verschiedenen Personen - Marx, Rauch [Bildhauer der Akademie], Heine, die Milder über sie geäußert haben.« (C, 7. Juni) Die Vermutungen über eigenständige ästhetischen Ansichten der Komponistin scheinen sich in einer überraschenden Äußerung zu beweisen, seltsamerweise gemünzt auf den Bruder und auf Hensel - nicht gerade Provokateure! -, passend eher auf Beethoven oder aufjosquin des Prez, wie ihn Martin Luther nach dem Zeugnis von Johannes Mathesius gesehen hat: »Josquin ist der noten meister, die habens müssen machen, wie er wolt; die andern Sangmeister müssens machen, wie es die noten haben wollen.« Nämlich: 11.:»[...] mir ist wohl in meiner Haut, ich bin gut gefahren, einmal mit Dir, dann mit ihm, schließlich u. sechstens mit Euch Allen, u. mit Euch Volk ist was aufzustellen, ihr stellt der Kunst ein Bein, u. kniet [W: »kommt«] ihr auf den Hals, u. sagt dann was ihr von ihr wollt. Bleibt dabei.« (C) Ein kleiner Scherz: Die Nummern 3 bis 5 gab es nicht. Gilt dies auch für sie selbst? Kurz danach, seltenerweise wieder einmal geschlechterbezogen: »Eigentlich sollte man keine Romane lesen, wenn man welche - erlebt, aber da wir Armen [C: »wir And[ ]« = nicht lesbar], die wir mit Verstände gesegnet sind, doch immer [C: »doch einmal«] ein eigentliches Küchenschürzenleben haben, so müssen [C: »müßten«] wir diese Pflanzen ungelesen lassen, u. das wäre doch schade [...]« (W) Fanny Caecilia Mendelssohn Bartholdy

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29.: Erstmals eine Komposition nach einem Text von Wilhelm Hensel und zu dessen Geburtstag am 6. Juli gedacht, das Chorlied Nachtreigen mit dem an Eichendorff gemahnenden Textbeginn: »Es rauschen die Bäume, es wallen die Düfte [...].« (HU Nr. 237) Juli Die Briefe des Bruders nennt die Schwester mehrfach »himmlisch.« 1.: Schilderung eines Festes der »Radgesellschaft« am »vorigen Mittwoch« zur Feier eines gleichzeitig stattfindenden Konzertes des Bruders in London - einem großen Erfolg, wie sich herausstellt. Man hat sich geschmückt, klatscht Beifall und ruft Bravo, bewirft den Abwesenden mit Kornblumen. Einige sitzen im Garten »auf einem Baum, wie Katzen«, man hat »so gelacht, namentlich über Hensel, der sehr aufgekratzt war, daß besonders Droysen u. Heydemann wirklich den Athem verloren, u. in Gefahr zu ersticken geriethen.« Beim Abschied - erst jetzt! - »wählte das Rad, von Begeisterung ergriffen, auf offener Straße Hensel zu ihrem Mitgliede, welches durch [...] Ueberhalten des aufgespannten Regenschirms geschah.« Allerdings: »es war eine trockene Hitze, u. keine Idee von Regen« (C). Es war also keineswegs ein lockerer Kreis: Hensel war schon seit einem dreiviertel Jahr in der Gesellschaft des »Rades«! Er wird über das lange Ausgeschlossensein verbittert gewesen sein - warum hatte seine Braut ihn so lange warten lassen? War da etwa ein anderer im Kreis, mit dem sie ein Geheimnis teilte? Wer wird da nicht eifersüchtig. Das vor zwei Tagen begonnene Chorlied ist noch nicht fertig. Ein Problem jeder Kunstproduktion wird angesprochen: Plant man zunächst das Ganze und beginnt dann, den Rahmen auszufüllen, um anschließend Details zu korrigieren - so wie Beethoven es meist tat -, oder schreibt man - wie manch anderer - von vorne weg, um anschließend eventuell gezwungen zu sein, den gesamten Aufbau zu ändern, wie es zu ihrem Leidwesen Praxis von Fanny Mendelssohn Bartholdy gewesen ist: »Du weißt, wie ängstlich ich immer bin, daß mir die Imagination davon läuft, daher freue ich mich immer, wenn es mir nur gelingt, Noten zu schreiben, u. sehe im Anfang wenig danach, wie es wird. Nachher freilich ärgre ich mich, wenn es schlecht ist.« 6.: Johann Gustav Droysen und Wilhelm Hensel haben am gleichen Tage Geburtstag, der mit einer großen Feier in der Leipziger Straße begangen wird. Droysen berichtet (zit. nach Klein 1997, S. 129): »Die beiden Schwestern hatten sich [...] mit meinen Lieblingsblumen, weißen

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Lilien und Kornblumen, das Haar geschmückt [...] meine ganze Bekanntschaft, die man im vergangenen Winter scherzweise das Rad nannte, weil ungeheuer darin geklatscht wurde [...].« Das würde aufjene Worterklärung hindeuten, die mit dem heute noch in Bayern verbreiteten Wort »ratschen« zusammen hängt. Droysen hat offenbar den Ausgang des Tages und die Stimmung seines Geburtstagsbruders nicht mitgekommen, denn Hensel «war nicht so vergnügt, wie ich wol gehofft hatte, er hatte sichfiirden Tag die Feststellung unserer Heirath versprochen, und da diese ausblieb, war er verstimmt. Ich bin überhaupt in dieser Hinsicht übel daran. Ich möchte sogern in Hensels Sinn die Sache beschleunigen, aber auch den häuslichen Krieg vermeiden, und darüber geschieht nichts, als daß Hensel immerfort unzufrieden ist.« 7.: Direkt anschließend: «Vorig. Dinst. war auch eine recht unangenehme Scene. Wir waren in der Oper gewesen, und als wir zu Hause kam[en\, sagte Mutter, Vater der schon mehrere Tage brummte, sey plötzlich darüber losgebrochen, daß Felix in London sich blos Mendelssohn nenne. Ich sprach mit Hensel, und wir kamen überein, Felix privatim zu schreiben, um ihn vor dem Ungewitterzu warnen, aber ich war sehr unglücklich [...] gesternfiel ich dann umso mehr in den Gram zurück, der ihm bevorsteht.« 8.: Der Brief der beiden. Hensel drückt sich recht gewunden aus, rät im Grunde, dem väterlichen Willen zu folgen: »Thust Du es nicht, würden wir Dich nicht weniger lieben, aber wir würden mit Dir zu leiden haben, denn es müßte Dir selbst leid thun, nachher.« (W; zu dem Vorgang auch Schoeps 1999) Die Schwester weist wieder einmal wie einst Tante »Jette« auf die »Familienkrankheit« hin: »Es macht mir wenig Spaß, daß Du, der Du uns nur Gutes zukommen läßt, so oft von hier aus Unangenehmes zu erfahren hast, u. daß sich Dir grade in dieser Beziehung das häusliche Leben in der Fremde fortsetzt. [...] Du weißt, wie es Dich immer verdroß, wenn die Eltern Dir ihre Zufriedenheit verbargen, denselben Verdruß setzt uns Vater fort, indem er gleichgültig und stoisch thut [...].« Und sie wird deutlich und praktisch: »Ich kenne u. billige Deine Absicht, diesen Namen, den wir alle nicht lieben [Bartholdy!], einst wieder abzulegen, aber jetzt kannst Du es noch nicht, da Du minorenn bist [mindeij ährig], u. ich habe nicht nöthig, Dich auf die unangenehmen Folgen aufmerksam zu machen, die es für Dich haben könnte, es wird Dir genug seyn zu wissen, daß Du Vater dadurch betrübst.« (C) Der Brief des Vaters strotzt vor Missmut und Zorn (zit. nach Konoid 1996, S. 75f.). Fanny CaeciNa Mendelssohn Bartholdy

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Der Antwortbrief des Bruders an das Brautpaar (C, S. 68) ist erfüllt von Dankbarkeit und Verständnis sowie der Zusage, nichts »gegen Vaters Willen durchsetzen zu wollen, u. nun gar solch eine Kleinigkeit!« Ahnlich hat er offenbar dem Vater geantwortet und sich dann weiterhin Mendelssohn Bartholdy genannt wie die Geschwister. Den Plan des Vaters allerdings (vgl. S. 85), gerade den Namensteil Mendelssohn fallen zu lassen, haben die Kinder zunichte gemacht, mochte es den Vater auch noch so verbittern. Offenbar waren die Kinder - anders als der Vater durchaus stolz darauf, dass ihre jüdische Herkunft am Namen zu erkennen war. 8.: Dem Bruder werden ausufernde Pläne zur Gestaltung der Silbernen Hochzeit der Eltern unterbreitet. Selbstverständlich soll der Bruder dabei ein Konzert geben: »Und das versichere ich Dich, bei mir sollst Du ungestört spielen, keine Maus darf sich rühren, alle Rührung geschieht innerlich.« Mozart am 17. Oktober 1791: »Was mich aber am meisten freuet, ist, der Stille beifall« (ähnlich auch Bruder Felix 1834, W, S. 175). Nachdem sie über Pläne berichtet hat, einen Teil der vom Brautpaar ins Auge gefassten Gartenwohnung zum Malatelier umzugestalten, heißt es einen Tag später: »Adieu, mein Felix, ich schriebe gern noch so fort [C: »ich schreibe gern noch sofort«!], dann fallt mir aber immer ein, was Du immer gesagt hast, u. was immer falsch ist, daß man von zu Hause nicht schreiben könne, ich glaube aber, es ist so [Betonung auf »so«], Männer müssen von Reisen schreiben, u. Frauen von zu Hause, die bringen dann jeden wohlbekannten Sandkorn aufs Tapet, u. das erfreut in der Fremde.« (W, S. 81) Sollte hier ein Funken von Sarkasmus glimmen, so nicht mehr in einem Abschnitt eines Briefes vom 13. Juli (nur C), der völliges Einverständnis mit dieser Rollenverteilung spiegelt: »Es ist hübsch, wie wir jetzt Beide nach unsrer Bestimmung leben, Du so frisch in der Welt umhersiehst, u. Dir in den drei Königreichen [Großbritannien] Platz siehst [suchst?], weil Dir etwa das Eine zu eng ist, u. ich so still u. zufrieden meiner neuen Existenz entgegen sehn u. gehn [sehe u. gehe?], die sich ganz ruhig u. langsam nach grade aufbaut.« Wie gefahrlich wäre es, nur ein solches Zitat anzuführen und nicht eines der ihm widersprechenden, um die Haltung von Fanny Mendelssohn Bartholdy zu zeigen! Es fahrt der Brief nämlich fort - Betonung auf »auch«: »Nun einmal denke ich auch noch umherzuschauen, denn Hensel hält den Gedanken sehr fest, mich nach Italien zu fuhren, wenn Du da bist [!], u. so unausführbar mir der Plan auch noch immer scheint, so 124

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lieb hab ich ihn doch. Du ziehst uns nach, wie die Eltern u. das Kind [Spitzname der älteren Geschwister für Rebecka], das nicht allein hier bleiben darf. Für Paul ist mir weniger bange, ihn wird sein Weg schon allein in die Welt fuhren, u. vielleicht weiter als uns. So wäre dann mancherlei ganz hübsch eingefädelt, wie viel sich davon erfüllen mag, werden wir erleben.« (C) Nämlich nichts. Die Eltern wollten nicht - »die entsetzliche Abneigung der Eltern« (4. März 1831) -, insbesondere die Mutter: »Alles was wir uns von Wüthen erwartet hatten, ward bei Weitem durch die Wirklichkeit übertroffen. Vater hatte den Muth verloren, und ließ uns im Stich [...]«. (1. Februar 1830; Entsprechendes, auch noch für das Folgejahr in einem Brief des Vaters aus Paris an die Mutter vom 27. August 1830, wo er von der Weigerung Berlioz' berichtet, nach dem Gewinn des Rompreises auch nach Rom zu gehen: »Das ist Wasser auf Deine Mühle, Lea!« [H I, S. 291; S. 274fF.]; ausgefeilte Reisepläne von Bruder Felix vom 10. August und 10. September 1829 an Rebecka und an die Schwestern). Am 21. August reichen die Reisefantasien sogar bis zu Ausblicken zur afrikanischen Küste von Malta aus. Und der Bruder geht inzwischen davon aus, dass die Reise wirklich stattfindet (Tb, 19. August). Der Bruder fahrt dann im Mai des Folgejahres allein nach Italien. 12.: vSonnt.friih muß ich der wunderlichen Scene erwähnen, die in Felixens Zimmer zwischen H und mir vorfiel. Diese Andeutung wird genügen.« (- für mich genügen. Sie rechnete offenbar damit, dass jemand ihr Tagebuch finden und lesen werde.) Nicht unbedingt, was Sie denken! Oder doch? Vielleicht hat sie sich seinen Zudringlichkeiten entzogen und dadurch erneut seine schlechte Laune hervorgerufen. Diese wurde noch verstärkt: »Das Liederspiel von Droysen kam hinzu.« Es geht um ein verschollenes Werk um die Loreley (HU Nr. 240). Hensel wird es nicht ertragen haben, dass nach dem Liederkreis für den Bruder vom Juni schon wieder ein größeres Kunstprojekt seine Braut und den offensichtlich recht attraktiven Droysen (sein Portrait bei Klein 1997, S. 131) in einen längeren und engeren Kontakt bringen sollte, ein Problem, das sich im September noch verschärfte. Dass etwas vor sich gegangen war, und nicht nur etwas künstlerisches, und wie Fanny Mendelssohn Bartholdy das Problem - zunächst - löste, zeigt der Text für den 15. Juli: «Da andre Dinge vorhergegangen waren, affizirte [in diesem Falle: reizte, ärgerte] mich Droysens Eintritt, und es dauerte lange, ehe ich mit H auf einen vernünfiigen Auswegfiel, derfand sich dann endlich so, daß H. ihm vorschlug, Theil an der Arbeit zu nehmen.« Fanny Caecilia Mendelssohn Bartholdy

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Dem Bruder gegenüber (21. August) bekommt diese Friedensstiftung durch Kooperation ein etwas anderes Gesicht, offenbar da die Schwester vermeiden will, ihn mit persönlichen Problemen zu behelligen oder aber ihm Hensels Schwächen zu offenbaren, da sie - wohl nicht ganz zu Unrecht - eine gewisse Eifersucht ihres Bruders vermutet. Daher dann wiederum ein makellos strahlendes Bild des Bräutigams nach England. Aus einer Notlösung wird Liebreiz und Rücksicht: »Zu gleicher Zeit da ich sah, daß es ernst, u. groß wurde, wünschte ich doch sehr, daß mein zukünftiger Eheherr Theil an der Arbeit nähme, u. so versprach mir dieser auf mein Bitten, einen 2ten Theil zu schreiben, wenn Droysen seinen ersten dramatischer machen könne.« (C Nr. 28) 29.: Dem »Kind« - Rebecka - ist anzumerken, »daß es unangenehm, lästig, alles was Du willst ist, neben einem Brautpaar her zu gehen, wobei schon ein kleiner Neid nicht abzuläugnen ist.« Hierzu ein maliziöser Brief der Schwester vom 17. Juni an den Bruder: »Gestern abend ist Fanny im charmanten Gespräch an der Seite des Heißgeliebten eingeschlafen ... Warum? Weil Du nicht hier bist.« (Zit. nach Tillard 1994, S. 163, nach Herbert Kupferberg, Die Mendelssohns, 2Tübingen 1977, S. 161) Außerdem »paukt« Rebecka - offenbar in der Parochialkirche - »mit Vituosität das Pedal zu den Orgelsachen«, ein Zeichen für die Liberalität, ja Fortschrittlichkeit in Sachen Kunst im Hause Mendelssohn Bartholdy, da neben dem Cello- und Blechbläserspiel das Orgelspiel zu den verpöntesten musikalischen Tätigkeiten von Frauen gehörte (vgl. Hoffmann 1991, S. 162ff; vgl. hier 3. Oktober). Zur Ermutigung von Schwester Fanny, öffentlich aufzutreten, hat die Fortschrittlichkeit jedoch nicht gereicht. Rebeckas Übungen - »Der alte Bach würde sich todtlachen, wenn er das sehen könnte« - scheinen mit der nahenden kirchlichen Trauung zu tun zu haben, denn die Braut bittet den Bruder, dem Organisten Eduard August Grell fiir diesen Anlass ein Präludium auszusuchen. Wie eine Idee zum Zyklus Das Jahr von 1841 wirkt ein - nicht ausgeführter - Plan, zu dem sie den Bruder fragt: »Wie findest Du die 12 Monate, durch weibliche Köpfe representiert u. mit Liedern begleitet?« (W) 30.: »Es ist mir sehr merkwürdig, wie mich schon der Brautstand viel mehr Neues gelehrt hat, als ich im Ehestande lernen zu können glaubte, und wiesehr stufenweis sich bei mir Alles entwickelt.« Zu den Lernerfolgen gehört mit Sicherheit diplomatisches Geschick, womit sie Problemen wie denjenigen mit ihrem Bräutigam zu Leibe rückt. Gleich in der nächsten Zukunft sollte sie wieder Gelegenheit haben, sich darin zu üben. 126

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August Anfang des Monats erreicht Ludwig von Mühlenfels fiir längere Zeit die Leipziger Straße. Er ist ein Freund des Bruders und gibt von seinem Leben, einer alternativen Version des Grafen von Monte Christo, allerdings mit stärkerer politischer Färbung, Berichte ab, die »mit gespannter Aufmerksamkeit« verfolgt werden (21. August). »Er ist ein prächtiger Mensch.« So die begeisterte Zuhörerin noch am 22. September. Wie reagiert Wilhelm HenselP Erraten! (vgl. Ende September) 15.: Hensels Zeichnung »Das Rad« ist fertiggestellt und wird dem Vater mitgegeben, der den Sohn an der holländischen Küste treffen und ihm das Bild übergeben will - was nicht gelingt. Es stellt die Mitglieder des »Rades« konzentrisch angeordnet um die Nabe dar, welche gebildet wird durch Felix Mendelssohn Bartholdy. 23.: »Und sonderbar ich habe nie so stark u. klar den ganzen Umfang meiner Liebe empfunden, wie jetzt, wo Du, zu meinem tiefen Kummer daran zweifelst. Ich sage es wahrhaftig nicht, um Dich zu beruhigen, Wilhelm, ich sage es Dir, weil es mir das Herz abdrückt, es zu sagen. O laß uns ganz einig seyn [...].« (Helmig/Maurer 1997, S. 153) 25.: Erinnerung, Felix möge fiir die Trauung ein Orgelpräludium aussuchen. Sie selbst »habe meinen Orgelausgang schon ziemlich im Kopfe. G Dur, Pedal fängt an.« [Offenbar HU Nr. 243] »Ueberhaupt bin ich recht froh, zu der Ueberzeugung gelangt zu seyn, daß der Brautstand meiner Musik nicht geschadet hat. Habe ich nun erst ein gutes Stück im Ehestand gemacht, dann bin ich durch, und glaube an ein ferneres Fortschreiten.« 27.: »Von den kleinen Stürmen, die ich mit Hensel häufig zu bestehen habe, sage ich im Einzelnen nichtgern etwas, weil es geschrieben [sich] nicht gut ausnimmt, und es sich am Ende auch nicht wohl sagen läßt. Genug, ich bin zufrieden und glücklich, und ich denke, er ist es auch.« September Der Abschlussteil der Italienischen Reise des Weimarer Familienfreundes Goethe, deren Veröffentlichung 1816 begonnen worden war, erscheint in diesem Jahr 1829, als die Pläne zur Italienreise sich intensivieren, so in einem Brief an den Bruder vom 21. September, der als Haupthindernis die finanzielle Seite des Unternehmens verdeutlicht: Hensel müsste für die Finanzierung der Reise entweder tief in die Tasche greifen, »wobei, im besten Fall, der ganze Erwerb des Jahres darauf ginge«, oder »eine Anstellung dort zu suchen [W: »Ausstellung«!]«

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wäre, was »einen sehr langen Aufenthalt dort zur Folge haben« würde, oder sich königlich-preußische und großherzoglich-weimeraner Bestellungen für Gemälde sichern, die er in Italien verfertigen könnte. Die Eltern kommen im Plan nicht mehr vor, die es aber ohnehin »mit Recht mißbilligen würden, wenn wir, anstatt uns am Anfang unsrer Verheirathung einzuschränken, u. ruhig zu leben, u. unsre Pflichten hier zu erfüllen, uns gleich ein so kostspieliges Göttervergnügen machten [...].« (C) Der Plan des Bruders, nach einem Treffen mit dem Vater auf dem Festland gemeinsam mit ihm nach Berlin zurückzukehren, kann nicht in Erfüllung gehen, da der Bruder nach der Rückreise aus Schottland am 19. des Monats einen Unfall hat: Er stürzt von der Kutsche und verletzt sich am Knie, langfristig gepflegt von seinem Freund und Mitreisenden Karl Klingemann. Dadurch wird auch seine Teilnahme an der Hochzeit unmöglich, wie er Ende September mitteilt. Dass er trotz Bitten das Orgelpräludium für die Trauung weder bestimmt noch komponiert, ist, auch im Zusammenhang mit der Dauer des Auskurierens, als Teil einer Strategie gedeutet worden, die Teilnahme an der Hochzeit zu vermeiden. Die brieflichen Liebeserklärungen an die Schwester Fanny werden allmählich spärlicher. Ihr Gewicht sowie ihre individuelle Bestimmung sind zu überdenken, wenn man in einem Brief vom 10. August (H I, S. 274f.) an die Schwester Rebecka liest:»[...] Du hast gar keinen Begriff, wie ich Dich liebe und wie nahe ich mich Dir denken muss, um froh zu sein, und wie jede frohe Stunde Du mir verschaffst, und wie ich in meinem Leben nie anders denken und fühlen werde. Nie! - Kannst ein dickes Haus auf mich bauen, ich halte fest. Aber es ist sonderbar, dass ich keine Note schreiben könnte, wärst Du nicht in der Welt, möchte auch nicht leben. [...] ich werde komponiren müssen, viel und fleissig und gut; das kann und will ich aber nirgends als bei Dir.« Ein »Privatbrief« - hat Rebecka ihn der Schwester gezeigt? Hätte diese die Äußerungen nicht als Zeichen einer Loslösung auffassen müssen, vor allem was Das verborgene Band betrifft (Klein 1997), welches die Musik zwischen ihnen geknüpft hatte? Spielte der Bruder etwa die Schwestern heimlich gegeneinander aus? 2.: Für jene, die inzwischen eine Aversion gegen Abraham Mendelssohn Bartholdy ausgebildet oder den Eindruck gewonnen haben, durch die Zähigkeit der Mutter im Kampf gegen die Heirat herrschten ausschließlich Spannung und schlechte Stimmung im Hause: »Vater schreibt uns die allerlustigsten Briefe nach Berlin mit allen möglichen Neuigkeiten, nur kein Wort von seinem Wiederkommen oder Weiterreisen. 128

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[...] Seit Vater fort ist, schlafen wir Beide bei Mutter im Zimmer, u. machen immer sehr viel dummes Zeug. Heut früh lachten Mutter und Beckchen sehr, weil ich sagte, als wir noch im Bette lagen: heut kommt ein Brief und die Malon. [ein Hausmädchen?] Lebe so wohl, ich bin von nun an unzurechnungsfähig.« (C) Etwa ab diesem Zeitpunkt nimmt die Haltung des Vaters zu den Kindern eine entscheidende Wendung. Er wird ruhig und heiter. Felix Mendelssohn Bartholdy nennt einen Brief vom Vater 1929 einmal »lieb und weich und freundlich« (H I, S. 279), zuvor undenkbar. Ja, nach dem Tod des Vaters 1835 schreibt er, »wie besonders seit einigen Jahren mein Vater gegen mich so gütig, so wie ein Freund war, dass meine ganze Seele an ihm hing [...].« Er habe seinen »einzigen ganzen Freund während der letzten Jahre und meinen Lehrer in der Kunst und im Leben« verloren (ebda., S. 382f.; an Schubring und Bauer). Auch in der Kunst! So verrät die Schwester ihrem Bruder am 22. September, dass der Vater die oben erwähnte Reise »fast allein Deinetwegen, u. in der Hoffnung, Dich zu sehn, unternommen hat, er konnte es nicht länger aushalten.« (C) Beim Tode des Vaters (Tb, 18. November 1835): »So sanft, so schön war das Ende [...]. So schön so unverändert ruhig war sein Gesicht, daß wir nicht nur ohne Scheu, sondern mit einem wahren Geftihl der Erhebung, bei der geliebten Leiche verweilen konnten. Der ganze Ausdruck so ruhig, sanft, die Stirne so rein und schön, die Hände so mild.« 10.: »Heut ist des Großvaters lOOjähriges Geburtstagsfest, das durch Stiftung 2er Waisenhäuser, und hier in der Gesellschaft der Freunde durch eine Festlichkeitbegangen wird.« Mitte September Zeugnis eines besonders heftigen Streites, der nun auch direkt in die kompositorische Tätigkeit eingreift und eine Bewertung von Instrumentalmusik bemüht, die im 18. Jahrhundert wesentlich dazu beigetragen hat, die für die feudale Epoche bestimmende Vokalmusik durch die Instrumentalmusik zu verdrängen, Sinnbild bürgerlicher Individualität und idealer Ort innerer Freiheit (vgl. Schleuning 2000, Kap. IV): »Lieber Wilhelm, Du hast mit Bestimmheit etwas ausgesprochen, was mich sehr schmerzt. Da Du es aber als festen Willen ausgesprochen, kann u. darf ich nichts dagegen sagen, sondern nur meinen Entschluß nach Deinem fassen. Ich komponire nichts mehr flir Gesang, wenigstens nichts von neuen, mir bekannten Dichtern, am allerwenigsten aber von Droysen. Mir bleibt die Instrumentalmusik, ihr kann ich anvertrauen, was ich will, sie ist diskret. [...] Ich sehe nun wohl ein, was ich immer gehört, u. was mir auch der wahrheit-

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redende Jean Paul gesagt hat: Die Kunst ist nicht für Frauen, nur fiir Mädchen, an der Schwelle meines neuen Lebens nehme ich Abschied von dieser Kindergespielin, es wird mir Ersatz genug bieten.« (Zit. nach Helmig/Maurer 1997, S. 155; Jean Pauls Erziehungslehre Levana sagt im 4. Bruchstück über weibliche Erziehung § 94 allerdings genau das Gegenteil, kritisiert jedoch das Zeichnen als Frauenbeschäftigung, da zu zeitaufwändig; Mitteilung von Eberhardt Schmidt vom Jean-Paul-Museum in Joditz.)

Ein weiteres Projekt hatte Hensels Eifersucht erneuert, etwas, »das Du bei Droysen bestellt hast«, wie Fanny Mendelssohn Bartholdy am 21. des Monats dem Bruder schreibt. Hensel hatte gefordert, mündlich und schriftlich, die Braut möge keine Texte von Bekannten mehr fiir ihre Lieder wählen (vgl. ebda., S. 160). Jedoch verging er nach der Reaktion seiner Braut vor Selbstanklage, schwankte zwischen Zurücknahme und Beschwörung: »Ja bist Du um keinen andren Preis in ganz freier, unbefangner Kunstübung zu erhalten, nehm' ich vorläufig meinen Spruch von heut früh zurück u. wir berathen in Liebe wie sich die Sache weniger schroff stellen läßt. [...] Denke u. hilf Du, nur Grundbedingung von Allem bleibt ganz uneingeschränkte Uebung Deiner Kunst. [...] Nein, Du sollst nicht Abschied nehmen von Deiner Jugendgespielin, an der Schwelle Deines neuen Lebens u Deine Kunst, Theil, ja Wesen Deines Wesens wird meine heilige Freude seyn. Wir wollen beweisen daß Jean Paul sich irren konnte.« (Zit. nach ebda., S. 158)

Sie haben es bewiesen. Ist es Zeichen des von der Braut Ende Juli erwähnten Lernprozesses, dass nun auf Grund dieses Streites die Liedproduktion in den folgenden 15 Jahren erheblich zurückgeht und unter den Textdichtern fast keine Bekannten mehr zu finden sind - Hensel mit fünf Texten ausgenommen? Eichendorff und andere große Dichter der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit treten an ihre Stelle und rufen eine Intensivierung des Kompositionsstils hervor. 20.: Im Herbst ziehen Devrients in die linke Wohnung des Gartentraktes. Die rechte wird das Ehepaar Hensel beziehen, und es entwickelt sich eine herzliche Freundschaft zu Therese Devrient und den Kindern, bis die neuen Mieter nach knapp zwei Jahren wieder ausziehen, da ihnen die Wohnung zu ungesund erscheint - praktisch nicht heizbar und durch dichten Bewuchs des Hauses dunkel und stickig (vgl. Klein 1997, S. 133). Dass in diesem Winter die Sonntagsmusiken ausfallen, kann nicht Wunder nehmen. Alles, was sich überhaupt musikalisch bewegen lässt, ist der Vorbereitung und Durchfuhrung der Feierlichkeiten zur Silbernen Hochzeit der Eltern im Dezember gewidmet.

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23. (vgl. Anfang August):» [...] Mittwoch hatte ich noch eine kleine, durch Zufall zum Ausbruch kommende Scene mit Hensel, wegen Mühlenfels, die sich zu Ersteren vollkommener Zufriedenheit und Beruhigung schloß, ich hatte noch Donnerstag einen unangenehmen Tag deshalb.« 25.: Der Bruder schreibt einen Glückwunschbrief zur Hochzeit, an der er nicht teilnehmen kann. 26.: Der Vater kommt zurück, »sagte kein Wort von Felixens Unfall den er wußte, hatte mir ein wunderschönes Armband mitgebracht, und schenkte Beckchen und mir sehr schöne Perlen.« 28.: In einem Familienbrief an den Bruder: »Gott gebe mir nur zum Mittwoch gute Nachrichten, mit welchen Herzen könnte ich sonst Sonnabend in die Kirche gehen?« (C) Ratschläge für eine Kräuterbehandlung der Knieverletzung. D a der Bruder kein Orgelpräludium für die Hochzeit geschickt hat, ist ein eigenes entstanden ( H U Nr. 243). Wer soll sie zum Traualtar begleiten? »Der alte Bach, oder ich mich selbst?« L e a Mendelssohn Bartholdy bleibt schwer verständlich, wenn man liest, was die Tochter nach den Widerständen der Mutter gegen die Ehe nun zu berichten hat - ob dies das Wesen der Tochter dabei leichter zu begreifen lehrt, ist ebenso fraglich (C): »Was ich Dir aber unmöglich beschreiben kann, ist Mutters Thätigkeit, Munterkeit, Plaisir an Allem, u. unendlichen Güte für mich, sie kann gar kein Ende finden mit Kaufen, Besorgen u. Einrichten, u. eine so komplett fertige Wirtschaft ist mir noch nicht vorgekommen.« 30.: »Und noch einmal >Streit< [...], drei Tage vor der Hochzeit.« (Helmig/Maurer 1997, S. 143) Ging es wieder um Eifersucht? Nach der Hochzeit ist es mit dem T h e m a vorbei. Offenbar genügte dasjenige, was man früher »Besitz« nannte, um in Wilhelm Hensel keinen Verdacht mehr aufkommen zu lassen. Der abwesende Blick seiner Angetrauten vor dem Traualtar ist ihm wohl entgangen. »Daß Du am Hochzeitstage immer im Vorgrunde meiner Gedanken standest, brauche ich Dir nicht zu sagen.« (W) Dies sagt Frau Hensel einen Tag nach der Trauung, also am 4. Oktober, nicht ihrem Mann, sondern sie schreibt es ihrem Bruder. Dennoch scheint Wilhelm Hensel gegenüber seinem Schwager keine Eifersucht, sondern eine herzliche Freundschaft empfunden zu haben - Fanny Hensel schreibt gar von »Liebe« - , vielleicht nur, weil er keinerlei erotische Anziehung zwischen den Geschwistern erkennen konnte.

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Fanny Caecilia Hensel, kurz: Fanny Hensel

1829/11: Hochzeit und Silberhochzeit Oktober 3.: Ein Samstag: »Gegen 4 war die Trauung« von Wilhelm Hensel und Fanny Mendelssohn Bartholdy - »Zum Letztenmal«, wie sie ihrer Unterschrift im Brief gleichen Datums an den Bruder voranstellt. Unter der Gemeinde auch Carl Friedrich Zelter, der drei Tage zuvor einen Besuch in der Leipziger Straße gemacht hatte, vielleicht um sich nach dem Wohl des jungen Paares zu erkundigen (vgl. Zelter 1931, S. 296). Brautund frühe Ehezeit werden begleitet von einem herzförmigen Album mit Gedichten, Kompositionsentwürfen und Zeichnungen bis hin zu dem Zyklus Das Jahr von 1841 (vgl. Klein 1998). Außer dem bereits am 25. August erwähnten und erst am Tage vor der Hochzeit fertig gestellten Orgelstück in G-Dur für den Abschluss der kirchlichen Zeremonie komponierte Fanny Mendelssohn Bartholdy Ende September ein weiteres Präludium, diesmal in F-Dur (HU Nr. 242), »zum Eingange«, wie die Organisten sagen, und fertigte davon noch am Hochzeitsmorgen eine Reinschrift für den Organisten Grell an. Sie war dabei, als dieser am Vortage das G-Dur-Stück in der Parochialkirche übte, wo die Trauung stattfand: »[. . .] hatte die äußerste Lust, Orgel zu spielen, was aber doch, Zeitmangels wegen, unterbleiben mußte [...]« - ein seltenes und erstaunliches Phänomen bei Frauen jener Zeit. Anlass für die Komposition der Orgelwerke war, dass der Bruder trotz Bitten der Braut nichs Derartiges geschickt hatte und das vom Vater erwünschte »Ausgangsstück«, »die Pastorella«, sich »nicht mehr auftreiben« ließ (C). Dabei handelt es sich mit Sicherheit nicht um ein Klavierstück Fanny Hensels mit gleichem Titel (W, S. 435, Anm. 340), da es von 1846 stammt (HU Nr. 425), sondern - ja, welchen Komponisten wird Abraham Mendelssohn Bartholdy wohl zur Schmückung eines der bedeutendsten Familienereignisse in Erwägung gezogen haben? Johann Sebastian Bach selbstverständlich, und von diesem »die« Orgel -Pastorale F-Dur (BWV 590; zur Gattung Pastorale und auch speziell diesem Stück vgl. Schleuning 1998). Selbst wenn es nicht dieses Werk gewesen sein sollte, ermöglicht der Wunsch nach einer Pastorale einen Blick in die Seele des Vaters. Üblich 132

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ist »zum Ausgange« ein lautes, prächtiges und rauschendes Orgelwerk wie das Ersatzstück der Tochter, gradtaktig mit vollen Griffen, Grave ma non troppo lento, oder wie das Lieblingsstück des Bruders, offenbar der Anfangssatz von Bachs Präludium und Fuge Es-Dur (BWV 552) aus dem 3. Teil der Clavier-Ubung; welches Grell zusätzlich nachspielte, da die Kirche noch voller Menschen war. Eine Pastorale dagegen, gewöhnlich im 6/8-Takt, ist fast stets ein langsames, friedfertiges Stück in dünnem Satz, dessen stille Klänge, »zum Ausgange« gespielt, mit Sicherheit vom Rascheln und Murmeln der aus der Feier entlassenen Gemeinde gestört, wenn nicht übertönt würden. So konnte die gerade Getraute ihr eigenes Ausgangsstück wegen des lauten Redens und Glückwünschens überhaupt nicht wahrnehmen (vgl. auch zu BWV 552, Brief vom 4. Oktober an den Bruder, nur bei W). Etwas realitätsfremd hatte der Vater seine Sehnsucht nach friedlicher und stiller innerer Einkehr verwirklichen wollen. Nicht laute Freude, sondern ruhiges Bedenken als Ziel der Trauung! Nach der Trauung, bei der die Braut ein prachtvolles Kleid - vom Vater vor Kurzem aus Rotterdam geschickt - und eine Blumenkrone trug, machte das Paar noch einen Besuch, um 18 Uhr aß man » Mittagbrodt, dann waren ein Paar ängstliche Stunden, und um 9 gingen wir auseinander, die Schwestern [Minna und Luise Hensel] brachten uns noch herüber, dann schweige ich.« Françoise Tillard (1994, S. 175): »Wie traurig, daß eine junge Frau von dreiundzwanzig Jahren auf seltsam öffentliche Weise dieses Warten erdulden muß, bevor sie, beklommen und ängstlich, dem Unbekannten entgegengeht. [...] [Es kam] eine geradezu archaische Angst hinzu, ihre Musik, ihre Inspiration, ja ihre Identität einzubüßen. Als wohne fur sie der Jungfräulichkeit eine Macht inne, die der >Frau< (als wäre Fanny nicht als Jungfrau längst Frau gewesen) jäh abhanden kommt.« Erscheint das Adjektiv »archaisch« auch etwas übertrieben fur die Kennzeichnung von Fanny Hensels Ängsten - warum eigentlich nicht Vorfreude? -, da es auf sagenhafte heldische Jungfrauen und Männerverächterinnen angespielt wie die Amazonen oder wie Brunhilde im Nibelungenlied, so dürfte an der zweiten Vermutung über die Art dieser Ängste etwas Wahres sein. Schon die entsprechende Bemerkung aus dem Brief an den Bruder vom 25. August weist in diese Richtung - »Habe ich nun erst ein gutes Stück im Ehestand gemacht, dann bin ich durch, und glaube an ein ferneres Fortschreiten.« -, und die starken Zahnschmerzen im September, die dazu führten, dass mehrere Zähne gezogen wurden,

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zeugen möglicherweise von einer somatisch ausgetragenen Panik solcher Art vor dem großen Ereignis. Am Tage nach der Trauung wie beschwörend an den Bruder: »Ich bin die Alte, u. bleibe sie in Ewigkeit [...].« (W). Insofern sind ihre kompositorischen Anstrengungen der kommenden Monate, darunter neuartige größere Werke, auch als Marksteine der Selbstbestätigung, als Selbstbeweise zu verstehen. Anfang Oktober, vermutlich sehr bald nach der Heirat, ist zusammen mit Wilhelm Hensel ein Lied entstanden (HU Nr. 245). Textbeginn: »Zu Deines Lagers Füßen tret' ich im Sehnsuchttraum.« Mittags während der Hochzeitsvorbereitungen. Eine seltene Bemerkung: »Das war um 1. Ich erhielt wunderschöne Geschenke, sah gut aus [...].« Françoise Tillard findet es »rührend [...], wenn man weiß, welchen Kummer über ihr Aussehen sie sonst empfand.« (1994, S. 175) Weiß man das? Rebecka galt zwar als die Schönere von beiden, aber Klagen sind nur aus der Mädchenzeit bekannt. Hier die Beschreibung ihres Aussehens bei Sebastian Hensel, 32 Jahre nach dem Tod der Mutter erstmals erschienen und womöglich ebenso schönend wie die Portraits von Vater Hensel (H II, S. 377f.): »Sie war klein von Gestalt, und hatte - ein Erbtheil von Moses Mendelssohn - eine schiefe Schulter, was aber wenig zu sehen war. Das Schönste an ihr waren ihre grossen, dunkeln, sehr ausdrucksvollen Augen, denen man die Kurzsichtigkeit nicht ansah. Nase und Mund waren ziemlich stark, sie hatte schöne, weisse Zähne. Der Hand sah man die Ausarbeitung durchs Klavierspiel an. Sie war schnell und decidirt in ihren Bewegungen, das Gesicht war sehr lebendig, alle Stimmungen spiegelten sich auf demselben treu wieder; Verstellung war ihr unmöglich. Es merkte daher jeder sehr bald, wie es mit ihr stand; denn so sicher sich die Freude über einen lieben, gern gesehenen Menschen sofort zeigte, so unheildrohend lagerten sich auch gewisse Falten um Stirn und Mundwinkel, wenn eine ihr unsympathische Erscheinung sie verstimmte. [...] Ihr Gesicht nahm dann bald einen Ausdruck so tiefen Unglücks an, dass sie ihre Umgebung häufig dadurch in die größte Heiterkeit versetzte, wenn die Ursache in so gar keinem Verhältniss zu der in ihr hervorgerufenen Stimmung stand.«

Entsprechend Johanna Kinkel in ihren 1886 veröffentlichten Memoiren (zit. nach Klein 1997; S. 104): »Nüchtern betrachtet, war nichts regelmäßig schön an ihr als das schwarze Auge und die Stirn; doch der Ausdruck überwog Alles.« Wilhelm Hensel - nie hätte er diese bedeutenden Augen mit »einem Brill« gezeichnet, wie man damals, zumindest in der Familie, sagte. Man 134

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muss die Brille über die Portraits malen, um sich einer alltäglichen Fanny Hensel nähern zu können. Eine letzte und äußerst wichtige Information zur Hochzeit: das Geld. Am 1. Oktober hatte Justizrat Bergling in der Leipziger Straße mit den Eltern - der Vater war seit 1821 Stadtrat - und den Brautleuten einen »Ehegelöbniß Vertrag« aufgesetzt (Klein 1997, S. 156ff.). Außer der Einwilligung der Eltern in die Ehe und der Festsetzung des Trauungsdatums geht es ausschließlich ums Geld. Wilhelm Hensel kommt nicht vor, außer dass seine Frau mit ihrem Geld schalten kann, ohne ihn zu fragen. Doch muss sie damit den Haushalt bestreiten, soweit erforderlich. Es wird also Gütertrennung bestehen. Die Eltern - und die Braut? - verhindern, dass Hensel sich bei seiner Frau bedient. Die Braut besaß bereits ein Vermögen, nämlich 18613 Reichstaler, und der Vater verwaltete es, indem er es durch Zinsen und Zuzahlungen jährlich um 1500 Taler zu vermehren hatte. Der Tochter sollten vierteljährlich 5 Prozent Zinsen der Gesamtsumme zugehen. Sollte die Tochter die Verwaltung des Vermögens selbst übernehmen wollen, sei der Vater nicht mehr zu Zuzahlungen verpflichtet. Mithin erhielt Fanny Hensel vierteljährlich etwa 850 Taler, was ein monatliches Einkommen von etwa 300 Talern bedeutet. Sie konnte also pro Tag etwa 30 Taler ausgeben. Was konnte man in Berlin um diese Zeit für einen Taler kaufen? Ein Taler war 24 Groschen oder 90 Kreuzer wert. Ein Handwerker verdiente um diese Zeit um 500, Goethe als Minister 3100 Taler pro Jahr. So unsinnig der Vergleich damaliger zu heutigen Preisen für unterschiedliche Waren auch ist, so doch ein kleiner Hinweis: 1823 kostete ein Pfund Butter 31/2, ein Pfund Käse 4 Groschen. Der Vater (HI, S. 333) klagt 1833 aus England über teure Eintrittskarten und Brillen für 31/2 bzw. 12 Taler, wie er errechnet. Wahrscheinlich hatte der Vater für jedes seiner Kinder seit der Geburt eine nicht geringe Summe angelegt. 4.: Scherz und Ernst dicht beeinander: »[...] du wirst wol dem Stiefel den ich schreibe, anmerken, wie wenig ich noch in Ruhe bin.« (W; für Nichtdeutsche: »Stiefel« witzig statt Stil). Hensel hat, sieht man von den in seinem Zimmer aufgehäuften »Malergeräthschaften« ab, seinen Schönheitssinn walten lassen: »Das Balconzimmer, unsere Schlafstube, ist ganz nach Hensels Angaben eingerichtet, durch einen rothen Vorhang in 2 Hälften getheilt, der durch zierliche Stäbe gehalten wird, welche, so wie Betten u. Stühle, nach seiner Angabe sind. Das blaue Zimmer ist toll Fanny Caecilia Hensel

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u. voll von schönen Sachen, theils Geschenke der Eltern, theils anderer Familienmitglieder u. Freunde.« Ein Doppelbett gibt es also nicht, offenbar keine deutsche Erfindung. 8.: Lea Mendelssohn Bartholdy zeigt eine bemerkenswerte Zähigkeit im Widerstand: »Mutter will noch nicht hier essen, sie hat es mir rund abgeschlagen, sondern erst einmal Thee hier trinken, was hoffentlich auch noch einmal diese Woche seyn wird, u. worauf ich mich sehr freue [...].« Zorn wäre die Reaktion, die man erwarten würde. Aber die Tochter scheint durch die Dauerkonflikte mit Mutter und Bräutigam so abgeklärt, dass sie sich auf das Positive konzentriert. Erst für den 23. heißt es, dass »die Eltern und Schwestern [auch diejenigen Hensels] zum erstenmal hier aßen.« Auch die musikalische Betätigung ist janusköpfig, zeigt auf der einen Seite Stagnation - »Ritz [Eduard Rietz, der Geiger] hat mich noch nicht besucht, ich erwarte ihn mit großer Ungeduld, denn wenn er nicht käme, wäre es mir erstlich an u. für sich sehr leid, u. dann müßte ich, zwar nicht die Musik, aber doch das Musikmachen gewissermaßen an den Nagel hängen.« (C) auf der anderen Seite erste Beweise für »Musik«, nämlich der kompositorischen Selbstbestätigung nach der Eheschließung: »Meine Sonate fange ich vielleicht heut noch an.« Wahrscheinlich ist es jene dreisätzige Klaviersonate Es-Dur (HU Nr. 246), die im November unvollständig aufgegeben oder aber absichtlich in dieser Form abgeschlossen wurde, trotz Skizzen, die einen Finalsatz betreffen könnten. Jedoch: Wäre das Largo molto in As-Dur wirklich als Schlusssatz gemeint, hätten wir eine doppelte revolutionäre Tat vor uns, soweit es dergleichen in der Musik geben mag: Einmal das Enden eines Sonatenzyklus mit einem langsamen Satz und dann auch noch in einer fremden Tonart, mithin unter Verzicht auf die Tonarteinheit im Werk. Man kann in dieser Hinsicht Fanny Hensel viel zutrauen, auch im Vergleich mit dem Bruder, jedoch erscheint diese Häufung von Neuerungen, die weit in die Zukunft weisen würden, doch als ein wenig massiv. 9.: Mit dem Beginn eines eigenen Tagebuches an den Bruder geht die Gewöhnung an das neue Leben einher (W): »So gering nur eine Veränderung seyn kann, ist die meines Standes. Ich bin im Hause, u. die mündliche Post geht fleißig über den Hof [...] überschaue mit Behaglichkeit meine Existenz, in der ich mich gar wohl fühle, liebe meinen Mann, u. spreche mit meinem Felix [...] hab mir das, was mein veränderter Stand Neues mit sich bringt, rasch angeeignet, fuh136

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le mich bekannt u. wohl darin, sehe Hensel überaus zufrieden mit mir, bin es eben so mit ihm, u. er liebt Dich, Felix, sonst könnte er mich, u. ich ihn nicht lieben.« Entsprechend am 30. des Monats: »Ich kann natürlich nur im Ganzen melden, daß es mir gut und angenehm geht, daß ich mit Hensel und meinem Leben zufrieden bin [...].« 13.: In den gesamten zehn als Rahel-Bibliothek 1983 herausgegebenen Schriften von Rahel Varnhagen kommen Felix Mendelssohn Bartholdy und Wilhelm Hensel mehrfach vor, Fanny Hensel jedoch nur ein einziges Mal, und zwar in einem Brief an Pauline Wiesel vom 14. Oktober (Bd. X, S. 777), der auch einen Einblick gibt in die Tafelfreuden der gehobenen Stände: »Lea's Tochter heirathete letzten Sonnabend vor acht Tagen den Mahler Hensel. Alle glücklich. Gestern gab ich ihnen eine Soirée. Die Familie sechs Personen [ohne Felix], noch zehn dazu. Maccaroni; Sardellensalat; Reh und Enten, Brottorte, Baisers, Birnen, Trauben, Nüsse, Apfelkompott, Preißelbeeren; Himbeer- und Nußeis. Alles in Perfektion.« Was heute Dessert heißt, war damals in der Uberzahl. Nicht so appetitlich der Schlusssatz: »Verwahren Sie meine Briefe, weil sie hübsch sind.« Offenbar hoffte sie auf eine Veröffentlichung - mit Erfolg. Auch Fanny Hensel und ihr Bruder scheinen ab einem gewissen Zeitpunkt damit gerechnet zu haben, dass ihr Briefwechsel veröffentlicht werden könnte (vgl. W, S. 153, 159, 268). 25.: »[...] nun glaube ich zu wissen, daß ich guter Hoffnung bin, und wie mich alles Neue überrascht, so habe ich mich auch nichtgleich in diesen Zustand finden können, bin aber jetzt schon mit dem Gedanken vertraut. Ich muß mir den 26ten merken, weil ich früher keine genaue Rechnung fuhren kann. Ich bin jetzt merkwürdig wohl. Der Himmel lasse es dabei.« November »Gestern waren wir einen Monat verheirathet, ich habe allen Grund zu hoffen, daß wir in einem Jahre ebenso zufrieden seyn werden.« (3. November, nur bei C) Einer der Gründe für Fanny Hensels Zufriedenheit dürfte sie besonders überrascht haben: Ihr Mann übernahm Verantwortung für ihre künstlerische Tätigkeit, nicht nur indem er Texte zu Liedern beisteuerte, sondern indem er auch das Musizieren und Komponieren ermunterte (vgl. 8. Oktober). Hier ein Beispiel für beide Arten der Unterstützung: »Mein Mann hat es mir zur Pflicht gemacht, jeden Mor-

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gen gleich nach dem Frühstück ans Ciavier zu gehen, weil nachher Störung auf Störung folgt, heut früh kam er, u. legte mir stillschweigend das Blättchen aufs Ciavier, u. 5 Minuten später rief ich ihn wieder herum [herein?], u. sang es ihm so vor, wie es eine Viertelstunde später hier auf dem Papier stand [...].« (Anfang des Monats; nur C; das Lied offenbar verschollen, nicht bei HU) Es ist ein Monat des Wartens: »Aber nun kommst Du bald wieder [...] bleib nicht zu lange, sonst wird der Kaffee kalt [...].« (3. Oktober) Die Rückkehr des Bruders scheint bevorzustehen. Die Schwester erwartet ihn sehnlich, nachdem mancher trübselige Brief vom Krankenlager »mir nochjetzt die Thränen in die Augen bringt, wenn ich dran denke.« (14. Oktober) Etwas Seltenes: Sie hängt dem Vergleich zwischen einer Felix zugetanen Chorsängerin und »einer begeisterten Mänade« das jiddische »Nebbich!« an (3. Oktober; vgl. 18. Mai 1830 und viel Weiteres dieser Art). Zeichen geschwisterlicher Vertrautheit? Erinnerung an den Namensstreit mit dem Vater, an die Verbundenheit im Bestehen auf dem Namen Mendelssohn? Am 18. ist Felix immer noch nicht eingetroffen. Statt vieler »Privatbriefe« wird nun ein »Familienbrief« an Karl Klingemann in London geschrieben (zit. nach Klein 1997, S. 148f.). Das Ehepaar, die Schwester und die Mutter beteiligen sich. Die Rückkehr des Bruders und Sohnes ist Hauptthema. Fanny Hensel äußert die Hoffnung, »daß dieser Brief Sie ohne ihn trifft. [...].« Im Weiteren eine absurde Einladung im Stil und Wortgebrauch der höfischen Epoche: «Könnten Sie nicht heut Abend zu uns kommen? wir haben einige Theegäste, und ich werde einige Piecen auf dem Fortepiano vorzutragen die Ehre haben. [Und da er nicht kommen wird:] >Es wird schon besser werden< ist eine beliebte Redensart des Rades.« Die Planungen zur Feier der Silbernen Hochzeit der Eltern intensivieren sich. Ob Fanny Hensel ihren Beitrag schon in Angriff genommen hat, das Festspiel Die Hochzeit kommt mit Text ihres Mannes (HU Nr. 248), oder erst nach der Ankunft des Bruders daran geht, wird unterschiedlich berichtet (vgl. Tillard 1994, S. 179). Dezember »Wie Felix gestern vor 3 Wochen Dinstag den 8ten, oder eigentlich Mont. 7ten ankam [...]«, erinnert sich Fanny Hensel am 30. Dezember und, -»wie wir die Zeit darauf ausschließlich mit Arbeiten und Vorbereitungen zur silberenen 138

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Hochzeit hinbrachten, und unsfast nur abends sahen [...].* Für die Feier am 26. Dezember arbeitet der Bruder an einem Liederspiel Aus der Fremde (posthum als op. 89 mit dem Titel Die Heimkehr aus der Fremde veröffentlicht), das er bereits in Schottland mit Klingemann entworfen hat. In eine dörfliche Szenerie ist die Heimkehr des als fahrender Musikant verkleideten Sohnes des Dorfschulzenpaares eingebettet, letzteres von Wilhelm und Fanny Hensel dargestellt. Da Wilhelm Hensel offenbar nicht tonrein singen konnte, »hatte Felix den Scherz gemacht, ihm seinen Antheil an einem Terzett auf ein und dieselbe Note zu setzen, aber wir hatten tausend Noth und Spaß, ihm den Ton beizubringen.« (Devrient 1872, S. 91f.) Dass deshalb Devrient und, ihm folgend, große Teile der neueren Literatur Fanny Hensels Ehemann »ganz unmusikalisch« nennen schon Sebastian Hensel: »absolut unmusikalisch« (HI, S. 281) -, ist angesichts seines erwähnten Engagements um Musik schwer zu begreifen. Reichen denn Interesse und konzentriertes Hören nicht aus, jemanden musikalisch zu nennen? Dann müsste man Fanny Hensel, die großes Interesse an bildender Kunst hatte, aber wohl nicht zeichnen konnte, »unkünstlerisch« nennen. Das Festspiel der Schwester, bei der Aufführung vorangestellt, beschäftigt statt der ursprünglich geplanten Klavierbegleitung ein kleines Orchester neben Chor und Solisten, so wie es auch beim Liederspiel des Bruders der Fall ist. Die Solisten sind u. a. Therese Devrient (Die erste Hochzeit-Erinnerung), Schwester Rebecka {Die silberne Hochzeit - Gegenwart), schließlich Fanny Hensel (Die Goldene Hochzeit - Zukunft, ein Datum, das die Eltern nicht erreichen werden). Ob der Bruder »Fanny bei der Composition [...] zur Hand zu gehen [hatte]«, bleibe dahingestellt (Devrient 1872, S. 91). Die Hilfe scheint sich im Wesentlichen auf die Instrumentierung beschränkt zu haben, da es das erstemal war, dass die Schwester für Orchester komponierte. Erst durch das Zureden des Bruders habe sie, wie sie Klingemann schreibt, »immermehr Orchestermuth gehabt.« (Zit. nach Klein 1997, S. 162); zur Verwendung des Werkes durch Wilhelm Hensel 1848 vgl. ebda.) Lea Mendelssohn Bartholdy hat in Briefen an Karl Klingemann die äußerst reichhaltigen Festlichkeiten beschrieben (zusammengefasst bei Tillard 1994, S. 180ff. nach: Felix Mendelssohn Bartholdy: Briefivechsel mit Legationsrat Karl Klingemann, hg. Karl Klingemann, Essen 1909, S. 68ff.). Insgesamt etwa 120 Personen beteiligten sich während der drei Tage am Uberreichen der Weihnachtsgeschenke am 24. Dezember, am Besuch fast der gesamten Verwandtschaft am Folgetag mit der Aufführung von

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Instrumentalmusik und einem kleinen Theaterstück von Eduard Gans als Polterabendüberraschung, schließlich an der Beschenkung der Jubilare am 26. Dezember mit teilweise sehr wertvollen Gegenständen, so einer »prachtvollen Vase, [...] so kostbar, wie Monarchen sie sich wohl zu schenken pflegen [...]«, und dann - nach Ubergabe der Textbücher der beiden Liederspiele - an der abendlichen Auffuhrung im Vorderhaus, da der Gartensaal ja unbeheizbar war. Fanny Hensel am 30. Dezember im Tagebuch, nachdem sie die Beschreibung der Festlichkeiten dreimal mit dem Modewort »hübsch« versehen hat: »Jetzt muß sich Vieles über die Zukunfi entscheiden, und das macht mich oft ernst und nachdenklich.« Dass es dabei um das in einem halben Jahr zu erwartende Kind geht, ist selbstverständlich. Wahrscheinlich ist, dass auch die Zukunft als Komponistin »nachdenklich« machte.

Die Jahre 1830-1839 »Man kann oft im Leben die Bemerkung machen, daß Unglück und Glück im Leben nicht einzeln, sondern in Massen, parthieenweise auftritt. Von 1824 bis 30 war unser Leben vollkommen ruhig, fast durch keine Begebenheit, als meine Verheirathung bezeichnet. Seit dem April 30 [...] istfast kein Monat ohne Bezeichnung durch eine richtige Begebenheit vergangen.« (Tb, 21. Februar 1832; Tagebucheintragungen weiterhin kursiv) Dies gilt für den gesamten hier zu behandelnden Zeitraum. Eine deshalb eher kursorische Aufzählung »äußerer« Ereignisse - Familie und Verwandtschaft, Geburten, Todesfalle, Krankheiten, Reisen -, wird jedoch der konzentrierten Behandlung der »inneren« Vorkommnisse zugute kommen - kompositorische Neuansätze und Versagensängste, Auseinandersetzung mit dem Bruder über Musik und Komponieren, Probleme der Veröffentlichung, Trennungsschmerzen. Der Bruder ist nur noch selten in der Leipziger Straße, fast stets auf Reisen oder in anspruchsvollen beruflichen Stellungen außerhalb Berlins: Von 1830 bis 1832 hält er sich in Italien, Frankreich und England auf, und es entstehen unter anderem die als Italienische und Schottische benannten Sinfonien. 1833 wird ihm zum Entsetzen der Familie Carl Friedrich Rungenhagen als Nachfolger des 1832 verstorbenen Zelter als Leiter der Berliner Singakademie vorgezogen, was dem Bruder Berlin, das »Nest«, wie Schwester Rebecka es nennt, für immer verleidet und Fanny Hensels 140

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Hoffnungen auf ein erneutes dauerhaftes Zusammenleben zunichte macht. Man verabscheut die kulturelle Armut und Provinzialität der preußischen Hauptstadt und tritt aus der Singakademie aus. Der Familienfreund und Bach-Sammler Georg Poelchau wird im gleichen Jahr Bibliothekar der Akademie und ist an den Streitigkeiten um den Besitzanteil von Sara Levy-Itzig am Notennachlass Zelters beteiligt (vgl. Och 1999, S. 224f.). Nach erneutem und wiederum sehr erfolgreichem Aufenthalt in England, dem noch viele weitere folgen werden, leitet der Bruder das Niederrheinische Musikfest, welches er wie auch manch Anderes noch oft leiten wird. 1834 tritt er das Amt des Städtischen Musikdirektors in Düsseldorf an, um es, nachdem er auch Theaterintendant fiir Opernauffuhrungen geworden ist, wegen Streitigkeiten mit der Theaterleitung bald wieder aufzugeben. Ab 1835 ist er Leiter der Leipziger Gewandhauskonzerte, die er ab 1838 durch Historische Concerte ergänzt, in welchen die Epochen der Musikgeschichte in Beispielen hörbar werden. Nach dem Tod des Vaters 1835 verwirklicht er einen lang gehegten väterlichen und von Fanny Hensel unterstützten Wunsch: Er sucht eine Ehefrau und findet sie in der Frankfurterin Cécile Jeanrenaud, mit der er sich nach eingeholter Erlaubnis der Mutter 1836 verlobt. Die Heirat findet im März 1837 in Frankfurt am Main unter Beteiligung von »Tante Schlegel« statt (Brendel bzw. Dorothea Mendelssohn), und ab dem Folgejahr wächst eine stattliche Kinderschar heran. Nach jahrelanger Kompositions- und Auffuhrungsarbeit erscheint 1836 sein Oratorium Paulus, »Felixens erstes ganz großes Werk«, wie Fanny Hensel an Karl Klingemann schreibt (H II, S. 6), bevor sie es beim Rheinischen Musikfest in Düsseldorf zu Pfingsten des Jahres zum ersten Male hört, um es in Teilen oder auch vollständig in den durch sie ab 1831 wieder aufgenommenen und geleiteten Sonntagsmusiken aufzuführen. Im März 1839 erfolgt unter Mendelssohns Leitung in Leipzig die Uraufführung der von Robert Schumann in Wien aufgefundenen großen CDur-Sinfonie von Franz Schubert. Der Bruder ist nur wochen- oder monatsweise, manchmal auch nur fiir einige Tage in Berlin - der längste zusammenhängende Aufenthalt von Juni 1832 bis April 1833 -, und die Geschwister suchen in einem umfangreichen Briefwechsel trotz der dauerhaften Trennung die alte Intimität aufrecht zu erhalten, von Seiten der Schwester weiterhin mit großer Intensität - »ich bin, war, u. werde in Zukunft bleiben so lange als am Leben die sehr Deinige.« (etwa 9. Juli 1830; C) - und Zügen starker Fanny Caecilia Hensel

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Abhängigkeit vom dem oft hochfahrenden und deshalb ironisch »polnischer Graf« genannten Bruder (vgl. Devrient 1872, S. 179). Auch gibt es Vorwürfe und Bedauern wegen der Seltenheit der Treffen bis hin zu »Unbehagen« und »Missstimmung« über angekündigte und wieder abgesagte Treffen, wie Fanny Hensel Karl Klingemann bekennt (H II, S. 42), als sie sich im Herbst 1837 zu einer Reise nach Leipzig aufgerafft hat, um den Bruder wieder einmal zu sehen, vor allem aber endlich ihre Schwägerin kennen zu lernen. Der Trennungsschmerz drückt sich auf vielerlei Weise aus - hier eine Zusammenschau durch das Jahrzehnt (nach W; C extra angemerkt): »Die hübschen Zeiten sind aber freilich längst vorüber.« »Oder bist Du treu u. kommst her? Es wäre wohl Noth, daß wir wieder einmal in Ruhe ein Paar Monate zusammen lebten.« »Feiice, im Herbst mußt Du uns doch auf ein Paar Wochen besuchen, [...] unsre Ausstellung mußt Du doch diesmal sehn. Bitte bitte!« »[...] wenn ich auch hinzufuge, daß mir fast noch kein Abschied so schwer geworden ist [...] Nun ists schon im 7ten Jahr, daß wir nicht mehr dauernd zusammen sind.« »Wärst Du doch hier, es ist mir gar zu wehmütig, daß wir nun so auf unbestimmte Zeit auseinander sind.« »Seit 7 Jahren [...] sind wir nun nicht mehr zusammen, u. ich habe Dich fast gar nicht öffentlich spielen hören [...].« »O alte Zeit!« »Suche doch wieder in eine bestimmte Schreibordnung zu kommen, da wir doch nun leider einmal nicht beisammen leben können [...]. Ist es nicht traurig genug, daß wir, seit Du erwachsen bist, noch nicht ein Jahr ruhig zusammen haben leben können? Das Leben geht so hin, wenn ich bedenke, wie alt wir sind, erstaune ich, u. weiß nicht, wo die Zeit hergekommen, wo sie geblieben, laß sie uns wenigstens nützen [...].«»[...] daß wir uns einmal alle aufmachten, den Sommer in schöner Gegend, am Rhein, oder in Baden, oder in Dresden, still miteinander zubrächten. Was meinst Du dazu?« »Eigentlich ist es doch abscheulich, nur eine starke Tagereise auseinander zu seyn, und sich nicht zu sehn.« Nach einem abgesagten Besuch der Brautleute - der »Felicier« in Fanny Hensels Sprache - im Frühjahr 1837: »Es läßt sich schwer beschreiben, in welcher nüchternen, uncomfortablen Enttäuschung wir heut leben, lieber Felix.« »[...] das habe ich zwar nicht übel genommen, denn das ist der rechte Ausdruck nicht, aber sehr schmerzlich empfunden [...].« »Jetzt wird es jährig, daß Ihr uns so abscheulich in April schicktet, hoffentlich macht Ihr es nun bald wieder gut.« »Wenn Du an die Zeit zurückdenkst, wo wir beständig zusammen waren [...]. Drei Jahre sind es bereits, seit wir uns nur auf Tage und in der Hetze begegnet sind. [...] ich käme sehr gern wieder in den alten, dummen Ton, der Dich so oft lachen machte, wenn ich nur könnte.« (Ähnlich der Bruder später mehrfach.) »Das ist so schlimm, beim Entferntleben, daß nicht allein man einander entbehren muß, sondern daß auch die Umgebungen mit all ihrem Thun u. Trei-

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ben so nach u. nach einwirken, ohne daß man es merkt und will [...].« »[...] so kam es mir so vor, als habe diese Entfernung, die an mir gewiß immer spurlos vorüber gehen wird, Dich nicht ganz unverändert gelassen, wenn auch nicht was mich, doch was die Meinigen betrifft.« »Du, Felix, hast keine Hochzeit Deiner Geschwister, u. keine Taufe Deiner Neffen mit angesehn.« »[...] schenke uns ein Frühlings-Wiedersehen.« »Wie lange haben wir nun schon keinen unsrer Geburtstage zusammen verlebt. Welch ein dummer Druckfehler in unsrer Geschichte, daß wir nicht in einer Stadt leben. Nur wenigstens so oft als möglich laßt uns zusammenkommen, das Leben ist kurz!« (etwa 3. Februar 1839; C) »Man wird alt, ehe man sichs versieht, ist das bischen Leben vorbei: Adieu, diese mörderische Bemerkung paßt schlecht an das Ende eines Geburtstagsbriefes, ich will also lieber singen: Freut euch des Lebens.« (2. Februar 1838) Ahnlich sarkastisch schon am 31. Juli des Voijahres an das Ehepaar Mendelssohn Bartholdy (C), nun das Textzitat des berühmten Liedes von Hans Georg Nägeli und Martin Usteri (1793) weiter führend: »Adieu, lebt wohl, freut Euch des Lebens, weil noch das Lämpchen glüht, u. denkt meiner in Nebenstunden.« Nicht unwichtig die Weiterfuhrung des ursprünglichen Refrains, hier mitzudenken: »Pflücket die Rose, eh sie verblüht.«

Eine auch beruflich bedingte Distanz und Distanziertheit - »nicht mehr die Unbefangenheit« (6. August 1830) - und eine zahlenmäßige Abnahme der brüderlichen Briefe ab etwa 1830 haben Klage, Enttäuschung und Bitterkeit ausgelöst. Fanny Hensels Festhalten und ihr Festgehaltenwerden an Berlin als Bedingungen ihrer weiblichen Existenz lassen dagegen selten Klagen über diesen Zustand oder Züge des Neides gegenüber dem Bruder erkennen. Sie scheint diese Rolle zumindest nach außen hin akzeptiert zu haben - mit bedeutenden Ausnahmen, wie sie schon genannt wurden. Die Intimität mit dem Bruder, dann der Schmerz über dessen dauerhaftes Fernsein, sollten auch als der »erlaubte«, weil von schwesterlichen Liebesgefiihlen bestimmte Ausdruck der Unzufriedenheit, ja des Jammers über die Situation der Fesselung an Familie und Stadt verstanden werden. Die ständige Abwesenheit von Bruder Felix ist doch begründet in der den beiden Geschlechtern zugewiesene Aufteilung, was Mobilität und Beruf anlangt. Der Schmerz darüber ist zugleich Anklage gegenüber der Ungerechtigung der Rollenverteilung, ob Fanny Hensel sich dies bewusst gemacht hat oder nicht. Einige sarkastische Äußerungen darüber lassen vermuten, dass ihr der Zusammenhang manchmal so klar war, dass sie ihn - da keine Abhilfe winkte - meist verdrängte, etwa indem sie wie Anfang 1834 und dann immer wieder die Hoffnung äußerte - einmal sogar »Monomanie« -, die Eisenbahnlinien nach Düsseldorf

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oder Leipzig könnten bald eröffnet werden - »in 4 Stunden nach Düsseldorf [...] O Hypercivilisation, wann wirst Du uns erreichen?« (dazu auch W, S. 200, 204, 245, 247) Als ob höheres Tempo etwas an ihrem Dilemma verändert hätte! Das Verdrängen wird ihr zunächst, wenn auch nicht auf lange Dauer, gelungen sein durch ihre Verbindung mit Wilhelm Hensel, die sie als durchweg glücklich darstellt, dann auch durch das Erlebnis der (Früh-) Geburt eines Sohnes am 16. Juni 1830, für dessen Taufe Bruder Felix seinen eigenen Namen erbittet (23. Juni; seine erste Tochter heißt Marie). Fanny Hensels Kind heißt dann Felix Ludwig Sebastian (Klein 1997, S. 182, so auch auf dem Einband der Kantate Lobgesang), nicht Sebastian Ludwig Felix (Borchard 1997, S. 19). Die schwarzen »Augenbrauen kriegt er, wie seine Frau Mama Cantor, aber blondestes Haar« wie der Vater (C: 22. Oktober 1833). Die stolzen und freudigen Berichte Fanny Hensels über die wachsenden Fähigkeiten und den ausgeprägten Charakter des Kindes sind nicht einfach Zeugnisse überschäumender Mutterliebe. Der Sohn scheint tatsächlich ungewöhnlich reizend und klug gewesen zu sein. Zwei Beispiele von Mitte 1833: Sebastian hat»eine große Zärtlichkeit fiir Wilhelm, und sagt: mein liebster Vater, Du bist da, die Sonne ist da, das Vögelchen ist da, Alles ist da.« Ein Zugpflaster wird der kranken Schwester Rebecka mit der Frage aufgelegt: »zieht es? Sogleich ging Sebastian ganz still hin und machte die Tür zu.« Nachdem die Familie Devrient im Frühjahr die Nebenwohnung im Gartenhaus verlassen hat, wird der Plan, für Wilhelm Hensel ein Atelier einzurichten, durch einen von Abraham Mendelssohn finanzierten Anbau am Gartensaal verwirklicht, so dass Hensel 1831 endlich für seine Kunst und seine Schüler genug Platz, das Ehepaar ein separates Schlafzimmer und der kleine Sebastian ein eigenes Kinderzimmer hat, nachdem Mutter, Amme und der Sohn sich zeitweilig einen Raum hatten teilen müssen. Dem geht allerdings die gescheiterte Bitte voraus, der König möge einen kurzen Aufenthalt Hensels in Italien zu FreskenKopien und ein Atelier eigens für die Schüler genehmigen und finanzieren - die Bitte um den Professoren-Titel 1831 jedoch hat Erfolg (vgl. Lowenthal-Hensel 2004, S. 146ff., 185). Die geselligen Abende setzen sich fort, oft von Punsch begleitet. Man unterhält sich durch allerlei Spiele, etwa Mühle oder das von Hensel aus Italien importierte Boccia. Die Ehefrau liest ihm während seiner Arbeit vor, so aus Goethes Autobiographie Dichtung und Wahrheit. Sie selbst liebt es, »in der Spree zu baden« (9. Juli 1834) - oder gar zu schwimmen? 144

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Apropos Vorlesen: Groß ist der Ärger über Indiskretionen gegenüber der eigenen und auch anderen Familien in dem 1833/34 veröffentlichten Briefwechsel Goethes mit Zelter - » über den ich in einer fortwährenden stillen Empörung bin [...] es tritt hier der seltene Fall ein, dass wir Alle einstimmig derselben Meinung sind [...]« (1. Dezember 1833). Die Empörung ist entgegen verbreiteter Meinung nicht auf immer wieder kolportierte Äußerungen über das Judentum der Mendelssohns zurückzufuhren, denn die Passagen über jüdisches Künstlertum als »eppes Rores« (vgl. S. 55) und über die nicht durchgeführte Beschneidung an Felix sind in der Originalausgabe unterdrückt und erst viel später publiziert geworden (vgl. Elvers 1999, S. 140f.). Mitte des Jahres 1830 erlebt der Vater in Paris die Juli-Revolution und berichtet seiner Frau in äußerst lesenswerten Briefen darüber (H I, S. 286ff.), worauf es nach seiner Rückkehr in der Leipziger Straße zu erregten Diskussionen kommt: »Hensel machte durch seine hyperloyalen Aeußerungen Felix oft ungeduldig, einmal hörte ich ihn mit ungewohnter Heftigkeit ausrufen: >Aber Hensel, nimm doch auf Deinen radicalen Schwager etwas mehr Rücksicht!< Ja selbst mit seines Vaters weltschauenden Ansichten über die politische Entwicklung war er damals unzufrieden. >Es ist ja zum Erschrecken, was der Vater für ein Justemilist ist!< war die einzige mäkelnde Aeußerung, die ich jemals von seinen Lippen über den Vater gehört.« (Devrient 1872, S. 99f.; Justemilieu = Mittelweg, goldene Mitte, speziell die »gemäßigte« Regierungsform des von Fanny Hensel verehrten »Bürgerkönigs« Louis-Philippe ab 1830.)

Fanny Hensel wird nicht erwähnt, doch besteht kaum Zweifel, liest man ihre sonstigen Bemerkungen zu politischen Themen, ob es um Zensur und erhoffte »Pressfreiheit« in Preußen geht, das Schulwesen, den polnischen Befreiungskampf oder Ähnliches, dass sie in Vielem auf der Seite des Bruders stand. Auch später noch ist - eine herrliche Formulierung! - »trotz täglich erneuerter Streitigkeiten hauptsächlich über Politik, beiläufig aber über Alles, die beste Eintracht im Hause.« (Tb, 26. Mai 1833). Auch auf anderen Gebieten, wiederum vom Nasenbluten der Mutter begleitet, geht der Streit weiter, wiederum beim Thema einer geplanten und 1832 geschlossenen Ehe, nun von Rebecka mit dem Mathematiker Dirichlet - »Mutter hatte nicht so gewüthet, wie wir es erwartet hatten.« (Tb, S. 31). Uberhaupt: »je weiter wir vorrücken, je schwieriger wird das Zusammenleben hier [...], wie schwer machen sie sich selbst Alles.« (Ebda., 15. März 1830; zu Vermutungen über den Ehehass der Mutter vgl. Tillard 1994,

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S. 193). Ab 1832 bis 1845 bewohnen die Dirichlets die rechte Wohnung des Gartenhauses. Bruder Felix reist Mitte 1830 über Weimar, wo er Goethe letztmalig sieht, München und Wien nach Italien. Seinen Plan, im Folgejahr aus Frankreich heimzukehren, untersagt der Vater mit guten Gründen: Der Sohn hat sich in Paris vorübergehend mit Cholera infiziert, einer Epidemie, die in Berlin zur gleichen Zeit grassiert und etwa 1500 Menschen das Leben kostet (vgl. Hellwig-Unruh 1996, S. 122), auch einige aus der Familie Mendelssohn, etwa Tante Henriette, auch den Familienfreund Hegel, wie Fanny Hensel in einer Totenliste des Tagebuches im Mai 1833 vermerkt, um sie für die Folgezeit nach der Cholera fortzusetzen mit Meyerbeers Brüdern Ludwig und Michael Beer, dem Dichter-Ehepaar Robert, Rahel Varnhagen und dem alten Freund Eduard Rietz, schließlich auch Goethe und Zelter (1832). Im Jahre 1835 und 1839 folgen der ehemalige Klavierlehrer Ludwig Berger und der Familienfreund Eduard Gans (vgl. Tb, S. 91f.).

Komponieren und Musizieren

Nicht nur die noch zu besprechende Neubelebung der Sonntagsmusiken wird es gewesen sein, sondern auch die Folge erregender Erlebnisse dieser Jahre, die Fanny Hensel zu einem kompositorischen Neubeginn veranlasst haben. Er zeigt sich in der Weiterfuhrung der Liedproduktion, wobei von zahlreichen Liedern sowohl Erst-, Ab- und Reinschriften erhalten sind, sowie Liedersammlungen, etwa »ein 1839 als Geschenk für Wilhelm Hensel entstandener Sammelband, der neben 55 Liedern auch einige Duette, Terzette und ein Quartett aus der Zeit von 1820 bis 1839 enthält.« (Maurer 1993, Bd. II, Vorwort, S. 3f.) Aber es entstehen nun auch groß besetzte Werke: eine Orchesterouvertüre in C-Dur von 1832 (HU Nr. 265), die der Komponistin auch später noch sehr gefiel (Tb, 3. Juli 1834), dann - allesamt von 1831 - eine dramatische Szene Hero und Leander (HU Nr. 262), zu welcher Wilhelm Hensel einen Schillerschen Text eingerichtet hatte, komponiert für die während der Entstehung sterbende geliebte Freundin Ulrike Peters (Tb, 21. Februar 1832), und drei Kantaten nach biblischen Texten (HU Nrn. 247, 258, 260): Lobgesang zum Geburtstag des Sohnes (16. Juni), Hiob zum Hochzeittag (3. Oktober), schließlich die vielsätzige Choleramusik, teilweise auch betitelt Cantate. Nach Aufhören derCho-

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lera in Berlin oder auch Musikfiirdie Toten der Choleraepidemie 1831, ebenfalls bekannt als »Oratorium nach Bildern der Bibel«, uraufgeführt am Geburtstag des Vaters (10. Dezember) und von Fanny Hensel auch später noch gelobt. Die Haltung des Bruders zu diesen geistlichen Werken - vgl. S. 165 - dürfte dazu beigetragen haben, dass Weiteres dieser Art nicht folgte außer einem unvollständig erhaltenen Chorwerk Zum Feste der heiligen Caecilia (22. November 1833; HU Nr. 272), allerdings auch nichts Sinfonisches, wohl aber die Konzertarie Io d'amor, oh Dio, mimoro vom Januar 1835 (HU Nr. 279), viele Klavierstücke und Kammermusik wie das Streichquartett Es-Dur von 1834 (HU Nr. 277). Am 1. November 1832 erleidet Fanny Hensel eine Fehlgeburt - »kam ich mit einem todten Mädchen nieder« (Tb, 26. Mai 1833) -, vom Bruder »Unfall« genannt, in der französisch beeinflussten Elternschaft »fausse couche« (falsches Wochenbett), so Fanny Hensel selbst (Tb, S. 84) und die Mutter bei dem gleichen Unglück von 1837 (Brief an Karl Klingemann, vgl. Klein 1997, S. 128). 13. April: »Der abermalige Unfall hat mich ganz ohne meine Schuld getroffen [...].« (C: »betroffen«) Die Sonntagsmusiken, jeweils über den Winter durchgeführt, sind eine der zentralen Aufgaben, die Fanny Hensel sich gestellt hat. Der Bruder ist am 22. Februar 1831 begeistert von ihrem Plan eines Neubeginns: »ein brillanter Einfall, und ich bitte Dich um Gotteswillen, laß es nicht wieder einschlafen [...].« Besucherzulauf und Erfolg sind beachtlich. Der »Unfall« von 1832 hindert eine kontinuierliche Weiterführung, worauf der Bruder die Musiken im folgenden Januar »wieder in Gang gebracht« hat, wohl nicht nur »um den Eltern Plaisir zu machen«, wie er Klingemann mitteilt (zit. nach Klein 1997, S. 190). Ab diesem Zeitpunkt setzt Fanny Hensel die Sonntagsmusiken fast ohne Unterbrechung fort, gleich im Mai 1833 mit einer Aufführung von Glucks Orpheus undEurydike. Die Qualität der Konzerte vermerkt sie in Brief und Tagebuch genau - »Meine Sonntagsmorgen erhalten sich ziemlich brillant, bis auf den letzen, der brillant klaterig war.« (1. Dezember 1833; für Nichtdeutsche: klaterig = niederdeutsch für klapprig, schwach) »Diese Morgenunterhaltungen erreichten in dem Winter [1837/38] ihren größten Glanz, es ist unglaublich, wie die Leute dazu drängten, und wie wir nur immer abzuwehren hatten, weil unsre Räume beständig überfiillt waren. Ofl hatten die Sängerinnen keinen Platz zum Sitzen, kaum zum Stehen.« (S. 86) Neben zahlreichen Werken von Gluck, Mozart, Beethoven, Weber und Johann Sebastian Bach - über den Actus tragicus: »Ich kenne keinen eindringlicheren Prediger als den alten Bach.« (30. November 1834 an Fanny Caecilia Hensel

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den Bruder) - sowie einigen von Onslow, Spohr und Moscheies erklingen auch solche der Dirigentin, neben Liedern auch Hero und Leander, und des Bruders, nicht die Sinfonien, etwa »die schottische Symphonie, mit dem unvergeßlichen Anfang« (W, S. 124; Elvers 1999, S. 135: Poststempel 29. Juni 1830), wohl aber neben der Ouvertüre zum Sommernachtstraum neuere Produktionen wie das Oratorium Paulus, schon 1837, die Ouvertüre Das Märchen von der schönen Melusine, über welche eine noch zu erwähnende briefliche Diskussion entsteht, wahrscheinlich auch die auf Goethe basierenden Orchesterstücke Meeresstille und glückliche Fahrt oder Erste Walpurgisnacht. (Ein »Repertoire meiner Morgenconcerte« im Tagebuch vom 28. Oktober 1833, Aufstellung aller noch ermittelbaren Programme bei Klein 2005/3.) Fanny Hensel hat sich offenbar sehr genau auf die Konzerte vorbereitet. Sie korrespondiert mit ihrem Bruder über Fragen des Tempos (28. Juni 1836) und der Stimmung, die Spontini »unvernünftig hoch« treibe, während sie in Paris niedriger sei (18. Juni 1834). Schließlich etwas Aufsehenerregendes: Bei einer häuslichen Aufführung mit dem Königstädter Orchester unter dem Dirigenten Lecerf von 1834 dirigiert sie (11., weiter auch 18. Juni; W). Wie soll man die beiden unterschiedlichen Darstellungen dieser für eine Frau jener Zeit so seltenen oder gar prekären Situation auffassen? Zunächst Fanny Hensel selbst, den Bruder beruhigend, »daß Du nicht denkest, ich sey in Deiner Abwesenheit ganz dumm, oder eine Närrin geworden«: Der Dirigent »zerklopfte sich die Finger dabei, da ging ich heraus, u. holte Dein weißes Stäbchen, u. gabs ihm in die Hand - Nachher ließ ich meine Ouverture spielen, u. stellte mich dabei ans Ciavier, u. da flüsterte mir der Teufel in Lecerfs Gestalt zu, das Stöckchen in die Hand zu nehmen. Hätte ich mich nicht so entsetzlich geschämt, u. bei jedem Schlag genirt, so hätte ich ganz ordentlich damit dirgiren können. Es amüsirte mich sehr, das Stück nach 2 J. zum erstenmal zu hören, u. ziemlich alles so zu finden, wie ich es mir gedacht hatte.« Dann die Mutter, wie Fanny Hensel sie in diesem Brief wiedergibt: »Mutter hat Dir doch gewiß vom Königstädter Orchester vom Sonnabend [brieflich] erzählt, u. daß ich mit dem Stock wie ein Jupiter tonans dagestanden habe.« Im Blick der Mutter scheint die Tochter ihre Aufregung erfolgreich verborgen zu haben. Lea Mendelssohn Bartholdy hat sie vor dem Orchester als den gewaltigen, Blitze und Donner schleudernden Gott gesehen. Schwingt Ironie mit, zu der die Mutter in der Lage ist, dann 148

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eine wohlwollende. Schließlich ist sie es, die - vielleicht auch als Geschlechtsgenossin - die Tochter in der Frage der Veröffentlichung unterstützt, wie sich später zeigen wird - wohlgemerkt nach dem Tod des Vaters. Die Sicht der Mutter über das Dirigieren Fanny Hensels wird unterstützt von der Komponistin Johanna Kinkel in ihren Memoiren, 39 Jahre nach Fanny Hensel Tod erschienen und insofern aus der historischen Distanz womöglich weibliche Größe ein wenig vergoldend. Der Taktstock erscheint auch hier noch als Krücke (zit. nach Klein 1997, S. 194; Johanna Kinkel machte sich Ende der dreissiger Jahre bei Hensels und Felix Mendelssohn Bartholdy unter ihrem Ehenamen Mathieux bekannt): »Ein Sforzando ihres kleinen Fingers führ uns wie ein elektrischer Schlag durch die Seele und riß uns ganz anders fort, als das hölzerne Klopfen eines Taktstocks auf ein Notenpult es thun kann. Wenn man Fanny Hensel ansah, während sie ein Meisterwerk spielte [und wohl auch dirigierte], schien sie größer zu werden. Die Stirne leuchtete, die Züge veredelten sich, und man glaubte, die schönsten Formen zu sehen.«

Zurück zur Selbstdarstellung Fanny Hensels von jenem Juni 1834: Zunächst eine Verbeugung vor Julius Amadeus Lecerf. Er hat die Komponistin ihr Werk selbst dirigieren lassen, entgegen dem zeitüblichen Verhaltenscodex. Fanny Hensel scheint die Sache »ordentlich« gemacht zu haben. Aber Scham, Genieren, dem Bruder gegenüber gar Dumm- und Narrheit! Sie hat die anerzogene Forderung in sich aufgenommen, nicht öffentlich in Erscheinung zu treten wie die männlichen Kollegen - und dann noch mit dem Taktstock! (Meyerbeer, ebenfalls mit dem Stock dirigierend, ist 1833 Mitglied der Preußischen Akademie der Künste geworden.) Der Befehl des Vaters gegen Professionalisierung bleibt wirksam. Noch vor seinem Tode Ende 1835 zitiert die Tochter einen jener Lebensgrundsätze, wie wir sie bereits ganz ähnlich aus seinen Briefen von 1820 und 1828 kennen: »Und wenn dann Vater auch sagt, wer mit seinem Schicksal zufrieden, komme eben deshalb nicht weiter, weil er nicht den unruhigen Trieb nach vorwärts hat, so meint ers doch wohl nicht ganz im Ernst [...].« (1. Januar 1834; W) Vielleicht hat die Tochter im Unterschied zu ihrem Bruder die ehernen Prinzipien des Vaters nie ganz Ernst genommen. Dieser kurz nach dem Tode des Vaters (6. Dezember 1835 an den befreundeten Pfarrer Schubring; HI, S. 382): »Das Einzige bleibt da, die Pflicht zu thun, und dahin suche ich mich zu bringen, mit allen meinen Kräften; denn er würde es so verlangen [...].« Fanny Caecilia Hensel

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Auch hat Abraham Mendelssohn Bartholdy, was die Aufgabe der weiblichen Angehörigen der Gesellschaft betrifft, noch kurz vor dem Tode in Briefen aus Düsseldorf an seine Frau Lea das für ihn Entscheidende geschrieben, hier über »Mme. Moscheies«, zweifelsohne den Töchtern vorgelesen (2. August; H I, S. 343): »Die lebhafte, sehr bequeme, aufmerksame, nie peinliche, graciöse Gutmüthigkeit, mit der alles Gute geschieht, wie nur Frauen sie haben können, und unter diesen vielleicht wieder mit besonderer Fertigkeit eine geborene Deutsche, das jüdische Blut n'y gâte rien.« [schadet dabei nichts, macht da nichts aus] So gibt es, was das öffentliche Auftreten als Musikerin betrifft, im Leben Fanny Hensels nur Premieren fast ohne Nachfolge, ob es ums Dirigieren mit Taktstock geht oder ums Auftreten als Pianistin: Am 19. Februar 1838 »habe ich zum ersten Mal in meinem Leben öffentlich gespielt und zwar Felixens Concert aus g-moll. Ich habe mich garnicht geängstigt, meine Bekannten waren so gütig, es für mich zu thun [...].« (27. Februar an Klingemann; zit. nach H II, S. 43; vgl. auch Tb, S. 86; zum Thema Klein 2005/2 und Lambour 2005) Die Pianistin berichtet dem Bruder am 14. und 21. Februar, es sei ein »niederträchtiges, schauderhaftes Concert« gewesen, nicht nur wegen der Programmfolge - von Graun bis Bellini wie »Suppe, Gurkenwasser, Beefsteak, Gemüse im Baiser, Fisch [...] Braten: ein Stück Zucker« (W), sondern auch wegen der - hier bereits ganz negativ so bezeichneten - »Dilettanten, wenn sie sich einmal ihrer Bestialität überlassen.« (C) Wie hätte sie sich selbst bezeichnet? Wie kam es zu diesem seltenen Auftritt? Es war ein Wohltätigkeitskonzert mit doppelten Eintrittspreisen, von den höheren Klassen der Gesellschaft organisiert und bestritten. Es diente mithin einem guten Zweck, und Geld war nicht zu verdienen, dies die Voraussetzungen, welche der Tochter Abraham Mendelssohn Bartholdys eine öffentliche Zurschaustellung ihrer Kunst erlaubten. Dies dürfte auch erklären, warum Fanny Hensel keinen Klavierunterricht gegeben hat. Eine schöne Vorstellung: Sie und ihr Mann gehen in angrenzenden Räumen der Unterrichtstätigkeit in ihrer jeweiligen Profession nach. Dass es inzwischen eine beträchtliche Anzahl von Klavierlehrerinnen im In- und Ausland gab, ändert nichts an dieser Beschränkung im Hause Mendelssohn Bartholdy. Immerhin wurden während der Sonntagsmusiken öfters die Türen zu dem an den Saal grenzenden Atelier Wilhelm Hensels geöffnet. Seine Schüler titulierten Fanny Hensel zu Weihnachten 1833 und offenbar noch einmal zum Geburtstag des Folgejahres in Glückwunsch-

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gedichten als »Frau Professorin Fanny Hensel« (Klein 1997, S. 186), nicht unüblich, wie auch Clara Schumann als »Frau Dr. Schumann« galt. Schon ein Jahr vor dem Erlebnis des Paulus in Düsseldorf (1836) ist Fanny Hensel bei einem der von ihrem Bruder geleiteten Niederrheinischen Musikfeste anwesend, diesmal in Köln, als Altistin im Chor mitsingend, begleitet von Mann, Kind und wahrscheinlich der Hausangestellten Minna. Es ist für jene Zeit selbstverständlich, dass Fanny Hensel diese Reise nicht allein hätte durchführen können, ohne »als tollkühn oder zumindest als leichtfertig« zu gelten oder tatsächlich in Gefahr zu geraten (vgl. HofFmann 1991, S. 290). Statt eines Ehemannes oder Vaters wären auch eine Tante oder Mutter als Begleitung möglich gewesen, wohl kaum die Schwester Rebecka. Zwei junge Frauen allein entsprachen ebenfalls weder dem Codex noch den realen Bedingungen des Reisens. Die Reise geht weiter von Köln nach Frankreich, zunächst nach Paris, wo Wilhelm Hensel erstmals wieder seine Gegner aus den Freiheitskriegen sieht, sich aber ein Bild vom dortigen Kunstmarkt machen will. Schwester Rebecka: »Noch ist mir der Gedanke ganz exotisch, daß Hensel zum Vergnügen zu den Franzosen reist, auf deren Verderben er jüngst sauren Rheinwein in einem Schädel trank.« (Zit. nach Lowenthal 2004, S. 210) Fanny Hensel findet die Stadt zwar interessant, auch was die zu besuchenden Kunstausstellungen betrifft, jedoch wenig angenehm, vor allem was das intrigante Künstlertum angeht. Neben zahlreichen Prominenten trifft sie auch Meyerbeer, welcher über das von ihrem Mann vermiedene Zusammentreffen berichtet (Meyerbeer 1960ff., 7. Juli 1835): »Sie war sehr zerknirscht, aber von einer so eisigen Höflichkeit, daß mich trotz des heißen Julitages fror. Fannys Häßlichkeit ist unbeschreiblich. Trotz ihrer permanenten Häßlichkeit erschien sie mir vor zwei Jahren vergleichsweise mit jetzt wie eine Venus.« Wie mag sie wohl wirklich ausgesehen haben? Zur Erholung der jungen Mutter soll ein Aufenthalt in Boulogne-surMer an der Kanalküste dienen, Badeort der französischen und englischen High-Society. Dass man Heinrich Heine trifft, ist kein Zufall. Man wohnt bei schlechtem Wetter in einer Wohung, deren Dach undicht ist. Fanny Hensel ist recht unzufrieden, liest im Unterschied zu den Pariser Wochen kaum Zeitungen und isst viel Käse. In dieser Zeit politischer Unruhen benötigt man, »um eine Spazierfahrt auf dem Meer zu machen, 2 Erlaubnisscheine«: »Ueberhaupt geht das Verbieten u. Regieren hier in manFanny C a e c i l i a H e n s e l

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chen Punkten so weit, wie nur irgend in absoluten Staaten.« Jedoch: »Seb. ist munter und bädet wie ein Fischchen [...].« (15. August 1835; W) Er hat »angefangen schwimmen zu lernen«, wie das Tagebuch vermerkt, während die Mutter »Bis jetzt 6 Bäder genommen« und - man höre und staune! - einen »Spatzierritt« gemacht hat (vgl. Tb, S. 143). Karl Klingemann besucht sie von England aus und wird danach ausfuhrlich über die Rückreise durch Belgien informiert (H I, S. 363ff), einen Staat, der erst vor vier Jahren selbstständig geworden ist, angeblich mit Hilfe der Oper Die Stumme von Portici von Daniel-Frangois-Esprit Auber. Ein Jammer, dass Fanny Hensel in Boulogne nicht mit einer der bedeutendsten Pianistinnen, Komponistinnen und Klavierlehrerinnen dieser Zeit zusammengetroffen ist, dort seit etwa 1833 ansässig. Denn dann wüssten wir mehr über Leopoldine Blahetka (1809-1885), Österreicherin, als Wunderkind von Beethoven gefördert, reisende Virtuosin, schließlich bis zum Lebensende nach Frankreich übergesiedelt, um dort eine reiche Schar von Schülern und Schülerinnen um sich zu sammeln (vgl. Hoffmann 1991, S. 352ff.). Fanny Hensel musste sie kennen, da Blahetka kurzfristig von Friedrich Kalkbrenner und Ignaz Moscheies, ehemaligen Lehrern der Mendelssohn-Geschwister, unterrichtet worden und in den zwanziger Jahren in Berlin aufgetreten war, 1826 sogar mit Paganini, und in der von Familienfreund Adolf Bernhard Marx redigierten Berliner Allgemeinen Musikalischen Zeitung, doch wohl mit Zustimmung des Herausgebers, wenig freundlich beurteilt worden war (1825, S. 135f.). Ludwig Rellstab hatte sich folgendermaßen geäußert: »Denn worin bestehen am Ende die Kompositionen der Frauen? In einem Wiedergeben des Receptirten, (denn Production ist dem Geschlecht zuwider: Femina quidem infantes parit sed non gignit [die Frau gebiert zwar Kinder, zeugt sie aber nicht]), also in einer Reminiscenz in der Totalität, die, wenn man auch im Einzelnen nichts nachweisen kann, das Ganze so durchdringt, daß es die Wirkung einer neuen Hervorbringung niemals thut.« (Zit. nach Hoffmann 1991, S. 363)

Fanny Hensel musste die Rezension gelesen haben. Warum hat sie die Kollegin in Boulogne nicht gesucht und aufgesucht? Oder war es für sie keine Kollegin? Empfand sie sie gleich manchem Rezensenten als seichte Salonvirtuosin, oder mied sie eine Begegnung mit der - auch komponierenden - Konkurrentin, wurde diese doch als »in der Reihe der größten Clavier-Virtuosen unserer Zeit« gerühmt (Allgemeine Theaterzeitung 1824, S. 175; zit. nach ebda., S. 361)? Vielleicht war sie ja einer Meinung 152

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mit ihrem Bruder, der von jemandem berichtet (13. November 1833), welcher Fanny Hensels Klavierspiel lobt: »Er sagte, Du solltest eine reisende Künstlerin sein, Du würdest die Andern todtspielen. Ich sagte: pourquoiì'i (HI, S. 377) Eine flaue Ausrede statt einer Zustimmung. Halbherzig auch später: Am 13. Juli 1836 lobt er das Klavierspiel der Schwester: »Sie spielt wohl alle die kleinen Kerls in den Sack. [...] und darum braucht sie sich vor Keinem von allen Denen zu furchten.« (H II, S. 37; an die Mutter) Auffallend in diesem Zusammenhang ist auch, dass Fanny Hensel nicht auf die Erwähnung von Clara Wiecks Auftritt im gleichen Brief des Bruders reagiert. Jene habe eines seiner Werke gespielt »wie ein Teufelchen«. Bei einer späteren Erwähnung Clara Wiecks durch Fanny Hensel selbst kommt man auf Gründe, weshalb sie 1835 in Boulogne nicht auf die Suche ging (2. Juni 1837; C): »[...], daß ich den Winter wenig Musik gemacht u. gehört habe u. dann drei Virtuosen nacheinander kamen, Döhler, die Wieck, u. Henselt. Du weißt, ich lasse mich überhaupt sehr leicht niederschlagen, hatte damals angegriffene Nerven, u. kam mir unbeschreiblich veraltet vor. Seitdem habe ich mich wieder erholt, u. mir Chopins Etüden angeschafft, von denen ich einige fleißig übe.« (Chopin zeigt sich bei einem Kuraufenthalt im böhmischen Franzensbad im August 1836 gegenüber Rebecka Dirichlet sehr gut informiert über die Familie, offenbar durch die Pariser Besuche der Brüder Felix und Paul, und er fragt, als wenn er sie persönlich kenne: »etcomment se porte cette chère Madame Hensel [...] ?« H II, S. 17) Fanny Hensels Selbstbewusstsein als Musikerin sinkt schon während des Aufschwungs vom Anfang des Jahrzehnts. Wer wird da einer möglicherweise starken und stolzen Konkurrentin begegnen wollen? Hier eine Sammlung von Selbstzeugnissen der Mutlosigkeit und Selbstkritik. »Komponirt habe ich noch nicht, als ichs nicht durfte [Augenkrankheit], hatte ich Ideen genug, jetzt wird wohl wieder die bekannte Dürre eintreten, die ich dem Wetter alle weg nehme.« (W; Juli 1830) »Komponirt habe ich lange nichts. Ausgeschrieben! Was soll man machen? Soll man wie H. Hünten einen Walzer fürs gern [W: »Gem.«] schreiben?« (C; 27. April 1834) »Man sagt gewöhnlich, wie es in den Wald hinein schallt, so schallt es auch wieder heraus, das ist bei uns nicht der Fall, ich habe diesen ganzen Sommer unaufhörlich geschallt, ohne nur auch ein einziges Echo zu hören.« (an den Bruder, auf seine Schreibfaulheit gemünzt, aber dabei

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wohl auch auf den Mangel an musikalischer Reaktion; W; 19. Oktober 1836) »Ueber diesen gänzlichen Mangel an Anstoß von außen verfalle ich nun selbst auch in eine solche musikalische Apathie, daß ich wirklich in Jahr u. Tag keine eigentliche Musik gemacht habe. Indeß habe ich beschlossen, mich herauszureißen [...] Daher kannst Du denken, wie erfreulich es mir ist, daß Du mit meinen Ciavierstücken zufrieden bist, woraus ich doch sehen kann, daß ich noch nicht ganz mit der Musik zerfallen bin.« (W; 16. November 1836) »[Die Anschaffung eines neuen Flügels ist] jetzt weniger nöthig als sonst, da ich mir gegen all die modernen Sprühteufel und Tausendsasas in meinem Spiel unbeschreiblich veraltet vorkomme, und mich immer mehr in meinen Käse und mein Nichts zurückziehe.« (16. Dezember 1836 an Klingemann; H II, S. 36) »Dass sich Jemand hier etwas abschriebe, oder nur eine Sache zu hören verlangte, das kommt kaum einmal im Jahr vor, namentlich seit der letzten Zeit, und seit Rebecka nicht mehr singen mag, liegen meine Lieder durchaus ungehört und ungekannt da, und man verliert am Ende selbst mit der Lust an solchen Sachen das Urtheil darüber, wenn sich nie ein fremdes Urtheil, ein fremdes Wohlwollen entgegenstellt. Felix, dem es ein Leichtes wäre, mir ein Publikum zu ersetzen, kann mich auch, da wir nur wenig zusammen sind, nur wenig aufheitern, und so bin ich mit meiner Musik ziemlich allein. Meine eigne und Hensel's Freude an der Sache lässt mich indess nicht ganz einschlafen, und dass ich bei so gänzlichem Mangel an Anstoss von Aussen dabei bleibe, deute ich mir selbst wieder als ein Zeichen von Talent. Und nun genug von diesem uninteressanten Gegenstande.« (3. März 1837 an Klingemann; H II, S. 35f.) »Lieber Felix, komponirt habe ich diesen Winter rein garnichts, musicirt freilich desto mehr, aber wie einem zu Muth ist, der ein Lied machen will, weiss ich garnicht mehr. Ob das wohl noch wiederkommt, oder ob Abraham alt war? Was ist übrigens daran gelegen? Kräht ja doch kein Hahn danach und tanzt niemand nach meiner Pfeife.« (Frühjahr 1838; H II, S. 43f.; bei W moderne Rechtschreibung) 1. Buch Mose, Kap. 25, Verse 7/8: »Das ist Abrahams Alter, das er gelebt hat: 175 Jahre. Und er nahm ab und starb in einem ruhigen Alter, und da er alt und lebenssatt war, und ward zu seinem Volk gesammelt.« Fanny Hensel hat in dem gesamten Jahrzehnt etwa 60 Lieder geschrieben, soviel wie vordem in dreieinhalb Jahren, ab Mitte 1826 bis Ende 1829. 154

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»Ich verstehe nicht, mir selbst zu schmeicheln, und habe, wenn man mir's auch nicht anmerkt, eine natürliche Blödigkeit, die nicht wenig gesteigert werden wird durch das Bewusstsein, die Freunde meines Mannes erwarten mich als eine Prophetin, eine Heroine, und es kommt ein Knirps. Ich weiss wohl, dass dies nur den ersten Eindruck betrifft, aber Sie werden mir zugeben, dass es beschämend ist.« (18. September 1838, an Karl Klingemann; zit. nach H II, S. 50; zur Blödigkeit ein Kant-Zitat bei Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. II, 1860, Sp. 142: »dreistigkeit im gegensatz der blödigkeit, einer art von Schüchternheit und besorgnis andern nicht vortheilhaft in die äugen zu fallen.«) »Mit dem Musikmachen habe ich diesen Winter besonders Pech. Noch hat es mir nicht gelingen wollen, anzufangen, u. wenn es nun nicht bald geht, so wird es ganz u. gar zu spät; u. ich gebe es auf.« (C; etwa 3. Februar 1839) Es ist eine lang anhaltende Krise. Fanny Hensel mag sich gefragt haben, ob ihre Befürchtungen aus der Brautzeit, mit dem Eheschluss könnte die Inspiration fernbleiben, sich endlich nicht doch bestätigt hatten. Jedoch: Das Glück mit dem Kind und mit Wilhelm Hensel, ebenso dessen Unterstützung und die Fortdauer der Geselligkeit im Hause scheinen Kräfte bestärkt zu haben, die Krise zu ertragen und schließlich zu überwinden, vielleicht auch dadurch, dass die dauerhafte Entfernung von dem Bruder bei aller Trauer zu einer produktiven, distanzierenden Auseinandersetzung und zu einer neuen Selbstgewissheit führte, ein noch zu reflektierender Prozess. Dass Fanny Hensel in diesem kompositorischen Krisen-Jahrzehnt gute Laune und Humor verloren hätte? Durchaus nicht. »Wenn wir doch einmal wieder Weihnachten zusammen seyn könnten, leider hat das Fest die üble Gewohnheit, im Winter zu seyn, wo alles Kinderreisen äußerst beschwerlich ist.« (W und C 14. Dezember - laut Elvers 1999, S. 140: November - 1838) Wachsende Selbstständigkeit innerhalb einer häufig feiernden Groß- und einer neuen Kleinfamilie: »Ich finde nun zwar eigentlich, mit 31 Jahren müßte man keinen Geburtstag haben, (obgleich ich jeden Geburtstag der Anderen sehr gern habe u. feiere) aber für mich habe ich den eigentlichen Apparat von Kuchen u. Zubehör längst abgeschafft.« (W, 16. November 1836 als Reaktion auf einen Brief des Bruders zum 14. November, als Fanny Hensel 31 Jahre alt wird; das Elend mit den beiden Briefausgaben zeigt sich erneut, da bei C unbegreiflicherweise gelesen worden ist: »Ich finde nun zwar eigentlich, zwischen 16 u. 61 Jahren müßte man...« Abgesehen davon, dass die Version W die logische

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ist, muss man sich vor Augen halten, dass diese sechs Satzzeichen - mit Leerzeichen - misst, die Version C dagegen 17.) Die Idee einer Italienreise besteht seit Anfang der 1830er Jahre weiter. Bemerkenswert fiir die Situation Fanny Hensels innerhalb der Familie der Beginn eines Briefes an den Vater schon vom August 1830, den Italien-Plan betreffend: »Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich in der Lage, etwas vorzuhaben und zu wünschen, womit Ihr, besonders Mutter, nicht ganz einverstanden scheint, und so unabhängig eine Tochter auch bei ihrer Verheirathung werden mag, so drückend ist mir doch dies Gefühl, um so mehr, als ich durchaus nicht zugeben kann, daß unser Entschluß übereylt oder unvernünftig sey.« (Zit. nach Lowenthal-Hensel 2004, S. 177) Auch dass Fanny Hensel später dem Erlernen der italienischen Sprache das der englischen vorzieht, um Gedichte von Byron lesen und im Originaltext vertonten zu können (drei Lieder von 1836 und 1837), weist auf eine Unentschiedenheit gegenüber dem alten Plan hin. Am 12. November 1836 schreibt sie dem Bruder, »dass ich nicht genug italiänisch verstehe [...].« Während dessen Englandaufenthalten hat sie hier und da englische Brocken in ihre Briefe eingestreut. Nun gibt es einen neuen Anlass, sich mit der Sprache zu beschäftigen: Wilhelm Hensel unternimmt im Sommer 1838 eine höchst erfolgreiche Reise nach England, während der er der gerade inthronisierten Königin Victoria ein Gemälde verkauft und Bestellungen des britischen Hochadels entgegen nimmt. Gerade jetzt beschäftigt sich seine Frau zu Hause wieder mit den Vorbereitungen zu einer Italienreise, die im Herbst vonstatten gehen soll. Nachdem Wilhelm Hensel wegen einer Berliner Masernepidemie, wohl in Erinnerung an die Cholera von 1831, überstürzt zurückgekehrt ist, beschließt man, den Italienplan zugunsten einer gemeinsamen, für das berufliche Fortkommen von Hensel wichtigen Englandreise zu verschieben, wie Fanny Hensel Karl Klingemann am 18. September in Vorfreude auf ein Wiedersehen in London mitteilt (H II, S. 50, die folgenden Briefe S. 55fF.). Aber auch dieser Plan gelingt nicht. Zum einen wird eines der bestellten Bilder nicht schnell genug fertig. Vor allem aber stirbt das jüngste Kind der Schwester Rebecka im Alter von 13 Monaten. Das löst bei der Schwester die furchtbarsten Reaktionen aus bis hin zu Gesichtslähmungen, Raserei und einer lange andauernden Schwäche (ausführlich Tb, S. 89f., 92f.). Das Versprechen, sie zu einer Erholungskur zu begleiten, lösen schließlich die Schwester Wilhelmine (Minna) Hensel und Fanny Hensel ein, und man begibt sich mit Sebastian,

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Rebeckas Sohn Walter und einer Bediensteten im Sommer des Folgejahres in die Ferienwohung der Familie Devrient nach Heringsdorf an der Ostsee (Lied Strahlende Ostsee, HU Nr. 344). Vierzehn Tage vor der Abreise an den Bruder: »Wie lange ich dort bleibe, ist aber nicht bestimmt, vielleicht komme ich etwas früher mit Sebastian zurück [...] Das aber steht fest, wie ein Entschluß dieser Art feststehen kann, daß wir im Herbst nach Italien reisen, u. den Winter über dort bleiben [...] Mit Rebeckas Genesung geht es übrigens jetzt ganz gut. [...] So ist meine Begleitung nach Heringsdorfjetzt eigentlich nicht mehr nöthig, indessen was ich ihr versprach, da uns recht eigentlich noch das Messer an der Kehle stand mit ihr, will ich nun nicht zurücknehmen. Uebrigens werde ich selbst auch baden, u. für Sebastian wünscht es unser Arzt sehr [...].« (17. Juni 1839, W; dort sehr viele Auslassungen, die sich nicht durch C füllen lassen, da der Brief dort fehlt.)

Die Briefe aus Heringsdorf zeigen Fanny Hensel wieder auf alter Höhe. Der Aufenthalt außerhalb Berlins und die Aussicht auf die bevorstehende Reise in das Land ihrer Sehnsucht von 1823 lassen die Kräfte wachsen. 1. Juli: »Heringsdorf ist stupend schön und bleibt es, furchte ich, nicht lange, denn die verfluchte Civilisation mit ihren gelben und grünen Häusern fangt schon an, überall zu spuken und die schönsten Punkte zu verderben [...]. Ich habe mir durchaus vorgenommen, die beste Laune durchzuführen; bis jetzt ist es mir gelungen, so oft ich aber an Dich denke, (und es geschieht zuweilen!) gehen mir die Augen über.« (an Wilhelm Hensel wie auch 3. und 17. Juli; H II, S. 57, 59, 61) Jene bunten Häuschen an den nord- und ostdeutschen Küsten, die uns heute so urtümlich und bodenständig vorkommen - sind sie nichts anderes als Nachfahren erster Ferienhäuser? 3. Juli: »Jetzt sitzt nun schon wenigstens anderthalb Stunden lang der Klavierstimmer daran, und je länger er stimmt, je toller es klingt. [...] Es lebe die Kunst! Als Tisch ist das Klavier vortrefflich zu brauchen, und drittens dient es zum Bücherbrett.« Am 5. Juli »sprengt der Ciavierstimmer eine Saite auf unserm Piano, das leider gar kein Forte ist [...] daß leider! das Badereisen auch unter den Besten anfangt Mode zu werden, kann man an den Flöhen sehn, die hüpfen u. springen hier mit den Ciaviersaiten um die Wette.« (an den Bruder; W) 17. Juli: Russische Marine ist in der Nähe und macht auf Fanny Hensel einen entsetzlichen Eindruck. Fanny Caecilia Hensel

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»Hochcivilisierter Barbarismus! Wie werden wir dereinst von einem kommenden weiseren Geschlecht gerichtet werden, welches das Faustrecht im Grossen, die Kriege, abgestellt und das Völkertribunal eingeführt hat. Dann werden noch einzelne Kriege übrig bleiben, wie jetzt einzelne Duelle, aber sie werden immer seltener und immer unmöglicher werden, und dann können die Menschen anfangen, vom Christentum zu reden. Darum ist Ludwig Philipp mein Mann [der französische »Bürgerkönig« Louis-Philippe], weil er der Napoléon de la paix ist, und weil er die Angelegenheiten der Welt jetzt durch einen europäischen Kongress zu ordnen versuchen will, was ein grosser Gedanke ist.« [Später ist sie mit dem König unzufrieden; vgl. Klein 2002, S. 67, 89].

Und sie schließt an: »Nun lachst Du mich aus mit meiner Friedenspolitik, aber ich habe doch Recht, wie alle Frauen, >der Hecht ist blau

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3 Wilhelm Hensel: Rebecka und Fanny Mendelssohn Bartholdy (1829)

4 Wilhelm Hensel: Fanny Hensel aus der Zeit um die Eheschließung (1829)

5 Wilhelm Hensel: Fanny Hensel (1829)

6 Wilhelm Hensel: Fanny Hensel (1829)

7 Wilhelm Hensel: Fanny Hensel (1829)

8 Wilhelm Hensel: Fanny Hensel (1829)

9 Wilhelm Hensel: Fanny Hensel (1829)

10 Eduard Magnus: Fanny Hensel (um 1830)

11 Julius Helffi: Fanny Hensels Zimmer (nach 1830)

12 Wilhelm Hensel: Fanny und Sebastian Hensel (1834) nach dem Gemälde Christus vor Pilatus. Die Mutter blickt auf Christus, dem die Juden zurufen: »Sein Blut komme über uns und unsere Kinder.« (Matth. 27/25)

13 Wilhelm Hensel: Fanny und Sebastian Hensel am Klavier (1835)

15 Wilhelm Hensel: Fanny Hensel (vielleicht 1830er Jahre)

16 Wilhelm Hensel: Fanny Hensel am Klavier, vermutlich mit ihrem Sohn Sebastian (1840): »Roma 9. Feb. Marsch von Weber«

17 Eduard Mandel nach Wilhelm Hensel: Fanny Hensel (vielleicht um 1840)

18 Wilhelm Hensel: Fanny Hensel (vielleicht nach 1840)

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19 August Kaselowsky: Fanny Hensel in Rom (1845). Kaselowsky war Schüler Wilhelm Hensels.

20 Wilhelm Hensel: Familiengruppe (1846); gedacht als Skizze zu dem die Freiheitskriege thematisierenden Gemälde Das letzte Bivouac des Herzogs von Braunschweig, wobei die Mutter den Sohn (Sebastian) umarmt, der zu den Fahnen eilt.

21 Wilhelm Hensel: Fanny Hensel auf dem Totenbett (1847)

22 Eduard Ratti: Fanny und Wilhelm Hensel (1852). Ratti war Schüler Wilhelm Hensels.

Die während der Hinreise und dann in Italien an Fanny Hensel zu beobachtenden Kenntnisse der Kunstgeschichte und ihre Urteile über einzelne Beispiele - Gemälde oder Bauwerke - sind beachtlich, mit Sicherheit in ihrer Jugend erworben, nicht erst von ihrem Mann übernommen, wenn wohl auch von ihm bereichert, äußern sich jedoch niemals in seinem Schlepptau. Am 3. Mai 1840 in Rom missbilligt sie ein Gemälde von Hensels Kollegen Friedrich Overbeck mit der ihr eigenen Wortkunst, die einige Charakteristika der Bildwerke der deutschen Nazarener knapp und treffend bewertet: »heilig langweilig, stumpfpoetisch, schlicht anmaßend«. Abschließend: »Ich muss ausdrücklich sagen, dass Wilhelm 's Meinung eine andere ist, und dass er das Bild viel mehr schätzt, als ich, aber ich kann nicht gut Autoritäten annehmen, nicht einmal die seinige, sondern will mit meinen eigenen Augen sehen.« In München treffen sie neben allen berühmten Kunstkollegen Hensels von Kaulbach über Schnorr von Carolsfeld bis zu Rottmann auch den weniger berühmten Ernst Förster, der ihnen nicht nur die Alpenroute über das Stilfser Joch zum Corner See empfiehlt, sondern ihnen auch im Vorabdruck sein HandbuchfiirReisende in Italien schenkt (1840), nach welchem sich die beiden Kunstfreunde auf ihrer Reise wohl hauptsächlich orientieren, ergänzt durch zwei Briefe von Bruder Felix (14. September 1839, 4. Januar 1840), der aus der Erinnerung auf beachtenswerte Plätze und Speisen Roms hinweist. Schon auf der kurzen Reise bis München wird ein ästhetisches Grundkonzept von Fanny Hensel deutlich, welches in der Zeit romantischer Besinnung auf die vorgeblich einfache und unverfälschte Größe alter deutscher Kunst fester Bestandteil im Wertmaßstab der Gebildeten geworden ist und sich bei der reisenden Musikerin auch in Italien als gültiges Kriterium bei der Beurteilung jedweden Kunstgegenstands herausstellt. So heißt es über den frühmittelalterlichen Bamberger Dom, er sei - wiederum durch König Ludwig I. - »in seiner Reinheit wiederhergestellt.« In der Gegend um Landshut dagegen: -»Mehreregothische Kirchen, die sehr schön gewesen seyn müssen, sindgänzlich verdorben durch Neuerungen.« Uber dem gesamten Reisebericht verstreut sind Begriffe und Wendungen wie »verstümmelt«, »verhunzt«, »mißhandelt«, >>furchtbar entstellt durch spätere Zusätze«,ja: »von dem tollsten Ungeschmack der vorigen Jahrhunderte bis zum Unkenntlichen entstellt«, etwa in Pavia durch »die ungeschlachten, gezierten, unleidlichen Sculpturen aus dem Uten«. Über das auf der Rückreise besuchte Straßburger Münster, selbstverständlich beeinflusst durch Goethes Schrift Von deutscher Baukunst »Der Chor von innen abscheulich modernisirt, Fanny C a e c i l i a H e n s e l

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und die Orgel vor 6 Jahren mit einer Geschmacklosigkeit restaurirt, die dem Ilten Jahr[hundert] zum ewigen Ruhm gereichen würde.« Die - hier nicht zu dokumentierende - Problemgeschichte der Bewahrung und Restaurierung älterer Kunstgegenstände ist hier beispielhaft zu beobachten, wie sie spätestens seit den um historische »Reinheit« bemühten Arbeiten Johann Joachim Winckelmanns an antiken Statuen sowie den Ausgrabungen von Pompeji aus gleicher Zeit von einem Lösungsversuch zum nächsten strauchelt und auch heute noch weit davon entfernt ist, zu einer Lösung vorgedrungen zu sein, ein Phänomen, welches uns allen bekannt ist von den etwas später begonnenen und bis heute heftig diskutierten Mühen um die Historische Auffiihrungspraxis. Zu ihren Pionieren mit seinen Händel-Auffuhrungen gehören zweifellos Felix Mendelssohn Bartholdy und in Zusammenarbeit mit ihm in gleichem Maße seine Schwester. Die Vorbereitungen zur Auffuhrung der Matthäuspassion müssen sie für jedwede Ausgrabungs- und Bewahrungstätigkeit sensibilisiert haben. Im Bewusstsein von Fanny Hensel und ihren Zeitgenossen, etwa dem ihr bekannten Sulpiz Boisseree, unter dessen Ägide gerade jetzt - ab 1842 - der fragmentarische Kölner Dom weitergebaut wurde, scheinen die Zweifel daran noch nicht sehr groß gewesen zu sein, ob es möglich sei, der Ursprungsgestalt eines Domes aus dem frühen Mittelalter oder einer 100 Jahre alten Passion nahe zu kommen, und ob es so etwas wie eine solche Gestalt überhaupt je gegeben hatte. Der Bamberger Dom ist für Fanny Hensel »in seiner Reinheit wiederhergestellt«, ob - um nur das Geringste zu nennen - die Ausmalung und Farbigkeit der Ursprungszeit bekannt ist oder nicht. Ebenso geht sie offenbar davon aus, dass Bach von der Passion eine Endfassung hergestellt hatte, der man zu folgen habe, auch wenn Bach dergleichen selten im Sinne hatte. Die Vorstellung ist ihr fremd, dass eine Passion in drei bis vier verschiedenen und nicht konkurrierenden Versionen, also in mehreren Gestalten, als selbständiges Kunstwerk bestehen könne und dass eine romanische Kirche mit bäuerlichen und barocken Anbauten - das böse 17. Jahrhundert! - als Zeugnis einer jahrhundertelangen Bau- und Gebrauchsgeschichte ebenso als künstlerische Einheit mehrerer historisch getrennter Elemente und Eingriffe gesehen werden könne. Nun gar römische Antike, vor allem Ruinen, als Basen für spätere Kirchen oder versehen mit barocken Türmchen zu ertragen oder gar zu goutieren, ist ihr unmöglich. Sie hängt der Forderung nach der Originalgestalt eines Kunstwerks an, ohne sich dessen bewusst zu sein, dass diese Forderung erst seit dem späteren 18. Jahrhundert aufgestellt worden ist, 180

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zu Zeiten des »Originalgenies«, dessen Hervorbringungen einmalig, unvergleichlich und weiterer Überarbeitung enthoben sind. Die Wissenschaft nennt solches Endstadium der Produkte »Fassung letzter Hand«, kann damit allerdings bei Kunstwerken älteren Datums in vielen Fallen wie den Bachschen Passionen - nicht operieren. Auf solche zusammen gesetzten Erscheinungen vermag Fanny Hensel ihre Bemerkung über pompejanische Hinterlassenschaften nicht zu übertragen: »An diesen Fragmenten ist eine ganze Kunstgeschichte nachzuweisen.« (9. Juni 1840) Ebensowenig gelingt es ihr, einen bemerkenswerten kulturkritischen Gedanken auf die - auch musikalische - jüngere Vergangenheit und auf die Gegenwart anzuwenden. Wir bewundern das antike Veroneser Amphitheater als erhabenes Bauwerk, obwohl sein Zweck das Abschlachten von Mensch und Tier war: »Sind wir nicht die Narren des Alterthums?« Die Postulierung der »Reinheit« in der ungestörtem Ausprägung eines älteren, »klassischen« Stiles als Vorbild und Leitstern für die Gegenwart erinnert an die Zurechtweisung Felix Mendelssohn Bartholdys gegenüber dem Streichquartett der Schwester (vgl. S. 166) und hat ihren Ausgangspunkt, was Musik betrifft, in einer allgemeinen Tendenz der Jahrzehnte um 1800, in der Renaissance von Bach und Palestrina Gegenstücke und Heilmittel zum aktuellen Verfall und zur Verwilderung der musikalischen Sitten zu finden. Hier taucht der zentrale Begriff wiederum auf, im Titel des den Mendelssohns wohlbekannten und bereits erwähnten Thibaut'schen Traktates Über Reinheit der Tonkunst von 1825/26, Palestrina auf den Schild hebend. Da auf dem Felde der Politik für die Zukunft des deutschen Bürgertums Erfreuliches zwar zu erhoffen, aber nicht zu erwarten war, konnte der verklärende Blick auf das Unvergängliche der Vorzeit nicht einfach nur die Lücke füllen und seinen Entdeckungen Ersatzcharakter verleihen, wie eine übereinfache Interpretation lauten würde, sondern er überdauerte, stärkte durch die ans Tageslicht geförderten Objekte und Helden das kollektive Selbstbewusstsein auch dann noch, als die politischen Hoffnungen sich in späterer Zeit erfüllt hatten. Der Historismus, das große Alte entdeckend und als makelloses, mahnendes Paradigma der Gegenwart vorhaltend, hatte in der Familie Mendelssohn bekennende und praktizierende Vertreter. Er zeigt sich, da sowohl Fanny Hensel wie ihr Mann von unterschiedlichen Künsten aus dessen Ideen auf ihre Fahnen geschrieben hatten, als starkes Band - neben anderen -, das um dieses Paar war und es zusammen hielt. Fanny Caecilia Hensel

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Der verklärende Blick - wie hat ihn Fanny Hensel betätigt? Stellen wir das Physiologische voran. Sie ist »kurzsichtig« (4. März 1840; C), hat »schwache Augen« (Tb), ein »kurzes Gesicht«, so dass sie, mit den anderen »armen Weibern« hinter einem Gitter abgetrennt, in der rauchgeschwärzten Sixtinischen Kapelle wenig erkennt. In der Nähe hilft ihr jedoch eine »Lorgnette« (2. Dezember 1839; 25. Februar 1840; Klein 2002). Später in Neapel allerdings kann sie im Abenddämmer bei außergewöhnlicher » Transparenz der Luft [...] mit bloßem Augejedes Haus auf Capri sehn, was ich früher nie konnte [...].« Es geht immerhin um eine Entfernung von etwa 35 Kilometern! (Capri war wegen eines Sturmes nicht zu erreichen, worauf man nach Sorrent und an die amalfitanische Küste auswich.) Die Intensität des Erlebens von Kunst und Natur flihrt immer wieder zu Ausbrüchen des Entzückens: »unbeschreibich«, »göttlich.« Auch Sprachlosigkeit gibt es, ähnlich dem »Schweigen« zur Hochzeitsnacht vom 3. Oktober 1829: »Vom ersten Eindruck von Venedig schreibe ich weiter nichts, man kann ihn so wenig vergessen, wie die Sterne am Himmel.« (Ebenfalls unvergessen bleiben die Mückenplage, welche geschwollene Augenlider hinterlässt, und der Durchfall in Venedig, der Mutter und Sohn veranlasst, nur noch Wein zu trinken, so am 23. Oktober 1839 vermerkt.) Die schriftlichen Äußerungen, welche »die stille Feierlichkeit in der Natur« auslösen (9. Juni), gehören zum Eindrucksvollsten des Tagebuches. Die folgende Schilderung eines Blickes aufs nächtliche Meer vor Neapel kann in ihrer Geduld, Genauigkeit und Plastizität für viele Eindrücke stehen, welche Kunst- und Naturerlebnisse auf Fanny Hensel ausgeübt haben (12. Juni 1840; der erwähnte Monte Pincio ist zugleich Hügel und jener Stadtteil in Rom, in welchem die Hensels zuvor gewohnt hatten): »Der Mond standgrade vor uns, über der Küste v. Sorrent, und warf seinen breiten Goldschimmer über das ganze Meer, dann theilte es sich, hinten an der Küste war ein breites Lichtmeer, dann Dunkel, vorne wieder glitzernder Goldschimmer, nicht unähnlich den Glühwürmern, wenn man sie, wie auf dem Pincio, in Massen sieht. Wenn Kähne durch den Lichtstreifenfahren,finges an um sie zufiinkeln,lange, ehe sie ihn erreichten, und dauerte wiederum lange, nachdem sie ihn verließen [!] hatten, sie zogen einen breiten Lichtstreifen hinter sich her. Noch wunderbarerwars, wenn sie durch den dunkelgebliebenen Theil des Meeresfahren,dannriefensie das Licht hervor, das dann auf dem dunkeln Meer ganz phantastisch hinter dem schwarzen Schiffchen herzog.«

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»Lauter Bilder«, schließt sie später die Kurzfassung einer solchen Beobachtung (8. Juli, zwei Tage, nachdem sie »zum erstenmal im mittelländischen Meer gebadet, das etwas salzig und bitter schmeckt [•••]•«) Wie wahr! Ein Gemälde könnte danach geschaffen worden sein könnte! Die Ubermacht der Naturerscheinungen gegenüber den Bemühungen der Malerei hat schon seit dem 17. Jahrhundert geradezu Konkurrenzgefühle einiger Künstler »Auf den Spuren der Künstlerin Natur« hervorgebracht (so betitelt Abschnitt I./1.4. in Schleuning 1998). Auch Fanny Hensel schließt sich an, wiederum die »berühmte italiänische Transparenz« der Luft rühmend: »Davon giebt kein Bild auch nur eine annähernde Vorstellung, und ich glaube auch, es ist nicht zu malen.« (15. März 1840) Ein Vierteljahr später, wieder über den Blick auf den Golf: »Gudin [Landschaftsmaler, Kollege Hensels an der Berliner Akademie] kann es nicht so erfinden, und Claude [Lorrain] auch nicht.« (Klein 2004, S. 92) Und noch jemand bläst ins gleiche Horn in Erinnerung an den Vesuv: »Der Krater ist unmöglich zu beschreiben, denn es fehlen Worte [...] ja ich glaube gar man kann es nicht so malen.« (17. Juni 1840) Es ist der Mutter kluges Kind, Sebastian Hensel. Schade, dass Fanny Hensel niemals in der poetischen Art ihrer Nachtschilderung über Musik geschrieben hat. Dichter versuchen es häufig, komponierende Menschen selten. Die vier Reisenden treffen am 26. November 1839 in Rom ein und beziehen eine Vierzimmer-Wohnung in der Via del Tritone Nr. 9 nahe der Piazza Barberini, von wo man sehr schnell über die Via Sistina zur Piazza di Spagna gelangen kann und damit zu drei für die Hensels wichtigen Ortlichkeiten, einmal der deutschen Künstler-»Kolonie«, die sich dort im Zentrum des Viertels Monte Pincio angesiedelt hat - hier liegt auch die Casa Bartholdy - und für einen Maler viele, wenn auch wenige anregende Kollegen bereithält, von denen einige wie auch manche Römer Wilhelm Hensel noch von seiner rastlosen Tätigkeit der 1820er Jahren kennen, dann dem Passeggiata genannten Weg oberhalb des Platzes von der Kirche Trinità dei Monti bis zur Piazza del Popolo, von wo die drei häufig den prachtvollen Blick über Rom genießen, schließlich die Académie de France an eben diesem Wege, von deren Stipendiaten einige bald zum Freundeskreis der Hensels gehören. Die Künstlerfeste in der Académie scheinen für Fanny Hensel etwas geradezu Rauschhaftes gehabt zu haben, bilden Lebenshöhepunkte, in welchen die Feier der Natur, der Freundschaft und der Musik zu einem Hochgefühl zusammenfließen, das ihr im bisherigen Leben fremd gewesen ist. Eine Einschränkung erfahrt

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die Freude allerdings im Frühjahr 1840 durch eine Verstärkung jener Magenkrämpfe, an denen Wilhelm Hensel so häufig leidet und die nun bei Ehefrau und Sohn »sehr viel Angst« auslösen, wie der Sohn mitteilt (Zit. nach Lowenthal 2004, S. 235). Die deutsche Maler-»Kolonie« ist nicht nur mit Rom beschäftigt, sondern entdeckt die Umgebung, vor allem jene im Osten Roms um das Dorf Olevano. Dort arbeitet auch August Wilhelm Schirmer aus Düsseldorf, ein Freund Felix Mendelssohn Bartholdys und mit diesem in brieflichem Kontakt über Landschaftszeichnungen. Er ist gerade zur Zeit des Aufenthaltes der Hensels in Rom. Einer der wichtigsten und prägendsten Künstler, auch was Zusammenhalt, rituelle Feiern und soziale Unterstützung der in der Ponte-Molle-Gesellschaft [Monte Milvio bei der Piazza del Popolo] zusammengeschlossenen deutschen Maler betrifft, ist Ernst Willers, Oldenburger Hofmaler, ebenfalls zur Zeit der Hensels in Rom (vgl. Küster 2003). Nicht umsonst werden der Ponte Molle und seine Gebrüder in den Briefen immer wieder erwähnt. Dass sich in Roms Seitengassen die Müllberge türmen, es noch keine Straßenbeleuchtung gibt, sogar in manchen Ecken »Jung und Alt seine natürlichen Bedürfnisse ganz offen verrichtet« (Christian Gottfried Daniel Stein, Reise nach Italien, Leipzig 1829; zit. nach Müller 2003, S. 106), berichten Hensels nicht oder nehmen es nicht wahr, wenn ihnen auch bei ihrer Nachtschwärmerei das Fehlen von Straßenlampen zugesagt haben mag. Jedoch sind Flöhe Dauerthema, machen allerdings weniger Sorgen als die bedrohlichen, lang anhaltenden Magenkrämpfe Wilhelm Hensels, die viele Freuden überschatten, aber das »Malerthier«, wie er sich selbst nennt (19. November 1839; Klein 2004), nicht hindert, seine Zeichenwut an Portraits und Landschaftszeichnungen auszulassen, ebenso an Stadtveduten: Er habe wieder einen »elegischen Trümmerhaufen gemacht, der an Reiz wol schwerlich seines Gleichen haben möchte. Wie nun da gegraben und gemaulwurft wird, und eine Säule, und ein Stück Mauerwerk, und ein Stück Fußboden nach dem andern zu Tage kommt, manches noch unter der Erde steckt, anders an der Luft schon wieder bewachsen ist, so erlebt dies merkwürdige Stück Gotteswelt eine neue Geschichte, zu der vielen, die schon drüber hingegangen.« (2. Dezember 1839; Klein 2002) Neben Nachtleben, Kunstübung und Altertumsbegeisterung sind es vor allem - Goethe im Sinn und im Koffer - die religiösen Feste in St. Peter sowie die fantastischen Erfindungen und Auswüchse des römischen Karnevals, die die Hensels faszinieren und Fanny Hensel in Brie184

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fen und Tagebüchern äußerst lesenswerte Darstellungen des Fremden und Aufregenden entlocken. Ab Juni ist man dann für etwa zwei Monate in Neapel - »die Stadt ist wirklich infernalisch!« (Klein 2004, S. 69) Unerwartetes Glück lässt die drei eine Wohnung am Meer finden, die einen einzigartigen Blick zum Vesuv, über die Stadt bis nach Sorrent, über die Bucht bis Capri und Ischia bietet, dazu einen stetigen milden Seewind, vor allem aber einen Balkon, den Fanny Hensel nur selten und mit Widerstand verlässt und den sie ihrer Mutter am 9. Juni 1840 genau beschreibt (Klein 2004, S. 63). Da es einer der liebsten Plätze ist, die Fanny Hensel zeitlebens bewohnt hat, soll sie darüber zu Wort kommen: »Neben unserm Salon ist ein zweiter, größerer, prächtigerer mit einem Balcon, von ungefähr 50 F. Länge und 25 Breite [3 Fuß = ein knapper Meter], [...] Auf diesem Balcon geht es folgendermaaßen zu: drei große Glasthüren fuhren hinaus, er ist mit einem Fußboden von zierlicher [!] Steinmosaik, und einem eisernen Gitter versehn, und indem man heraustritt, sperrt man unfehlbar Maul und Nase auf und sieht: [den Ausblick, wie oben zusammen gefasst]. Der Balcon wird vom Meer umspült, unter demselben befindet sich ein Fischbehälter, aus dem die Sardellen zu unserm Diner täglich frisch gefangen werden, und wenn Du mit alle dem noch nicht zufrieden bist, so wende Deine Augen wieder links, und sieh die englische Flotte da liegen, ruhig und majestätisch, als wäre sie blos darum hergekommen unsre Aussicht noch zu verschönern. [Die Flotte lag dort wegen eines Streites um das Schwefelmonopol mit dem Königreich beider Sizilien, wie wir vom Herausgeber erfahren.] Hier leben wir nun seit 3 Tagen wie die verzauberten Prinzen ganz allein [...].«

Das Tagebuch, ob aus Rom oder aus Neapel, geizt im Unterschied zu den Briefen mit Humor, da das lachende Gegenüber fehlt. Zur späteren Selbstunterhaltung leuchtet aber hin und wieder etwas Scherzhaftes oder Ironisches auf, etwa über ein angebliches Selbstbildnis Raffaels in der Galleria Borghese in Rom - -»solche Schnute hat er nie gehabt« - oder über Sohn Sebastian, der nach Kleinkindersprache gelegentlich »Bap« genannt wird. Er verhält sich trotz häufiger Kränklichkeit und mangelnder kindlicher Gesellschaft »musterhaft«, zeigt selbst während der später von Neapel aus an seinem Geburtstag (16. Juni 1840) unternommenen Vesuv-Tour - besser -Tortur - »ein außerordentlich elastisches Natürchen«, während der Mutter »das Herz ein Paarmal in die Hosenfiel, obgleich ich keine anhatte [...].« »Bap« erhält in Rom Klavierstunden von der Mutter und Spezialunterricht von Italienern, unter anderm in Geschichte, Geographie und

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Rechnen, schließlich auch bei einem Schüler Hensels Zeichenunterricht - dem er Englisch beibringt - und Italienisch bei einem jungen Priester. Ein italienischer Brief von ihm ist erhalten an seinen Cousin Walter Dirichlet (Klein 2002, S. 91), ebenso eine Reihe von gekonnten Zeichnungen aus der Zeit in Neapel (bei Klein 2004). Am 3. Juli lässt das überschwängliche Lob fur ein wenig gelungenes Gemälde von Jean-Auguste-Dominique Ingres, Direktor der römischen Académie de France, die Komponistin » innerlich die Hände über dem Kopf zusammenschlagen [...].« Neben einigen Franzosen und Italienern bekommen aber auch Deutsche ihr Fett weg wie ein Paar, bei welchem Fanny Hensel kurz darauf eingeladen ist (8. Juli 1840): »Er spricht mecklenburgisch, sie Lübecksch, und beide athmen eine vollendete deutsche Spießbürgeratmosphäre aus. Es war sehr heiß, der Papagei sehr übler Laune, der Kälberbraten sehr gut, das Eis sehr kühl, und ich sehr verlangend, mich in ein trocknes Hemde zu begeben [...].«

Musik

Dann aber aus Rom wieder eine von den alten Raketen (16. März 1840): »Liebe Mutter, ich bin doch die wahre Cassandra! Habe ich nicht, so oft der Thorweg neu geflickt worden ist, jedesmal gesagt Laß ihn steinigen aber meine warnende Stimme wurde nicht gehört. Nun sollst Du mal sehn, nun bist Du ihn los.« Die Aufforderung zur Steinigung erscheint als Text zu einem Notenbeispiel, und zwar dem Thema des Chores »Laß ihn kreuzigen« aus der Matthäuspassion. Diese umtextierte Zeile sang die Tochter der Mutter wohl immer dann entgegen, wenn diese über den noch nicht mit Platten ausgelegten Torweg geklagt hatte. Dass diese Alltags-Parodie auf die verehrte Passion des verehrten Johann Sebastian Bach in der Familie nicht als Blasphemie verachtet, sondern als Teil einer durchgängigen Praxis nicht nur geduldet, sondern offenbar auch belacht worden ist, zeigt eine neue Facette der ohnehin schon facettenreichen Familie Mendelssohn Bartholdy. Das ernste Thema Musik verträgt - dies Beispiel ausgenommen - in Briefen und im Tagebuch nicht allzu viel Humor, es sei denn angesichts eines Musikers, der sich so wunderlich verhält wie der 1818 geborene 186

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Charles Gounod, Rom-Stipendiat, von allem, was Fanny Hensel tut, •»außer sich«, insgesamt »entsetzlich lebhaft«, »hyperromantisch und leidenschaftlich«, ihr heißer Anbeter und von fast religiöser Begeisterung, sobald sie eine Taste anrührt, »wie betrunken«, »verwirrt und halb toll« durch deutsche Musik, so durch das am 10. Mai schon »wenigstens ein Dutzendmal« (C) gespielte Bachsche Klavierkonzert d-Moll (BWV 1052): »[...] demfällt nun die Bekanntschaft mit deutscher Musik wie eine Bombe in 's Haus, möglich, dass sie großen Schaden anrichtet.« (2. Mai 1840) Tief bedauerlich, dass Fanny Hensel 1852 nicht mehr lebte, als Gounod in seiner von ihr angefachten Verehrung fur »nichts, als Bacque« (C, s. o.) die Geigenmelodie zum C-Dur-Präludium aus dem ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers komponierte, die Meditation sur le 1er prélude de Bach, erst sieben Jahre später zum berühmten Ave Maria textiert. Hätte sie ihre Bemerkung von 1840 bestätigt gefunden? Später in seinen Mémoires d'un artiste hat Gounod die Erinnerung an »Madame Henzel« in leuchtende Farben getaucht. Auch ihr Aussehen gewinnt dabei neue Konturen - »sie war klein, fast schmächtig, aber der feurige Blick aus tiefen Augen verriet ungewöhnliche Energie.« (Zit. nach Tillard 1994, S. 286) Nicht ohne Einfluss auf das italienische Glückserlebnis sind neue Kompositionen und deren Erfolg: »Ich will garnicht verhehlen, dass die Athmosphäre [!] von Bewunderung und Verehrung, von der ich mich hier umgeben sehe, wohl etwas dazu beitragen mag, ich bin in meiner frühen Jugend nicht so angeraspelt worden wie jetzt, und wer kann läugnen, dass das sehr angenehm und erfreulich ist?« (26. April 1840) Endlich ist sie den produktiven Niederungen des vorangegangenen Jahrzehnts entwachsen. Die Vermutung, nicht nur mangelnde künstlerische Ausstrahlung habe zu jener Krise gefuhrt, sondern auch die kritische Einstellung des Bruders zu einigen ihrer Werke und zu Veröffentlichungen, scheint sich zu bestätigen: »Ich schreibe auch jetzt viel; nichts spornt mich so als Anerkennung, wogegen mich der Tadel muthlos macht und niederdrückt.« (23. April 1840) Der Kritiker ist weit entfernt. Zwar klagt sie ihm und der Berliner Familie noch Anfang März ihr Leid über fehlende Kompositionseinfalle »nichts Gutes u. nichts Schlechtes« - , beantwortet sogar die zwei Jahre alte, auf das Alte Testament bezogene Frage, »ob Abraham alt war« (vgl. S. 154): »Abraham wird alt!« (C Nr. 116). Jedoch fallt dieser Rest von Resignation zusammen mit dem Neubeginn des Komponierens. Die seltsame und rätselhafte Floskel - musste Fanny Hensel sie nicht im Bewusstsein

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gewählt haben, dass der Tod des wahren Abraham, ihres Vaters nämlich, in ihr wirksam war? Betrachtete sie etwa ihren so hochmoralischen Erzieher, so lange er am Leben war, trotz allem als Antreiber und Garanten ihrer künstlerischen Produktivität, die ihr mit dessen Tod im Jahre 1835 abhanden zu kommen drohte und nun für immer abhanden gekommen war? Warum sonst die Wahl des Namens Abraham außer in Anspielung an die Bibel? Falls es so gewesen sein sollte, hatte sie durch Italien diese Hemmung überwunden - und damit auch den Vater? Die Kompositionen umfassen Lieder und einige Klavierstücke, diese zumeist nach Titel und Inhalt auf Reiseerlebnisse bezogen: Gondelfahrt, später auch genannt Serenata\ Ponte motte oder Abschied, bezogen auf das nördliche Eingangs- und Ausgangstor Roms, 1845 in Widmung fur den Freund aus römischen und späteren Tagen, Julius Elsasser, Abschied von Rom genannt (dazu Klein 2003; ein Brief von Rebecka vom 1. Mai 1844 erwähnt das Stück; ebda., S. 181); Villa Mills (später op. 2, Nr. 3); Villa Medicis, bezogen auf die Académie de France (HU Nr. 345,352,357,353; dort weitere Auflistungen der in Italien komponierten bzw. interpretierten Werke, vgl. auch Tb, Anm. zu S. 129,25-27, und zu S. 130,16 u. 35f.) »[...] theils sind sie mir wirklich an den Orten eingefallen, Theils habe ich sie im Sinn dabei gehabt, und es wird mir künftighin ein angenehmes Andenken seyn, eine Art von 2tem Tagebuch.« (4. Mai 1840) Es ist demnach nicht auszuschließen, dass auch die unbetitelten Klavierstücke sich auf bestimmte, besonders beliebte Ortlichkeiten der Reise beziehen, so jenes in As-Dur (HU Nr. 346) in seiner Munterkeit vielleicht auf die Spaziergänge entlang der Passeggiata oberhalb der Piazza di Spagna, jenes in h-Moll (HU Nr. 349) mit seinem Wechsel von langsamer Einleitung und blitzendem Allegro auf den von Fanny Hensel häufig beschriebenen Wechsel von Andacht und wildem Treiben während der heiligen Feiern von Karfreitag und Ostern, erinnert doch das Anfangsmotiv allzusehr an das »Es ist vollbracht« aus der Matthäuspassion. »Gerade ihre eigenen >italienischen< Kompositionen fanden bei den französischen Stipendiaten und den jungen deutschen Malern so großen Anklang, dass sie fur eine Lotterie, die man während eines ganztägigen Ausflugs zur Villa Wolkonsky veranstaltete, von ihren Klavierstücken eigene Abschriften herstellte, die abends verlost wurden.« (Klein 2005/4, S. 83) Die überall Gefeierte führt bei regelmäßigen wöchentlichen Musikabenden in Privathäusern - etwa bei Bekannten, dem Musiker und Musikalienhändler Landsberg und dem Maler Franz Catel - oder in der Aca188

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démie de France Solo- und Kammermusik auf, außer eigenen Kompositionen und solchen des Bruders einmal eine Mozart-Fantasie, wahrscheinlich jene in c-Moll (KV 475), auch Schubert-Lieder und neben Trios und anderer Kammermusik eine große Zahl von Beethoven-Klaviersonaten, darunter auch den ersten Satz der so genannten Hammerklavier-Sonate op. 106 - aber nicht nur diesen Satz: >[...] ebenßel Gounod mir zu Füssen, mich um das Adagio zu bitten.« (30. Mai 1840) Es ist jene Sonate, die für viele als unspielbar galt, nicht für Fanny Hensel und ihren Bruder (25. März 1845), und die Franz Liszt erstmals 1835 öffentlich vortrug, worin es ihm Clara Wieck bald nachtat. Die Erfolge im privaten Kreise ermutigen Fanny Hensel im April 1840 zu dem Plan, in der Académie de France einmal »ein ordentliches Concert« zu veranstalten, verhindert jedoch durch die »Umständlichkeit« von Direktor Ingres. Kommentar nach dem Märchen Der Fischer und seine Frau\ » mine Frau de Ilsebill, will nich so, als ick wol will.« Man tröstet sich auf andere Weise. Die italienischen Esswaren werden, so fremdartig sie erscheinen mögen, sehr gelobt. Zudem zeigt sich keinerlei Widerspruch zwischen hoher Kunst und erhöhter Ausgelassenheit, die sich in Rom oft zu nächtlichen Geselligkeiten bis ein Uhr nachts und später ausweiten. Anziehungspunkt, zugleich Auslöser der Begeisterung: der Mond (17. Mai 1840): »Alles sah ganz wundervoll aus und nun gar das Coliseum! Der Mond war abwechselnd heiter und bedeckt; was ein wunderschönes Schauspiel gewährte. Nach ziemlichem Aufenthalt gingen wir über das ganze Forum zurück. Gounod kletterte auf einen Akazienbaum und warf uns Allen blühende Zweige herunter, so dass wir einhergingen, wie der Wald von Dunsinan [aus Shakespeares Macbeth]; ich nahm unterwegs meine Haube ab, wie Cécile im Cotillon [Unterkleid], aber nicht um sie zu kopiren, wir stiegen aufs Capitol, dann nach dem Pantheon, das ungemein still und emsthaft dastand, über Moncitorio und Piazza Colonna. HierfingEiner an, das Concert von Bach zu singen und wirfielen alle im Chor ein und marschirten im Takt, kurz, wir durchzogen Rom ein wenig, wie die betrunkenen Studenten [...].« (Angemerkt sei, dass viele der ins Tagebuch aufgenommenen Formulierungen wie diese hier fast wortgleich in Briefe an die Familie übernommen werden, aber auch umgekehrt, entweder auf Grund von Abschrift oder von gutem Gedächtnis.) Es gibt noch keine Gitter ums Forum Romanum, und ab dem späten Abend ist Rom »todt und stille«, wie August Lewald in seinem Reisefuhrer von 1840 schreibt, der neben dem schon erwähnten von Ernst Förster und dem von Karl Baedeker deutsche Rombesucher leitet (vgl. Müller 2003, S. 108, 104).

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Zweifelsohne ist die Neugier auf dasjenige, was man in Italien an Musik hören kann, bei Fanny Hensel hochgespannt, auch wenn der Bruder einst von seiner Italienreise nicht immer Begeisterndes berichtet hatte. Zunächst, ob in Privatgesellschaften oder in der französischen Akademie: » Viel sehr schlechte Musik«, -»langweilige Musik«, »Schrecklichere Musik, alsje«. Die rituelle Feierkultur zum Karfreitag und zum Osterfest in und um Sankt Peter Mitte April 1840 erscheint ihr teilweise »alspossenhafte Aeusserlichkeit«, die dabei erklingende Musik, denkt sie an Bach, als »Versteinerung der Musik«, »unglaublich monotones Ableiern«. Das berühmte Miserere von Gregorio Allegri aus dem 17. Jahrhundert, ausschließlich im Vatikan gesungen, wirkt auf sie in seiner schönen Einfachkeit nach der voran gegangenen Monotonie durch »kluge Berechnung« als »faustdicker Effekt«. Den Gesang kritisiert sie durchgehend, da die Sänger auch dieses Stück »traditionell und etwas roccoco verzieren« und dabei jene »päpstlichen Quinten« erzeugen (4. März; C), welche der Bruder bereits beanstandet hatte (vgl. S. 164). Dazu kommt noch, dass die Sänger über das Stück hinweg so absacken, dass sie, von g-Moll ausgehend, in f-Moll schließen, ein anderes Stück in H-Dur beginnen, um in G-Dur zu enden, Beobachtungen, die schließen lassen, dass Fanny Hensel ein absolutes Gehör besaß, entweder ein angeborenes oder eines, welches durch sehr viel Musizieren zu erlangen ist. Ob ihr das noch genützt hat bei Sängern in einer armenischen Kirche, die »das verwünschteste Katzengeheul machen, das menschliche Ohren nur vernehmen können«? Sie fragt sich, »ob man sich wundern oder die Leute bedauern soll, die ihren Gott auf so menschenfresserische Weise angrunzen.« (10. Mai; W)

Vorurteile Der in der Berliner Familie grassierende Anti-Katholizismus, verstärkt wohl durch Konversion von Verwandten wie »Tante Schlegel« und deren Kindern, zeigt sich bei Fanny Hensel unverhohlen. Dementsprechend dürfte auch ein Vorurteil gegenüber Nationalitäten nicht ausschließlich auf aktueller Beobachtung beruhen, sondern in Teilen bereits zu Hause erworben worden sein. Schon eine Bemerkung über »Weichlichkeit« in der italienischen Kultur und Musik war einschlägig (vgl. S. 168). Selbstverständlich ist es leicht und ebenso unrichtig, Fanny Hensel mit dem Argument zu verteidigen, sie sei ein Kind ihrer Zeit gewesen, alle hätten 190

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das in sich getragen, auch sie habe nicht aus den ideologischen Fesseln ihrer Umgebung heraus gekonnt. Jedoch sei die Frage erlaubt, wie in Zeiten eines wachsenden Antisemitismus, dessen antijüdische Ressentiments auch Fanny Hensel betrafen, derart festgefügte Urteile über ganze Völkerschaften übernommen und vertreten werden konnten. Dies betrifft auch die später zu erörternde Frage des Bewusstseins von Fanny Hensel über ihre eigene Identität als Jüdin. Die »gewöhnliche italiänische Lüderlichkeit«, ja »die italiänische Faulheit« (11. November 1839) zeigt sich offenbar auch in der neuen Oper La Vestale von Saverio Mercadante: »ein hohles, gewöhnliches italiänisches Product.« (Auch noch 1845 geht es - wie bereits S. 168 zitiert - um »Verwöhnung« durch »italiänische Musik«, welche »die Ohren so verweichlicht.«) Und das Stabat mater von Pergolesi, in einer Privatgesellschaft bald nach der kirchlichen Ostermusik gesungen, ist zwar weit gerühmt - T>aber Kreuzdonnerwetter, wir hatten schlabbrige Musik genug im Leibe.« »Musikalische Kanaillen sind sie hier.« (2. April 1840) Ja, von einem »neapolitanischen Maccaronifresser« ist schon die Rede (25. Februar 1840). »[...] auf diesem reichen Boden wächst weniger, als in unsern Sandsteppen durch nördlichen Fleiß und Industrie. [...] Ach, was könnte aus dem Lande, und auch aus den Menschen drin werden, wenn Gott sich ihrer einmal erbarmen, und ihnen den Mann schicken wollte, den sie brauchen. Es ist ein Thema, über das wir in müßigen Stunden politisiren, was aus der Welt geworden wäre, wenn Napoleon statt Frankreich, Italien unterworfen, sich dann darauf beschränkt, und es von Grund aus organisirt hätte. Ich glaube, Frankreich hätte sich selbst geholfen, und Italien wäre jetzt, was es früher war, das Paradies der Erde.« (4. Februar 1840 an die Mutter)

Nicht immer möchte man bei solchem hochfliegenden »Politisiren« der Hensels dabei gewesen sein, vor allem nicht, wenn der kleine Sebastian dabei saß und die Lehren der Erwachsenen in sich aufnahm. Und wie mag man sich die politischen Gespräche im Kreise der Vertrauten aus der deutschen Künster-»Kolonie« vorstellen? Nur eine Frage: Wann jemals war Italien »das Paradies der Erde«? Doch wohl nicht zur Zeit der Cäsaren. Am 10. August über eine Gastgeberin, gebürtige Engländerin: »Sie ist auch sehrfreundlich und angenehm, sie überwindet die Engländerin soviel als möglich [...]«. Dies ist noch dezent formuliert über »die ungezogenen, flegelhaften Engländer« (13. Februar 1840 an die Mutter). Dagegen am 12. Mai:

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»Was die Engländer betrifft, so giebt es keinen grobem Flegel, als einen Engländer, den man nicht kennt; ich ärgere mich alle Tage über sie [...] so hat ihre Erscheinung hier etwas durchaus Beleidigendes. [...] In englischen Gesellschaften zu spielen, vermeide ich, wo irgend möglich, denn wenn die Conversation auch den ganzen Abend schleppend und träge geführt wird, so animirt sie sich unfehlbar in dem Augenblick, wo man anfingt Musik zu machen. Derselbe Nationalstolz, der im Volk so Grosses möglich macht, erscheint in dem Einzelnen oft als unerträglicher Hochmuth, und selbst wenn sich alle Mühe geben,freundlich zu sein, stellen sie sich gewöhnlich dazu an, wie die Bären.«

Ausgelöst wird dieses Urteil durch die Verwunderung, dass Menschen, denen man den Engländer ansieht, so reizend sein können, »bis ich erfuhr, es seien Irländer, wo es mir dann klar ward. « Einige junge Franzosen sollen - vielleicht nach dem Vorbild der SaintSimonisten (s. u.) - eine religiös motivierte Künstlergemeinschaft begründet haben, darunter auch Gounod, »undsich nun dem Priesterstande widmen, zum Zwecke der Emancipation der Welt auf religiösem Wege. Das ist Alles sehr merkwürdig, besonders gegen über dem gräßlichen Materialismus, und der unersättlichen Geldgier, welche einen großen Theil der Franzosenjetzt beherrscht. Es ist die Reaktion in ihrer größten Stärke. Unter solchen Gesprächen gelangten wir auf der alten via triumphalis auf den Gipfel des Monte Cavo [...].« (7. Juni 1840) Die Gemeinschaft scharte sich um den Dominikanerprediger JeanBaptiste-Henri Lacordaire, dessen Lehrer, der Sozialist de Lammennais, entscheidend auf die Entstehung der katholischen Soziallehre wirkte. Obwohl er sich erst 1847 mit dem Gedanken trug, Priester zu werden, begann Gounod schon jetzt, sich »Abbé Ch. Gounod« zu nennen. Dann am 5. April eine Szene, die neben Frankreich und seinen Bewohnern noch zwei andere Weltgegenden in die Beurteilung einbezieht, ausgehend von einem intensiven Gespräch mit dem Maler Horace Vernet. Er berichtet von seinem Lebenstraum, dem Orient, den er gerade bereist hat. Man erfahrt, dass Hensels das Thema Orient keineswegs fremd ist. Fanny Hensel versteigt sich gar zu der Prophetie: »Denn was wir lange unter uns besprochen, geahnt, gefühlt, gewusst, das bringt nun Vernet mit frischer That und klarem Wort in's Leben und in Kurzem wird es Gemeingut sein. Dort liegt die Zukunft der Kunst. Diese That hätte Wilhelm vollbringen können, hätte er sie gleich der Ideefolgen lassen.«

Verblüffend! Wilhelm Hensel als Erneuerer der Kunst aus dem Orient. Dass den Hensels dergleichen Gedankengut vertraut ist, könnte am Wissen um die Saint-Simonisten liegen (W, S. 282), speziell um das Schicksal 192

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von deren musikalischem Haupt, Félicien David, der Frankreich unter dem Druck der Regierung Mitte der 1830er Jahre fur zwei Jahre verließ, um den Orient für seine Ideen und Musik zu gewinnen und von dort, vor allem von Ägypten aus ein Reich der Erneuerung zu errichten - ohne Erfolg. Plötzlich ist Fanny Hensel von der Idee beseelt, Gleiches vom Gebiet der Kunst aus ins Werk zu setzen. Die Faszination Italien, der alte Okzident, weichen für Stunden zurück. Wilhelm Hensel und sie sollen sofort nach Triest aufbrechen »und sich einschiffen.« Warum tun sie es nicht? Die Unterredung darüber dauert an, äderen Resultat ein echt deutsches war: >seine nächste Pflicht thun und wartenWer hat dich, du schöner Waldauf Flügeln des Gesanges< von mir wäre [Felix Mendelssohn Bartholdy, op. 34 Nr. 2, nach Text von Heine], u. ich möchte überhaupt ein Verzeichniß von den Sachen von mir schicken, die verkappt in der Welt umherlaufen, es scheint, sie sind selber nicht pfiffig genug, die Spreu vom Weizen zu sondern. Daraufhin ich [C: Darauf muß ich] nun meinen ganzen Witz zusammennahm [C: zusammen nehmen], denn blos zu antworten; ach, meine Herren, leider nein! das fände ich rather platt, u. so dumm war ich auch nicht [C: werde ich auch nicht seyn], ihnen ein Paar Sächelchen mit Fingern zu zeigen, [W: Auslassung; C: ich hab es halt so besser], aber unverschämt will ich auch nicht seyn, kurz, ich muß mein Licht beinah ebenso im Dunkel lassen [C fehlt: mein Licht], als der Magistrat unsre Straßen, seit der die Erleuchtung übernommen.«

Jammerschade, dass Fanny Hensel das Verzeichnis nicht verfasst hat.

Fanny Hensels Tod

1. Februar 1847: »[...] im Grunde friere ich doch schon 17Jahre hier, die Sommermonate ausgenommen, u. befinde mich ganz wohl dabei.« (C) Die periodisch auftretenden Erkältungen im Winter geben keinen Anlass zu Sorge. Eher könnten einem Menschen, der auf seinen Körper achtet, bei dem immer wieder auftretenden und lang anhaltenden Nasenbluten Bedenken kommen. Aber Mutter und Bruder haben auch schon daran gelitten. Hat es ihnen längerfristig geschadet? Fanny Hensel ist am 5. Dezember 1842 (C) gelassen bis sarkatisch:

Fanny Caecilia Hensel

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»Husten, Hals- und Zahnschmerzen, Nasenbluten, u. was weiß ich, was sonst noch für Ungethüme von Gegnern geführt worden sind, u. woran mein Theil mich unfähig macht, einen Brief wie du es nennst, zu schleudern, so daß ich ganz zufrieden bin, wenn die Feder nur stille ihren Weg schleicht. Doch hat mich das Nasenbluten diesmal lange nicht so heruntergebracht, wie voriges Jahr, eine tüchtige Erkältung hilft jetzt nach.«

Immerhin aber verzögert sich der Beginn der zweiten Italienreise durch das Leiden: »Denselben Abend bekam ich einen heftigen Anfall von Nasenbluten, der die ganze Nacht durch dauerte, und 3 Tage drauf einen erneuerten, was uns doch wieder ein wenig unsicher machte [...].« (29. Dezember 1844) Dass diese Anfalle seelisch ausgelöst worden sein könnten, macht zumindest jener vielstündige der Mutter wahrscheinlich, als Wilhelm Hensel Anfang der 1820er Jahre um die Hand der Tochter anhielt. Wie steht es nun bei der Tochter selbst Ende 1844? Nasenbluten als Therapie wie einst das Ansetzen von Blutegeln? »Aber ganz ruhig bin ich, lieber Felix, [...] dazu mag wol ein tüchtiger Anfall von Nasenbluten beigetragen haben, den ich bald nach Deiner Abreise bekam. Ich habe wahrhaftig noch nicht Zeit gehabt, mich recht con amore über Dein Nicht-Hierseyn zu grämen, die Paar ersten Tage nach Deinem Fortgehn war ich so abgespannt von allen Ereignissen der letzten Zeit, daß ich nur so vegetirte [...].« (W, 21. Dezember; bei den »Ereignissen« geht es im Wesentlichen um die schlechten Nachrichten der Dirichlets aus Florenz.)

Ob das Nasenbluten des Bruders (W, 3. Februar 1838) mit der unmittelbar bevorstehenden Geburt seines ersten Kindes Karl Wolfgang Paul zusammen hängt, bleibe dahin gestellt. Dass Fanny Hensel im Mai 1847, kurz vor ihrem Tode, »wieder einen Anfall ihres Nasenblutens gehabt« hat (H II, S. 376), scheint, wie die Formulierung andeutet, so wenig Unruhe erzeugt zu haben wie die winterlichen Erkältungen, zumal er »durch ein neu angewendetes Mittel gestillt wurde.« Man befragte also einen Arzt. Gerade dies wird abgelehnt bei einem Leiden, welches wesentlich gefahrlicher erscheint, immer wiederkehrt und mit so genannten Hausmitteln behandelt wird. Uber die Möglichkeit, sich selbst in kritischem Zustand einem angeblich unzuverlässigen und dann doch groben Arzt anzuvertrauen, am 27. Juli 1843 an die Schwester (H II, S. 218): »Gott bewahre mich, so krank zu werden, wie ich es sein müßte, um Schönlein zu consultiren. Meiner Hände wegen thu' ich es nicht, von denen hast Du doch eine zu schlechte Meinung, wenn Du glaubst, ich könne nicht mehr

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damit schreiben. Das Absterben hat sich fast ganz gegeben, mit der Schwäche ist es abwechselnd. Das Galvanisiren könnt' ich nicht gut vertragen, nun soll ich's mit Branntweintrankbädern versuchen und da ergiebt sich die wunderschöne Tatsache, dass in Berlin, wo der dritte Laden ein Schnapsschank ist, gar nicht gebrannt wird und ich nun erst zusehen muss, wo ich das Zeug herkriege.«

(Fanny Hensel wendet neue Methoden an wie die Homöopathie, vgl. S. 170, nun das Galvanisieren, eine elektromagnetische Behandlung nach Luigi Galvani.) Anfang September: »Musik haben wir nicht viel gemacht, da eine Schwäche in den Armen, die sich schon im Frühjahr bei mir zeigte, während des Sommers sehr zunahm, und mich ziemlich plagte und beunruhigte. Jetzt nach fortgesetzten kalten Begießungen, hat es sich etwas gegeben.« 3. April 1845 aus Rom an den Bruder (C): »Du kannst Dir gar nicht denken, [...] wie schwach meine Hände geworden sind [...].« Der Tod kündigt sich dann im Mai 1847 nach dem Nasenbluten durch eben dieses Absterben der Hände an, welches sich aber immer wieder gebessert hat, wie Fanny Hensel betont und wie es auch der Wirklichkeit entspricht: Am 21. Februar 1847 kann sie ihren dritten öffentlichen Auftritt bestreiten als Begleiterin der blinden Sängerin Bertha Bruns, die nicht nur in ihrem Fach überzeugt. Vielmehr: »Sie reist ganz allein und besorgt alle ihre Angelegenheiten.« (Februar 1847) Und das bei einer Blinden und der ohnehin schon heiklen Situation reisender Musikerinnen! (vgl. S. 151) Es ist ein »geistliches Concert in der Singacademie«, was wohl entsprechend den Wohltätigkeitskonzerten früherer Jahre die Voraussetzung dafür war, dass Fanny Hensel öffentlich auftritt (vgl. Klein 2005/2, S. 291f.). Fanny Hensel hat niemals das Drohen eines frühen Todes empfunden. Bei einer 29-Jährigen kann dies ohnehin nicht verwundern, die nach ihrem Geburtstagsfest schreibt: »Ich glaube, wenn ich eine alte Frau seyn werde, werden mir noch solche Aufführungen Spaß machen.« (W, 24. November 1834) Am 2. Feburar 1838 an den Bruder, vielleicht auch um ihn an seine Versäumnisse ihr gegenüber zu mahnen: »Man wird alt, ehe man sichs versieht, ist das bischen Leben vorbei.« Die Vermutung scheint sich durch den Nachsatz zu bestätigen: »Adieu, diese mörderische Bemerkung paßt schlecht an das Ende eines Geburtstagsbriefes, ich will also lieber singen: freut Euch des Lebens.« (W) Nachdem dann die Mutter gestorben ist, meint sie (10. Januar 1843), es sei »erstaunlich viel Uebereinstimmendes in dem Tode der beiden Fanny Caecilia Hensel

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Eltern gewesen, die Jahreszeit, die Stunde, die Plötzlichkeit, so daß es eigentlich bei Beiden ein Auslöschen ohne Krankheit war [...].«Im Sterben werde - so zwei Monate später - von deren Kindern, »wie ich die Alteste bin, auch die Erste seyn, und mein lieber Mann und Sebastian beimirstehn, wenn ich abgerufen werde, ein bischen Zeit hätte ich aber gern noch.« Mit 39 Jahren findet sie sich »sehr philosophisch u. fast alt, da ich ruhig hier bleibe, Alles reisen sehe u. höre, u. kaum ein lebhaftes Verlangen danach habe.« So gegenüber dem Bruder (W, 30. Juli 1844), um sofort einen ihrer typischen Gefiihlssprünge zu vollführen: »eigentlich hab ichs aber doch, u. vertröste mich schon mit der heimlichen Hoffnung auf übers Jahr, wo ich denke, daß wir mit unserm erwachsenen Sohn ein bischen aufkratzen wollen, in seinen Ferien.« Zur gleichen Zeit und in gleicher Tonart an die Schwester in Italien zu deren Trost und zur Hoffnung auf eine gemeinsame spätere Reise: »jetzt, wo mir die Vierzig schon recht nahe rücken, denke ich ernstlich daran, wie frisch und munter ich noch in den Fünfzig zu sein Lust habe, so wird es Dir auch gehen [...].« (H II, S. 289) Fünfzig wäre sie im Jahre 1855 geworden. Jenseits der Vierzig trübt sich das Bild etwas (17. Mai 1846): »Es wird mir doch sehr ernsthaft zu Muth, wenn ich Paar Jahre weiterblicke, und eine gänzliche Umgestaltung aller Verhältnisse dann sehe. [... ] O Traum der Jugend, o goldener Stern!« Ein Ball, den Sebastian ausgerichtet hat, löst diesen Ausruf aus, genau wie es Anfang Februar 1847 die Beobachung ist, der Sohn sei als »vollständiger Jüngling u. beliebter Tänzer« wieder auf einem Ball, diesmal bei der schon lange zum Freundeskreise der Familie zählenden Marianne Magnus: »o Felix, wir werden alt, da haben wir auch in früheren Jahrhunderten getanzt.« (W) Das Schlussmotto der Tagebuchaufzeichnung zititert das Motto jenes Klavierstückes Fis-dur, op. 6 Nr. 3 (HU Nr. 424), ursprünglich das Novemberstück des Zyklus Das Jahr, und bezieht sich auf den Schluss eines Gedichtes, welches Fanny Hensel offenbar als eines von Goethe mit dem Titel Lauf der Welt hielt, während sich nun herausstellt, dass es von Friedrich Förster stammt (vgl. Huber 2006, S. 158ff.). Seit Beginn des Jahres 1847 erscheinen in der von Robert Schumann begründeten, seit 1844 aber nicht mehr geleiteten Neuen Zeitschriftfür Musik Rezensionen über op. 1 bis op. 4, aus denen im Analyseteil zitiert wird und die wohlwollend bis lobend zu nennen sind, keineswegs aber »schulmeisterlich« oder die Frau als »gelehrte Affin« darstellend (Tillard 1994, S. 334f.). Selbstverständlich aber ist Unsicherheit des Rezensenten 244

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spürbar, einmal weil eine Frau die Autorin ist, dann auch weil diese, wie alle wissen, die Schwester der Berühmtheit ist. Mit solchen Kritiken können alle, die zu veröffentlichen beginnen, hoch zufrieden sein. Und so ist es auch kein Wunder, dass Fanny Hensel, den Frühling im Blick, dieses Lob im Rücken und zweifelsohne auch das vieler anderer, die das Haus besuchen, nach dem Bericht ihrer Tante »Hinni« (Henriette) Mendelsssohn noch am 13. Mai ihrem Mann gegenüber bekundet haben soll: »Ich bin so glücklich, wie ich's gar nicht verdiene.« (Tb, S. 280) Das letzte Lied, das sie nach einem Text von Eichendorffam 13. Mai komponiert haben soll - der Bruder nennt sogar den Morgen des Todestages -, Bergeslust (op. 10 Nr. 5; HU Nr. 466), ist ausgesprochen munter und fröhlich und schließt eine Reihe von Werken ab, die offenbar in engem Kontakt mit Robert von Keudell entstanden sind. Schlusszeile des Liedes: »Gedanken gehen und Lieder bis in das Himmelreich.« Der Bruder dazu am 3. Juni 1847 an Karl Klingemann: »Da sind sie nun hingegangen.« (HU, S. 76) Diese Schlusszeile mit den Noten (A-Dur) ziert auch Fanny Hensels Grabstein auf dem Berliner Dreifaltigkeits-Kirchhof. Keudell kommt täglich, so schreibt sie im Februar, um drei Uhr nachmittags, »fragt ob ich etwas gearbeitet habe\ und ich mache eine Stunde Musik mit ihm [...].« Am 12. April: »i?. Keudell, den ich eigentlich erst kennen lerne, hat etwas Angenehmes, Anziehendes im Wesen, eine etwas schwobeligpoetische Natur,freilich nicht recht erzogen, aber mir kann er wohlgefallen.« Keine Manieren, etwas verschroben, aber intensiv und zuverlässig - das gefallt ihr. Vielleicht war Wilhelm Hensel auch so, als er aus Italien zurückkehrte. Fanny Hensel starb am Freitag, den 14. Mai 1847 im Alter von 42 Jahren. Die Nachrichten über die Umstände ihres Todes, ausnahmslos von Personen überliefert, die der Sterbenden nahe standen, wenn sie auch gar nicht oder nicht von Anfang an dabei waren, stimmen im Wesentlichen überein (Brief der Tante Henriette Mendelssohn geb. Meyer vom 21. Mai, zit. nach Tb, S. 280; H II, S. 376ff.; Devrient 1872, S. 280ff.; zusammenfassend Büchter-Römer 2001, S. 94ff., u. a. mit dem Brief Felix Mendelssohns an Karl Klingemann vom 3. Juni, und Tillard 1994, S. 335ff). Bei schwülem Wetter machte Fanny Hensel an jenem Freitag einige Besuche »und kam sehr ermüdet zu Hause, dann aß sie schnell zu Mittag und hielt nach dem Essen nicht wie gewöhnlich eine kurze Mittagsruhe, sondern beschäftigte sich gleich mit der Probe.« (Henriette Fanny Caecilia Hensel

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Mendelssohn) Der Freitagschor sollte flir die Aufführung von Felix Mendelssohn Bartholdys Erster Walpurgisnacht in der Sonntagsmusik am 16. Mai üben. Sebastians Cousin Adolph Mendelssohn ging auch zur Probe, worauf Henriette bemerkte, »daß es nicht gut sei, so gleich nach dem Essen zu musicieren.« Fanny Hensel ließ den Flügel an die offene Tür des Gartensaales rücken und eröffnete die Probe mit einem starken Akkord, wobei sie in der Konzentration wohl - wie auch sonst - den Zipfel des Taschentuches zwischen die Lippen nahm (Tillard 1994, S. 336 nach Hensel 1904, Auflage 1911, S. 104). Man probte laut dem Bruder gerade den Chor »Es lacht der Mai.« Der Hitze wegen warf sie den Schal ab, »als grade ein heftiger Sturm ins Zimmer drang und sie traf«, so die Großtante weiter. Sofort schliefen ihr die Hände ein, »sie wurde sprachlos« (H II), aber wohl erst später, da sie noch für Ersatz am Klavier sorgte, versprach wieder zu kommen und im Nebenraum die Hände in warmem Essig wusch. »Wie schön klingt es«, soll sie währenddessen gesagt haben. Wer war bei ihr, um diese Worte später Eduard Devrient mitzuteilen (S. 281), der zum Zeitpunkt des Todes in Dresden war? Weiter Henriette Mendelssohn: Fanny Hensel fühlte sich durch das Händebad »auch wieder belebt und stark genug, um gleich wieder zu dirigieren. Sie wollte keinen Arzt, da sie diesen Zufall schon öfter gehabt hatte und ihn für zu unbedeutend hielt [...].« Der Arzt (laut H II »sofort bei der Hand«), erschien wohl erst, als der zweite Anfall gekommen war. Fanny Hensel war sich offenbar im Klaren über die Situation: »Es ist wohl ein Schlaganfall, ganz wie bei Mutter.« Dies scheinen laut Henriette Mendelssohn ihre letzten Worte gewesen zu sein. Es folgte eine allgemeine Lähmung, worauf sie das Bewusstsein verlor. Der Bruder Paul kam laut Felix Mendelssohn Bartholdy eine dreiviertel Stunde nach dem ersten Anfall und traf sie nicht mehr bei Bewusstsein an. So soll sie vier Stunden gelegen haben und starb, ohne wieder erwacht zu sein, um 11 Uhr nachts. »Ein Bluterguss in's Gehirn hatte sie getödtet.« So sachlich und knapp der Sohn, der auch keinerlei letzte Worte mitteilt (H II). Die Komponistin Johanna Kinkel war offensichtlich nicht dabei. Sie hat die Sterbeszene zum slapstick verkürzt: »Fanny schlug den ersten Akkord an und fiel im gleichen Moment tot um.« (Lecture an Felix Mendelssohn, unveröff. Ms., S. 28; Zit. nach Büchtger-Römer 2001, S. 96) Unmittelbar davor, in der Annahme, Fanny Hensel habe aus ihrer FaustMusik proben lassen, reflektiert Johanna Kinkel den Tod der von ihr verehrten Komponistin, indem sie einem Topos verfallt:

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»Es war die letzte Probe, und Fanny Hensel hätte gut die Worte des sterbenden Faust zitieren können, die er in dem wirklichen Gedicht, das vor ihr lag, aussprach: - Im Vorgefühl von solchem hohen Glück genieß' ich nun den höchsten Augenblick. — Die Faust-Legende sagt, daß der Held in dem Moment sterben muß, in dem er fühlt, daß sein Leben sich erfüllt hat und das war das Schicksal der Komponistin.«

Auch die Großtante sieht es ähnlich: »Einen schönern Tod, mitten in der Ausübung ihrer liebsten Beschäftigung, sich ganz befriedigt fühlend und geliebt und geachtet von allen, die sie kannten, gibt es nicht.« Die Blindheit dieser Interpretationen ist erstaunlich. Ist niemandem aufgefallen, dass Fanny Hensel im Moment des Wechsels in die Professionalität, des Heraustretens aus dem Schatten des Bruders starb, genau zu jenem Zeitpunkt, als ihr zweites Leben als Musikerin begann? Die Einzigen, denen dies klar geworden sein könnte, sind Wilhelm Hensel und Rudolf von Keudell. Der Bruder in seiner Trauer hat zumindest so weit zu denken vermocht, die Publikationspläne der Schwester bis op. 11 und bis zu seinem eigenen Tode knapp ein halbes Jahr später (4. November) weiter zu fuhren. Eine Vermutung: Fanny Hensel ist in Euphorie gestorben. Endlich veröffentlicht sie, hat den neuen Freitagschor, mit dem sie die Sonntagsmusiken noch besser vorbereiten kann, gerade jetzt mit einem ihrer Lieblingsstücke des geliebten Bruders. Endlich ist sie als professionelle Musikerin - in Maßen - auf gleicher Höhe mit ihm angelangt. Ein neues Leben beginnt. Der Sohn ist erwachsen und wird das Haus verlassen. Man wird wieder nach Italien reisen, aber unter anderen Vorzeichen als zwei Jahre zuvor. Es ist so Vieles und Neues zu planen und zu gestalten. Vielleicht kommt ihr gerade an diesem Freitag nach den Besuchen des Vormittags die Idee zu einem neuen Stück, vielleicht zu einem mit Orchester. Und ehe sie ein wenig davon aufschreiben kann, muss schnell die Probe vorbereitet werden. Ach was, Mittagsschlaf! Und wenn man bei der schwülen Hitze noch so ermattet ist - heute muss von Allem etwas erledigt, zumindest begonnen werden. Es ist so wunderbar, wie sich auf allen Ebenen die Möglichkeiten des Musizierens und des Komponierens neu eröffnen! Herz- und Kreislaufprobleme gehörten immer schon zu den Risiken in der Familie Mendelssohn. Euphorische Selbstüberforderung ohne Rücksicht auf die eigene Schonung kann da eine große Gefahr sein. Nicht also auf einem Höhepunkt ihrer musikalischen Laufbahn ist Fanny Fanny Caecilia Hensel

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Hensel gestorben, wie blinde Argumente glauben machen wollen, sondern im Anlauf zu dem tatsächlichen Höhepunkt ihres Lebens. Den offiziellen Nachruf verfasste Ludwig Rellstab, zu Fragen weiblichen Künstlertums hier schon mehrfach bekannt geworden. Nachdem am 17. Mai eine kurze Todesanzeige von Wilhelm Hensel erschienen war - Schlußsatz: »Ihr Leben war Wahrhaftigkeit, ihr Ende selig.« - , folgte einen Tag später in der gleichen Zeitung der Nachruf, seltsamerweise nicht als eigener Artikel, sondern in der Abteilung Königliches Theater,; und hier auch nicht an erster, sondern an zweiter Stelle, nachdem zwei Opernauftritte von Pauline Viardot-Garcia gerühmt worden waren, u. a. als Donna Anna in Don Giovanni {Königlich privilegirte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen \Vossische Zeitungs-Expedition]; zit. nach Tb, S. 277ff.). Reilstab scheint zunächst unter dem Druck des Ereignisses seine Haltung zum weiblichen Komponieren von 1825 (S. 152) vergessen oder verdrängt zu haben. Er betont, dass die Verstorbene »die Schwesternschaft des Talents mit dem berühmten Bruder theilte! Sie hatte in der Kunst einen Grad der Ausbildung erreicht, dessen sich nicht viele Künstler, denen die Kunst ausschließlich Lebensberuf ist, rühmen dürfen.« Nachdem die Förderung durch Elternhaus und gute Lehrer hervor gehoben, »das Ewige, Aechte«, nicht »das Glänzende, Vorübergehende, dem die Zeit huldigt«, als einziges Ziel Fanny Hensels behauptet worden und ihre Sonntagsmusiken mit ihren hervorragenden Programmen und Teilnehmern als »ein Verdienst um die Kunstzustände unserer Vaterstadt« gewürdigt worden sind, »für welches wir tief verschuldet bleiben«, kommt Reilstab nochmals auf das Argument vom »Lebensberuf« zurück, also das der Professionalität. Zwar lassen seine Ausfuhrungen etwas vom Lebensproblem Fanny Hensels ahnen, begründen jedoch die davon bestimmte Gattungsbeschränkung ihrer Produktion mit dem Argument der weiblichen Bestimmung, das unterschwellig wieder auf die Äußerungen von 1825 zurückführt. »Eine so eingedrungene Verständniß [!], eine so tief wurzelnde Liebe zur Musik, müßte auch zu schöpferischer Entwicklung fuhren, j a drängen. Doch in dem weiblichen Gefühl, daß der Frau als Grundlage ihres Lebens doch ein anderes Walten zum ersten Beruf angewiesen ist, und, selbst bei so großer Begabtheit, die Kunst sich zumeist nur auf die Verehrung an den häuslichen Altären beschränken soll, führte selbst dieser innere Drang, diese bewußte Kraft die Künstlerin nicht über die Linien, die auch in der weiblichen Berechtigung liegen, hinaus. Sie trat, obwohl jeder ausgedehntesten

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und schwierigsten Form völlig mächtig, doch nur mit Ergüssen der unmittelbaren Empfindung vorzugsweise mit schönen Liedern in die Oeffentlichkeit, und machte das Anrecht auf Größeres, das sie vollgültig besaß, nicht geltend.«

So kann man die Realität zurecht biegen, um einen Beleg fiir eine Soziallehre vorweisen zu können. Der mit »obwohl« beginnende Nebensatz verrät die Absicht. Reilstab war ein ausgezeichneter Kenner des Berliner Musiklebens, daher selbstverständlich mit den Mendelssohns bekannt, wenn auch deren Meinung über den renommierten Musikkritiker recht gespalten war, worauf seine Erwähnung in den Briefen schließen lässt. Als ob er nicht gewusst hätte, dass Fanny Hensel Großformen, und zwar auch komplizierte, beherrschte und komponiert hatte - die Choleramusik, das Streichquartett oder die g-Moll-Klaviersonate! Aber das musste verschwiegen werden, damit der schöne Schein der Bescheidenheit in menschlicher und musikalischer Gattung am berühmten Beispiel als Muster vorgeführt werden konnte. Auch der in Eduard Devrients Erinnerungsbuch über Felix Mendelssohn Bartholdy verborgene Nachruf (1872, S. 281) enthält einige bemerkenswerte Formulierungen: »Der Tod dieser seltenen Frau war nicht gerade von weitreichender Wirkung, aber je enger die Kreise waren, die sie um sich gezogen, um so tiefer und unvergeßlicher empfanden sie den Verlust. Daß die reine Vernunft alle Regungen einer weiblichen Seele so vollständig - nicht beherrschen, viel weniger noch unterdrücken -, sondern durchdringen, und das zuverlässigste Gleichgewicht aller Kräfte herstellen kann, daß darüber die kleinlichen Versuchungen der Eitelkeit, des Neides und der Begehrlichkeit allen Raum verlieren, eine solche Erscheinung, wie sie sich in Fanny darstellte, wird sich nicht oft wiederholen.« (Weitere Nachrufe privater Art bei Lambour 2005, S. 282f., auch von Clara Schumann, welche den Abbruch von Zukunftsplänen mit der »ausgezeichnetste [n] Musikerin ihrer Zeit« beklagt.)

Ist dies nicht eine weitere, ebenfalls altbekannte Begründung dafür, dass Fanny Hensel der Professionalität so lange ausgewichen war? Diesmal ist es nicht die weibliche Bestimmung, sondern es ist Bescheidenheit, die dazu fuhrt, Konkurrenzkampf und Selbstdarstellung, mithin die einst so genannte »Gefallsucht« auf der Bühne abzuweisen, mithin ein Risiko, welches in der »weiblichen Seele« begründet ist, wenn es nicht durch die bei Frauen so seltene Vernunft gebändigt und zur schönen Harmonie der Selbstverläugnung veredelt wird. Seit den Auftrittsbemühungen von Frauen im 18. Jahrhundert ist dieses Argument immer wieder zur ErmahFanny Caecilia Hensel

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nung gegen allzu »edle Dreistigkeit« verwendet worden (Schleuning 2000, S. 201ff.; Hoffmann 1991, S. 49ff). Fanny Hensel wurde knapp 42 Jahre, ihr Bruder gut 38 Jahre alt. Was hätten sie musikalisch unternehmen und bewirken können, wären sie beide 70 Jahre alt geworden, hätten also gelebt bis 1875 und 1879? Zumindest der Bruder hätte sich nicht aus den Streitigkeiten zwischen den »Neudeutschen« um Wagner und Liszt und seiner eigenen Partei der »absoluten« Musiker heraushalten können, hätte Brahms an die Seite treten müssen. Und Fanny Hensel? Vielleicht hätte sie Klavierkonzerte und Sinfonien geschrieben, ermutigt und in Partnerschaft mit Clara Schumann, die doch offenbar plante, mit der Familie nach Berlin umzuziehen, dadurch womöglich im Hause Leipziger Straße Nr. 3 eine Zuflucht für ihre Kompositionstätigkeit gefunden hätte. Sehr bald hätte Fanny Hensel auch Johannes Brahms kennen gelernt, zweifelsohne eine höchst produktive künstlerische Freundschaft, da man ohnehin den Eindruck gewinnt, Brahms habe - vielleicht durch Vermittlung der Schumanns - genügend Lieder Fanny Hensels kennen gelernt, um seinen eigenen Stil ausformen zu können. Und: Wie hätte sich ihr Leben während und nach der 1848er Revolution angesichts ihrer fortschrittlichen politischen Einstellung entwickelt, verändert? Vielleicht hätte sie gedacht wie ihre Schwester Rebecka am 29. November 1849 im Brief an Sebastian Hensel: »Ich habe immer gehofft, die Opfer der Märznacht würden genügen, jetzt furchte ich, wir werden alle Schrecken der Revolution durchzumachen haben. Ich werde ihr Ende schwerlich erleben. Doch will ich mich auch dieser Furcht nicht hingeben und Besseres zu hoffen suchen. Es thut mir nur leid um Eure Jugend.« (Zit. nach Büchter-Römer 2005, S. 299) Wilhelm Hensel hat den Tod seiner Frau nicht verschmerzen können. Ein Brief an den Freund Julius Elsasser vom 16. August 1847, Zeugnis seines Kummers (zit. nach Klein 2003/2, S. 162f.), ist wohl bestimmend fiir den Rest seines Lebens, mehr noch jener an seine Schwester Luise vom 28. Mai des Jahres (zit. nach Lowenthal 2004, S. 302). Wie soll ein Künstler weiter arbeiten, der es über sich bringt, seine Frau auf dem Totenbett zu zeichnen, wiederum geschönt wie ein Engel? Man kann es auch anders sehen: »Natürlich zeichnete Wilhelm seine Frau auch auf dem Totenbett [...], für diese Totenbilder war Hensel ja berühmt.« (ebda., S. 301) Und so hat er weiterhin Portraits gezeichnet, gemalt aber nur noch wenig. Vielmehr hat er sich während der Revolution 1848 zur Verteidigung des Königs wieder den Waffen zugewandt - im »fliegenden Künst-

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ler-Korps« -, dann der Politik insgesamt. (Wertvolle Erinnerungen an diese Periode Hensels, aber auch an frühere Zeiten sind von Theodor Fontane erhalten, mitgeteilt bei Lowenthal 2004.) Am 26. November 1861 ist er an den Folgen eines Unfalls gestorben. Sebastian Hensel hat - im Todesjahr der Mutter, also mit 17 Jahren über seinen Vater geschrieben: »Es wurde offenbar, dass Mutter der starke Halt gewesen war, an dem sich Vaters weiche, schwankende Natur aufrichtete und hielt. Sie war der Genius gewesen, der seinem Leben Inhalt, seinen Arbeiten Zweck und Ziel gegeben, Vater wurde nicht nur ein anderer, sondern ein vollkommen entgegengesetzter.« (Zit. ebda., S. 303, nach Hensel 1904, Auflage 1911, S. 60f.) Das Verhältnis dieses hellsichtigen Sohnes zu seinem Vater war äußerst belastet, schon deshalb, weil der Sohn liberale Ideen hatte und während der Revolution auf die Barrikaden strebte. Sebastian Hensel wurde nach dem Tod der Mutter bei der Familie Dirichlet aufgenommen, ließ sich als Landwirt ausbilden, heiratete gegen den Widerstand seiner Tante eine ältere Frau, kaufte ein Gut in Ostpreußen, kehrte später mit der Familie nach Berlin zurück. Dort leitete er langjährig die Deutsche Baugesellschaft, war Hoteldirektor, beschäftigte sich anschließend mit der Niederschrift der Familie Mendelssohn (1879 erschienen) und mit dem Verfassen vor Tiermärchen. 1898 ist er gestorben. (Zu seinem Leben Büchter-Römer in Leggewie 2005). Die Briefe von Tante Rebecka an ihn, getragen von Fürsorge, politischen und moralischen Gedanken, vermitteln einiges von jenen Qualitäten, die von Fanny Hensel auf ihren Sohn übergegangen sind (vgl. Büchter-Römer 2005), nicht zuletzt Drang zu Selbstständigkeit und unangepasster Produktivität. Hat nicht die dauerhafte Begeisterung der Mutter für den Garten der Leipziger Straße und dessen üppige Pflanzenwelt sowie - seit 1838 - die Freundschaft mit dem Hausgärtner Clément den Berufswunsch des Sohnes beeinflusst? Hat nicht ihre Sorge und Liebe um die Mendelssohnsche Familie seine Verpflichtung erzeugt, deren Geschichte fur uns aufzuheben? Nicht nur in ihren Kompositionen und Briefen, sondern auch in ihrem Sohn lebt Fanny Hensel fîir uns weiter. (Zu den weiteren Schicksalen der Zurückgebliebenen und des Hauses vgl. Cullen 1982, Lowenthal 2004 und Lackmann 2005.) Wer, notwenigerweise beeinflusst von den bisher geäußerten Gedanken, sich dennoch ein halbwegs unabhängiges Bild zu machen versuchen möchte über Fanny Hensels seelischen Bewegungen während des Umschwunges von ihrer ersten zu ihrer zweiten, wenn auch kurzen Fanny Caecilia Hensel

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Lebensphase als professionelle Komponistin, von ihrem Schwanken zwischen Zurückhaltung, Anpassung und Entschlossenheit, kann sich beschäftigen mit ihrem Brief vom 26. November 1846 an Angelica von Woringen, erstmals veröffentlicht von Annette Maurer im Vorwort des zweiten Bandes der von ihr herausgegebenen Ausgewählten Lieder (1993): »Daß Du, liebe Angelica, Dich für die Herausgabe meiner Lieder interessierst, freut mich, ich hatte eigentlich immer Angst, von meinen liebsten Freunden gemißbilligt zu werden, da ich mich mein Lebenlang u. bis in meine jetzigen Jahre entgegengesetzt ausgesprochen habe. Auch kann ich mit Wahrheit sagen, ich habe es mehr geschehn lassen, als gethan, u. das ist es, was mich eigentlich daran freut, daß ich nämlich, ganz ohne mein Dazuthun, u. wahrlich ohne Absicht und Prätension [Anspruch], den guten musikal. Ruf erlangt habe, durch den ich wiederum so vortheilhafte Bedingungen bekommen, wie sie wol nicht leicht Dilettanten geboten werden. Nun weiß ich recht wohl, daß das Wesentliche jezt ist, diesem Ruf zu stehn, und ihn zu erhalten, u. wo einfach ich Dir gesagt habe, das ich mich freue, ihn zu haben, so mehr seze ich hinzu, daß ich furchte, Jenes nicht zu können, u. wenn mir darauf Jeder sagen wird, dann hätte ich nicht herausgeben sollen, so lautet meine Antwort, daß es in meiner Art u. Weise liegt, immer das zu thun, was ich für das Nächstliegende u. Natürliche halte, u. das war in diesem Falle, ehrenvolle u. vortheilhafte Verschläge anzunehmen, u. das Beste zu geben, was ich vermochte, das Uebrige wird sich finden.«

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Lied aus dem Klaviertrio d-Moll op. 11

Entstehung vielleicht ab Ende 1846 (Bartsch 1999, S. 59), Fertigstellung März/April 1847 (HU Nr. 465; dort S. 78 Anmerkungen dazu, auch zur Urauffiihrung am 11. April 1847 und der durch Fanny Hensels Tod verhinderten Aufführung am 16. Mai). Ein Vergleich dieses Trios mit den tonartgleichen von Felix Mendelssohn Bartholdy, Robert Schumann und Franz Berwald ist äußerst lohnend (Waldura 2002). Zu dem oft behaupteten Einfluss, den das entsprechende Werk des Bruders auf dasjenige von Fanny Hensel gehabt habe: Die Unterschiedlichkeit in Gefühls- und Strukturanlage der vier Sätze, welche man schon als Zerrissenheit bezeichnen könnte, ist dem Parallelstück des Bruders fremd und erweist op. 11 weniger als »Nachfolgewerk von Mendelssohns op. 49, viel eher hingegen als Dokument der Affizierung durch ein ganz anderes Vorbild - Beethoven.« (Waldura 2002, S. 813) Weichen schon die Binnensätze vom tradierten Muster des langsamen und des Scherzo-Satzes ab, so sind die Außensätze in ihrem leidenschaftlichen Schwung von so unterschiedlicher Machart, dass man kaum von einer - im traditionellen Sinne - ausgewogenen Rahmung sprechen kann. Vor allem das rhapsodische, thematisch fetzenhaften Finale erfüllt nicht die Anforderungen an einen gediegenen Abschlussbau, wie er sich offenbar in dem um Munterkeit und thematische Einheit bemühten Finale des brüderlichen Werkes zeigen soll. Recht treffend erscheint die Charakterisierung von op. 11 in einer Kritik vom Juli 1847 (zit. nach HU, S. 78): »Jüngst hörten wir das Trio in einem Privatkreise mit vielem Interesse.« [Man finde] »in diesem Trio breite, schwungvolle Fundamente, die sich in stürmenden Wogen zu einem herrlichen Gebäude hinaufbauen. Der erste Satz ist in dieser Beziehung ein Meisterstück, das Trio höchst eigenthümlich.«

Die Frage, ob in der von Bassraserei getragenen Anfangshymne des ersten Satzes ein Anklang an Schumanns Klavierfantasie op. 17 von 1836 zu hören oder zu verstehen ist, trägt dreierlei mögliche Antworten in sich, deren erste häufig bei Kompositionen von Frauen oder »Kleinmeistern« auftaucht: Der Einfall sei übernommen worden, was von Eklektizismus und Einfallsmangel zeuge - schließlich musste das erst zehn Jahre alte Stück Schumanns Fanny Hensel gut bekannt sein. Die zweite Ant-

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wort geht dem Problem aus dem Weg: Es sei ein Zufall, denn Alle hätten bei der beschränkten Anzahl von Strukturen und Kombinationen, die die historische Musik zulässt, auf diesen Einfall kommen können - gerade die zeitliche Nähe zum angeblichen Vorbild zeige, dass diese Art der leidenschaftlichen Anfangsgestik sozusagen in der Luft romantischen Uberschwanges lag, jedem und jeder zugänglich. Wie steht es mit Antwort Nummer drei? Es ist Absicht, eine Reverenz gegenüber Schumann, auch wenn Fanny Hensel einige von dessen Werken wenig geschätzt hat (vgl. S. 226). Oder ist es einfach eine Nähe zu Chopin, ohne dass es eine direkte Übernahme ist, sondern eine Verwandtschaft im Gestus? Das Lied nimmt im viersätzigen Zyklus den Platz des Scherzo ein, lässt den dort üblichen Trio-Mittelteil aus und weicht vom Scherzo-Charakter dadurch ab, dass es ein Allegretto ist, mehr in Art eines Menuetts, mithin gemächlich und rhythmisch mäßig akzentuiert, ähnlich dem Con moto moderato der A-Dur-Sinfonie des Bruders. Zu vermuten ist, dass in beiden Fallen nicht ein ausbrechendes Scherzo dem lebhaften Finale den Impetus und das Überraschungsmoment nehmen sollte - wenn auch Beethoven, etwa in seiner Siebenten Sinfonie, mit genau dieser Folge von wildem Scherzo und »dionysischem« Finale eine derartige taktische Vorsicht sollte sie denn in den beiden anderen Fallen bestimmend gewesen sein nicht erkennen lässt. (Das Tempo di Menuetto der Achten Sinfonie eignet sich nicht zum Vergleich, da es sich mit seinen in Titel und Struktur archaisierenden Zügen der Gesamtidee der Sinfonie einordnet, die wohl heißt: Ironische Parodierung konventioneller Musik und schlechter Musiker.) Bemerkenswert ist die Wahl der Durvariante der Haupttonart für diesen Satz: D-Dur. Der Bruder war im d-Moll-Trio op. 49 mit dieser Tonartwahl für das Scherzo vorangegangen, vorangegangen aber nur zeitlich. Denn falls Fanny Hensel ihr Trio, wie manchmal behauptet, als Replik aufjenes op. 49 verstanden haben sollte, dürfte sie ihre Antwort an den Bruder kaum bis zu solchen Äußerlichkeiten wie der Tonartwahl getrieben haben. Dann hätte sie den zweiten Satz nach B-Dur versetzt wie er, nicht nach A-Dur. Die Wahl von D-Dur für das Lied scheint vielmehr der Absicht zu entstammen, dem durch die Sätze gehenden Bezug zum Hauptthema des ersten Satzes eine neue Facette abzugewinnen oder - besser gesagt - dem melodischen Muster, welches sich in allen Sätzen auf unterschiedliche Art konkretisiert, eine »poetische« Daseinsform in einer lichten und einfachen, das heißt nicht zu fernen Tonart zu leihen, wie sie sich für ein Lied gehört. A-Dur wäre dazu vielleicht zu scharf gewesen, B-Dur zu weich. 256

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Ohne Nachweis bleibt die Behauptung, das Thema des Liedes sei Zentrum und Ausgangspunkt der Gestaltung der anderen Werkthemen (so Borchard 1997, S. 18, und Schwarz-Danuser 2004, Sp. 1540. Dass das zweite Thema des ersten Satzes nun »als >Lied< (ohne Worte) verarbeitet« werde, geht an den thematischen Bezügen solcher Musik vorbei, wie auch die Frage, ob das Ungewöhnliche des dritten Satzes auf eine »Verlegenheitslösung« hindeute, wenig Verständnis des Autors Gerhard Pätzig verrät; Harenbergs Kammermusikfiihrer, Dortmund 21998.) Dennoch bildet der Satz ein Schwergewicht des Werkes, und zwar wiederum im Hinblick auf op. 49 des Bruders: Ist schon das Hauptthema des ersten Satzes mit dem Uberleitungsthema von op. 49 verwandt (Waldura 2002, S. 810), so ist die Melodie des Liedes jener der Nr. 4 des Elias (Arie des Obadiah) derart nahe, dass man wohl von einem Zitat sprechen könnte (Todd 2002, S. 259fF.; dort auch das folgende Zitat). Anstatt diese Feststellung in das Kapitel Abhängigkeit einzureihen, hat ein kluger Autor vor 160 Jahren zu derlei Funden das Folgende bemerkt, was man als wichtige und wohl auch richtige Zusammenfassung sämtlicher Vergleichsbemühungen zu den Werken der beiden Geschwister nutzen kann (Ueber die Claviercompositionen von Fanny Hensel geb. Mendelssohn-Bartholdy, in: Allgemeine Musikalische Zeitung 49, 2. Juni 1847, Sp. 382): »Man würde irren, wenn man Frau F. Hensel zu den Nachahmern ihres Bruders zählen wollte. Wer es weiss, dass beide Geschwister dieselbe musikalische Erziehung genossen, in derselben Kunstanschauung aufgewachsen sind, kurz, ihre ganze musikalische Jugend zusammen verlebt haben, wird eine Familienähnlichkeit der Compositionen beider natürlich, ja nothwendig finden. [...] Die Verschiedenheit ist trotzdem für den schärfer Blickenden klar genug. Mendelssohn's Ausdrucksweise ist höchst präcis, er sagt lieber zu wenig als zu viel, er baut stets auf einen Gedanken und rundet das Ganze auf leicht verständliche Weise. Die Lieder der Frau F. Hensel sind complicirter; der Phantasie ist hier freiere Bewegung gestattet, die Form breiter angelegt, nicht selten auch durch einen antithetischen Mittelsatz grössere Mannichfaltigkeit erzielt.«

Ganz im Sinne dieser bemerkenswerten Gedanken ist in der Art der komplexen thematischen Integration der Sätze von op. 11 die Absicht zu erkennen, Beethoven nachzufolgen. Solche Absicht, wenn auch nicht immer in dieser extremen Darstellung, gehört sozusagen zum Standard der deutschen Komposition dieser Zeit. Sie übt sich darin, motivische Abspaltungen und sich daraus ergebende Themenvarianten lediglich unter der Oberfläche aufklingen zu lassen, keinesfalls so deutlich her-

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auszukehren wie in den Programmstücken der Franzosen, etwa mittels einer »idéefixe«wie in der Symphoniefantastique, eine Technik, die in den Kreisen um die Mendelssohns und Schumanns wenig Anklang fand. Die unterschiedlichen Themen wirken zwar eigenständig und lösen unterschiedliche Emotionen aus, sind aber motivisch aufeinander bezogen durch geschickte Veränderungen und Verschiebungen innerhalb der Parameter und unter ihnen, also der Intervallgröße, der Taktart, des Rhythmus, der Instrumentation, so auch im Lied\ Die thematische Bewegung aufwärts und abwärts um eine Sexte hat das Thema zwar mit den Melodien der anderen Sätze gemeinsam, hält dies aber durch zahlreiche Veränderungen hinter dem Berg. Der Vergleich mit dem Eröffnungsthema des Werkes kann als Beispiel für diese Technik dienen (vgl. Notenbeispiele la und lb): Wendung nach D-Dur; vierstimmiger Satz; Aussparen des Themenkopfes; statt geraden Abgangs ein verzierter; Änderung des Anschlussmotives von Sequenz zu Wiederholung, und zwar einer solchen, die das Sextmotiv auf den Tonraum der Quart verengt. Zudem: Umformung der abschließenden solistischen Achtelgänge zum mehrstimmigen Satz, dessen Oberstimme (T. 5-6) die beiden allerersten Takte chromatisch zusammenfasst und so dem viertaktigen Vordersatz der ¿/¿¿/-Melodie gegenüber einen Nachsatz einzuleiten scheint, der allerdings noch durch zwei Abschlusstakte ergänzt werden müsste. So entsteht bis Takt 6 der Eindruck einer dreiteiligen Wiederkehrform. Dieser Eindruck wird jedoch, aufs ganze Thema gesehen, von einer größeren Dreiteiligkeit überlagert. Denn die beiden Viertaktgruppen 3-6 und 7-10 lassen sich als wiederholte, leicht abgewandelte Antworten auf die beiden Eröffnungstakte verstehen. Es ist ein ambivalentes Gebilde entstanden, mit seinen mehrfach deutbaren Gruppenbildungen zugleich harmonisch ausgewogen und schwerelos schwebend. Das Prinzip der heimlichen Variantenbildung beherrscht das gesamte Trio, wird allerdings am Ende des Finale durchbrochen, als das zweite Thema des Kopfsatzes als Zitat präsentiert wird - wieder mit Sextaufsprung und Stufenabstieg -, heimlich eingeführt, jedoch unmittelbar erkennbar, ähnlich den Maßnahmen in Sinfonien Schumanns, in denen leicht identifizierbare Signale durch die Sätze gehen und sie zusammenziehen, nicht mit identifizierbarem Inhalt wie bei Berlioz. Das allererste, hymnische Thema des Kopfsatzes zu zitieren, hätte vielleicht den Fluss des Finale stören, hätte im Rückgriff kurz vor Schluss einen stockenden Einschnitt bedeuten können, ähnlich jenem, der am Ende des ersten 258

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Satzes von Schuberts großer C-Dur-Sinfonie die Anfangsfanfare zurückruft. Ein Anschlussthema war offenbar geeigneter, sowohl die Funktion eines Zitates zu erfüllen, als auch die Bewegung zu erhalten. Ahnlich wie zur Frage um die Schumann ähnliche Gestaltung des allerersten Satzbeginnes könnte es auch hier drei Antworten geben: Das Zitat könnte vereinheitlichenden Vorbildern verpflichtet sein wie den Schumannschen, könnte innerhalb des im traditionellen Verständnis wenig gediegenen Abschlussbau als formale Klammer dienen. Ebenso aber könnte das Zitat einen am Prinzip des Untergründigen zweifelnden Schritt aus dem Verborgenen bedeuten: Genug nun mit der Heimlichkeit! Antwort Nummer drei: Das zitierte Thema ist selbst ein Zitat, das nicht einfach aus Gründen der architektonischen Ausgewogenheit nochmals eingesetzt ist, sondern um der übergreifenden inhaltlichen Bestimmung des ganzen Werkes willen Anfang und Ende markiert, Motto und Schluss ausruft und - falls diese Annahme zutreffend sein sollte - nun seinerseits als Zentrum und Auslöser der weiteren Werkthematik anzusehen wäre. (Es »als eine Art >LeitmotivLied ohne Wortes wie er in neuerer Zeit einige sehr schön gemacht hat.« ( H I , S. 186; Klein 1997, S. 99). »Klavierstücke, die auf die späteren Lieder ohne Worte verweisen, finden sich in den Übungsbüchern Fanny Hensels schon wesentlich früher, und es ist denkbar, dass Kompositionen zunächst ein Spiel der in enger künstlerischer Gemeinschaft aufgewachsenen Geschwister waren, die einander ihre Kompositionen zur Begutachtung zeigten und in Tage- und Stammbüchern miteinander kommunizierten.« (Bartsch 1999, S. 56) E s ist möglich, dass die Bezeichnung aus d e m geschwisterlichen Gespräch oder gar von Fanny Mendelssohn Bartholdy selbst stammt (Jost 1988, S. 28f., 182) und dabei einen humoristischen Nebensinn hat - Muster: Trio fiir zwei Stimmen, oder nach Art der Rätsellieder: Was ist ein Wasser ohne Fisch... ? - , wie er d e m Ton zwischen den Beiden eigen war und auch von Zeitgenossen erkannt wurde wie von Thomaskantor Moritz Hauptmann, welcher Robert Schumann schrieb: »Ich lese >Lieder ohne Text< von Mendelssohn angezeigt [. . .]« (zit. ebda., S. 46). Z u beachten ist allerdings, dass der Titel als offizieller Werktitel erstmals für den zweiten Teil von op. 19 von Felix Mendelssohn Bartholdy auftaucht (1833), nachdem dieser Teil in England ein J a h r zuvor betitelt war Original Melodiesfor the Pianoforte (1832), der erster Teil Sechs Gesänge fiir Singstimme und Klavier enthalten hatte (Edler 2004, S. 187). Die N ä h e zum vokalen Muster ist auf unterschiedlichen Ebenen präsent. Wie Bartsch vermutet, gab es schon frühzeitig Versuche der Geschwister, Gedichte - damals auch » L i e d « genannt - und Musikstücke aufeinander zu beziehen. Fanny Hensel in einem Brief v o m 7. September 1838 (C) zeigt nicht nur dies, sondern darüber hinaus eine kritische Sicht auf eine bestimmte Art lyrischer Klavierstücke, im Grunde auf einen zentralen Teil der Programm-Musik - es geht vor allem gegen Liszt und die später so genannte »neudeutsche« Richtung: »Lieber Felix, wenn Singliedern die Worte weggenommen werden, um sie als Concertstück zu brauchen, so ist das ein richtiges Gegenstück zu dem Experiment, Deinen Spielliedern Worte zu unterlegen, die andre Hälfte von der verkehrten Welt. Ich bin schon lange alt genug, um Manches was in der jet260

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zigen Zeit geschieht recht abgeschmackt zu finden, das mag denn dazu gehören. Soll man nun aber nicht eine ungeheure Meinung von sich bekommen (nein, man soll nicht) wenn man sieht, daß die Späße, womit wir uns als halbe Kinder die Zeit vertrieben haben, jetzt von den großen Talenten nacherfunden, u. als Futter fürs Publikum gebraucht werden?«

Eine Darstellung des Repertoires, das von Fanny Hensel über op. 11 hinaus als Lied bezeichnet worden ist, und eine Aufzählung ihrer weiteren Äußerungen zum Thema können zur Klärung der Frage nach der Benennung des Lied-Satzes von op. 11 beitragen. Die Klavierstücke op. 2, op. 6 und op. 8 heißen Liederfìir das Pianoforte, darunter auch die römische Villa Mills, jene von op. 4/5 Mélodies pour le piano. Vom Dezember 1846 stammt ein Klavier-L&?i/ A-Dur für ein Stammbuch, und wohl schon 1832 entstand ein scherzhaftes Stück für die Rückkehr des Bruders aus England, ebenfalls A-Dur (HU Nr. 269) : Duettfìir Tenor und Sopran. Mit den Fingern zu singen. Es geht dabei um eine Art der Bezeichnung, die sich nicht auf eine stilistisch eingegrenzte Gruppe von Klavierstücken beschränkt wie jene des Bruders. Ein Vergleich von diesen mit Stücken von Fanny Hensel aus den Jahren 1835 und 1836 - enthalten auch in den später edierten Sammlungen - ergibt, dass die Stücke der Schwester teilweise ausgedehnter ausfallen, teilweise auch in Sonatensatzanlage gestaltet sind mit zwei Themen und thematischer Arbeit (Cai 1994). Eine Stelle aus einem Brief des Vaters aus Paris soll die familiären Äußerungen zu solchen Liedern fortsetzen (8. Juli 1833; H I, S. 340), gefolgt von einer entsprechenden aus einem Brief seiner Tochter aus Neapel (9. Juni 1840; Klein 2004, S. 62). Beide betonen das Charakteristikum einer gesteigerten Emotionalität so sehr, dass ein Rückschluss auf die allgemeine Bedeutung der Satzbezeichnung bei Fanny Hensel zulässig erscheint. Abraham Mendelssohn hatte die Sängerin Maria Malibran gehört, die mit unglaublichem Vermögen des Ausdruckswechsels internationale Lieder vortrug mit »Verschwendung aller ihrer unerschöpflichen Mittel, dass man wirklich von ihr sagen kann: sie sang Lieder ohne Worte, sie sang Gefühle, Stimmungen, Situationen. Es war wieder einmal ganz etwas Neues und ich gönnte es Euch wohl einmal, sie zu hören.« Es geht nicht um ein allgemeines Gefühlskostüm, wie es viele solcher Klavierstücke der ersten Jahrhunderhälfte kleidet, welche »durch Wahrheit und Innigkeit, gleichsam durch den Triumph des Gefühls, erfreuen.« (Ferdinand Hand: Ästhetik der Tonkunst, Bd. II, Jena 1841, S. 308; zit. nach

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Edler 2004, S. 191). Vielmehr geht es um außergewöhnliche Gefühle, die die Worte vergessen machen, so auch in dem Brief der Tochter, wo es in Sehnsucht nach Rom ironisch heißt, dass »ich auf dem schönsten Balcon in Neapel täglich mit meinem Mann ein zweistimmiges Lied, mit und ohne Worte, wie es kommt, seufze.« Die Ironie zeigt etwas von der kritischen Haltung zum Begriff, aber auch speziell zum Inhaltlichen. Schon am 27. Dezember 1833 klingt es an, betreffend Heft 2, op. 30, Nr. 1 der brüderlichen Lieder ohne Worte-. »Das erste Lied, es dur, hast Du offenbar nur für das Ciavier geschrieben, weil Du keine Worte dazu fandest, denn es ist ja ein wirkliches Lied u. sehr schön declamirt.« »ein wirkliches Lied«! »sehr schön declamirt«! Ein wirklicher oder fiktiver Text als Hintergrund fiir die Erfindung solcher instrumentalen Lieder wird deutlich: Nur deshalb die instrumentale Beschränkung, weil nachträglich kein passender Text zur Vokalmelodie zu finden war, Konsequenz der Verkehrung der sonst üblichen Erfindungsfolge bei Vokalmusik. »Allein schon die Formulierung Lied ohne Worte muß als Metapher gelesen werden. Die dafür notwendige Spannung zwischen den beiden Hauptwörtern erhöht sich, wenn man unter >Lied< nicht die musikalische Gattung verstehen will, sondern die literarische - das Sprachgedicht. Im >Lied ohne Worte< ist also eine intermediale Transposition poietischer Problemstellungen der Lyrik auf Bedingungen der Musik zu sehen«, [so dass] »Melodien im allerursprünglichsten Sinn der Erläuterung >ohne Worte< gar nicht bedürfen, weil es ja schon unerhört genug ist, daß anstatt eines antiken Rhapsoden ein Klavier notwendigerweise ohneWorte singen soll. Hensel scheint die Metapher >Lied ohne Worte< mit gutem Grund zu vermeiden. Wenn man davon ausgeht, daß das Instrumentallied das Gattungspendant des Sprachgedichts ist, müssen die analytischen Befunde in einer Art und Weise dargeboten werden, die es ermöglicht, auch dem Auge eine der Vers- und Strophenform analoge Gestalt zu vermitteln.« (Brief von Annegret Huber, April 2005, in Zusammenfassung ausfuhrlicherer Darstellungen bei Huber 2006)

Die kritische Haltung Fanny Hensels gegenüber der erfolgreichen Produktion der Lieder ohne Worte ihres Bruders scheint sich ebenfalls und ähnlich undeutlich wie in dem Brief von 1833 in einer Äußerung aus München vom 19. September 1839 auszusprechen (Elvers 1984, S. 78): Das Spiel der mit Felix Mendelssohn Bartholdy befreundeten Pianistin Delphine Handley habe sehr gefallen, vor allem beim h-Moll-Rondo des Bruders, »weniger das Duett ohne Worte. Du weißt, Beckchen, Suppen und Gesangsstellen schmecken uns nicht leicht außer dem Hause. (Dies 262

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natürlich ganz unter uns).« (Es handelt sich um das Duetto aus Heft 3, op. 38 Nr. 6, As-Dur, erschienen 1837.) Das bedeutet vielleicht: So etwas wie diese Stücke, wie wir sie in der Jugend machten, gehört ebensowenig in die Öffentlichkeit wie unsere geheimen Kochrezepte - und dort haben sie auch keine Wirkung, weil die heimische Umgebung fehlt. Ob schließlich die Zweifel Felix Mendelssohn Bartholdys vom 4. März 1839, er wolle »solches Gewürm« nicht mehr herausgeben, da »eine so große Menge Ciaviermusik ähnlicher Art componirt« werde (zit. nach Konoid 1996, S. 259) - er veröffentlichte danach noch drei weitere Hefte -, auch auf Einwände seiner Schwester zurückgehen, ist nicht zu klären. Jedoch fallt auf dass sie gerade in diesem Zeitraum, am 28. April 1839 (W), einen harschen Text schreibt, der sich offenbar auf Heft 3 bezieht, 1837 erschienen, und wie jener von 1833 ihre Ablehnung gegenüber großen Teilen zeitgenössischer Komposition deutlich macht: »Sind das Spiel- oder Singlieder, die jetzt erscheinen? Mit Deinen Liedern ohne Worte hast Du wieder gutes Unheil angestiftet. Sie kommen mir dabei vor, wie der Wirth, der alle Weine aus einem Fall zapft, alles komponiren sie, Lieder, Etüden, Refrain mit Chor, Notturnos, Capricen, Duette, Liebeslieder, alles aber aus dem alten Ciavierfaß gezapft. Henselt hat die Kunst erfanden, die Instrumentalmusik unanständig zu machen, er könnte ein Patent darauf nehmen, dem Uebelstand zu bloßen Etüden keine schlüpfrigen Texte wählen zu können, hat er glücklich durch die Überschriften abgeholfen. Liszt hat die Kunst erfunden, durch die musikalische Orthographie, welche mir doch dazu vorhanden zu seyn scheint, um die Musik damit lesen zu können, so glücklich zu verwirren u. zu entstellen, daß es ihm gelungen ist, seine ohnehin schon sinn- und zusammenhanglosen Compositionen mit Hülfe der Schreibart noch sinn- u. zusammenhangloser zu machen. Wäre das Chaos nicht schon vor der Erschaffung der Welt durch den lieben Gott erfanden worden, so könnte Liszt ihm die Erfindung streitig machen.«

(Adolf von Henselt hat zahlreiche Klavierstücke und -etüden mit poetischen Titeln verfasst wie Minnelieder an die Geliebte, Poeme d'amour, La Gondola, Frühlingslied, vgl. u. a. Edler 2004, S. 188f.) Diese Generalkritik an der modernen Programm-Musik, aber auch an der Titelwahl des Bruders, ist wenig geeignet, die Bezeichnung Lied für den dritten Satz des Klaviertrios in die Richtung der brüderlichen Klavierstücke zu interpretieren, eher schon in jene des zeitgenössischen so genannten »lyrischen« Klavierstücks, welches zur Entstehungszeit des Klaviertrios bereits auf eine lange Tradition zurück blicken kann, welche Fanny Hensels Titelwahl mitbestimmt haben könnte, ausgehend von den Lied aus dem Klaviertrio op. 11

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vorbildhaften Nocturnes von John Field, in der Folge von so gut wie allen Komponisten mit Beispielen bedacht, auch in Gestalt von op. 12 und 22 des Klavierlehrers der Geschwister, Ludwig Berger, erschienen in den 1820er Jahren, also noch in der Zeit seines Unterrichts im Hause Mendelssohn. Spätestens hier kommt der Begriff des Charakterstücks ins Spiel. Hiermit werden Klavierstücke mit hinweisenden Titeln bezeichnet, die seit dem 18. Jahrhundert an Beliebtheit gewinnen und seit dem frühen 19. Jahrhundert zu einem der bestimmenden Produkte der musikalischen Romantik zählen. Zwar gibt es schon in den 1780er Jahren Charakteristische Klavierstücke benannte Werke von G . Chr. Füger, doch ist die generelle Gattungsbezeichnung keine historische, sondern neueren Datums: Noch keinerlei Aufklärung bieten etwa die Lied oder Charakteristischem gewidmeten Artikel der bedeutenden, vielbändigen, von Gustav Schilling herausgegebenen Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften, oder Universal-Lexicon der Tonkunst (Bd. 2 und 3,1835 und 1837) - »Charakter« bezeichnet dort »Bestimmheit des Ausdrucks« - , eher schon die Gedanken des Artikels Charakteristische Tonstücke des 1835 erschienenen kleinen Musikalische[n] Conversations-hexicon. Rncyklopädie der gesammten Musik-Wissenschaflßir Künstler, Kunstfreunde und Gebildete von August Gathy. Dort geht es einerseits um »Instrumentalsätze«, die seelische und äußere Zustände und Begebenheiten »möglichst scharf zu zeichnen« suchen, darunter auch »Schlachtgemälde, Jagdstücke und andere, die häufig in Malerei [...] ausarten«, andererseits um den »gewaltigen Tondichter Beethoven« - Nägeli nannte ihn 1826 den »großen Kunsthelden« (vgl. S. 5) - , da er »den Ton zum Worte zu steigern« vermocht und daher »fast allen seinen Instrumentalkompositionen den Stempel des echt charakteristischen Tonstückes aufgedrückt« habe. Dies ergibt aber wenig Trennschärfe für den Terminus Charakterstück und macht ihn im Hinblick auf die Lieder ohne Worte schwer handhabbar wie alle nachträglich ersonnenen oder von anderen Gattungen übertragenen Bezeichnungen - etwa »Durchfuhrung« im Zusammenhang mit Fugen - , ein Dilemma, das sich in sämtlichen Lexikonartikeln zum Thema in Wendungen zeigt wie: »Das eigentliche Charakterstück, das lyrische Klavierstück der Romantik, setzt ein mit den 1810/1811 erschienenen Six eclogues op. 35 von V.J. Tomäsek.« (Elmar Seidel: Artikel Charakterstück, in: Brockhaus Riemann Musiklexikon, Bd. 1, Mainz/München 4 1992, S. 234) Ohne das Problem lösen zu können oder in die endlosen Verwicklungen um die Fragen der Programmmusik eindringen zu wollen, wohl aber 264

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um zur inhaltlichen Konkretisierung des Satztitels L/^/beizutragen, sollte erwogen werden, ob man nicht ohne Rücksicht auf bestimmte zeitgeschichtliche oder ästhetische Bedingungen - Romantisches oder Lyrisches - drei Klassen solcher Stücke unterscheiden könnte, und zwar nach dem Grad der im Titel enthaltenen Aufforderung zu Assoziation und produktiver Fantasie: Musikferne Titel, etwa bei Füger (Schwermuth, Fröhlichkeit u. ä.) oder später bei Liszt (Vallée d'Obermari) und Schumann {BittendesKind), musiknahe Titel wie Sinfonia eroica, wie jene Eclogues von Tomâsek - dass antike Dichtung vermutlich singend vorgetragen wurde, wusste man damals auch bereits -, schließlich rein musikalische Titel wie jener von Fanny Hensel, der damit in eine Reihe gehören würde mit der Cavatina aus Beethovens op. 130 oder Johann Sebastian Bachs Air. Wenn überhaupt einer der drei Klassen noch die Gattungsbezeichnung Charakterstück zugestanden werden könnte, dann der ersten. (Würden dann Beethovens Bagatellen auch hierher gehören?) Diese Unterscheidung erscheint mir für die Betrachtung des Henselschen Satzes nicht unwesentlich. Denn Fanny Hensel wird sich überlegt haben, ob sie sich im Titel den berühmten, auf mithörende, wenn auch unbegriffliche Fantasie hinzielenden Vorbildern des Bruders anschließen oder durch einen knapperen Titel lediglich das vokale Muster, die Folie des einfachen Gesanges für ihren Instrumentalsatz andeuten solle. Vielleicht auch sah sie von dem brüderlichen Titel ab, um bei aller denkbaren Absicht einer Replik auf op. 49 selbst in der Titelwahl ihre Eigenständigkeit zu wahren. Schließlich auch könnte sie den brüderlichen Titel nur geeignet für Klavierstücke gehalten haben, so dass ihr eine Übertragung in die Kammermusik nicht in den Sinn kam. Dass Letzteres doch der Fall gewesen sein könnte, legt ein weiteres Lexikonzitat nahe, welches allerdings deutlich macht, wie notwendig Differenzierungen der vorangegangenen Art sind: »Schumann übertrug als erster das Charakterstück in den Bereich der Kammermusik (Fantasiestücke op. 73, 1849 [. .]), worin er im 19. Jahrhundert nicht wenige Nachfolger findet [...].« (Bernhard R. Appel: Artikel Charakterstück, in: MGG2 Sachteil, Bd. 2, Kassel 1995, Sp. 640; die drei Stücke haben keine poetischen Titel.) Man könnte nun mit Stolz auf Fanny Hensel und auf das um zwei Jahre frühere Entstehungsdatum von op. 11 hinweisen und nicht Schumann, sondern sie zur Uberträgerin ausrufen. Dies wäre aber nur möglich, wenn wirklich alle Titel, die über eine reine Tempoangabe hinausLied aus dem Klaviertrio op. 11

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gehen, den zugehörigen Satz dem Bereich des Charakterstückes zuweisen, schließlich auch ein Cantabile. Und das würde vermutlich das Gros der Klaviermusik betreffen - aber auch der Kammermusik- und Sinfonieliteratur. Es wird demnach sinnvoll sein, das Lied dem terminologischen Dunstkreis des Charakterstückes zu entziehen. Bei dem Satz von Fanny Hensel geht es um eine bestimmte Art des Liedes, nämlich - zumindest in den Anfangstakten - um das, was man bei einigen vokalsatzartigen Liedern ohne Worte des Bruders als »Chorlied ohne Worte« bezeichnet hat. Um dies klar zu machen, ist es wichtig, den Beginn des Satzes genauer zu betrachten. Die bereits angesprochene Dur-Variante des Melodiemodells ergibt Sextsprung aufwärts von der Tonikaquinte a' zum fis" und verzierten Abstieg zurück zum a' mit Vorhalt h'. Das Größenmaß der Sext ist dabei entscheidend für die Gefuhlslage: Wir kennen den gleichen Melodiebeginn - unverziert - bei Fanny Hensel, aber mit kleiner Sext: »Du klagst, daß bange Wehmut dich beschleicht« lautet der Textbeginn im LenauLied Vorwurfop. 10 Nr. 2. Und entsprechend dem zerknirschten Inhalt des Textes ist die Wahl der Tonart ausgefallen: cis-Moll. Ist die Sext jedoch groß wie in op. 11, weist sie auf den Gegenpol der Gefühlsskala, vielleicht nicht gerade auf eine überschäumende Freude, aber doch auf verhaltenes Glück und stillen Frieden wie in einem berühmten Lied von 1881: »Es war ein Sonntag hell und klar, ein selten schöner Tag im Jahr...«, Refrain: »O schöne Zeit, o sel'ge Zeit, wie liegst du fern, wie liegst du weit!« So das »mit Empfindung« zu singende Lied des Liszt-Schülers und Opernkomponisten Karl Götze, auf uns gekommen durch die Parodie Das Lied vom Sonntag von Karl Valentin von 1937 (»Tun'S den Hund naus!«): Aufsprung und Abgang im Dreiertakt, jedoch ohne Verzierung und Vorhalt, welche der Henselschen Melodie eine edlere Note geben. Bekannter vielleicht: »Ich schnitt es gern in alle Rinden ein« von Schubert. Die ersten vier Takte als »Chorlied ohne Worte« zu bezeichnen, ist angesichts des einfach gehaltenen vierstimmigen Satzes angemessen, auch der gefiihlsvollen Parallelführungen wegen, diese zunächst zwischen den Außen-, dann zwischen den Mittelstimmen. Diese Satzart ist nicht nur aus den Chorsätzen des Bruders, sondern auch aus denen Fanny Hensels vertraut. Drei Feinheiten des Satzes sollen hervorgehoben werden, zunächst zwei rational fass- und benennbare, dann eine solche, die wesentlich schwieriger auf Begriffe zu bringen ist. 266

Werkanalysen

Die Ambivalenz der Takte 5 und 6 in periodischer Hinsicht kam bereits zur Sprache: Sie fassen, von der Oberstimme her gesehen, den Melodiebeginn zusammen und schließen so eine kleine Wiederkehrform ab, stellen aber andererseits auch - alternativ gesehen - die erste der zwei viertaktigen Antworten auf die beiden Eröffnungstakte dar, was eine übergreifende, das gesamte Thema zusammenfassende Dreiteiligkeit bedeutet. Die letztgenannte Interpretation kann sich auf das stützen, was die linke Hand tut: Geht innerhalb der chromatischen Parallelführungen der Mittelstimmen in den Takten 3 und 4 der Tenor - so muss man wohl in einem »Chorlied ohne Worte« diese Stimme bezeichnen - aufwärts bis zum a, so fuhrt er nun ab Takt 5 im dreistimmigen Satz als neuer Bass den chromatischen Weg von a aus fort. Ein Zusammenhang über eine Nebenstimme stellt sich her, der jenem übergreifenden der Hauptstimme entgegen steht und so eine feine Doppeldeutigkeit hervorbringt, die das ausmacht, was große Kunst des Komponierens bedeutet. (Dass der Abschluss des Sechstakters zu dem Melodievorhalt g"-fis" einen Fis7Akkord bereit hält, der dann in die harmonische Alternative der Viertaktwiederholung leitet - h-Moll statt D-Dur -, ist ein gut bedachtes Vorgehen, weil es voraussieht, dass bei späterer Wiederholung der Melodie für den gleichen Vorhalt eine andere Akkord-Begleitung möglich wird, eine kleine erfrischende Abweichung vom Erinnerten: In Takt 28 ist man wieder bei dem Vorhalt g"-fis" angekommen, der nun aber im Sinne eines verkürzten E7 9b gedeutet wird. Die harmonische Palette zeigt mit dem folgenden e-Moll eine neue Farbe.) Aufmerksamkeit erregen auch die Mittelstimmen der zwei Anfangstakte. Dass das Lied trotz Chorsatzcharakter ein instrumentales ist, weist der Tenor mit seinen über beide Takte fortgesetzten Achtelrepetitionen des a aus, dies nun wirklich ein Kennzeichen der Lieder ohne Worte des Bruders, beispielhaft zu sehen im Heft Nr. 1, op. 19, wo in Nr. 4, einem Moderato in A-Dur, ebenfalls der Tenor eine sogar dreitaktige Wiederholung des Tones a in Achteln vorfuhrt, der dort zur Tonika und zur Subdominante D-Dur passt, während das a bei Fanny Hensel Quint des Grunddreiklanges D-Dur und Grundton der Dominante A-Dur markiert. Diese Technik scheint auf Beethoven und seine Zeitgenossen zurückzugehen - zweimal in Vierteln über fünf Takte in der sogenannten PastoralSonate op. 28, Satz 1, T. 289fF. - und gehört zu den vielen Details, die uns eine Musik als »romantisch« erscheinen lassen, so bei Chopin im Regentropfen-Prelude oder im Andante der Klaviersonate f-Moll op. 5 von Lied aus dem Klaviertrio op. 11

267

Brahms, repräsentiert es doch eher ein zeitliches Stillstehen, ein der Umwelt und ihrer Triebsamkeit entrücktes Sich-Besinnen statt jenes Voranstrebens, mit dem uns viele Kompositionen einer weniger »romantischen« Haltung fortreißen. Jedoch: Was bedeutet dieses Verfahren bei Fanny Hensel, was will es sagen? Es ist nicht einfach nur ein Mittel, eine Melodie lebendig zu machen oder zu halten, sondern eines, mit dem die durch den gesamten Satz fortgehende Achtelbewegung in die Wege geleitet wird, ohne dass selbstständige Mittelstimmen wie ab Takt 3 den symptomatischen Sextenbeginn der Melodie verdunkeln: Die Achtelbewegung ist schon unauffällig da, springt bereits an. (Dass sie später nie von den Streichern übernommen wird, könnte vermuten lassen, dass sie in der Klaviermusik entwickelt worden ist. Aber bei einem Blick in so manche Bratschenstimme des späteren 18. Jahrhunderts wird man eines Besseren belehrt. Hätte Fanny Hensel ein Klavierquartett komponiert mit einer Bratsche zwischen den Außenstimmen von Geige und Cello, hätte sie dann wohl bei vollem Satz die Achtelkette nicht doch einmal der Bratsche übertragen?) Wesentlich komplizierter ist die Frage danach, was der Alt in den ersten zwei Takten mit dem gehaltenen g' beabsichtigt, einem Mittelstimmen-Orgelpunkt, da das g' als Dominantsept sich bei dem zweifachen Erreichen der Tonika D-Dur nicht, wie es im 18. Jahrhundert unbedingt geschehen wäre, in die Terz fis' senkt, sondern auf der Dissonanz stehen bleibt mit einem Klangergebnis, das sich offenbar erst im frühen 19. Jahrhundert trotz seiner Satzunreinheit durchgesetzt hat, durchgesetzt mit einer Konsequenz, die sich auf zwei unterschiedliche Arten deuten lässt: Entweder wird so im Bestehen auf dem harmonischen »Fehler« des unaufgelösten Quartvorhaltes eine neue Klanglichkeit erreicht, deren Spannung sich daraus ergibt, dass sie sozusagen an den historisch orientierten Hörnerven zerrt. Oder es wird inzwischen ohne Gedanken an die Stimmfiihrungsregeln ein neuartiger Klang beabsichtigt und genossen, nämlich eine Tonika mit Quart statt Terz, ohne schlechtes Gewissen im Jazz ein sus-Akkord. Letzteres ist wahrscheinlich der zutreffende Gedanke. Bruder Felix bediente sich des dissonierenden Orgelpunkts ebenso, nur »andersherum«: Im Lied ohne Worte op. 19 Nr. 9 lässt er in einer Wendung nach fisMoll nach dessen Subdominante h-Moll bei der Dominante, einem verkürzten Akkord Cis7, das angestrebte fis im Tenor unaufgelöst liegen. Das 268

Werkanalysen

Problem ist von manchen »krummen« Klängen aus Bachs Werken bekannt: Ist der übermäßige Quintsextakkord im Contrapunctus IV der Kunst der Fuge Klangziel, oder ist er »zufalliges« Ergebnis konsequenter Stimmführung? (vgl. Schleuning 2003, S. 136) Ein praktischer Vorschlag: Man spiele einmal die ersten beiden Takte ohne diese Auffälligkeiten, also mit gehaltenem Tenor und mit zweifachem Viertelgang des Alt ins fis'. Dann wird klar, inwiefern die Bezeichnung »Chorlied ohne Worte« berechtigt ist: Man fühlt sich sofort in die Welt des romantischen Chorsingens versetzt. Aber jetzt erst fallt noch etwas auf: Von Schlag 1 auf Schlag 2 im zweiten Takt gibt es Oktavparallelen, ausgerechnet in den Außenstimmen - zweimal vom e ins d -, ein schwerer Satzfehler im Sinne der traditionellen Satzlehre! (Außerdem folgen in der Mitte von Takt 3 zwischen den Unterstimmen noch Parallelen reiner Quinten, ebenfalls nicht gerade das, was man im Akademismus des »reinen Satzes« gerne sah - und teilweise heute noch sieht.) Ausgeschlossen ist, dass die Komponistin dies nicht bemerkt hätte. Ein wenig von den »Luchsaugen«, die Carl Friedrich Zelter »meinem Felix« Goethe gegenüber attestierte, da jener in Bachs Fünftem Brandenburgischen Konzert eine ganze Reihe unmittelbar aufeinander folgender Quintparallelen entdeckt hatte (vgl. ebda., S. 147), dürfte die Schwester auch mitbekommen haben, vor allem dann, wenn es um einen noch schwerwiegenderen Verstoß gegen die Satzregeln ging als parallele Quinten, eben die Oktaven. In der »platten« Fassung ohne bewegte Mittelstimmen liegen die Parallelen für das Hören offen zu Tage, wenn man in dieser Hinsicht ein wenig Hörübung hat. Es geht dabei nicht darum, dass sie dem heutigen Hören unbedenklich, wenn nicht gar schön erscheinen, sondern darum, dass sie nicht nur im 18., sondern auch noch weit ins 19. Jahrhundert unter die verbotenen Fortschreitungen zwischen den Stimmen eines Satzes gehörten, auch wenn sich allmählich die Strenge der »Regeln« lockerte und sich eine ganze Reihe von Komponisten, die sich nicht dem traditionellen Satzdenken verpflichtet fühlten, wie Wagner oder Mahler, schließlich auch Schönberg, nicht mehr an derartige Reinheitsgebote hielt. Felix Mendelssohn Bartholdy dagegen dürfte noch einer ihrer ernsthaften Verfechter gewesen sein, hierin unbeeindruckt von den sogar bei seinem Abgott Bach entdeckten Verstößen. Es wäre interessant, wenn auch lähmend, einmal sein Gesamtwerk auf Parallelenfehler durchzugehen. Die Lieder ohne Worte jedenfalls enthalten nichts dergleichen. Vielleicht findet sich in der großen Sammlung solcher Satzmängel, die

Lied aus dem Klaviertrio op. 11

269

kein anderer als Johannes Brahms Mitte der 1850er Jahre aufzustellen begann - wohl in Rechtfertigungsnot gegenüber den »Neudeutschen« -, eine Spur davon.

Lied Nachtwanderer

op. 7, Nr. 1

1847 erschienen (HU Nr. 397, Notenbeispiel 2), ist dies »eines der Lieder, das die Komponistin offensichtlich besonders schätzte und mehrfach fiir befreundete Musiker abschrieb, [...] u. a. in Albumblättern für Julius Rietz und die Berliner Sängerin Auguste Löwe [...].« (Maurer 1993 I, Rev.bericht S. 1, Vorwort S. 4) Der Textdichter, Joseph Freiherr von Eichendorff, in Berlin seit 1809 mit Achim von Arnim und Clemens Brentano bekannt und dann in Wien Vertrauter Dorothea und Friedrich Schlegels, später in preußischem Staatsdienst, ab 1844 auch wiederum in Berlin, gehört zum weiteren Kreis um die Mendelssohn Bartholdys. In der späteren Gruppe der Lieder ab 1829 ist er mit 14 Liedvorlagen der bevorzugte Dichter Fanny Hensels vor Goethe, Heine, Lenau, Wilhelm Hensel und anderen, während er in der frühen Liedergruppe noch nicht mit Texten erscheint (Maurer 1997, S. 38). Zunächst der Liedtext, wie er im Erstdruck erscheint (Maurer 19931, S. 20f. und Revisionsbericht, auch über Abweichungen der Interpunktion gegenüber Eichendorff). Die Henselschen Änderungen gegenüber Eichendorff sind durch eckige Klammern kenntlich gemacht, und eine Zeilennummerierung ist beigefugt. Als Grundlage für die folgenden Überlegungen zur Kompositionstechnik wird ab Ende der ersten Strophe angedeutet, auf welche Weise sich die folgende Musik auf diejenige der ersten Strophe bezieht.

Vorspiel 1

Ich wandre durch die stille Nacht,

2

da schleicht der Mond so heimlich sacht

3

oft aus der dunkeln Wolkenhülle.

4

Und hin und her im Tal

5

erwacht die Nachtigall,

6 [6a

dann wieder alles grau und stille. Fanny Hensel statt 6: dann wieder alles grau, alles grau und stille.]

270

musikalischer Abschluß wie 3

Werkanalysen

kein anderer als Johannes Brahms Mitte der 1850er Jahre aufzustellen begann - wohl in Rechtfertigungsnot gegenüber den »Neudeutschen« -, eine Spur davon.

Lied Nachtwanderer

op. 7, Nr. 1

1847 erschienen (HU Nr. 397, Notenbeispiel 2), ist dies »eines der Lieder, das die Komponistin offensichtlich besonders schätzte und mehrfach fiir befreundete Musiker abschrieb, [...] u. a. in Albumblättern für Julius Rietz und die Berliner Sängerin Auguste Löwe [...].« (Maurer 1993 I, Rev.bericht S. 1, Vorwort S. 4) Der Textdichter, Joseph Freiherr von Eichendorff, in Berlin seit 1809 mit Achim von Arnim und Clemens Brentano bekannt und dann in Wien Vertrauter Dorothea und Friedrich Schlegels, später in preußischem Staatsdienst, ab 1844 auch wiederum in Berlin, gehört zum weiteren Kreis um die Mendelssohn Bartholdys. In der späteren Gruppe der Lieder ab 1829 ist er mit 14 Liedvorlagen der bevorzugte Dichter Fanny Hensels vor Goethe, Heine, Lenau, Wilhelm Hensel und anderen, während er in der frühen Liedergruppe noch nicht mit Texten erscheint (Maurer 1997, S. 38). Zunächst der Liedtext, wie er im Erstdruck erscheint (Maurer 19931, S. 20f. und Revisionsbericht, auch über Abweichungen der Interpunktion gegenüber Eichendorff). Die Henselschen Änderungen gegenüber Eichendorff sind durch eckige Klammern kenntlich gemacht, und eine Zeilennummerierung ist beigefugt. Als Grundlage für die folgenden Überlegungen zur Kompositionstechnik wird ab Ende der ersten Strophe angedeutet, auf welche Weise sich die folgende Musik auf diejenige der ersten Strophe bezieht.

Vorspiel 1

Ich wandre durch die stille Nacht,

2

da schleicht der Mond so heimlich sacht

3

oft aus der dunkeln Wolkenhülle.

4

Und hin und her im Tal

5

erwacht die Nachtigall,

6 [6a

dann wieder alles grau und stille. Fanny Hensel statt 6: dann wieder alles grau, alles grau und stille.]

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musikalischer Abschluß wie 3

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1

Zwischenspiel 7

O wunderbarer Nachtgesang,

2

8

von fern im Land der Ströme Gang,

quasi 3 + Tremolo

leis' Schauern in den dunkeln Bäumen,

ebenso

10

irrst die Gedanken mir,

quasi 4 / 5 + Tremolo

11

mein wirres Singen hier

ebenso

12

ist wie ein Rufen nur aus Träumen.

ebenso + 1

9

[13

Fanny Hensel anschließend: mein Singen ist ein Rufen, ein Rufen nur aus Träumen.]

6a wie Vorspiel T. 1,

Nachspiel

Melodie geändert

Laut Revisionsbericht ist in Fassungen außerhalb des Erstdrucks am Ende das Vorspiel übernommen und auf vier Takte erweitert. Wer auch immer ein Lied nach einem strophischen Gedicht vertont, hat vor sich die Entscheidung zwischen einem Strophenlied, einem variierten Strophenlied und einer frei fortgehenden Vertonung, einem sogenannten durchkomponierten Lied. Fanny Hensel, in deren umfangreichem Liederwerk alle drei Möglichkeiten auftreten, hat hier die zweite Variante gewählt. Offenbar hat sie über den inneren Zusammenhang der beiden Strophen hinaus eine Steigerung des Inhaltssinnes in der Abschlussstrophe wahrgenommen. Wenn sie sich in anderen entsprechenden Fallen dennoch für ein Strophenlied entschieden hat, da andere Beweggründe stärker gewogen haben mögen als der genannte, so wird man in diesem Falle doch davon ausgehen müssen, dass es die in den beiden Strophen scharf voneinander abstechenden Eindrücke der nächtlichen Natur waren, welche die Überlegungen zur Formung des Liedes auf die mittlere Lösung gefuhrt haben: Ist die Anfangsstrophe reine Darstellung des Wahrgenommenen, ohne dass man darauf gefasst sein könnte, diese recht nüchtern beschriebenen Vorgänge sollten irgend eine ungewöhnliche Regung auslösen - dass der Mond »heimlich schleicht«, könnte allerdings schon auf Verborgenes hinweisen und vorbereiten so bricht die Folgestrophe in eine erstaunliche Reaktion auf das Außere aus, eine Irritation, die in die Tiefe der Seele reicht, sie aufwühlt, wobei es von Wichtigkeit ist, dass das Singen »wirr« ist und etwas die Gedanken »irrt«. Letzteres, seltenerweise transitiv, also aktiv, ohne die Vorsilbe

Lied Nachtwanderer

op. 7, Nr. 1

271

ver- genutzt, wem gilt es? Wer irrt da die Gedanken? Die Nachtigall mag es sein, dürfte jedoch im Lesen und Hören durch die Laute von Strömen und Bäumen bereits ein wenig in den akutischen Hintergrund geraten sein. Später mehr dazu. Es ist ein Kunstgriff, typisch für die Sprache der romantischen Dichtung, um mit dem grammatikalischen Rätsel oder - wenn man will - auch »Fehler« das Tor zu öffnen zu Verwirrung und Träumen, die die Rationalität außer Kraft setzen und uns in jene unirdische Welt versetzen sollen, die Ziel und Inhalt der romantischen Ideologie ist. Deren Auslöser und Symbol ist hier ein absichtlicher Fehlgriff, ein grammatikalisch herbeigeführter Zwang zur erfolglosen Suche und zum Uberschreiten des logischen Styx in die Unterwelt der Seele und - um es vorwegzunehmen - bei Fanny Hensel zum Tremolo, das seit seiner Erfindung in der Zeit Monteverdis Anzeichen ist und Antrieb fiir ein Außersichsein.

»Irrst die Gedanken mir« - ein dichterischer Kumtgriff, aber wessen Kunstgriff? Die neueren historisch-kritischen Ausgaben der Gedichte Eichendorffs belegen, dass auch nicht in einem einzigen der vier Textdrucke zu Lebzeiten der Komponistin, in welchen dieses Gedicht erschienen ist, das Singen »wirr« ist und dem »Nachtgesang«, dem poetischem Gegenüber, zugerufen wird, dass »du« den Wanderer »irrst«. Ohne jede Abweichung heißt es, dass du »wirrst« und das Singen »Mein irres Singen« ist. Dieser Unterschied dürfte nicht ganz unbedeutend für die Vertonung sein. Dass er nicht auf ein Versehen bei Neudrucken zurückgeht, bestätigt sich durch einen Blick in den Erstdruck, der im Reprint zugänglich ist (Bote und Bock 1985) und in manchen Einzelheiten wie dieser vielleicht noch auf erste Vorbereitungen und Entscheidungen Fanny Hensels vor dem Erscheinen im September/Oktober 1847 zurück gehen könnte (vgl. Klein 1997, S. 220). In diesem Falle hätte sie selbst den Text geändert und das w vertauscht. Sollte es so gewesen sein, müßte Fanny Hensel sich und das Lied davor bewahrt haben wollen, den modernen Sinn von »irre«, nämlich »geistig gestört, milderer Ausdruck von wahnsinnig«, als Konsequenz des nächtlichen Wanderns in die Welt zu schicken (Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 10, Leipzig 1877, Sp. 2159ff.) und stattdessen den älteren, wenn auch noch ins 19. Jahrhundert hinein ragenden Sinn des Wortes zu bewahren, nämlich den des Irregehens, des Umherschweifens und Verirrens. »Geistig gestört, milderer Ausdruck

272

Werkanalysen

von wahnsinnig« - hätte das nicht andere Melodie- und Harmoniestrukturen erzwungen als die hier gewählten? Wer auch immer die Textänderung veranlasst hat - dem bei Revisionen und Änderungen seiner Gedichte äußerst peniblen Eichendorff dürfte sie nicht zugesagt haben, der sie während seiner zweiten Berliner Jahre ab 1844 sehr wahrscheinlich in der Henselschen Veröffentlichung von 1847 bemerkt haben wird. Schließlich war ihm die Familie Mendelssohn schon seit langem bekannt, wie Kontakte mit Lea Mendelssohn aus früheren Jahren zeigen (vgl. Sämtliche Werke, Bd. XII, Stuttgart, Briefe u. a. an Joseph, Lea und Felix Mendelssohn Bartholdy). Damit kommen wir auf Einzelheiten der Komposition, sowohl was die Aufteilung des Textes und deren Abhängigkeit von der musikalischen Disposition, als auch was kompositorische Entscheidungen im Detail betrifft. Kann man bei zyklischen Werken wie dem d-Moll-Trio op. 11, falls deren Satzthemen aufeinander bezogen sind, halbwegs sicher sein, dass die Erfindung der Themen als Variantenbildung einer melodischen Grundidee einen rationalen Anteil, vielleicht sogar Ursprung, hat, so ist dies bei Einzelsätzen wie einem Lied nicht so sicher vorauszusetzen. Seltener als im 18. Jahrhundert sind im romantischen Komponieren Einzelwörter des zugrunde liegenden Textes für die musikalische inventio verantwortlich. Jedoch gibt es auch hier noch Zweifelsfalle, was die wortbildliche musikalische »Malerei« betrifft, wie solche kompositorischen »Pinseleien« häufig abfallig genannt wurden. Sind aber Wort-»Malereien« immer unvereinbar mit der Darstellung des »innerlichen Wesens«, des »Verstandes der Wörter«, wie Johann Mattheson zu Bachs Zeiten und sicher auch mit einem Auge auf Bach immer wieder behauptete? (dazu Schleuning 1998, Teil II/l) Zum Einen: Würde jemand, wenn wie in Fanny Hensels Lied von 1826 Der Eichwald brauset, ein Andante komponieren statt wie dort ein Allegro agitato, nur um dem Abmalen des Titels zu entgehen? Wohl kaum. Und würden dann die rasenden Sechzehntel auf den ersten Blick nicht das Brausen des Eichwaldes »malen«? Zum Anderen: Das rasende »Brausen« der Musik, entspricht es nicht dem zerrissenen Inneren, der verzweifelten Klage des Mädchens, welches der Dichter, Friedrich von Schiller, wohlweislich nicht in eine von sanften Winden umfächelte und blumengezierte Gartenlaube gesetzt hat, sondern - als Symbol und Begleitung ihrer Seelenbewegung - vor einen Eichwald, an die Meeresbrandung bei Sturm und »finstrer Nacht«? Also dann auch hier wohl »mehr Ausdruck der Empfindung als Mahlerey«, wie Beethoven seine

Lied Nachtwanderer

o p . 7, Nr. 1

273

Pastorale vorsorglich in Schutz nahm, auch wenn darin die Wellen plätschern, der Donner rollt und sogar drei identifizierbare Vögel jubilieren. »Malerei« und das »Charakteristische«, also die Seelenzeichnung, fallen mithin trotz bleibenden Lamentos von Mattheson und Erben auch in Vokalmusik fast immer untrennbar zusammen. Auch in unserem Lied ist es Nacht, aber keine »finstre«. Schließlich »schleicht« der Mond ja »sacht«. Es herrscht Friede: Andante con moto. Die Erregung folgt später, behält auch dann noch - variiertes Strophenlied! - etwas vom Anfangsfrieden. Wie kommt es zur Wahl der Tonart F-Dur und des Taktmaßes 9/8? Wieder taucht die Frage nach der Art der Erfindung auf. Kam Fanny Hensel, von der Stimmung des Textes getragen, unbewusst auf diese doppelte Wahl, ohne zu wissen, woher ihr die Entscheidung zugeflogen war? Oder wählte sie aus dem reichen Vorrat von Möglichkeiten und von deren Kombinationen, bewusst planend, genau jenes Gespann, welches seit langer Zeit einen musikalischen Topos ausmachte, der für Frieden in der Natur stand, den der Pastorale, Pendant der dichterischen Idylle, reich mit Beispielen bedacht durch die Abgötter der Mendelssohns, Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel (vgl. ebda., Teile 1/2, II/2 und III)? Auch Beethoven konnte nicht anders: Die Pastoralen, sowohl Sinfonie als auch so benannte Klaviersonate op. 28, stehen in F-Dur, einige für das Abbild des Naturfriedens zentrale Sätze stehen im 6/8-, die Szene am Bach sogar im 12/8-Takt, ihre Tempoanweisung Andante molto mosso. Fanny Hensel: Andante con moto. Das kurze Vorspiel verrät einen Hang zur Regelmäßigkeit, etwa im Ubergang vom dis zum d am gleichen Ort in beiden Takten. Diese Wendung in F-Dur, an Wagners Wesendonck-Lied Träume gemahnend, lässt eine steigende Flut von Chromatik erwarten, bleibt aber fiir sich und gibt den Weg frei fiir jene Einfachheit diatonischer Melodik, die der Pastorale angehört - fast bis zum Schluss! Lässt sich diese Einfachheit auch für die Periodik feststellen? Wie geht Fanny Hensel mit der EichendorfFschen Doppelstrophe um und mit dem Strophenbau im Einzelnen? Auch hier zeigt sich der Hang zur Regelmäßigkeit. Gibt man der Musik der ersten Strophe, Vorspiel und den abschließenden Uberlappungs- bzw. Verschränkungstakt eingerechnet, 17 Takte, so würden für die Musik der zweiten Strophe auf den ersten Blick, den Verschränkungstakt wiederum eingerechnet, 23 Takte bleiben. Jedoch haben die sechs 6/8-Takte 26-31 die gleiche Dauer wie vier 9/8Takte, was die Summe auf 21 reduziert. Minus die fünf Schlusstakte des Gesanges, die die Verse 11 und 12 nochmals verdichten, ergeben sich 16 274

Werkanalysen

Takte, mithin eine Dauer, die jener der ersten Strophe fast genau entspricht. Es fragt sich nun, wie der Bau der Strophen sich in Musik umsetzen lässt, da an ihm neben den beiden klingenden Reimendungen in den Versen 3 und 6 die Verkürzung der stumpf reimenden Verse 4 und 5 von sonst vier Füßen auftaktiger Trochäen auf drei auffallt, also auf Kurzzeilen. (Hierzu knappe, aber einleuchtende Gedanken von Diether de la Motte, 1987.) Fanny Hensel nimmt für die Verse 1 bis 3 einige bemerkenswerte Veränderungen gegenüber dem Textangebot vor, welche den Eindruck, Regelmäßigkeit sei eines ihrer Hauptziele gewesen, teils stützt, teils weit in den Hintergrund drängt: In Takt 3 »wandert« die Melodie bis zur stumpfen Endung von Vers 1 (»Nacht«) schrittweise aufwärts zum b' des Taktanfanges 4, und die folgende Sequenz könnte sehr leicht bei gleich stumpfer Endung des Textes mit einem eis" den Beginn von Takt 6 erreichen. Doch würde dies dem Sinn des Wortes »sacht« entsprechen? Für die Sprechstimme ist es angesichts ihrer flexiblen Modulationfahigkeit kein Problem, ein weiches Wort auf hartem Versende angemessen hervorzubringen, weit weniger aber für die Gesangsstimme, wenn sie sich in der festen Akzentfolge des Taktsystems bewegt. Dies scheint der Grund gewesen zu sein, warum Fanny Hensel einen gefühlvollen, eben »sachten« Vorhalt verwendet hat, wie er sich - vom Versbau aus gesehen - eher für die klingende Endung »-hülle« von Vers 3 angeboten hätte, gerade dort aber vermieden ist, vielleicht um die Redundanz einer weiteren Vorhaltbildung zu vermeiden, vielleicht auch um den melodischen Neubeginn an einem ersten Verschränkungsort, dem Takt 9, nicht zu überdecken. Jedoch ist der Änderung des Versendes zu einem klingenden auf andere Weise Genüge getan, nämlich durch eine Längung der Phrase auf drei Takte (T. 7-9). Nochmals zur »Malerei«: Verfolgt die Henselsche Erfindung des aufsteigenden Melodiebeginns die Absicht, das »Wandern« bildlich darzustellen? Bevor man empört verneint, sollte man zwei gegeneinander stehende Beobachtungen an anderen Kompositionen bedenken, die ebenfalls das Gehen behandeln. Erstens: »... gingen sie hinaus an den Ölberg...«, Matthäuspassion Nr. 14, sieben Töne aufsteigender Generalbass, fortgesetzt durch sechs Töne des Evangelisten. Hier dürfte tatsächlich »gemalt« worden sein, sowohl was die Schritte = Tonschritte betrifft als auch die Richtung aufwärts. (Dass glückliche Forscher darauf verwiesen haben, die Gesamtzahl der Töne - 13 - repräsentiere die Summe der Jünger plus Jesus, sollte uns nicht von der Hauptfrage ablenken.)

Lied Nachtwanderer

o p . 7, Nr. 1

275

Zweitens: »Das Wandern ist des Müllers Lust...« - sowohl Schubert in der Schönen Müllerin (1823) als auch das bekanntere Lied von Karl Friedrich Zöllner (1840) zeichnen sehr große Schritte durch die Dreiklänge, Schubert mit einer trottenden Klavierbegleitung, wobei in beiden Fallen unklar ist oder doppeldeutig, ob die großen Schritte das gewaltige Ausgreifen der Füße »malen« oder/und die ausbrechende »Lust« des Wandergesellen an seinen raumgreifenden Schritten zeigen. Letzteres wäre wohl keine Lösung für Fanny Hensel gewesen, den Eichendorffschen Text in Musik zu setzen. Denn eine lustvolle Stimmung ist es nicht, die hier das Wandern begleitet, eher eine bedenkliche. Große Schritte sind nicht angebracht, aber auch keine chromatischen, sondern eben diatonische, ganz normale. Müssen sie jedoch aufwärts gehen? Man singe einmal abwärts von b aus, um in der ersten Phrase auf c zu enden! Was daran stört, ist schwer zu benennen. Um die Zweifel an der »Malerei« und ihren seelischen Konsequenzen zu verschärfen, mag es genügen, darauf hinzuweisen, daß die Nachtigall wenig später im Text »im Tal« erwacht, man sie also von oben her, von einer Anhöhe oder einem Berg aus belauscht. Ist der Melodiebeginn also neben Anderem auch das Hinaufsteigen oder das Hinaufgestiegen-Sein, das Betrachten der Welt von oben, dies wiederum alles andere als »Malerei«? Zurück zum Verschränkungstakt 9: Er leitet die Kurzverse 4 und 5 ein, die durch ein Wechselspiel zwischen Klavier und Stimme in das »normale« Ausmaß eines Viertakters gebracht und mit einem - musikalisch - unbeantworteten fünften Klaviertakt abgeschlossen werden (T. 13). Ihm folgt der Abschluss der zweiten Strophenhälfte, so wie Vers 3 die erste abschloss. Ubertrafjener mit dreitaktiger Vertonung die zweitaktigen Einheiten von Vers 1 und 2, so ist nun gegenüber dem kleinteiligen Wechselspiel der Verse 4 und 5 der Text von Vers 6 auf die übliche Viertaktlänge musikalischer Phrasen gebracht. Voraussetzung dazu ist, dass die Textwiederholungen (6a) ein proportioniertes Gleichgewicht zu der Vertonung von Vers 3 herstellen. Dieser abschließende Viertakter wird zur Rahmenbildung mit dem aufsteigenden Anfangsmotiv eingeleitet und dem modifizierten Ende der Vers-3-Musik geschlossen, was nun wahrlich von einer rationalen Planung zur Wahrung der musikalischen Einheitsbildung zeugt. Man hat demnach keine Kürzungen wie in den Versen 4 und 5 der Textvorlage vor sich, sondern eine musikalische Abfolge von vier etwa gleich langen Teilen, die weder eine musikalische »Periode« noch einen musikalischen »Satz« im Sinne von Erwin Ratz ausmachen - grob gesagt: abac 276

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oder aabc bwz. im Sinne eines »Reprisenbars« aaba -, sondern ein hochinteressantes Gebilde von 4, 3, 5 und 4 Takten Länge - die Überlappung in Takt 9 berücksichtigt. Es ähnelt einer reprisenhaften Wiederkehrform, da Teile aus der ersten Hälfte, dem Vordersatz, am Ende wieder aufgegriffen, ja sogar wiederholt werden. Andererseits aber hat dieses beziehungsreiche Geflecht, diese schöne formale Erfindung, wenig zu tun mit den periodisch austarierten Gleichgewichtshälften der eben genannten Muster. Im Grunde ist es eine dreizügige Entwicklungsfolge mit abschließenden Wiederaufnahmen. Man könnte sie in der bekannten platten Buchstabenverkürzung darstellen als A (aa) B (bc) C (dd) D (ac). Die zweite Strophe erfahrt musikalisch eine textgeleitete Steigerung, deren zusammenfassende Schlusswendung wohl kaum noch mit strukturellen Erwägungen zu begründen ist. Schließlich wird in ihr der Eichendorffsche Text nicht nur in Teilen wiederholt, sondern inhaltlich verändert, da das Vergleichswort »wie« entfallt: Das Singen ist jetzt ein Rufen. Diese Sinnänderung hin zu einer Feststellung zeigt sich auch im Fortfallen der Tremoli, welche offenbar eingesetzt wurden, um die Selbsterkenntnis sich entwickeln und zuletzt auch entstehen zu lassen. Mit dem musikalischen Rückbezug auf den Schluss der ersten Strophe ist die Unklarheit der vorangegangenen erregten Entwicklung beendet. Und nun hat der von dort übernommene Hochton auf »Rufen«, das f" in Takt 35, auch jenen angemessenen Textbezug, der bei dem »grau« in Strophe 1 nur bedingt einleuchtete und strukturelle Gründe wahrscheinlich machte, d. h. Rahmung durch Wiederaufnahme des Anfangsmotives. Allerdings: Man kann auch nicht fordern, ein »grau« müsse grundsätzlich einen Tiefton erhalten, ein Gedanke, der aus der Ästhetik der Einzelwortausdeutung alten Schlages stammt. Dennoch bleibt die Steigerung zum Hochton auf »grau« ein Phänomen, welches dem Vorausblick auf den Schluss der zweiten Strophe und damit dem Plan einer formalen Entsprechung entstammt, jedoch auch die innere Erregung bereits anzeigt. (Auf gleiche Weise sticht der Hochton zu dem Wort »Boden« im Schubert/Heine-Lied Die Stadt hervor, welcher zugleich der melodischen Symmetrie zum folgenden Hochton auf »Liebsten« dient und - ohne Rücksicht auf das Gegenständliche - das Ausbrechen der Emotion zeigt.) Dass die »Träume« im drittletzten Takt im verminderten Septsprung abwärts gesungen werden und von einem verminderten Septakkord mit verminderter Quinte begleitet werden - mit dem Leitton h im Bass besonders schneidend -, fugt dem Gedanken zum den Sinn der TextLied Nachtwanderer op. 7, Nr. 1

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änderung an dieser Stelle eine musikalische Bestätigung zu, eine schmerzliche, wie sie mit gleichem Inhaltsziel auch schon in den vorangehenden Klaviertakten 32/33 angelegt war, welche das Anfangsmotiv schließlich doch noch von der Diatonik in die Chromatik verändern. Kennzeichnend für den Stimmungswandel in der zweiten Strophe ist nicht nur das Auftreten des Tremolo, sondern ab Takt 26 auch die Verkehrung im Antwortspiel: Ging zuvor das Klavier voran, so ist es nun die Stimme, als könne sie sich in wachsender Erregung nicht mit dem Nachfolgen begnügen. Dies Voranstürmen zum »Irren« und »Wirren« bedingt offenbar auch die Verkürzung dieses Wechselspiels von ehedem je zwei 9/8-Takten auf nun je zwei 6/8-Takte, so dass im Raum von 36 Achteln statt vier der längeren Takte sechs der kürzeren erscheinen, dies sicherlich »ein unglaubliches Klangbild«, so Diether de la Motte (1987, S. 364), ob aber »in das 20. Jahrhundert vorgreifend«, bleibt fraglich, da weitere Beispiele emotionsbedingter Taktverkürzung als extremes, aber probates Mittel des 19. Jahrhunderts bekannt sind. Trotz alledem orientiert sich die Anlage der zweiten Strophe, zumindest ihrer letzten drei Teile, im Allgemeinen am Vorgehen in der ersten Strophe. Dies betrifft jedoch nicht die Musik des Strophenbeginns, Ergebnis eines ausgezeichneten Einfalls. Dessen Beweggründe sind jedoch nur schwer zu erklären. Schon die Verschränkung in Takt 17, also das Lospreschen der nächsten Phrase, ehe die vorangegangene hat ausklingen können, ist Anzeichen innerer Unruhe. Auch ein variiertes Strophenlied könnte an dieser Stelle das Vorspiel übernehmen - Mozart und Schubert hatten dazu Beispiele vorgegeben, denen Fanny Hensel hätte folgen können. Die beginnende Erregung schließt offenbar eine Übernahme des Vorspiels aus, nicht aber eine solche der Gesangsmelodie. Sie wird wie das folgende Wechselspiel gerafft, jedoch auf wesentlich künstlichere Weise: Die Verbindung von Text- und Musikstruktur aus der ersten Strophe wird auseinander gezerrt. Das Klavier spielt alleine die erste Gesangsstrophe, »wandert« also alleine »durch die stille Nacht«. Auf die zweite Musikphrase von ehedem setzt die Stimme mit der Melodie des ersten Verses der Strophe 2 ein (Vers 7) und endet mit jenem Vorhalt d"-cis", der einst das Wort »sanft« trug und nun den »-gesang« trägt. Dann werden die Verse 8 und 9 im Tremolotaumel auf verkürzte Derivate der verlängerten Phrase zu Vers 3 aus der ersten Strophe gesungen. Warum diese überraschende und verwirrende Verschiebung, die so geschickt hergestellt ist, dass man sie zunächst nicht wahrnimmt?

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Nehmen wir den Gedanken als gegeben hin, in der Verschiebung am Beginn der zweiten Strophe deute sich die kommende Erregung an, das Aufgewühltsein der Seele, so kann die genauere Betrachtung des Strophenüberganges, speziell der Verse 4 bis 9, auf Weiteres fuhren. Und wieder sind wir bei der Eichendorff-Philologie. Sie macht eine Interpretation der Verschiebung fast unmöglich. Wäre der Ursprungstext von EichendorfF so, wie er in der Henselschen Ausgabe erscheint, so könnte man vermuten - wie bereits bedacht - , dass der »wunderbare Nachtgesang« sich noch auf die Nachtigall aus der ersten Strophe bezieht, wenn auch zwischendurch »alles grau und stille« war. Dies könnte die Vermutung auslösen, die Verschiebung habe sich in einer Art rückwärtsgewandten Ubersprungshandlung ergeben, die Nachtigall also, inzwischen verstummt, werde nun in einem nicht-vokalen Zitat aus der ersten Strophe, sozusagen als erinnerte, aber nicht mehr aktuell singende Zeugin des nächtlichen Zaubers aufgerufen und im begeisterten Gedächtnis angesungen: »O wunderbarer Nachtgesang....« Jedoch: In allen EichendorfFschen Ausgaben steht nach dem »Nachtgesang« nicht ein Komma wie in der Henselschen Erst- und Neuausgabe, sondern ein Doppelpunkt. Dann aber stammt der Nachtgesang nicht mehr von der Nachtigall, sondern von »der Ströme Gang« und vom »leis' Schauern« der Bäume. Dann wäre die Verschiebung nicht mehr auf die Text-Vergangenheit gerichtet, sondern auf dessen Zukunft. Dann hätten die Tremoli möglicherweise ein teilweise bildlichen Sinn - »malend« neben dem emotionalen. Die Betrachtung endet unentschieden, da es an Klarheit über die Voraussetzungen fehlt. Der Sinn der Verschiebung im Strophenübergang kann nicht ermittelt werden, da es an Informationen darüber fehlt, wer und warum der Doppelpunkt in der Erstausgabe entfernt wurde. Kleinigkeit? Eben nicht. Dies fuhrt auf die Frage, welche Textausgabe Fanny Hensel als Grundlage ihrer Vertonung benutzt hat und ob sich aus einer Klärung Aufschluss über die Entstehung des Liedes gewinnen lässt. Wenig ergiebig hierfür ist, dass EichendorfF in seiner Gedichtsammlung von 1837 »dunkeln« zu »dunklen« und »alles« zu »Alles« geändert hatte, da einmal die neue, dann die alte Version im Henselschen Erstdruck zu finden ist. Diese unbedeutenden Versionen können sich aus häufigem Abschreiben des Textes ergeben haben, wohl oft aus dem Gedächtnis und nicht nach einer Druckvorlage. Hilfreicher ist dagegen die Verfolgung der Titelwahl EichendorfFs. Das Gedicht war 1826 als EröfFnung

Lied Nachtwanderer

op. 7, Nr. 1

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eines kleinen Gedichtzyklus Nachtbilder erschienen ohne eigenen Titel. Das zweite Gedicht darin jedoch (»Er reitet nachts auf einem braunen Roß«) hatte einen Titel: Nachtwanderer. In der Ausgabe von 1837 blieben von dem Zyklus nur noch die zwei ersten Gedichte als Einheit erhalten, und zwar beide unter dem Obertitel Nachtwanderer. Im ersten Band der Werke, dem Gedichtband von 1841, war dann auch dieser Rest des Zyklus aufgelöst worden, und das alte EröfFnungsstück, also unser Gedicht, befand sich unter den Wanderliedern mit dem neuen Titel Nachts. Setzt man - mit einigem Recht - voraus, dass Fanny Hensel die Veröffentlichungen von Eichendorff auf der Suche nach Liedertexten verfolgte - schließlich ergänzte der Dichter fast jede neue Ausgabe um weitere Gedichte -, so wird man, von dem Liedtitel Nachtwanderer ausgehend, annehmen können, dass die Komposition zwischen 1837 und 1841 erfolgt ist, wohl näher am ersten Datum, dass also die Vermutung der Herausgeberin Annette Müller, »1843 oder früher«, ebenso berechtigt ist wie die auf - nicht genannten - stilistischen Kriterien basierende von MarciaJ. Citron (1983, S. 591): »late 1830s or early 1840s, perhaps 1840 or 1841.« Ebenso einleuchtend ist, was Annette Maurer 1997 als Fazit ihrer Gedanken über Fanny Hensels Lieder und als weiterfuhrenden Auftrag formuliert hat, dass nämlich »zu untersuchen wäre, inwiefern die literarische Qualität eines Gedichtes und der jeweilige Adressatenkreis die Komposition eines Liedes beEinflusst haben.« (S. 40) Diese Frage möchte man auf Anhieb mit einem klaren »selbstverständlich« beantworten. Dann könnte sich eine Besprechung der - auch biographisch bedingten - Aufnahme der »großen« Dichter fiir ihre Liedtexte ab 1830 anschließen, wenn sich nicht die Frage aufdrängen würde, was die Kriterien »literarischer Qualität« sein mögen. Dass das Eichendorffsche Gedicht in dieser Hinsicht hoch anzusiedeln ist, steht außer Frage. Nur bleibt unsicher, mit welchen Mitteln bestimmt werden soll, ob beispielsweise die Gedichte von Wilhelm Hensel unterhalb jener rangieren. Gleiches gilt für die Einstufung der Qualität von Kompositionen. Hier zeigt die Erstrezension der Lieder op. 7 durch Emanuel Klitzsch in der Neuen ZeitschriflfiirMusik (Jg. 28, 1848, S. 88) eine eher negative Tendenz, auch bei der soeben aufgeworfenen Frage nach dem Zusammenhang von literarischem und kompositorischem Rang in der Liedkunst (zit. nach Maurer 19941, S. 3f. des Vorworts): »Diese Lieder beurkunden tieferes, männlich-künstlerisches Streben.« Das »Streben« ist nach Meinung des Rezensenten von Erfolg gekrönt durch das »Fertige in der 280

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eigentlichen technischen Arbeit«, die »sichere Beherrschung des harmonischen Theils« und die »Eleganz der Begleitung«, auch dadurch, dass »der Geist, der dieselben«, also die Lieder, »beherrscht, ein durchaus edler« sei, »der den poetischen Kern der Gedichte, deren Wahl von feinem Geschmacke zeugt, zu erfassen strebt« - strebt! Dies offenbar ist der »männliche« Anteil des »Strebens«. Den anderen, wohl weiblichen Anteil zeigen zwei kritische Anmerkungen von Klitzsch, die eine Allgemeines, die andere Konkretes betreffend, erstere dabei von jener Unverbindichkeit, die uns auch aus heutigen Musikkritiken bestens bekannt ist und den individuellen Eindruck des Kritikers zum Urteil erhebt, ohne dass der Versuch gemacht würde, diesen Eindruck - falls dies überhaupt möglich ist - zu begründen: »Nur etwas vermissen wir dabei: nämlich die Empfindung, den Funken, der auch in der Seele des Andern zündet und ihn von der Wahrheit des Empfundenen überzeugt.« Das »Wir« bei Klitzsch soll offenbar kaschieren, dass es sich um die Meinung eines einzelnen Menschen handelt. Konkreter ist der Einspruch, dass Fanny Hensels Liedkunst »freilich hier und da den Charakter der Schwülstigkeit annimmt und den Gesang mehr untergeordnet erscheinen läßt.« Die »Schwülstigkeit« betrifft etwas unnormal Großes und Wucherndes, wie es noch heute im Wort Geschwulst gegenwärtig ist. Die Klavierbegleitung ist so gekennzeichnet, wenn auch nur »hier und da«, aber ganz gewiss in der zweiten Hälfte des Liedes. Das Argument stammt aus der Liedästhetik der Berliner Schule und hat sich immer schon gegen die Emanzipation der Klavierbegleitung im Kunstlied gerichtet, wie sie sich spätestens seit Schubert zeigte - zum Missfallen von Zelter und Goethe. Die Klavierbegleitung war es, die »mehr untergeordnet« sein sollte. Hier aber tritt sie nun gleichberechtigt neben den Gesang, um mit eigener Stimme den Text zu interpretieren.

Sonatensätze

Der Sonatenhauptsatz ist weder ein Fetisch noch ein Mythos. Vielmehr stellte er seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts flir alle Komponierenden eine Herausforderung dar, seit der Zeit also, als die sinfonische Musik auf den Plan trat. In großen Besetzungen wie in Sinfonie und KonSonatensätze

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eigentlichen technischen Arbeit«, die »sichere Beherrschung des harmonischen Theils« und die »Eleganz der Begleitung«, auch dadurch, dass »der Geist, der dieselben«, also die Lieder, »beherrscht, ein durchaus edler« sei, »der den poetischen Kern der Gedichte, deren Wahl von feinem Geschmacke zeugt, zu erfassen strebt« - strebt! Dies offenbar ist der »männliche« Anteil des »Strebens«. Den anderen, wohl weiblichen Anteil zeigen zwei kritische Anmerkungen von Klitzsch, die eine Allgemeines, die andere Konkretes betreffend, erstere dabei von jener Unverbindichkeit, die uns auch aus heutigen Musikkritiken bestens bekannt ist und den individuellen Eindruck des Kritikers zum Urteil erhebt, ohne dass der Versuch gemacht würde, diesen Eindruck - falls dies überhaupt möglich ist - zu begründen: »Nur etwas vermissen wir dabei: nämlich die Empfindung, den Funken, der auch in der Seele des Andern zündet und ihn von der Wahrheit des Empfundenen überzeugt.« Das »Wir« bei Klitzsch soll offenbar kaschieren, dass es sich um die Meinung eines einzelnen Menschen handelt. Konkreter ist der Einspruch, dass Fanny Hensels Liedkunst »freilich hier und da den Charakter der Schwülstigkeit annimmt und den Gesang mehr untergeordnet erscheinen läßt.« Die »Schwülstigkeit« betrifft etwas unnormal Großes und Wucherndes, wie es noch heute im Wort Geschwulst gegenwärtig ist. Die Klavierbegleitung ist so gekennzeichnet, wenn auch nur »hier und da«, aber ganz gewiss in der zweiten Hälfte des Liedes. Das Argument stammt aus der Liedästhetik der Berliner Schule und hat sich immer schon gegen die Emanzipation der Klavierbegleitung im Kunstlied gerichtet, wie sie sich spätestens seit Schubert zeigte - zum Missfallen von Zelter und Goethe. Die Klavierbegleitung war es, die »mehr untergeordnet« sein sollte. Hier aber tritt sie nun gleichberechtigt neben den Gesang, um mit eigener Stimme den Text zu interpretieren.

Sonatensätze

Der Sonatenhauptsatz ist weder ein Fetisch noch ein Mythos. Vielmehr stellte er seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts flir alle Komponierenden eine Herausforderung dar, seit der Zeit also, als die sinfonische Musik auf den Plan trat. In großen Besetzungen wie in Sinfonie und KonSonatensätze

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zert oder kleineren wie in Kammermusik und Sonate bestimmt die Sonatensatzanlage die für die neuartige Musik symptomatischen Sätze. Die übrigen Satzformen nach dem Schema von Variation, Rondo oder Menuett bzw. Scherzo mit eingelagertem Trio gehen aus der Musik der vorangegangenen Zeit in die drei- oder vierteiligen Satzzyklen ein. Zwar verdankt auch der Sonatensatz seine Gestalt älteren Vorbildern, doch macht ihn nun eine neuartige, musterhafte Ausprägung zum zentralen Ort des sinfonischen Geschehens. Eine Beobachtung der Verfahren, mit der sich Fanny Hensel dieser vorbildreichen Aufgabe stellt, geht weit hinaus über die Frage, wie sie einem Formalismus gerecht wird. Denn bis in die Zeit Beethovens handelt es sich keineswegs um das Erfüllen einer genauer vorgegebenen Norm. Fest steht nur die Anforderung, thematisches Material konzentriert zu behandeln sowie zur Satzmitte hin in eine andere Tonart als die Grundtonart auszuweichen, bei Dur-Sätzen in die Quinttonart, bei MollSätzen in die Paralleltonart. Weder besteht zunächst die Anforderung, beim Erreichen dieser Tonart ein zweites Thema erklingen zu lassen, wenn dies auch oft bei Mozart und Beethoven zu hören ist - Joseph Haydn kam häufig mit einem einzigen Thema aus -, noch herrscht die Vorstellung von einer Dreiteiligkeit von Exposition, Durchfuhrung und Reprise, diese als durchgehend in der Haupttonart verbleibende Rekapitulation der wesentlichen Expositionselemente. Die großen Kompositionslehrer vor und nach 1800, Heinrich Christoph Koch und Anton Reicha, gehen noch von einer großen Zweiteiligkeit aus, die die spätere Durchführung und Reprise zu einer Einheit ohne festgelegten Einschnitt zusammenfasst. Nicht umsonst spricht Reicha von der »grande coupe binaire«, um diesen wichtigen Satztyp der zeitgenössischen Musik zu bezeichnen (vgl. Heitmann 2004, Kap. II, speziell S. 79fF.). Der Sonatensatz ist in jener Zeit bis in die 1820er Jahre noch ein lebendiges System der Gestaltung der Teilabläufe und ihrer Aufgaben. Dies ändert sich allerdings in der Folgezeit und lässt die Werke gerade jener Komponisten und hier jener Komponistin besonders beobachtungs würdig erscheinen, welche in der Zeit des Uberganges zu einer Verfestigung des Sonatensatzes zum »Schul«-Schema entstanden sind (dazu Huber 1997, S. 94ff.). All das gilt ganz besonders für die Geschwister Mendelssohn, da zu ihrem Freundeskreise, dem »Rad«, deijenige gehörte, welcher wesentlich zu dieser Verfestigung beitrug, nämlich Adolf Bernhard Marx. Nicht erst seit 1837, als dessen Kompositionslehre zu erscheinen begann, sondern schon wesentlich früher werden die komponierenden Geschwister

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mit den »Regeln« fiir die Sonatenkomposition und so mit einem frühen Beispiel des musikalischen Akademismus vertraut gewesen sein - der übrigens auch das Komponieren von Fugen einschloss und folglich von Beispielen fantasievoller und »regel«-loser Fugenkomposition wie Bachs Kunst der Fuge als Muster für Anfanger abraten musste (vgl. Schleuning 1993, S. 247f.). Dass Ahnliches auch für die späteren Beethovenschen Sonaten gelten musste, versteht sich von selbst. (Die Lehre von der musikalischen Komposition, unveränderte dritte Auflage, Bd. III, 1857, S. 319; vgl. Nubbemeyer 1999, S. 93f.; dazu auch Huber 1997, S. 94). Vielleicht aber war Marx im persönlichen Gespräch der frühen Jahre flexibler als in seinen Schriften der späteren Jahre. Fanny Hensels gesamte Produktion an Sonatensätzen zu untersuchen, ist hier - auch aus Platzgründen - wenig sinnvoll, zumal es bereits wertvolle Vorarbeiten gibt (Huber: Anmerkungen, 1997; Nubbemeyer 1999). Die vier ausgewählten Beispiele zeichnen sich entweder durch Einmaligkeit oder durch abschließende Formulierung innerhalb einer Gattung aus und können auf Grund ihrer Entstehungsfolge vielleicht eine Entwicklung zeigen: Die Orchesterouvertüre C-Dur von 1832 (HU Nr. 265) sowie die Eingangssätze des Streichquartetts Es-Dur von 1834 (Nr. 277), der Klaviersonate g-Moll von 1843 (Nr. 395) und des Klaviertrios op. 11 (Nr. 465). Zu Mängeln bei der Orchestrierung der Ouvertüre (Ausgabe furore 1992, Elke Mascha Blankenburg) und zur Selbstkritik Fanny Hensels, was diese Großbesetzung betrifft, hat Gesine Schröder Einiges mitgeteilt (1999). Dergleichen von einer Klavierfassung in eine Orchesterpartitur zu übertragen - wie im Falle der ivmrf-Musik -, gehöre »unter die vielen Thaten, die ewig von mir ungethan bleiben werden«, so die Komponistin am 24. November 1843 an Franz Hauser (zit. nach Hellwig-Unruh: »Eigentlich sollte...« 1997, S. 109). Wie unternimmt es Fanny Hensel im Blick auf die Vorbilder des Bruders in der Gattung Ouvertüre, ihr traditionelles Maß auf die Großbesetzung zu übertragen? Es lässt sich nicht sagen, der Bruder habe sich in den bis dahin komponierten Orchesterouvertüren wie jenen zum Sommernachtstraum (1826), und - später überarbeitet - zur Fingais Höhle bzw. den Hebriden (1830), zu Meeresstille und glückliche Fahrt (1828) oder jener Trompetenouvertüre genannten (1826), was Tonartfolge oder Reprisenerwartung betrifft, wie ein treuer Normsklave verhalten. Der Schlussteil der Letztgenannten etwa nimmt einen Teil der ausgedehnten Durchfuhrung auf, Sonatensätze

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umrahmt von einem zweifachen Auftreten des zweiten Themas - auch nicht gerade das Übliche (zu den unterschiedelichen Fassungen vgl. Ausgabe Bärenreiter 2003, Christopher Hogwood). Insofern kann man zwar, das »Schema« im Kopf und die Noten vor Augen, von einer Reprise sprechen, da das erste Thema, klar akzentuiert, ebenso in der Haupttonart wieder eintritt wie das zweimalige zweite Thema. J e d o c h lässt der Höreindruck ebenso die Interpretation einer freien Gedankenfolge mit Wiederaufnahmen und Wiederholungen zu. Auch Fanny Hensels Ouvertüre ist zweifach zu betrachten. Einerseits: »Bei der Ouverture wurde dort [in der Durchfuhrung] der Seitensatz ausgespart, dafür seine Augmentation in der Reprise - kombiniert mit Motiven des Hauptgedankens - verarbeitet.« (Huber 1997, S. 97) Andererseits, diese Interpretation weiter ausführend: Der Ablauf erscheint höchst eigenwillig und setzt der Analyse nach dem »Schema« Einiges entgegen. Einer langsamen Einleitung und einer »normalen« Exposition mit Zweithemigkeit folgt die Durchführung mit g-Moll- und Es-Dur-Sequenzen. Ausschließlich Elemente des ersten Themas führen in vielteiliger und abwechslungsreicher Folge zu einer deutlich einsetzenden Reprise (T. 196), im G a n g zum zweiten T h e m a leicht gekürzt. Nun aber schließt sich ohne Vermittlung eine Uberlagerung der beiden Themenköpfe an, und eine zweite Durchführung folgt, diesmal fast ausschließlich dem zweiten T h e m a vorbehalten, sekundiert von einem neuartigen Triolenrhythmus und von einer längeren C o d a gefolgt. Dass die Möglichkeit von zwei Durchführungen nach Exposition und Reprise besteht, so dass statt einer Dreiteiligkeit eine übergreifende Zweiteiligkeit anzunehmen ist, weiß man seit dem Einleitungssatz von Beethovens Eroica. Dass aber dem nicht unüblichen »Verarbeiten« der beiden Themen nacheinander in der Durchführung wie in Beethovens Zweiter Sinfonie auch eine alternative Möglichkeit gegenüber steht, nämlich die Aufspaltung der beiden »Verarbeitungs«-Phasen auf die Folgeteile von Exposition und Reprise, scheint ein authentischer Einfall Fanny Hensels zu sein und ermöglicht wiederum die Interpretation des Satzes als zweiteilige Anlage mit räumlich geschiedenen Aufgabenfeldern. Es gibt nach dem zweiten Thema der Exposition nicht den üblichen Anhang mit Schlussgruppe oder ähnlichem, was auf das für eine Ouvertüre angemessene Ziel der Knappheit zurückzuführen sein kann, aber auch auf die Absicht, die thematisch und örtlich getrennte Doppeldurchführung deutlicher werden zu lassen. 284

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Dieses ungewöhnliche Verfahren wird man in den Sonatensätzen der Vorgänger, Zeitgenossen und Nachfolgern suchen müssen. Es ist ein Beispiel experimentellen Komponierens im Umgang mit den tradierten Mustern. Sollte etwa, wenn auch mit bescheidenen Mitteln, jedoch mit konsequentem Planungsmut, das Konzept des ersten Eroica-Satzes weitergedacht worden sein? Das Stück gehört zur Frühgeschichte der selbstständigen, opernfernen Konzertouvertüre nach Sonatensatzschema, als deren »Erfinder« Felix Mendelssohn Bartholdy gilt, welcher mit Werken dieser Art ohne programmatischen Inhalt - etwa der Trompetenouvertüre - nach Meinung Robert Schumanns die Krise der Sinfoniekomposition nach Beethoven durch eine vermittelnde Kleinversion wenn auch nicht behoben, so doch eines hoffnungslosen Ausgangs enthoben habe (vgl. Bärbel Pälker: Art. Ouvertüre, in: Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, hg. H. H. Eggebrecht, Wiesbaden 1971ff., vor allem S. llf.). Falls es ein solches Tränental der Sinfonie überhaupt gegeben haben sollte - wie auch später ein solches von der älteren Großmeister-Musikwissenschaft behauptetes zwischen Schumann und Brahms niemals existiert hat -, kann es nur ein gutes Jahrzehnt ausgemacht haben. Denn ab 1840 erlebt die Gattung einen erneuten Aufschwung. Was übrigens Kritik und Selbstkritik betrifft: Fanny Hensels Orchestersatz ist zwar einfach, aber keineswegs ungeschickt oder einfallslos, etwa was die Bläsereinwürfe während der - ersten - Durchfuhrung betrifft. Dieser sinfonische Erstling - so Gesine Schröder - vermittelt »eine Vorstellung davon, welcher Art die Partituren gewesen wären«, welche bei kompositorischer Kontinuität auf diesem Gebiet hätten entstehen können (1999, S. 166f.). Dass Fanny Hensel in diesem Fach weiter gedacht hat, lässt sich der Kritik von 1834 über des Bruders Melusine- Ouvertüre entnehmen (vgl. S. 172f.). Ihr Hinweis auf die vom Bruder selbst so oft gebrandmarkte leidige Modulation zur Nebentonart könnte Anlass für einen Vergleich der entsprechenden Passagen beider Ouvertüren sein. Nicht unerwähnt bleiben darf in diesem Zusammenhang dies: Zwei Jahre später als Fanny Hensel hat die französische Komponistin Louise Farrenc zwei solcher Konzertouvertüren komponiert (op. 23 und op. 24), perfekt in Formung und Instrumentation, unbegreiflicherweise ohne erkennbare Vorarbeiten, wenn auch mit Sicherheit in Kenntnis der Vorgänge in Deutschland (Kritische Ausgabe, Bd. 1/4, hg. von Christin Heitmann, Wilhelmshaven 2001).

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Fanny Hensels Streichquartett ist für die Besprechung von Sonatensätzen von besonderem Wert, nicht etwa weil es ein elaboriertes Beispiel dieser Art enthielte, sondern weil auch nicht ein einziger der vier Sätze nach diesem Muster geformt ist, nicht einmal der Eingangssatz, eine Tatsache, die fiir ein deutsches Kammermusikwerk des Jahres 1834 Aufsehen erregend genannt werden kann. Dies bedeutet keine Absage an das überkommene Ordnungsgerüst, da spätere Werke sich seiner wieder bedienen. Jedoch »zeigt dieses originelle, in der Form mehr aphoristische Streichquartett Fannys Spuren ihrer künstlerischen Vereinsamung, aber auch ihrer stilistischen Unabhängigkeit und Selbständigkeit.« (Dümling 1984, S. 71) Der Hinweis auf »Vereinsamung« als Beweggrund für den Sonatensatz-Verzicht scheint auf Lebenssituation und Stilentwicklung des späten Beethoven verweisen zu sollen, nicht ganz ohne Berechtigung, da die Komponistin nach Kritik des Bruders sich auf Entschuldigungen für ihre »weichliche Schreibart« und den Mangel am Durchhalten bei »längeren Sachen« zurückzieht - also vielleicht Sonatensätzen, wie Annegret Huber vermutet (1997) und zwar mit der Begründung, sie sei in »Beethovens letzter Zeit [...] stecken geblieben [...].« (Zit. hier S. 166) Gerade der Eingangssatz, dessen resignative, vielleicht klagende Anfangsgeste an Streichquartette wie Beethovens op. 74 oder des Bruders op. 12 und op. 13 gemahnt (1829, 1827), ist wie das ganze Quartett als Replik auf die letztgenannten Stücke interpretiert worden (Cadenbach 1999, S. 155fE; Nubbemeyer 1999, S. 105f.; Hellwig-Unruh 1999). Er hat den »vorgezeichneten Weg verlassen« (ebda., S. 140), indem er der tradierten Anforderung einer Sonaten-, zumindest sonatensatzartigen Eröffnung entsagt. Als schweifendes Grübeln über jene Anfangsgeste steht er in der Nähe der Gattung Fantasie und setzt damit ein deutliches Zeichen gegen die Anforderungen der hohen Tradition und für dasjenige, was im Urteil der Abgeklärten als hyperromantische Überspanntheit, als neuromantische Mode, eben zügellose Regelverachtung der Beethoven-Enthusiasten ä la Berlioz abgetan wurde, die in Paris und Berlin gerade das Unangepasste und Fantastische im Werk ihres Abgottes verehrten, in Berlin besonders vehement vertreten durch den von Robert Schumann gelobten Komponisten und Schriftsteller Hermann Hirschbach (vgl. Cadenbach 1999, S. 162f.). Felix Mendelssohn Bartholdy hat, die schwesterliche Partitur vor Augen, nicht nur allgemein »Respect vor der Form, und ordentlicher Arbeit« angemahnt (30. Januar 1835; zit. nach Klein 1997, S. 188). Er hat

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auch Einzelheiten benannt, die ihn am Werk der Schwester störten, und dadurch zweifellos dazu beigetragen, dass sie in ihrer Abhängigkeit von seinem Urteil eine Fortsetzung der Arbeit an größeren Gattungen vermied - schließlich hatte er ja auch an ihren geistlichen Kantaten aus den Vorjahren wenig Gutes erkennen können. »Willst du mir auch eine kleine Kritikerbemerkung erlauben, so betrifft sie die Schreibart des Ganzen und wenn Du willst, die Form. Ich möchte, daß Du mehr auf eine bestimmte Form, namentlich in der Modulation sähest - wenn solche Form zerschlagen werden kann, ist es freilich gut, aber dann muß der Inhalt sie von selbst zerschlagen, durch innere Nothwendigkeit, ohne das wird das Stück durch solche neue oder ungewöhnliche Wendung der Form und Modulation nur unbestimmter, zerfließt mehr. Ich habe denselben Fehler in manchen neuern Sachen an mir bemerkt, und habe deshalb gut reden, weiß nicht, ob ichs besser machen kann. Im ersten Stück [Satz], so lieb mirs sonst ist, habe ich dies schon damals in Berlin bemerkt, glaub' ich, doch fällt mirs auch in den andern auf. Um ein Beispiel zu geben, möchte ich nur eben die Themas und Schlüsse anfuhren, die sind eigentlich, bis auf das letzte Stück, in gar keiner Tonart, und wenn mir das auch z. B. im ersten nothwendig erscheinen könnte, so wird's doch zuviel, und eine Manier, wenns in den andern auch so kommt. Und Es ist beim ersten Stück nicht etwa der Anfang mit seinem Wanken zwischen esd[ur] und cmol, der das macht, denn der ist schön; aber die dann folgende Cadenz in fmol, und den Anfang der Achtel in fmol, und dann die Fermate in fmol, und die Bratsche (so gut sie auch ist) in fdur - die ich damit meine. Ebenso der Schluß des Scherzo, der auch eigentlich in keiner Tonart ist, und die Mitte und der darauf folgende Romanzenanfang ebenfalls, und die Mitte, die hin und her modulirt.«

Fragen an den Text: 1. Ist dies eine »kleine Kritikerbemerkung«? 2. Woher weiß der Bruder, dass keine »innere Nothwendigkeit« die äußere Form bestimmt hat? 3. Würde er mit der »inneren Nothwendigkeit« des Berlioz'schen Programms die äußere Form der Symphoniefantastique rechtfertigen können? 4. Warum nennt er nicht seine »neuern Sachen«, in denen er »denselben Fehler« gemacht hat? 5. Würde der Uberdruss auch dann bestehen, wenn die Schwester mehrfach statt in f-Moll in B-Dur kadenziert hätte, der »normalen« Quinttonart eines Sonatensatzes mit der Grundtonart Es-Dur? Es sind nicht so sehr die Themenbildungen, sondern die Tonartbewegungen, die dem Bruder Garant der »Form« sind, die seiner Auffassung

Sonatensätze

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nach von »ordentlicher Arbeit« zeugen. Deshalb ist für ihn das »hin und her«-Modulieren ohne feste Bezugspunkte, wie es sich seinem Hören darstellt, Hauptanlass für Kritik am Quartett. Die Schwester hatte »offenbar höchst aufmerksam auf den aktuellen Stand der neueren kompositorischen Errungenschaften [...]« reagiert (Huber 1997, S. 103). Dass sie gerade durch Maßnahmen der Tonartfolge ihrer Zeit vielleicht gar voraus sein könnte, mag der Bruder nicht haben erkennen können, vielleicht auch nicht wollen. Denn er musste ihre stilistischen Eigenheiten solchen der schon erwähnten hyperromantischen »Beethovener« zuordnen. Die Schwester war offenbar gerade dabei, aus der Art zu schlagen, wie man damals schon sagte. Diesen recht freien Abwandlungen des Sonatensatzmusters könnten noch weitere an die Seite gestellt werden in Werken, deren Titelwahl Sonata o Capriccio (1824, HU Nr. 113) und Sonata o Fantasia (1829, HU Nr. 238) ohnehin schon auf Normabweichungen hinweisen und ebenso »experimentellen Geist« erkennen lassen (vgl. Huber 1997, S. 98ff.). Die späteren Beispiele in der Klaviersonate g-Moll oder im Klaviertrio op. 11 fallen demgegenüber recht moderat aus. Dies als »Souveränität im Umgang mit dem Sonatenprinzip« zu interpretieren (ebda., S. 98), ist eine Möglichkeit, die einer anderen nicht widersprechen muss, nämlich jener, dass Fanny Hensel nun in den 1840er Jahren mit dem Blick auf Veröffentlichungen arbeitete und sich den Schritt ins Publikum nicht sogleich durch Experimentelles erschweren wollte. Ein Zeichen für eine allgemeinen Rückschritt ins »Normale« müsste darin nicht unbedingt gesehen werden. Für Letzteres spricht die bemerkenswerte Kürze der Klaviersonate g-Moll von 1843, die fast schon Sonatine wäre, wenn nicht ihre technischen Anforderungen und ihr teilweise recht heftiger Charakter dem entgegen stünden, was man sonst mit einer Sonatine verbindet. Der Eingangssatz ist von äußerster Knappheit, deutlich schon in der übergangslosen Folge der beiden Themen, beide erstaunlicherweise in der Grundtonart - es wirkt, als lasse die schnelle Folge keinen Raum für eine Modulation -, das zweite Thema anschließend nach d-Moll und esMoll ausweichend, ehe nach nur 44 Taten mit ces-Moll die Durchfuhrung anhebt - umgeschrieben als h-Moll (Huber 1999, S. 98). Die Reprise ab T. 74 lässt das erste Thema, wieder in g-Moll, anstatt wie anfangs auf dem Orgelpunkt G auf Orgelpunkt D erklingen, eine Maßnahme, die Beethovens Appassionata op. 57 nachgebildet sein könnte (vgl. ebda.), wie auch der Umgang mit der Tonalität des zweiten The288

Werkanalysen

mas als Adaption traditioneller Vorbilder erscheint. Begann es in der Exposition in g-Moll, so setzt es nun in G-Dur ein, holt also den in einem Mollsatz üblichen und anfangs vermiedenen Tongeschlechtswechsel nach, wenn auch in der Dur-Variante der Haupttonart, eine Konzession an die Forderung nach Tonarteinheit in der Reprise. Dies ist ein Umgang mit dem zweiten Thema, der jenem ähnelt, den wir aus Solokonzerten kennen: in der Orchesterexposition und in der Reprise in der Grundtonart, in der Soloexposition in der Nebentonart, in einem g-Moll-Konzert also einmal in g-Moll, dann in B-Dur, schließlich wiederum in g-Moll. Weiterhin scheint Hintergrund für dieses Vorgehen eine seit dem früheren 19. Jahrhundert verbreitete Praxis zu sein, die in Mollsätzen das Zurückweichen des zweiten Themas in die Grundtonart innerhalb der Reprise vermeidet und den Dur-Charakter aus der Exposition durch Tongeschlechtswechsel der Grundtonart erhält: in einem g-Moll-Satz also zunächst B-Dur, zum Ende hin dann G-dur, wenn auch nicht mit dem Ergebnis, dass der Satz so enden muss, sondern nach g-Moll zurückkehren kann, wie es auch in Fanny Hensels Sonate mit einer Art zusammenfassenden Coda der Fall ist. Das zweite Thema ist in diesem Satz Kristallisationspunkt abweichenden Umgangs mit der Sonatensatzform: Zunächst in der Grundtonart - wie in der ersten Exposition eines Solokonzertes -, zum Ende in deren Dur-Variante - wie in der modernen Sonatenreprise -, Darstellungsweisen, die zwei unterschiedlichen Gattungstraditionen entstammen und diese in einem kurzen Satz verknüpfen. Von der Chronologie des Hörens ausgehend, kann man mit Recht sagen, das zweite Thema wirke in der Reprise durch den Wechsel nach Dur »im Charakter >aufgehelltnöthige Consistenz< - eine bestimmte Qualität von motivischer Gegliedertheit bei innerem Zusammenhalt - gewonnen, die erlaubt, Motive mit subtilsten Techniken zu isolieren und zu modifizieren, um sie wieder zu ihrer thematischen Gestalt zusammenzuführen.« Dass sie motivisch auseinander entwickelt worden sind und so untereinander und mit den Themen der anderen Sätze verbunden sind, wurde bereits bei der Besprechung des Lied-Satzes erwähnt. Kommt all das einer Ausformung des Sonatensatzprinzips zu Gute? In bestimmter Hinsicht trifft dies zu, löst aber zugleich weiter gehende Gedanken aus: Durch die Abspaltungs-, Neubildungs- und Verknüpfungstechnik gewinnt der Satz an Ausdehnung. Denn die Ausformung der Motive, welche über die - ohnehin schon motivisch verwandten Hauptthemen hinaus zu eigenen Uberleitungs- und Anschlussgestalten fuhrt, ergibt eine weit dimensionierte Gedankenvielfalt, die die Möglichkeiten des Sonatensatzmusters im Sinne einer beziehungsreichen Erlebnislandschaft nutzt. Das Fragwürdige, was man am Sonatensatz wegen seiner festgelegten Wiederholungsfolge gleicher und ähnlicher Elemente bemängeln mag, tritt in Kurzsätzen wie dem der g-Moll-Sonate eher ins Bewusstsein als in großformatigen Sätzen, da hier die Wiederkehr nach längeren Strecken neu erscheinender Gestalten ein freudiges Erwarten oder Wiedererkennen herbei ruft. Sollte hierin ein Vorteil der Motivabspaltung und -erweiterung gesehen werden, so kann ein weiterer sich in einem zweiten Ergebnis zeigen, welches mehr intellektueller als psychischer Art ist: Offen gelegt wird, was in einem Thema steckt, was sich alles aus seinen Motiven machen lässt, wie sich kompositorische Arbeit und die von Hugo Riemann so genannte »musikalische Logik« bewähren, wie sich mithin jene Sentenz Hans Georg Nägelis von 1811 bewahrheitet, welche symptomatisch ist für die deutsche kompositorische Selbstsicht und Wertzumessung der gesamten Zeit seit dem 18. Jahrhundert, hier gemünzt auf Carl Philipp Emanuel Bach: »Er bedurfte, so zu sagen, eines Minimums an Materie, um ein Maximum von Geist zu offenbaren.« (Anrede an die schweizerische Musikgesellschaft bey Eröffnung ihrer Sitzung in Schafliausen\ in: Allgemeine Musikalische Zeitung, Jg. 13, Nr. 39-41, hier Nr. 40, 2. Oktober 1811, Sp. 666) Der »Geist« kann an den thematischen Kernen seine Macht entfalten und sich den staunenden Ohren, meistens nur den Augen, beweisen, es sei denn, die Komponierenden hätten angenommen, die Ohren teilten mittels eines unbewusst arbeitenden Motivfilters dem Gehirn die Ein290

Werkanalysen

heitsbotschaft mit. Eine Folge der Sentenz allerdings wäre, an manchem Werk Mängel zu behaupten: Hat sich in der g-Moll-Sonate der »Geist« verabschiedet, da sich doch aus dem zweiten Thema noch so viel hätte machen lassen? Zweifelsohne ist der erste Satz des Henselschen Klaviertrios - wie man damals sagte - ein wahres Meisterstück. Ob aber die untergründige motivische Verbindung der so unterschiedlich wirkenden Gestalten der Grund dafür ist oder die auf ihr ruhende Gefühlsart und -folge, bleibt unentschieden. Noch steht nämlich das Experiment aus, welches untersuchen sollte, ob ein Sonatensatz einen eben solchen Eindruck von Perfektion und Einheit hervorzurufen in der Lage ist, in dem zwischen den unterschiedlichen thematischen Gestalten auch nicht die geringste motivische Verbindung herzustellen ist. Oder ist es dann kein Sonatensatz mehr? Und wie sollte dann die Durchführung ihre Aufgabe erfüllen, es sei denn, diese würde darin bestehen, dass die Themen sich keinesfalls motivisch annähern dürfen? Ich empfehle eine solche praktische Überprüfung, bei der einige Schubertsche Sätze zu Grunde gelegt werden könnten, welche hin und wieder zumindest in die Nähe des Experimentes gelangen.

Klavierstücke

Nach den etwa 260 klavierbegleiteten Liedern bilden die Stücke für Klavier zu zwei Händen die zweitgrößte Werkgruppe mit - ja, mit wieviel Einzelstücken? Dass die Zahl nicht entsprechend deijenigen der Lieder anzugeben ist, liegt an mangelnder Klarheit darüber, was ein Klavierstück ist. Denn es ist kein eingeführter Gattungsterminus, sondern eine Wortprägung, mit deren Hilfe man bei der Erstellung von Werkverzeichnissen und -Übersichten Einzelsätze zusammenfassen kann, die nicht mit der Absicht von Zyklusbildungen entstanden sind. In Frage käme also ein einzelner Sonatensatz, aber nur dann, wenn er nicht der einzige vollendete Satz einer geplanten Sonate ist. Dann nämlich würde er den Sonatenfragmenten zugeordnet. Zur Verdeutlichung: Die terminologische Heimatlosigkeit solcher pianistischen Einzelsätze zeigt sich darin, dass es keine entsprechende Abteilung Orchesterstücke gibt, da es hier fest stehende Gattungsnamen gibt: Ouvertüre, Zwischenaktmusik, Finale, ja Klavierstücke

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heitsbotschaft mit. Eine Folge der Sentenz allerdings wäre, an manchem Werk Mängel zu behaupten: Hat sich in der g-Moll-Sonate der »Geist« verabschiedet, da sich doch aus dem zweiten Thema noch so viel hätte machen lassen? Zweifelsohne ist der erste Satz des Henselschen Klaviertrios - wie man damals sagte - ein wahres Meisterstück. Ob aber die untergründige motivische Verbindung der so unterschiedlich wirkenden Gestalten der Grund dafür ist oder die auf ihr ruhende Gefühlsart und -folge, bleibt unentschieden. Noch steht nämlich das Experiment aus, welches untersuchen sollte, ob ein Sonatensatz einen eben solchen Eindruck von Perfektion und Einheit hervorzurufen in der Lage ist, in dem zwischen den unterschiedlichen thematischen Gestalten auch nicht die geringste motivische Verbindung herzustellen ist. Oder ist es dann kein Sonatensatz mehr? Und wie sollte dann die Durchführung ihre Aufgabe erfüllen, es sei denn, diese würde darin bestehen, dass die Themen sich keinesfalls motivisch annähern dürfen? Ich empfehle eine solche praktische Überprüfung, bei der einige Schubertsche Sätze zu Grunde gelegt werden könnten, welche hin und wieder zumindest in die Nähe des Experimentes gelangen.

Klavierstücke

Nach den etwa 260 klavierbegleiteten Liedern bilden die Stücke für Klavier zu zwei Händen die zweitgrößte Werkgruppe mit - ja, mit wieviel Einzelstücken? Dass die Zahl nicht entsprechend deijenigen der Lieder anzugeben ist, liegt an mangelnder Klarheit darüber, was ein Klavierstück ist. Denn es ist kein eingeführter Gattungsterminus, sondern eine Wortprägung, mit deren Hilfe man bei der Erstellung von Werkverzeichnissen und -Übersichten Einzelsätze zusammenfassen kann, die nicht mit der Absicht von Zyklusbildungen entstanden sind. In Frage käme also ein einzelner Sonatensatz, aber nur dann, wenn er nicht der einzige vollendete Satz einer geplanten Sonate ist. Dann nämlich würde er den Sonatenfragmenten zugeordnet. Zur Verdeutlichung: Die terminologische Heimatlosigkeit solcher pianistischen Einzelsätze zeigt sich darin, dass es keine entsprechende Abteilung Orchesterstücke gibt, da es hier fest stehende Gattungsnamen gibt: Ouvertüre, Zwischenaktmusik, Finale, ja Klavierstücke

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sogar Fantasia für einen einzelnen Sinfoniesatz, so bei Sigismund Neukomm. Die sieben Sätze des Klavierbuches e-Moll von 1827 (HU Nr. 214) einzeln anzugeben, wäre demnach unrichtig, ebenso die zwölf Sätze, welche Fanny Hensel ab August 1841 mit Monatstiteln komponierte, um sie zu Weihnachten mit einer Widmung an ihren Ehemann unter den Gesamttitel Das Jahr. 12 Charakterstückefiir das Forte-Piano zusammen zu fassen. Jedoch tauchen im Werkverzeichnis (HU) neben dem Gesamttitel des Zyklus die zwölf Einzelsätze in der Systematik der Werke (S. 431fF.) getrennt auf, und zwar zweimal: einmal unter dem Obertitel Klavier 2hdg., dann noch einmal bei der Unterabteilung Klavierstücke, jeweils mit Hinweis auf den Gesamtzyklus und dessen Nummer (385). Grund dafür mag sein, dass die Sätze nicht einfach Fuga oder Toccata heißen wie im Klavierbuch, sondern - teilweise über die Monatsnamen hinaus - poetische Titel tragen, zugleich umfangreicher und musikalisch schwergewichtiger sind. Diese Inkonsequenz ist eine - wohl notwendige - Folge der Mühe, sich dem einmal eingeführten, wenig trennscharfen Begriffsapparat zu unterwerfen und zugleich das Auffinden der Einzelstücke zu erleichtern. Grund genug gäbe es, sich mit den beiden Zyklen intensiver zu beschäftigen, was hier aus Raumgründen unterbleibt. Jener von 1827 trifft das Vorbild Bach, nimmt man die Fuge aus, auf frappierende, aber gänzlich andere Weise als entsprechende Versuche des Bruders: Der erregte, fantastische Bach steht Modell, wie es in einigen seiner Toccaten- und Fantasiesätzen erscheint. Der JiZÄr-Zyklus dagegen ist eine Folge ausgedehnter, in der Erfindung ganz eigenständiger Monatstableaus, in der älteren Forschung als Reflex der Italienreise interpretiert (Weissweiler, Nubbemeyer, Toews, Rothenberg). Sieht man einmal davon ab, dass Fanny Hensel nur ein Jahr nach der Rückkehr aus Italien mit Sicherheit in ihrem Widmungsgedicht über »das spielende Bild des Jahres, des Flüchtigen« auf die Zeit im Süden hingewiesen hätte, wäre die Reise Thema der Sätze gewesen, so genügt ein einziges Argument von Gottfried Eberle, den Italienbezug zu Fall zu bringen (1987, S. 57): Von den zitierten Chorälen ist der erste, Christ ist erstanden, als Osterchoral dem Monat März zugeordnet. Jedoch fiel während des Rom-Aufenthaltes Ostern in den April. Ferner schreibt die Komponistin bereits am 29. Juli 1829 an ihren Bruder über gemeinsame Pläne mit ihrem Bräutigam: »Wie findest Du die 12 Monate, durch weibliche Köpfe repräsentiert, u. mit Liedern begleitet?« (W) Es ist also schon ein älteres Vorhaben, nun 292

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als Klavierzyklus realisiert. Auch dass der Januar zuletzt entstanden ist und mit einigen motivischen Merkmalen auf Späteres vorausweist (Eberle 1987, S. 58) und dass die einzelnen Sätze über die Monatsverbindung hinaus auch motivisch untereinander in Bezug stehen (Thorau 1999), spricht für eine weniger situativ, vielmehr langfristig geplante Konzeption, die nicht in Reiseerinnerungen aufgeht. Neben Details dieser Zyklen sind einige Einzelsätze zu besprechen, ausgewählt aus solchen zur Romreise, ob ohne poetische Titel oder mit solchen - etwa Abschied von Rom, Villa Mills -, und aus den anderen etwa einhundert zu Recht oder zu Unrecht so genannten Klavierstücken. Darunter sind auch jene 18 in den opera 2, 4/5, 6 und 8 als Lieder und Melodies veröffentlichten, die manches ältere Stück wieder aufgreifen. So taucht der September-Am Flusse aus dem Zyklus Das Jahr min als op. 2/2 auf, nur noch mit der alten Vortragsbezeichnung Andante con moto überschrieben. (Zum Problem allgemein Huber 2006, speziell zu diesem Stück Abschnitt 1.1.1; zur Titelwahl und zur Nähe eines Instrumental-Liedes zum Charakterstück bzw. zum Lied ohne Worte auch vgl. hier S. 259ff.) Dieses Stück in h-Moll, bewegt und ideenreich wie die anderen spät veröffentlichten Schwesterwerke, etwa jene zauberhaften aus op. 4/5, bezieht sich, wie der alte Untertitel ausweist, auf ein Gedicht von Goethe Am Flusse und nimmt in der Mittelstimmenmelodie der Außenteile sowie in der Oberstimmenmelodie des Mittelteils offenbar Bezug nicht nur auf den Inhalt, sondern auch auf Vers- und Strophenform des Gedichtes, wodurch - wie auch in vielen anderen Fallen - die Bezeichnung Lied nicht nur einfach eine Chiffre für Gesanglichkeit darstellt, sondern ganz unmittelbar Hinweis ist auf eine Kompositionsweise, welche die Struktur der poetischen Grundlage reflektiert und aufgreift, so dass das Henselsche Instrumentallied als Gattungspendant des Sprachgedichtes anzusehen ist (Huber 2006, Kap. 1.3 und Kap. II, auch zur Titelwahl). Daher liegt hier ein Spezifikum des Henselschen Klavierstückes vor, das von demjenigen abweicht, was Felix Mendelssohn Bartholdy veranlasste, seine Charakterstücke Lieder ohne Worte zu nennen. Die Vier Liederfiir das Pianoforte op. 8 in der modernen Ausgabe mit Lieder ohne Worte zu betiteln (fiirore 1989, hg. Eva Rieger), kann demnach in seiner Sinnwidrigkeit nur auf die Absicht zurückgehen, den brüderlichen Markentitel zum Absatz zu nutzen. Die Nr. 3 dieser Sammlung (HU Nr. 461) heißt Lied (Lenau), so dass auch hier einer sprachgenerierte Art der Form- und Melodiebildung zu vermuten ist. Eine Klavierstücke

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Untersuchung in Nachfolge von Annegret Huber wäre hier und in anderen Fallen lohnend. Goethes Gedicht Am Flusse lautet folgendermaßen: Verfließet, vielgeliebte Lieder; Zum Meere der Vergessenheit! Kein Knabe sing' entzückt euch wieder, Kein Mädchen in der Blütenzeit. Ihr sänget nur von meiner Lieben; Nun spricht sie meiner Treue Hohn. Ihr wart ins Wasser eingeschrieben; So fließt denn auch mit ihm davon.

Der Text bedenkt die Flüchtigkeit von Glück und Kunst. Seine Wahl könnte daraufhinweisen, dass die ursprüngliche Einordnung des Werkes zum Monat September vielleicht doch - zumindest in diesem Falle - auf die Italienreise gemünzt ist, welche gerade in diesem Monat des Jahre 1840 ein Ende nahm und immerwährende Wehmut über den Abschied auslöste. Solche Vermutungen kann die Veröffentlichung, wie sie uns in op. 2 begegnet, nicht erzeugen, da nichts mehr auf den Ursprung hinweist. Wehmut allerdings lässt sich nachfühlen, insbesondere wenn der Mittelteil erklingt. Er steht in es-Moll, einem umgeschriebenen dis-Moll, und geht mit einem verminderten Septakkord über G, also verkürzt Es79b, und dessen enharmonischer Umdeutung zu jenem über Ais, also verkürzt Fis79b, wieder in die - allerdings stark veränderte - Reprise des Anfangsteiles über. Dieser Mittelteil enthält eine Wendung, die mehr als eine Assoziation hervorbringt. Die vier Takte 37 bis 40 (vgl. Notenbeispiel 3) gleichen in Triolenbewegung, Harmonie- und Stimmenfolge jenen vier Takten ab Takt 15 aus dem Eröffnungssatz von Beethovens Klaviersonate quasi unafantasia op. 27 Nr. 2 doch sehr stark, vielleicht durch Zufall oder unbewusste Adaption, was jedoch zweifelhaft erscheint angesichts des reichen Beethovenrepertoires und -spiels der Komponistin, gerade auch was op. 27 Nr. 2 betrifft (vgl. Lambour 2001, 2005), und vergleichbarer Ubernahmen berühmter Vorbilder (vgl. Klein 2003, S. 186ff.), so von Schubert (Erlkönig in Der Fürst vom Berge; HU Nr. 359) oder von Spohr (s. u. Abschied von Rom). Da Beethovens Sonate 1829 in einer englischen Ausgabe wie selbstverständlich als »Beethoven's Moonlight Sonata« bezeichnet wurde, dürfte sie schon längere Zeit vorher in Deutschland unter diesem Titel für die Vermittlung von Schwermut und Trübnis bekannt und berühmt 294

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gewesen sein, auch bei den Mendelssohns. Falls tatsächlich der Abschied von Italien Auslöser des Klavierstückes gewesen sein sollte, könnten nicht nur das Goethesche Gedicht, sondern auch die Beethovensche cisMoll-Sonate hier ihren Einschlag gefunden haben. Nun zum Klavierstück Ponte Molle vom April 1840 (HU Nr. 352, Ausg. Breitkopf und Härtel, hg. Chr. Lambour), in der dritten Fassung flir Julius Elsasser von 1845 genannt Abschied von Rom (Ausg. Henle, hg. Fanny Kistner-Elvers; vgl. Klein 2003): Der ursprüngliche Titel bezieht sich auf die »milvische« Brücke, über die Romreisende aus dem Norden Rom betraten und verließen. Den Abschiedsgestus des Stückes unterstreicht ein Brief von Schwester Rebecka an Fanny Hensel vom 1. Mai 1844 anlässlich der Ausreise aus Rom: »Dein Stück >Ponte Molle< drückt alle die infamen Gefühle aus, die ich Dir nachfühle [...].« (Beginn des Stückes vgl. Notenbeispiel 4.) Eines der hervorstechenden Merkmale ist die Nähe der harmonische Einkleidung zum Wagnerschen »Tristan-Akkord«. Zu diesem Phänomen und seiner Antizipation sowie Rezeption gibt es neben der meterweiten älteren auch wieder neuere Literatur (Hartmuth Kinzler in Festschrift Walter Heise 2001, vgl. Sonntag 2001, und Reinald Ziegler in Festschrift Werner Braun 2001, vgl. Erfurt-Freund 2001). Klein (2003, S. 185ff.) weist auf eine Abschiedsszene aus der Oper DerAlchymistvon Louis Spohr hin (Kassel 1830), harmonisch und melodisch dem Klavierstück stark verwandt und Fanny Hensel wahrscheinlich bekannt durch den Klavierauszug (Berlin 1831) oder eine der PrivataufRihrungen bei Pauline Decker. Das Klavierstück enthält in der ersten Fassung den Zusatz Ach, wer bringt etc., mithin den Beginn von Goethes Gedicht Erster Verlust Ach, wer bringt die schönen Tage, Jene Tage der ersten Liebe, Ach, wer bringt nur eine Stunde Jener holden Zeit zurück [...]

Wobei auch hier wiederum - in Ubereinstimmung mit der These von Huber - festzustellen ist, dass »der Melodieanfang wie eine [...] Vertonung des Textes« erscheint (Klein 2003, S. 181). Das Stück hat - dem Trauercharakter zufolge - nicht jene Virtuosität, die anderen eigen ist in ihrer Nähe zu Chopins Etüden und zu den Klavierwerken von Moscheies, Kalkbrenner und Henselt (vgl. Cay 2002; zur Klaviertechnik Lambour 2001). Erstaunlich genug, dass sie nicht Klavierstücke

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berücksichtigt worden sind in einer neueren Gesamtübersicht der Klaviermusik des 19. Jahrhunderts (Edler 2004). Die zweite (Lied-)Vertonung des Textes (HU Nr. 95) wird bei de Vries 2001 mit Schuberts Version verglichen und in Fanny Hensels Originalschrift reproduziert. In einigen der Klavierstücke, aber auch in Sätzen aus den Zyklen zeigen sich Klangfolgen und Stimmführungen, die Fanny Hensels Selbständigkeit und ihre Unabhängigkeit von den kompositorischen Idealen ihres Bruders deutlich machen, der bestimmte Details im Klaviersatz seiner Schwester wohl kaum toleriert und als MissgrifFe aufgefasst haben dürfte. In der Tat finden sich hin und wieder Stellen von beträchtlicher Rohheit, bezieht man sie auf das, was als Wohlklang bezeichnet worden ist und oft auch weiterhin bezeichnet wird, so in drei Sätzen aus dem bereits erwähnten Klavierbuch, etwa in Takt 58-60 des Allegro di molto. Bemerkenswert ist die Hartnäckigkeit, mit der im Gegeneinander von Basschromatik und vermindertem Dreiklang der Mittelstimmen im jeweils ersten Triolenachtel immer wieder eis und dis und direkt danach d und eis aufeinander gehetzt werden (Notenberispiel 5). Auch in langsamem Tempo, wo die Dissonanzen deutlicher ins Ohr fallen als beim Vorüberrauschen im Allegro, fallt das Bestehen auf Härten auf, in Takt 17f. des Largo noch gefördert durch die große Spanne zwischen tiefem Bass und geringstimmigem hohen Register, welche die Anhänglichkeit Fanny Hensels an den späten Klavierstil Beethovens deutlich macht (Notenbeispiel 6). Solche Vorbilder dürften Fanny Hensel zu weiteren Rigorositäten ermutigt haben, etwa wenn sie den reinen Satz kontrapunktischen Künsten opfert, sogar bei Zweistimmigkeit: In Takt 30 der Toccata wird dem veränderten Teil des Fugenthemas (rechte Hand) im Bass die Umkehrung des Kontrapunktbeginnes aufgezwungen mit dem Ergebnis kaum kaschierter Oktavparallelen (Notenbeispiel 7). Unsauber, aber kühn und wild! Derartige Extravaganzen beschränken sich eher auf frühe und unveröffentlichte, also mehr private Stücke. Jedoch erscheinen auch in den späten Veröffentlichungen, von denen man eine besondere Rücksicht auf die scharfen Augen traditioneller Kritiker annehmen könnte, Eigenheiten, aber solche anderer Art, experimentelle Einfalle, was Harmonik und Teilfolge betrifft, die von der kompositorischen Sonderstellung Fanny Hensels zeugen. Ein Beispiel ist die Nr. 2 aus op. 8, auch wenn das Stück, erst 1850 veröffentlicht, vielleicht nicht in allen Details den letzten Willen der Komponistin wiedergibt (Notenbeispiel 8). 296

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Dieses kurze Andante con espressione in a-Moll aus der letzten Lebenszeit (HU Nr. 463) hat bereits mehrere Besprechungen erfahren, wobei die zwei im Folgenden erwähnten sich zu einem Vergleich zum Thema Musikalische Analyse eignen. Peter Rummenhöller (1999) hat auf den von Seufzerfiguren geprägten Charakter einer »Jeremiade« hingewiesen, auch auf das von Beethoven bekannte »Verfahren der Fortsetzung und Verdichtung« des thematischen Anfangskernes, und hat den zweiten Teil des 58taktigen Stückes ab Takt 33 als »veränderte Reprise« bezeichnet (S. 49f.). Erscheint so das Stück als eher ausgewogen, kaum außergewöhnlich, so vermittelt Ingeborg Pfingsten (1993) den Eindruck einer auf alle musikalischen Elemente sich erstreckenden Zerreißprobe. Ein Schwanken der Tonalität wird als der »negierte tonale Bezug, als letzte zu der Zeit denkbare Steigerung harmonischer Irritation« hervor gehoben, und die »kontrapunktischen Techniken«, bestehend in einer Gegeneinanderfuhrung der Anfangsmotivik, erscheinen »geradezu provokant«. Auch »syntaktische Regellosigkeit«, »harmonische Unstimmigkeit«, formales »Verwirrspiel« und das Vorenthalten einer echten Reprise ab Takt 33 gelten als Techniken, den »rein poetischen« Ton (Wackenroder) gemäß romantischer Musikästhetik zu treffen, »der Instrumentalmusik zur Abstraktion des Liedes werden ließ.« (S. 167f.; vgl. auch Huber 2006, S. 209ff.) Weit entfernt davon, die Wahrheit in der Mitte zu suchen oder die eine Interpretation als unaufmerksam, die andere als übertrieben abzutun, möchte ich eine in beiden Texten kaum beachtete Eigenheit der - sagen wir ruhig - Reprise erwähnen. Diese tritt, im Thema wie schon zu Beginn sich immer wieder nach C-Dur neigend, regelgerecht in a-Moll ein und nutzt in der Mittelstimme, wiederum wie zu Beginn, die kleine Sept g des »reinen« Moll, schön klingend zu dem neu zugesetzten Orgelpunkt e. Der Schluss der achttaktigen Melodie öffnet sich in drei Taktsequenzen, welche die Dur-Septakkorde auf D, E und Fis aufeinander folgen lassen. Das anschließende Zitat des Themenkopfes in h-Moll ab Takt 41 trägt die - entsprechende - kleine Sept a mit sich, unmittelbar nach dem Leitton ais im Bass, mit dem Effekt einer tief melancholischen Eintrübung, die an Brahms gemahnt, der dieses und andere Stücke Fanny Hensels gekannt haben dürfte. Der seltsame modulierende Geschiebe-Takt 45 im ambivalenten Gegeneinander von g und f zu gis und ais und mit Abschlussklang d-Moll fuhrt zum Themenkopf zurück. Dieser erklingt jetzt in B-Dur, worauf das Stück nach vermindertem Septakkord über dis mit dem gesamten Thema in a-Moll schließt. Insgesamt also die Neuerfindung einer Reprise, welche selbst dreiteilige Reprisengestalt in Kurzfassung annimmt.

Klavierstücke

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Nachdenklich stimmt das Künstliche und Gezwungene, mit dem im Mittelteil dieser Reprisenreprise die Tonarten h-Moll und B-Dur erreicht werden, beide der Grundtonart wahrlich nicht sehr nahe stehend, wie es etwa e-Moll, d-Moll oder die Dur-Tonarten auf C oder F gewesen wären. Man gewinnt den Eindruck, dass nach der harmonisch wenig ausschweifenden Strecke davor diese beiden Tonarten vor dem Abschluss unbedingt erreicht werden sollen, h und B. Schließt man die Ambivalenz der Themenharmonik zwischen a und C in die Beobachtung ein und überblickt den Gesamtbestand mit seinen Grundtönen H, B, A und C - Sollte etwa?

Kantaten:

Choleramusik

Der Entschluss von 1846, eigene Werke zu veröffentlichen, kann als Durchbruch gefeiert werden, aber auch tiefes Bedauern auslösen, denkt man an das Schicksal so vieler anderer Werke aus der Zeit davor. Denn das Veröffentlichungsverdikt, vom Bruder gestützt, hat in vielen Fallen dazu gefuhrt, dass Endfassungen, damit auch endgültige Gestaltungsentschlüsse nicht zustande gekommen sind. Schon die Unklarheit über den Titel des anstehenden Werkes zeigt dies. Heißt es einmal lapidar Choleramusik, so nennt Fanny Hensel es an anderer Stelle Cantate (nach Außiören der Cholera, 1831). Von den drei geistlichen Kantaten aus diesem Jahr ist es das umfangreichste und zugleich diskussionswürdigste, uraufgeführt am Geburtstag des Vaters im Dezember und wie die Schwesterwerke vielleicht als Zeugnis vom Neubeginn der Sonntagsmusiken zu verstehen. In ihrer Ursprungsgestalt besteht die Kantate aus dreizehn Nummern, besetzt mit Orchester, vier Gesangssolisten und achtstimmigem Chor, welcher teilweise große fugierte und choralbearbeitende Sätze zu bestreiten hat. Der Text ist von Fanny Hensel zusammen gestellt »nach Bildern der Bibel« bzw. »auf Worte aus der Bibel«, wie das Stück teilweise heute genannt wird. Partitur und Stimmen von der Hand der Komponistin sind erhalten, außerdem zwei Zusatz- oder Ersatzsätze, deren Entstehung wohl auf eine dem Einspruch des Bruders folgende oder trotzende Weiterarbeit zurück geht (vgl. S. 165). Sie lassen sich jedoch in dieser Funktion der Ursprungsgestalt nicht eindeutig zuordnen (dazu Huber 298

Werkanalysen

Nachdenklich stimmt das Künstliche und Gezwungene, mit dem im Mittelteil dieser Reprisenreprise die Tonarten h-Moll und B-Dur erreicht werden, beide der Grundtonart wahrlich nicht sehr nahe stehend, wie es etwa e-Moll, d-Moll oder die Dur-Tonarten auf C oder F gewesen wären. Man gewinnt den Eindruck, dass nach der harmonisch wenig ausschweifenden Strecke davor diese beiden Tonarten vor dem Abschluss unbedingt erreicht werden sollen, h und B. Schließt man die Ambivalenz der Themenharmonik zwischen a und C in die Beobachtung ein und überblickt den Gesamtbestand mit seinen Grundtönen H, B, A und C - Sollte etwa?

Kantaten:

Choleramusik

Der Entschluss von 1846, eigene Werke zu veröffentlichen, kann als Durchbruch gefeiert werden, aber auch tiefes Bedauern auslösen, denkt man an das Schicksal so vieler anderer Werke aus der Zeit davor. Denn das Veröffentlichungsverdikt, vom Bruder gestützt, hat in vielen Fallen dazu gefuhrt, dass Endfassungen, damit auch endgültige Gestaltungsentschlüsse nicht zustande gekommen sind. Schon die Unklarheit über den Titel des anstehenden Werkes zeigt dies. Heißt es einmal lapidar Choleramusik, so nennt Fanny Hensel es an anderer Stelle Cantate (nach Außiören der Cholera, 1831). Von den drei geistlichen Kantaten aus diesem Jahr ist es das umfangreichste und zugleich diskussionswürdigste, uraufgeführt am Geburtstag des Vaters im Dezember und wie die Schwesterwerke vielleicht als Zeugnis vom Neubeginn der Sonntagsmusiken zu verstehen. In ihrer Ursprungsgestalt besteht die Kantate aus dreizehn Nummern, besetzt mit Orchester, vier Gesangssolisten und achtstimmigem Chor, welcher teilweise große fugierte und choralbearbeitende Sätze zu bestreiten hat. Der Text ist von Fanny Hensel zusammen gestellt »nach Bildern der Bibel« bzw. »auf Worte aus der Bibel«, wie das Stück teilweise heute genannt wird. Partitur und Stimmen von der Hand der Komponistin sind erhalten, außerdem zwei Zusatz- oder Ersatzsätze, deren Entstehung wohl auf eine dem Einspruch des Bruders folgende oder trotzende Weiterarbeit zurück geht (vgl. S. 165). Sie lassen sich jedoch in dieser Funktion der Ursprungsgestalt nicht eindeutig zuordnen (dazu Huber 298

Werkanalysen

1997, S. 247fF.), was aber dennoch in der veröffentlichten Partitur des »Oratorium« genannten Werkes mit großer Unbefangenheit durch Einschöbe vorgenommen worden ist, ohne dass dieses Vorgehen begründet worden wäre. Daher ist die dortige Nummerierung unbrauchbar (furore-Verlag, fue 533, hg. Elke Mascha Blankenburg). In vielen Details sowie im Gesamtablauf von instrumentaler Introduktion, Rezitativen, Ariosi und Chören steht Fanny Hensel auf den ersten Blick »im Schatten Bachs als Lehrmeister, während sie vor allem in den Klavierwerken und den Liedern zu sich selbst gefunden hat« (Fontaine 1999, S. 215). So geht im Chor Nr. 6 das Zusammenspannen eines als cantus firmus gesungenen Chorals (»O Traurigkeit, o Herzeleid«) mit einem anders textierten Chor (»Gott, unser Schild, schaue doch, Herr, meine Zuversicht«) auf eine bei Bach recht häufig anzutreffende Technik zurück, wie man sie vom Eingangssatz der Matthäuspassion kennt oder wenn auch mit Solostimme statt Chor - vom vorletzten Satz des Actus tragicus (BWV 106), der Lieblingskantate der Mendelssohn Bartholdys seit frühen Jahren, gerade 1830 von Adolf Bernhard Marx veröffentlicht (vgl. Hinrichsen 1999, S. 219f.) Jedoch widerspricht auch manches dem Bachschen Vorbild: Es gibt in der gesamten Kantate keinen vierstimmigen Choralsatz mit Oberstimmenmelodie (Kantionalsatz), wie man ihn vom Ende vieler Bachscher Kantaten kennt und wie dergleichen zum Unterrichtskanon Zelters gehörte. Und es gibt nur eine einzige Arie (Tenor, Nr. 7), diese überdies offenbar Mozart nachgebildet (vgl. Hinrichsen 1997, S. 123), darüber hinaus vielleicht in der zu vermutenden späteren Überarbeitung zur Streichung und zum Ersatz durch ein Sopran-Arioso bestimmt (vgl. Huber 1997, S. 238f.). Manche satztechnische Einzelheit weist zwar auf Bach zurück, schon innerhalb der Introduktion: Repetierender Achtelbass und Oberstimmenparallelen im geraden Takt erinnern erneut an den Actus tragicus, die Tonart g-Moll und der anfangliche Orgelpunkt entsprechen dem Beginn der Johannespassion, von Fanny Hensel genau studiert (vgl. S. 115). Und die Art der Parallelbewegungen in den Oberstimmen in ihrem Gang durch die liegenden Klänge verweist auf die Instrumentalbegleitung des Schlusschores vom ersten Teil der Matthäuspassion (»O Mensch, bewein dein Sünde groß«). Jedoch: Bestimmte Klänge in den dreistimmigen Folgen der oberen Streicher haben mit Bach und seiner Klanglichkeit nichts zu tun, etwa übermäßige Quintsextakkorde, z. B. Takt 9f. es-g-b-cis mit Übergang zu

Kantaten:

Choleramusik

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D-Dur. Auch der voll besetzte, mottoartige Abschluss dieser Einleitung, wie eine Choralzeile wirkend, legt in seiner Funktion als voraus deutende Finalsteigerung keinen Vergleich zu Bach nahe, sondern zu Verfahren, die dem Bruder und anderen Vertretern zeitgenössischer Hinweis- und Final-Asthetik zur Verfugung standen. Er greift voraus auf den Abschlusschor Nr. 13, wo er in wenig geänderter Gestalt als Fugenthema erscheint zu dem Text: »Wir leiden um unserer Sünden willen.« Der Stilbruch in diesem ersten Chor zeugt nicht von der Absicht, Bach zu folgen, wenn nämlich »ein Abschnitt aus dem Kirchenstil herausfallt und den lyrischen Ton eines romantischen Chorliedes anschlägt.« (Fontaine 1999, S. 214) Zur Handlung, falls man den Gang der Dinge so bezeichnen mag: Die Menschen erleiden, da sie vom Glauben abgefallen sind, eine schwere Strafe, ein tödliches Strafgericht. Es ist nicht zu verhindern, auch nicht durch Klage und durch Anrufung Gottes, wie sie sich im erwähnten Chor Nr. 6 vereinen. Die folgende Arie Nr. 7, einziger Auftritt des Solo-Tenors, stellt die Stimme des leidenden und hilflosen Individuums dar. Ein Aufruf veranlasst die noch Lebenden, die Sterbenden zu trösten. Beide Gruppen werden im Trauerchor und im Chor der Seligen gegenüber gestellt, die einen mit dem Ausdruck des Jammers und der Bitte um Erbarmen für die Toten, die anderen in der Hoffnung auf Gnade beim Jüngsten Gericht. Die Bitte an Gott (Sopran), sich wieder mit den Menschen zu versöhnen, leitet die Wende ein. Der Bass begründet die Strafe mit der Liebe Gottes, fordert zur Buße auf, welche der Chor (Nr. 11) auch sogleich beginnt. Nun mehren sich die Stimmen, welche Hilfe und Nähe Gottes verkünden, zu Vertrauen aufrufen, ja die baldige Wiederkunft Gottes anzeigen, so dass allgemeiner Dank, Jubel und Lobpreis das Werk beschließen. Jeder unvoreingenommene Mensch wird in Verwunderung verfallen: Wie konnte eine derart kluge, aufgeklärte und gebildete Person wie Fanny Hensel dazu kommen, das Erlebnis einer Massenkrankheit mit dem Zeugnis einer so voraufklärerischen Ideologie zu beantworten? Der Generation und der Glaubenswelt Johann Sebastian Bachs wäre sie, auch in ihrer alttestamentarischen Härte, vielleicht selbstverständlich gewesen, da man es noch für gewiss hielt, auch Gewitter, Blitz und Donner stellten das Strafgericht Gottes dar. Man könnte auf den Gedanken verfallen, nicht nur stilistische Merkmale, sondern auch die Textwahl entsprächen der Absicht, der Person Bachs und seinen Uberzeugungen möglichst nahe zu kommen unter der Fragestellung: Wie hätte Bach text300

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lieh und musikalisch reagiert, wenn in Leipzig die Cholera ausgebrochen wäre? Erklärend für einen solchen ideologischen Rückfall könnten Informationen sein, wie sie jedes etwas umfangreichere Lexikon enthält: Die Massenkrankheit Cholera war im Orient weit verbreitet, trat auch in Russland auf, das enge Kontakte zu Preußen pflegte und auch im Bekanntenkreise Fanny Hensels vertreten war. Erstmals breitete sich die Epidemie von einem dieser Herde im Jahr der Komposition, 1831, in Mitteleuropa aus, so dass auch viele Berliner von ihr hingerafft wurden. Die Krankheit war neu und vollständig unbekannt. Erst sehr viel später wurde der Erreger von Robert Koch entdeckt (Ägypten 1889), und während weiterer Epidemien, so in Hamburg 1892 oder in Russland (Tschaikowski!), wurden die Übertragungswege durch unreines Wasser erkannt sowie die Notwendigkeit, der Krankheit durch verbesserte hygienische Verhältnisse in den großen Städten zu begegnen. Vielleicht sind die Mendelssohn Bartholdys nur verschont geblieben, weil sie an der Peripherie Berlins wohnten und mit dem Trink- und Abwasser der Großstadt nicht in Berührung kamen. Ohnehin verlief die Epidemie in Berlin entgegen den meisten Befürchtungen nicht als vollständige Katastrophe, wie Fanny Hensel in ihrem Tagebuch anmerkt mit dem abschließenden Satz: »[...] die Meisten hatten Ursach, Gott von Herzen zu danken. So auch wir.« (1. Januar 1832; Tb, S. 37) Die Cholera mit ihren schrecklichen Folgen brach als etwas Unbekanntes, Unbegreifliches und Unbehandelbares ein und erzeugte einen lähmenden Schock, lähmend auch für jedes logische Denken, jede Möglichkeit zu Erklärung oder Behandlung ausschließend. Es blieb, auch für Menschen, die wie Fanny Hensel über die modernsten medizinischen Verfahren informiert waren, nur Hilflosigkeit, Schrecken und Bitte um himmlische Hilfe, jene Haltungen, die die Kantate wiedergibt. Ein Gedanke wie jener, die Krankheit als göttliche Strafe zu verstehen, kann in einer derart verzweifelten Situation begreifbar werden. Es war ein Schrecken wie einst angesichts der Pest. Nicht umsonst heißt es heute noch: Ich wünsche dir Pest und Cholera an den Hals. Die Herkunft der Krankheit aus dem Orient wirft ein weiteres Licht auf die Kantate. Sie erscheint als erstes künstlerisches Symbol für die Risiken der Globalisierung. Die Faszination des Orients, speziell Vorderasiens, hat eine lange Geschichte, auch in musikalischer Hinsicht, wie die vielen Türken-Opern des 18. Jahrhunderts zeigen, wird aber zur Zeit Fanny Hensels in eine Realität der unmittelbaren Anschauung des

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gesamten orientalischen Raumes umgewandelt - nicht nur für Forscher und Abenteurer -, ohne dass die Gefahren des Kontaktes ins allgemeine Bewusstsein getreten zu sein scheinen. Einer der Auslöser für die Euphorie ist sicherlich Bonapartes reich dokumentierte, so genannte ägyptische Expedition von 1798/99. Die Begeisterung für den Orient, speziell für Ägypten, greift um sich, wiederum von Frankreich, aber auch England aus. Der Komponist Félicien David oder der Dichter Gustave Flaubert reisen, europamüde, 1832 und 1849, nach Ägypten, in das gelobte Land einer neuen, reinen Kultur, so auch jener Franzose, der, aus dem Orient zurück gekehrt, den Hensels 1840 in Neapel von den Wundern der fernen Weltgegend berichtet und Fanny Hensel derart überzeugt, dass sie sich sogleich von Venedig aus einschiffen will (vgl. S. 192f.). Doch sind es nicht allein Fernreisende, die die Möglichkeit der Infektion auslösen. Es gibt politische Ereignisse größeren Ausmaßes vor 1831, die den kulturellen Austausch und damit das Verbreitungsrisiko der Seuche fördern: 1827 besiegt eine englisch-französisch-russische Flotte im griechischen Unabhängigkeitskrieg die Flotte der Türken und Ägypter, worauf 1829 im Friedensvertrag Griechenland endlich unabhängig von der Türkei wird. (König von Griechenland wird Otto von Bayern.) 1831 gründet Frankreich die Fremdenlegion in Nordafrika. Der Ausbruch der Cholera 1831 ist für das Europa der Neuzeit der Beginn jener Verbreitung interkontinentaler Massenseuchen von Mensch und Tier, wie sie heute zur selbstverständlichen Begleiterscheinung der Globalisierung geworden sind in Gestalt von Vogelgrippe, Rinder- und Schweinepest oder AIDS. Gründe für Infektion und Ausbruch sind in vielen Fallen noch genau so rätselhaft wie einst im Falle der Cholera. Die Choleramusik gewinnt eine höchst aktuelle Bedeutung als frühe Reaktion auf diese aufkommende Bedrohung, verliert dadurch jenes Odium der Vergänglichkeit, das vielen so genannten Gelegenheitswerken zukommt, welche einem aktuellen Anlass entstammen und diesen auch noch im Titel hervorheben. Die anderen beiden Kantaten haben es für das verbreitete Verständnis von Kunsthöhe und Uberzeitlichkeit durch ihre Titel leichter: Hiob und Lobgesang.

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Chöre:

Nachtreigen

Fanny Hensel hat bei Planung und Durchfuhrung ihrer späten Veröffentlichungen vermutlich den Ubergang von Liedern und YAavier-Liedern zu größeren Besetzungen im Sinn gehabt. Op. 3, die Gartenlieder für gemischten vierstimmigen Chor von 1846, sind schon ein Hinweis darauf. Und es gibt Anzeichen, dass eine weitere Reihe aus den siebzehn Chorliedern des letzten Jahres zur Veröffentlichung anstanden, welche »über das hinausweisen, was der Bruder in diesem Genre veröffentlicht hatte.« (Gundlach 1999, S. 130) Die Nachfolge-Herausgeber haben mit oder ohne Kenntnis der Pläne der Komponistin einen solchen Weg mit dem Trio op. 11 (1850) erahnt. Es ist nicht auszuschließen, dass Fanny Hensel fiir das Weitere ihr Streichquartett oder noch Größeres zu veröffentlichen geplant hatte. Hätte vom älteren Bestand auch der Nachtreigenwon 1829 (HU Nr. 237) fiir achtstimmigen Chor dazu gehören können? Dieses Chorwerk ist zweifelsohne das gewichtigste von allen Chören, nicht nur im Vergleich zu den wenigen frühen Duetten, Terzetten und Quartetten - hervorzuheben das Fragment für vierstimmigen Männerchor Dem Unendlichen nach Klopstock von 1832 (HU Nr. 268; vgl. Schröder 2002, S. 60) -, sondern auch zu den in letzter Zeit hervorgebrachten Chorliedern. Der Nachtreigen steht in einer eigentümlich Spannung zwischen Qualität von Text und Musik, nicht etwa in einer Spannung, wie sie Zelter an Bachs Werken bedauerte - ein Missverständnis, denn Picanders Texte stehen durchaus auf der Höhe der Literatur seiner Zeit, mochten sie Zelter auch noch so abgeschmackt vorkommen -, sondern dadurch, dass der Dichter, Wilhelm Hensel, während der Brautzeit etwas geschrieben hatte, das zwar von Begeisterung und Uberschwang zeugt, über das sich jedoch mit Willi Gundlach sagen lässt: »Hensel sind auch bessere Verse als diese gelungen.« (1999, S. 125; Gundlach bezieht sich dabei auf einen anderen Text Hensels.) Der Text wird im Folgenden wiedergegeben nach Edition Carus-Verlag (hg. Ulrike Schadl), Wortwiederholungen der Komposition ausschließend, die von Wilhelm Hensel beabsichtigt sein mögen, sich aber als Dichterabsicht nicht erkennen lassen, da es kein Dichtungsmanskript gibt. Der Beginn gemahnt an Eichendorf£ und die Schlusszeilen scheinen Bezug zu nehmen auf jene des Beethovenschen Liederkreises An die ferne Geliebte op. 98: »und ein liebend Herz erreichet, was ein liebend Herz geweiht.«

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Nachtreigen

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(Allegro moderato, 4/4-Takt, E-Dur) Es rauschen die Bäume, es wallen die Düfte und zärtliche Lüfte umfangen die Träume mit bräutlichem Hauch. Wir wandeln und wallen in trautem Umringen, wir wallen und singen, wir wallen und singen und Echo tönt auch. Beseligend Schallen und Duften und Scheinen, o heiliges Einen, schließt dichter den Kreis, leis, leis. (T. 28: Allegro, 3/4-Takt, E-Dur) Hallo! So lustig schweift sich's durch Grün und Nacht. Hallo! Frisch wie die Luft der Gedanke, und froh mit dem singenden Vogel wacht der Mensch, entronnen der Schranke. Wie's scheinet und lacht. (T. 80: Meno mosso, 4/4-Takt, C-Dur) Still! Nicht die heil'ge Feier stören wollet mit dem lauten Ruf, lasset singen uns und hören, schaffen, wie Natur erschuf. Leise, weise, naht dem Kreise, kommt! Ja, wir kommen, überwunden durch der Ruhe heil'ge Macht. So bleibt friedlich uns verbunden, denn euch hat der Gott gebracht. (T. 144-201: Allegro, 4/4-Takt, E-Dur) Und gemeinsam sei empfunden, was der einzelne gedacht. N a c h Auskunft von Fanny Hensels Briefen an ihren Bruder (C, Nr. 22, 23 v o m 29. Juni und 1. Juli 1829) Hatte ihr Bräutigam ihr den Text zur Vertonung gegeben in der Hoffnung, dass diese »im Garten gesungen werden könnte [...].« Die Braut behauptete, der Text sei der L ä n g e wegen unkomponierbar, komponierte ihn j e d o c h ab d e m 29. Juni 1829 heimlich mit dem Ziel eines Geschenkes zum Geburtstag des Maler-Dichters a m 6. Juli, »Frauenchor u. M ä n n e r c h o r opponirend, dann beide zusammen.« Teil 1: Frauenchor, Teil 2: Männerchor, Teil 3: Zunächst »opponierend« g e m ä ß d e m Text, ab T. 109 gemeinsam, die unterschiedlichen Texte beibehaltend. In g e w o h n t e m Selbstzweifel: »Es wird nicht viel, aber es wird

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doch etwas, u. es fehlt nur noch das letzte Stück, woraus ich eine Art Fuge zu machen denke.« (Fortsetzung vgl. S. 122) Die Steigerungsanlage ist deutlich genug, zumal Teil 4, das »letzte Stück«, die Achtstimmigkeit fortsetzt, nun zu gleichem Text. Die Disposition des Chorsatzes ist äußerst geschickt, ob innerhalb der zwei Chorregister, ob bei ihrer schließlichen Vereinigung. Der Textbezug ist häufig mit harmonischen Mitteln erreicht, etwa beim zweiten Dreizeiler des ersten Teils. Im Unterschied zu der in dieser Hinsicht relativ friedfertigen Umgebung folgen sich hier zum Bild des Wandeins, Wallens und »trauten« Umringens recht schnell einige Klänge, deren Nachbildung an Klavier oder Gitarre die Besonderheit ihrer Aneinanderreihung deutlich werden lässt, auch ohne Melodie (die Buchstaben nach den Schrägstrichen bezeichnen die Basstöne): G, C56, a7, G 7 /D, C, F56, d7, fis° (der »Verminderte« fis-a-c-dis), E8 7'6b 5 (bei dem Doppelvorhalt also zunächst ein übermäßiger Dreiklang), G 8 7 ' 6 5, C, dann übermäßiger Quintsextakkord auf c (c-e-g-ais, »fehlender« Grundton fis), E / H und so weiter. Der Einladung des Textes, ein »Echo« zu komponieren, ist Fanny Hensel glücklicherweise nicht gefolgt, was ihre gestalterische Überlegenheit zeigt, den Bräutigam aber vielleicht geschmerzt hat. Zweifel löst die abschließende Klangfolge im Ubergang zu Teil 2 aus, nämlich E, E7, H7. Man sollte hoffen, dass hier ein Lesefehler vorliegt und der letzte Klang vor H 7 ein gis-Moll-Quartsextakkord war, dis'-gis'-h'-dis", was Dis7 und gis-Moll erwarten und das überraschend eintretende »Hallo!« mit einem mediantischen Sprung zu E-Dur umso strahlender erscheinen ließe. Der Schlussteil, »eine Art Fuge«, ist ein seltenes, prächtig klingendes Kunststück. Weder ist es eine strenge Chorfuge, wie wir sie teilweise von Bach, noch eine freiere, wie wir sie von Händel kennen, wenn es auch Händel darin folgt, in homophone Partien zu münden, hier - wie zu erwarten - immer dann, wenn in der Mitte und zum Ende die Gemeinsamkeit, welche der Text beschwört, nochmals besonders hervorgehoben werden soll. Anfangs vermutet man eine simultane Doppelfuge mit gleichzeitigem Eintritt von Thema und Gegenthema. Jedoch zeigt sich nach wenigen Takten ein freies Miteinander dieser Themen, das eine in Vierteln chromatisch absteigend, das andere ihm in Achtelgängen widersprechend und teilweise in Engführung gebracht. Recht selten für ein kontrapunktisches Stück ist wohl, selbst wenn es nur »eine Art Fuge« sein soll, dass nach dem homophonen Mittelabschnitt die beiden Themen sofort mit einem neuen, dritten gekoppelt werden, so dass man eine weitere Durchfuhrung dieser Thementrias in Engführungen, Umkehrungen

Chöre: Nachtreigen

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und neuartigen Kombinationen erwartet. Jedoch kommt das chromatische Thema danach nie mehr, das Achtelthema nur noch zweimal vor. Sie überlassen dem dritten Thema das Feld, so dass die Chance, auch kontrapunktisch werde »gemeinsam empfunden«, nicht genutzt ist. Stattdessen leitet bald das hüpfende Alternieren eines neuen Motives die groß angelegten Schlussklänge ein. Die Leichtigkeit, mit der hier den Vorgaben der Tradition, ihren Forderungen einer gewissen Strenge und Systematik widerstanden wird, zeigt sich auch im ersten Abschnitt dieses Teiles, wenn nämlich mitten in der Arbeit der Themen drei Stimmen in gemeinsamem Viertelrhythmus und ohne thematischen Zusammenhang singen »gemeinsam sei«, ohne dass diese überraschende Einblendung jemals wieder aufgegriffen würde. Die Klanglichkeit nimmt zuweilen in Akkordform und -folge etwas altertümelnde Züge an und weckt Erinnerungen an vorbachische Chormusik, wenn auch hier und da ein übermäßiger Dreiklang eingeflochten ist. Die Harmonik weicht nicht weit aus, im ersten polyphonen Abschnitt bis cis-Moll, im letzten bis C-Dur, während der homophone Mittelabschnitt in H-Dur steht. Der Satz ist voll-, selten aber wahrhaft achtstimmig, was den Komponisten aller Zeiten größte Mühe abverlangt hat, soweit sie Parallelenfehler vermeiden und mehr tun wollten, als die Stimmen in Drei- oder Vierklangsbrechungen auf- und abwandern zu lassen. Fanny Hensel geht hierbei recht frei mit Verdoppelungen in Oktaven um, ohne dass dabei ein System erkennbar wäre. Allerdings gibt es neben einigen Linien von Parallelflihrungen auch bemerkenswerte Einzelfalle dieser Art, so zweifach in Takt 149f. (Sopran I mit Tenor I sowie Alt II mit Tenor II), wo man nicht die Hand dafür ins Feuer legen möchte, dass Fanny Hensel bei ihrer geschwinden Art des Komponierens die Parallelen-»Fehler« bemerkt und geduldet hat, zumal beim ersten Paar die Parallele durch eine Verzierung des chromatischen Themas im Sopran entsteht und im Grunde gar nicht nötig war. Takt 159f. schreiten in einer Kadenz sogar die Außenstimmen in Oktavparallelen fort. Dies allerdings muss unbedingt beim Spiel auf dem Klavier bemerkt und geduldet worden sein, wiederum ein Zeichen für die Leichtigkeit im Umgang mit den überkommenen Regeln. Das ganze Stück ist ein Feuerwerk von Fantasie und ungewöhnlichen Einfällen. Nicht so sehr die Qualität des Textes wird Fanny Hensel davon abgehalten haben, an eine Veröffentlichung zu denken, mehr noch die Faktur der Musik, deren Abschlussteil zwar geeignet gewesen sein mochte für die teilweise professionellen Sänger und Sängerinnen, die sich an

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den Sonntagsmusiken beteiligten und Wilhelm Hensel am 6. Juli 1829 dieses Ständchen gebracht hatten, viel zu anspruchsvoll jedoch und in der Achtstimmigkeit zu schwer durchschau- und durchhörbar für jenes singende Publikum, welches sich in der Chorbewegung seit Zelter gebildet hatte und dessen Ideal jene feine, aber einfachere Satzart zu vier Stimmen geworden war, mit der der Bruder mit seinen seit 1838 erschienenen sechs Liedern für gemischten Chor op. 41, »im Freien zu singen«, berühmt geworden war. Diese Satzart prägt dann auch jene sechs Gartenlieder, welche Fanny Hensel sechs Jahre später als op. 3 veröffentlichte. Dreimal Eichendorff, je einmal Emanuel Geibel und Ludwig Uhland sind die Dichter und auch wieder Wilhelm Hensel mit dem Morgengruss (Nr. 4). Es ist, was die Anforderungen an die Singenden betrifft, das einfachste der sechs Chorlieder, läuft hurtig voran im 6/8-Takt, auftaktig in die Tonikaterz fis" springend, um in Achteln weiter zu hüpfen. Nein, der Text des Nachtreigens kann es doch nicht gewesen sein, der Fanny Hensel von dessen Veröffentlichung abgehalten hat. Ihr Mann ist seinem Ingenium treu geblieben, wie der Text des Morgengrusses zeigt (zit. Ausgabe furore, fiie 515). Schnell fliehen die Schatten der Nacht, hell blühen die Matten in Pracht, hoch rauschet der Wald in dem Glänze, still lauschet ihm heimlich die Pflanze im blütenverklärenden Tauen, wie selig den Morgen zu schauen. Was fehlt noch dem goldenen Raum? komm Liebchen, erfülle den Traum, mein Lied tönt in wonnigem Rauschen, o komm, wie die Blume zu lauschen, es will dich mein liebendes Sehnen, betauen mit seligen Tränen.

Man muss Fanny Hensel hohen Respekt erweisen dafür, dass sie, die doch die Qualität von Texten zu unterscheiden wusste, im Zweifelsfall die Liebe über die Kunsthöhe stellte.

Chöre: Nachtreigen

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TRIO

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Notenbeispiel ia: Klauiertrio op. n, Satz i: Beginn (Verlag Wollernveber)

Notenbeispiele

311

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Notenbeispiel ib: Klaviertrio op. n, Satz j: Beginn (Verlag Wollenweber)

312

Anhang

Notenbeispiel 2: Lied »Nachtwanderer« (Verlag Breithrpfund Härtel)

Notenbeispiele

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314

Anhang

Notenbeispiele

315

Notenbeispiel 3: Aus »September - Am Flusse« des Klavierzyklus »Das Jahr« (Verlag fiirore)

Ponte

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Andante con espressione

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Notenbeispiel 4: Beginn des Klavierstückes »Ponte Molle« (»Abschied von Rom«) (Verlag Breitkopfund Härtel)

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Anhang

58

IPPP^ Notenbeispiel 5: Aus »Allegm di molto« (»Klavierbuch«) (Verlag Breitkopfund Härtel)

Notenbeispiel 6: Aus »Largo« (»Klavierbuch«)

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Notenbeispiel 7: Aus »Toccata« (»Klavierbuch«)

Notenbeispiele

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318

Anhang

Notenbeispiele

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