Fachkulturen in der Lehrerbildung weiterdenken [1 ed.] 9783737014342, 9783847114345


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Fachkulturen in der Lehrerbildung weiterdenken [1 ed.]
 9783737014342, 9783847114345

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Wissenschaft und Lehrerbildung

Band 8

Herausgegeben von Peter Geiss und Roland Ißler

Roland Ißler / Rainer Kaenders / Stephan Stomporowski (Hg.)

Fachkulturen in der Lehrerbildung weiterdenken

Mit 38 Abbildungen

V&R unipress Bonn University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Veröffentlichungen der Bonn University Press erscheinen bei V&R unipress. © 2022 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Rainer Kaenders, Bearbeitung: Malte Ißler. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2511-5731 ISBN 978-3-7370-1434-2

Inhalt

Yvonne Gebauer 10 Jahre Wiedereinführung der Lehrerausbildung an der Universität zu Bonn. Grußwort der Ministerin für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Erster Teil: Einführung Roland Ißler / Rainer Kaenders / Stephan Stomporowski In ständiger Bewegung: Zum Jubiläum der Lehrerbildung an der Universität Bonn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Jürgen Fohrmann Die Wiedereinführung der Lehrerbildung in Bonn zum Wintersemester 2011/12 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zweiter Teil: Fachkulturen der Bonner Lehrerbildung BIOLOGIE Jonathan Hense / Annette Scheersoi Naturbeziehung und Nachhaltigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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DEUTSCH Claudia Wich-Reif Wahrnehmen – Reflektieren – Bewerten: Sprachliche Variation in der Sekundarstufe aus linguistischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . .

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ENGLISCH Imke Lichterfeld / Philipp Reul / Daniel Schönbauer Lehramt Englisch: Synergien zwischen Fachdidaktik und Fachwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

EVANGELISCHE RELIGION Michael Meyer-Blanck Schlüssel zum gebildeten Wissen. Das Zusammenspiel von Fachwissenschaft, Fachdidaktik und Bildungswissenschaft aus Sicht der Fachdidaktik Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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FRANZÖSISCH Roland Ißler Keine Angst vor dem accent circonflexe! Zum fremdsprachendidaktischen Potential von Sprachgeschichte und Sprachwandelerscheinungen im Fach Französisch. Ein Plädoyer für die Einheit von Fachwissenschaft und Fachdidaktik in der universitären Lehrerbildung . . . . . . . . . . . . . . 105

GEOGRAPHIE Nils Thönnessen Die Geographie als Zukunftsfach verstehen und lehren lernen – Basiskonzepte als Grundlage der geographischen Fachkultur . . . . . . . 147

GESCHICHTE Peter Geiss Gehört Karl Poppers Falsifikationsprinzip in den Geschichtsunterricht? Zur Einordnung eines Schulfaches zwischen Geisteswissenschaften und empirischen Disziplinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

ERNÄHRUNGS- UND HAUSWIRTSCHAFTSWISSENSCHAFTEN & AGRARWISSENSCHAFTEN Ruben Rapske Nachhaltigkeit und berufswissenschaftliche Forschung als Grundlagen einer gemeinsamen Entwicklungsperspektive für die Berufsfelddidaktik Ernährungs- und Hauswirtschaftswissenschaften sowie Agrarwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

INFORMATIK Dieter Engbring Informatik – überschätzt und unterschätzt als Schlüssel zum Verstehen der digital vernetzten Welt oder: Von der Grausamkeit, wirklich Informatik zu unterrichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

Inhalt

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KATHOLISCHE RELIGION Bert Roebben Religionsunterricht? Systemrelevant! Generative Themen im aktuellen religionsdidaktischen Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

LATEIN & GRIECHISCH Melchior Klassen / Gernot Michael Müller / Adrian Weiß Antike Sprachwelten zwischen Schule und Universität. Die Bonner Lehrerbildung in den Fächern Griechisch und Latein im Lichte der Funktion und Geschichte des altsprachlichen Unterrichts . . . . . . . . . 247

MATHEMATIK Ysette Weiss / Rainer Kaenders Meine beste Schülerin, mein bester Schüler . . . . . . . . . . . . . . . . . 269

PHILOSOPHIE Roland W. Henke Das Fach Praktische Philosophie als Herausforderung für die Lehrer*innenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301

PHYSIK Jan Heysel / Thomas Hildebrand / Ulrich Blum Lehramtsstudium Physik: Herausforderungen und Perspektiven zur Gestaltung von Studiengang und Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325

ROMANISTIK Sarah Dietrich-Grappin Zur Fachkultur und Fachspezifik romanistischer Lehrerbildung und Professionsforschung. Versuch einer Bestandsaufnahme im Sinne reflexiver Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339

Dritter Teil: Bildungswissenschaften der Bonner Lehrerbildung Volker Ladenthin Was ist die richtige Pädagogik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Jutta Standop Digitale Medien in der Schule – komplexe Anforderungen durch ein komplexes Leitmedium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395

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Inhalt

Stephan Stomporowski Berufspädagogik in Zeiten des Klimawandels . . . . . . . . . . . . . . . . 423 Andreas Gelhard Die Kunst des Urteilens. Über Hannah Arendts Vortrag ›Die Krise in der Erziehung‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 Joanna Chlebnikow / Anke Backhaus Fachkulturen = Sprachkulturen: Fachspezifisch differenzieren im Bonner Modul »Deutsch für Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte« durch Blended Learning . . . . . . . . . . . . . 469 Udo Käser Bonner Lehrerbildung 2022+ oder: Wie sind wir aufgestellt für eine Lehrerbildung nach der Pandemie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 Bernhard Schmalenbach Ästhetische Praxis für die Lehrer*innenbildung. Ein Vorschlag zur Gestaltung der kommenden zehn Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501

Vierter Teil: Gäste der Bonner Lehrerbildung Daniel Scholl Die Komplexität der beruflichen Aufgaben von Lehrerinnen und Lehrern als Herausforderung für die Kompetenzförderung – Zur Kooperation und Kollaboration als Zukunftschance der Lehrerinnen- und Lehrerbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 Thomas Mikhail Kultivierung einer pädagogischen Denkungsart im Lehramtsstudium. Zum Konzept »pädagogischer Handlungsqualität« . . . . . . . . . . . . . 547 Kerstin Helker Das Konzept »Herausforderungen« als Training in Ungewissheit – Zukunftsperspektiven für die Schulpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 583 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589

Yvonne Gebauer

10 Jahre Wiedereinführung der Lehrerausbildung an der Universität zu Bonn. Grußwort der Ministerin für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen

Sehr geehrte Damen und Herren, die Lehrerbildung an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn ist für unser Bundesland von großer Bedeutung und in vielerlei Hinsicht etwas Besonderes. Denn einerseits verbinden sich mit der Bonner Lehrerbildung klangvolle Namen der geisteswissenschaftlichen Pädagogik wie Theodor Litt oder Josef Derbolav. Zeigen sie doch, dass die Bonner Universität auch aus heutiger Sicht Tradition und Innovation immer gleichermaßen miteinander verbunden hat. Andererseits musste das Land Nordrhein-Westfalen ab dem Jahr 2002 zeitweise auf in Bonn ausgebildete Nachwuchslehrkräfte verzichten – aus heutiger Sicht ein großer Fehler. Doch wie passen beide Aspekte zusammen? Mir scheint nach einem Blick in diese Festschrift, aber auch in den Vorgängerband aus dem Jahr 2016, ein Eindruck ganz wesentlich: Die Bonner Universität und ihre Aufgabe der Lehrerbildung sind vor allen Dingen durch eine spannende und spannungsreiche Verbindung gekennzeichnet. So zeigt die Geschichte in Schlaglichtern, dass die Bonner Universität in Fragen der Lehrerbildung auf unterschiedlichen Ebenen immer eine starke Innovationskraft entfaltet hat. Der grundständigen traditionellen Ausbildung von Griechischund Lateinlehrkräften nach 1818 folgten nach dem 19. Jahrhundert und zwei geschichtlichen, menschenverachtenden Katastrophen im 20. Jahrhundert neue wissenschaftliche und pädagogische Ideen mit Gründung der noch jungen Bundesrepublik. Welcher Ort war und ist besser geeignet als Bonn, um den angehenden Lehrkräften neben methodischem Wissen und pädagogischen Theorien auch die Voraussetzungen für ein eigenes »geschichtliches Standortbewusstsein« zu vermitteln? Lehrerinnen und Lehrer sollten unabhängig vom Fach als Kompass für Schülerinnen und Schüler dienen, um sich in der Welt zurechtzufinden – dieser Ansatz Theodor Litts ist auch aus heutiger Sicht ein moderner Ansatz der Demokratieerziehung und für verantwortungsbewusste Individualisierung.

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Grußwort der Ministerin für Schule und Bildung

Spannungsreich in anderer Hinsicht war auch der Abschied von der Lehrerausbildung im Jahre 2001 vor dem Hintergrund der neu eingeführten gestuften Ausbildung von angehenden Lehrkräften. Die Neueinrichtung der Lehrerbildung an der Universität Bonn im Jahr 2011, ein Jahrzehnt später, bot die Chance, neue Strukturen zu etablieren, Inhalte neu anzuordnen, Kooperationen zu entwickeln und Traditionen zu reflektieren. Aus heutiger Sicht, ein wirklicher Standortvorteil. So nahm man sich in Bonn mit der erstmals eingeführten Ausbildung von Lehrkräften an Berufskollegs einer Aufgabe an, die Theodor Litt mit Blick auf das Verhältnis zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung theoretisch zwar bereits beschrieben hatte, die er aber selbst als Ordinarius in Bonn in den Konsequenzen für die Lehrerbildung nie praktisch erlebte. Auch deshalb sind es heute spannende Zeiten. Ich freue mich, dass die Universität Bonn nun auf zehn spannende Jahre im Kontext der gestuften Lehrerausbildung nach der Bologna-Reform zurückblicken kann. Die Entscheidung zur (Wieder)-Einführung zeugt von Weitsicht und Innovationsbereitschaft, der Bonner Fähigkeit, Traditionen neu zu denken. Dieses Selbstverständnis verdient gerade heute in einer gesellschaftlich und politisch herausfordernden Gegenwart Respekt und Anerkennung. Für das Land Nordrhein-Westfalen ist es ein enormer Gewinn, wenn die herausragenden fachwissenschaftlichen Kompetenzen in Bonn auch künftigen Lehrerinnen und Lehrern und damit auch den Schulen zugutekommen. Die an den Lehrerberuf gerichteten Erwartungen erscheinen oft als unerfüllbar. Lehrkräfte sind heute mit sozialen, wirtschaftlichen, digitalen und gegenwärtig auch gesundheitlichen Fragestellungen und Umbrüchen konfrontiert. Die große Professionalität der ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrer mit ihrem umfassenden Handlungs- und Reflexionswissen sind wichtige Garanten für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Die Universität Bonn hat sich in Tradition und mit viel Innovation und aus Überzeugung erneut dieser wichtigen Aufgabe verschrieben. Auf diesem Weg wünsche ich weiterhin viel Erfolg. Ihre Yvonne Gebauer Ministerin für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen

Erster Teil: Einführung

Roland Ißler / Rainer Kaenders / Stephan Stomporowski

In ständiger Bewegung: Zum Jubiläum der Lehrerbildung an der Universität Bonn

Feiert die Bonner Lehrerbildung im Jahre 2021 tatsächlich ihr zehnjähriges Jubiläum? Das ist richtig und falsch zugleich, da es sich bei diesem Ereignis im Grunde um eine »Restauration« der Lehrerbildung am Standort Bonn handelt. Denn ihre Tradition greift auf einen wesentlich längeren Zeitraum zurück und findet ihren eigentlichen Ursprung bereits ein Jahr nach Gründung der Friedrich-WilhelmsUniversität Bonn im Jahre 1818.1 Schon im Sommersemester 1819 richtete die reformorientierte Bonner Universität Seminare für künftige Griechisch- und Lateinlehrer ein, die zuvor eine Aufnahmeprüfung bestehen mussten. Neusprachliche Lehrerseminare waren zu dieser Zeit noch nicht etabliert, weil sich der Fremdsprachenunterricht methodisch noch weitgehend an dem der klassischen Sprachen orientierte und die neuphilologischen Disziplinen im Geist der Romantik z. T. gerade erst im Begriff waren, sich herauszubilden.2 Ein ungewöhnliches Novum ergab sich auch durch die beiden Theologischen Fakultäten, die die Universität Bonn seit ihrer Gründung aufgrund des Prinzips der konfessionellen Parität unter ihrem Dach vereint;3 die theologische bzw. religionspädagogische Vermittlung, die hier noch heute einen hohen Stellenwert einnimmt, bildet eine be1 Dazu sei angemerkt, dass die Universität Bonn ihren heutigen Namen erst 1911 erhielt und zuvor untypisch für die Zeit als »preußische Rheinuniversität« bezeichnet wurde. Vgl. dazu: Becker, Thomas: Diversifizierung eines Modells? Friedrich-Wilhelms-Universitäten 1810, 1811, 1818, in: Müller-Luckner, Elisabeth (Hg.): Die Berliner Universität im Kontext der deutschen Universitätslandschaft nach 1800, um 1860 und um 1910, München 2010, S. 43–69. 2 Vgl. etwa am Beispiel der Romanischen Philologie ausführlich: Hirdt, Willi (Hg.): Romanistik. Eine Bonner Erfindung, 2 Bde., Bonn 1993. Schon in den ersten Semestern 1818/19 wurden von A. W. Schlegel Vorlesungen über die »Geschichte der schönen Litteratur [sic!] in Italien, Spanien, Frankreich und England« angekündigt, noch bevor F. Diez das Fach institutionalisierte; vgl. ebd., Bd. 1, S. 323. Exemplarische philologische Fachgeschichten und solche weiterer Disziplinen der Universität Bonn finden sich einzeln aufbereitet in: Baumann, Uwe / WichReif, Claudia: Die Philosophische Fakultät, in: Becker, Thomas / Rosin, Philip (Hg.): Die Buchwissenschaften. Geschichte der Universität Bonn, Bd. 3, Göttingen 2018, S. 473–783. 3 Vgl. dazu Becker, Thomas / Rosin, Philip: Die Universität Bonn und ihre Fakultäten in 200 Jahren, in: Dies. (Hg.): Die Buchwissenschaften. Geschichte der Universität Bonn, Bd. 3, S. 7– 14, hier S. 10.

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merkenswerte Kontinuität bis in die Zeit der Universitätsgründung. Eine Besonderheit stellt ferner das Bonner »Seminar für die gesamten Naturwissenschaften« dar, das sich ab 1825 vornehmlich an die künftigen Gymnasiallehrer wendete und »wo die Professoren zugleich Probeunterricht der Seminaristen im Bonner Gymnasium anleiteten«.4 Aufgeteilt in die Bereiche der zoologischen, botanischen, mineralogischen und chemischen Sektionen und untergebracht in den Räumen des Poppelsdorfer Schlosses, markiert es den Schritt zu den heute bekannten universitätseigenen Institutionen. Auch die Mathematiklehrerbildung gehörte von Beginn an dazu.5 Im Wintersemester 1866/67 erfolgte die Gründung des mathematischen Seminars, der eindringliche Appelle vorausgingen, zumal »der Mathematikunterricht auf den Gymnasien im Rheinland […] von sehr mittelmäßigem Niveau [sei], so daß Abiturienten mit dem Studienziel Mathematik ›in erschreckender Weise unwissend‹ seien«.6 Dabei sollte nicht unerwähnt bleiben, dass die Universität Bonn selbst aus einem Gymnasium hervorgegangen ist, das während der mehrjährigen Gründungsphase wiederholt die Gebäude für seine eigenen schulischen Zwecke nutzte. Es ist also eine bewegte und über zwei Jahrhunderte fortlaufende Historie, wenn von der Bonner Lehrerbildung die Rede ist.7

4 Schubring, Gert: Die Entwicklung des Mathematischen Seminars der Universität Bonn 1864– 1929, in: Jahresbericht des Deutschen Mathematischen Vereins 87 (1985), S. 139–163, hier S. 141. »Das Seminar wurde auf Drängen der Bonner Professoren G. Bischof (Chemie), C. G. Nees von Esenbeck (Naturgeschichte) und G. A. Goldfuß (Mineralogie) zur Verbesserung der Lehrerausbildung gegründet[.]« Ebd., S. 141. 5 Die ersten hierfür verantwortlichen Ordinarien waren K. D. von Münchow (auch Astronomie) und sein Nachfolger F. W. A. Argelander (ausschließlich Astronomie), W. A. Diesterweg (Elementargeometrie) bis 1835, dessen Nachfolger J. Plücker (auch Physik) bis zu dessen Tod 1868 sowie A. Beers von 1856 bis 1864. Eine entscheidende Rolle für die Lehrerbildung im Fach Mathematik spielte dann ab 1857 Rudolf Lipschitz. Vgl. ebd., S. 140–142. 6 Ebd., S. 143. 7 Die spannungsgeladene Chronik der Lehrerbildung in Bonn, ihrer Bedeutung für das preußische Bildungswesen und ihrer Entwicklung entlang der wechselvollen deutschen Geschichte, insbesondere der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, ist noch zu schreiben; vor allem die jüngere Entwicklung skizziert Udo Arnold: Die ehemalige Pädagogische Fakultät, in: Becker, Thomas / Rosin, Philip (Hg.): Die Natur- und Lebenswissenschaften. Geschichte der Universität Bonn, Bd. 4, Göttingen 2018, S. 605–627. Er weist gleichwohl darauf hin, »dass die Geschichte der Lehrerbildung in Bonn nicht in der Pädagogischen Fakultät und ihren Vorgängerinnen aufgeht.« Ebd., S. 605. Zur Gründungsgeschichte der Universität Bonn und Stationen ihrer Entwicklung in den ersten 200 Jahren mit Blick sowohl auf die historische Situation als auch auf die Fachgeschichte der einzelnen Fakultäten und Disziplinen vgl. ausführlich die vier Jubiläumsbände: Geppert, Dominik (Hg.): Preußens Rhein-Universität 1818–1918. Geschichte der Universität Bonn, Bd. 1, Göttingen 2018; Ders. (Hg.): Forschung und Lehre im Westen Deutschlands 1918–2018. Geschichte der Universität Bonn, Bd. 2, Göttingen 2018; Becker, Thomas / Rosin, Philip (Hg.): Die Buchwissenschaften. Geschichte der Universität Bonn, Bd. 3, Göttingen 2018; Dies. (Hg.): Die Natur- und Lebenswissenschaften. Geschichte der Universität Bonn, Bd. 4, Göttingen 2018.

In ständiger Bewegung: Zum Jubiläum der Lehrerbildung an der Universität Bonn

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So gehören auch Neugründungsphasen zu ihrem besonderen Merkmal, deren historische Anlässe einen aufschlussreichen Blick auf die zeitgeschichtlichen Bewegungen und bildungspolitischen Spannungsbögen der Bonner Lehrerbildung eröffnen. Eine solche Neugründung erlebte der Standort im Jahre 1947 mit der Einrichtung des Instituts für Erziehungswissenschaften. Als ihr Direktor und Ordinarius für Philosophie und Pädagogik konnte Theodor Litt (1880–1962), einer der bekanntesten und einflussreichsten deutschen Bildungstheoretiker, gewonnen werden, der damit zugleich an seine alte Wirkungsstätte zurückkehrte. Denn hier hatte er selbst 1904 mit einer altphilologischen, lateinisch geschriebenen Dissertation über die Fastenbücher der römischen Dichter Marcus Verrius Flaccus und Cornelius Labeo sein Studium abgeschlossen.8 Seine Berufung stand für den pädagogischen Aufbruch in ein neues Zeitalter der Demokratie. Auf Theodor Litt folgte Josef Derbolav (1912–1987), der die betont bildungstheoretische und historische Traditionslinie innerhalb der Erziehungswissenschaften in Bonn fortführte – eine Historie, in der auch Volker Ladenthin steht, welcher in dieser Jubiläumsschrift seine Überlegungen zur ›richtigen Pädagogik‹ vorstellt. Mit ihm findet sich ein Zeitzeuge, der das überraschende Ende der Bonner Lehrerbildung im Jahre 2002 persönlich miterleben musste. Dieser Einschnitt wurde erst zum Wintersemester 2011/12 korrigiert, nachdem das Rektorat der Universität Bonn die Wiedereinführung des Lehramtsstudiums für Gymnasien, Gesamtschulen und nun auch erstmals für den Bereich der Berufskollegs beschloss. Darüber berichtet in diesem Band der damalige Rektor der Universität Bonn, Jürgen Fohrmann, dem an dieser Stelle großer Dank angesichts seiner persönlichen Bemühungen um die Wiedereinführung der Lehrerbildung gebührt. Mit der Gründung des ›Bonner Zentrums für Lehrerbildung‹ (BZL) und der Wiedereinrichtung von Professuren und Arbeitsgruppen zu den Fachdidaktiken erhält der Standort sein neues Gesicht, das mittlerweile selbst auf seine eigene zehnjährige Geschichte zurückblicken kann. Und wieder einmal war alles in Bewegung, mussten neue Strukturen geschaffen, etabliert oder auch restauriert werden. Hinzu kamen völlig neue Aufgaben wie z. B. die Einrichtung des Praxissemesters – Anforderungen, die wiederum selbst Anlässe waren, aus denen sich neue Kooperationen und Partnerschaften ergaben. Es begann eine Zeit der Ausdehnung, aber auch des (Neu-)Hineinwachsens in die alten Strukturen der Universität bei gleichzeitiger Etablierung des eigenen Professionsverständnisses. Mit den neuen Kolleginnen und Kollegen wachsen nunmehr seit 2011 die Fachkulturen der Bonner Lehrerbildung, die sich erstmals im gleichnamigen Eröffnungsband der vorliegenden Buchreihe präsentierten,9 8 Vgl. Litt, Theodor: De Verrii Flacci et Cornelii Labeonis fastorum libris, Bonn 1904. 9 Vgl. Geiss, Peter / Ißler, Roland / Kaenders, Rainer (Hg.): Fachkulturen in der Lehrerbildung, Göttingen 2016. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang auch die 2018 von Akteuren der

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und damit auch die Vielzahl an unterschiedlichen Forschungstätigkeiten. Zahlreiche Beispiele dafür finden sich auch in diesem Band. Ihr fachdisziplinäres Selbstverständnis wurde 2020 in ein eigenes Leitbild überführt.10 Hinzu kommen neue Kooperationen, vor allem mit den umliegenden Hochschulen und wissenschaftlichen Institutionen der rheinischen Region, aber auch weit darüber hinaus. Der knappe Abriss über die eigene Historie soll zeigen, dass Lehrerbildung (sowohl in ihrer fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen als auch in ihrer bildungswissenschaftlichen Dimension)11 immer ein Bemühen um die Wirksamkeit des eigenen Handlungsfeldes ist. Während sie als Institution mit ihrer breiten Fächerkultur in Bonn an vielen Fakultäten, Zentren und Instituten beheimatet ist und es ihr so gelingt, verschiedene Perspektiven zusammenzuführen und im wechselseitigen Dialog zu erweitern, sieht sie sich auf der anderen Seite gerade wegen dieser umfangreichen und wissenschaftlich vielfach fruchtbaren Anbindung vor der beständigen Herausforderung, ihr bildungsbezogenes Anliegen einer Vielzahl von Interessen und organisatorischen Strukturen gegenüber immer wieder neu zu erklären. Die Notwendigkeit der Erläuterung ihres umfassenden Aufgabengebietes findet sich allerdings auch angesichts eines Teils der Öffentlichkeit, der den Beruf der Lehrerin und des Lehrers zuweilen unterschätzt. Ein besonderes Ausrufezeichen zeigt sich in Zeiten der Corona-Krise. Denn nun, und wesentlich deutlicher vor Augen, werden den Schulen ganz grundsätzlich Höchstleistungen abverlangt: sei es ein digitaler Überflug bei einer nur gering ausgebauten Netzkultur, sei es die gleichbetonte, aber individuelle Förderung und Betreuung aller Schülerinnen und Schülern (oft auch der überforderten Eltern) oder ein selbstaufopfernder und womöglich auch selbstgefährdender Mut im Präsenzeinsatz der Schulwirklichkeit – mit und dann wieder ohne MundNasen-Schutzmaske, meist aber ohne Luftfilter, dafür in frisch-durchkühlten offenen Klassenräumen. Hinzu kommen Lebensberatung bei gesundheitlichen Gefährdungen sowie die aktive Mitwirkung an der gesellschaftlichen Transformation in Zeiten der Klimakrise – und dies stets auf höchstem wissenschaftli-

Bonner Lehrerbildung gestaltete Soirée anlässlich des 200jährigen Jubiläums der Universität Bonn über den Apfel als gemeinsamen Gegenstand einer Vielzahl von Fachkulturen, präsentiert aus der Perspektive der jeweiligen Disziplinen, mit zugehöriger Broschüre: Nachtsheim, Anna Katharina / Radvan, Florian / Reuschenbach, Julia / Steegers, Robert (Hg.): Äpfel und Erkenntnis: Wie der Apfel zum Unterrichtsgegenstand wird. Appetithappen aus der Bonner Lehrerbildung, Berlin 2022. 10 Bonner Zentrum für Lehrerbildung (BZL): Fachlich, Kooperativ, Nachhaltig: Lehrerbildung an der Universität Bonn. Leitbild. URL: https://www.bzl.uni-bonn.de/organisation/170706-lei tbild-lehrerbildung.pdf [Stand: 01. 12. 2021]. 11 Vgl. Geiss, Peter / Ißler, Roland / Kaenders, Rainer: Fachkulturen in der Lehrerbildung. Einleitung, in: Dies. (Hg.): Fachkulturen in der Lehrerbildung, Göttingen 2016, S. 11–17.

In ständiger Bewegung: Zum Jubiläum der Lehrerbildung an der Universität Bonn

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chem Niveau und nach Möglichkeit unter Berücksichtigung sämtlicher aktueller Forschungsbezüge. Es ist die Quadratur des Kreises, die seit jeher vom Lehrerberuf erwartet und die ihr als unwegsames Aufgabenfeld auch zugemutet wird. Und genau deshalb war der Schritt zur Wiedereinführung der Lehrerbildung am Standort Bonn politisch weitsichtig. Denn gerade jetzt, in Zeiten der sozialen und gesundheitlichen Krise sowie der wirtschafts-ökologischen und digitalen Umbrüche zeigt sich die Bedeutung gut ausgebildeter Lehrerinnen und Lehrer, deren wissenschaftliche Profession und praktische Handlungsfähigkeiten für den Zusammenhalt der Gesellschaft notwendige Voraussetzungen sind. Mit dieser Festschrift präsentiert sich die Bonner Lehrerbildung auszugsweise in all ihrem Facettenreichtum – in Fachkulturen, die sich fortlaufend weiterentwickeln.

Bibliographie Arnold, Udo: Die ehemalige Pädagogische Fakultät, in: Becker, Thomas / Rosin, Philip (Hg.): Die Natur- und Lebenswissenschaften. Geschichte der Universität Bonn, Bd. 4, Göttingen 2018, S. 605–627. Baumann, Uwe / Wich-Reif, Claudia: Die Philosophische Fakultät, in: Becker, Thomas / Rosin, Philip (Hg.): Die Buchwissenschaften. Geschichte der Universität Bonn, Bd. 3, Göttingen 2018, S. 473–783. Becker, Thomas: Diversifizierung eines Modells? Friedrich-Wilhelms-Universitäten 1810, 1811, 1818, in: Müller-Luckner, Elisabeth (Hg.): Die Berliner Universität im Kontext der deutschen Universitätslandschaft nach 1800, um 1860 und um 1910, München 2010, S. 43–69. Becker, Thomas / Rosin, Philip (Hg.): Die Buchwissenschaften. Geschichte der Universität Bonn, Bd. 3, Göttingen 2018. Becker, Thomas / Rosin, Philip (Hg.): Die Natur- und Lebenswissenschaften. Geschichte der Universität Bonn, Bd. 4, Göttingen 2018. Becker, Thomas / Rosin, Philip: Die Universität Bonn und ihre Fakultäten in 200 Jahren, in: Dies. (Hg.): Die Buchwissenschaften. Geschichte der Universität Bonn, Bd. 3, Göttingen 2018, S. 7–14. Bonner Zentrum für Lehrerbildung (BZL): Fachlich, Kooperativ, Nachhaltig: Lehrerbildung an der Universität Bonn. Leitbild. URL: https://www.bzl.uni-bonn.de/organisati on/170706-leitbild-lehrerbildung.pdf [Stand: 01. 12. 2021]. Geiss, Peter / Ißler, Roland / Kaenders, Rainer (Hg.): Fachkulturen in der Lehrerbildung, Göttingen 2016. Geppert, Dominik (Hg.): Preußens Rhein-Universität 1818–1918. Geschichte der Universität Bonn, Bd. 1, Göttingen 2018. Geppert, Dominik (Hg.): Forschung und Lehre im Westen Deutschlands 1918–2018. Geschichte der Universität Bonn, Bd. 2, Göttingen 2018. Hirdt, Willi (Hg.): Romanistik. Eine Bonner Erfindung, 2 Bde., Bonn 1993. Litt, Theodor: De Verrii Flacci et Cornelii Labeonis fastorum libris, Bonn 1904.

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Roland Ißler / Rainer Kaenders / Stephan Stomporowski

Nachtsheim, Anna Katharina / Radvan, Florian / Reuschenbach, Julia / Steegers, Robert (Hg.): Äpfel und Erkenntnis: Wie der Apfel zum Unterrichtsgegenstand wird. Appetithappen aus der Bonner Lehrerbildung, Berlin 2022. Schubring, Gert: Die Entwicklung des Mathematischen Seminars der Universität Bonn 1864–1929, in: Jahresbericht des Deutschen Mathematischen Vereins 87 (1985), S. 139– 163.

Jürgen Fohrmann

Die Wiedereinführung der Lehrerbildung in Bonn zum Wintersemester 2011/12

Nachdem die Lehrerbildung an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn im Jahr 2002 eingestellt wurde, beschließt das Bonner Rektorat die Wiedereinführung des Lehramtsstudiums für Gymnasien, Gesamtschulen und Berufskollegs ab dem Wintersemester 2011/12. Was verbirgt sich hinter diesem Satz? Vorausgegangen war eine Phase intensiver Gespräche zwischen dem Ministerium für Innovation, Wissenschaft, Forschung und Technologie, dem Ministerium für Schule und Weiterbildung und der Bonner Universität. Der Bonner Wiedereinstieg in die Lehramtsstudiengänge wurde im Rahmen des damals neuen Lehrerausbildungsgesetzes dann möglich. Bonn war fast das ganze 19. und 20. Jahrhundert in der Lehrerbildung für die Sekundarstufen I und II (in fast allen Schulfächern und mit hohen Absolventenzahlen) tätig. Die genauen Gründe für die Einstellung der Lehrerbildung im Jahr 2002 sind an dieser Stelle nicht zu erörtern. Es ging im Wesentlichen um ein sowohl inneruniversitäres Kräftemessen als auch um ein verfahrenes Spannungsgefüge zwischen unserer Universität und dem Land Nordrhein-Westfalen. Hervorgehoben werden soll – gerade weil dies kontraintuitiv erscheinen mag –, dass es die Landwirtschaftliche Fakultät der Bonner Universität war (die einzige in Nordrhein-Westfalen), die den Ausschlag für die Wiedereinführung des Lehramtsstudiums in Bonn gab. Das Land benötigte Lehrer für spezifische Fächer an Berufskollegs (Ernährungs- und Hauswirtschaftswissenschaft sowie Agrarwissenschaft), und so kamen die beiden oben genannten Ministerien u. a. auf mich als damaligen Dekan der Philosophischen Fakultät mit der Anfrage zu, ob wir uns die Ausbildung für das Lehramt an Berufskollegs in Bonn vorstellen könnten. Wir haben das bejaht, aber sogleich mit dem Junktim verbunden, das Lehramt dann doch wieder in voller Fächerbreite (zumindest für die Sekundarstufe II unter Einschluss der Ausbildung für Berufskollegs) zu restituieren. Die beiden Ministerien haben das schließlich akzeptiert, und ich konnte nach der Übernahme des Rektorenamts im Mai 2009 zusammen mit allen daran zu Beteiligenden mit ›voller Kraft voraus‹ auf dieses Ziel lossteuern.

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›Volle Kraft‹ ist mit Bedacht gewählt, denn die nötige ›Kraft‹ zur Wiedereinführung des Lehramts wurde zu einer wirklichen Herausforderung. Alle Fachdidaktiken (mit Ausnahme der in den Fachstudiengängen ihrer Fakultäten verwurzelten Professuren für Religionspädagogik) waren nach 2002 schrittweise in reine Wissenschaftsstellen umgewandelt worden und mussten genau wie die Bildungswissenschaften ergänzt werden, um den Anforderungen an ein wiedereinzuführendes Lehramt gerecht zu werden. Ebenso waren die institutionellen Voraussetzungen (Zentrum für Lehrerbildung) neu zu schaffen. Es war von Anfang an klar, dass dies nur durch ein hohes Engagement und durch die erneute Umwidmung bzw. auch Neuzuweisung von Stellen (Abordnungsstellen) möglich sein würde. Und dass wir ›klein‹ würden anfangen müssen, war die Grundbedingung. Insbesondere die Kapazität der Bildungswissenschaften, deren Veranstaltungen ja für alle Lehramtsstudierenden anteilig verpflichtend waren, bildeten das Nadelöhr, das die Zulassungszahlen regulierte. Inzwischen gibt es ja erfreulicherweise drei Professuren: eine Professur für Allgemeine und Systematische Pädagogik, eine Professur für Allgemeine Didaktik und Schulpädagogik und eine Professur für Erziehungswissenschaften mit Schwerpunkt Berufspädagogik. Aber dies war damals in diesem Umfang noch nicht der Fall. Auf einer Pressekonferenz am 2. Juli 2009 zur Wiederaufnahme des Lehramts habe ich ausgeführt: Sowohl der Wunsch, die Lehrerausbildung forschungsgeleitet zu betreiben, als auch die Notwendigkeit, mit den vorhandenen Ressourcen hauszuhalten, hat unseren Entschluss motiviert, mit einer überschaubaren Zahl von Studienanfängern zu starten. Wir werden 350 Studierende pro Jahr ins Lehramt einschreiben können und hätten damit bei einer Vollauslastung im Bachelor- und Masterstudiengang ›Lehramt‹ dann insgesamt etwa 1500 Lehramtsstudierende. Diese Zahl führt aber nicht zur Konzentration auf einige wenige Fächer mit dann ›Massenbetrieb‹, sondern verteilt sich auf über 30 Disziplinen, die als Erst- oder Zweitfächer in Bonn studiert werden können: von den ›klassischen Schulfächern‹ der Philosophischen und Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät über die Rechtskunde, Chinesisch oder Türkisch und die Ernährungswissenschaft in den Berufskollegs. Sechs Fakultäten werden sich am Lehramtsstudium beteiligen und ein Angebot bereitstellen, das so nur sehr selten zu haben ist. Die fachliche Breite und die beschränkte Zulassungszahl ermöglichen kleine Gruppengrößen und intensive Betreuungs- und Interaktionsverhältnisse zwischen Lehrenden und Lernenden.

Was davon inzwischen realisiert ist, noch realisiert werden soll oder zurzeit nicht realisiert werden kann, wäre Gegenstand eines separaten, weniger rückblickenden Beitrags. Betont sei hier nur, dass die Wiedereinführung des Lehramts in Bonn bis unmittelbar vor der Akkreditierung der Studiengänge noch in letzter Minute hätte scheitern können, weil prinzipielle Ressourcenzusagen nicht reibungslos in fristgerechte Entscheidungen umgesetzt wurden. Dass es dann doch noch gelungen ist, dass dieser Schritt ideell, mit Arbeitseinsatz und finanziell

Die Wiedereinführung der Lehrerbildung in Bonn zum Wintersemester 2011/12

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unterstützt wurde, dafür sei auch nach zehn Jahren dem damaligen (Mit-) Rektorat, dem Lehrkörper, der Verwaltung der Bonner Universität und den beteiligten Ministerien noch einmal ein herzlicher Dank gesagt. Warum haben wir uns damals entschlossen, diesen Kraftakt auf uns zu nehmen? Zu einer ersten Erläuterung zitiere ich noch einmal, weil sie dies bündig zusammenfasst, die Präambel unseres damaligen Antrags für die Einrichtung eines »Bonner Zentrums für Lehrerbildung« vom 06. 02. 2010: Präambel 2009 hat sich die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn entschlossen, die universitäre Ausbildung für das Lehramt an Gymnasien, Gesamtschulen und Berufskollegs wieder einzuführen. Leitend dafür war die Überzeugung, dass sich gerade eine Universität, die sich als international kooperierende Forschungseinrichtung versteht, in der Lehrerausbildung engagieren und auch auf diese Weise ihren Beitrag zu einem forschungsgeleiteten Bildungssystem erbringen sollte. Allerdings müssen hierfür sowohl die personellen (Fachdidaktiker, Bildungswissenschaftler) als auch die institutionellen Voraussetzungen in fast allen Fakultäten und den zentralen Organisationseinheiten neu geschaffen werden. Dem dient u. a. vorliegender Antrag auf Unterstützung bei der Einrichtung eines Bonner Zentrums für Lehrerbildung. Das Konzept eines Bonner Zentrums für Lehrerbildung beruht auf fünf Grundentscheidungen: Es geht erstens von einem Bildungsbegriff aus, der sowohl breit facettiert ist als auch die gesellschaftlichen Effekte von Bildung in den Blick nimmt. Auf diese Weise sollen möglichst viele Fächer in die ›Arbeit an Bildung‹ einbezogen werden. Es koordiniert zweitens eine breite Palette von Disziplinen, die in Bonn (und in den kooperierenden Einrichtungen) studiert werden können; es nutzt damit die Ressourcen einer ›Volluniversität‹. Es strebt drittens eine Verschränkung zwischen Bildungsforschung und praktischer Ausbildung an. Es will viertens eine enge Verzahnung zwischen Wissenschaft und Fachdidaktik sicherstellen. Es wird fünftens die Lehramtsausbildung mit Maßnahmen zur fachlichen und hochschuldidaktischen Weiterbildung und zur Personalentwicklung flankieren. Auf diese Weise soll die Lehrerbildung in Bonn sowohl in die wissenschaftliche Forschung einbezogen als auch von einem umfassenden Bildungskonzept geleitet werden.

Bestimmend für die Überlegungen zur Wiedereinführung der Lehrerbildung in Bonn war mithin die Überzeugung, dass Forschung und Ausbildung keinen Gegensatz darstellen, vielmehr in ihrem wechselseitigen Bezogensein zu begreifen sind. Die Notwendigkeit, Zusammenhänge nachvollziehbar zu vermit-

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Jürgen Fohrmann

teln, ist so zugleich ein Agens, Forschungsdesigns auf ihre innere Stimmigkeit zu befragen. Und in der Vermittlung, im Austausch der Positionen, im wechselseitigen Kommunikationsgeschehen des akademischen Unterrichts sollen sich idealerweise auch Impulse entfalten, die sowohl für die Lehrenden als auch die Lernenden von Bedeutung sein können. In meinem Fach, der deutschen Literaturwissenschaft, ist dies eine Conditio sine qua non. Die Bonner Universität hat sich immer schon – wie es im damaligen Leitbild hieß – »als international kooperierende Forschungsuniversität« verstanden, die um ›exzellente‹ Wissenschaft bemüht ist. Es ist daher von besonderer Bedeutung, dass von Anfang an international besonders herausgehobene Fächer der Bonner Universität das Lehramt und die in den Fachdidaktiken unterrichtenden Kolleginnen und Kollegen systematisch in das Fachwissenschaftsgeschehen einbezogen haben. Dies hatte seinerseits zur Voraussetzung, dass die Fachdidaktiken zwar als eigenständige Einheiten verstanden wurden, dass aber eine enge Verbindung zwischen Fachwissenschaft und Fachdidaktik geplant war – etwas, was sich auch in einem polyvalenten Bachelorstudium mit der Möglichkeit, sich nach der Bachelorphase noch für Lehramt oder Fachwissenschaft zu entscheiden, widerspiegeln sollte. Beides – Fachwissenschaft wie Fachdidaktik – sollte zudem über die engere Forschung hinaus in einem weiter gefassten Bildungskonzept verankert sein. Pädagogisch gewendet bedeutet dies: Es sollte besonderer Wert auf die Ausbildung partizipativer Fähigkeiten sowohl in den einzelnen Disziplinen als auch im weiteren gesellschaftlichen Gefüge gelegt werden. Weil wir gesellschaftliche Wesen sind, müssen das Erlernen und die Vermittlung von Wissen immer eingebettet sein in das Vermögen, ja in die Kunst der rechten Adressierung von Menschen in und für ihre sozialen Kontexte. In diesem Sinne sollte solche Bildung auch als Kernstück einer demokratischen Kultur verstanden werden. Diese Konzeption hatte auch konkrete, operative Dimensionen: Wir gingen davon aus – und dies hat sich ja auch bewahrheitet –, dass die Wiedereinführung des Lehramts für die Bonner Universität zu einer weiteren Intensivierung der Kontakte in die Region führt, Verbindungen zu Schulen und zu anderen Ausbildungsstätten knüpft und insgesamt wissenschaftlichen Transfer ermöglicht. Das sowohl fachwissenschaftlich ausgerichtete als auch zugleich praxisorientierte Lehramt sollte auch dazu beitragen, die Beziehungen zwischen Universität, öffentlichen Einrichtungen und Wirtschaft weiter zu vertiefen. Es ging auch um die Rekrutierung von interessierten Studierenden. Zwar hatte die Bonner Universität auch vor zehn Jahren schon einen hohen Anteil an internationalen Studierenden (damals etwa 14 Prozent). Allerdings war uns auch deutlich, dass – wie bei allen größeren sog. Volluniversitäten in Deutschland – etwa 60 Prozent aller Studierenden aus dem weiteren regionalen Umfeld kommen. Diese Gruppe sollte durch das Lehramt nun zusätzlich adressiert werden.

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Und ganz praktisch erhofften wir uns vom Lehramt auch einen verstärkten Zulauf zu den MINT-Fächern, in denen wir zu wenig Nachwuchs hatten. Für all dies war die sich anbahnende, sehr gute Zusammenarbeit mit den von Landesseite eingerichteten neuen »Zentren für schulpraktische Lehrerausbildung« von besonderer Bedeutung. Dass wir in diese Zusammenhänge auf unterschiedlichen Ebenen investiert haben, zeigt auch, dass die Bonner Universität die landesweite Koordination für die Entwicklung und Implementierung der Software für die Praxissemester-Verteilung erfolgreich übernommen hat. Es war eine ›Punktlandung‹, die den Einsatz erheblicher Ressourcen (menschlicher wie finanzieller) notwendig machte. Die Wiedereinführung des Lehramts war allerdings kein Solitär, sondern ein weiterer Baustein, der das oben genannte Ziel verfolgte, Wissenschaft in einem breiter gefassten Bildungskonzept so zu verankern, dass der Umgang mit Wissenschaft ein Dauerimpuls individueller Bildungslaufbahnen werden konnte. Es ging uns darum, der Öffentlichkeit Wissenschaftsangebote in Form einer Generationenkette zu machen: von den Kindern bis zum damaligen ›Seniorenstudium‹. Die Kinder, die Schülerinnen und Schüler sehr früh für Wissenschaft zu interessieren: Dies geschah bereits im Rahmen vieler Veranstaltungen, etwa für die Gruppe der 8- bis 12jährigen in der Kinder-Uni, der Schulphysik und Alltagschemie, dem Schülerportal in den Geowissenschaften, durch Institutsführungen u. a. Oder für die Gruppe der 13- bis 16jährigen zusätzlich zum schon Genannten durch die Wissenschaftsrallye, die Physikshow, den Matheclub, die Schülerforschungsgruppe Astronomie, durch Angebote aus Kliniken. Und schließlich für die Gruppe der über 16jährigen durch die sog. Schnupper-Uni, Taste-MINT für Mädchen, die Hans-Riegel-Fachpreise, das Programm »Fördern, Fordern, Forschen«, später die Ausrichtung der Vorentscheidungen für »Jugend forscht«. Teile davon sind inzwischen leicht modifiziert oder auch nur umbenannt worden, aber das Angebotsspektrum ist erhalten geblieben. Dazu traten dann spezifische Kooperationen mit einzelnen Schulen, die durch die Wiedereinführung des Lehramts gefestigt werden konnten. Auf diese Weise sollte es gelingen – und ist m. E. auch weitgehend gelungen –, die Universität Bonn in ein Netzwerk von Bezügen einzubauen, deren Effekte gar nicht hoch genug eingeschätzt werden können, auch wenn manches informell bleibt, ja bleiben muss. Es ging uns stets darum, einen Raum wechselseitiger gesellschaftlicher Ermöglichung nicht nur zu schaffen, sondern auch zu stabilisieren, und gerade hierfür war die Wiedereinführung des Lehramts ein ganz wichtiger Schritt. Insofern freue ich mich als ›Altrektor‹, dass das Lehramtsstudium in Bonn nun auf zehn Jahre Bestand zurückblicken kann und diesen Rückblick nutzt, um das zu tun, was immer zu tun ist: stets aufs Neue Perspektiven zu entwickeln.

Zweiter Teil: Fachkulturen der Bonner Lehrerbildung

BIOLOGIE

Jonathan Hense / Annette Scheersoi

Naturbeziehung und Nachhaltigkeit

1.

Biologische Bildung

Angesichts der komplexen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, wie Klimawandel und Biodiversitätskrise, sind wissenschaftliche biologische Kenntnisse unerlässlich, um informierte Entscheidungen treffen und diesen Herausforderungen entgegentreten zu können. Meist handelt es sich hierbei um sogenannte wicked problems,1 für die es aufgrund ihrer Komplexität keine einfache Lösung gibt. Das Wissen zu diesen Problemen ist häufig lückenhaft, teilweise sogar widersprüchlich, und sie sind meist mit anderen Herausforderungen mittelbar oder unmittelbar verknüpft – Klimawandel beispielsweise mit wirtschaftlichen und sozialen Problemen. Um ihnen adäquat begegnen zu können, reichen wissenschaftsbasierte Lösungen, die ›von oben‹ eingeführt oder verordnet werden, nicht aus. Die Beteiligung und das Engagement der breiten Bevölkerung sind zusätzlich notwendig, um solche komplexen Herausforderungen umfassend anzugehen. Ziel verschiedener Ansätze von Umweltbildung sowie der Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) ist es, Menschen zu befähigen, komplexe Situationen und Umweltveränderungen in wesentlichen Aspekten zu erfassen und zu bewerten, um mündige Entscheidungen im Hinblick auf ihr eigenes Leben und eine nachhaltige Ausrichtung treffen zu können.2 Es geht hierbei meist um Entscheidungen des täglichen Lebens, die beispielsweise mit Fragen der Ernährung, Gesundheit, des Konsum- und Freizeitverhaltens, mit Abfallvermeidung oder mit der Wahl geeigneter Transportmittel in Verbindung stehen. Bei solchen Entscheidungen spielen neben einem fachlichen Grundverständnis vor allem auch Interesse und die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit diesen Fragen 1 Rittel, Horst W.J. / Webber, Melvin M.: Dilemmas in a general theory of planning, in: Policy Sciences 4,2 (1973), S. 155–169. 2 Vgl. Gebhard, Ulrich / Scheersoi, Annette: Ökologie- und Naturbezüge in der Umweltbildung, in: Natur und Landschaft 95 (2020), S. 433–441.

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Jonathan Hense / Annette Scheersoi

eine entscheidende Rolle. Darüber hinaus beeinflussen persönliche Einstellungen und Werthaltungen sowie das empfundene Verhältnis zur Natur und zu den anderen Lebewesen das menschliche Verhalten.3 Eine umfassende biologische Bildung sollte sich entsprechend nicht nur auf die Übernahme von relevanten fachlichen Inhalten beschränken, sondern Menschen dazu anregen, über ihre Beziehungen zur Natur und über ihr eigenes Leben, ihre Ziele und ihre Perspektiven nachzudenken. Unsere Schulen sind im Rahmen ihres Bildungs- und Erziehungsauftrags gefordert, Schülerinnen und Schüler im Unterricht, in schulischen Projekten und im Schulalltag bei dem Erwerb der für diese Bewertungs- und Entscheidungsprozesse notwendigen Kenntnisse und Kompetenzen, bei der Bereitschaft, sich damit zu befassen, und bei der Entwicklung von Werthaltungen der natürlichen und menschlichen Umwelt gegenüber zu unterstützen.4 Im Rahmen der Lehrerbildung versuchen wir unsere Studierenden dahingehend zu fördern und zu unterstützen, diese Aufgabe als künftige Lehrkräfte bestmöglich zu bewältigen und als Multiplikatoren zu einer umfassenden biologischen Bildung – im oben genannten Sinne – beizutragen. Neben der Auseinandersetzung mit fachspezifischem Wissen und biologiedidaktischen Themen und Fragestellungen steht dabei auch die Reflexion der eigenen Person, ihrer Beziehung und Einstellung zum Fach und zur Umwelt sowie ihrer Werthaltungen im Fokus.

2.

Bildungsangebote für Lehramtsstudierende sowie für Schülerinnen und Schüler

Bei der Entwicklung von Bildungsangeboten für unsere Studierenden betonen wir neben der Problemorientierung und dem Lernen in authentischen Kontexten auch die unmittelbare, sinnliche Auseinandersetzung mit Natur und Naturgegenständen.5 Dabei stehen besonders auch Aktivitäten im Fokus, die den Menschen in Beziehung zur Natur setzen. Die didaktische Reflexion der verschiedenen Angebote soll den Studierenden helfen, sowohl deren jeweilige Bedeutung für die Interessenentwicklung der Lernenden und die biologische Bildung als auch ihre eigene Rolle als Lehrkraft zu erkennen. Ziel ist es, Anregungen und 3 Vgl. Kals, Elisabeth / Schumacher, Daniel / Montada, Leo: Emotional affinity towards nature as a motivational basis to protect nature, in: Environment and Behavior 31,2 (1999), S. 178–202. 4 Vgl. Schulgesetz fu¨ r das Land Nordrhein-Westfalen: Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule, § 2 Art. 2. URL: https://bass.schul-welt.de/6043.htm [Stand: 02. 09. 2021]. 5 Primärerfahrungen; zur Bedeutung von Naturerfahrung und Bildung siehe: Gebhard, Ulrich / Lude, Armin / Möller, Andrea / Moormann, Alexandra: Naturerfahrung und Bildung, Wiesbaden 2022.

Naturbeziehung und Nachhaltigkeit

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Hilfestellungen zu geben, passende Angebote auszuwählen, welche die angehenden Lehrkräfte im späteren Berufsleben mit ihren Schülerinnen und Schülern nutzen zu können. Um die bildungsförderliche Einbettung der biologischen Fachinhalte und die Praxisrelevanz der Lernangebote sicherzustellen, arbeiten wir in unserer biologiedidaktischen Lehre und Forschung mit unterschiedlichen inner- und außeruniversitären Partnern zusammen. Gemeinsam konzipieren und evaluieren wir Bildungsangebote für Studierende sowie für Schülerinnen und Schüler. Dabei vergleichen wir unterschiedliche Gestaltungsmerkmale und untersuchen deren Wirkung auf das Interesse an Biologie sowie das Erreichen der oben genannten Bildungsziele, um schließlich Empfehlungen für bildungsförderliche Angebote ableiten und im Rahmen der Lehrerbildung und der Schulentwicklung verbreiten zu können. Im Folgenden werden exemplarisch drei Lehr- und Forschungsprojekte unserer Abteilung vorgestellt, die sowohl schulische als auch außerschulische Lernangebote umfassen und die jeweils unterschiedliche Aspekte der biologischen Bildung in den Mittelpunkt stellen.

2.1

Interesse an Pflanzen fördern im Didaktischen Garten (DiGa)

Der Didaktische Garten (www.diga.uni-bonn.de) ist ein Lern- und Forschungsgarten mit dem Ziel, Pflanzen sowohl in der Schule als auch im Alltag mehr ins Blickfeld zu rücken und ihre Wertschätzung in der Bevölkerung zu fördern. Auf diese Weise möchten wir dem Umstand begegnen, dass Menschen den Pflanzen insgesamt weniger Beachtung schenken als Tieren, obwohl Pflanzen die Grundlage des Lebens auf der Erde darstellen (»Plant Blindness«).6 Trotz ihrer herausragenden ökologischen Bedeutung werden sie häufig nicht als vollwertige Lebewesen angesehen, und ihre biologischen Besonderheiten werden nicht gleichermaßen wertgeschätzt wie die von Menschen oder Tieren. Dieses Ungleichgewicht spiegelt sich auch im Schulunterricht wider, in dem botanische Inhalte deutlich seltener vertreten sind, obwohl sie genauso als Beispiele für die im Lehrplan verankerten Themen dienen könnten. Wie können Pflanzen mehr in den Fokus der Wahrnehmung gerückt und wie kann deren Wertschätzung gefördert werden? Dieser Forschungsfrage widmet sich der Didaktische Garten und bietet gleichzeitig eine Gelegenheit, die Erkenntnisse konzeptionell in Bildungsangebote umzusetzen.

6 Vgl. Wandersee, James H. / Schussler, Elisabeth E.: Preventing plant blindness, in: The American Biology Teacher 61,2 (1999), S. 84–86.

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Jonathan Hense / Annette Scheersoi

Abb. 1: Pflanzen und Ernten im Didaktischen Garten.

Der Didaktische Garten bietet auf seinen 200 qm Fläche einen Acker, mehrere Hochbeete, ein Gewächshaus, verschiedene Kleinstlebensräume (wie Obst- und Wildwiese oder Steinmauer) und ein kleines Gebäude mit einem Seminar- und Arbeitsraum. Studierende können sich hier mit Pflanzen und botanischen Phänomenen aller Art intensiv beschäftigen. Sie können Erfahrungen im Gärtnern sammeln, indem sie in diesem Garten eigenständig Pflanzen anziehen, auspflanzen, sich über einen langen Zeitraum um sie kümmern und sie gegebenenfalls verarbeiten oder auch ihre Früchte ernten (vgl. Abb. 1). Unterschiedliche Aspekte der Nachhaltigkeit spielen bei der Arbeit im Didaktischen Garten eine zentrale Rolle. So wird beim Gärtnern auf eine nachhaltige Ressourcen-, Energie- und Flächennutzung geachtet, indem beispielsweise gebrauchte Materialien wiederverwendet und einem neuen Zweck zugeführt werden (Upcycling). Kleinste Räume werden für den Anbau von Pflanzen genutzt (Vertical Gardening, Hochbeete), Nährstoffkreisläufe beachtet (Kompostierung) und ökologische Beziehungen und Naturschutzaspekte berücksichtigt (Insektenhotel, torffreies Gärtnern). Durch die intensive und umfassende Beschäftigung mit Pflanzen möchten wir dazu anregen, pflanzenspezifische und faszinierende Phänomene zu entdecken und genau zu untersuchen, z. B.: – Bewegung bei Pflanzen: Pflanzen gelten allgemein als bewegungsunfähig, doch ein genauer Blick enthüllt zahlreiche Bewegungsphänomene, wie das

Naturbeziehung und Nachhaltigkeit









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Drehen von Blüten in Richtung Sonnenlicht oder das explosionsartige Öffnen von Samenkapseln. Anpassungserscheinungen: Das Überleben der Pflanzen in ihren jeweiligen, teils extremen Lebensräumen (z. B. Wüste) ist nur dadurch möglich, dass im Verlauf der Evolution besondere Merkmale aufgetreten sind, die den Pflanzen einen Vorteil in gewissen Umweltbedingungen bieten. Besondere Inhaltsstoffe: Pflanzen lagern in ihrem Gewebe unterschiedliche Substanzen ein, die sehr unterschiedliche Eigenschaften aufweisen und ihnen z. B. den Vorteil bieten, Schädlinge zu vertreiben, Bestäuber anzulocken oder als Frostschutzmittel zu fungieren. Der Mensch nutzt diese Vielfalt u. a. als Medizin, ätherische Öle oder in der Landwirtschaft. Pflanze-Tier-Interaktion: Von einem Zusammenspiel bei der Bestäubung über fleischfressende Pflanzen bis hin zu echter Kommunikation gibt es außergewöhnliche Interaktionen zwischen Tier und Pflanze. Symbiosen: Viele Pflanzenarten bilden mit Pilzen und Tieren Symbiosen und unterliegen einem äußerst komplexen System aus Vorteilen und Abhängigkeiten.

In Seminaren und im Rahmen von Masterarbeiten entwickeln und evaluieren die Studierenden didaktische Konzepte für die Beschäftigung mit diesen botanischen Themen und Phänomen, beispielsweise für den Einsatz in Schulgärten. Als Teil der biologiedidaktischen Forschung wird außerdem die Interessenentwicklung am Thema Pflanzen und am Gärtnern bei unterschiedlichen Zielgruppen untersucht.7 Neben Lehre und Forschung übernimmt der Didaktische Garten auch Funktionen im Bereich unserer ›Dritten Mission‹, d. h. der Verknüpfung von Universität und Gesellschaft, um gesellschaftlichen Bedürfnissen gerecht werden zu können: Bonner Schülerinnen und Schülern wird im Didaktischen Garten Raum und Zeit gegeben, sich im Rahmen von AG-Angeboten der Beschäftigung mit Pflanzen zu widmen. Über die Dauer von mehreren Monaten führen sie kleine Forschungsprojekte zum Wachstum von Pflanzen sowie zu deren ökologischer Bedeutung durch. Betreut werden die Schülerinnen und Schüler dabei durch eine Mitarbeiterin unserer Abteilung sowie durch Lehramtsstudierende, die diese Praxiserfahrungen im Rahmen von Lehrveranstaltungen – im Sinne von Service learning – vorbereiten und reflektieren.

7 Z. B. Tessartz, Amélie / Scheersoi, Annette: Plant blindness begegnen – Pflanzen sichtbar machen, in: Gebhard, Ulrich / Lude, Armin / Möller, Andrea / Moormann, Alexandra (Hg.): Naturerfahrung und Bildung, Wiesbaden 2022, S. 263–282.

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2.2

Biologische Vielfalt erfahren mit dem Bonner Biodiversitätsmobil (BoBi)

Das Bonner Biodiversitätsmobil (www.bobi.uni-bonn.de) ist eine mobile Forschungsstation in Form eines Fahrradanhängers, auf dem sämtliche Materialien – etwa ein Zelt, Tisch, Stühle, verschiedene Sammelgeräte (Kescher etc.), vielfältige Bestimmungsliteratur sowie optische Hilfsmittel (Ferngläser, Mikroskope u. ä.) – verstaut sind, um im freien Gelände biologische Untersuchungen durchführen und wissenschaftliches Arbeiten problemorientiert und im direkten Kontakt mit der Natur üben zu können. Ziel des Bonner Biodiversitätsmobils ist es, Artenkenntnis und wissenschaftliche Arbeitsweisen zur Erfassung von Biodiversität zu vermitteln, vor allem aber direkte Naturerfahrungen zu ermöglichen und dadurch die Wertschätzung gegenüber der biologischen Vielfalt zu fördern.8 Für dieses Ziel arbeiten wir mit anderen Akteuren im Biodiversitätsschutz des Bonner Raumes eng zusammen, beispielsweise mit dem Zoologischen Museum Koenig, dem BUND, dem Forstamt, Stiftungen und den zuständigen Naturschutzbehörden. Das Bonner Biodiversitätsmobil ermöglicht es uns außerdem, biologiedidaktische Forschung im Freiland durchzuführen und dabei die Interessengenese zu Themen der Biodiversität zu untersuchen sowie Gestaltungsempfehlungen für Vermittlungsangebote unter den besonderen Bedingungen des außerschulischen Lernens abzuleiten.9 Der Anhänger kommt auch in Ferienprogrammen für Schülerinnen und Schüler zum Einsatz, bei denen Jugendliche zusammen mit Studierenden im Study-Buddy-Prinzip (gemeinsames Entdecken und wissenschaftliches Arbeiten in gemischten Teams) verschiedene Biotope – wie Bach, Wiese oder Brachfläche – rund um Bonn erkunden und die dort vorkommende biologische Vielfalt erforschen und vergleichen, beispielsweise mit einem Fokus auf Insekten (»Insektenforschercamp«, vgl. Abb. 2). Insekten sind für das Funktionieren ökologischer Prozesse unerlässlich, aber gleichzeitig durch die weltweite Biodiversitätskrise stark bedroht.10 Im Allgemeinen haben Menschen wenig Berührung mit der Vielfalt und faszinierenden Ökologie von Insekten, und bei den meisten lösen diese Tiere eher negative 8 Zum Zusammenhang von Naturerfahrungen und Umwelthandeln siehe: Lude, Armin: Natur erfahren und für die Umwelt handeln – zur Wirkung von Umweltbildung, in: NNA-Berichte 19,2 (2006), S. 18–33. 9 Vgl. Kokott, Julian / Scheersoi, Annette: Insektenvielfalt erfahrbar machen. Bildungsangebote zur Interessenförderung bei Jugendlichen, in: Gebhard, Ulrich / Lude, Armin / Möller, Andrea / Moormann, Alexandra (Hg.): Naturerfahrung und Bildung, Wiesbaden 2022, S. 309– 335. 10 Vgl. Sánchez-Bayo, Francisco / Wyckhuys, Kris A.G.: Worldwide decline of the entomofauna: A review of its drivers, in: Biological Conservation 232 (2019), S. 8–27.

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Abb. 2: Jugendliche beim Insektenforschercamp mit dem Bonner Biodiversitätsmobil – einer mobilen Forschungsstation.

Assoziationen aus, wodurch Schutzbemühungen erschwert werden.11 Die Ferienprogramme mit dem Bonner Biodiversitätsmobil stellen ein Bildungsangebot dar, das es ermöglicht, sich erfahrungsbasiert, intensiv und ganzheitlich mit den Pflanzen und Tieren im eigenen Lebensumfeld zu beschäftigen, die Biodiversität im wahrsten Sinne des Wortes zu erfahren und Interesse und Wertschätzung – auch für Insekten – zu entwickeln.12 Darüber hinaus werden freiwillige Bestimmungskurse für Lehramtsstudierende zu verschiedenen Artengruppen im Rahmen des Programms »Biodiversität live« (www.biodiversitaet-live.uni-bonn.de) organisiert. Während dieser Exkursionsangebote mit dem Bonner Biodiversitätsmobil können Studierende in unterschiedlichen Lebensräumen die Vielfalt der Lebewesen direkt vor Ort erforschen. Hierbei geht es auch um den Vergleich verschiedener Biotope, die sich beispielsweise anhand der menschlichen Einflussnahme unterscheiden. Auf diese Weise können die Studierenden nicht nur Artenkenntnis erwerben, sondern auch unseren Einfluss auf Ökosysteme und die Biodiversität unmittelbar

11 Vgl. Soga, Masashi / Gaston, Kelvin J: The ecology of human-nature interactions, in: Proceedings of the Royal Society B 287,1918 (2020). 12 Vgl. Kokott, Julian / Scheersoi, Annette: Insektenvielfalt erfahrbar machen.

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erkennen.13 Hinzu kommt die Reflexion der didaktischen Spezifika des außerschulischen Lernens sowie der Bedeutung von Naturerfahrung für die Umweltbildung.

2.3

Schule öffnen durch Multipliers

Unser aktuelles EU-Horizon 2020-Forschungsprojekt Multipliers (Laufzeit 2021– 2024) hat das Ziel, durch die Öffnung von Schule die naturwissenschaftliche Grundbildung zu fördern, indem Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteuren in gemeinsamen Projekten an authentischen Problemsituationen arbeiten und dabei wissenschaftliche Denk- und Arbeitsweisen nutzen. Durch die Entwicklung von Partnerschaften (Open Science Communities – OSCs; Abb. 3) zwischen Schulen, der lokalen Bevölkerung, Organisationen der Zivilgesellschaft, Universitäten, den Medien und der Industrie sollen das Interesse an Wissenschaft und das Verständnis naturwissenschaftlicher Forschung gefördert und Schülerinnen und Schüler dabei unterstützt werden, fundierte Entscheidungen in Bezug auf Umwelt- und Nachhaltigkeitsfragen zu treffen.

Abb. 3: Partner einer Open Science Community (OSC) im EU-Projekt Multipliers.

13 Vgl. auch Magntorn, Ola / Helldén, Gustav: Reading Nature-experienced teachers’ reflections on a teaching sequence in ecology: implications for future teacher training, in: Nordic Studies in Science Education 2,3 (2006), S. 67–81.

Naturbeziehung und Nachhaltigkeit

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Gemeinsam mit den europäischen Partnerinstitutionen aus Schweden, Finnland, Slowenien, Spanien, Italien und Zypern und in Absprache mit Kooperationsschulen wurden zunächst Themen ausgewählt, die in Form von authentischen Dilemma-Situationen durch die außerschulischen Kooperationspartner in die Schulen gebracht werden. In einer ersten Projektphase handelt es sich um die Themen Impfung – Pro & Contra, Antibiotikanutzung und -resistenzen, Luftverschmutzung in Städten, Biodiversität und Ökosystemleistungen sowie Waldschutz vs. Waldnutzung. Weitere Themen, wie die Abfallproblematik (z. B. Plastikverpackungen und Alternativen) oder der Pestizideinsatz in der Landwirtschaft, werden in einer späteren Projektphase bearbeitet. Vor Projektbeginn konnten bereits außerschulische Expertinnen und Experten zu diesen Themenbereichen gewonnen werden, die jetzt durch gezielte Vernetzungsaktivitäten in den OSCs mit den Schulen zusammenarbeiten werden. Hierbei stehen zunächst die Schülerinnen und Schüler im Fokus, und die gemeinsame Bearbeitung der Themen kann sowohl in der Schule (durch Expertenbesuche) als auch an außerschulischen Lernorten (durch Exkursionen) stattfinden. Durch die intensive, problemorientierte Auseinandersetzung mit den jeweiligen Themen, die gemeinsame Durchführung von Recherchearbeiten und Untersuchungen sowie die Darstellung und Diskussion unterschiedlicher Perspektiven, sollen die Schülerinnen und Schüler einerseits die Komplexität der Dilemma-Situationen erkennen und Hintergründe verstehen, andererseits aber auch dazu befähigt werden, Aussagen bzw. Daten zu beurteilen, unterschiedliche Positionen abzuwägen und schließlich informierte Entscheidungen treffen zu können bzw. Entscheidungsprozesse und deren Folgen zu reflektieren. In einem nächsten Schritt werden die Schülerinnen und Schüler dann zu »Multipliers«, also Multiplikatoren, die ihre Erfahrungen und Erkenntnisse zunächst im Rahmen von Ausstellungen oder Open-Science-Events u. ä. mit ihren Familien und der lokalen Bevölkerung teilen und anschließend über die Nutzung von sozialen Medien, Videoformaten etc. mit Gleichaltrigen überregional bzw. international in Austausch treten. Zur Unterstützung dieser Projektphase sind Partner aus den Bereichen außerschulische Bildung (Museen, Science Centers, Botanische Gärten etc.) und Medien (Funk, Fernsehen, Social Media etc.) Teil jedes Netzwerks bzw. jeder OSC. Sie erarbeiten gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern Veranstaltungsformate und Aktivitäten, in deren Rahmen die jeweiligen Zielgruppen zur aktiven Auseinandersetzung mit den Dilemma-Situationen angeregt werden. Die Schülerinnen und Schüler übernehmen diesmal – unterstützt von den außerschulischen Projektpartnern – die Expertenrolle. Für den Projektzeitraum sind pro Standort mindestens drei Projektzyklen ( jeweils bestehend aus Projekten mit Experten und Schulen sowie den Schülerinnen und Schülern als Multipliers) geplant. Hier in Bonn haben wir drei Kooperationsschulen und ein umfangreiches Netzwerk mit außerschulischen

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Partnern, die uns dabei unterstützen werden, mindestens drei Themenbereiche zu bearbeiten. Die Projektzyklen werden begleitend evaluiert, um das Erreichen der Projektziele kontinuierlich zu prüfen. Je nach Evaluationsergebnis können von Zyklus zu Zyklus Anpassungen vorgenommen werden, um den Projektansatz schrittweise zu optimieren. Am Ende des Projekts möchten wir Best-Practice-Materialien sowie Empfehlungen zur Förderung der naturwissenschaftlichen Bildung zur Verfügung stellen. Adressaten sind neben Institutionen der formalen und informellen Bildung auch speziell Lehrerbildungsinstitutionen sowie politische Entscheidungsträger, die die schulischen Rahmenbedingungen und die Entwicklung von Schule maßgeblich beeinflussen können.

Bibliographie Gebhard, Ulrich / Lude, Armin / Möller, Andrea / Moormann, Alexandra: Naturerfahrung und Bildung, Wiesbaden 2022. Gebhard, Ulrich / Scheersoi, Annette: Ökologie- und Naturbezüge in der Umweltbildung, in: Natur und Landschaft 95 (2020), S. 433–441. Kals, Elisabeth / Schumacher, Daniel / Montada, Leo: Emotional affinity towards nature as a motivational basis to protect nature, in: Environment and Behavior 31,2 (1999), S. 178–202. Kokott, Julian / Scheersoi, Annette: Insektenvielfalt erfahrbar machen. Bildungsangebote zur Interessenförderung bei Jugendlichen, in: Gebhard, Ulrich / Lude, Armin / Möller, Andrea / Moormann, Alexandra (Hg.): Naturerfahrung und Bildung, Wiesbaden 2022, S. 309–335. Lude, Armin: Natur erfahren und für die Umwelt handeln – zur Wirkung von Umweltbildung, in: NNA-Berichte 19,2 (2006), S. 18–33. Magntorn, Ola / Helldén, Gustav: Reading Nature-experienced teachers’ reflections on a teaching sequence in ecology: implications for future teacher training, in: Nordic Studies in Science Education 2,3 (2006), S. 67–81. Rittel, Horst W.J. / Webber, Melvin M.: Dilemmas in a general theory of planning, in: Policy Sciences 4,2 (1973), S. 155–169. Sánchez-Bayo, Francisco / Wyckhuys, Kris A.G.: Worldwide decline of the entomofauna: A review of its drivers, in: Biological Conservation 232 (2019), S. 8–27. Soga, Masashi / Gaston, Kelvin J.: The ecology of human-nature interactions, in: Proceedings of the Royal Society B 287,1918 (2020). Schulgesetz fu¨ r das Land Nordrhein-Westfalen: Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule, § 2 Art. 2. URL: https://bass.schul-welt.de/6043.htm [Stand: 02. 09. 2021]. Tessartz, Amélie / Scheersoi, Annette: Plant blindness begegnen – Pflanzen sichtbar machen, in: Gebhard, Ulrich / Lude, Armin / Möller, Andrea / Moormann, Alexandra (Hg.): Naturerfahrung und Bildung, Wiesbaden 2022, S. 263–282. Wandersee, James H. / Schussler, Elisabeth E.: Preventing plant blindness, in: The American Biology Teacher 61,2 (1999), S. 84–86.

DEUTSCH

Claudia Wich-Reif

Wahrnehmen – Reflektieren – Bewerten: Sprachliche Variation in der Sekundarstufe aus linguistischer Perspektive

1.

Einleitung

Sprachliche Variation ist ein weltweit bekanntes Phänomen. Sie macht es möglich, in unterschiedlichen Kontexten treffend und angemessen zu formulieren, sie kann aber auch Kommunikation in bestimmten Situationen erschweren, wenn nicht sogar verhindern. Erinnert sei an Lernerinnen und Lerner von Fremdsprachen, die in Orten/Ländern, in denen diese Amtssprachen sind, zumindest anfänglich Schwierigkeiten beim Hören/Verstehen haben und obwohl sie grammatisch völlig korrekte Äußerungen produzieren, auffallen und sich fragen lassen müssen, wo sie diese gelernt hätten bzw. darauf hingewiesen werden, dass man dies am Ort anders sage. Nicht nur deshalb sind fundierte Kenntnisse über sprachliche Variation im Allgemeinen und über die Muttersprache bzw. die Sprache des Landes, in dem man lebt, für eine angemessene gesellschaftliche Teilhabe dringend erwünscht. Im vorliegenden Beitrag wird in einem ersten Schritt (2.) geprüft, wie sprachliche Variation in den Kernlehrplänen (KLP) der an der Universität Bonn angebotenen Lehramtsstudiengänge für das Fach Deutsch ihren Niederschlag findet und welche Schwerpunktsetzungen (Rezeption, Produktion, Form der Variation) identifiziert werden können. In einem zweiten Schritt (3.) geht es darum, sprachliche Variation aus germanistisch-linguistischer Perspektive zu definieren und zu klassifizieren. Dieser Schritt erscheint nicht nur aufgrund der begrifflichen Vielfalt im Fach notwendig, sondern auch aufgrund der Unschärfe der Begrifflichkeiten, die sich aufgrund unterschiedlichen Gebrauchs in der Wissenschaftssprache und im Sprachalltag ergeben. In einem dritten Schritt (4.) geht es um generationalen und intergenerationalen Gebrauch sprachlicher Variation. Hiermit soll das Verständnis dafür geschärft bzw. geschaffen werden, dass sprachlicher Wandel, der unter anderem ein Faktor dafür ist, dass es (regionale) sprachliche Variation mit unterschiedlicher kommunikativer Reichweite in einem einzigen Raum gibt, die inner-, aber auch außersprachlich bedingt ist (4.1.). In Abschnitt 4.2. wird dies mittels eines digitalen Sprachatlasprojekts

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Claudia Wich-Reif

illustriert, das an vier Universitäten im Bundesland Nordrhein-Westfalen (darunter Bonn) angesiedelt ist. In einem letzten Schritt (5.) wird demonstriert, wie die noch vorläufigen Ergebnisse dieses Projekts und auch zwei weitere praktikable und in hohem Maß relevante sprachwissenschaftliche Angebote im schulischen Unterricht nutzbar gemacht werden können.

2.

Sprachliche Variation in der Schule

In den weiterführenden Schulen ist Variation fest in den KLP verankert und in den Kompetenzbereichen Produktion und Rezeption mit je unterschiedlichen Anforderungen festgeschrieben:1

Abb. 1: Inhaltsfelder und Kompetenzbereiche (aus: KLP Deutsch Sek II, S. 16).

In den KLP von 2004 und 2019 erscheinen die Begriffe (Sprach-)Variation bzw. (Sprach-)Variante, im KLP von 2014 wird stattdessen Varietät gewählt. In allen drei KLP könnten die Ausführungen zum Thema mit Blick auf das Ziel, sprachliche Variation zu erkennen, zu analysieren und zu bewerten, aus linguistischer Perspektive noch etwas geschärft werden.2 1 Ich orientiere mich an den folgenden Kernlehrplänen: Für die Sekundarstufe I Gesamtschule Ministerium für Schule, Jugend und Kinder des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.): Kernlehrplan für die Gesamtschule – Sekundarstufe I in Nordrhein-Westfalen. Deutsch (Schule in NRW 3107), Frechen 2004 = KLP GS Sek I; für die Sekundarstufe I Gymnasium Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.): Kernlehrplan für die Sekundarstufe I Gymnasium in Nordrhein-Westfalen. Deutsch (Schule in NRW 3409), Düsseldorf 2019 = KLP Gym Sek I; für die Sekundarstufe II Gymnasium und Gesamtschule Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.): Kernlehrplan für die Sekundarstufe II Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Deutsch (Schule in NRW 4701), Düsseldorf 2014 = KLP Sek II. 2 So ist im KLP Gym Sek I, S. 40 die Rede davon, dass die Schülerinnen und Schüler (SuS) »›Sprachen in der Sprache‹ kennen und ihre Funktion unterscheiden« sollen. Die Anführungszeichen im KLP-Text mögen signalisieren, dass den für den Text Verantwortlichen klar war, dass sich Standardsprache, Umgangssprache, Dialekt/Mundart, Regiolekt, Gruppen-

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Der Kompetenzbereich Textproduktion fordert, dass die Schülerinnen und Schüler (SuS) in die Lage versetzt werden sollen, »sprachlich variabel und stilistisch stimmig zu Aussagen [zu] schreiben.«3 Sie sollen »ein Bewusstsein für die persönliche und gesellschaftliche Bedeutung von Sprache, Texten, Kommunikation und Medien«4 erlangen. Während analysierendes Schreiben verbindlich ist, ist überarbeitendes Schreiben nicht verbindlich.5 Dies ist sinnvoll, weil überarbeitendes Schreiben nicht nur eine sehr hohe Schreibkompetenz der Lehrenden erfordert sowie eine starke intrinsische Motivation der SuS, die eigenen Texte situations- und kontextangemessen zu optimieren, sondern auch eng getaktete 1:1-Feedback-Strukturen, die an den Schulen wie auch an den Hochschulen in einem angemessenen Umfang selten geleistet werden können. Unbenommen davon ließe sich das überarbeitende Schreiben ganz hervorragend mit dem breiten Thema Variation des Kompetenzbereichs Rezeption verknüpfen. Textrezeption beinhaltet, dass die SuS sprachliche Variation erkennen, beschreiben und analysieren können, wobei es nicht darum geht festzustellen, ob die Verfasserinnen und Verfasser das umsetzen, was die SuS produktiv können sollen, nämlich sprachlich variabel schreiben, sondern um das Identifizieren von domänenspezifischen Ausdrucksweisen. Dies ist aufgrund der Bandbreite der Thematik sehr komplex, aber unbedingt erstrebenswert: Es geht um Gesprochensprachliches in der geschriebenen Standardsprache, also stilistisch wenig(er) Adäquates, um die unreflektierte Umsetzung gesprochener in geschriebene Sprache, um standardfernes Sprechen in unterschiedlicher Ausprägung (was oft einfach als Dialekt bezeichnet wird). Es geht um Gruppensprachen6, die vor allem mündlich, aber insbesondere in den neuen Medien, nach Raum, Alter oder Situation unterschieden, auch schriftlich gebraucht werden. Und es geht zudem um Fachsprachen, die ihren Niederschlag beispielsweise in Texten für bestimmte Berufsgruppen finden, aber auch alltagsrelevant sein mögen wie etwa in der Arzt-Patienten-Kommunikation. All diese Aspekte können schließlich noch mit Fragen des Sprachwandels korreliert werden.

3 4 5 6

sprachen und Fachsprachen sowie gesprochene und geschriebene Sprache gerade nicht unter dem Oberbegriff Sprache(n) fassen lassen, auch wenn viele der hier angeführten Komposita das suggerieren (vgl. dazu auch Abschnitt 4.1.); gleichwohl wären für Lehrpersonen, die sich mit dem Thema vertraut machen, präzise Begriffe geeigneter, z. B. Varietäten und Stile. KLP GS Sek I, S. 16. KLP Gym Sek I, S. 8. Für die Textproduktion ist es hilfreich, sich sowohl inhaltlich als auch sprachlich an Modellen/Mustern zu orientieren; vgl. ebd., S. 16, 23. Vgl. ebd., S. 40. Auch: subkulturelle Stile.

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3.

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Varianten, Variationen, Varietäten, Register und Stile

Sprachliche Vielfalt lässt sich am besten unter dem Begriff Variation fassen, weil er so allgemein ist, dass er keine Ausdrucksform ausschließt. Sprachliche Varianten sind in engem Sinn nie bedeutungsgleich, was mit zwei Beispielen aus der Lexik demonstriert werden soll: 1. Die Verben anfangen und beginnen sind unstrittig Synonyme. Anfangen wird bevorzugt im mündlichen, beginnen eher im schriftlichen Sprachgebrauch verwendet. Schriftliche Korpora zeigen, dass beide Verben mit gleicher Häufigkeit vorkommen, auf einer Häufigkeitsskala von 1 bis 7 (1 = selten, 7 = sehr häufig) wird ihnen jeweils die Ziffer 5 zugeordnet. Die Wortverlaufskurven, die über das »Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS)« erstellt werden können, zeigen, dass anfangen in den letzten Jahren beliebter geworden ist:

Abb. 2: Wortverlaufskurve anfangen (DWDS).7

7 DWDS-Wortverlaufskurve für »anfangen«. URL: https://www.dwds.de/r/plot/?view=1&cor pus=zeitungen&norm=date%2Bclass&smooth=spline&genres=0&grand=1&slice=1&pru ne=0&window=3&wbase=0&logavg=0&logscale=0&xrange=1946%3A2021&q1=anfangen [Stand: 30. 09. 2021].

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Abb. 3: Wortverlaufskurve beginnen (DWDS).8

Der Unterschied zwischen mündlichem und schriftlichem Sprachgebrauch bleibt aufgrund des geschriebensprachlichen Korpus, das Basis des DWDS ist, unberücksichtigt. Eine mögliche Ablösung von beginnen durch anfangen in der geschriebenen Sprache liegt in weiter Ferne, das Plus von 35 (Anstieg von etwa 30 auf ~65) in einer Million Belegen in einem Zeitraum von 75 Jahren ist statistisch nicht signifikant, ebenso wenig ein Minus von 90 (Abnahme von um 350 auf ~260), abgesehen davon, dass die Beleglage nur die Vorkommen der Verben als solche anzeigt, nicht die Ablösung des einen durch das andere. 2. Auch die Substantive Aufzug, Fahrstuhl und Lift könnten alternativ verwendet werden. Aufzug ist das älteste der Wörter. Im zehnbändigen DudenWörterbuch wird Fahrstuhl als Synonym genannt, nicht aber Lift.9 Im zehnbändigen Duden wird im Artikel Lift keine Bedeutungserklärung gegeben, sondern nur das Wort Aufzug genannt.10 Fahrstuhl soll laut dem entsprechenden 8 DWDS-Wortverlaufskurve für »beginnen«. URL: https://www.dwds.de/r/plot/?view=1&cor pus=zeitungen&norm=date%2Bclass&smooth=spline&genres=0&grand=1&slice=1&pru ne=0&window=3&wbase=0&logavg=0&logscale=0&xrange=1946%3A2021&q1=beginnen [Stand: 30. 09. 2021]. 9 Vgl. Wissenschaftlicher Rat der Duden-Redaktion (Hg.): Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn Bänden, Bd. 1–10, 3., völlig neu bearb. und erw. Aufl., Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich 1999, hier Bd. 1, S. 359; das Wort ist seit dem Spätmittelalter (mhd. ûfzuc) belegt; vgl. Dudenredaktion (Hg.): Duden. Das Herkunftswörterbuch, 6., vollständig überarb. und erw. Aufl. (Duden 7), Berlin 2020, hier S. 950. 10 Vgl. Wissenschaftlicher Rat, Duden. Das große Wörterbuch, Bd. 6, S. 2432. Das Wort wurde Ende des 19. Jahrhunderts aus dem Englischen entlehnt (vgl. Dudenredaktion, Duden. Das Herkunftswörterbuch, S. 512); es kam wohl mit dem Produkt, dessen Entwicklung maßgeblich in den USA vorangetrieben worden war, ins Deutsche.

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Artikel im zehnbändigen Duden-Wörterbuch nur die Kabine des Aufzugs bezeichnen, wobei das Wort Fahrstuhl aber im Artikel Aufzug als Synonym für die Vorrichtung angeführt wird.11 Nicht genug damit, dass die Auskünfte in den Wörterbüchern nicht klar sind: Fragt man Sprachbenutzer, ob für sie Aufzug und Lift bedeutungsgleich seien, so sagen viele, dass sie Aufzug für Lasten, Lift für Personen verwendeten, eine Differenzierung, die in den Wörterbüchern nicht gemacht wird. Anfangen und beginnen sowie Aufzug, Fahrstuhl und Lift gehören zur Allgemeinsprache dazu; sie bekommen kein ›Etikett‹ (Symptomwert) im Wörterbuch, das anzeigt, dass der Gebrauch irgendwie eingeschränkt ist. Die Wörter könnten gegeneinander ausgetauscht werden und in der Schule dem Bereich Variabel schreiben in der Textproduktion zugeschlagen werden. Das ist aber nicht gemeint, und der Austausch funktioniert – wie dargestellt – nur bedingt, denn es gibt weitere Differenzierungen innerhalb einer Sprache: Sie werden in der Linguistik als Varietäten und Stile klassifiziert.12 Varietäten unterscheiden sich von Stilen ganz grundlegend dadurch, dass sie eine voll ausgebildete Grammatik besitzen. Darunter sind Dialekte/Mundarten, Regionalsprachen und die Standardsprache (auch: Standardvarietät, Hochdeutsch, Schriftdeutsch) zu fassen.13 Die Standardvarietät unterscheidet sich von den anderen Varietäten dadurch, dass sie Amtsund Normsprache ist. Es ist damit das Deutsch, das »im öffentlichen (vor allem schriftlichen) Sprachgebrauch als angemessen und korrekt«14 angesehen wird. Seine Regeln sind in Grammatiken festgeschrieben (wobei sich diese – wie das auch für andere Varietäten der Fall ist – verändern können, Stichwort Sprachwandel). Varianten innerhalb der deutschen Standardsprache sind dadurch gegeben, dass 11 Das Wort ist im 17. Jahrhundert aufgekommen (vgl. Wissenschaftlicher Rat, Duden. Das große Wörterbuch, Bd. 3, S. 1159). Es wird laut Herkunftswörterbuch seit Ende des 19. Jahrhunderts als Synonym für den elektrischen Lift verwendet (vgl. Dudenredaktion [Hg.], Duden. Herkunftswörterbuch, S. 252). 12 Schmidt, Jürgen Erich: Vom traditionellen Dialekt zu den modernen deutschen Regionalsprachen, in: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung / Union der deutschen Akademien der Wissenschaften (Hg.): Vielfalt und Einheit der deutschen Sprache. Zweiter Bericht zur Lage der deutschen Sprache, Tübingen 2017, S. 105–143, hier S. 105, unterscheidet zwischen Vollvarietäten (= Varietäten im herkömmlichen Sinn) und sektorale Varietäten (z. B. Fachsprachen). Letztere zeichneten sich »lediglich durch einen spezifischen Wortschatz« aus (ebd.). Dies erscheint zu kurz gegriffen (siehe auch Anm. 16), da fachsprachliche Texte zudem auch spezifische syntaktische und strukturelle Muster aufweisen und sich damit von anderen Texten unterscheiden. Die hier vorgenommene Differenzierung ist nicht etabliert. 13 Wobei die Standardsprache in der Literatur z. T. auch als alle anderen Varietäten überdachende Sprachform gesehen wird. Dies wird damit begründet, dass sie sich aus den Dialekten/ Regionalsprachen entwickelt hat. 14 Ammon, Ulrich / Bickel, Hans / Lenz, Alexandra N. (Hg.): Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz, Deutschland, Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol sowie Rumänien, Namibia und Mennonitensiedlungen, 2. Auflage, Berlin, Boston 2016, S. XVIII.

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die Standardsprache sowohl für die Bundesrepublik Deutschland als auch für Österreich und die Schweiz verbindlich ist.15 Die Begriffe Register und Stil werden verwendet, um die Ausdrucksweise in sozialen Gruppen zu beschreiben und damit für bestimmte Kommunikationsbereiche charakteristische Sprech- und Schreibweisen festzustellen. Sie verfügen über keine eigene Grammatik, sondern nutzen Elemente der Standardvarietät in je spezifischer Semantik, Sequenz und Frequenz. Nicht selten werden diese mit fremdsprachlichen Elementen aus je unterschiedlichen Sprachen kombiniert. Register bilden situative soziale Beziehungen ab, Stile16 (auch unter dem Begriff Soziolekte gefasst) bilden Fächer und soziale Gruppen oder Milieus ab. Sie zeichnen sich unter anderem durch Themenwahlen und -präferenzen aus. Diese können fachlich (z. B. Rechtssprache) oder altersbedingt (z. B. Jugendsprache17) sein.

4.

Generationaler und intergenerationaler Sprachgebrauch

Der Gebrauch von Varietäten mit geringerer kommunikativer Reichweite als der Standardvarietät, also Regiolekten bzw. Dialekten, zwischen Personen einer bzw. mehrerer Generationen eignet sich für den schulischen Unterricht sehr gut, um die Themen Sprachvariation und Sprachwandel gemeinsam zu behandeln. Abschnitt 4.1. behandelt Allgemeines zum Thema, in Abschnitt 4.2. wird dies mittels eines digitalen Langzeitprojekts demonstriert, das auch schon in Schulen vorgestellt wurde.

15 Sie werden als Arealsprachen klassifiziert: Unterschieden wird zwischen Vollzentren (BRD, Schweiz, Österreich), Halbzentren (Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien, Südtirol) und Viertelzentren (Rumänien, Namibia, Mennonitenkolonien); vgl. Ammon u. a.: Variantenwörterbuch, S. 12f. 16 Während Varietäten und auch Register »hauptsächlich grammatisch und lexikalisch bestimmt werden, weisen soziolinguistische Stile als Ausdrucksformen sprachlichen wie nichtsprachlichen Handelns überdies auch paralinguistische und nonverbale Merkmale auf.« Neuland, Eva: Jugendsprache, 2., überarb. und erw. Auflage, Tübingen 2018, hier S. 105. 17 »Sprachstile Jugendlicher sind […] Gruppenstile in dem Sinne, dass sie nicht im Rahmen individueller Leistungen ›erfunden‹ werden; vielmehr setzen sie die Interaktion in der Gruppe und gemeinsam geteilte Werte und Einstellungen voraus. Die Stilbildung geschieht überwiegend durch die Ausbildung tendenzieller Gebrauchspräferenzen von sprachlichen Mitteln aus dem Bestand der Standardsprache, die jedoch oft in spezifischer Weise umgewandelt und stilistisch markiert werden.« Ebd., S. 105f.

48 4.1.

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Allgemeines

Sprachen und damit unterschiedliche Ausprägungen von Sprache werden ganz bewusst oder unbewusst weitergegeben oder eben nicht. Dies ist mit Wandel (siehe dazu insbesondere Abschnitt 4.2.), gegebenenfalls auch mit Aussterben verbunden. Beides ist durch die kommunikative Reichweite und die Wertschätzung einer Sprache bzw. einer Varietät verbunden. Nimmt die kommunikative Reichweite ab (durch den Status einer Sprache im Vergleich mit anderen Sprachen in einem Raum, Amtssprache – Nicht-Amtssprache, Standardsprache – Dialekt), ist damit zu rechnen, dass sich das sprachliche Gefüge verändert. Nimmt die Wertschätzung wieder zu, nachdem sie einmal abgenommen hatte, können Veränderungsprozesse verlangsamt, aber nicht an- bzw. aufgehalten werden. Die gestiegene Wertschätzung für Minderheitensprachen wie das Friesische im Nordwesten und das Sorbische im Osten des deutschen Sprachraums und Regionalsprachen wie das Platt im niederdeutschen Sprachraum zeigt sich europaweit mit der »Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen (ECRM)«, die am 5. November 1992 am Sitz des Europarats in Straßburg zur Unterzeichnung aufgelegt und seitdem mehrfach aktualisiert worden ist. In der Bedeutung ›geschützte Regionalsprache im norddeutschen Raum‹ wird Niederdeutsch als Oberbegriff verwendet und umfasst alle niederdeutschen (Platt-) Varietäten.18 Verbreitet ist es nördlich einer Linie von Krefeld über Wuppertal, Gummersbach, Kassel, Wernigerode, Calbe, Dessau, Herzberg bis Frankfurt an der Oder bzw. in den Bundesländern Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Schleswig-Holstein sowie in Teilen Brandenburgs, Nordrhein-Westfalens und Sachsen-Anhalts. Problematisch ist die Abgrenzung nach Süden gegenüber dem Mitteldeutschen, nach Westen gegenüber dem Niederländischen, wobei sich an der deutsch-niederländischen Staatsgrenze auch eine Sprachgrenze herausbildet.19 Die Verantwortlichkeiten zum Schutz von Regional- und auch Minderheitensprachen liegen aufgrund des föderativen Staatsaufbaus der Bundesrepublik bei den 16 Bundesländern.20 Mit der Charta

18 Dialekte im westmitteldeutschen Sprachraum, die auch als Platt bezeichnet werden (Öcher Platt in Aachen oder Erper Platt in Erftstadt-Erp), fallen nicht darunter. 19 Vgl. Wich-Reif, Claudia: Deutschland (Bundesrepublik Deutschland), in: Lebsanft, Franz / Wingender, Monika (Hg.): Die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen. Ein Handbuch zur Sprachpolitik des Europarats. Berlin, New York 2012, S. 39–75, hier S. 45. 20 So umschreibt z. B. Artikel 25 der Verfassung des Landes Brandenburg vom 20. 8. 1992, zuletzt geändert am 16. 05. 2019, die Rechte der Sorben (Wenden) in Bezug auf Schutz, Erhaltung und Pflege der nationalen Identität sowie des angestammten Siedlungsgebietes, kulturelle Eigenständigkeit und Autonomie, öffentliche Beschriftungen und die wirksame politische

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wird den Varietäten bzw. Sprachen Aufmerksamkeit geschenkt, aber es wird allein dadurch nicht mehr kompetente Sprecherinnen und Sprecher geben: Hat eine Generation sich einmal gegen die Weitergabe einer Varietät bzw. einer Sprache entschieden, verfügt die nächste Generation weitgehend nur noch über passive Kompetenz. Bezogen auf das regionale Sprechen bedeutet das, dass dieses nicht mehr von vielen als System für einen kontinuierlichen aktiven Austausch erlernt wird. Auch wenn sich alle Bundesländer im niederdeutschen Sprachraum für den Gebrauch des Niederdeutschen schon im vorschulischen Unterricht einsetzen, ist die Umsetzung nicht flächendeckend möglich und nicht immer einfach (alleine aus finanziellen und organisatorischen Gründen). In den Lehrplänen der nördlichen Bundesländer ist das Niederdeutsche im Deutschunterricht und in anderen Fächern als Unterrichtsgegenstand vorgesehen, jedoch wird es in keinem Bundesland als reguläres Unterrichtsfach angeboten. Es ist heute üblich, dass das Niederdeutsche wie alle regionalen Varietäten von jüngeren Menschen – wenn überhaupt – nur noch passiv, aber nicht mehr aktiv beherrscht wird. Regionalsprache erscheint immer mehr auf spezifische Domänen oder Ereignisse wie Musik oder Volksfeste (z. B. Karneval/Fastnacht/ Fasching) beschränkt.

4.2.

Der »Dialektatlas Mittleres Westdeutschland (DMW)«

Das regionale als sehr standardfernes Sprechen hat spätestens seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sichtbar abgenommen. Im niederdeutschen Raum (siehe Abschnitt 4.1.) hat dieser Trend früher eingesetzt als im mittel- und oberdeutschen Raum. Bestehen bleibt die soziale Wertschätzung regionaler Zuweisbarkeit, die sich durch einzelne Merkmale wie den Stützkonsonanten t in ebent, den rheinischen Singsang u. ä. zeigt und zur Identitätsstiftung und Gruppenbildung beitragen kann.21 Für den Süden des deutschsprachigen Raums gibt es flächendeckend Sprachatlanten, die die Fähigkeit des Dialektsprechens im Erhebungszeitraum dokumentieren. Auch die Dialekte im Süden des mitteldeutschen Sprachraums wurden bereits erhoben; sie sind im »Mittelrheinischen Sprachatlas (MRhSA)« do-

Mitgestaltung. Vgl. Verfassung des Landes Brandenburg, URL: https://bravors.brandenbur g.de/de/gesetze-212792 [Stand: 30. 09. 2021]. 21 Vgl. Lameli, Alfred: Deutsch in Deutschland. Standard, dialektale und regionale Variation, in: Krumm, Hans-Jürgen / Fandrych, Christian / Hufeisen, Britta / Riemer, Claudia (Hg.): Handbuch Deutsch als Fremd- und Zweitsprache (Neubearbeitung), Berlin, New York 2010, S. 385–398, hier S. 392.

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kumentiert. Die Arbeit am »Dialektatlas Mittleres Westdeutschland (DMW)«,22 der nördlich davon anschließt, wurde im Jahr 2016 aufgenommen. Mit dem auf 17 Jahre angelegten Projekt wird das Spektrum moderner Regionalatlanten im Westen nach Norden hin ergänzt:

Abb. 4: Moderne Regionalatlanten des Deutschen.23

22 Spiekermann, Helmut H. / Tophinke, Doris / Vogel, Petra M. / Wich-Reif, Claudia (Hg.): Dialektatlas Mittleres Westdeutschland (DMW), Siegen 2016ff., URL: https://www.dmw-pro jekt.de [Stand: 25. 01. 2022]. Das Projekt wird seit 2016 im Akademienprogramm des Bundes und der Länder gefördert und durch die Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste betreut. 23 Schmidt, Jürgen Erich / Dammel, Antje / Girnth, Heiko / Lenz, Alexandra N.: Sprache und Raum im Deutschen: Aktuelle Entwicklungen und Forschungsdesiderate, in: Herrgen, Joa-

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Das Projekt verfolgt das Ziel, die standardfernsten Sprechweisen in NordrheinWestfalen und in Teilen von Niedersachsen und Rheinland-Pfalz hinsichtlich der Phonologie, der Morphologie, der Syntax und der Lexik systematisch zu erheben. Es ist der erste der Atlanten, der auch Teile des niederdeutschen Sprachraums miterfasst und für den mit Köln und dem Ruhrgebiet in besonders vielen urbanen Räumen Daten erhoben werden. Bei den Dialekten/Mundarten, die heute noch mehr oder weniger gut gesprochen werden, handelt es sich um Westfälisch, Niederfränkisch und Ripuarisch, in kleineren Gebieten auch Moselfränkisch, Mittel- bzw. Zentralhessisch und Ostfälisch.24 Um eine Vergleichbarkeit mit den anderen Atlanten zu gewährleisten, werden ca. 800 Fragen gestellt, die auch in den Fragebüchern zu anderen Atlanten stehen. Hier ein Beispiel aus dem SyntaxTeil.25 Mit der Frage soll festgestellt werden, ob die Gewährsperson in ihrem Dialekt nur die Standardvarianten Das ist der Schwanz der Katze. und Das ist der Schwanz von der Katze. verwendet oder (auch) Das ist der Katze ihr Schwanz. Befragt werden maximal zwei Personen, die älter als 70 Jahre sind und zwei Personen, die zwischen ca. 30 und 45 Jahre alt sind, in insgesamt ca. 1.000 Orten mit einer Einwohnerzahl zwischen 500 und 8.000, die gleichmäßig über das Erhebungsgebiet verteilt sind. Die Personen der älteren Generation sollten idealerweise ihr ganzes Leben am Ort verbracht, die der jüngeren Generation sollten mindestens bis zum 16. Lebensjahr dort gelebt haben. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass jüngere Menschen heute in der Regel mobiler sind als ältere.

chim / Schmidt, Jürgen Erich (Hg.): Sprache und Raum. Ein internationales Handbuch der Sprachvariation, Bd. 4: Deutsch (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 30.4), Berlin, Boston 2019, S. 28–60, hier S. 31. 24 Eine Broschüre mit weiteren Informationen zum Projekt ist unter folgender Adresse hinterlegt. URL: https://www.dmw-projekt.de/wp-content/uploads/2021/04/2021-03-31_DM W_Brosch%C3%BCre_DruckversionA5.pdf [Stand: 30. 09. 2021]. 25 Daten zur Syntax wurden bisher nur für Hessen für den SyHD-atlas (Fleischer, Jürg / Lenz, Alexandra N. / Weiß, Helmut: SyHD-atlas. Konzipiert von Ludwig M. Breuer. Unter Mitarbeit von Katrin Kuhmichel, Stephanie Leser-Cronau, Johanna Schwalm und Thomas Strobel, Marburg, Wien, Frankfurt a.M. 2017 und für den Syntaktischen Atlas der deutschen Schweiz (SADS) erhoben (Glaser, Elvira (Hg.): Syntaktischer Atlas der deutschen Schweiz, Bd. 1: Einleitung und Kommentare. Bearbeitet von Elvira Glaser und Gabriela Bart sowie Claudia Bucheli Berger, Guido Seiler, Sandro Bachmann und Anja Hasse, unter Mitarbeit von Matthias Friedli und Janine Richner-Steiner, Bd. 2: Karten. Bearbeitet von Sandro Bachmann, Gabriela Bart und Elvira Glaser sowie Claudia Bucheli Berger und Guido Seiler, Tübingen 2021). Der DMW ist der erste deutsche Regionalsprachenatlas, der alle grammatischen Ebenen sowie die Lexik gemeinsam erfasst.

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Abb. 5: Abfrage des possessiven Dativs aus dem DMW-Fragebuch.26

Angesichts des rapiden Rückgangs der Dialekte/Mundarten vor allem in Richtung Norden des deutschen Sprachgebiets kann es nicht das Ziel sein, nur dialektale Varietäten zu erheben. Es muss also vielmehr darum gehen, die noch fassbaren Bestände der Dialekte bzw. der maximal standardfernen Sprechweisen zu dokumentieren, zu analysieren und zu vergleichen. Mit den Wortkarten, die bereits jetzt über die Homepage abgerufen werden können, wird der jeweils aktuelle Erhebungsstand angezeigt. Sie werden automatisch erzeugt; eine Auswertung erfolgt erst, wenn alle Daten erhoben worden sind. Die folgenden Karten (der am häufigsten auftretenden Varianten des Verbs machen und des Substantivs Küche) zeigen exemplarisch, dass der nördliche Raum trotz des generellen Dialektschwunds noch ganz charakteristische Merkmale zeigt, die ihn vom südlichen Raum unterscheiden: Im Norden wird machen mit k artikuliert, im Süden mit ch. Wie z. B. im Englischen (to make), das wie das Deutsche eine westgermanische Sprache ist, ist im niederdeutschen Sprachraum der stimmlose velare Plosivlaut /k/ nicht nach »dunklem« Vokal zum stimmlosen velaren /X/27 bzw. nach »hellem« Vokal zum palatalen /ç/28 Frikativlaut verschoben worden. Die Verschiebung zeigt sich bei 26 Bildnachweis: pixabay (https://pixabay.com/de/service/license/); Kallenborn, Tim: Regionalsprachliche Syntax. Horizontal-vertikale Variation im Moselfränkischen (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Beihefte 176), Göttingen 2019, hier S. 177–218, bes. S. 197. 27 Auch: ach-Laut. 28 Auch: ich-Laut.

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Abb. 6: Varianten von machen im DMW-Gebiet.

allen Wörtern, bei denen k auf einen Vokal folgt. Die Linie, die den niederdeutschen vom hochdeutschen Sprachraum trennt, wird Benrather Linie genannt.29 Auch beim Wort Küche zeigt sich südlich der Benrather Linie die Verschiebung von k zu ch. Im hochdeutschen Sprachraum gibt es zudem einen West-/OstUnterschied: Im Gegensatz zum Osten wird der palatale Frikativlaut im Westen ganz regelmäßig koronalisiert, d. h., // wird ähnlich wie bzw. als /S/ artikuliert. Die Koronalisierung ist erst seit dem 19. Jahrhundert belegt und damit ein vergleichsweise junges Phänomen regionaler Aussprache. Im Südosten gibt es noch eine weitere Variante. Hier wird ch stimmhaft als /J/ artikuliert. Während die Darstellung mit Wortformen schnell großräumige Unterschiede sichtbar macht, zeigen die Karten mit Tortendiagrammen gut, an welchen Orten bereits erhoben wurde und auch, ob es am Ort Varianten gibt. Wo bereits erhoben wurde und die Daten über Interfaces (Schnittstellen) in die Datenbank eingespeist sind, können die Aufnahmen der Gewährspersonen angehört und auch miteinander verglichen werden:30

29 Die Linien, die die Sprachräume voneinander abgrenzen, werden als Isoglossen bezeichnet. Die Benrather Linie ist nach dem Ort (heute Stadtteil von Düsseldorf) benannt, an dem die Linie den Rhein quert. 30 Zur Methodik vgl. Carstensen, Kai-Uwe / Spiekermann, Helmut / Tophinke, Doris / Vogel, Petra M. / Wich-Reif, Claudia: Zur Methodik des Dialektatlas Mittleres Westdeutschland (DMW), in: Korrespondenzblatt des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 127 (2020), S. 107–114.

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Abb. 7a: Varianten von Küche im DMW-Gebiet.

Abb. 7b: Varianten von Küche im DMW-Gebiet, Tortendiagramme.

Aus der Legende lässt sich ablesen, welche Variante wie oft geäußert wurde. Bei Formen, die nur sehr selten erscheinen, muss noch überprüft werden, ob es die Varianten wirklich gibt oder ob Fehler bei der Transkription passiert sind.

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5.

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Sprach(räum)liche Variation im schulischen Unterricht

Es steht außer Zweifel, dass als Unterrichtssprache und Lernziel in den Schulen als öffentlichen Räumen31 die Standardvarietät die beste Option ist. Ihre Normen und Regeln sind hinreichend in (Rechtschreib-)Wörterbüchern und Grammatiken dokumentiert, die immer wieder aktualisiert werden, sodass auch die Ergebnisse von Sprachwandelprozessen miterfasst werden; nicht nur in Zweifelsfällen können sie als Nachschlagewerke dienen. Die Regeln dienen als Grundlage für offizielle Texte und auch für Sprachlehrwerke des Deutschen als Zweit- und Fremdsprache. Allein schon, um niemanden von der Kommunikation auszuschließen, ist es in einer mobilen Gesellschaft angebracht, dass das Sprechen im Unterricht möglichst standardnah erfolgt. Nicht nur Lehrpersonen, sondern auch den SuS sollte bewusst sein bzw. bewusst gemacht werden, dass standardfern sprechende SuS nicht falsch sprechen, sondern nur innerhalb eines anderen grammatischen Systems. Die Möglichkeit, erst einmal standardfern sprechen zu dürfen, wenn ein Dialekt oder ein Regiolekt zuhause die Erstsprache war, kann in Schulen den Übergang zur Standardsprache erleichtern. Deutsche Bildungsinstitutionen nehmen mittlerweile standardfernes Sprechen als Bestandteil des Varianten- und Varietätenspektrums der Sprache in ihre Lehrprogramme auf 32 und standardfernes Sprechen findet generell wieder mehr Akzeptanz. Dabei scheint es aber v. a. um das Hören zu gehen. Immer noch bemühen sich in Deutschland insbesondere bildungsorientierte Eltern, ihren Kindern (nur) standardnahes Deutsch als Erstsprache beizubringen.33 Die »erkennbar unzureichende Beherrschung der Standardsprache bei Erwachsenen [gilt] weiterhin oft als Zeichen mangelnder Bildung.«34 Gleichzeitig wurde aber auch die Relevanz erkannt, die der Heimatregion und untrennbar mit ihr verbunden der Sprache35 bei der Identitätsfindung und -bildung einer/eines jeden Einzelnen zukommt.36

31 Vgl. auch Abschnitt 3. 32 Regionalsprachen werden an Universitäten intensiv erforscht und von Drittmittelgebern gefördert; vgl. z. B. DMW Abschnitt 4.2.; Regionalsprache.de (REDE). URL: https://www.uni -marburg.de/de/fb09/dsa/projekte/regionalsprache-de-rede [Stand: 30. 09. 2021]; DiÖ-Online. URL: https://dioe.at/details/ [Stand: 30. 09. 2021]; Theorien, Methoden und (Teil-)Ergebnisse fließen in die Lehre ein. Zu Sprachvariation in Schulen siehe Abschnitt 2. 33 Da ihre Eltern oft dieselbe Haltung vertreten haben, können sie den Dialekt auch nicht mehr weitergeben. 34 Ammon, Ulrich u. a. (Hg.): Variantenwörterbuch, S. LIV. 35 Selbst Großstädte identifizieren sich auch über Sprache, wovon z. B. die Bezeichnungen Berlinisch, Kölsch, Hamburgisch, Öcher Platt (›Aachener Platt‹) zeugen. Das Allensbacher Institut nimmt die Umfrage von 2008 als Stadtsprache nur »Berlinerisch« auf, vgl. Institut für Demoskopie Allensbach (Hg.): Auch außerhalb von Bayern wird Bayrisch gern gehört. Die beliebtesten und unbeliebtesten Dialekte (Allensbacher Berichte 2008,4), hier S. 2. URL:

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Bei der Bewertung des Sprechens der SuS ist zu berücksichtigen, dass von der Standardsprache abweichendes Sprechen umso standardferner eingestuft wird, je größer die räumliche Distanz zwischen Hörerinnen und Hörern Richtung Norden und Sprecherinnen und Sprechern Richtung Süden ist. Studien aus der Wahrnehmungsdialektologie bestätigen dies insofern, als weiter entfernt gesprochene Dialekte in Aufgaben zur Sprachraumzuordnung gröber oder auch eher falsch klassifiziert werden als solche in der Nähe.37 Die folgende Karte zeigt, wie ein linguistischer Laie die Varietäten im deutschen Sprachraum wahrnimmt.38 Aufgabe der befragten Person war es, die ihr bekannten Dialekte in eine Karte mit den wichtigsten Städten und Flüssen einzutragen. Im Ergebnis erfasst die befragte Person die Sprachräume nicht vollständig, es bleiben weiße Flecken übrig. Die verallgemeinernden, großräumigen Bezeichnungen für die niederdeutschen, die Schweizer und die österreichischen Dialekte und die genaueren Bezeichnungen für Teile Frankens, Thüringens, Sachsens und Bayerns sind Zeugnis davon, dass Sprachräume nicht selten mit politischen Räumen korreliert werden.39 Zur Einführung in das Thema Sprachliche Variation könnte den SuS eine ähnliche Karte vorgelegt werden, um das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass jede/r Einzelne eine vergleichsweise gute Einordnung des umgebenden Raums vornehmen kann, dass die weiter entfernt liegenden Räume von bekannten Personen, von Reisen, durch die Literatur oder Stereotype geprägt sein können, dass Sprachräume unterschiedlich bezeichnet werden (können) und auch, dass

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https://www.ifd-allensbach.de/fileadmin/kurzberichte_dokumentationen/prd_0804.pdf [Stand: 26. 01. 2022]. Vgl. z. B. den Vortrag mit dem Titel »Dialekt in der Gesellschaft« von Winfried Kretschmann als Ministerpräsident Baden-Württembergs. URL: https://www.baden-wuerttemberg.de/file admin/redaktion/m-stm/intern/dateien/publikationen/161020_Kretschmann_Vortrag_Dial ekt_in_der_Gesellschaft.pdf [Stand: 30. 09. 2021], der in vielerlei Hinsicht Impulse für den unterrichtlichen Austausch über sprachliche Variation gibt. Vgl. dazu Auer, Peter: Sprache, Grenze, Raum, in: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 23,2 (2004), S. 149–180. Der deutsche Sprachraum aus der Sicht linguistischer Laien. URL: https://www.wahrneh mungsdialektologie.uni-kiel.de/de/Startseite [Stand: 30. 09. 2021]. Die Karte gehört zu einer Untersuchung, die in der folgenden Studie dargestellt ist: Hundt, Markus: Bericht über die Pilotstudie Laienlinguistische Konzeptionen deutscher Dialekte, in: Anders, Christina Ada / Hundt, Markus / Lasch, Alexander (Hg.): »perceptual dialectology« – Neue Wege der Dialektologie, Berlin, New York 2010, S. 179–219. Dies zeigt sich auch in den Angaben des Allensbacher Instituts (Institut für Demoskopie Allensbach [Hg.]: Auch außerhalb von Bayern wird Bayrisch gern gehört, S. 2): andere Schreibung (Bayerisch, nicht Bairisch), andere Bezeichnung (Berlinerisch, nicht Berlinisch), großräumige (z. B. Norddeutsches Platt, Rheinländisch, Saarländisch) und kleinräumig(er)e Angaben (z. B. Mecklenburgisch, das zu den niederdeutschen Dialekten gehört), zweckgebundene Präzisierung (Badisch-Alemannisch wohl in Abgrenzung zum Alemannischen in der Schweiz). Die 1.814 befragten Personen (ebd., 6) schienen sich nicht an den Bezeichnungen zu stören.

Wahrnehmen – Reflektieren – Bewerten

57

Abb. 8: Der deutsche Sprachraum aus der Perspektive linguistischer Laien.

ein und dieselbe Person je nach (Öffentlichkeitsgrad der) Situation und Kompetenz sehr standardfern, aber auch sehr standardnah sprechen kann. Viele Universitäten stellen heute online Materialien zur Verfügung, die Impulse für den schulischen Unterricht geben und didaktisch aufbereitet werden können. Abschließend werden neben dem DMW zwei weitere Angebote vorgestellt, die für das Thema Sprachliche Variation und Wandel ohne tiefe Vorkenntnisse gut genutzt werden können:

58

Claudia Wich-Reif

– Dialektatlas Mittleres Westdeutschland (DMW)40 Der »Dialektatlas Mittleres Westdeutschland (DMW)« zeigt auf, welche standardfernen sprachlichen Varianten es in Nordrhein-Westfalen und in benachbarten Regionen heute noch gibt. Die Daten eignen sich nicht nur für einen inhaltlichen, sondern auch für einen methodischen Vergleich (Erhebungen) mit dem »Atlas zur deutschen Alltagssprache«. – Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA)41 Im »Atlas zur deutschen Alltagssprache« wird die aktuelle Vielfalt des Deutschen erfasst, auf Karten dargestellt und kommentiert. Durch den Vergleich mit älteren Sprachkarten (die Literatur wird auf der Homepage genannt) können Veränderungen des Sprachgebrauchs in den letzten 30 bis 40 Jahren nachvollzogen werden. – Variantengrammatik des Standarddeutschen42 Die »Variantengrammatik des Standarddeutschen« zeigt auf, dass es nicht nur klein- und großräumige Variation in der BRD, Österreich und der Schweiz gibt, sondern dass auch die Standardvarietät facettenreich ist und Variation zur Norm dazugehört.

Literatur Ammon, Ulrich / Bickel, Hans / Lenz, Alexandra N. (Hg.): Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz, Deutschland, Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol sowie Rumänien, Namibia und Mennonitensiedlungen, 2. Auflage, Berlin, Boston 2016. Atlas zur deutschen Alltagssprache. URL: https://www.atlas-alltagssprache.de [Stand: 30. 09. 2021]. Auer, Peter: Sprache, Grenze, Raum, in: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 23,2 (2004), S. 149–180. Carstensen, Kai-Uwe / Spiekermann, Helmut / Tophinke, Doris / Vogel, Petra M. / Wich-Reif, Claudia: Zur Methodik des Dialektatlas Mittleres Westdeutschland (DMW), in: Korrespondenzblatt des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 127 (2020), S. 107–114. Dudenredaktion (Hg.): Duden. Das Herkunftswörterbuch, 6., vollständig überarb. und erw. Aufl. (Duden 7), Berlin 2020. Der deutsche Sprachraum aus der Sicht linguistischer Laien. URL: https://www.wahrneh mungsdialektologie.uni-kiel.de/de/Startseite [Stand: 30. 09. 2021]. 40 Der angrenzende Raum wurde in die Untersuchung mit einbezogen, weil sprachliche Grenzund Übergangsgebiete nicht deckungsgleich mit politischen Räumen sind. Vgl. auch Abschnitt 4.2. und Anm. 21. 41 Atlas zur deutschen Alltagssprache. URL: https://www.atlas-alltagssprache.de [Stand: 30. 09. 2021]. 42 Variantengrammatik des Standarddeutschen. URL: http://mediawiki.ids-mannheim.de/Var Gra/index.php/Start [Stand: 30. 09. 2021].

Wahrnehmen – Reflektieren – Bewerten

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DiÖ-Online. URL: https://dioe.at/details/ [Stand: 30. 09. 2021]. DWDS = DWDS – Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache, hg. von der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften. URL: https://www.dwds.de/d/wb -dwdswb [Stand: 30. 09. 2021]. Fleischer, Jürg / Lenz, Alexandra N. / Weiß, Helmut: SyHD-atlas. Konzipiert von Ludwig M. Breuer. Unter Mitarbeit von Katrin Kuhmichel, Stephanie Leser-Cronau, Johanna Schwalm und Thomas Strobel, Marburg, Wien, Frankfurt a.M. 2017. URL: dx.doi.org/ 10.17192/es2017.0003 [Stand: 30. 09. 2021]. Glaser, Elvira (Hg.): Syntaktischer Atlas der deutschen Schweiz, Bd. 1: Einleitung und Kommentare. Bearbeitet von Elvira Glaser und Gabriela Bart, sowie Claudia Bucheli Berger, Guido Seiler, Sandro Bachmann und Anja Hasse, unter Mitarbeit von Matthias Friedli und Janine Richner-Steiner, Bd. 2: Karten. Bearbeitet von Sandro Bachmann, Gabriela Bart und Elvira Glaser sowie Claudia Bucheli Berger und Guido Seiler, Tübingen 2021. Hundt, Markus: Bericht über die Pilotstudie Laienlinguistische Konzeptionen deutscher Dialekte, in: Anders, Christina Ada / Hundt, Markus / Lasch, Alexander (Hg.): »perceptual dialectology« – Neue Wege der Dialektologie, Berlin, New York 2010, S. 179–219. Institut für Demoskopie Allensbach (Hg.): Auch außerhalb von Bayern wird Bayrisch gern gehört. Die beliebtesten und unbeliebtesten Dialekte (Allensbacher Berichte 2008,4). URL: https://www.ifd-allensbach.de/fileadmin/kurzberichte_dokumentationen/prd_0 804.pdf [Stand: 30. 09. 2021]. Kallenborn, Tim: Regionalsprachliche Syntax. Horizontal-vertikale Variation im Moselfränkischen (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Beihefte 176), Göttingen 2019. KLP Ges Sek I = Ministerium für Schule, Jugend und Kinder des Landes NordrheinWestfalen (Hg.): Kernlehrplan für die Gesamtschule – Sekundarstufe I in NordrheinWestfalen. Deutsch (Schule in NRW 3107), Frechen 2004. KLP Gym Sek I = Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.): Kernlehrplan für die Sekundarstufe I Gymnasium in Nordrhein-Westfalen. Deutsch (Schule in NRW 3409), Düsseldorf 2019. KLP Sek II = Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.): Kernlehrplan für die Sekundarstufe II Gymnasium/Gesamtschule in NordrheinWestfalen. Deutsch (Schule in NRW 4701), Düsseldorf 2014. Kretschmann, Winfried (2016): Dialekt in der Gesellschaft. URL: https://www.baden-wuert temberg.de/fileadmin/redaktion/m-stm/intern/dateien/publikationen/161020_Kretsc hmann_Vortrag_Dialekt_in_der_Gesellschaft.pdf [Stand: 30. 09. 2021]. Lameli, Alfred: Deutsch in Deutschland. Standard, dialektale und regionale Variation, in: Krumm, Hans-Jürgen / Fandrych, Christian / Hufeisen, Britta / Riemer, Claudia (Hg.): Handbuch Deutsch als Fremd- und Zweitsprache (Neubearbeitung), Berlin, New York 2010, S. 385–398. Neuland, Eva: Jugendsprache, 2., überarb. und erw. Aufl., Tübingen 2018. Regionalsprache.de (REDE). URL: https://www.uni-marburg.de/de/fb09/dsa/projekte/reg ionalsprache-de-rede [Stand: 30. 09. 2021]. Pixabay. URL: https://pixabay.com/de/service/license/ [Stand: 30. 09. 2021]. Schmidt, Jürgen Erich: Vom traditionellen Dialekt zu den modernen deutschen Regionalsprachen, in: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung / Union der deutschen

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Claudia Wich-Reif

Akademien der Wissenschaften (Hg.): Vielfalt und Einheit der deutschen Sprache. Zweiter Bericht zur Lage der deutschen Sprache, Tübingen 2017, S. 105–143. Schmidt, Jürgen Erich / Dammel, Antje / Girnth, Heiko / Lenz, Alexandra N. (2019): Sprache und Raum im Deutschen: Aktuelle Entwicklungen und Forschungsdesiderate, in: Herrgen, Joachim / Schmidt, Jürgen Erich (Hg.): Sprache und Raum. Ein internationales Handbuch der Sprachvariation, Bd. 4: Deutsch (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 30.4). Berlin, Boston 2019, S. 28–60. Spiekermann, Helmut H. / Tophinke, Doris / Vogel, Petra M. / Wich-Reif, Claudia (Hg.): Dialektatlas Mittleres Westdeutschland (DMW), Siegen 2016ff. URL: https://www.dm w-projekt.de [Stand: 30. 09. 2021]. Variantengrammatik des Standarddeutschen. URL: http://mediawiki.ids-mannheim.de/ VarGra/index.php/Start [Stand: 30. 09. 2021]. Verfassung des Landes Brandenburg. URL: https://bravors.brandenburg.de/de/gesetze-2 12792 [Stand: 30. 09. 2021]. Wich-Reif, Claudia: Deutschland (Bundesrepublik Deutschland), in: Lebsanft, Franz / Wingender, Monika (Hg.): Die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen. Ein Handbuch zur Sprachpolitik des Europarats, Berlin, New York 2012, S. 39–75. Wissenschaftlicher Rat der Duden-Redaktion (Hg.): Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn Bänden, Bd. 1–10, 3., völlig neu bearb. und erw. Aufl., Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich 1999.

ENGLISCH

Imke Lichterfeld / Philipp Reul / Daniel Schönbauer

Lehramt Englisch: Synergien zwischen Fachdidaktik und Fachwissenschaft

1.

Einführung

Das Fach Englisch erfreut sich in den ›Bachelor of Arts‹- und ›Master of Education‹-Studiengängen großer Beliebtheit. Das Studium umfasst fachwissenschaftliche und fachdidaktische Anteile. Die Fachdidaktik verbindet das fachwissenschaftliche Wissen mit den Anforderungen der Schule. So bilden didaktische Modelle und Konzepte des Sprach- und Literaturunterrichts die Grundlage für die Planung, Gestaltung und Evaluation schulischer Lehr-Lernprozesse – weitere empirische Studien zur Unterrichtsforschung sowie Fragen der Diagnose und Förderung ergänzen diese. Am Institut für Anglistik, Amerikanistik und Keltologie (IAAK) nimmt sich der Arbeitsbereich der Fachdidaktik dieser Aufgabe durch eigene (extracurriculare) Veranstaltungen, wie einer seit dem Sommersemester 2016 etablierten Lecture Series sowie Kooperationen zwischen verschiedenen Abteilungen als auch durch gemeinsame Fortbildungsangebote an. Der folgende Beitrag beleuchtet in diesem Zusammenhang exemplarisch drei Formate, die aufzeigen, auf welche Weise das Lehramtsstudium des Faches Englisch Synergien zwischen Fachdidaktik und Fachwissenschaften mit dem Ziel einer nachhaltigen Professionalisierung angehender Lehrkräfte umsetzt. Das erste Angebot verweist auf eine von Daniel Schönbauer seit dem Wintersemester 2017/18 angebotene Seminarkonzeption in den Modulen des Masterstudiengangs. Hieran anknüpfend erläutert Imke Lichterfeld zwei Beispiele, wie Studierenden des Lehramts mit dem Unterrichtsfach Englisch auch in den fachwissenschaftlichen Modulen am IAAK Kompetenzen für ihre fachdidaktische Laufbahn vermittelt werden können. Zuletzt demonstriert Philipp Reul die Möglichkeit der Studierendenbeteiligung in der Planung von Lehre an einem außerschulischen Lernort in Bonn.

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2.

Imke Lichterfeld / Philipp Reul / Daniel Schönbauer

Literaturwissenschaft meets Literaturdidaktik – eine Seminarkonzeption für Lehramtsstudierende des Faches Englisch (Daniel Schönbauer)

Warum ist dieses Thema wichtig für meine spätere berufliche Tätigkeit an der Schule? Warum beschäftige ich mich immer nur mit theoretischen Modellen und Konzepten? Solche Fragen sind häufig anzutreffende Fragestellungen von Lehramtsstudierenden. Während der polyvalente Bachelorstudiengang propädeutische Zielsetzungen verfolgt, ist es Anspruch des Masterstudiengangs mit dem Abschluss ›Master of Education‹, verstärkt Brücken in die Schulpraxis zu schlagen. Dass dies nicht nur auf fachdidaktische Seminare sowie das zentrale Praxissemester begrenzt sein muss, zeigt die im Folgenden vorgestellte Seminarkonzeption, wie sie seit dem Wintersemester 2017/18 an der Universität Bonn in den literaturwissenschaftlichen Modulen des Masterstudiengangs Englisch Lehramt am Institut für Anglistik, Amerikanistik und Keltologie angeboten wird.

2.1

Strukturelle und konzeptionelle Überlegungen

Der Masterstudiengang Englisch Lehramt an der Universität Bonn fußt neben der Vorbereitung und Begleitung des Praxissemesters unter anderem auf dem Modul »Fachdidaktik I«, welches die im Bachelorstudiengang angelegten Grundlagen der Literatur- und Kulturdidaktik sowie Sprach- und Mediendidaktik anhand von Modellen, Theorien und Methoden vertieft. Daneben belegen Studierende insgesamt drei fachwissenschaftliche Module, von denen zwei Module literatur- und kulturwissenschaftlich mit den Schwerpunkten British Literatures and Cultures sowie North American and Postcolonial Literatures and Cultures und ein Modul (English Linguistics) sprachwissenschaftlich ausgerichtet sind. Somit decken diese drei Module zentrale Inhaltsfelder des schulischen Englischunterrichts der gymnasialen Oberstufe ab.1 Es ist daher der Anspruch dieser drei Module, Studierenden vertiefte Kenntnisse und Methoden in diesen Inhaltsfeldern zu vermitteln, welche dem späteren Unterrichten dienlich sind. Bereits im Vorfeld des Wintersemesters 2017/18 wurden im Rahmen der Workshop Series Current Issues in the Teaching of English as a Foreign Language punktuelle Angebote eingerichtet, wie fachdidaktische und fachwissenschaftliche Fragestellungen in diesen Modulen miteinander in Verbindung gesetzt werden können. So widmete sich ein Workshop zu postkolonialer Kurzprosa im Sommersemester 2016 ausgewählten Kurzgeschichten aus dem anglophonen postkolonialen Raum und entwickelte auf 1 Vgl. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen [MSB]: Kernlehrplan Englisch, Düsseldorf 2017, S. 40.

Lehramt Englisch: Synergien zwischen Fachdidaktik und Fachwissenschaft

65

einer Sachanalyse der Kurzgeschichte als Unterrichtsgegenstand Fragestellungen, die für den schulischen Englischunterricht Bedeutung besitzen. Diese punktuellen Workshopangebote wurden im Wintersemester 2017/18 mit dem Seminar Postcolonial Indian Experiences: ›Faces‹ of a Rising Nation zu einer ganzsemestrigen Seminarkonzeption ausgebaut, welche in den folgenden Semestern auf Grundlage studentischen Feedbacks fortlaufend weiterentwickelt wurde. Das Seminar verfolgt das übergeordnete Ziel einer nachhaltigen und motivationsorientierten Vorbereitung auf den schulischen Englischunterricht vor dem Hintergrund von Synergien zwischen fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Fragestellungen. Folgende Zielsetzungen sind leitend: – Vermittlung fachwissenschaftlicher Grundlagen in Bezug auf soziokulturelles Orientierungswissen, literatur- und kulturtheoretische Konzepte und methodische Herangehensweisen; – Analyse und Durchdringung etwaiger literarischer Texte als mögliche Unterrichtsgegenstände unter Nutzung des fachwissenschaftlichen Theorie- und Methodenrepertoires (»Sachanalyse«); – Anwendung bislang abstrakter literatur- und kulturdidaktischer Fragestellungen und Reflexionszusammenhänge anhand einer konkreten Textgrundlage als Ausgangspunkt für eine Erörterung der Chancen und Herausforderungen des Textes für den schulischen Englischunterricht (»fachdidaktische Analyse«); – Entwicklung und Reflexion möglicher unterrichtspraktischer Aufgabenapparate zu ausgewählten Textstellen unter Einhaltung der Konstruktionsvorgaben von Aufgaben in der gymnasialen Oberstufe (»methodische Perspektivierung«); – Entwicklung von motivierenden und lernerfreundlichen Unterrichtsmaterialien vor dem Hintergrund von Basiswissen der Materialentwicklung und -gestaltung; – Überlegungen in Bezug auf eine mögliche Einbettung der verschiedenen Texte und Themen im Kontext eines Unterrichtsvorhabens (»Sequenzplanung«). Dementsprechend verknüpft die Seminarkonzeption die in den Unterrichtsveranstaltungen des Moduls »Fachdidaktik I« erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten mit fachwissenschaftlichen Inhaltsfeldern und Kompetenzen und verbindet diese synergetisch zu einer Reflexionsfolge gemäß der Fragestellungen »What?«, »Why?« und »How«?, welche grundlegend für jede unterrichtspraktische Aufbereitung eines Gegenstandes zu einem Unterrichtsthema und letztlich einer Reihen- und Stundenkonzeption ist. Ausgehend von diesen Zielsetzungen ergeben sich folgende Konsequenzen für die Gestaltung der Seminare:

66

Imke Lichterfeld / Philipp Reul / Daniel Schönbauer

– Konkrete Anbindung der Seminarveranstaltung an Inhaltsfelder des Kernlehrplans für das Fach Englisch in den Sekundarstufen I und II bzw. die Obligatorik für das Zentralabitur in Nordrhein-Westfalen; – Auswahl eines breiten Repertoires unterschiedlicher Texte, die in der Regel einen grundsätzlichen »Mehrwert« für den schulischen Englischunterricht darstellen;2 – Vermittlung fachwissenschaftlicher Fragestellungen und Konzepte als Grundlage für eine literatur- und kulturtheoretische Auseinandersetzung mit literarischen Texten; – Vertiefung und Übung fachdidaktischer Grundlagen und Überlegungen in Bezug auf das jeweils vorliegende Inhaltsfeld bzw. das gewählte Unterrichtsvorhaben; – Vermittlung von Grundlagen der Materialentwicklung und -gewinnung sowie der operatorengestützten und kompetenzorientieren Aufgabenkonstruktion (beispielsweise entlang des Pre-, While- and Post-reading [PWP]-Modells); – Skizzenhafte Erarbeitung von strukturierten Unterrichtsvorhaben im Sinne einer kompetenzorientierten Lernprogression. Diese Konsequenzen spiegeln sich auch in der Anlage der Studien- und Prüfungsleistungen wider, die so angelegt sind, dass Studierende die oben bereits skizzierte Reflexionsfolge aus »What?« (Sachanlayse), »Why (not)?« (fachdidaktische Analyse) und »How« (methodische Perspektivierung) anhand eines ausgewählten Textes vollziehen können. Eine solche Reflexionsleistung wird um erste Versuche ergänzt, Unterrichtsmaterialien zu ausgewählten Textstellen zu erstellen.3 Die Dokumentation der Studienleistung erfolgt entlang einer für alle Sitzungsbeiträge standardisierten tabellarischen Übersicht, sodass Studierende am Ende des Seminars bereits über einen reader einheitlich gestalteter Unterrichtsvorschläge zu einem breiten Repertoire literarischer Texte für ein Inhaltsfeld verfügen, die bei einer späteren etwaigen Aufbereitung des Inhaltsfeldes im schulischen Englischunterricht als Grundlage verwendet werden können.

2 Während in den ersten Seminaren vereinzelt Texte behandelt wurden, die im Ergebnis der fachdidaktischen Erörterung als weniger zielführend für die praktische Umsetzung im Unterricht eingestuft wurden, sind solche Texte in späteren Veranstaltungen auf Grundlage studentischer Rückmeldungen ausgelassen worden. 3 Studierende können ihre Prüfungsleistung auf den Ergebnissen der im Seminar erbrachten Studienleistung aufbauen. Sie haben allerdings ebenso die Option, für ihre Prüfungsleistung eine alternative Textgrundlage zu wählen.

Lehramt Englisch: Synergien zwischen Fachdidaktik und Fachwissenschaft

2.2

67

Konkretisierung am Beispiel des Seminars »Voices from the African Continent: Nigeria in the EFL Classroom«

Die vorab skizzierten Konzeptionsüberlegungen werden im Folgenden anhand des im Sommersemester 2021 durchgeführten Seminars »Voices from the African Continent: Nigeria in the EFL Classroom« konkretisiert. Das Seminar orientiert sich sowohl an curricularen Vorgaben des Kernlehrplans (KLP) des Landes Nordrhein-Westfalen als auch den Vorgaben für das Zentralabitur im Fach Englisch. Hinsichtlich der curricularen Einbettung entspricht eine Auseinandersetzung mit Nigeria den im KLP ausgewiesenen Inhaltsfeldern »Politische, soziale und kulturelle Wirklichkeiten und ihre historischen Hintergründe: Postkolonialismus – Lebenswirklichkeiten in einem weiteren anglophonen Kulturraum« sowie »Globale Herausforderungen und Zukunftsvisionen: Chancen und Risiken der Globalisierung«4 im Kontext der Förderung der interkulturellen kommunikativen Kompetenz im Bereich ›Soziokulturelles Orientierungswissen‹. Hinsichtlich der Obligatorik handelt es sich bei »Voices from the African Continent: Focus on Nigeria« um eine Konkretisierung für das Zentralabitur in Nordrhein-Westfalen im Grund- und Leistungskurs ab 2021.5 Einen anglophonen Kulturraum wie Nigeria im Rahmen eines Seminars wie auch im schulischen Englischunterricht adäquat abzubilden, stellt eine Herausforderung dar, die lediglich unter Berücksichtigung der theoretischen Prinzipien von didaktischer Reduktion und pädagogischer Exemplarität bewältigt werden kann. Die ausgewählten (literarischen) Texte sollen Studierenden einen breiten thematischen und medialen Fächer im Sinne eines textual framework aufzeigen, der es ermöglicht, verschiedene Facetten nigerianisch-postkolonialer Erfahrungen zu erforschen. Die Strukturierung dieser Texte und Themen orientiert sich an der Einbettung des Themas »Voices from the African Continent: Focus on Nigeria« in zwei Inhaltsfeldern des Kernlehrplans (Postkolonialismus und Globalisierung). Neben diesen thematischen Überlegungen repräsentierten die Texte verschiedene literarische Genres im Sinne des »erweiterten Textbegriffs«.6

4 Vgl. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen [MSB]: Kernlehrplan Englisch, S. 40. 5 Vgl. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen [MSB]: Vorgaben für das Zentralabitur 2023, Düsseldorf 2021, S. 4ff. 6 Vgl. Kallmeyer et al.: Lektürekolleg zur Textlinguistik, 1: Einführung, Kronberg 1974, S. 45.

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Imke Lichterfeld / Philipp Reul / Daniel Schönbauer

Inhaltsfeld Postcolonial Perspectives

Konkretisierung Colonialism Post-independence

Global Perspectives 21st century Nigeria Nigerian Diaspora

Textauswahl Okri, »An African Elegy« (poem, 1992) Achebe, »Civil Peace« (short story, 1971) Bandele, Half of a Yellow Sun (film, 2013) Savage, »49–99« (music video clip, 2019) Fatunla, No Place Does Me Like Lagos (graphic novel, 2017) Adichie, Purple Hibiscus (novel, 2003) Popoola, When We Speak of Nothing (novel, 2017)

Afropolitanism Selasi, »Bye-Bye Babar« (online article, 2005) Tabelle 1: Überblick der Textgrundlagen und Themenfeldern des Seminars

Eingebettet werden diese Themenfelder und Texte in eine dreigliedrige Seminarstruktur, die das Ziel verfolgt, mit Studierenden fachwissenschaftliche und fachdidaktische Grundlagen einer Auseinandersetzung mit Nigeria im schulischen Englischunterricht zu erarbeiten und gleichermaßen Überlegungen in Bezug auf die Entwicklung eines Unterrichtsvorhabens auszuloten. Sitzung Thema der Sitzung 017 Introduction I: Organisation & Orientation Workshop: Reihe, Stunde und Material im Literaturunterricht 02 Introduction II: Learning with Nigeria in the EFL Classroom – What? Why? How? 03 04

Postcolonial Perspectives I: Colonialism Postcolonial Perspectives II: Post-independence

05 06

Global Perspectives I: 21st century Nigeria Global Perspectives II: Nigerian Diaspora

07

Global Perspectives III: Afropolitanism Conclusion: Teaching ›Voices‹ from the African Continent & Evaluation and Term Paper

Tabelle 2: Seminarstruktur

So verfolgen die ersten beiden Sitzungen das Ziel einer Einführung in das Inhaltsfeld sowie fachdidaktische und unterrichtspraktische Überlegungen in Bezug auf Nigeria im schulischen Englischunterricht. Berücksichtigung finden unter anderem eine Einführung in die Geschichte Nigerias, Themenfelder und Konzepte der postkolonialen Literatur- und Kulturwissenschaft, maßgeblich fußend auf den Key Concepts of Postcolonial Studies von Ashcroft, Griffiths und

7 Während das erste Seminar dieser Konzeption im Wintersemester 2017/18 noch wöchentlich durchgeführt wurde, fanden die folgenden Seminare vierzehntäglich im Umfang von 180 Minuten statt.

Lehramt Englisch: Synergien zwischen Fachdidaktik und Fachwissenschaft

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Tiffin8 sowie eine erste Betrachtung des Mehrwerts einer Auseinandersetzung mit Nigeria aus Sicht der Literatur- und Kulturdidaktik. Ergänzt wird dieser erste Abschnitt des Seminars um einen Workshop zu den Grundlagen der Materialentwicklung, in dessen Rahmen Studierende die Gelegenheit erhalten, in einem Schonraum erste Versuche der Erstellung bzw. Überarbeitung bestehender Materialien durchzuführen. Der Einführung folgen die für das Seminar zentralen Themenfelder, in deren Rahmen Studierende die Ergebnisse ihrer Studienleistungen in Ergänzung zu fokussierten fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Konkretisierungen zur Diskussion stellen. So werden beispielsweise in der Sitzung 04 (»Post-independence«) Erfahrungen von Trauma sowie die Textsorte der Fictions of Memory und deren Potential für den schulischen Englischunterricht beleuchtet bzw. erörtert. In dem Abschnitt der Sitzung 07 werden die Ergebnisse der Einzelsitzungen übergreifend betrachtet und, ausgehend von einem Input zu den Grundlagen der Reihenkonzeption und -planung, erste Entwürfe möglicher Unterrichtsvorhaben »Voices from the African Continent: Focus on Nigeria« erarbeitet. Als Ergebnis des Seminars verfügen die Studierenden somit über vertiefte Kenntnisse und Fähigkeiten, die für die schulpraktische Aufbereitung eines literatur- und kulturwissenschaftlich ausgerichteten Unterrichtsvorhabens unabdingbar sind. Die von den Studierenden erarbeiteten Ideen sind erfahrungsgemäß qualitativ hochwertig, sodass bereits im Kontext zweier Seminare die studentischen Beiträge in Sammelbänden9 veröffentlicht wurden.

3.

Ideen zur Verknüpfung von aktiven und fachdidaktischen Elementen in fachwissenschaftlichen Modulen (Imke Lichterfeld)

Das Modul ›Renaissance Studies‹ wird sowohl in den an der Fakultät angesiedelten Studiengängen des Instituts im Kernfach und im Zweifach ›English Studies‹ als auch im Lehramtsstudiengang innerhalb des Moduls »British and Postcolonial Literatures and Cultures« angeboten. Die Kurse in diesen Modulen sind polyvalent, weshalb in den Veranstaltungen KommilitonInnen der Lehramtsstudiengänge mit anderen Studierenden der Philosophischen Fakultät gemeinsam arbeiten.

8 Ashcroft, Bill / Griffiths, Gareth / Tiffin, Helen: The Empire Writes Back: Theory and Practice in Postcolonial Literatures, London, New York 1989. 9 Zu diesen Sammelbänden gehören: Schönbauer, Daniel (Hg.): Postcolonial Indian Experiences: Teaching the Faces of a Rising Nation, Baden-Baden 2020; Schönbauer, Daniel (Hg.): »All the world’s a stage« – Shakespeare in English Language Education, Baden-Baden (erscheint demnächst).

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Imke Lichterfeld / Philipp Reul / Daniel Schönbauer

Im Folgenden werden zwei Beispiele beschreibend erläutert, wie das fachwissenschaftliche Angebot der Bonner Anglistik ansprechend und kreativ auch für Studierende aus den Lehramtsstudiengängen durch Einbeziehung gemeinsamer Gestaltungsaufträge sowie den flexiblen Umgang mit Arbeitsaufgaben bzw. Studienleistungen genutzt werden kann. Es soll aufgezeigt werden, wie Lehramtsstudierende auch in fachwissenschaftlichen Modulen Ideen für zukünftige Unterrichtsreihen entwickeln können.

3.1

Theater-Workshops

William Shakespeare war playwright. Er entwarf Theaterstücke, die für den Moment der Darstellung auf der Bühne geschrieben wurden, nicht als Lesedramen: Sie waren zunächst nur niedergeschrieben und in Auszügen vervielfältigt, um gespielt zu werden. Dieser Aspekt fehlt oft im universitären Kontext, in dem recherchiert, kontextualisiert und analysiert wird. Methodisch geschieht dies auch im schulischen Kontext in erster Linie durch folgendes: Es gibt Arbeitsblätter zur Charakterisierung und Perspektivierung von Rollen. Es gibt Interpretationen von filmischen Adaptionen. Manchmal gibt es sogar Theaterbesuche. Sowohl für Lehramtsstudierende als auch für Studierende der Studiengänge an der Philosophischen Fakultät wirkt die praktische Anwendung von theoretisch Gelerntem kompetenzverstärkend im Hinblick auf Leseverstehen. Nicht nur das laute Lesen der frühneuzeitlichen Zeilen spielt dabei eine intensivierende Rolle, sondern auch das Erleben der Figuren. Gerade bei Theater-Workshops erkennen Studierende den Rhythmus Shakespeares: Ein jambischer Pentameter wird als Herzschlag erfahrbar gemacht. Dann wird der Unterrichtsraum zur Bühne: »the whole classroom is our stage«.10 Zu den performativen Bearbeitungsmöglichkeiten im Rahmen aktiver Textarbeit schreibt Doris Bachmann-Medick: In understanding theatricality as an implicit element of the textual process and viewing language or text as theatrical (because it stages meanings), this approach confirms […] text and performance need not remain strict dichotomies posited by the humanities. In a lucidly formulated argument, […] literary studies can contribute to the performative turn. After all, the theatrical implications of language in the literary text […] are obvious.11

Der von Bachmann-Medick hervorgehobene performative Aspekt im Verstehen eines Dramas, der Textarbeit komplementär unterstützt, kann auch einen Fokus 10 Stredder, James: The North Face of Shakespeare. Activities for teaching the plays, Cambridge School Shakespeare, Cambridge 2009, hier S. 23. 11 Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns, New Orientations in the Study of Culture, Berlin / Boston 2016, hier S. 90.

Lehramt Englisch: Synergien zwischen Fachdidaktik und Fachwissenschaft

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innerhalb universitärer Module bilden. Ein Theater-Workshop als aktivierende Methode unterstützt die praktische Dimension des Lernens und ist somit als Teil des von Bachmann-Medick erläuterten performative turn zu deklarieren.12 Gleichzeitig hilft es Lehrenden, den Schritt über den gedruckten Text hinaus zu wagen, denn »[o]ptimale Lehrwerkverwendung bedeutet nicht maximale Lehrwerkbindung«.13 Close reading und die Evaluation von Sekundärliteratur sind selbstverständlich essentiell. Jedoch können und sollten diese durch eine praktischere, auch auf anderer Ebene herausfordernde Herangehensweise an ein Drama ergänzt werden. Dies kann beispielsweise physische Aspekte involvieren, wie die Rollenverkörperung in einer Inszenierung. Dies impliziert die »expressive dimension«,14 die der Orientierung hilft, wie Cicely Berry ergänzt: »to help integrate the motive and the speech, and get that extra sense of placing the word«.15 Der performative Aspekt der Sprache verleiht den Textinhalten so Authentizität und Motivation. Barbian und Bubel erläutern zum Anforderungsbereich (AFB) III von Textarbeit die kultusministeriellen Forderungen im Sinne der Gestaltungsmöglichkeiten für Schülerinnen und Schüler (SuS): Workshops können in Aspekte der »Überführung der Textinhalte in andere Darstellungsformen« eingegliedert werden.16 Durch Perspektiveinnahme einer Rolle im Spiel kann außerdem für die Situierung in Richtung einer »Stellungnahme zum Text« argumentiert werden,17 indem Studierende und später SuS sich aktiv in Charaktere in der Erarbeitung einer Szene hineinversetzen. Bei einem Theater-Workshop wird gleichzeitig der kollaborative Ansatz hervorgehoben, denn Kommunikation in Kombination mit Gestik und Mimik werden dann zu einem gemeinsamen Projekt, wie auch James Stredder betont: The workshop is a truly participatory form and those taking part should be equally involved and active throughout; there should be opportunities to learn through the full range of participants’ capabilities – intellectual, emotional, spiritual, moral, social, political, physical, imaginative.18

12 Vgl. Bachmann-Medick 2016, Cultural Turns, S. 73. 13 Kurtz, Jürgen: Zum Umgang mit dem Lehrwerk im Englischunterricht, in: Fuchs, Eckhardt / Kahlert, Joachim / Sandfuchs, Uwe (Hg.): Schulbuch konkret. Kontexte, Produktion, Unterricht, Bad Heilbrunn 2010, S. 149–163, hier. S. 156. 14 Ebd. 15 Berry, Cicely: The Actor & the Text, London 2000 (1987), hier S. 189. 16 Barbian, Anja / Bubel, Claudia: Die Arbeit mit Aufgaben zur Textarbeit in verschiedenen Anforderungsbereichen, in: Hallet, Wolfgang / Königs, Frank G. / Martinez, Hélène (Hg.): Handbuch Methoden im Fremdsprachenunterricht, Hannover 2020, S. 203–209, hier S. 208. 17 Ebd. 18 Stredder, James: The North Face, S. 13.

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Stredder akzentuiert neben der partizipatorischen Seite des aktiven Lernens auch weitere involvierte Ebenen, die durch Kollaboration und Gemeinsamkeit aktiviert werden. Er hebt darüber hinaus die Attraktivität des performativen Lernens hervor: »If Shakespeare in the theatre should be a dramatic delight, so too should be the collective dramatic performance, the theatrical production, of the drama workshop.«19 Aktivitäten wirken ansprechend und sollen Freude bereiten. Kreatives Lernen, so argumentiert auch Schewe,20 unterstützen den Lernprozess in der Oszillation zwischen Aktion und Textarbeit. Auch David Self hebt den physischen Apekt hervor: »Practise walking – slightly slower than usual – and let your legs move from the hips, not the knees. Allow your hands to brush your hips, gently. Practise turning, slowly. […] Why?«21 Die szenische Erfahrung kann für Schülerinnen und Schüler intrinsisch motivierend wirken. Weitere Ideen zu dramatischen Aufwärmübungen für die performative Textarbeit finden sich bei Cicely Berry. Aktive Übungen, so argumentiert die frühere Stimmtrainerin der Royal Shakespeare Company, haben dann für SuS zusätzlich den folgenden Zweck: »The exercises have two purposes: (1) To make sure you are aware of all the possibilities of the text; and (2) To release your own strength and subconscious responses, which are nearly always richer than you think«.22 Sie eröffnen Möglichkeiten zur Textarbeit und zur Selbstverwirklichung und damit auch zur Identitätsbildung. Bereits durch die aktive Verwendung der Sprache und Interaktion erweitern Lernende ihre mündlichen Sprachkompetenzen: »Simply by speaking it [poetry but also verse] with a certain enquiry you learn a lot about it«.23 Aus den genannten Gründen haben am Institut für Anglistik, Amerikanistik und Keltologie in den letzten Jahren Theater-Workshops mit einem Fokus auf Shakespeares Dramen innerhalb verschiedener Module stattgefunden, um Shakespeare aktiv zu erleben und zu teilen, wie es Stredder fordert.24 Die Organisation verlief über verschiedene Angebote: durch den Schauspieler Julius D’Silva und die Theaterpädagogin Diana Jackson-Praetorius, des Weiteren durch Lehrkräfte selbst sowie durch (ehemalige und aktive) Mitglieder der Bonn University Shakespeare Company. Besonders erwähnenswert ist auch ein Workshop, der von

19 Ebd. 20 Schewe, Manfred: Performatives Lehren und Lernen: szenisch-spielerische Methoden, in: Hallet, Wolfgang / Königs, Frank G. / Martinez, Hélène: Handbuch Methoden im Fremdsprachenunterricht, S. 125. Schewe listet dafür einige Übungsbeispiele auf. Ähnlich verfahren James Stredder und Alison Brunning: Brunning, Alison: City Comedy, in: Andrew Hiscock, Lisa Hopkins (Hg.): Teaching Shakespeare and Early Modern Dramatists, London 2007, S. 132–145, hier S. 135–136. 21 Self, David: The Drama & Theatre Arts Course Book, London 1981, S. 57. 22 Berry, Cicely: The Actor, S. 140. 23 Berry, Cicely: Voice and the Actor, London 2000 (1989), hier S. 101. 24 Vgl. Stredder, James: The North Face, S. 9.

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einer Lehramtsstudentin für ihre KommilitonInnen während eines Konferenzwochenendes angeboten wurde. – Der britische Schauspieler Julius D’Silva führte 2011 und 2013 Workshops zum Rhythmus des Shakespearschen Blankverses durch und erarbeitete in verschiedenen Veranstaltungsabschnitten auf emotional und physisch ansprechende, aktivierende Art und Weise den szenischen Umgang mit Zeilen aus Richard II und Henry V.25 – Die britische Theaterpädagogin Diana Jackson-Praetorius, die in der Vergangenheit auch mit White Horse Theatre kooperierte, erarbeitete 2017 mit Studierenden Machtpositionen in Othello und Macbeth und ließ sie aktiv Bedeutungsunterschiede in der praktischen Lesart und Betonung von Zeilen erfahren. Für 2020 war ein erneuter Workshop geplant, der pandemiebedingt verschoben werden musste. Beide, Julius D’Silva wie auch Diana Jackson-Praetorius, führen regelmäßig Workshops an Schulen durch, welche dem Feedback zufolge bisher auf allen Lernniveaus zu gelungenen Ergebnissen und positiven Erfahrungen geführt haben. – Der Schauspieler und Regisseur Johannes Neubert gestaltete ab 2018 mehrmals Theater-Workshops für Studierende aller Studiengänge des IAAK. Diese werden mit Mitgliedern der Bonn University Shakespeare Company neben der kreativen, performativen Erarbeitung der Shakespeare-Texte auch oft in Vorbereitung zu Aufführungen aus praktischen Inspirationszwecken sehr erfolgreich angeboten. – Lehrkräfte: In einigen der Kurse zu Shakespeare wurden 90-minütige Sitzungen durch Workshops mit aktivierenden Elementen ersetzt. Nach einer kurzen Aufwärmphase mit Übungen aus Cicely Berrys inspirierenden Publikationen wurden in Gruppenarbeit einzelne Szenen erarbeitet, die die Textarbeit anderer Sitzungen vertiefen. – Svenja Harzem, Alumna des Lehramtsstudiengangs des Universität Bonn, bot als Teil ihres Studiums im Unterrichtsfach Englisch im Modul »Issues in Literary and Cultural Studies« in einem Kurs zu Shakespares Historien auf einer Studierendenkonferenz in Gießen – in Zusammenarbeit zwischen Dr. Andrea Rummel (JLU Gießen) und den Lehrenden des Instituts für Anglistik, Amerikanistik und Keltologie der Universität Bonn – 2014 einen allein organisierten, geplanten und durchgeführten sowie umfassend evaluierten TheaterWorkshop an. Auch sie erarbeite im Workshop szenische Situationen mit ihren KommilitonInnen, besonders im Hinblick auf die Bildlichkeit und Symbolik der Verse.

25 Vgl. URL: https://www.english-workshops.de/ [Stand: 27. 09. 2021].

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Ein weiterer Aspekt ist hinzuzufügen, auch wenn dieser die Module der Lehramtsstudiengänge nur streift: Im MA Studiengang English ›Literatures and Cultures‹ existiert das Wahlpflichtmodul »From Page to Stage«, zu dem eine Exkursion nach Stratford-upon-Avon gehört. Diese enthält als Teil des Programmes ebenfalls eine Reihe an aktiven Elementen. Grundsätzlich können auch Lehramtsstudierende (bei freien Plätzen und ohne Leistungspunktanrechnung) an dieser Exkursion teilnehmen. Für Lehramtsstudierende bieten solche Workshops eine motivierende Erfahrung und physische Unterrichtskomponente komplementär zur Textarbeit, die später multiplikatorisch und kompetenzverstärkend im Hinblick auf Textverständnis auch mit Lernenden im Klassenzimmer als Unterrichtseinheit angewendet werden kann. Die aufgezeigten Beispiele für den aktiven, performativen Einsatz von Textarbeit in Theater-Workshops begünstigen das Verständnis von Drama und Versen: »an awareness of how sound can take you into another territory«.26 Die Ergebnisse der Theater-Workshops fließen nicht in die Bewertung ein. Es handelt sich um Erlebnisse, die Verstehen, Aktives Zuhören,27 Kommunikation28 und kreatives Erarbeiten vermitteln. Als wertvolle Erkenntnisse erlauben sie Reflexion und Ideenspektren für die zukünftigen Lehrenden.

3.2

Studienleistungen

Innerhalb der Studienmodule gibt es die Möglichkeit, die Form von Studienleistungen flexibel an die Inhalte der Kurse anzupassen. »Übungen« lassen sich damit divers und lernzentriert ausrichten. Die oben bereits erwähnten gestaltenden Aufgaben innerhalb des AFB III, die Barbian und Bubel erörtern, können selbstverständlich auch in ähnlicher Weise im Bereich der fachwissenschaftlichen Module für Studierende des Lehramts angepasst werden. Beispielsweise können Studierende reflektierende Aufgaben innerhalb des Verstehensprozesses29 selbst zu gestalten versuchen. Diese Aufgabendurchführung kann in der Erstellung von Worksheets, also Arbeitsblättern erfolgen. Gleichzeitig spielen auf diese Art der AFB II und die Strukturierung von Gelerntem eine entscheidende Rolle – nämlich das »selbstständige Auswählen, Anordnen, Verarbeiten, Erklären und Darstellen bekannter Sachverhalte […] und das selbstständige Über-

26 27 28 29

Berry, Cicely: Voice, S. 105. Vgl. ebd., S. 123. Vgl. Stredder, James: The North Face, S. 13. Vgl. Barbian, Anja / Bubel, Claudia: Die Arbeit mit Aufgaben, S. 208.

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tragen und Anwenden des Gelernten auf vergleichbare neue Zusammenhänge und Sachverhalte«.30 Wenn in einem Modul die Studienleistungen aus Übungsaufgaben bestehen, dann können diese mit Schreibübungen erfüllt bzw. Worksheets durch die Studierenden der Lehramtsstudiengänge erstellt werden, zum Beispiel mit kreativen, reflektierten Lernaufgaben, die als Arbeitsbögen für SuS erstellt werden. Es wurde versucht, diesen kreativen, lernerzentrierten Ansatz durch Flexibilität der Aufgabenstellung zu ermöglichen. In ähnlicher Weise kann dies durchgeführt werden, wenn in einem Modul die Studienleistung aus einem Portfolio mit flexibel zu gestaltenden Inhalten besteht. Ein Portfolio kann beschrieben werden als »a purposeful collection of student work that exhibits the student’s efforts, progress and achievements«.31 Es dient dazu, (teilweise trotz Distanz) Feedback zum Lernprozess zu erhalten und Inhaltsschwerpunkte zu setzen. Die Studierenden des Lehramts dürfen Aufgaben innerhalb des Portfolios mit Worksheets ersetzen, diese vorbereiten, erstellen, reflektieren und so selbst versuchen, experimentelles Lernen kreativ und lernerzentriert zu produzieren. Der Lernende wird dann zum »[n]egotiator of learning content and modes of learning«.32 In den ›Corona-Semestern‹ wurden solche Worksheets als Studienleistung im Portfolio in zwei Modulen ermöglicht bzw. gefördert, beide Male in Modulen des dritten Studienjahres mit den Themenschwerpunkten »Shakespeare and Time« und »Shakespeare and Diversity«. Die Studierenden des Lehramtsstudiengangs nutzten die Chance der Arbeitsbogenerstellung. Sie waren frei, Schwerpunkte im Bereich Kontextualisierung oder Primärtextanalyse mit beispielsweise einer Fokussetzung auf Sonettform oder Machtpositionen im Dialog zu wählen, denn Aufgaben, die vom Textbuch wegführen, heben die Lernmotivation.33 Auch Aufgaben zu Sekundärtexten oder Charakterisierungsaspekten wären möglich gewesen. Eine weiterführende Idee stellt das kreative Umschreiben eines Primärtexts dar. So kann die Hexenszene in Macbeth als Beschwörung guter Feen verändert werden, die sieben menschlichen Altersstufen aus As you like it können auf die heutige Zeit – oder im Hinblick auf LGBTQIA+ – umgeschrieben werden. Dies kann in Worksheets angeleitet und kontextualisiert werden. Zur Dramenanalyse helfen oft 30 Sekretariat der Kultusministerkonferenz [KMK]: Bildungsstandards für die fortgeführte Fremdsprache (Englisch/Französisch) für die Allgemeine Hochschulreife (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 18. 10. 2012), 2012, S. 23. 31 Paulson, F. Leon: What Makes a Portfolio a Portfolio?, in: Educational Leadership 48,5 (1991), S. 60–63, hier S. 60. 32 Grimm, Nancy / Meyer, Michael / Volkmann, Laurenz: Teaching English, Tübingen 2015, S. 248. 33 Vgl. ebd., S. 250.

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als Worksheet erstellte dynastische charts, die mit den dramatis personae auszufüllende Kästchen enthalten, welche dann mit Symbolen zur Positionierung der Rollen im Drama gekennzeichnet werden können (Herzchen für Liebe, Schwerter für Kampf, Verbindungslinien für Verwandtschaften etc.) und durch charakterbezogene Adjektive den Leseprozess ergänzen. Diese Aufgabenstellungen zeigen einen »creative approach to teaching«.34 Grimm, Meyer und Volkmann führen aus, dass (zukünftige) Lehrende so lernen, ihr Potential als Lehrende besser zu entwickeln und Arbeitsmaterial zu erstellen, das ihrem Lehrstil besser entspricht.35 Weitere Übungsaufgaben, die von den Lehramtsstudierenden erbracht wurden, beinhalteten beispielsweise Worksheets zu Reimschemata, bei denen die Sonettquartette und das rhyming couplet oder Kostümzuweisungen in Verbindung gebracht werden müssen. Eine weitere Möglichkeit der Texterarbeitung durch dramatisch inspirierte Aufgaben ist der Perspektivwechsel: Studierende sollen sich in Nebencharaktere, bzw. kleinere Rollen einfühlen und sich aus deren Blickwinkel äußern (fühlen Sie sich in Charakter A ein). Dies wird durch eine dementsprechende Schreibaufgabe verschriftlicht. … and Action! - Portraying characters of The Winter’s Tale Now it’s your turn! You’ve already read the first and second act of The Winter’s Tale, and we talked about the characters Polixenes, Leontes, Camillo, and Hermione. What do you think about their relationship? 1. Get together in groups of four. (3 actors + 1 director) 2. Each group will get a card with one of the following situations. Yellow: the conversation between Polixenes, Hermione and Leontes (I.ii. ll.1-107) Red: Leontes accuses Polixenes and Hermione of betrayal (I.ii. ll.216294) Blue: Leontes orders Polixenes’ death (I.ii. ll.294-347) Green: Leontes’ madness Pink: Leontes accuses Hermione in public (II.i. ll.55-125) 3. Imagine how these situations could look like and “build” a statue (Standbild) with your body. Remember: Your facial expression is important! Present your statue in front of the class. The director should explain why you built up the statue like that. 4. The others: Comment on the statue of each group. Would you do it differently?

What do you like about the statue and what could be better in your opinion?

Abb. 1: Arbeitsblatt: Building Statues Worksheet: »…and Action!« (Roeder).36

34 Ebd., S. 251. 35 Grimm, Nancy / Meyer, Michael / Volkmann, Laurenz: Teaching English, S. 251. 36 Roeder, Alena von: Portfolio zu »Shakespeare and Time«, Bonn 2020, S. 8.

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Anders, jedoch ebenso aktiv inspiriert, funktioniert die Versetzung des eigenen Ichs der SuS in die Kommentatoren- oder sogar Schlichterrolle innerhalb eines szenischen Moments im Drama; dies kann durch eine Art Tagebucheintrag als Hausaufgabe verschriftlicht werden. Besonders gefiel im Ergebnis ein Worksheet, der den oben bereits diskutierten performativen Ansatz beinhaltete. Die Studentin erzielt Reflexion und Beurteilung des Primärtextes und fordert gleichzeitig eine physische Komponente durch die dramatische Interpretation der gelesenen Szenen ein. Diese Kombination kann als zielführend für die Beachtung in Unterrichtsreihen der zukünftigen Lehre bewertet werden. Die Ergebnisse der Anteile von Worksheets in den Portfolios waren beeindruckend bereichernd und werden sicherlich als gute Basis für künftige Unterrichtsplanung fungieren. Ergänzend zu den Überlegungen in Hinblick auf Studienleistungen lassen sich auch Prüfungen für zukünftige Lehrende adaptieren: In Modulen mit Hausarbeiten als Modulabschlussprüfungen lassen sich in vergleichbarer Weise Inhalte an die Lerner anpassen, indem Hausarbeitsthemen vergeben werden, die mit Blick auf schulische Unterrichtsreihen Anwendung finden. So können z. B. Themen zu schulgerechten, unterrichtsplanenden Ansätzen auch in Modulen vergeben werden, die nicht nur im Bereich Fachdidaktik von entsprechend geschulten Lehrkapazitäten unterrichtet werden. Beispielsweise können in einem fachwissenschaftlichen Modul literaturwissenschaftliche Aspekte unter fachdidaktischem Blickwinkel betrachtet werden. Ein Studierender entwickelte in seiner Hausarbeit Prüfungsfragen für den Unterricht und diskutierte diese mit einem Fokus auf seinen potentiellen Erwartungshorizont. Studierende stellen fachdidaktisch untermauert Fragen im Kontext der KMK-Anforderungen und erörtern deren Beantwortung im Rahmen schulischer Anforderungen weitergehend. Dazu dient das folgende Beispiel von Sebastian Lülsdorf (Hausarbeit): The first task is usually supposed to be a rather descriptive or comprehensive task. Students shall be able to reproduce or outline the main content of an extract. Therefore, operators such as »summarize« or »delineate« are standard in the first task. The second question typically asks for a close reading and a subsequent analysis of an extract. Students are asked to examine the choice of words and rhet[]orical devices in order to answer the second part of the exam. Another essential part of the second question is that students support their analysis by providing textual evidence. The third and last part of the exam can be either a creative or an evaluative task in which students comment on or discuss a certain question that builds on the previous two questions.37

37 Lülsdorf, Sebastian, »Racism in »The Merchant of Venice« – Relevance of Shakespeare for Young Audiences«, Hausarbeit zu »Shakespeare & Diversity«, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, 14. April 2021, S. 6.

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Der Student stützt seine – auf diesem didaktischen Hintergrund basierenden – konkret erdachten Prüfungsfragen auf eine spezifische Dramenszene, nämlich die ›Gerichtsszene‹ (IV.1) aus The Merchant of Venice. Er formuliert als Bestandteil der Hausarbeit einen Erwartungshorizont, der auf fachwissenschaftlicher Ebene gleichzusetzen ist mit einer soliden literaturwissenschaftlichen Analyse.

3.3

Fazit

In Bonner BA-Lehrveranstaltungen sitzen BZL-Studierende gemeinsam mit Fakultätsstudierenden. Die genannten Beispiele beschreiben, wie fachwissenschaftliche Module für Studierende aus den Lehramtsstudiengängen attraktiv und zielorientiert als Anregung für die Vorbereitung im schulischen Dienst genutzt werden können. Ein flexibler Umgang mit Studienleistungen oder der kreative Ansatz zur Textarbeit unterstützen Studierende in der universitären Ausbildung und geben ihnen Ideen für ihre spätere Unterrichtsplanung.

4.

Pandemiebedingte Lernlücken des Englischunterrichts an einem Gymnasium ausgleichen – eine Aufgabe der universitären Lehrerbildung? (Philipp Reul)

Ein Beispiel der Beteiligung von Studierenden bei der Planung einer Summer School zum Thema »American myths and realities« einer 11. Klasse. Die Diskussion um einen Ausgleich der pandemiebedingten Lernlücken hat im Jahr 2021 erst begonnen und wird Schulen mittelfristig in der Schulentwicklung und Unterrichtsentwicklung begleiten. Bereits im Frühjahr 2021 wurden enorme Summen Geld von Bund und Ländern (z. B. Extra-Zeit zum Lernen in NRW38) in Aussicht gestellt, was die bildungspolitische Dringlichkeit einer Angleichung des Leistungsstandes verdeutlicht. Zudem ist davon auszugehen, dass die Unterschiede zwischen begünstigten und benachteiligten Schülerinnen und Schülern, wie sie z. B. bereits durch PISA 2018 in Bezug auf den Zugang zu digitalen Geräten festgestellt wurden, im Jahr 2020/21 fortdauern und sich durch die Bedingungen der Pandemie noch verstärken werden.39

38 Vgl. URL: https://www.land.nrw/nl/node/25068 [Stand: 27. 09. 2021]. 39 Vgl. OECD: PISA 2018 Results (Volume V): Effective Policies, Successful Schools, Paris 2020, S. 192–193.

Lehramt Englisch: Synergien zwischen Fachdidaktik und Fachwissenschaft

4.1

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Kooperatives Lernen im Fremdsprachenunterricht

Grundsätzlich stellt sich die Frage, welchen Anteil an der Lösung des Problems von pandemiebedingten Bildungsdefiziten und Ungleichheiten im Lernen die universitäre Lehrerbildung übernehmen kann. Die Vermutung liegt nahe, dass die kommende Lehrergeneration mit ihrer bereits herausgebildeten Expertise im Bereich der Fachwissenschaften, Fachdidaktik und Bildungswissenschaften einen erheblichen Beitrag dazu leisten kann, Schulen bei dieser großen und länger währenden Herausforderung zu unterstützen. Zeitgleich kann die Übernahme von Teilen dieser Aufgabe die oft geforderte Vertiefung der Verquickung von Praxis und Theorie in der universitären Lehrerbildung weiter schärfen.40 Die beiden aufeinandertreffenden Gruppen von Studierenden sowie Schülerinnen und Schülern sollen von dem hier vorgestellten Modell gleichermaßen profitieren. Es stellte sich für den Autor und seine Studierenden im Modul des Masterstudiums zur Vorbereitung des Praxissemesters im Fach Englisch des Sommersemesters 2021 die Frage, wie ein solcher Beitrag an Unterstützung aussehen kann. In dieser Findungsphase entstand eine Kooperation zwischen einem Bonner Gymnasium und der Fachdidaktik Englisch. Der Fokus der Unterstützung sollte hierbei auf zwei Leistungskursen Englisch der Stufe 11 liegen. Es entstand die Idee einer Summerschool, die an zwei Tagen während der ersten Ferienwoche mit dem thematischen Fokus American myths and realities: freedom and success in Anlehnung an den Kernlehrplan Englisch in NRW41 stattfinden sollte. Ausgehend von einer ›Ist-Stand-Erhebung‹ unter Englischlehrkräften in Bezug auf die zu erwartenden Defizite bei ihren Schülerinnen und Schülern, wurden insbesondere pandemiebedingte Versäumnisse im Bereich der funktionalen kommunikativen Kompetenzen erwähnt; hierbei wurde insbesondere die Kompetenz des Sprechens in der Fremdsprache herausgestellt. Durch die Monate im Distanz- bzw. Wechselunterricht und die Hygieneauflagen (hier insbesondere die Maskenpflicht), wurde von den Lehrkräften gespiegelt, dass es monatelang nicht möglich war, kooperative Lernformen wie Partner-/ Gruppenarbeiten zur Förderung des Sprechens durchzuführen. Diese werden aber als besonders zentral für die Durchführung eines kommunikativen Fremdsprachenunterrichts beschrieben.42 Aus den Erfahrungen von unterrichtenden Lehrerinnen und Lehrern im digitalen Distanzlernen lässt sich schluss40 Vgl. KMK: Ländergemeinsame inhaltliche Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerbildung, Berlin 2004, S. 3–5. 41 MSB: Zentralabitur 2022 – Englisch – geänderte Fassung, Düsseldorf 2021, S. 4. 42 Bonnet, Andreas: Kooperatives Lernen und Arbeiten in: Hallet, Wolfgang / Königs, Frank G. / Martinez, Hélène (Hg.): Handbuch Methoden im Fremdsprachenunterricht, Hannover 2020, S. 98–101, hier S. 100.

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folgern, dass sich die gewachsenen Methoden des kooperativen Lernens im Fremdsprachenunterricht nur unzureichend durch Videokonferenzen kompensieren lassen.43 Somit lässt sich die Ausgangslage für die Planung der Summerschool aus der Perspektive der Studierenden wie folgt zusammenfassen: Gesucht werden Lernmöglichkeiten für Schülerinnen und Schüler einer 11. Klasse, die die gymnasiale Oberstufe besuchen und einen Leistungskurs im Fach Englisch belegen, die pandemiebedingt insbesondere Defizite im Bereich der funktionalen kommunikativen Kompetenzen aufweisen und Inhalte in Vorbereitung auf das Abiturthema »American myths and realities« auffrischen und vertiefen sollen. Im Folgenden soll die Planung einer Teilgruppe des Vorbereitungsseminars vorgestellt werden. Jede Teilgruppe bereitet eine 90-minütige Einheit der Summerschool vor. Zudem können den Schülerinnen und Schülern Vorbereitungsaufgaben im Umfang von 30 Minuten gestellt werden. Die Vorbereitung findet mit einer selbstständig vorzubereitenden Aufgabe digital statt.

4.2

Summerschool in »Klein-Amerika«

Das vorliegende Konzept der Summerschool vereint drei methodische Zugänge der englischen Fremdsprachendidaktik: Die Arbeit an einem außerschulischen Lernort, das forschende Lernen und die Arbeit mit einem digitalen Lernwerkzeug. Als außerschulischer Lernort dient die ehemalige amerikanische Siedlung in Bonn-Plittersdorf.44 Diese lässt die Schülerinnen und Schüler noch heute erahnen, wie sich das Leben in »Klein-Amerika« einst angefühlt haben muss. Die in den 1950er Jahren für amerikanische Botschaftsangehörige erbaute Siedlung zeigt noch heute einen unverkennbaren amerikanischen Charme. Mit der Stimson Memorial Church im Zentrum umfasst die Siedlung auch heute noch großzügige Parkanlagen und Wohnhäuser, Sportanlagen, einen ehemaligen amerikanischen Kindergarten und typisch breite amerikanische Straßenzüge. Die außerordentliche Möglichkeit liegt darin, diese historische bauliche Rarität im Rheinland als außerschulischen Lernort zu erkunden. Die Stärke des Lernens an außerschulischen Lernorten wird fachdidaktisch insbesondere mit dem motivierenden Moment und der Möglichkeit der Erweiterung interkultureller Kompetenz beschrieben.45

43 Gizenski, Kamil: Teaching English at School during the Pandemic – Challenges from Teachers Point of View, Bonn 2021, S. 8. 44 Vgl. URL: https://rasp-buergerinitiative.de/de [Stand: 31. 05. 2021]. 45 Vgl. Rymarczyk, Jutta: Lernen an außerschulischen Lernorten, in: Hallet, Wolfgang / Königs, Frank G. / Martinez, Hélène (Hg.): Handbuch Methoden im Fremdsprachenunterricht, S. 316.

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Abb. 2: Altes bilingual gestaltetes Straßenschild in »Klein-Amerika«. Streetsign in Bonn-Plittersdorf (Foto: Philipp Reul).

Der Gedanke der Erforschung von Relikten und ihrer Bedeutung für die amerikanische Kultur durch die Schülerinnen und Schüler steht im Zentrum eines solchen Lehr-Lernprozesses. Im Zentrum steht das forschende Lernen, das die zu erwartende Neugier der Lernenden bei der Exploration der ehemaligen Lebenswelten herausfordert.46 Der Prozess ist themenzentriert und von einer (Forschungs-)Frage geleitet, so dass im Anschluss Teilaspekte des Gegenstandes von den Schülerinnen und Schülern detaillierter erkundet werden. Vorweg wird mit einem in häuslicher Arbeit vorbereiteten Einstieg das bereits bestehende Vorwissen zum Thema angeregt. Für das vorliegende Projekt lautet die zentrale Frage: »In how far is the American way of life still alive in the former American settlement in Bonn-Plittersdorf ?« Folgende Teilaspekte des amerikanischen Lebensstils sollen erkundet werden: »Motorism, Housing, Education, Sports and Church Life«. Die einzelnen Teilfragestellungen sind von der Schülergruppe arbeitsteilig in Partnerarbeit innerhalb einer Zeitstunde zu beantworten, wobei es den Gruppen bei 46 Legutke, Michael: Forschendes Lernen und Lehren, in: Hallet, Wolfgang / Königs, Frank G. / Martinez, Hélène (Hg.): Handbuch Methoden im Fremdsprachenunterricht, S. 100.

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ausreichender Zeit möglich ist, weitere Aufgaben an Standorten zu lösen. An verschiedenen Koordinaten in »Klein-Amerika« werden die Teilfragestellungen mit Hilfe des digitalen Lernwerkzeugs BIPARCOURS47 gestellt. Die App dient der Gestaltung digitaler Lernangebote zur Erschließung außerschulischer Lernorte. Mit dem Lernwerkzeug können aus Lerninhalten und Orientierungspunkten Themenrallyes gestaltet werden. Eine Rallye besteht kann dann aus Informationen, Medien und Quizelementen bestehen und ist dann mit verschiedenen Orten verknüpft. Die Bilder, Texte und Videos werden dann punktgenau für bestimmte Standorte zur Verfügung gestellt; die entsprechenden Koordinaten werden mittels GPS-Technologie von den Schülerinnen und Schülern gefunden. Für den Aspekt ›Motorism‹ soll das Vorgehen nun exemplarisch erläutert werden.

Abb. 3: »American Way of Life« wird auch durch ungewöhnliche Straßenbreite erlebbar. Europastraße in Bonn-Plittersdorf (Foto: Philipp Reul).

Die Schülerinnen und Schüler bekommen über die App BIPARCOURS die Koordinaten für den Standort der Europastraße. Genau an dieser Stelle befragt die App die SchülerInnen: »In how far was and is the motorcar part of the American way of life?« Zudem sind über die App verschiedene Aufgaben angelegt: 47 BIPARCOURS ist ein kostenloses Lernwerkzeug von Bildungspartner NRW zur Unterstützung des schulischen Lernens und außerschulischer Lernorte in NRW. URL: www.bipar cours.de [Stand: 28. 09. 2021].

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1. Measure the width of the Europastraße and compare it to a usual German street (Use the App – Measure). 2. How many parking slots can you count and what does it tell you about the importance of cars? 3. Watch the clip and summarize the importance of the car for the American citizens shown. 4. Look at the statistics of how many Americans commute to work and for how long? 5. Reflect on the importance of a motor vehicle in US and German culture. Is there a difference among age groups? 6. Watch the clip and comment on the connection between American Dream and the motorcar! 7. How will the importance of the motorcar change in another 70 years? What is your prediction?

Abb. 4: Die Stimson Memorial Church ist ein Beispiel für die enge Verbindung von Kirche und Gesellschaft in den USA (Foto: Philipp Reul).

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Die Studierenden agieren an den verschiedenen Stationen als begleitende Mentoren im Lernprozess und stehen für Fragen und Erklärungen zur Verfügung. Aufgabe der Partnerarbeit ist es, eine 3-minütige Präsentation zu halten und mit der Besprechung der Ergebnisse zur Beantwortung der Forschungsfrage beizutragen. Schließlich wird in einem letzten Schritt eine Reflexion gewagt, wobei von Seiten der Studierenden gefragt wird, welche Erkenntnisse gewonnen wurden und wie sich diese zu dem Abiturthema »American myths and American realities« in Beziehung setzen lassen können. Das vorliegende Projekt, welches in seiner Ausgestaltung auf den Ideen der Studierenden beruht, ermöglicht eine Planung trotz unklarer Pandemielage im Außenbereich und setzt auf einen explorativen, motivierenden Charakter mit dem Charme einer teils digitalen Schnitzeljagd. Schließlich ermöglicht es die sichere Erkundung einer »vergangenen« fremdsprachlichen Kultur im Stadtgebiet Bonns und trägt damit zu einer aktiven Auseinandersetzung mit der jüngeren Stadtgeschichte bei.

5.

Ausblick

Der Beitrag zielt auf mögliche Synergien zwischen den Fachwissenschaften und der Fachdidaktik im Lehramtsfach Englisch. Die hier skizzierten Formate stellen lediglich eine kleine Auswahl einer Vielzahl von Angeboten und Verquickungen zwischen englischer Fachdidaktik und den englischen Fachwissenschaften am Institut für Anglistik, Amerikanistik und Keltologie dar. Synergien zwischen Fachdidaktik und Fachwissenschaften sind oftmals auf Seiten der Studierenden schwer vermittelbar, die Forderung nach immer höheren Praxisanteilen und Praxisbezug hält auch nach den Reformen der vergangenen Jahre weiterhin an. Die hier vorgestellten Seminarinhalte zeigen jedoch klar auf, dass fachwissenschaftliche Anteile einen unverzichtbaren Anteil am Professionalisierungsprozess von EnglischlehrerInnen besitzen. Wie sonst sind die Literatur und Kultur Westafrikas begreifbar? Wie sonst lässt sich Shakespeare von der aufgeschlagenen Buchseite auf die Bühne heben? Wie sonst stelle ich meinen zukünftigen Lernern die richtigen Fragen zur amerikanischen Gesellschaft? Die AutorenIn sind davon überzeugt, dass fachliches Wissen über die Theorien der Literaturen, Kulturen und Sprachen der anglophonen Welt die Grundlage für eine erfolgreiche Berufsbiographie von Englischlehrkräften bildet. In diesem Sinne gilt es den Grundsatz der guten Zusammenarbeit im Institut fortzuführen, zu festigen und zu innovieren, so dass die Studierenden nach Abschluss der ersten Phase möglichst optimal auf die zweite Phase der Lehrerausbildung vorbereitet sind.

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Literatur

Ashcroft, Bill / Griffiths, Gareth / Tiffin, Helen: The Empire Writes Back: Theory and Practice in Post-colonial Literatures. London und New York 1989. Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns, New Orientations in the Study of Culture, Berlin, Boston 2016. Barbian, Anja / Bubel, Claudia: Die Arbeit mit Aufgaben zur Textarbeit in verschiedenen Anforderungsbereichen, in: Hallet, Wolfgang / Königs, Frank G. / Martinez, Hélène (Hg.): Handbuch Methoden im Fremdsprachenunterricht, Hannover 2020, S. 203–209. Berry, Cicely: The Actor & the Text, London 2000 (1987). Berry, Cicely: Voice and the Actor, London 2000 (1989). Berry, Cicely: Your Voice & how to use it, London 2000 (1994). Bonnet, Andreas: Kooperatives Lernen und Arbeiten, in: Hallet, Wolfgang / Königs, Frank G. / Martinez, Hélène (Hg.): Handbuch Methoden im Fremdsprachenunterricht, Hannover 2020, S. 98–101. Brunning, Alison: City Comedy, in: Hiscock, Andrew / Hopkins, Lisa (Hg.): Teaching Shakespeare and Early Modern Dramatists, London 2007, S. 132–145. D’Silva, Julius: Shakespeare Workshops, URL: www.english-workshops.de [Stand: 31. 05. 2021]. Gizenski, Kamil: Studienprojekt – Teaching English at School during the Pandemic – Challenges from Teachers Point of View, Bonn 2021. Grimm, Nancy / Meyer, Michael / Volkmann, Laurenz: Teaching English, Tübingen 2015. Kallmeyer, Werner: Lektürekolleg zur Textlinguistik 1: Einführung, Kronberg 1974. Kurtz, Jürgen: Zum Umgang mit dem Lehrwerk im Englischunterricht, in: Fuchs, Eckhardt / Kahlert, Joachim / Sandfuchs, Uwe (Hg.): Schulbuch konkret. Kontexte, Produktion, Unterricht, Bad Heilbrunn 2010, S. 149–163. Legutke, Michael: Forschendes Lernen und Lehren, in: Hallet, Wolfgang / Königs, Frank G. / Martinez, Hélène (Hg.): Handbuch Methoden im Fremdsprachenunterricht, Hannover 2020, S. 98–101. Lülsdorf, Sebastian: Racism in »The Merchant of Venice« – Relevance of Shakespeare for Young Audiences, Hausarbeit zu »Shakespeare & Diversity«, Rheinische FriedrichWilhelms-Universität Bonn, 14. April 2021. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen [MSB]: Kernlehrplan Englisch, Düsseldorf 2017. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen [MSB]: Zentralabitur 2022 – Englisch, geänderte Fassung, Düsseldorf 2021. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen [MSB]: Vorgaben für das Zentralabitur im Fach Englisch im Jahr 2023, Düsseldorf 2021. OECD: PISA 2018 Results (Volume V): Effective Policies, Successful Schools, Paris 2020. Paulson, F. Leon: What Makes a Portfolio a Portfolio?, in: Educational Leadership 48,5 (1991), S. 60–63. Roeder, Alena von: Portfolio zu »Shakespeare and Time«, Rheinische Friedrich-WilhelmsUniversität Bonn, 10. Juli 2020.

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Imke Lichterfeld / Philipp Reul / Daniel Schönbauer

Rymarczyk, Jutta: Lernen an außerschulischen Lernorten, in: Hallet, Wolfgang / Königs, Frank G. / Martinez, Hélène (Hg.): Handbuch Methoden im Fremdsprachenunterricht, Hannover 2020, S. 313–317. Schewe, Manfred: Performatives Lehren und Lernen: szenisch-spielerische Methoden, in: Hallet, Wolfgang / Königs, Frank G. / Martinez, Hélène: Handbuch Methoden im Fremdsprachenunterricht, Hannover 2020, S. 125–129. Schönbauer, Daniel (Hg.): Postcolonial Indian Experiences: Teaching the Faces of a Rising Nation, Baden-Baden 2020. Schönbauer, Daniel (Hg.): »All the world’s a stage« – Shakespeare in English Language Education, Baden-Baden o. J. Sekretariat der Kultusministerkonferenz [KMK]: Bildungsstandards für die fortgeführte Fremdsprache (Englisch/Französisch) für die Allgemeine Hochschulreife (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 18. 10. 2012), Berlin 2012. Sekretariat der Kultusministerkonferenz [KMK]: Ländergemeinsame inhaltliche Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerbildung, Berlin 2004. Self, David: The Drama & Theatre Arts Course Book, London 1981. Stredder, James: The North Face of Shakespeare. Activities for teaching the plays, Cambridge School Shakespeare, Cambridge 2009.

EVANGELISCHE RELIGION

Michael Meyer-Blanck

Schlüssel zum gebildeten Wissen. Das Zusammenspiel von Fachwissenschaft, Fachdidaktik und Bildungswissenschaft aus Sicht der Fachdidaktik Religion

1.

Das Bonner Profil: Das Lehramtsstudium in deutlicher Nähe zur Fachwissenschaft

Für das Profil des Bonner Zentrums für die Bildung von Lehrerinnen und Lehrern ist von Anfang an die nahe Verbindung von Lehrerbildung und Fachwissenschaft kennzeichnend gewesen. Mit einer Hermeneutik des Verdachts könnte man in dieser Konzeption eine resignative Haltung angesichts begrenzter Ressourcen in den Bildungswissenschaften und erst recht in den Fachdidaktiken sehen. Nach der erzwungenen Pause im Bonner Lehramtsstudium mussten die Fachdidaktiken neu gegründet und zum Teil auch in den Fachkulturen neu begründet werden. »Wer das Fach kann, kann auch unterrichten, wozu braucht es dazu noch eigene fachwissenschaftliche Lehrstühle, die Kapazitäten an anderer Stelle verschlingen?« So oder ähnlich wurde Skepsis gegenüber einer teuren Fachdidaktik laut. In Fakultäten und Universitäten muss alles ausgehandelt werden und so verlief der Ausbau der Fachdidaktik nicht an allen Punkten wie gewünscht. Die nahe Verbindung von Fachwissenschaft und Lehramtsstudium kann mit diesen äußeren Bonner Gegebenheiten keinesfalls begründet werden, denn das wäre nicht mehr als das nachträgliche Begründen oder Schönreden eines Mangels. Es muss vielmehr deutlich werden, warum und wie die Nähe zur Fachwissenschaft geeignet ist, Bildungsprozesse bei Lehrerinnen und Lehrern und damit erst recht bei Schülerinnen und Schülern zu fördern. Dass die fachwissenschaftlichen Bestände in ihrer Erschließung durch Fachdidaktiken und Bildungswissenschaft ein die jungen Menschen förderndes Potenzial haben und dass das Bonner Modell darum gute sachliche Gründe für sich hat, soll im Folgenden begründet werden. Da ich als evangelischer Religionsdidaktiker schreibe, spielt der Gegenstand Religion in diesem Beitrag eine hervorgehobene Rolle, die aber nicht so zu verstehen ist, als ob es in diesem Beitrag vorrangig um eine religionspädagogische

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Frage ginge. Die Sache und das Fach Religion stehen vielmehr exemplarisch für die Fachlichkeit, die lebensweltliche Widerständigkeit und Härte der Themen und Unterrichtsgegenstände, welche die einzelnen Schulfächer zum Thema machen.

2.

Die Fachwissenschaft und die bildende Kraft der einzelnen Schulfächer

Die Fachwissenschaft steht im Lehramtsstudium unangefochten an erster Stelle, auch wenn in den letzten Jahrzehnten die Anteile von Bildungswissenschaft und Fachdidaktik deutlich gestiegen sind. Besonders auf den frühzeitigen Kontakt mit der späteren Berufspraxis soll ein Schwerpunkt gelegt werden, damit die fachwissenschaftlichen Studien davon zumindest mitgeprägt werden. Das ist der Gedanke der Praktika und des »Praxissemesters« in Nordrhein-Westfalen, das von Anfang an die Masterphase des neuen Bonner Lehramtsstudiums geprägt hat. Da das Praxissemester in Bonn im dritten Mastersemester seinen Platz hat, kommt ihm vor allem die Rolle einer abschließenden Fokussierung der fachwissenschaftlichen Anteile zu: Wo habe ich noch Lücken, welche Themen stehen noch aus? Welche Grundfragen muss ich noch besser verstehen? Zuvor sollen die Fachwissenschaften aber das bildende Potenzial durch ihre eigene Logik entfalten. Als künftige Lehrerinnen und Lehrer sollen die Studierenden so geprägt werden, dass sie den jeweiligen Weltzugang der Fachwissenschaften für sich selbst fruchtbar machen. Sie sollen sich selbst als Mathematiker, Chemiker, Philologen oder Theologen erleben können. Ein wichtiger Aspekt des fachwissenschaftlichen Studiums besteht in dieser kategorialen Identitätsbildung als Fachwissenschaftler. Das mag etwas zu großartig, ja pathetisch klingen, aber auf diesen Anspruch kann keinesfalls verzichtet werden. Sollen den Schülerinnen und Schülern in der Oberstufe wissenschaftspropädeutische Fachzugänge eröffnet werden, dann müssen die Lehrkräfte, die sie unterrichten, sich selbst in gewissem Maße als Fachwissenschaftler verstehen können. An diesem Anspruch, der das akademische Studium insgesamt bestimmt, darf nichts reduziert werden. Studium ist forschungsnahes Lernen, das – in welchem Maße auch immer – Fachwissenschaftler heranbildet. Die Autorität von Lehrerinnen und Lehrern hängt neben den kommunikativen und didaktischen Kompetenzen vor allem von dieser Autorität in der Sache ab. Man spürt es den eigenen Lehrerinnen und Lehrern ab, ob sie selbst tiefer in das Fach eingedrungen sind oder ob sie nur im Hinblick auf die Befähigung zum Unterrichten studiert haben. Ich selbst habe von 1965 bis 1972 das Domgymnasium in Verden/Aller besucht, eine Schule, die für sich in Anspruch nahm, nahe an den Wissenschaften

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und ihren fachlichen Logiken zu unterrichten. Da gab es manches an Skurrilität à la »Feuerzangenbowle« (und entsprechende Umbrüche und Brüche um 1970), aber auch eine Art von wissenschaftlichem Ethos. Einige Lehrer publizierten sogar wissenschaftlich. Vor allem aber verstanden sich unsere Lehrer noch nach dem Grundbild des »Gymnasialprofessors«, der sich als Vertreter eines Faches und einer Fachkultur begreift und präsentiert. Unter den Kollegen (damals fast ausschließlich Männer) gab es eine Art von Konkurrenz, was den künftigen Weltzugang und die Orientierung der Schülerinnen und Schüler angeht. Vor der Philologie musste leise gewarnt werden, da sie für das Bestehen der Herausforderungen der künftigen Welt doch nicht umfassend genug ausrüstete. Umgekehrt war die Naturwissenschaft im Kommen, aber doch nur das Selbst- und Weltverstehen, wie es antike und klassische Texte erschlossen, konnte als Bildungsgegenstand umfänglich befriedigen. Das alles wurde nicht so deutlich formuliert, aber doch mittelbar in der Begeisterung für die eigenen Gegenstände zum Ausdruck gebracht. Spürbar war der Wunsch, möglichst viele der eigenen Schülerinnen und Schüler würden sich einmal zu einem Philologen oder Naturwissenschaftler entwickeln. Es ging unseren Lehrern nicht primär darum, uns Wissen zu vermitteln oder Problemlösungskompetenzen zu erschließen, sondern darum, uns einen eigenständigen Zugang zu ihrer eigenen Fachkultur zu ebnen. Das Übersetzen sollte für uns mehr sein als eine Technik, die Mathematik etwas anderes als das Lösen von Aufgaben und das Experimentieren sollte nicht auf Formeln führen, sondern auf eine eigenständige Haltung des Forschens. Noch einmal alles relativierend: Das war so manches Mal viel banaler und skurriler und manches mag auch meine Erinnerung verklären. Dennoch waren unsere Lehrer als bewusste Fachwissenschaftler zu erkennen. Das damit Beschriebene wird in der gymnasialen Didaktik die »wissenschaftspropädeutische« Funktion des Oberstufenunterrichts genannt. Dieser Aspekt kann selbstverständlich nicht bedeuten, dass – wie in der Universität – im schulischen Unterricht Anteil an der wissenschaftlichen Forschung gegeben wird. Es kommt vielmehr auf den bildenden Gehalt des fachwissenschaftlich Erschlossenen an, auf die Ahnung einer Fachkultur im Experimentieren und Formalisieren, im Lesen und Verstehen. Die bisweilen kritisierte Aufteilung des schulischen Lernens in Unterrichtsfächer hat also eine durchaus starke Seite. Die Fächer und die hinter ihnen stehenden Fachwissenschaften haben ein bildendes Potenzial. Das Überführen der Fächerstruktur in eine »Lernfelddidaktik«, bei der Problemstellungen und Lösungsstrategien in bestimmten »Anforderungssituationen« zum Ausgangspunkt genommen werden, hat in der Berufspädagogik ihre guten Gründe, da die Fächer im »dualen System« der Berufsschule ja eine bestimmte Ausbildung flankieren; dort kommt es weniger auf den Sachgehalt eines Faches an als vielmehr auf dessen Praxispotenzial. Im Zusammenhang der Allgemeinbildung ist

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hingegen eine plurale Wissenschaftspropädeutik sinnvoller. Jedes Fach mit seiner eigenen Geschichte des Fragens und Zugangs zur Wirklichkeit – etwa die Biologie, Chemie und Physik – hat eigenständige Wahrnehmungen zu bieten. Erst recht problematisch ist darum die frühzeitige Spezialisierung auf die Naturoder Geisteswissenschaften. Die schulischen Curricula sehen vor, dass zumindest Teile aus dem anderen als dem gewählten Schwerpunkt belegt werden. Die Schule bietet die später (in Studium oder Ausbildung) in der Regel nicht mehr wiederkehrende Möglichkeit, verschiedene Fachkulturen aus der Perspektive der teilnehmenden Beobachtung kennenzulernen. Besonders herausfordernd und chancenreich ist es darum, wenn als die beiden Fächer des Lehramtsstudiums ein geistes- und ein naturwissenschaftliches kombiniert werden; besonders erfolgreich für die Berufspraxis sind z. B. immer wieder die Kombinationen Religion und Mathematik oder Religion und Physik.

3.

Die Fachdidaktik als Strategie zur Erschließung des Bildungsgehaltes eines Faches am Beispiel der Theologie

Zum Lehramtsstudium gehört aus guten Gründen nicht nur die intensive Beschäftigung mit den beiden Unterrichtsfächern und der grundlegenden pädagogischen Theorie (Bildungswissenschaft), sondern speziell mit dem bildenden Gehalt der eigenen Fachtradition, die man »Fachdidaktik« nennt, die Theorie des fachlichen Gehaltes unter dem Aspekt des Lernens und Lehrens. Die Fachdidaktik ist keine bloße Applikationstheorie, sondern die Bildungstheorie der fachlichen Gehalte. Am Beispiel der Theologie: Die Fachdidaktik des Schulfaches »Evangelische Religionslehre« rekonstruiert die Fragen nach Gott, nach dem Bösen, nach dem lebenswerten Leben und nach der Zukunft des Menschen und der Welt von den Sinnbildungsprozessen der Schülerinnen und Schüler her. Ihre lebensaltersspezifischen Zugänge zur Sache der Theologie sind nicht nur Anknüpfungspunkte für unterrichtliches Handeln, sondern sie erschließen den Schüler*innen wie den Lehrer*innen den Kern theologischer Sinnbildung jeweils neu. Darum müssen Lehrende nicht nur in historischer und systematischer Weise theologisch gebildet sein. Sie müssen vielmehr dazu in der Lage sein, das Denken und Empfinden der Jugendlichen selbst im Hinblick auf deren theologische Deutungen zu interpretieren und klassische Fragen der theologischen Tradition (z. B.: Lässt Gott das Böse zu? Kann Gott einen Sohn haben? Gibt es ein göttliches Gericht und die Hölle? Hilft das Gebet?) damit in Verbindung zu bringen. Die Antworten auf diese Fragen können nicht aus der Tradition deduziert werden; was man die theologische »Dogmatik« nennt, ist gerade keine Sammlung zeitlos

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feststehender Sätze, sondern der jeweils aktuelle Versuch, die Überlieferung des biblischen Glaubens in der Gegenwart zum Ausdruck zu bringen. Der Zusammenhang von »Dogmatik« und »Predigt« besteht darin, dass das Evangelium, die gute Nachricht von der unzerstörbaren Würde des Menschen und der Liebe zum Menschen, darin jeweils so zum Ausdruck zu bringen ist, dass sich eine aktuelle Überzeugung davon (»Glaube«) bildet. Dogmatik ist mehr ein Vorgang des Eintretens von Wahrheit als der Deskription oder Präskription von Wahrheit. Die Wahrheit des Evangeliums ist ein Geschehen, ein Sich-Bilden. Das gilt nicht nur für die Schule, aber dort auch. Entsprechend soll die Fachdidaktik helfen, die Grundprobleme der theologischen Tradition von den Fragen der Schülerinnen und Schüler her neu aufzuwerfen bzw. die Schüleräußerungen in den klassischen Auseinandersetzungen wiederzufinden. Plakativ formuliert: Unterricht bedeutet, eine Partie Dogmatik zu spielen.1 Theoretischer: Die sich bildende, genetische, problemorientierte Struktur jugendlicher Sinnbildung erschließt zugleich den fachwissenschaftlichen Gehalt, also die Theologie selbst. Noch einmal kurz und zugespitzt: Die Vielfalt jugendlichen Fragens führt nicht zur Diffusion, sondern zur Einheit der Theologie als Sinnbildung.2 Die Fachdidaktik ist damit ein integraler Bestandteil der Theologie. Ohne Fachdidaktik wäre die Theologie unvollständig, weil sie dann über ihren eigenen Ursprung in der Deutungspraxis von Menschen unaufgeklärt bliebe. Die Fachdidaktik ist (im Rahmen der gesamten »Praktischen Theologie«) die genetische Disziplin der Theologie. Sie beschäftigt sich mit der Grundfrage, wie sich der Glaube in der Lebensgeschichte verändert und ob und inwiefern dieser überhaupt gelernt werden kann.3 Ist die (evangelische) Theologie insgesamt die Wissenschaft vom evangelischen Glauben,4 dann gehört dazu notwendig die wissenschaftliche Beschreibung, wie der Glaube – bei bestimmten Menschen – entsteht und sich lebensgeschichtlich verändert. Nur so wissen Dogmatik und Ethik, wovon sie heute reden und so bekommen Exegese und Kirchengeschichte eine Vorstellung davon, worum seinerzeit die Auseinandersetzungen gegangen sein könnten. Der Glaube, um den es nach reformatorischer Einsicht vor allem

1 Vgl. Meyer-Blanck, Michael: Umrisse einer Jugendtheologie – Vorüberlegungen zu einer didaktischen Dogmatik, in: Jahrbuch für Jugendtheologie Band 1, Stuttgart 2013, S. 24–34. 2 Vgl. Meyer-Blanck, Michael: Die Vielfalt der Bildung und die Einheit der Theologie, in: ZThK 117 (2020), S. 231–243. 3 Meyer-Blanck, Michael: Zeigen und Verstehen. Skizzen zu Glauben und Lernen, Leipzig 2018. 4 Meyer-Blanck, Michael: Kirche und universitäre Theologie. Ungleiche Geschwister mit Tendenzen zu richtungsverschiedener Entwicklung, in: Schröder, Bernd (Hg.): Pfarrer oder Pfarrerin werden und sein. Herausforderungen für Beruf und theologische Bildung in Studium, Vikariat und Fortbildung, Leipzig 2020, S. 41–53.

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anderen geht (»allein durch den Glauben«5), hat eine genetische Gestalt, zu deren Verstehen die Fachdidaktik einen wesentlichen Beitrag leistet. Negativ abgrenzend lautet die wichtigste Einsicht, dass die Fachdidaktik etwas grundlegend anderes ist als die Fachmethodik. Die Methodik ist ein spezifischer und wichtiger, aber nicht der entscheidende Aspekt der Didaktik.6 Fachdidaktisch geht es längst nicht nur – und nicht einmal primär – um methodische Strategien, wie man bestimmte Inhalte (etwa die binomischen Formeln oder den Satz des Pythagoras bzw. das Gleichnis Jesu vom verlorenen Sohn in Lk 15,11–32 oder die beiden Hauptquellen der Schöpfungsgeschichte in 1 Mose 1–2) aufbereiten kann, damit sie von Schülerinnen und Schülern der Mittelstufe verstanden werden können. Gewiss ist die Beschäftigung mit den Lernvoraussetzungen und Verstehensmöglichkeiten der Kinder und Jugendlichen ein weiterer wichtiger Teil der Fachdidaktik7 und die Vertrautheit mit dem, was die Kognitive Entwicklungspsychologie das »formal-operatorische Denken« nennt, ist in den genannten Beispielen von großem Vorteil; denn nur so versteht man, wie das »aufbauende Lernen« (bzw. ein »Spiralcurriculum«) funktionieren kann. Auch die Chancen und Grenzen der zahlreichen Methoden (Textarbeit, Tafelarbeit, Rollenspiel) und Sozialformen in den verschiedenen Lebensaltern muss man kennen und davon planerisch abwechselnd Gebrauch machen. Aber alle diese Elementaria der Zuordnung von Lerngegenstand und Lebensalter machen noch nicht die eigentliche Herausforderung des fachdidaktischen Denkens und Argumentierens aus. Wenn auch nicht ganz präzise, kann dennoch unterschieden werden, dass die Methodik nach dem »Wie« fragt, während die Fachdidaktik dem »Was« und »Warum« nachspürt. Das oberste Prinzip fachdidaktischen Denkens und Planens im wissenschaftspropädeutischen Kontext wird es sein, nicht nur bestimmte Inhalte verständlich zu machen, sondern auch die Prinzipien, nach denen die jeweilige Fachwissenschaft funktioniert. Am Beispiel der theologischen Dogmatik wurde das bereits kurz beschrieben: Dogmatisch ist die Einsicht, wie glaubende Lebensdeutungen in Auseinandersetzung mit den biblischen Überlieferungen von Gott historisch

5 Dieses Prinzip geht aus von Luthers Übersetzung von Röm 3,28, wo er das explikative »allein«, das nicht im griechischen Text steht, einfügte und so den Sinn der Stelle philologisch unkorrekt, aber sachlich kongenial ins Deutsche übertrug: »So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.« 6 Dazu s. z. B. unter den zahlreichen Methodenbüchern Adam, Gottfried / Lachmann, Rainer (Hg.): Methodisches Kompendium für den Religionsunterricht, 5. Auflage, Göttingen 2010 [1993]. 7 Das lehrtheoretische Modell der Didaktik spricht an diesem Punkt bekanntlich von den »anthropogenen und sozial-kulturellen Voraussetzungen« des Unterrichts: Heimann, Paul / Otto, Gunter / Schulz, Wolfgang: Unterricht. Analyse und Planung, 5. Auflage, Hannover 1970 [1965], S. 23f.

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entstanden sind, heute entstehen und gegenüber anderen Menschen und der Welt verantwortet werden können. Auch die Nähe zu bildungswissenschaftlichen Fragestellungen wird dadurch ermöglicht, dass die einzelnen Ziele, Inhalte und Methoden des Unterrichts auf solche Elementaria des Faches und des schulischen Lernens überhaupt bezogen und von daher fokussiert werden. Ich nenne drei Beispiele: Was haben die Schülerinnen und Schüler davon, dass sie sich mit dem Gleichnis Jesu von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–16a) beschäftigen? Antwort: Dass sie damit eine alternative Form von Gerechtigkeit kennen lernen und diese mit Gott in Verbindung bringen können. – Warum ist die Bergpredigt (Mt 5–7) so wichtig? Antwort: Weil daran das Spannungsfeld zwischen fundamentalen und praktischen Maximen der Ethik deutlich werden kann. – Warum sollen Schülerinnen und Schüler die Unterscheidung Luthers zwischen dem weltlichen Regiment und dem glaubenden Regiment Gottes verstehen? Antwort: Weil sie dadurch ein Grunddatum moderner Staatlichkeit, die Unterscheidung von Politik und Religion, begreifen werden. Die Fachdidaktik spürt solche Bildungsgehalte in den fachwissenschaftlichen Inhalten auf, die über die interne Logik des Faches hinausgehen. Die fachlichen Begründungen sind ebenfalls wichtig: Mit Mt 20,1–16a lernt man das Spezifikum der Predigt Jesu kennen, mit der Bergpredigt Mt 5–7 die wichtigste matthäische Redenkomposition und mit Luthers Unterscheidungen den Kern seiner Theologie (und den Kern evangelischer Theologie überhaupt8). Aber diese fachlichen Begründungen müssen in die allgemeinen Bildungsgehalte und im Gespräch mit den anderen Fächern hinter diese eingeordnet werden können.

4.

Das Zusammenspiel der Fachdidaktiken an der Schule und im Lehramtsstudium

Analoges wie von meiner eigenen Fachdidaktik Theologie ist nun auch von den anderen Fachdidaktiken zu erwarten und zu fordern. Für das Zusammenwirken der Schulfächer und der universitären Fachdidaktiken kommt es mindestens auch auf die allgemeinen, fachübergreifenden Kompetenzen an, in älterer Diktion: auf die persönlichkeitsbildenden Gehalte jedes Faches. Die Aussage, dass man dieses und jenes eben wissen oder verstanden haben muss, um bestimmte

8 Dazu das immer noch in jeder Weise empfehlenswerte Buch von Ebeling, Gerhard: Luther. Einführung in sein Denken, 6. Auflage, Tübingen 2017 [1964]. – Im Nachhinein betrachte ich dieses als eines der Bücher, aus denen ich im Studium und bis heute am meisten theologisch gelernt habe.

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Studien- und Berufsanforderungen bestehen zu können, ist zwar in materialer Hinsicht zutreffend, aber dennoch nur zum Teil befriedigend. Es reicht nicht, die Ziele, Inhalte und Methoden nur fachintern zu begründen. Ich möchte verstehen, inwiefern Thomas Manns Konzept von Kunst in seiner Erzählung »Der Tod in Venedig« Jugendlichen hilft, Selbst- und Weltbilder zu begreifen und zu kritisieren. – Bei den Fremdsprachen halte ich es für essentiell, nicht nur die jeweilige Sprache anzueignen, sondern auch das Wesen von Sprache als einer übernommenen und gestalteten Realität zu durchdringen: Wenn ich eine Sprache lerne und spreche, werde ich zugleich von dieser gesprochen. – Ich will als Nicht-Mathematiker wissen, warum und inwiefern die binomischen Formeln und der Satz des Pythagoras etwas zur Fähigkeit beitragen, uns umgebende Phänomene zu formalisieren. – Erst recht interessiert es mich, wie Schülerinnen und Schüler bei naturwissenschaftlichen Experimenten entdecken, was naturwissenschaftliche Beobachtung ist, also wie sie verstehen, was sie beobachten, wenn sie einen physikalischen und chemischen Versuchsaufbau beobachten. Für ein bildendes Lernen in allen Fächern kommt es darauf an, wenigstens teilweise Beobachtungen zweiter Ordnung zu ermöglichen, also die spezifische Rationalitätsform des jeweiligen Fachzugangs zu erschließen. Grundlegend unterscheide ich dazu die Beobachtungsrationalität der naturwissenschaftlichen Fächer von der Deutungsrationalität der geisteswissenschaftlichen und ästhetischen Fächer. Damit diese Unterscheidungen den Schülerinnen und Schülern erschlossen werden können, müssen sie zunächst den Lehrkräften selbst vertraut werden. Dazu helfen Beobachtungen zweiter Ordnung, die die Art und Weise des eigenen wissenschaftlichen Fragens und Erkennens zum Thema machen. Schülerinnen und Schüler werden an einem Schulvormittag mit sehr verschiedenen Fachlogiken konfrontiert und müssen sich auf den zufälligen Wechsel aufgrund des Stundenplans einstellen. In der Regel verfügen sie über keine Strategien, um zu verstehen, welche hermeneutischen Grundannahmen den einzelnen Fächern zugrunde liegen. Häufig bleibt auch den Unterrichtenden kein Raum, die eigene Rationalitätsform, die Art und Weise des eigenen Thematisierens von Beobachtungen und Problemstellungen, aus einer Metaperspektive in den Blick zu nehmen. Es ist darum eine wichtige Dimension des fachdidaktischen Studiums, die eigenen Beobachtungen beobachten zu lernen, um die anderen Fächer besser zu verstehen und um sich über die blinden Flecke des eigenen Fachzugangs besser im Klaren zu sein. Sinnvollerweise sind dazu von dem Bildungsforscher Jürgen Baumert im Hinblick auf die geläufigen Schulfächer vier verschiedene Rationalitätsformen bzw. »Modi der Weltbegegnung« unterschieden worden: 1. die »kognitiv-instrumentelle Modellierung der Welt« in der Mathematik und den Naturwissenschaften, 2. die »ästhetisch-expressive Begegnung und Gestaltung« in Sprache

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und Literatur sowie in Musik, Malerei, Kunst und physischer Expression, 3. die »normativ-evaluative Auseinandersetzung mit Wirtschaft und Gesellschaft« in Geschichte, Politik und Gesellschaft sowie 4. die »Probleme konstitutiver Rationalität« in den Fächern Religion und Philosophie.9 Diese vier Modi sind notwendig, also nicht gegenseitig zu ersetzen. Es sollte für die Schülerinnen und Schüler möglich sein, einzelne Fächer ›abzuwählen‹, aber nicht, die Auseinandersetzung mit einem gesamten Modus zu vermeiden. Für die Lehrerinnen und Lehrer ist es wichtig, die Komplementarität der verschiedenen Wissensformen im Blick zu haben und nicht nur eine Form der Welterschließung für »wissenschaftlich« zu halten – etwa die erste Form, weil diese im unreflektiert szientistischen Alltagssprachgebrauch bisweilen als die allein wissenschaftliche gilt. Demgegenüber ist festzuhalten, dass weder die naturwissenschaftliche Weltbegegnung noch eine der anderen drei (etwa die normativ-evaluative Thematisierung von Gesellschaft) als solche wissenschaftlich ist; das gilt vielmehr erst für die theoretische Beobachtung der jeweiligen Weltzugänge. Weder das Experiment noch die Expression oder die Evaluation noch Ethos oder Religion sind als solche wissenschaftlich, sondern dieses Attribut trifft immer erst auf deren Brechung in der Beobachtung der Beobachtung zu, auf die theoretische Umschreibung der Bedingungen und Möglichkeiten von Experiment, Expression, Evaluation, Ethos und Religion. Es ist ein Kategorienfehler, vom Gegenstand der Beobachtung auf die Wissenschaftlichkeit zu schließen. Der wissenschaftliche Charakter ergibt sich vielmehr aus dem Grad an selbstreflexiver und selbstkritischer Durchdringung. Die schulischen Fächer Religion und Philosophie, die von Baumert dem Bereich der »konstitutiven Rationalität« zugeordnet werden, haben dabei auch die Aufgabe, die verschiedenen Möglichkeiten des Weltzuganges gegeneinander abzuwägen. Sie helfen dabei, ein mehrperspektivisches Menschenbild zu entwickeln: Der Mensch kann nicht nur als ein animal rationale, sondern er muss auch als ein animal morale und ein animal symbolicum, als ein sinnbildendes Wesen, betrachtet werden.10

9 Baumert, Jürgen: Deutschland im internationalen Bildungsvergleich, in: Killius, Nelson u. a. (Hg.): Die Zukunft der Bildung, Frankfurt am Main 2002, S. 100–150, hier S. 113. 10 Cassirer, Ernst: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, 2. Auflage, Hamburg 2007 (engl. 1944).

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5.

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Die Bildungswissenschaften als didaktische Fundamentaltheorie und Moderator

Die Fachdidaktiken in der Schule und erst recht in der Universität haben nach fachlichen Überschneidungen und Komplementaritäten zu suchen, um den Lehrerinnen und Lehrern wie den Jugendlichen Gesprächsmöglichkeiten über die Grenzen der Schulfächer hinaus zu eröffnen. Denn die schulische Praxis der Fächerabgrenzung und die Leistungsbewertung nach Lernfortschritten ausschließlich im jeweiligen Schulfach tendieren dazu, die Logik der Wissenschaften voneinander zu isolieren bzw. die Lernenden dabei allein zu lassen, nach verbindenden Perspektiven zu suchen. Statt eines schulischen Bildungsganges stellt sich das Ganze aus Schülersicht häufig als bloße Ansammlung von Wissensstoffen dar (wobei man eben in dem einen Fach besser und in dem anderen schlechter ist). Und wenn es schlecht läuft, dann sehen auch die Lehrerinnen und Lehrer den pädagogischen Wald vor fachdidaktischen Bäumen nicht mehr. Dass dieser Zustand unbefriedigend ist, liegt auf der Hand. Was Bildung und Selbstverantwortung ausmacht, kann nicht mit einem Modus der Weltbegegnung allein bestimmt werden. Das trifft auch auf den vierten Modus der »konstitutiven Rationalität« zu. Dieser kann zwar die grundlegenden Themen des In-der-WeltSeins (Erkenntnis, Moral, Wahrnehmung, Glauben) aufwerfen, benötigt dazu aber die Instrumente des Denkens, der Sprache, der Expression und vor allem ein Grundbild dessen, was der Mensch in der Welt durch Lernen werden kann. Damit erweitert sich der Blick von den Fächern auf die fundamentale Rahmentheorie des Lehrens und Lernens, wie sie von den Bildungswissenschaften bereitgestellt wird. Denn neben allen fachdidaktischen Erschließungen der Welt muss es immer auch um die grundlegende Frage gehen, was wir eigentlich tun, wenn wir uns der Welt experimentell, sprachlich, ökonomisch oder moralisch nähern – wenn wir also eine bestimmte fachliche Brille aufsetzen. In den Bildungswissenschaften – und mit ihrer Hilfe auch in der Praxis – werden das Lernen, der Erwerb von Wissen und die Bildung selbstreflexiv. Die Bildungstheorie ist diejenige Anleitung zur Selbstthematisierung, die dabei hilft, den eigenen Bildungsprozess zu beobachten. Sie sollte darum zugleich Bestandteil jeder fachlichen und fachdidaktischen Kultur sein, damit die die Lehrenden wissen, was sie tun und die Lernenden nicht nur Objekte der Wissens- und Kompetenzvermittlung sind, sondern immer mehr zu Subjekten ihres eigenen Bildungsfortschritts werden. Gewiss müssen beim schulischen Lernen viele sachliche und fachliche Vorgaben gemacht werden, und gut überlegte Vorgaben ist die ältere Generation der nachwachsenden geradezu schuldig. Die fast manische »Anknüpfung an den Interessen der Schülerinnen und Schüler« beraubt diese häufig der Inhalte, an

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denen sie wachsen und Autonomie gewinnen können. Vor allem mit der Zumutung der harten Gegenstände, etwa im Deutsch- und Religionsunterricht, bleibt das treffende pädagogische Prinzip in Kraft, dass die educandi als das zu behandeln sind, was sie noch nicht sind, aber im Begriff stehen zu werden: educati, gebildete, die Welt und sich selbst durchschauende Menschen. Mit der »Reifeprüfung« wird Schülerinnen und Schülern bescheinigt, eben das zu sein – auch wenn alle wissen, dass das Abitur wiederum nur eine Etappe auf dem Weg zur Selbstverantwortung in Beruf, Gesellschaft und Familie ist. Um ein wichtiges Zwischenziel handelt es sich aber zweifellos. Denn Studierende sind verantwortlich für ihren eigenen Bildungsprozess. Sie werden beraten, begleitet, gefordert und ihnen werden die Fachinhalte nahegebracht, aber sie werden nicht mehr erzogen. Das Ziel, Fremdbestimmung in Selbstbestimmung zu überführen, muss als grundsätzlich erreicht gelten. Das schließt übrigens gerade ein, dass man im akademischen Seminar, zu dem man sich angemeldet hat, nicht einfach fehlen darf.11 Das gebietet der Respekt vor den commilitones ebenso wie die Mitverantwortlichkeit aller Teilnehmenden für die Qualität eines Seminars. Gerade wer Seminare als gemeinsame Bemühung um die Forschung versteht und nicht als professorale Applikation von Wissensbeständen, wird die eigene Mitarbeit wertschätzen und in den Kontext der eigenen Verantwortlichkeit stellen. Darum besteht bei allen Vorteilen – wie vor allem der größeren Praxisnähe – ein großer Nachteil der neuen Bachelor- und Masterstudiengänge darin, dass sie die Eigenverantwortlichkeit im Studium deutlich reduziert haben. Tendenziell wurde das Studium von einem selbstorganisierten Bildungsgang zu einem vorgegebenen Ausbildungsprogramm. Die Bildungswissenschaften haben nicht zuletzt das damit verbundene Problem im Lehramtsstudium bewusst zu halten. Sie sollten gemeinsam mit den Fachdidaktiken Wert darauf legen, dass die bildende Kraft der Studien- und Fachinhalte hervortritt und diese nicht auf Prüfungsinhalte reduziert werden, die man sich primär um eines Qualifikations- und Berufsziels willen aneignet. Der Bildungsgedanke sollte auch das Prinzip stark machen, das vor allem die Eigenmotivation fachlich voranbringt – jedenfalls mehr als die Summe pflichtmäßiger und für das Fach immer zu knapp bemessener Lehrveranstaltungen. Für die »Buchwissenschaften« bleibt die alte Einsicht in Geltung, dass ein im Urlaub gelesenes Werk an Primär- oder Sekundärliteratur im Fach enorm voranbringen kann. Bildung geschieht nicht nur durch Lehrveranstaltungen. Wahrscheinlich besteht der folgenreichste Irrtum der Bachelor11 Meyer-Blanck, Michael: Bildende Präsenz. Warum auf die Anwesenheitspflicht im akademischen Seminar nicht verzichtet werden kann, in: Krämer, Hildegard / Kunze, Axel Bernd / Kuypers, Harald (Hg.): Beruf Hochschullehrer. Ansprüche, Erfahrungen, Perspektiven, Paderborn 2013, S. 55–61.

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und Masterstudiengänge in dem Irrtum, allein durch die absolvierten Module werde man zur Naturwissenschaftlerin, Philologin oder Theologin. Bildung durch fachliche Gehalte ist ein umfassender Vorgang. Mit besonderer Sorgfalt haben die Bildungswissenschaften darum das Zusammenspiel der unterschiedlichen Fachdidaktiken zu moderieren, damit die unterschiedlichen Modi der Weltbegegnung in ihrem jeweiligen Profil deutlich werden. Daraus ergibt sich die Handlungsoption, die fachdidaktischen Theorien durch eine allgemeine Theorie der Fachdidaktiken zu ergänzen. Diese hat die bestehenden Grenzen zwischen den Fachdidaktiken sowohl wahrnehmbar als auch durchlässiger zu machen. Die Eröffnung des Gespräches zwischen den verschiedenen Fachdidaktiken und den Bildungswissenschaften, wie sie an der Universität Bonn seit einigen Jahren am BZL betrieben wird, ist dazu der richtige Weg. Indem die Bildungswissenschaften die Rahmen- und Fundamentaltheorie des Lernens und Lehrens zur Verfügung stellen, haben sie zugleich eine moderierende Funktion, die Gesprächsfäden zwischen den Fachdidaktiken knüpft. Die Bildungswissenschaften formulieren Grundsätze für ein sich selbst erschlossenes und für sich selbst durchsichtiges, verantwortliches Leben auf dem Hintergrund dessen, was dafür heute zu wissen und zu können notwendig ist – also zu dem, was man in der Gegenwart und Zukunft einen gebildeten Menschen nennen kann. Der Weg dahin führt nicht nur, aber wesentlich über die Institution Schule und ihr Bildungs- und Erziehungskonzept. Die Bildungswissenschaften haben darum auch die Aufgabe, die Schule als ganze in den Blick zu nehmen und dabei über die Inhalte der einzelnen Unterrichtsfächer hinauszublicken. Die Schule ist in den letzten Jahrzehnten aufgrund gesellschaftlicher Entwicklungen immer mehr zu einem Lebensort geworden. Erst recht in den Pandemiejahren 2020 und 2021 hat sich umso deutlicher herausgestellt, was den Kindern und Jugendlichen fehlt, wenn sie nicht in die Schule können. Die Bildungswissenschaften sind auch insofern eine »Rahmentheorie«, als sie den Rahmen Schulleben untersuchen und fördern, der das fachliche Lernen umgibt. Die einzelnen Fachdidaktiken und ihr Umfeld stellen auch dafür Perspektiven und Impulse bereit. Aus Sicht der Fachdidaktik Religion sind hier mehrere Beiträge zum religiösen Schulleben zu nennen wie etwa die religiösen Besinnungstage. Die evangelischen und katholischen Kirchen haben in letzter Zeit ihre Angebote der Schulseelsorge stark ausgebaut und Lehrerinnen und Lehrer als Schulseelsorger aus- und fortgebildet. Der Bedarf an individueller Beratung hat offensichtlich stark zugenommen, so dass sie nicht mehr einfach am Rande des

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Unterrichts, zwischen Tür und Angel vorgenommen werden kann, sondern eigene Arbeitsstrukturen erfordert.12 Geradezu ein Aufbruch ist in den letzten beiden Jahrzehnten bei Schulandachten bzw. beim Schulgottesdienst13 zu verzeichnen, denn es ist deutlich geworden, dass Gemeinschaften Rituale benötigen, die etwas Gemeinsames zur Darstellung bringen und den Zusammenhalt stärken. Das ist in Schwellensituationen (Einschulung, Abitur) der Fall und erst recht in Trauersituationen und bei Katastrophen.14 Hier wird in schmerzlicher Form bewusst, dass Lernen und Bildung mehr umfassen als fachliche Inhalte. In der Schule will auch das Leben mit seinen Höhen und Tiefen gelebt werden, denn die Menschen dort gehen nicht in ihrer Rolle als Unterrichtende und Lernende auf.

Literatur Adam, Gottfried / Lachmann, Rainer (Hg.): Methodisches Kompendium für den Religionsunterricht, 5. Auflage, Göttingen 2010 [1993]. Benz, Brigitte: Eine Stadt trauert. Zum Umgang mit einem Schulamoklauf in Erfurt, in: Deutschland trauert. Trauerfeiern nach Großkatastrophen als gesellschaftliche Herausforderung, Würzburg 2019, S. 39–46. Baumert, Jürgen: Deutschland im internationalen Bildungsvergleich, in: Killius, Nelson u. a. (Hg.): Die Zukunft der Bildung, Frankfurt am Main 2002, S. 100–150. Cassirer, Ernst: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, 2. Auflage, Hamburg 2007 (engl. 1944). Dressler, Bernhard (Hg.): Schul-Gottesdienst feiern. Eine Orientierungshilfe der Liturgischen Konferenz, Gütersloh 2012. Ebeling, Gerhard: Luther. Einführung in sein Denken, 6. Auflage, Tübingen 2017 [1964]. Heimann, Paul / Otto, Gunter / Schulz, Wolfgang: Unterricht. Analyse und Planung, 5. Auflage, Hannover 1970 [1965]. Koerrenz, Ralf / Wermke, Michael (Hg.): Schulseelsorge – Ein Handbuch, Göttingen 2008. Lienau, Anna-Katharina: Schulseelsorge. System struktureller Kopplung, Leipzig 2017. Meyer-Blanck, Michael: Die Vielfalt der Bildung und die Einheit der Theologie, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 117 (2020), S. 231–243. Meyer-Blanck, Michael: Kirche und universitäre Theologie. Ungleiche Geschwister mit Tendenzen zu richtungsverschiedener Entwicklung, in: Schröder, Bernd (Hg.): Pfarrer 12 Koerrenz, Ralf / Wermke, Michael (Hg.): Schulseelsorge – Ein Handbuch, Göttingen 2008 sowie Lienau, Anna-Katharina: Schulseelsorge. System struktureller Kopplung, Leipzig 2017. 13 Dressler, Bernhard (Hg.): Schul-Gottesdienst feiern. Eine Orientierungshilfe der Liturgischen Konferenz, Gütersloh 2012 sowie Pfaff, Petra: Der Schulgottesdienst als Partizipationsgeschehen. Überlegungen zur leiblich-sinnlichen Wahrnehmung im Schulgottesdienst, Leipzig 2012. 14 Benz, Brigitte: Eine Stadt trauert. Zum Umgang mit einem Schulamoklauf in Erfurt, in: Deutschland trauert. Trauerfeiern nach Großkatastrophen als gesellschaftliche Herausforderung, Würzburg 2019, S. 39–46.

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oder Pfarrerin werden und sein. Herausforderungen für Beruf und theologische Bildung in Studium, Vikariat und Fortbildung, Leipzig 2020, S. 41–53. Meyer-Blanck, Michael: Zeigen und Verstehen. Skizzen zu Glauben und Lernen, Leipzig 2018. Meyer-Blanck, Michael: Umrisse einer Jugendtheologie – Vorüberlegungen zu einer didaktischen Dogmatik, in: Jahrbuch für Jugendtheologie 1, Stuttgart 2013, S. 24–34. Meyer-Blanck, Michael: Bildende Präsenz. Warum auf die Anwesenheitspflicht im akademischen Seminar nicht verzichtet werden kann, in: Krämer, Hildegard / Kunze, Axel Bernd / Kuypers, Harald (Hg.): Beruf Hochschullehrer. Ansprüche, Erfahrungen, Perspektiven, Paderborn 2013, S. 55–61. Pfaff, Petra: Der Schulgottesdienst als Partizipationsgeschehen. Überlegungen zur leiblichsinnlichen Wahrnehmung im Schulgottesdienst, Leipzig 2012.

FRANZÖSISCH

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Keine Angst vor dem accent circonflexe! Zum fremdsprachendidaktischen Potential von Sprachgeschichte und Sprachwandelerscheinungen im Fach Französisch. Ein Plädoyer für die Einheit von Fachwissenschaft und Fachdidaktik in der universitären Lehrerbildung »Eines ist nach 33 La¨ nderspielen von Leroy Sane´ sicher: dass sich der Bundestrainer beharrlich weigert, den Namen des 25 Jahre alten Stu¨ rmers so auszusprechen, wie er ausgesprochen wird. Bei Joachim Lo¨ w wird aus Leroy Sane´, dessen Nachname mit einem accent aigu geschrieben wird, weswegen der letzte Buchstabe in diesem Fall betont und geschlossen gesprochen [werden] sollte, sprachlich ein vortreffliches Milchprodukt: Leroy Sahne. Nach 33 La¨ nderspielen gibt es allerdings auch sportlich ein paar irritierende Beobachtungen: dass es dem Bundestrainer auch nicht gelingt, die richtige Rolle fu¨ r Leroy Sane´ in der Nationalelf zu finden. […]«1

In dieser Pressenotiz im Umkreis der Fußball-Europameisterschaft des Sommers 2021 werden sportlich-taktische Überlegungen von sprachlichen Irritationen flankiert. Dass der erhoffte Pokal am Ende nach Italien gehen sollte, ist sicherlich nicht den genannten Unsicherheiten in der Aussprache des Spielernamens geschuldet, diese werfen aber ein interessantes Licht auf die Situation der französischen Sprache in Deutschland. Der ehemalige Bundestrainer steht mit seinen Ausspracheschwierigkeiten nicht alleine da, sondern befindet sich vielmehr, trotz Schulbesuchs im Schwarzwald, kaum eine Autostunde von der französischdeutschen Grenze entfernt, in solidarischer Gemeinschaft mit der nicht geringen Zahl an Schülerinnen und Schülern, die sich Jahr für Jahr durch das Unterrichtsfach Französisch zu ›quälen‹ scheinen und an den sprachlichen Klippen oftmals allzu schnell die Lust verlieren, anstatt sich ihrer Herausforderung zu stellen. Ihre Beschäftigung mit der Sprache des Nachbarlandes endet dann oftmals in der frustrierten Abwahl des Fachs. Natürlich ist dies nur die eine Seite der Medaille; auf der anderen gibt es auch weiterhin eine beträchtliche Anzahl hochmotivierter und fremdsprachenbegeisterter Schülerinnen und Schüler, die das Französische mit Freude und großem Gewinn erlernen und davon noch beim Erwerb weiterer Sprachen nachhaltig profitieren. Steht es also wirklich so schlecht um den Spracherwerb des 1 Horeni, Michael: Leroy Sané im DFB-Team. Wie im falschen Film, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. 06. 2021.

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Französischen in Deutschland? Und, wenn ja, warum fühlen sich hierzulande so viele Lernende von der französischen Sprache abgeschreckt? Warum wenden sie sich von ihr ab? Worin bestehen ihre Schwierigkeiten? Wie lässt sich Abhilfe schaffen? Tatsächlich wurden und werden diese und ähnliche Fragen immer wieder, spätestens seit den 1990er Jahren verstärkt, von der Frankoromanistik und Französischdidaktik untersucht. Dabei könnte die Sorge auf den ersten Blick ganz unberechtigt erscheinen: Das Fach Französisch steht in Deutschland nach wie vor an zweiter Stelle der erlernten Schulfremdsprachen – in deutlichem Abstand zwar hinter der unangefochtenen ersten Fremdsprache Englisch, aber diese entzieht sich weitgehend der Abwahl. Wenn man rückläufige Zahlen bei der Fächerwahl als Indikator einer Krise heranzieht, wie es vielfach getan wird, so lässt das (zuletzt sogar zunehmend) negative Sprachwahlverhalten von Schülerinnen und Schülern dennoch aufhorchen. Das sinkende Interesse am Schulfach Französisch hat daher die Krisendebatte in den letzten Jahren wieder neu aufflammen lassen.2 Der vorliegende Beitrag skizziert zunächst die vielfach als krisenhaft wahrgenommene Situation des schulischen Unterrichtsfachs Französisch sowie daraus folgende Konsequenzen für die universitäre Lehrerbildung, in der es gilt, die fachwissenschaftliche mit der fachdidaktischen Dimension der akademischen Disziplin zu verzahnen und beiden zugleich – die Unterrichtspraxis als ›Fluchtpunkt‹ im Blick –3 sowohl theoretische als auch praktische Zugänge zu eröff2 Vgl. zuletzt: Grein, Matthias / Schädlich, Birgit / Vernal Schmidt, Janina (Hg.): Die Krise des Französischunterrichts in der Diskussion. Empirische Forschung zur Frankoromanistik – Lehramtsstudierende im Fokus, Berlin 2021, sowie dazu: Ißler, Roland: Selbstkritik und Krise. Gedanken zur Lehrerbildung im Fach Französisch anlässlich des Sammelbandes Die Krise des Französischunterrichts in der Diskussion (2021), in: apopros. Perspektiven auf die Romania 7 (2021), S. 128–138. Zur Entwicklung der Lernendenzahlen vgl. Nieweler, Andreas (Hg.): Fachdidaktik Französisch. Tradition – Innovation – Praxis, Stuttgart 2017, S. 34–37; Caspari, Daniela: Der Französischunterricht in der Krise – und mit ihm die Bedeutung der Schulfremdsprachen außer Englisch, in: Grein, Matthias / Schädlich, Birgit / Vernal Schmidt, Janina (Hg.): Die Krise des Französischunterrichts in der Diskussion, S. 25–43, hier S. 30–34; Abendroth-Timmer, Dagmar: Gibt es eine »Krise des Französischunterrichts«? Motivationale Einflüsse auf das Fach Französisch aus der Sicht zukünftiger Französischlehrer_innen, in: Grein, Matthias / Schädlich, Birgit / Vernal Schmidt, Janina (Hg.): Die Krise des Französischunterrichts in der Diskussion, S. 44–63, hier S. 44; länderspezifisch in: Lange, Ulrike C. / Nieweler, Andreas / Schmidt, Bernd (Hg.): Festschrift der Vereinigung der Französischlehrerinnen und -lehrer e.V. zum 50. Jahrestag des deutsch-französischen Vertrages. Französisch heute in Deutschland: zu den Früchten des Elysée-Vertrages für den Französischunterricht, Stuttgart 2013. 3 Dass sich die Unterrichtspraxis nicht auf die unterrichtspraktischen Studienanteile beschränkt, sondern in der Lehrerbildung gleichsam als ein Fluchtpunkt stets in Betracht zu ziehen ist, darauf verweist: Königs, Frank G.: Sackgasse oder Verkehrsplanung? Perspektiven für die Ausbildung von Fremdsprachenlehrern, in: Fremdsprachen Lehren und Lernen 31 (2002), Themenschwerpunkt: Lehrerausbildung in der Diskussion, S. 22–41, hier S. 30.

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nen.4 Rekurrente Schwierigkeiten beim Erwerb der Fremdsprache werden sodann exemplarisch vor dem Hintergrund der sprachhistorischen Entwicklung betrachtet, um die Relevanz fachwissenschaftlicher Expertise für fachdidaktische Zusammenhänge zu demonstrieren. Die universitäre Lehrerbildung sollte das Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft und unterrichtlicher Vermittlungsperspektive als eine produktive Relation begreifen, von welcher beide Seiten profitieren. Welche Inhalte Bildungsrelevanz besitzen, ob sie im Kontext der akademischen oder schulischen Lehre eine Rolle spielen, entscheidet die Fachdidaktik auf der Grundlage des jeweiligen Lernkontextes. Unter Rückgriff auf fachwissenschaftliche Wissensbestände vermag sie mittels ihrer kreativen didaktischen Transformationsleistung Einsichten, Erkenntnisse und Lernerfolge im Spracherwerb herbeizuführen und zu begleiten.

1.

Französisch in der Krise? – Zur Situation des Schulfachs

Ob sich das Fach Französisch wirklich in einer Krise befindet und worin diese genau besteht, bedarf eines differenzierteren Blicks. In jedem Fall liegt der Schwerpunkt des Schulfaches in der Sekundarstufe I,5 während die große Abwahlwelle in der Regel vor oder mit Eintritt in die gymnasiale Oberstufe einsetzt. Hier büßt das Fach seine anfänglich solide Basis in massiver Weise ein, und es spricht vieles dafür, dass sich diese bedauerliche Tendenz zunehmend verschärft. Paradoxerweise steht sie in einem eklatanten Gegensatz zu der ungebrochenen Bedeutung der bilateralen Beziehung beider Staaten und ebenso zur globalen Verbreitung (»Primärsprecher: 70 Mio.; Geltungsbereich insgesamt: 390 Mio.«)6 und kulturellen Tradition des Französischen.7 Während die deutsch-französi4 Zur Begriffsbestimmung der Fachdidaktik und Identifikation ihres Aufgabenfeldes sei verwiesen auf: Ißler, Roland: Universitäre Lehrerbildung zwischen Tradition und Innovation. Kritische Reflexionen zur Fachkultur der Romanischen Philologie und Fremdsprachendidaktik, in: Corti, Agustín / Wolf, Johanna (Hg.): Romanistische Fachdidaktik. Grundlagen – Theorien – Methoden, Münster 2017, S. 37–53, hier S. 45f. 5 Vgl. Melo-Pfeifer, Sílvia: Eine pas très facile Leidenschaft? Die Entwicklung berufsbezogener Überzeugungen von angehenden Französischlehrkräften. Eine explorative Studie in Bachelorund Masterstudiengängen an der Universität Hamburg, in: Grein, Matthias / Schädlich, Birgit / Vernal Schmidt, Janina (Hg.): Die Krise des Französischunterrichts in der Diskussion, S. 64–85, hier S. 66. 6 Bossong, Georg: Die romanischen Sprachen. Eine vergleichende Einführung, Hamburg 2008, S. 157. 7 Der Weltsprachenstatus des Französischen »lässt sich nicht aus der Sprecherzahl ableiten, denn als Primärsprache belegt es unter den großen Sprachen der Welt heute nur einen mittleren Rang, weit hinter Arabisch, Russisch oder Japanisch […]. Die Weltgeltung der französischen Sprache beruht auf ihren großen Traditionen, auf ihrer Rolle als Symbol für französische Lebensart und französische Werte, auf dem kulturellen Glanz, den Frankreich weltweit aus-

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sche Freundschaft erst 2020 mit dem Aachener Vertrag (Traité d’Aix-la-Chapelle) als erneuernder Bekräftigung des sogenannten Élysée-Vertrags (Traité de l’Élysée) von 1963 wiederholt besiegelt wurde und im Kontext der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bemühungen um ein geeintes Europa immer wieder die Bedeutsamkeit des binationalen Tandems als ›Motor der europäischen Entwicklung‹ akzentuiert wird, geht das wechselseitige Interesse der nachwachsenden Generation an der Sprache des jeweiligen Nachbarlandes – übrigens auch auf französischer Seite – in der schulischen Realität leider zurück.8 Die Tatsache, »dass das Französische als 2. Fremdsprache [in Deutschland] offensichtlich besonders häufig abgewählt wird und dadurch in der Sekundarstufe II an Bedeutung verliert«,9 wird in einschlägigen Befragungen seit mindestens zwei Jahrzehnten in der Regel auf wiederkehrende Motive zurückgeführt, die, wie erst kürzlich gezeigt werden konnte, bis heute stabil geblieben sind.10 Einhellig sind die Aussagen der Lernenden vor allem darin, Französisch als eine »schwierige Sprache« wahrzunehmen.11 Die mit ihr verbundene hohe Lernintensität12 demotiviert Schülerinnen und Schüler; sie schreckt zumal germanophone Lerner ab, die zudem in einem »lernpsychologisch ungünstige[n] Alter«13 mit der Fremdsprache konfrontiert werden, und führt zu einem »angeblich schlechten Image«14 des Faches: »Kritisiert wird von [Schülerinnen und Schülern] insbesondere, dass der Unterricht stark schriftlich ausgerichtet sei, sie zu wenig Wortschatz und zu wenig Sprechen lernten und dass grammatische Lerninhalte einen zu großen Raum einnähmen, ohne dass sie dieses

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strahlt – und natürlich auch auf den Nachwirkungen des französischen Kolonialismus, der es mit sich brachte, dass zahlreiche neue Staaten nach ihrer Unabhängigkeit die Sprache des ehemaligen Herren als Nationalsprache institutionalisiert haben. Mit seiner Verbreitung steht das Französische an zweiter Stelle in der Welt: Bezüglich der Länder, in denen es offizielle Geltung hat, wird es nur von seinen ewigen Konkurrenten, dem Englischen, übertroffen.« Ebd., S. 145. Vgl. bereits Vollmuth, Hannes: »Wir müssen Schüler anfixen«. Französischunterricht in der Schule, in: Süddeutsche Zeitung, 24. 02. 2015. Caspari, Daniela: Der Französischunterricht in der Krise – und mit ihm die Bedeutung der Schulfremdsprachen außer Englisch, S. 33. Vgl. Abendroth-Timmer, Dagmar: Gibt es eine »Krise des Französischunterrichts«?, S. 60. Vgl. Caspari, Daniela: Der Französischunterricht in der Krise – und mit ihm die Bedeutung der Schulfremdsprachen außer Englisch, S. 34; Melo-Pfeifer, Sílvia: Eine pas très facile Leidenschaft? Die Entwicklung berufsbezogener Überzeugungen von angehenden Französischlehrkräften, S. 65. Vgl. Abendroth-Timmer, Dagmar: Gibt es eine »Krise des Französischunterrichts«?, S. 54. Caspari, Daniela: Der Französischunterricht in der Krise – und mit ihm die Bedeutung der Schulfremdsprachen außer Englisch, S. 35. Grein, Matthias / Schädlich, Birgit / Vernal Schmidt, Janina: Studierende des Lehramts Französisch im Fokus: Überlegungen zum Krisenbegriff und Forschungsstand, in: Dies. (Hg.): Die Krise des Französischunterrichts in der Diskussion, S. 1–24, hier S. 1.

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Wissen anwenden könnten. Sie beklagen weiterhin die für den vergleichsweise hohen Lernaufwand geringen Lernfortschritte und schlechten Noten. Insgesamt attestieren sie dem Französischlernen wenig Nützlichkeitserleben.«15

Auch in der Abteilung für Romanistik des Instituts für Klassische und Romanische Philologie der Universität Bonn haben sich in den vergangenen Jahren aus gegebenem Anlass mehrere Studierende mit dem Fremdsprachenwahlverhalten von Schülerinnen und Schülern sowie mit dem fraglichen Krisenstatus des Schulfachs Französisch und seiner verminderten Attraktivität für junge Lernende beschäftigt. Drei studentische Studienprojekte mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen von der Konkurrenzsituation mit der Schulsprache Spanisch über motivationale Aspekte bis hin zur Abwahltendenz in der Sekundarstufe II liegen hierzu in Form von Hausarbeiten vor, die mittels Forschenden Lernens innerhalb von Untersuchungen, Beobachtungen und Erhebungen während der vergangenen Praxissemester an verschiedenen Gymnasien der Ausbildungsregion Bonn entstanden sind,16 zwei von ihnen zusätzlich in Form eines Posters; ein weiteres Projekt ist derzeit in der Erarbeitung.17 Auch hier bestätigte sich in einer Befragung unter Bonner Schülerinnen und Schülern der deutschlandweite Trend: Diese »wählen ab, sobald das Fach nicht mehr obligatorisch ist[, während andererseits die] Lernerzahlen in der Sek. I weitestgehend konstant« bleiben (Abb. 1).18 Während nun bestimmte Merkmale des Französischen, die mutmaßlich eher als andere zu Lernkomplikationen führen können, im Sinne linguistisch beschreibbarer Qualitäten einer Einzelsprache als unabänderlich hingenommen

15 Caspari, Daniela: Der Französischunterricht in der Krise – und mit ihm die Bedeutung der Schulfremdsprachen außer Englisch, S. 35. 16 Vgl. Ißler, Roland / Küchler, Uwe / Radvan, Florian: Leitfaden zum Forschenden Lernen im Praxissemester des Master of Education, Bonn: Bonner Zentrum für Lehrerbildung (BZL), 2015. 17 Vgl. Kreuser, Helene: Warum wählen Schülerinnen und Schüler Französisch? Warum Spanisch?, Universität Bonn, Hausarbeit und Poster, Wintersemester 2014/15, URL Poster: https:// www.bzl.uni-bonn.de/praxiselemente/Praxissemester/Studienprojekte/studienprojekte/kreus er_warum-waehlen-schu308lerinnen-und-schu308ler-franzoesisch/view [19. 12. 2021]; Schiefer, Lara Sophie: Die Qual der (Sprach-)Wahl. Eine empirische Auseinandersetzung mit der Schülermotivation in Bezug auf den Französischunterricht der Sekundarstufe II, Universität Bonn, Hausarbeit und Poster, Wintersemester 2016/17, URL Poster: https://www.bzl.uni-bon n.de/praxiselemente/Praxissemester/Studienprojekte/studienprojekte/2017/Poster-Studienpr ojekt%20Franzo308sisch-Schiefer.pdf/view?searchterm=poster [19. 12. 2021], s. Abb. 1; zuletzt: Rüppel, Jana: Zur Motivation der Abwahl von Französisch in der gymnasialen Oberstufe – eine empirische Studie, Universität Bonn, Hausarbeit, Wintersemester 2020/21; in Erarbeitung mit empirischer Erhebung: Yuan Zhang, Victoria: Die Entwicklung des Interesses am Fach Französisch von der 7. bis zur 9. Klasse, Wintersemester 2021/22. 18 Schiefer, Lara Sophie: Die Qual der (Sprach-)Wahl, Poster.

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Abb. 1: Schiefer, Lara Sophie: »Die Qual der (Sprach-)Wahl. Eine empirische Auseinandersetzung mit der Schülermotivation in Bezug auf den Französischunterricht der Sekundarstufe II«, Universität Bonn, Poster, Wintersemester 2016/17.

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werden müssen,19 können unterrichtsmethodische Verbesserungen – individualisierende und differenzierende Lernangebote, motivierende kommunikative Akte, Rollenspiele und diverse anregende Unterrichtsmedien, affektive Zugänge u. a.m. – von der Fachdidaktik durchaus in Angriff genommen werden. Darüber hinaus sind positive Motivationen von Lernenden, wie sie u. a. in der offenen Befragung von Lara Sophie Schiefer angegeben wurden – seien es kulturelle oder (sprach)ästhetische Aspekte, persönliche Bekanntschaften und direkte Austauschbegegnungen im französischen und frankophonen Raum, touristische Motivation oder ein spezifisches Interesse am Gastland – unbedingt zu verstärken.20 Nicht zuletzt das engagierte Zusammenspiel zwischen universitärer Lehrerbildung und schulpraktischer Lehrerausbildung trägt zu der Festigung der Fachkultur bei. Weniger Beachtung finden gemeinhin systemische Argumente. Aber auch sie sollten in Betracht gezogen werden, um das Fach Französisch künftig wieder zu ertüchtigen. Tatsächlich sind institutionelle Strukturen sehr wirkmächtig und üben nicht unerheblichen Einfluss auf die Wahrnehmung der Sprache im Ensemble der Schulfremdsprachen insgesamt aus.21 Die gesellschaftliche Bedeutung des Englischen wird z. B. Schülerinnen und Schülern in Deutschland bereits früh durch entsprechende Lernangebote ab der Grundschule vor Augen geführt und mag implizit zu einer Abwertung der anderen Sprachen beitragen.22 Vor dem Hintergrund des früheren Beginns der einen Fremdsprache spitzt dies die ohnehin bereits stark divergente Stundenrelation zwischen beiden Sprachen noch weiter zu. Folglich konfrontiert der Französischunterricht aufgrund der gegenüber dem Englischen deutlich reduzierten Zeit die Lernenden zwangsläufig mit einer viel steileren Progression im Spracherwerb.23 19 Das heißt nicht, dass unweigerlich Lernschwierigkeiten auftreten und ihnen ggf. nicht didaktisch begegnet werden kann. Im Gegenteil setzen fremdsprachendidaktische Überlegungen durch Antizipation entsprechender Schwierigkeiten gerade hier an. 20 Vgl. z. B. Schiefer, Lara Sophie: Die Qual der (Sprach-)Wahl, Poster. Vgl. hierzu auch diverse Bildungsangebote und außerschulische Zusatzaktivitäten im Bereich des Französischen wie Cinéfête, FrancoMusiques, Francomics, FranceMobil, Prix des Lycéens allemands, Bundeswettbewerb Fremdsprachen u.v.a., die in vielfältiger Weise motivationale Aspekte der Fremdsprachenwahl aufgreifen und Schülerinnen und Schülern abwechslungsreiche Anregungen geben; vgl. auch Christ, Ingeborg: Zur heutigen Situation des Französischunterrichts in Deutschland, in: Krechel, Hans-Ludwig (Hg.): Französisch-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, Berlin 2015, S. 33–49, hier S. 36–38, sowie das optimistische Geleitwort zur Festschrift der Französischlehrervereinigung VdF: Lange, Ulrike C.: Le français est fort! – Vorwort der Bundesvorsitzenden der VdF, in: Lange, Ulrike C. / Nieweler, Andreas / Schmidt, Bernd (Hg.): Festschrift der Vereinigung der Französischlehrerinnen und -lehrer e.V. zum 50. Jahrestag des deutsch-französischen Vertrages. Französisch heute in Deutschland: zu den Früchten des Elysée-Vertrages für den Französischunterricht, Stuttgart 2013, S. 14f. 21 Vgl. Abendroth-Timmer, Dagmar: Gibt es eine »Krise des Französischunterrichts«?, S. 52. 22 Vgl. ebd, S. 53. 23 Vgl. ebd.

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Auch wenn dem Wahlfach Französisch in dieser Gegenüberstellung mit dem Pflichtfach Englisch sicherlich die ungünstigere Position zukommt, ist es unter den Schulsprachen nicht allein benachteiligt. In bildungspolitischer Hinsicht äußerst bedenkenswert ist die Feststellung, dass in Deutschland nicht allein der Französischunterricht unter der sinkenden Nachfrage seitens der Schülerinnen und Schüler leidet, sondern vielmehr »eine Krise der gesamten Fächergruppe ›Fremdsprachen außer Englisch‹ in der gymnasialen Oberstufe«24 konstatiert werden müsse: »Die Stellung des Englischen ist unangefochten, aber alle anderen Sprachen ringen um die weiteren Plätze im Fächerangebot.«25 Ab der zweiten Fremdsprache bricht der schulische Spracherwerb hierzulande insgesamt ein, was sich insofern besonders dramatisch auswirkt, als auch keine andere zweite oder dritte Fremdsprache die Preisgabe der einen, etwa des Französischen (oder umgekehrt), kompensiert. Geradezu »beschämend«26 nennt Daniela Caspari die im EU-Vergleich weit unterdurchschnittlich rangierende Lage der zweiten Fremdsprachen in Deutschland.27 Die den deutschen Schülerinnen und Schülern ungewöhnlich großzügig eingeräumte Möglichkeit der Abwahl einer zweiten Fremdsprache nach höchstens vier Lernjahren in der Sekundarstufe I28 begünstige nur die Auffassung, bei dem »Erlernen mehrerer Schulfremdsprachen« handele es sich vielmehr um ein elitäres Privileg als um eine Selbstverständlichkeit.29 »Die Möglichkeiten, Französisch zu lernen, sind gemäß den amtlichen Vorgaben vielfältig. Ein Problem ist, dass Französisch als zweite Fremdsprache in der Sekundarstufe I vielfach nur drei Jahre belegt wird, und dass es in der Realschule einiger Länder schon nach einem Jahr wieder abgewählt werden kann.«30

Neben der ohnehin bestehenden Erschwernis angesichts schwankender Lernbereitschaft durch die (zunehmende)31 Konkurrenzsituation der Schulsprachen untereinander widerspricht die mangelnde Institutionalisierung der zweiten (und weiterer) Fremdsprache(n) überdies folgenreich der von der europäischen Bildungspolitik ausgegebenen Leitfigur des trilingualen Bürgers.32 24 Caspari, Daniela: Der Französischunterricht in der Krise – und mit ihm die Bedeutung der Schulfremdsprachen außer Englisch, S. 33f. 25 Christ, Ingeborg: Zur heutigen Situation des Französischunterrichts in Deutschland, S. 40. 26 Caspari, Daniela: Der Französischunterricht in der Krise – und mit ihm die Bedeutung der Schulfremdsprachen außer Englisch, S. 39. 27 Ebd., S. 38. 28 Vgl. ebd., S. 37. 29 Ebd., S. 36, vgl. S. 38. 30 Christ, Ingeborg: Zur heutigen Situation des Französischunterrichts in Deutschland, S. 40. 31 Vgl. Abendroth-Timmer, Dagmar: Gibt es eine »Krise des Französischunterrichts«?, S. 60. 32 Vgl. Caspari, Daniela: Der Französischunterricht in der Krise – und mit ihm die Bedeutung der Schulfremdsprachen außer Englisch, S. 38; vgl. auch Ißler, Roland: Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt. Ein bildungsorientierter Ansatz für die romanischen Fremdsprachendi-

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Da Schülerinnen und Schüler mit Blick auf ihre zu erwartenden Abiturdurchschnittsnoten zunehmend strategisch wählen – was man ihnen angesichts gestiegener Leistungserwartungen auch im außerschulischen Bereich und zumal bei deutlich verkürzten Lernzeiten33 nicht verdenken kann –, fällt ein Fach, bei dem der Lernaufwand hoch und die Fehleranfälligkeit vermeintlich groß ist, oftmals gleich durch das erste Raster und wird bei der frühesten sich bietenden Gelegenheit, ohne ein zufriedenstellendes Sprachniveau erreicht zu haben, aufgegeben. Das Fach Französisch scheint in dieser Hinsicht durchaus einer besonderen Gefährdung zu unterliegen. Vor diesem Hintergrund spielen Lehrerinnen und Lehrer eine bedeutende Rolle, Lernende in ihrem individuellen Lernprozess und der aktiven Auseinandersetzung mit der gewählten Fremdsprache angemessen zu unterstützen. An dieser Stelle kommt die Bildungsverantwortung der universitären Lehrerbildung ins Spiel,34 zu deren Aufgaben es gehört, die fachwissenschaftliche und fachdidaktische Bildung auf kluge Weise miteinander zu verschränken und im Hinblick auf unterrichtspraktische Perspektivierungen weiterzuentwickeln.

2.

Universitäre Lehrerbildung als Einheit von Fachwissenschaft und Fachdidaktik: Annäherung durch didaktische Transformation

Jüngste Untersuchungen zeigen, dass die studentische Frage »Wozu brauche ich das alles im Unterricht?«, mit der Peter Geiss vor einigen Jahren angesichts der Eröffnung der fachspezifischen Lehrerbildung an der Universität Bonn seinen Aufsatz überschrieb, um die Skepsis von Lehramtsstudierenden gegenüber im späteren eigenen Unterricht scheinbar wenig gebrauchstauglichen Inhalten ihres fachwissenschaftlichen Studiums zu charakterisieren, nichts an Aktualität eindaktiken, in: Geiss, Peter / Ißler, Roland / Kaenders, Rainer (Hg.): Fachkulturen in der Lehrerbildung, Göttingen 2016, S. 107–154, hier S. 118ff. 33 Zur Verkürzung von Lernzeiten vgl. kritisch: Ißler, Roland: Zeit für Bildung in Zeiten der Effizienzlogik. Ein Gang zur Quelle oder: Vom Wert kultureller und humaner Bildung für den romanischen Fremdsprachenunterricht, in: Redecker, Anke / Stomporowski, Stephan / Kaenders, Rainer (Hg.): Bildung – noch immer ein wertvoller Begriff ?!, Göttingen 2019, S. 177–198. 34 Erinnert sei in diesem Zusammenhang an den griffigen Definitionsvorschlag des Bildungsbegriffs von Harro Müller-Michaels: »Bildung ist das Vermögen, Wissen, Können und Verantwortung so zu entwickeln, dass daraus das Bedürfnis wird, alle eigenen Möglichkeiten ganz auszuschöpfen, um über sich hinauszuwachsen.« Müller-Michaels, Harro: Grundkurs Lehramt Deutsch, S. 42. Zur Fachkultur und Bildungsverantwortung am Beispiel der Romanistik vgl. Ißler, Roland: Universitäre Lehrerbildung zwischen Tradition und Innovation. Kritische Reflexionen zur Fachkultur der Romanischen Philologie und Fremdsprachendidaktik, S. 37ff.

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gebüßt hat. Nach wie vor scheint Studierenden der Lehrämter, auch im Fach Französisch, die unmittelbare professionelle Verwertbarkeit des Gelernten näher zu liegen als nachhaltiges Fachwissen ohne augenfälligen konkreten Unterrichtsbezug. Diesem Eindruck entsprechen Erhebungen anderer Hochschulen für das Fach Französisch. Helen Cornelius und Meike Hethey, die an Geiss anknüpfen, wenn sie die Fragestellung auf das Fach Französisch übertragen, machen dafür das weithin »ungeklärte[] Verhältnis von Fachwissenschaften und Fachdidaktiken im fremdsprachenphilologischen Studium mit Lehramtsausrichtung« verantwortlich,35 in dem mit »Wissenschafts- und Berufsorientierung«36 zwei in Lehrkonzepten und Studienstrukturen grundsätzlich »konträr wirkende Prinzipien« oftmals unverbunden nebeneinanderstehen.37 Dafür gibt es wiederum strukturelle Erklärungen: Tatsächlich lassen sich auch im Wissen um die Spannung zwischen der gerade für philologische Disziplinen bedeutsamen Freiheit von Forschung und Lehre auf der einen und dem konkreten Berufsziel des Lehramts auf der anderen Seite selbst aus den sogenannten ländergemeinsamen Anforderungen für die Lehrerbildung »keine Hinweise auf eine mögliche inhaltliche und strukturelle Verknüpfung von Fachwissenschaften und Fachdidaktiken« entnehmen.38 Vorgebrachte Vorbehalte gerade von Studienanfängern gegenüber den Fachwissenschaften richten sich letztendlich weniger gegen diese selbst als vielmehr gegen deren vermeintlich mangelnde Relevanz im schulpraktischen Kontext bzw., anders gewendet, gegen den als zu spät und als ein unerklärliches Ihnen-Vorenthalten-Bleiben wahrgenommenen Aufschub praxisorientierter Phasen.39 Dem 35 Cornelius, Helen / Hethey, Meike: »Im späteren Beruf nützt dieses Wissen aber nichts …« (Fach)Wissen in der Krise? Der Beitrag der Fachwissenschaften zur Professionalisierung von Lehramtsstudierenden, in: Grein, Matthias / Schädlich, Birgit / Vernal Schmidt, Janina (Hg.): Die Krise des Französischunterrichts in der Diskussion, S. 122–142, hier S. 122. 36 Ebd., S. 126. 37 Ebd., S. 123. 38 Ebd., S. 125, unter Berufung auf: Geiss, Peter: »Wozu brauche ich das alles im Unterricht?« – Geschichtswissenschaft in der Lehrerbildung, in: Ders. / Ißler, Roland / Kaenders, Rainer (Hg.): Fachkulturen in der Lehrerbildung, Göttingen 2016, S. 61–94. 39 Darf sich die »Wissenschaftsorientierung in der ersten Professionalisierungsphase« (Cornelius, Helen / Hethey, Meike: »Im späteren Beruf nützt dieses Wissen aber nichts …«, S. 123) eines breiten Rückhalts seitens der Forschung und akademischen Institutionen der Lehrerbildung und schulpraktischen Ausbildung sowie bei aktiven Lehrerinnen und Lehrern sicher sein, wird die »Relevanz des fachwissenschaftlichen Wissens […] von den Studierenden zunehmend in Frage gestellt« (ebd., S. 125). Daraus resultiert ein nachvollziehbarer und vorhersehbarer Konflikt, der Teil des Lern- und Professionalisierungsprozesses ist und der in der universitären Lehrerbildung um der Erkenntnisgewinnung willen sehr produktiv werden kann, wenn er von beiden Seiten ausgehalten wird (vgl. auch Bechtel, Mark / Mayer, Christoph Oliver: Wie umgehen mit dem Konflikt zwischen Theorie und Praxis? Überlegungen zum Krisendiskurs in der fremdsprachlichen LehrerInnenbildung, in: Grein, Matthias / Schädlich,

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entspricht, dass die Anerkennung fachlicher Expertise später, im Verlauf des Masterstudiums und unter dem Eindruck schulpraktischer Erfahrungen im Rahmen des Praxissemesters, wieder steigt.40 Die Existenz eines sehr konkreten und greifbaren Berufsziels mag das frühe Liebäugeln von Studierenden des Lehramts mit der Schulpraxis zwar erklären, die Bewertung der Relevanz von Wissensbeständen jedoch erfolgt in der Regel »lediglich aufgrund von Hypothesen«.41 Die Fachlichkeit in der Unterrichtspraxis rekurriert jedoch nicht selten auf implizite und ungesicherte, bisweilen »atheoretische«42 Wissensbestände und »routin[is]ierte, alltagspraktische Habitusformen«43 oder Handlungsleitbilder, die der reflexiven »Fachlichkeit der wissenschaftlichen Referenzdisziplinen«44 nicht direkt entsprechen und mitunter im Widerspruch zu didaktischen Normen stehen.45 Es bedarf der wechselseitigen Rückversicherung zwischen den Akteurinnen und Akteuren der verschiedenen Phasen der Lehrerbildung und -ausbildung, um »implizites Wissen […] explizit [und damit für den Professionalisierungsprozess verfügbar] zu machen«.46 Trotz der unterschiedlichen Zugangsweisen liegt gerade in der produktiven Zusammenschau theoretischer und handlungspraktischer Ansätze, wie sich in den letzten Jahren oft gezeigt hat und wie auch im aktuellen Austausch mit den Praxissemesterstudierenden immer wieder aufscheint, besonders großes Erkenntnispotential. Die Annäherung von Wissenschaft und Schulpraxis verläuft ja nicht unidirektional, sondern birgt den Reiz, beiden Seiten einen Erkenntnisgewinn in Aussicht zu stellen.

40 41 42 43

44 45 46

Birgit / Vernal Schmidt, Janina (Hg.): Die Krise des Französischunterrichts in der Diskussion, S. 104–121, hier S. 105, 116, 119; Hinzke, Jan-Hendrik: Zur Bedeutung unterrichtlicher Fachlichkeit für die Erfahrung von Krisen im Lehrer_innenberuf. Ergebnisse einer rekonstruktiven Studie und Schlussfolgerungen für die universitäre Lehrer_innenbildung, in: Grein, Matthias / Schädlich, Birgit / Vernal Schmidt, Janina (Hg.): Die Krise des Französischunterrichts in der Diskussion, S. 215–236, hier S. 233. Vgl. Melo-Pfeifer, Sílvia: Eine pas très facile Leidenschaft?, S. 74. Diese Beobachtung bezieht sich auf Hamburger Lehramtsstudierende im Fach Französisch. Cornelius, Helen / Hethey, Meike: »Im späteren Beruf nützt dieses Wissen aber nichts …«, S. 138. Hinzke, Jan-Hendrik: Zur Bedeutung unterrichtlicher Fachlichkeit für die Erfahrung von Krisen im Lehrer_innenberuf, S. 221. Grein, Matthias: (Forschungs)Ethik, Bildung(spotential) und Erkenntnis(theorie) im Zusammenspiel: Forschendes Lernen mit und von Studierenden in einem Seminar zu ethnographischer Fachkulturforschung Französisch, in: Ders. / Schädlich, Birgit / Vernal Schmidt, Janina (Hg.): Die Krise des Französischunterrichts in der Diskussion, S. 181–201, hier S. 193. Hinzke, Jan-Hendrik: Zur Bedeutung unterrichtlicher Fachlichkeit für die Erfahrung von Krisen im Lehrer_innenberuf, S. 216. Vgl. Grein, Matthias: (Forschungs)Ethik, Bildung(spotential) und Erkenntnis(theorie) im Zusammenspiel, S. 185. Hinzke, Jan-Hendrik: Zur Bedeutung unterrichtlicher Fachlichkeit für die Erfahrung von Krisen im Lehrer_innenberuf, S. 221.

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Die Lehrerbildung der Universität Bonn hat daher von Anfang an entschieden auf die Verbindung von Fachwissenschaften und Fachdidaktik gesetzt und mit Vorbedacht die Fachlichkeit und wissenschaftliche Basis in ihrem Leitbild verankert.47 Die intentionale Verzahnung hat sich in den letzten Jahren bewährt und trägt heute in hohem Maße dazu bei, dass die universitäre Lehrerbildung nicht als ein innerhalb der Fachdidaktiken und Bildungswissenschaften sich abspielender Nebenschauplatz wahrgenommen wird, sondern sich als mitten in den Fachbereichen und Instituten wirksam begreift. Die Verortung der Fachdidaktiken selbst innerhalb der Institute bildet diese Verzahnung auch strukturell ab. Aktuell sind an der Universität Bonn für das Lehramt im Fach Französisch 118 Bachelor- und 68 Masterstudierende immatrikuliert.48 Die Fachkultur der Romanischen (bzw. hier spezifisch: der Französischen) Philologie, wie sie im Eröffnungsband der vorliegenden Reihe beschrieben wurde,49 besteht zum einen aus den fachwissenschaftlichen Bereichen der Sprach- sowie der Literatur- und Kulturwissenschaft, zum anderen aus dem Aufgabenfeld der Fachdidaktik im Sinne einer Fremdsprachendidaktik und Didaktik der romanischen Sprachen und Literaturen sowie schließlich aus dem grundlegenden, aber nicht wissenschaftlichen, beide Bereiche verbindenden Feld der Sprachpraxis. Im Zentrum der Betrachtung steht im Folgenden ein unkonventionelles, da scheinbar marginales Phänomen, das jedoch alle genannten Bereiche berührt und sie zugleich verbindet. Das Beispiel soll daher von der Notwendigkeit einer integralen Beschäftigung mit romanistischen Fachgegenständen durch Verzahnung der Teildisziplinen zeugen. Es soll jedoch bewusst ein Teilbereich aus der Fachwissenschaft (hier: der Französischen Sprachwissenschaft) akzentuiert werden, der im Rahmen des Fachstudiums, insbesondere aber des Lehramtsstudiums, zunehmend in den Hintergrund tritt: die historische Sprachwissenschaft. Mit ihren neuerdings weitestgehend ungenutzten Einsatzmöglichkeiten in der Fachdidaktik des Französischen erhält sie zugleich eine neue Legitimation innerhalb der romanistischen Fachkultur.50 Wie Peter Geiss für die Disziplin der Geschichtsdidaktik

47 Vgl. Bonner Zentrum für Lehrerbildung (BZL): Fachlich – Kooperativ – Nachhaltig: Lehrerbildung an der Universität Bonn, o. J. [2017]. URL: https://www.bzl.uni-bonn.de/organisati on/170706-leitbild-lehrerbildung.pdf [Stand: 21. 12. 2021]. 48 Zum Vergleich: Im Lehramtsfach Italienisch sind derzeit 37 Bachelor- und 12 Masterstudierende eingeschrieben, im Fach Spanisch beträgt die Anzahl 134 im Bachelor- bzw. 60 im Masterstudium. Den Zahlen stehen für die alten Sprachen 80 bzw. 48 Studierende im Lehramt Latein und 6 bzw. im Fach Altgriechisch gegenüber; Stand: Wintersemester 2021/22. Dem BZL sei für die Ermittlung der Studierendenzahlen gedankt. 49 Vgl. Ißler, Roland: Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt, S. 111–118. 50 Eine Verkürzung von Inhalten der Fachwissenschaften bei Studierenden und späteren Lehrenden kann zu einer Verkürzung ihres Fachverständnisses führen. Da innerhalb der Sprach-

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überzeugend dargelegt hat, kann die unmittelbare Anwendbarkeit von Wissensbeständen nicht das alleinige und ausschlaggebende Kriterium sein, nach dem Lerngegenstände in der Lehrerbildung ausgewählt werden.51 Wie bei der Erforschung der Geschichte ist gerade bei umfassenden und komplexen Phänomenen wie einer Fremdsprache mit all ihren Spezifika von ihrer Herausbildung und Entwicklung bis zur Gegenwartssprache ein multiperspektivischer Zugang von großer Bedeutung. Nicht zuletzt nimmt auch die konkrete unterrichtspraktische Einbettung auf die tatsächliche Relevanz Einfluss. Die fundierte fachwissenschaftliche Erkenntnis schärft denn auch den fachdidaktischen Blick und lässt im besten Falle Verbindungen entstehen, die Lerngegenstände didaktisch erschließbar und zugänglicher machen.52 Der in der Lehrerbildung zwangsläufig hervorbrechenden, aus der Diskrepanz zwischen fachwissenschaftlichen Studien- und schulischen Unterrichtsinhalten entstehenden Spannung ist jedoch nicht mit Hilfe einer »bloßen ›Reduzierung‹ oder ›Elementarisierung‹ der Wissensbestände einer Disziplin« beizukommen, wie die Romanistin und Literaturdidaktikerin Lieselotte Steinbrügge unterstreicht;53 sie ist vielmehr mit Hilfe der didaktischen Transformation aufzulösen. Diese zielt darauf ab, »die Bausteine des Wissens in schulpraktischer Perspektive neu zusammenzusetzen. Denn es ist eine Illusion zu glauben, es gäbe eine feststehende Hierarchie zwischen Höherem und Niederem oder einen objektiven Maßstab für Kompliziertes und Elementares.«54

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54

wissenschaft insbesondere der sprachhistorische Bereich vom Rückbau betroffen ist, sind Auswirkungen fachwissenschaftlicher Kürzungen auf die Lehrerbildung zu erwarten. Vgl. Geiss, Peter: »Wozu brauche ich das alles im Unterricht?« – Geschichtswissenschaft in der Lehrerbildung, in: Ders. / Ißler, Roland / Kaenders, Rainer (Hg.): Fachkulturen in der Lehrerbildung, Göttingen 2016, S. 61–94, zur Frage der ›Lehrplanrelevanz‹ insbes. S. 73f., 83, 85. Matthias Grein bekräftigt ohnedies, dass eine bloße »Eins-zu-Eins-Anwendung […] an der Universität erworbener Wissensbestände und Fähigkeiten […] im Berufsalltag nicht möglich ist«. Grein, Matthias: (Forschungs)Ethik, Bildung(spotential) und Erkenntnis(theorie) im Zusammenspiel, S. 233. Die folgende Argumentation greift Überlegungen aus einem anderen Kontext auf, erweitert sie und spitzt sie zu mit Blick auf das eingangs genannte Anliegen der Verzahnung von Fachwissenschaft und Fachdidaktik; vgl. Ißler, Roland: Universitäre Lehrerbildung im Fach Französisch: Aufgaben, Struktur und Entwicklung. Mit Bemerkungen zum fremdsprachendidaktischen Potential der diachronen Sprachwissenschaft, in: Bedijs, Kristina / Heyder, Karoline (Hg.): Linguistische Kompetenzen zukünftiger Französischlehrer. Perspektiven für die Hochschuldidaktik, Saarbrücken 2018, S. 15–54. Steinbrügge, Lieselotte: Didaktische Transformationen: Fremdsprachendidaktik zwischen Unterrichtspraxis und philologischer Wissenschaft, in: Schumann, Adelheid / Dies. (Hg.): Didaktische Transformation und Konstruktion. Zum Verhältnis von Fachwissenschaft und Fremdsprachendidaktik, Frankfurt am Main 2008, S. 13–21, hier S. 17. Ebd., S. 14.

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Die Transformationsleistung der Fachdidaktik fußt auf dem Bewusstsein für die unterschiedliche Relevanz für die akademische Disziplin und die Unterrichtspraxis und stellt zwischen beiden eine tragfähige Verknüpfung her, indem sie schulische Lernziele und Kompetenzen an passende Inhalte ›anbindet‹.55 Die didaktische Transformation besteht mithin in der doppelten Aufgabe der Fachdidaktik, 1. »den künftigen Lehrerinnen und Lehrern die Kompetenz zu vermitteln, das didaktische Potenzial und die didaktischen Schwierigkeiten ihrer Unterrichtsgegenstände zu erkennen«56 und 2. »die didaktischen Potenziale der wissenschaftlichen Disziplinen möglichst breit und fantasievoll auszuschöpfen.«57 Wer diese Aufgabe ernst nimmt, darf, um Schwierigkeiten im Spracherwerb zu begegnen, die Sprachgeschichte als einen genuin fachwissenschaftlichen Inhalt nicht von vornherein aussparen.

3.

Sprachgeschichte und Sprachwandelerscheinungen: Das Beispiel der diachronen Sprachwissenschaft

Es sei noch einmal an Charakteristika der französischen Sprache erinnert,58 die zu potentiellen Schwierigkeiten und zu sinkender Motivation beim Spracherwerb führen. Zu den in diesem Zusammenhang neben der Grammatik oft aufgezählten Merkmalen gehören u. a.: – die Aussprache (markant gegenüber dem Deutschen ist etwa der Vokalreichtum, der auch Nasalvokale umfasst; aber auch die Verschleifung von Wortgrenzen erschwert Sprechen und Hörverstehen, zumal die Betonung eines Wortes, Syntagmas oder Satzes stets am Ende liegt und seine Qualität der Bedeutungsunterscheidung verloren hat); – die Rechtschreibung (auffällig ist die orthographische Besonderheit einer konservativen Schreibweise, die sich sichtbar, aber nicht allein in dem typographischen Charakteristikum der Akzente niederschlägt).59

55 56 57 58

Vgl. ebd., S. 18. Vgl. ebd., S. 19. Ebd., S. 18. Eine ausführlichere Beschreibung der sprachlichen Merkmale des Französischen findet sich u. a. bei: Bossong, Georg: Die romanischen Sprachen, S. 145–171. 59 Zum (auch historischen) Konflikt zwischen phonetisch vs. etymologisch motivierter Orthographie vgl. Klare, Johannes: Französische Sprachgeschichte, Stuttgart u. a. 1998, S. 96.

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Auftretende Lernschwierigkeiten mit beiden Aspekten bedingen sich insofern wechselseitig, als die Diskrepanz zwischen Lautung und Schreibung ausdrücklich in beiden Richtungen wahrnehmbar ist und die sogenannten graphophonemischen und phonographemischen Beziehungen seitens der Lernenden besonderer Aufmerksamkeit bedürfen.60 Viele sprachliche Phänomene und Besonderheiten – insbesondere solche, die vielen Lernenden beim Spracherwerb des Französischen Schwierigkeiten bereiten – erklären und erschließen sich erst aus einer historischen Warte. Angesichts ihrer Genese gewinnen sie an logischer Folgerichtigkeit und verlieren den Anschein von Willkür. Gerade die französische Sprache hat in ihrer Geschichte seit dem ersten Schriftzeugnis im 9. Jahrhundert,61 vor allem aber ab dem Zeitalter des Renaissancehumanismus,62 mehrere Normierungsprozesse durchlaufen.63 Ihre heutige große Einheitlichkeit in allen Landesteilen verdankt sie weitgehend solchen politischen Eingriffen. Anders als etwa das Italienische oder Spanische folgt die heute im Unterricht gelehrte Standardsprache sehr klaren Strukturen und kennt in der Regel keine regionalen Ausnahmen oder Varietäten.64 Zu fragen ist, ob nicht das Wissen um die sprachliche Normierung aufgrund deren formal vereinheitlichenden Charakters dazu beitragen kann, sprachliche Strukturen besser nachvollziehen und verstehen zu können. Wäre dies der Fall, könnte die Kenntnis sprachgeschichtlicher Entwicklungen des Französischen fremdsprachendidaktisch eingesetzt werden. Daraus folgt die Hypothese: Hypothese: Sprachhistorische Erkenntnisbildung eröffnet Lernenden einer Fremdsprache (hier: des Französischen) tiefergehende Erklärungsansätze in die Genese der Sprachent60 Eine systematische Typologie der graphophonemischen und phonographemischen Regelhaftigkeit findet sich u. a. bei: Börner, Wolfgang: Die französische Orthographie, Tübingen 1977, S. 34–50. Es sei darauf hingewiesen, dass die daraus resultierende Zuordnung von Lauten und spezifischen Schreibweisen in beiden Richtungen weitaus logischer und konsequenter nachvollziehbar ist als die wechselseitigen Beziehungen zwischen Lautbild und Schriftbild beispielsweise der englischen Sprache. Diese Beobachtung wurde von einem Bonner Schüler des zweiten Lernjahrs beider Sprachen ausdrücklich bestätigt. 61 Zu ersten Schriftzeugnissen des Französischen (Altfranzösisch) und der Geschichte der frühund hochmittelalterlichen französischen Literatur (Mittelfranzösisch) vgl. z. B. Ißler, Roland: Früh- und Hochmittelalter, in: Hartwig, Susanne (Hg.): Französische Literaturgeschichte, begr. von Jürgen Grimm, 6. Auflage, Stuttgart, Weimar 2014, S. 7–84. 62 Durch die von König François Ier erlassene Ordonnance de Villers-Cotterêts erlangt die französische Sprache (Frühneufranzösisch) im Jahr 1539 ihren offiziellen Status als alleinige Verwaltungs- und Urkundensprache der Monarchie gegenüber der zu dieser Zeit vielerorts noch üblichen lateinischen Schrifttradition. 63 Im 17. Jahrhundert reglementiert die Académie française, 1635 von Kardinal Richelieu gegründet, den Sprachgebrauch nach höfischem Vorbild, und das Neufranzösische als Vorstufe des Gegenwartsfranzösischen bildet sich heraus. 64 Vgl. Bossong, Georg: Die romanischen Sprachen, S. 154.

120

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wicklung sowie kategoriale Einsichten in den Wandel formaler sprachlicher Strukturen in den Bereichen von Orthographie, Phonologie, Morphologie, Syntax und Wortbildung. Sie hat das Potential, ihnen den Zugang zur Gegenwartssprache zu erleichtern.

In dem zwangsläufig eng gesteckten Rahmen des vorliegenden Bandes, der die Lehrerbildung der Universität Bonn in ihrer Vielfalt zu Wort kommen lassen soll, kann für diese Hypothese keine umfängliche Beweisführung vorgelegt werden. Es bietet sich hier vielmehr an, sich in exemplarischer Weise mit einzelnen Entwicklungslinien der französischen Sprachgeschichte auseinanderzusetzen, aus denen sich Rückschlüsse auf die Situation des Spracherwerbs ziehen lassen. So können zumindest Tendenzen angedeutet werden, die für bzw. gegen den Nutzen sprachhistorischen Wissens zur Erschließung des Gegenwartsfranzösischen sprechen und somit die Hypothese eher bestätigen oder entkräften. Eine gewisse Brisanz weist die Beantwortung der Frage insofern auf, als die Sprachgeschichte zu den inzwischen aus den Curricula (selbst der rein fachwissenschaftlichen und nicht allein lehramtsbezogenen Studiengänge deutscher Hochschulen) weitgehend ausgelagerten Elementen gehört. Der Bonner Kollege Felix Tacke beklagt diesen Zustand zu Recht: »Die historische Sprachwissenschaft spielt in den universitären Lehrplänen spätestens seit der mittlerweile flächendeckend umgesetzten Bologna-Reform eine bestenfalls noch geringe Rolle. Man kann sie als Verliererin der häufigen Überarbeitungen der Lehrpläne und Modulstrukturen im Rahmen der zyklisch stattfindenden (Re-)Akkreditierungen betrachten. So ist der Anteil, der ihr innerhalb der einschlägigen romanistischen Studiengänge gewidmet wird, stetig geringer geworden.«65

Tacke begründet die Entwicklung einerseits mit »den sich wandelnden Forschungsinteressen der Lehrenden […], bei denen sich in den letzten Jahrzehnten eine Tendenz hin zu synchronischen beziehungsweise gegenwartssprachlichen Fragestellungen beobachten la¨ sst«,66 andererseits mit der Annäherung der Curricula an studentische Interessen, die eine »meist an die berufliche (Lehramts-)Perspektive geknu¨ pfte […] Sichtweise ein[neh]men, welche nach dem Nutzen altitalienischer, altfranzo¨ sischer oder altspanischer Kenntnisse fragt. Die Lehre historischer Sprachwissenschaft untersteht damit einer Art von Rechtfertigungsdruck, der vielleicht am ehesten mit der wiederkehrenden allgemein-gesellschaftlichen sowie schulpolitischen Frage nach dem Sinn des Lateinunterrichts vergleichbar ist.«67

65 Tacke, Felix: Die historische Betrachtung der romanischen Sprachen. Zur Zukunft der Sprachgeschichte in der universitären Lehre, in: Romanische Forschungen 133 (2021), S. 68–89, hier S. 68. 66 Ebd. 67 Ebd., S. 69.

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Vor diesem Hintergrund darf die Frage nach dem fremdsprachendidaktischen Potential von Sprachwandelerscheinungen im Fach Französisch und ihrer Relevanz für Schule und Lehrerbildung in einem auch bildungspolitisch relevanten Licht erscheinen.

4.

Überlegungen zum fremdsprachendidaktischen Potential französischer Sprachwandelerscheinungen

Gemessen an der Feststellung, dass selbst die Fachwissenschaften ihren Studierenden sprachhistorische Betrachtungen nur noch in basalen Zügen präsentieren,68 scheint es auf der Hand zu liegen, dass Inhalte sprachgeschichtlicher Forschung Lehramtsstudierenden fast vollständig vorenthalten bleiben. Wenn schon die sprachhistorischen Forschungsinteressen der Sprachwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler an den Hochschulen abnehmen, sind Lehrende des Französischen an den Schulen erst recht fixiert auf die authentische Sprachverwendung zum gegenwärtigen Stand. Da der Unterricht ausschließlich die Gegenwartssprache betrifft, bleibt die Betrachtung der Sprache rein synchron. Das hat seine Berechtigung: In Zeiten eines auf Bildungsstandards gegründeten kommunikationsorientierten Fremdsprachenunterrichts, den ein funktionales Sprachverständnis wie das des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen und seiner Erweiterungen dominiert, ist die Kenntnis historischer Sprachentwicklung für Schülerinnen und Schüler auf den ersten Blick zugegebenermaßen von geringem Belang. Selbst wenn Einblicke in die Sprachgeschichte im schulischen Unterricht durchaus sehr motivierend sein könnten, findet eine Auseinandersetzung mit der Diachronie des Französischen in den Schulen tatsächlich im Grunde nicht statt.69 68 Zum Vergleich: Während meines eigenen [R.I.] fachwissenschaftlichen Magisterstudiums der Romanischen Philologie um das Jahr 2000 herum gehörten neben der obligatorischen sprachhistorischen Vorlesung noch drei Semester Altfranzösisch, jeweils mit lernintensiver Klausur (und dem Risiko des Nichtbestehens), zum Pflichtprogramm, während sich heute die Kenntnisse über die Diachronie auf die Vorlesung zur historischen Sprachwissenschaft beschränken und auch Lateinkenntnisse in Form eines Latinums vor Studienantritt nicht mehr explizit nachgewiesen werden müssen. 69 Das methodische Gegensatzpaar Diachronie vs. Synchronie bezeichnet in der Sprachwissenschaft die Betrachtung oder Beschreibung einer Sprache unter dem Aspekt der Zeit: in ihrem Verlauf und ihrer Entwicklung (diachron oder diachronisch) bzw. zu einem bestimmten Zeitpunkt (synchron oder synchronisch). Die Diachronie ergibt sich aus dem Vergleich mindestens zweier synchronischer Querschnitte, die sich als Abfolge von Sprachstufen begreifen lassen; s. u., Abs. 4.6. Vgl. dazu grundlegend: Berschin, Helmut / Felixberger, Josef / Goebl, Hans: Französische Sprachgeschichte. Lateinische Basis, Interne und externe Geschichte, Sprachliche Gliederung Frankreichs, mit einer Einführung in die historische Sprachwissenschaft, München 1978, S. 13–15; insbes. S. 13, Abb. 1.

122

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Aus dieser funktionalistischen Selbstbeschränkung auf das Gegenwartsfranzösisch in seiner synchronen Erscheinung darf jedoch nicht folgen, dass die universitäre Lehre, die sich ja nicht etwa an Schülerinnen und Schüler, sondern an künftige Lehrpersonen richtet, gleichermaßen auf die Vermittlung sprachhistorischer Zusammenhänge verzichten sollte, wie es gleichwohl vielerorts und seit geraumer Zeit geschieht. Die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz für die Lehrerbildung zumindest der Sekundarstufe I sehen keine Beschäftigung mit Diachronie vor.70 Tatsächlich betreffen die für die Lehrerbildung der Sekundarstufe I ausgesparten Studieninhalte neben der Diachronie ganze sprachwissenschaftliche Themenfelder, deren sprachvergleichendes Potential außer Frage steht. Sie werden den für die erste Sekundarstufe angegebenen Inhalten und ihrer ›Vertiefung‹ erst für Lehrämter der Sekundarstufe II ergänzt: »Größerer Vertiefungsgrad der fu¨r Sek. I genannten Inhaltsbereiche, dazu: – Diachronische und synchronische Betrachtung der Fremdsprache – Sprachiche Varietätenforschung – Sprachverwandtschaften«71

Es sei daran erinnert, dass das Hauptaugenmerk des Französischunterrichts angesichts der Lernendenzahlen auf der Sekundarstufe I liegt. Abgesehen von der verkürzten und unzureichenden Wahrnehmung, die eine Französischlehrerin bzw. ein Französischlehrer der Sekundarstufe I im Studium von seiner Zielsprache erhält, wenn die zitierten Empfehlungen unhinterfragt umgesetzt werden, kann der vollständige Verzicht auf Kenntnisse der Sprachentwicklung seitens der Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrer durchaus problematische Defizite zur Folge haben. Lehrpersonen ohne sprachgeschichtliche Kenntnis müssen gerade im Französischunterricht ihren Schülern notgedrungen manche Antwort schuldig bleiben. Sprachhistorisch lässt sich z. B. überzeugend erklären, warum die französische Großmutter grand-mère heißt und nicht etwa *grande-mère,72 obwohl hier sehr offensichtlich das grammatikalische mit dem biologischen Geschlecht übereinstimmt und das Adjektiv grand daher formal angepasst werden müsste. Der scheinbar klassische Fall eines accord wird hier aus nicht erkennbaren Gründen einmal gerade nicht angewendet, und es entsteht – wie übrigens auch bei grand70 Wörtlich angegeben als sprachwissenschaftlicher Studieninhalt werden »Terminologie und Methodik der Beschreibung des gegenwärtigen Sprachstandes«. Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland [KMK]: Ländergemeinsame inhaltliche Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerbildung. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 16. 10. 2008 in der Fassung vom 16. 05. 2013, S. 37. 71 Ebd. 72 In der Sprachwissenschaft zeigt der Asterisk vor einem Wort eine fehlerhafte oder historisch nicht belegte Konstruktion an; siehe auch an späteren Stellen in diesem Beitrag.

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chose – ein offener Widerspruch zu zuvor gelernten grammatikalischen Grundlagen. Diese Beobachtung ist naheliegend, und eine daraus resultierende Frage könnte durchaus schon im Anfangsunterricht von aufmerksamen Schülerinnen und Schülern an die Lehrperson herangetragen werden.73 Aber nicht nur, dass Lehramtsabsolventinnen und -absolventen selbst die Möglichkeit verwehrt bleibt, die zum Unterrichtsfach erwählte Sprache vertieft zu erkunden: Diachrones Sprachwissen stellt, wie die zu überprüfende Hypothese verspricht, geradezu ein hilfreiches Instrumentarium dar, das sich – übrigens nicht erst in späteren Lernjahren, sondern je nach Lerngruppe und Lernertypen teilweise schon durchaus früh – fachdidaktisch mitunter motivierend einsetzen lässt.74 Im Folgenden soll dies in unterschiedlicher Vertiefung anhand von fünf ausgewählten orthographischen und morphologischen Beispielen angedeutet werden, die Schülerinnen und Schülern in hoher Frequenz begegnen: die eingangs bereits genannte Akzentsetzung (Beispiel 1), orthographische Besonderheiten wie etymologische Schreibung und das Phänomen der Lehnwörter (Beispiel 2), die Tempusbildung des Futur und ihre Herleitung (Beispiel 3), eine charakteristische Wortbildungserscheinung wie die regelmäßige Adverbendung -ment (Beispiel 4) und schließlich die Pluralbildung auf -x (Beispiel 5).

4.1

Beispiel 1: Akzentsetzung

Dass sogar der Anfangsunterricht von diachronen Einsichten in besonderem Maße profitiert, wird im ersten Beispiel sichtbar. Durch sie erschließt sich u. a. gerade ein Bereich der Orthographie leichter, der Sprachanfängern des Franzö73 Die Lösung liegt darin begründet, dass das Adjektiv grand, zurückgehend auf lat. grandis, in der altfranzösischen Sprache für beide Geschlechter gleichlautend die gemeinsame Form grant ausbildete; das alte Adjektiv hat sich neben der Genusunterscheidung grand vs. grande im Neufranzösischen noch in einigen Lexemen, darunter la grand-mère und grand-chose, erhalten. Das Genus bleibt davon unberührt. Vgl. Klare, Johannes: Französische Sprachgeschichte, S. 87. 74 Ausdrücklich soll betont werden, dass sich sprachhistorische Einblicke nicht grundsätzlich für den schulischen Französischunterricht eignen. Jede Lehrperson wird stets in Ansehung der von ihr unterrichteten Lerngruppe, deren Sprachniveau und Aufgeschlossenheit historischen Phänomenen gegenüber selbständig entscheiden müssen, welche diachronischen Hintergründe zumutbar, verwirrend oder vielmehr überfordernd und welche anregend und didaktisch hilfreich sein werden. Anders gelagert ist der Fall der Lehrperson selbst. Für diese scheint es durchaus geboten, eine profundere sprachhistorische Erkenntnisbildung durchlaufen und nicht nur rein oberflächliche und punktuelle Kenntnis von der diachronischen Entwicklung der französischen Sprache zu haben. Nur so kann die oder der Lehrende eine selbständige Entscheidung darüber treffen, welche zusätzlichen Informationen Schülerinnen und Schülern an die Hand gegeben werden können.

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sischen bekanntermaßen nicht selten besondere Schwierigkeiten bereitet, weil die Abweichung von der (deutschen) Muttersprache besonders groß und das Phänomen daher fremd ist: die Akzentsetzung.75 Die Unterscheidung zwischen den diakritischen Zeichen Akut bzw. accent aigu (é; aigu < lat. acutus spitz) und Gravis bzw. accent grave (è; grave < lat. gravis schwer) lässt sich unmissverständlich anhand der unterschiedlichen Aussprache (geschlossen vs. offen) erklären – zugegebenermaßen ein schwacher Trost für Sprachanfänger, die die Aussprache selbst wiederum erst mühevoll erlernen müssen. Wenn sie aber wissen und verinnerlichen, dass der accent aigu allein auf dem Graphem , auf dem oder hingegen nur der accent grave auftritt, können bereits bestimmte Fehler und Missverständnisse vermieden werden. Eine weitere Vereinfachung tritt dadurch ein, dass der accent grave auf oder nicht etwa der Schikanierung von Sprachnutzern dient, sondern ihnen vielmehr helfen soll, einzelne Wörter unterschiedlicher Bedeutung nicht zu verwechseln: Durch den Akzent wird aus der konjugierten Verbform der dritten Person a (il a) die Präposition à, aus dem bestimmten Artikel la das lokale Adverb là oder schließlich aus der Konjunktion ou das Fragepronomen où.76 Mit der Intention der Bedeutungsunterscheidung wurde der Akzent u. a. einst eingeführt; wenn er sich im gegenwartssprachlichen Unterricht als bloßer Lernstoff präsentiert, wird das Interesse an der neuen Fremdsprache schnell verblassen und das Verständnis für die ursprünglich zur Vereinfachung entwickelten Idee sich nicht einstellen. Kaum aber haben Lernende diese Hürde genommen, wird ihre Geduld durch die Existenz eines dritten Akzents, des accent circonflexe (ê), erneut strapaziert, der sich wiederum auf allen Vokalgraphemen findet. Auf dem unterscheidet sich seine Aussprache (offen) nicht von der des accent grave, auf , , und verlängert er den jeweiligen Vokal. Auch zur Bedeutungsdistinktion (valeur logogrammique) 77 wird er eingesetzt (z. B.: sur auf [Präposition] vs. sûr sicher [Adjektiv]; pêcher fischen vs. pécher sündigen). 75 Zur französischen Akzentsetzung vgl. grundlegend: Catach, Nina: L’orthographe française. Traité théorique et pratique avec des travaux d’application et leurs corrigés, Paris 1980, S. 63– 73. 76 Vgl., mit weiteren Beispielen, u. a. Bled, Odette / Bled, Édouard / Bénac, Henri: Guide pratique d’orthographe, Paris 1975, S. 9f., sowie Riegel, Martin / Pellat, Jean-Christophe / Rioul, René: Grammaire méthodique du français, 7. Auflage, Paris 2009 (11994), S. 132f. Natürlich ist das Phänomen deutlich komplexer, wie sich der neuen historischen Grammatik des Französischen entnehmen lässt; vgl. Cazal, Yvonne / Parussa, Gabriella: Graphématique et graphétique en diachronie: les principaux phénomènes, in: Marchello-Nizia, Christiane / Combettes, Bernard / Prévost, Sophie / Scheer, Tobias (Hg.): Grande Grammaire Historique du Français, 2 Bde., Berlin, Boston 2020, Bd. 1, S. 550–591, hier S. 572–574. 77 Vgl. Riegel, Martin / Pellat, Jean-Christophe / Rioul, René: Grammaire méthodique du français, S. 134, mit weiteren Beispielen.

Zum fremdsprachendidaktischen Potential von Sprachgeschichte

125

Das wichtigste distinktive Merkmal dieses Akzents jedoch ist seine Funktion der Markierung eines ausgefallenen Buchstabens:78 Die Regelmäßigkeit, mit welcher allein der accent circonflexe in der französischen Gegenwartssprache als Ersatzzeichen für ausgefallenes und nicht gesprochenes -- eintritt, lässt sich von Schülerinnen und Schülern weit besser nachvollziehen, als den oft verhassten Akzent über bloße Lernvokabeln zu verinnerlichen:79 la fête < feste (vgl. auch dt. Fest; ital. festa; span. fiesta); le vêtement < vestement (vgl. la veste; dt. Weste); la forêt < forest (vgl. engl. forest; dt. Forst); la guêpe < guespe (vgl. dt. Wespe); il plaît < il plaist (vgl. dt. Pläsier); âne < asne (< lat. asinus); râper < rasper (vgl. dt. raspeln); goûter < gouster < gustare (vgl. dt. kosten); l’août (< aoust, vgl. dt. August). Oftmals werden die ausgefallenen Grapheme nicht nur interlingual in Entsprechungen verwandter Fremdsprachen, sondern auch in Derivaten des Französischen selbst erkennbar, so dass sich eine historische Erklärung des Akzents auch innersprachlich rechtfertigt: âpre herb, bitter (< aspre < lat. asper) – l’aspérité; la forêt – le forestier Förster, forestier [Adjektiv] Wald-, Forst-; la côte Küste (< la coste) – accoster anlegen.80 Rein synchronisch geschulte Französischabsolventen können die Graphie ihrer Zielsprache jedoch nicht hinreichend (historisch) erklären; speziell diakritische Zeichen wissen sie nicht herzuleiten. Die Erfahrung zeigt, dass Schülerinnen und Schüler oftmals durchaus aufgeschlossen für derartige Erklärungen sind und sich für sprachgeschichtliche Entdeckungen sogar begeistern können. Wenn sich durch diachronische Herleitungen tatsächlich fremdsprachendidaktische Lernerfolge erzielen lassen, sollten sie genutzt werden. Hilfreich dabei ist eine französische Neuerscheinung, welche die französische Sprachgeschichte in Form einer bande dessinée bzw. eines roman graphique referiert und reich und ansprechend illustriert. Zumindest in kleinen Auszügen dürften verschiedene Erläuterungen der Autoren Julien Soulié und M. la Mine, die sich auch stilistisch an ein junges Publikum richten, sogar im Französischunterricht an deutschen Schulen einsetzbar sein.81

78 Vgl. zum Ausfall des -- auch: Cerquiglini, Bernard: La Genèse de l’orthographe française (XIIe–XVIIe siècles), Paris 2004, insbes. S. 37–41. 79 Ein Abgleich mit dem Grundwortschatz des Französischen ergab eine Liste von rund 50 Lexemen mit accent circonflexe, zu denen neben einigen der oben bereits aufgezählten in der Lebenswelt der Lernenden sehr frequente Vokabeln und ihre Ableitungen gehören, z. B.: l’âge, arrêter, bête, bientôt, le dîner, être, le gâteau, l’hôpital, l’hôtel, naître, même, paraître, prêt, la tête, le théâtre, le vêtement etc. Es lohnt sich mithin, nach neuen didaktischen Lernstrategien für das Phänomen der französischen Akzente zu suchen. 80 Vgl. wiederum Riegel, Martin / Pellat, Jean-Christophe / Rioul, René: Grammaire méthodique du français, 7. Auflage, Paris 2009 (11994), S. 133. 81 Vgl. Soulié, Julien / la Mine, M.: Et cetera, et cetera. La langue française se raconte, Paris 2020; vgl. auch die folgenden Abbildungen.

126

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4.2

Beispiel 2: Phonetische vs. etymologische Schreibung und das Phänomen der Lehnwörter

Es gehört zu den Charakteristika der französischen Sprache, dass diese in ihrer Orthographie frühere Lautstände und überkommene Stadien ihrer historischen Entwicklung bewahrt hat (Abb. 2), wie nicht nur die Diphthonge zeigen. Etymologische und (re)latinisierende Schreibweisen wie temps (gegenüber afrz. tems, tens u. a.; vgl. engl. tense) oder Homophonien wie le doigt vs. il doit ergeben erst Sinn, wenn man sie vor dem Hintergrund ihrer Etyma liest.82 So lassen sich auch Lexik und Wortbildung sprachgeschichtlich leichter erfassen. Eine Vereinfachung der Orthographie, wie sie etwa das Italienische auszeichnet, welches etymologische Schreibweisen in der Renaissance bewusst abgelegt hat, würde aufgrund der abweichenden Aussprache umso größere Zuordnungsschwierigkeiten nach sich ziehen:83

Abb. 2: Beispiele der Bedeutungsunterscheidung durch etymologische Orthographie im Französischen (Soulié, Julien / la Mine, M.: Et cetera, et cetera. La langue française se raconte, Paris 2020, S. 96).

Humanistischer Sprachausbau und Wortbildungserscheinungen wie die sogenannten doublets (Dubletten) – gelehrte Entlehnungen (mots savants) aus den alten Sprachen, die noch heute neben den regelmäßig entwickelten Erbwörtern im Wortschatz der Gegenwartssprache erhalten geblieben sind – können erst im Lichte sprachhistorischer Forschung erkannt werden. So stehen sich la chose (Erbwort) und la cause (Lehnwort, < lat. causa) ebenso gegenüber wie etwa froid

82 Vgl. Klare, Johannes: Französische Sprachgeschichte, S. 95f. 83 Diverse tatsächliche historische Bestrebungen, die französische Rechtschreibung zu reformieren, präsentiert in einer informativen Zusammenschau: Arrivé, Michel: Réformer l’orthographe?, Paris 1993.

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127

und frigide (< lat. frigidum), livrer und libérer (< lat. liberare) oder droit und direct (< lat. directu), um nur wenige Beispiele zu nennen (Abb. 3).84 Gerade die Lehnwörter gehören zu den interlingual am einfachsten erschließbaren Lexemen; oftmals sind sie als sogenannte Internationalismen geläufig, d. h. in gleicher oder ähnlicher Bedeutung in mehreren weiteren Sprachen unter Beachtung der jeweiligen einzelsprachlichen Merkmale vorhanden, so dass Schülerinnen und Schüler sie aus vor oder neben dem Französischen erlernten Schulsprachen oder sogar als deutsche Fremdwörter kennen. Ähnliches gilt übrigens auch für viele fachsprachliche Begriffe. Dass dieser Aspekt gerade dem Spracherwerb des Französischen zugutekommt, ist m.W. bislang noch nicht systematisch untersucht worden.85 Auch hier verdrängt der Maßstab der synchronen Sprachbetrachtung sämtliche historische Bezüge aus dem Französischunterricht und seiner Didaktik. Anhand weniger Beispiele wird jedoch evident, dass es sich lohnen würde, hierzu genauere Überlegungen anzustellen: Altsprachliche Lehnwörter, die im 16. Jahrhundert aus dem Lateinischen abgeleitet wurden, sind z. B.: la patrie, l’éducation, concret, la colonie, aus dem Griechischen u. a.: hystérique, l’apathie, apocalyptique, l’analyse, l’enthousiasme, l’hypothèse, le phénomène.86 Die größte Quelle für Lehnwörter war in dieser Zeit das Italienische, das die französische Sprache allein im ausgehenden 16. Jahrhundert um rund 1000 Italianismen aus dem Militärwesen (z. B. le soldat, la cavalerie, l’infanterie, l’escorte, la barricade, attaquer, le pistolet, l’arsenal u.v.m.), dem Hofleben (so etwa le courtisan, la courtisane, la politesse, le caprice, le carnaval, le masque, le ballet, bouffon, réussir, briller etc.), dem Bank- und Geschäftswesen (z. B. la banqueroute, le bilan, l’escompte, le risque), der Architektur (l’architecte, l’appartement, l’arcade, le balcon, la façade, le mosaïque u. a.; s. Abb. 4), Kunst, Literatur und Musik (z. B. l’arabesque, le relief, le sonnet, la stance, le madrigal, le concert, le contrebasse, la sérénade, le duo) sowie aus dem Bereich der Lebensmittel (l’artichaut, le marron, la saucisson, la récolte u.v.a.) bereicherte.87 Aus dem Spanischen (z. B. le casque Helm) bzw. über spanische Vermittlung traten neue Wörter auch aus den transatlantischen Sprachen der kolonialisierten Gebiete der sog. Neuen Welt hinzu. Auch von diesen lassen sich viele in der französischen (und sogar in der deutschen) Gegenwartssprache wiedererkennen, z. B.: le cacao; le mahiz bzw. maïz; la tomate; l’ananas; le

84 Weitere Bespiele vgl. Klare, Johannes: Französische Sprachgeschichte, S. 76. 85 Vgl. aber diverse didaktische Überlegungen mit sprachhistorischen Aufgabenstellungen im Bereich F.L.E. (Französisch als Fremdsprache) in: Fuchs, Volker / Meleuc, Serge: Linguistique française: français langue étrangère. La communication en français, Frankfurt am Main 2003, z. B. zu den o.g. »doublets étymologiques«, S. 139f. 86 Vgl. Klare, Johannes: Französische Sprachgeschichte, S. 105. 87 Vgl. ebd., S. 103f.

128

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Abb. 3: Beispiele sogenannter etymologischer Dubletten (gelehrtes Lehnwort vs. durch historischen Sprachwandel entstandenes Erbwort) im Französischen (Soulié, Julien / la Mine, M.: Et cetera, et cetera. La langue française se raconte, Paris 2020, S. 17).

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chocholate bzw. le chocolat; le tabac; le hamacque bzw. hamac Hängematte; le huracan, haurachan, uracan, houragan, ouragan (vgl. dt. Orkan).88

Abb. 4: Beispiele italienischer Lehnwörter im Französischen (Soulié, Julien / la Mine, M.: Et cetera, et cetera. La langue française se raconte, Paris 2020, S. 38).

Im Zusammenhang mit der Rechtschreibung soll eine gesellschaftlich relevante Beobachtung nicht außer Acht gelassen, wenn auch gleichwohl nicht intensiv weiterverfolgt werden: »Die Orthographie ist bis heute ein Bildungsfaktor, die bildungstragenden Schichten grenzen sich damit von den Unterschichten innerhalb der französischen Gesellschaft immer noch bewusst ab.«89 Die mit dem Phänomen der Orthographie verbundene Gefahr der Exklusion und Stigmatisierung ist ganz sicher ein ernstzunehmendes Problem und soll nicht heruntergespielt werden. Es stellt sich allerdings in Frankreich selbst in anderer Weise als im Kontext des Fremdsprachenerwerbs in Deutschland. Im Französischunterricht von Gymnasium und Gesamtschule, wie er für die Bonner Lehrerbildung ausschlaggebend ist, dürfen die Voraussetzungen als besonders zuträglich angesehen werden, sich die französische Orthographie anzueignen, zumal diese von allen Schülerinnen und Schülern in der Regel in gleicher Weise als Fremdsprache wahrgenommen wird. Übrigens mag es für germanophone Schülerinnen und Schüler durchaus entlastend sein, zu erfahren, dass französische Kinder sich die orthographischen Besonderheiten ihrer Muttersprache ebenfalls erst mühevoll aneignen müssen und sich oftmals bei weitem nicht so rechtschreibsicher erweisen wie ihre deutschsprachigen camarades in ihrem Fremdsprachenerwerb.

88 Vgl. ebd., S. 107. Weitere Wortentlehnungen, ab dem 13. Jahrhundert chronologisch geordnet, listet z. B. Heinz Jürgen Wolf auf: Wolf, Heinz Jürgen: Französische Sprachgeschichte, Wiesbaden 1991, S. 83ff. 89 Klare, Johannes: Französische Sprachgeschichte, S. 96.

130 4.3

Roland Ißler

Beispiel 3: Herleitung des futur simple

Die zusammengesetzten analytischen Futurformen des Französischen, deren vulgärlateinische Vorläufer bereits die klassischen synthetischen Futurbildungen abgelöst haben,90 sind über eine sprachhistorische Annäherung (il portera < *portarat < portare habet) ebenfalls leicht zu durchschauen. Die Form setzte sich mithin schon im Lateinischen zusammen aus einem Infinitiv und einer konjugierten Form von lat. habere haben; der Akzent des Verbs verschob sich dadurch vom Stamm auf die angehängte Endung.91 Vor diesem Hintergrund erhält die lernstrategische Eselsbrücke, die Futurendungen aus der Präsenskonjugation des Verbs avoir herzuleiten, sogar eine sprachgeschichtliche Legitimation: présent avoir haben

futur simple porter tragen

j’ tu

ai ich habe as

je tu

porter-ai ich werde tragen porter-as

il, elle, on nous

a avons

il, elle, on nous

porter-a porter-ons

vous ils, elles

avez ont

vous ils, elles

porter-ez porter-ont

Aber selbst wenn Schülerinnen und Schülern dies nicht transparent gemacht wird, erscheint es doch immerhin sinnvoll, dass zumindest Lehrerinnen und Lehrer über die periphrastische Herkunft der französischen Futurformen informiert sind.

4.4

Beispiel 4: Adverbien auf -ment

Warum verwendet man für die regelmäßige Bildung von Adverbien im Französischen normalerweise die weibliche Form des Adjektivs, an welche man die Endung -ment anhängt, z. B. exact, exacte – exactement; pur, pure – purement; heureux, heureuse – heureusement? Diese Beobachtung lässt sich übrigens – außer im Rumänischen – auch bei allen anderen romanischen Sprachen machen. Sie geht auf das lateinische Lexem mens Geist bzw. dessen Ablativ mente ›in einem [be90 Vgl. Ineichen, Gustav: Lateinische Futurperiphrasen und die romanische Klassifikation, in: Ders.: Typologie und Sprachvergleich im Romanischen. Aufsätze 1973–1998, Heidelberg 1999, S. 32–39. 91 Vgl. u. a. Price, Glanville: Die französische Sprache. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, aus dem Englischen übers. von Uwe Petersen, Sabina Matter und Monika Kümmerle, Tübingen 1988 [Orig.: The French Language: Present and Past, 3. Auflage, London 1975], S. 221.

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131

stimmten] Geist bzw. [inneren] Zustand‹ zurück, das als feminines Wort das Genus des zugehörigen Adjektivs bestimmt. Das Adverb aus dem Adjektiv abzuleiten, ist also auch historisch folgerichtig: »obstinata mente in einem hartnäckigen inneren Zustand«.92 Da im Laufe des Sprachwandels der Ursprung in Vergessenheit geriet, entstanden auch Adverbien mit der Endung -mente bzw. -ment, die sich semantisch von der Idee eines ›Geisteszustandes‹ gelöst hatten, z. B.: premièrement, nouvellement oder longuement.93 Bezeichnenderweise nimmt das »Grammatische Beiheft« eines der verbreitetsten Lehrwerke des Französischen an deutschen Schulen keinerlei Notiz von der leicht nachvollziehbaren sprachhistorischen Herleitung. Bei der wiederholenden Darstellung der »Bildung des Adverbs« werden Schülerinnen und Schüler im dritten Lernjahr auf die schlichte Regel der Ableitung von der femininen Form des Adjektivs verwiesen. In beiden Genera gleichlautende Adjektive (facile, facile – facilement; bizarre, bizarre – bizarrement) werden hierbei sogar mit einer kleinen Gruppe von Adjektiven zusammengefasst, deren weibliche Endung schon im Mittelfranzösischen lediglich aufgrund der verstummten Lautung auch in der Schreibung weggefallen ist (vrai, vraie – vraiment; poli, polie – poliment).94 Mit dieser ahistorischen Erklärung, die im zweiten Satz eine neue Ausnahme von der Regel generiert, steigt nicht nur die Verwirrung, sondern auch der Lernaufwand nimmt zu: »Viele Adjektive werden vom Adjektiv abgeleitet, indem man an die feminine Form des Adjektivs die Endung -ment anhängt. Bei den Adjektiven, die im Maskulinum auf Vokal enden (z. B. vrai, facile etc.), wird die Endung -ment an die maskuline Form angehängt.«95

92 93 94 95

Ebd., S. 173. Vgl. ebd., S. 174. Vgl. ebd., S. 175. Cloßen, Marlène / Ganz, Jutta / Hildebrandt, Rudolf et al.: Découvertes 3. Série jaune. Grammatisches Beiheft, Stuttgart, Leipzig 2014, S. 33–35, hier S. 34; Hervorhebungen im Original. Der Darstellung folgen Hinweise auf weitere Ausnahmen (gentil, gentille – gentiment, vgl. ebd., S. 35) und unregelmäßige Adverbien (bon, bonne – bien; mauvais, mauvaise – mal; meilleur, meilleure – mieux, vgl. ebd.) sowie ein kontrastierendes Beispiel zur Satzstellung im Vergleich mit dem Englischen (vgl. ebd.), das zwar mehrsprachigkeitsdidaktisch motiviert ist (zu den Vorzügen dieses Vorgehens s. u., Abs. 4.6), die Diskrepanz der französischen von der englischen Sprache in der Wahrnehmung der Schülerinnen und Schüler im Ergebnis jedoch eher noch verstärkt, indem es den Eindruck einer komplizierten Grammatik verfestigt.

132 4.5

Roland Ißler

Beispiel 5: Pluralbildung mit -x

Die unregelmäßige Pluralform »Les originaux« schließlich, wie sie Schülerinnen und Schüler dank grenzüberschreitender Produktvermarktung z. B. auf einer zweisprachigen Cornflakes-Packung (Abb. 5) vorfinden, kann, diachronisch betrachtet, ein Stück Kulturgeschichte aufleben lassen.

Abb. 5: Ein zweisprachig beschriftetes Objekt aus der Lebenswelt heutiger Schülerinnen und Schüler als Impuls für eine sprachhistorische Betrachtung (Foto: Roland Ißler).

Warum die korrekte männliche Pluralform im gegenwärtigen Standardfranzösisch les originaux und nicht etwa les *originals lautet, erläutert der bekannte belgische Grammatiker Maurice Grevisse (1895–1980) am Beispiel von le cheval wie folgt: [D]ans les noms terminés par l, cette consonne se vocalisait en u devant l’s du pluriel. Or, au moyen âge, le groupe -us se notait ordinairement par un signe abréviatif qui ressemblait à la lettre x et qui finit par être confondu avec cette lettre. L’ancien chevaus s’écrivit donc chevax. Plus tard, on oublia la fonction du signe x et, comme la prononciation faisait entendre un u, on rétablit, dès la fin du XIIe siècle, cet u dans l’écriture,

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133

tout en maintenant l’x: chevaux. Au XVe et au XVIe siècle, on introduisit même l’l étymologique et on écrivit chevaulx. C’est au XVIIe siècle qu’on est revenu à l’orthographe chevaux.96 In den auf -l endenden Nomina wurde dieser Konsonant vor dem Plural-s zu einem -u vokalisiert. Nun notierte man im Mittelalter für die Gruppe auf -us [endender Wörter] gewöhnlich ein Abkürzungszeichen, das dem Buchstaben x ähnelte und schließlich mit diesem Buchstaben verwechselt wurde. Das frühere chevaus schrieb sich also chevax. Später vergaß man die Funktion des Zeichens x [vgl. Abb. 6], und da sich bei der Aussprache seit dem Ende des 12. Jahrhunderts ein u vernehmen ließ, fügte man dieses u in die Schreibung wieder ein, behielt aber das x bei: chevaux. Im 15. und 16. Jahrhundert führte man sogar noch das etymologische l ein und schrieb chevaulx. Im 17. Jahrhundert ist man zu der Schreibweise chevaux zurückgekehrt.

Abb. 6: Schülergerechte Herleitung der historischen Schreibweise -x am Wortende in der französischen Gegenwartssprache (Soulié, Julien / la Mine, M.: Et cetera, et cetera. La langue française se raconte, Paris 2020, S. 125).

Bezogen auf das Beispiel les originaux (Abb. 5), lässt sich mithin analog die Reihe originaux < originaulx < originaux < origina(u)x < originax < originaus (< *originals) rekonstruieren. Gab es demnach einmal die regelmäßige Pluralform? Könnte sie – analog etwa zum englischen Plural journals – auch im heutigen Alltagsgebrauch des Französischen wiederaufleben? Tatsächlich finden sich 96 Grevisse, Maurice: Le bon usage. Grammaire française, 7. Auflage, Gembloux 1959, § 278; nachfolgende Übers. R.I.

134

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in der parole der französischen Gegenwartssprache bereits Belege des Plurals les *journals (neben der korrekten, aber unregelmäßigen Form les journaux) zu Sg. le journal.97 Wie aber ist das möglich?

4.6

Sprachwandel: Die Bedeutung der Diachronie

Wie die Sprachwissenschaft lehrt, ist Sprache ein beständig sich wandelndes Phänomen. Georg A. Kaiser hat diese Wandelbarkeit von Sprache jüngst bündig dargelegt und in einem Diagramm differenziert verdeutlicht: »Eine Sprache kann als ein komplexes Gebilde angesehen werden, das in vielen Bereichen Variation aufweist. Zur Erfassung dieser Variation wird häufig ein mehrdimensionales ›Diasystem‹ angenommen […]. In einem solchen Modell […] werden primär die drei Dimensionen Raum, Gesellschaft und Sprechsituation unterschieden. […] Häufig wird noch eine diamesische Dimension postuliert […] hinsichtlich der Wahl des Kommunikationsmediums […]. Abgesehen von diesen vier eng miteinander verflochtenen Dimensionen lässt sich noch eine davon unabhängige Dimension von Sprache festmachen, nämlich die diachron(isch)e Dimension, bei der auf die Zeit Bezug genommen wird.«98

Raum

Bezeichnung Varietät der Variation diatopisch Dialekt

Maßeinheit

Beispiel99

Region

Paris, Südfrankreich, Nordfrankreich Ober-, Unterschicht; Jugendsprache

Gesellschaft diastratisch

Soziolekt

Schicht, Gruppe

Sprechdiaphasisch situation Konzeption/ diamesisch Medium

Register

Formalitätsgrad

Zeit

formell, informell

Nähe-Dis- Grad der kommuni- Beitrag in einem Chat; Verwaltungsvorschrift tanz-Konti- kativen Nähe bzw. nuum Distanz

diachronisch Stadium

Epoche/Periode

Altfranzösisch, Mittelfranzösisch, Neufranzösisch

97 Einen Beleg liefert etwa Elissa Pustka am Beispiel einer Sprecherin aus dem südfranzösischen Aveyron: »je ne considère pas avoir d’accent, puisque bon, alors que, quand vous regardez les infos, euh, tous les journals [sic!] télévisés de vingt heures, tous les films, euh, que je regarde la France entière et la France profonde, euh, tous les Français, tous les, les acteurs et les, les, les journalistes parlent de la même manière que moi.« Pustka, Elissa: accent(s) parisien(s) – Autound Heterorepräsentationen stadtsprachlicher Merkmale, in: Krefeld, Thomas (Hg.): Sprachen und Sprechen im städtischen Raum, Frankfurt am Main 2008, S. 213–249, hier S. 221. 98 Kaiser, Georg A.: Romanische Sprachgeschichte, Paderborn 2014, S. 21. 99 Tabelle in Anlehnung an: Ebd., S. 22; vgl. auch Berschin, Helmut / Felixberger, Josef / Goebl, Hans: Französische Sprachgeschichte, S. 15.

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135

Da Sprachwandelerscheinungen nicht selten mehrere Generationen benötigen, um sich durchzusetzen, ist die Spanne eines Menschenlebens oftmals zu kurz, um sie überhaupt wahrzunehmen. Schon der Strukturalist Ferdinand de Saussure (1857–1913) betont die Bedeutung der synchronischen Betrachtung und »begründet dies damit, dass im Bewusstsein des Sprechers einer Sprache diese nur synchron gegeben ist, da ihm normalerweise die diachrone Dimension seiner Sprache nicht bekannt ist«.100 Dennoch erfasst eine allein auf Synchronie bedachte Sprachwissenschaft, so notwendig sie für den Fremdsprachenunterricht und mithin die Lehrerbildung ist, die französische Sprache nur partiell. Ein Erkennen und Beschreiben von Sprachwandel geschieht hingegen durch den Vergleich mehrerer synchroner Querschnitte durch die Sprache zu verschiedenen historischen Zeitpunkten bzw. zu mindestens einem Zeitpunkt in Bezug auf den Stand der Sprache in ihrer gegenwärtigen Gestalt. Mit anderen Worten: Synchronie, bezogen auf die Sprache der Gegenwart, ist angesichts des zeitlichen Kontinuums, in dem sie unweigerlich steht, immer ein Abbild der Sprache in ihrer Geschichtlichkeit. Denn Sprachwandel dauert beständig an, solange Zeit vergeht; er ist niemals abgeschlossen. Anders ausgedrückt ist jede erworbene Gegenwartssprache immer eine vorläufige. Das Wissen um die beständige Wandelbarkeit von Sprache, die sich starren Strukturen gegenüber oftmals sperrt, sollte daher Fremdsprachenlehrenden nicht fremd sein; es hilft ihnen auch bei der funktional-kommunikativen Sprachverwendung, für Wandelerscheinungen und expressive und unkonventionelle Sprachphänomene aufmerksam zu sein und stets offen für neue sprachliche Phänomene zu bleiben. Nicht zuletzt jugendsprachliche Varietäten und spontane Neologismen bieten einen nachvollziehbaren Eindruck von der Bedeutung von Sprachwandelerscheinungen. Mit der Entwicklung einer Sprache vertraut zu sein und in ihren gegenwärtig auftretenden Strukturen verschiedene frühere Stadien wiedererkennen oder einen formalen Wandel im Bereich der Phonologie, Morphologie, Syntax, Wort oder Wortbildung sogar rekonstruieren zu können, trägt – das wird oft ignoriert oder vorschnell vergessen – in nicht geringem Maße zu der in den aktuellen Bildungsstandards eingeforderten Sprachbewusstheit (language awareness) bei.101 Wohlgemerkt ist damit nicht 100 Ebd., S. 23. 101 Wichtige Anregungen für die Lehrerbildung finden sich dazu in: Wirth, Theo / Seidl, Christian / Utzinger, Christian: Sprache und Allgemeinbildung. Neue und alte Wege für den alt- und modernsprachlichen Unterricht am Gymnasium, Zürich 2006, insbes. S. 96–108. Speziell zur Wahrnehmung der »Geschichtlichkeit von Sprache« werden hier explizite Unterrichtsziele formuliert, z. B. grundlegend: »Die Schülerinnen und Schüler wissen, dass jede Sprache sich in ständiger Veränderung befand, befindet und befinden wird; sie können […] ›unverständliche‹, ›unlogische‹ Erscheinungen als historisch erklärbar vermuten und teil-

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gesagt, dass sprachgeschichtliche Herleitungen gezwungenermaßen Eingang in den schulischen Fremdsprachenunterricht finden sollten. Es ist gleichwohl nicht ausgeschlossen, dass das Erkennen logischer und regelmäßiger Strukturen in der historischen Sprachentwicklung des Französischen für Lernende dieser Sprache mitunter hilfreich und sogar motivierend sein kann.102 Umgekehrt geht mit dem systematischen Verzicht auf vertiefende sprachhistorische Lehrveranstaltungen ein erheblicher Verlust in der Qualität der Lehrerbildung einher, der nicht auf anderem Wege kompensiert werden kann. Noch ein weiteres Argument spricht dafür, die strikte Ausgrenzung von Diachronie, Varietätenlinguistik und Sprachverwandtschaften, wie sie die Kultusministervorgaben für die Lehrämter der Sekundarstufe I nahelegen, kritisch zu überdenken. Interessanterweise sind nämlich gerade diese drei Themenfelder besonders geeignet, mehrsprachigkeitsdidaktisch zu arbeiten. Das Französische eignet sich hierzu bekanntlich in hervorragender Weise aufgrund seines Status als Brückensprache, deren besonderer Reichtum an grammatischen und strukturellen Transferbasen gut erforscht und dokumentiert ist;103 auf die Wiedererkennung von Internationalismen in Lehnwörtern wurde bereits exemplarisch hingewiesen. Mehrsprachigkeitsorientierte Strategien wie der interlinguale Vergleich, der Einsatz synergetischer Elemente, das Erkennen analoger Strukturen bei der rezeptiven Erschließung fremdsprachiger Texte, beruhen gerade auf der sprachlichen Verwandtschaft, d. h. im Falle des Französischen auf der romanischen Sprachfamilie.104 Dem Bereich der Mehrsprachigkeit fallen in der weise mit gelernten Verfahren selbständig erklären; sie entwickeln ein Interesse am ›Verstehen von Unverständlichem‹ und bemühen sich auch selbständig um Klärung.« (S. 99). 102 Zu der Motivation tragen auch Wiedererkennungseffekte bei, die sich durch ähnliche sprachliche Strukturen im Englischen ergeben. Dass die englische Sprache – Georg Bossong bezeichnet sie »als eine germanisch-romanische Mischsprache« (Bossong, Georg: Die romanischen Sprachen, S. 7) – bis heute rund 60 % ihres lateinisch-romanischen Wortschatzes erkennbar bewahrt hat, ist nicht nur fremdsprachendidaktisch profitabel, sondern zudem wenn nicht für Schülerinnen und Schüler, so zumindest für werdende Lehrerinnen und Lehrer von kulturgeschichtlichem Interesse. Vgl. dazu z. B. Ißler, Roland / Schustereder, Stefan: Mit King Arthur an der Table Ronde. Ein englisch-französisches Unterrichtsmodell für ein historisches Sprachbewusstsein, gemeinsamer interdisziplinärer Vortrag in der Sektion »Synergieeffekte durch die gezielte Vernetzung von Englisch und Französisch«, 9. Frankoromanistenkongress Münster, 24.–27. September 2014. 103 Vgl. Klein, Horst G.: Das Französische: die optimale Brücke zum Leseverstehen romanischer Sprachen, in: Französisch heute 33 (2002), S. 34–46. 104 Vgl. dazu genauer Klein, Horst G. / Stegmann, Tilbert D.: EuroComRom – Die sieben Siebe: Romanische Sprachen sofort lesen können, Aachen 2000. Auch durch ein kulturhistorisches Argument lässt sich die Bildungsrelevanz begründen: Die Geschichte einer Sprache ist Teil einer gemeinsamen Kulturgeschichte; Kenntnisse von der Entwicklung der französischen Sprache bieten zugleich die didaktische Gelegenheit zu einer europäischen Identitätserfahrung. Zur Relevanz der alten Sprachen für die Fachdidaktik der Romanistik vgl. Ißler, Roland: Alt- und neusprachliche Begegnungen in Lehrerbildung und interkulturellem Fremdsprachenunterricht. Anregungen zu einer inhaltsorientierten Französisch-, Spanisch-,

Zum fremdsprachendidaktischen Potential von Sprachgeschichte

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universitären Lehrerbildung, insbesondere in der (historischen) Sprachwissenschaft, ein besonderes Gewicht und besondere Bildungsverantwortung zu. Angesichts auch dieser gesellschaftlichen und kulturellen Bedeutung sollte angehenden Französischlehrerinnen und -lehrern diese höchst effektive und zudem für die Mehrsprachigkeit der EU-Bürger äußerst förderliche Lernerfahrung nicht leichtfertig vorenthalten werden. Die voreilige Zuordnung ›Sekundarstufe I: Synchronie; Sekundarstufe II: Synchronie + Diachronie‹, wie sie die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz von 2013 nahelegen, ist, bezogen auf die universitäre Lehrerbildung, nicht nachhaltig tragfähig, sondern betrügt die im Fach Französisch Lehrenden wenigstens der Sekundarstufe I um die Erkenntnis entscheidender sprachstruktureller Zusammenhänge und damit zugleich um erweiterte didaktische Möglichkeiten des Fremdsprachenunterrichts, sei es durch die historische Herleitung sprachlicher Phänomene oder durch interlingualen Sprachenvergleich und andere mehrsprachigkeitsdidaktische Lehrund Lernmethoden. Zu bedenken ist zudem, dass Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrer außerhalb der Hochschulen kaum je Gelegenheit haben werden, tiefere Einblicke in die französische Sprachgeschichte zu gewinnen und ihnen im Falle einer Preisgabe der diachronischen Perspektive wichtige fachwissenschaftliche Wissensbestände verschlossen bleiben.

5.

Fazit

Die Lehrerbildung gehört zu den genuinen Aufgabenfeldern der Romanistik und ihrer Einzelphilologien; seit der Gründung und Institutionalisierung der Disziplin im 19. Jahrhundert ist sie den romanistischen Fachwissenschaften ein wesentliches Anliegen. Die über einen sehr langen Zeitraum rein fachwissenschaftliche Auffassung von universitärer Lehrerbildung, die zunächst mit einem fehlenden Bewusstsein für die Bedeutung und Notwendigkeit einer akademischen Fachdidaktik einherging und jede schulpraktische Fragestellung folgerichtig aus dem universitären Kontext verbannte und auslagerte, kann spätestens seit der Modularisierung der lehrerbildenden Studiengänge im Zuge der Bologna-Reform und ihrer Organisation in konsekutiven Bachelor- und MasterModellen als überwunden gelten.105 Zu den wichtigsten Errungenschaften der reformierten Lehrerbildung zählt sicherlich die Verzahnung der zuvor vonein-

Italienisch- und Lateindidaktik, in: Schleicher, Regina / Zenga-Hirsch, Giselle (Hg.): Autonomie, Bildung und Ökonomie. Theorie und Praxis im Fremdsprachenunterricht, Stuttgart 2019, S. 121–140. 105 Vgl. Caspari, Daniela: Überlegungen zum fachwissenschaftlichen Studium aus Anlass der gegenwärtigen Reform der Lehrerbildung.

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ander stark isolierten und organisatorisch wie inhaltlich unverbundenen Ausbildungsphasen.106 An der Universität Bonn konnte die Lehrerbildung zu einem geeigneten Zeitpunkt wiederaufgenommen werden, um die Strukturen in allen Bereichen neu aufzubauen und auf der Basis bestehender starker Fachkulturen die Verzahnung der Fachwissenschaften mit den neu etablierten Fachdidaktiken vorzunehmen. Die Fachlichkeit stellt nach wie vor ein wesentliches Merkmal der Bonner Lehrerbildung dar. Sie zeichnet sie in besonderer Weise aus und spiegelt sich in der produktiven Verknüpfung der beteiligten Disziplinen innerhalb der einzelnen Fachkulturen. Auf der Ebene des Faches Französisch konnte mit der fachwissenschaftlichen Erkundung sprachgeschichtlicher Zusammenhänge und ihrer didaktischen Relevanz für Spracherwerbsprozesse ein Beispiel des Zusammendenkens von Fachwissenschaft und Fachdidaktik beleuchtet werden. Die zur Diskussion gestellte Hypothese, der zufolge sprachhistorische Erkenntnisbildung Lernenden einer Fremdsprache tiefergehende Erklärungsansätze in die Genese der Sprachentwicklung sowie kategoriale Einsichten in den Wandel sprachlicher Strukturen eröffnet und unter bestimmten Umständen den Zugang zur Gegenwartssprache zu erleichtern vermag, kann aufgrund der vorstehenden Ausführungen zumindest für das Französische tendenziell als bestätigt angesehen werden. Das heißt noch nicht, dass sich sprachhistorische Erläuterungen zur Vereinfachung des Spracherwerbs grundsätzlich und für jeden Fremdsprachenlernenden eignen und nicht mitunter den Zugang zur Fremdsprache sogar erschweren; dies ist im Einzelfall abzuwägen. Lehrenden muss jedoch die Freiheit gegeben sein, diese didaktische Entscheidung überhaupt treffen zu können. Dafür aber muss die universitäre Lehrerbildung angehenden Lehrkräften in die Sprachwissenschaft als in eine der grundlegenden fachwissenschaftlichen Disziplinen der Romanischen Philologie einen möglichst breiten Einblick gewähren und darf die historische Sprachwissenschaft nicht kategorisch ausklammern. Felix Tackes oben zitierte Beobachtungen aus der Fachwissenschaft sind nicht nur losgelöst von der Lehrerbildung gültig, sondern haben, weitergedacht, Konsequenzen auch für die an der Synchronie geschulten Perspektive von Französischlehrerinnen und -lehrern: Ihm zufolge »ist die diachrone Sprachwissenschaft nicht nur notwendig, um zu einem tieferen Verständnis der Gegenwartssprache zu gelangen, sondern sie transzendiert sämtliche Gegenstandsbereiche.«107 106 Für die Entwicklung der Lehrerbildung ›zwischen Preußen und Bologna‹ am Beispiel des Faches Französisch vgl. Ißler, Roland: Universitäre Lehrerbildung im Fach Französisch: Aufgaben, Struktur und Entwicklung, S. 15–54, insbes. S. 16–41, sowie am Beispiel mehrsprachigkeitsdidaktischer Curricula am Institut für Klassische und Romanische Philologie der Universität Bonn: Ißler, Roland: Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt. 107 Tacke, Felix: Die historische Betrachtung der romanischen Sprachen, S. 87.

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Auch wenn dies hier nur ansatzweise und exemplarisch demonstriert werden kann, spricht vieles dafür, dass die akademischen Curricula auch im Lehramtsstudium keineswegs vor Inhalten zurückschrecken sollten, die auf den ersten Blick für das Schulfach Französisch nicht im engeren Sinne unterrichtsrelevant erscheinen. Die tatsächliche Relevanz und Praxistauglichkeit von Lerngegenständen ergibt sich erst aus der Unterrichtssituation und den an ihr partizipierenden Akteuren des Lernens und Lehrens. Eine breite fachwissenschaftliche Basis dient der tieferen Vertrautheit mit der eigenen Fachkultur, die wiederum den ›phantasievollen‹ Transfer fachlicher, d. h. die französische Sprache betreffender Lerninhalte in die Schulpraxis im Sinne der didaktischen Transformation erleichtert. Auch deshalb bedürfen die Studienelemente der verschiedenen Bereiche in der universitären Lehrerbildung einer sinnvollen Verzahnung. Da der fachwissenschaftliche Studienanteil im Masterstudiengang deutlich geringer ist als im von der Fachwissenschaft dominierten Bachelorstudium, erscheint es notwendig, den Rückgriff auf die Fachwissenschaften auch im späteren Studienverlauf und gerade angesichts der schulpraktischen Professionalisierung nicht aus den Augen zu verlieren. Für die Forschung gilt dies analog: Die Fachwissenschaften und die Fachdidaktik bilden im besten Sinne eine Einheit in der romanistischen Fachkultur.

Literatur Abendroth-Timmer, Dagmar: Gibt es eine »Krise des Französischunterrichts«? Motivationale Einflüsse auf das Fach Französisch aus der Sicht zukünftiger Französischlehrer_innen, in: Grein, Matthias / Schädlich, Birgit / Vernal Schmidt, Janina (Hg.): Die Krise des Französischunterrichts in der Diskussion. Empirische Forschung zur Frankoromanistik – Lehramtsstudierende im Fokus, Berlin 2021, S. 44–63. Arrivé, Michel: Réformer l’orthographe?, Paris 1993. Bechtel, Mark / Mayer, Christoph Oliver: Wie umgehen mit dem Konflikt zwischen Theorie und Praxis? Überlegungen zum Krisendiskurs in der fremdsprachlichen LehrerInnenbildung, in: Grein, Matthias / Schädlich, Birgit / Vernal Schmidt, Janina (Hg.): Die Krise des Französischunterrichts in der Diskussion. Empirische Forschung zur Frankoromanistik – Lehramtsstudierende im Fokus, Berlin, 2021, S. 104–121. Berschin, Helmut / Felixberger, Josef / Goebl, Hans: Französische Sprachgeschichte. Lateinische Basis, Interne und externe Geschichte, Sprachliche Gliederung Frankreichs, mit einer Einführung in die historische Sprachwissenschaft, München 1978. Bled, Odette / Bled, Édouard / Bénac, Henri: Guide pratique d’orthographe, Paris 1975. Bonner Zentrum für Lehrerbildung (BZL): Fachlich – Kooperativ – Nachhaltig: Lehrerbildung an der Universität Bonn, o. J. [2017]. URL: https://www.bzl.uni-bonn.de/organi sation/170706-leitbild-lehrerbildung.pdf [Stand: 21. 12. 2021]. Börner, Wolfgang: Die französische Orthographie, Tübingen 1977.

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GEOGRAPHIE

Nils Thönnessen

Die Geographie als Zukunftsfach verstehen und lehren lernen – Basiskonzepte als Grundlage der geographischen Fachkultur

1.

Die Geographie als Zukunftsfach

Beginnen wir mit einer Fragestellung aus einem geographiedidaktischen Seminar, welche von Student*innen für eine Schülerexkursion im Sommersemester 2020 entwickelt wurde: »Wieso raubt es dem Obst- und Gemüsebauern Schmitz aus Bornheim den Schlaf, wenn Familie Müller im Baumarkt nebenan Gartenmöbel kauft?«

Es ist offensichtlich nicht leicht, diese rätselhafte Leitfrage spontan zu beantworten.1 Den meisten Leser*innen fehlen sicherlich notwendige Informationen, um eine differenzierte und befriedigende Antwort entwickeln zu können. Dies kann an der Unübersichtlichkeit der Fragestellung liegen – jedoch auch an der fehlenden Möglichkeit, aus dem Stand eine einfache Lösung für diese komplexe Problemstellung entwickeln zu können. Das in Abbildung 1 gezeigte Wirkungsgefüge lässt erahnen, wie komplex eine Beantwortung der Fragestellung aussehen könnte oder vielmehr aussehen müsste, um den Gesamtzusammenhang angemessen abzubilden und darstellen zu können. Es verdeutlicht, kurz zusammengefasst, dass die Rheinischen Gärten aufgrund ihres Klimas und der guten Böden ein Gunstraum für landwirtschaftliche Nutzung (insbesondere für Sonderkulturen, wie Erdbeeren und Spargel) und zugleich ein sehr begehrter Wohn- und Gewerberaum sind, welcher sich einem immer stärker zunehmenden Raumnutzungskonflikt ausgesetzt sieht. Es veranschaulicht zudem, wie viele Einzelfaktoren und deren Funktionen im Raum berücksichtigt werden müssen, um komplexe typisch geographische Prozesse nachvollziehbar und abbildbar zu machen.

1 Die in diesem Beispiel beschriebene Leitfrage kann räumlich in der Obst- und Gemüseanbauregion der Rheinischen Gärten nördlich von Bonn verortet werden.

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Nils Thönnessen

Abb. 1: Von Student*innen erstelltes Wirkungsgefüge zum Raumnutzungskonflikt in den Rheinischen Gärten rund um Bornheim.

Man könnte sich fragen, was dieses Beispiel mit der geographiedidaktischen Lehrer*innenbildung zu tun hat. Diese Frage ist deutlich leichter zu beantworten als die Fragestellung nach den Problemen des Landwirtes Schmitz. Das Schulfach Geographie beschäftigt sich intensiv mit raumbezogenen, vorerst unübersichtlichen und komplexen Themenstellungen, für die ebenfalls keine einfachen linear-eindimensionalen Lösungen entwickelt werden können. Namentlich sind es die großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts: der Klimawandel, die zunehmende Ressourcenknappheit, die massiven Migrationsbewegungen, Raumnutzungskonflikte und immer weiter ansteigende Disparitäten. Die Geographie leistet in dieser inhaltlichen Ausrichtung einen wichtigen Beitrag, Schüler*innen auf die großen Problemstellungen unserer Zukunft vorzubereiten. Sie betrachtet den Raum, den Menschen und die Natur vernetzt und ökologische, soziale und ökonomische Aspekte nicht gesondert, sondern im Verbund. Sie ist somit ein Schlüsselfach für eine ›Bildung für nachhaltige Entwicklung‹ und folglich eine Disziplin, welche zukunftsorientiertes Denken und differenzierte Haltungen von Jugendlichen gegenüber den komplexen Herausforderungen dieses Jahrhunderts fördern und entwickeln kann. Diese »neue« Rolle der Geographie zu verstehen, ist insbesondere für Außenstehende der Geographiedidaktik sehr bedeutsam. Die Fachdisziplin hat ihre

Die Geographie als Zukunftsfach verstehen und lehren lernen

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länderkundliche Ausrichtung schon lange verlassen und ist in diesem Verständnis deutlich mehr als »Stadt-Land-Fluss« oder ein Fach zur Förderung der räumlichen Orientierung.2 Sie ist ein Mensch-Umwelt-Fach, in dem physischgeographische (Geomorphologie, Klima- und Biogeographie) und humangeographische (Wirtschafts-, Siedlungs-, Sozial- und Bevölkerungsgeographie) Themenstellungen bewusst vernetzt durchdacht werden – beispielsweise um die Komplexität des Klimawandels zu verstehen. Somit ist die Geographie Gesellschafts- und Naturwissenschaft zugleich und als ein wichtiges Brückenfach für beide Bereiche zu verstehen. Sie könnte angesichts der aktuellen großen Mensch-Umwelt-Probleme nicht zeitgemäßer sein. Die Geographie ist ein Zukunftsfach. Sie braucht kompetente Lehrer*innen, welche Schüler*innen erfolgreich dabei unterstützen, auf Nachhaltigkeit abzielende und zukunftsgerichtete Schlüsselkompetenzen zu entwickeln. Vor diesem Hintergrund nimmt dieser Beitrag exemplarisch ein eminent wichtiges und hilfreiches Werkzeug in den Fokus, welches die Geographiedidaktik angehenden Lehrer*innen zur Hand geben kann, um Schüler*innen im Umgang mit geographischen und nicht linear-eindimensional zu beantwortenden Fragestellungen gezielt zu fördern. Es sind die Basiskonzepte der Geographie.

2.

Basiskonzepte als »Grammatik« der geographiedidaktischen Lehrer*innenbildung

Ein zentraler Inhalt der geographiedidaktischen Ausbildung von Studierenden ist die Vermittlung und Anwendung der geographischen Basiskonzepte. Diese können für Lehrende und Lernende als hilfreiche (Denk-)Werkzeuge zur Analyse geographischer Fragestellungen betrachtet werden, welche dabei helfen, »Inhalte des Faches zu strukturieren«3, um Komplexität leichter zu bewältigen.4 »Basiskonzepte (big ideas) sind grundlegende […] Leitideen des fachlichen Denkens, die sich in unterschiedlichen geographischen Sachverhalten wiederfinden lassen.«5 Allgemein und fachunabhängig definiert man sie als »strukturierte Vernetzung aufeinander bezogener Begriffe, Theorien und erklärender Modellvorstellungen, die sich in der Systematik des Faches zur Beschreibung 2 Vgl. Kestler, Franz: Einführung in die Didaktik des Geographieunterrichts, Bad Heilbrunn 2015. 3 Deutsche Gesellschaft für Geographie: Bildungsstandards im Fach Geographie für den Mittleren Schulabschluss, Bonn 2020, S. 10. 4 Taylor, Liz: Basiskonzepte im Geographieunterricht. Schlüssel, um die Welt besser zu verstehen und den Unterricht besser zu planen, in: Praxis Geographie 41,7/8 (2011), S. 8–14. 5 Uphues, Rainer: Basiskonzepte, in: Böhn, Dieter / Obermaier, Gabriele (Hg.): Wörterbuch der Geographiedidaktik, Braunschweig 2013, S. 22.

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elementarer Prozesse und Phänomene historisch als relevant herausentwickelt haben.«6 Sie bilden die Identität eines Faches ab und erfüllen gleichzeitig den Anspruch, möglichst universell auf die fachlichen Themen übertragbar zu sein. Aus der Perspektive einer Fremdsprache könnten Basiskonzepte als die »Grammatik« eines Faches und die fachlichen, geographischen Inhalte (Fachbegriffe, Modelle und Theorien) als »Vokabeln« des Unterrichts bezeichnet werden.7 Die geographischen Basiskonzepte werden von Fögele in einem aussagekräftigen Modell abgebildet (Abb. 1), welches die ursprüngliche Version der DGfG aus dem Jahr 2006 geschickt um drei weitere Basiskonzepte erweitert.8 Das übergeordnete Basiskonzept stellt das Systemkonzept dar, welches grundsätzlich zu einer vernetzten Betrachtungsweise geographischer Zusammenhänge auffordert und »die Erde in räumlicher Perspektive als Mensch-Umwelt-System betrachtet.«9 Dem Systemkonzept sind die Systemkomponenten Struktur, Funktion, Prozess untergeordnet. Es stellt die naturgeographischen und humangeographischen (Sub)Systeme in ihren Einzelfaktoren dar, darüber hinaus deren Funktionalität sowie ihre zentralen Wechselbeziehungen. Ein weiteres Basiskonzept sind die Maßstabsebenen, welche dazu auffordern, geographische Fragestellungen auf einer Skala von »lokal« bis hin zu »global« zu durchdenken. Das Basiskonzept der Zeithorizonte unterstützt die Analyse von geographischen Problemstellungen auf einer gestuft zeitlichen Ebene von kurz- bis mittelfristig. Das Nachhaltigkeitsviereck stellt die Interdependenz von Ökonomie, Ökologie, Politik und Sozialem dar und nimmt dabei die vielfältigen Wechselwirkungen in einem Mensch-Umwelt-System in den Fokus. »Beispiel: Der Mittelmeertourismus erzeugt zwar regional und national Einkommen (Ökonomie), führt aber nicht selten zu einem Absinken des Grundwasserspiegels vor Ort (Ökologie), worunter lokale Verbraucher und die Landwirtschaft leiden (Soziales), weshalb es konkrete Nutzungsregulierungen der Ressource braucht (Politik).«10

6 Demuth, Reinhard / Ralle, Bernd / Parchmann, Ilka: Basiskonzepte – eine Herausforderung für den Chemieunterricht, in: Chemikon. Forum für Unterricht und Didaktik 2 (2005), S. 55– 60, hier S. 57. 7 Lambert, David: Geographical concepts, in: Rolfes, Manfred / Uhlenwinkel, Anke (Hg.): Metzler Handbuch 2.0 Geographieunterricht. Ein Leitfaden für Praxis und Ausbildung, Braunschweig 2013, S. 174–181, hier S. 175. 8 Vgl. Fögele, Janis: Entwicklung basiskonzeptionelle Verständnisses in geographischen Lehrerfortbildungen, Münster 2016. 9 Mehren, Martina / Mehren, Rainer: Kompetenzorientiert Unterrichten aufgezeigt am Beispiel des Fachs Geographie, in: Bresges, André et al. (Hg.): Kompetenzen perspektivisch – Interdisziplinäre Impulse für die LehrerInnenbildung, Münster 2015, S. 57–82, hier S. 57. 10 Fögele, Janis / Sesemann, Oliver / Westphal, Nils: Mit Basiskonzepten die fachliche Tiefenstruktur des Geographieunterrichts gestalten, in: Terrasse Online, 18. 05. 2021. URL: https:// www.klett.de/alias/1136693?newsletter=news/geo/23248/artikel1 [Stand 04. 06. 2021].

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151

Die vier Raumkonzepte entstammen der geographischen Unterscheidung zwischen dem physisch-materiellen Raum (Raum als Container und Beziehungsraum) und dem mentalen Raum (wahrgenommener Raum und konstruierter Raum).11 Sie erweitern das Raumverständnis der Geographie und eröffnen Lehrenden und Lernenden als weiteres Basiskonzept jeweils eigene, sich teilweise überlappende Perspektiven auf den geographischen Untersuchungsgegenstand (Abb. 2).12

Abb. 2: Basiskonzepte der Geographie.13

Es ist offensichtlich, dass Lehrer*innen anhand von geographischen Basiskonzepten einzeln und in Kombination lernen können, die Fachlichkeit ihres Geo11 Vgl. ebd. 12 Wardenga, Ute: Räume in der Geographie. Zu Raumbegriffen im Geographieunterricht, in: Wissenschaftliche Nachrichten 120,11/12 (2002), S. 47–52. 13 Fögele, Janis / Sesemann, Oliver / Westphal, Nils: Mit Basiskonzepten die fachliche Tiefenstruktur des Geographieunterrichts gestalten, S. 2.

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graphieunterrichts maßgeblich zu steuern. Diese Leitideen des Geographieunterrichts sind in besondere Weise dazu geeignet, als Instrument der Unterrichtsplanung und -durchführung eingesetzt zu werden und besitzen für Lehrkräfte einen großen Wert, da sie als fachlicher Relevanzfilter dienen können und auf die »Grammatik« des Fachlichen fokussieren.14 Es muss betont werden, dass viele der genannten Vorteile auch für die Gruppe der Schüler*innen gelten. Diese können mithilfe solcher leitenden Denkwerkzeuge sukzessive lernen, eine geographische Perspektive einzunehmen. Sie bauen somit ein übergeordnetes konzeptionelles Verständnis für das Fach auf, indem sie die einzelnen geographischen Basiskonzepte als fachliche ›Brillen‹ nutzen, mit deren Hilfe einzelne Phänomene aus geographischer Perspektive betrachtet und strukturiert werden können. Sie werden sinnvollerweise von der Lehrkraft sukzessive und über die direkte Anwendung im Kontext geographischer Phänomene eingeführt.

3.

Studentische Lernprodukte als Indikatoren einer erfolgreichen Anwendung geographischer Basiskonzepte

Orientiert an der Ausgangsfragestellung dieses Beitrags,15 soll exemplarisch verdeutlicht werden, wie studentische Lernprodukte genutzt werden können, um die Anwendung geographischer Basiskonzepte in der Unterrichtsplanung angehender Lehrkräfte zu erproben. Zentrale Aufgabenstellung eines Seminars im Sommersemester 2020 war es, eine durch einen digitalen Leitfaden geführte Schüler*innen-Exkursion zu planen, durchzuführen und zu evaluieren. Exkursionsziel sollte Bornheim und seine durch Raumnutzungskonflikte geprägten Rheinischen Gärten sein. Nachfolgend werden Raum, Lernziele und die von den Studierenden entworfenen Unterrichtsmaterialien näher dargestellt, um kurz zu verdeutlichen, inwiefern es den Studierenden gelungen ist, einzelne geographische Basiskonzepte für ihre Unterrichtsplanung zu nutzen. Die Bedeutung solcher Belege ist nicht zu unterschätzen. Wenn wir die Geographie als Zukunftsfach verstehen und etablieren wollen, braucht es Lehrer*innen, welche die Leitideen und big ideas unseres Faches verstehen, anwenden und an zukünftige Schüler*innen weitergeben können.16 14 Ebd. 15 »Wieso raubt es dem Obst- und Gemüsebauern Hoffmann aus Bornheim den Schlaf, wenn Familie Müller im Baumarkt Gartenmöbel kauft?« 16 Diese ausdrückliche Forderung nach dem Verstehen einer Fachkultur verweist auf Gruschka, der sich bereits mehrfach kritisch mit einer bloß methodisch orientierten Lehr-Lerntätigkeit auseinandergesetzt hat. Vgl. dazu: Gruschka, Andreas: Verstehen lehren. Ein Plädoyer für guten Unterricht, Stuttgart 2019.

Die Geographie als Zukunftsfach verstehen und lehren lernen

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Der Präsentation der Exkursionsmaterialien geht eine zusammengefasste Darstellung des Raumes rund um Bornheim voraus. Dieser Exkurs dient der Veranschaulichung des Mensch-Umwelt-Systems vor Ort (s. Abb.2).

3.1

Exkurs: Die Landwirtschaft und Raumnutzungskonflikte in den Rheinischen Gärten am Beispiel Bornheims

Bornheim liegt in der Rheinischen Bucht, auch Kölner Bucht genannt, welche im Westen vom Vorgebirge mit dem Höhenzug der Ville, im Osten durch den Rhein und im Süden von Bonn und im Norden von Köln begrenzt wird. Die Region um Bornheim wird auch Rheinische Gärten genannt. Sie besitzt überregionale Bedeutung für den Obst-und Gemüseanbau und verfügt über intensiv genutzte Ackerflächen.17 Man spricht aufgrund der Nähe zu den Ballungsräumen Köln und Bonn in den Rheinischen Gärten von einer urban geprägten Landwirtschaft. Die ansässigen Bauern produzieren oftmals für den lokalen Markt und Sonderkulturen, wie Erdbeeren, Spargel und Rhabarber.18 Die Region um Bornheim ist eines der größten Anbaugebiete für Spargel und Erdbeeren in Deutschland. Seit dem Jahr 2016 ist der ökologische Landbau im Aufwind – aktuell gibt es neun Bio-Betriebe.19 Die Rheinischen Gärten stellen einen Gunstraum für die Landwirtschaft dar. Die Böden rund um die Ville sind besonders fruchtbar, da es sich um Braunerden und Parabraunerden handelt, die mit einer Lössschicht bedeckt sind.20 Zusätzlich zu den guten Böden ist das Klima im Vorgebirge für die Landwirtschaft sehr vorteilhaft. Im Vorgebirge lassen sich ein früher Frühlingsanfang und hohe Julitemperaturen verzeichnen, und die Anzahl der Frosttage ist sehr gering. Minustemperaturen lassen sich nur in den Monaten von Dezember bis Februar messen. Die Temperaturen im Juli liegen im Durchschnitt bei 18,2 °C. Hinzu kommt die vorteilhaft hohe Sonneneinstrahlung durch die Lee-Lage der Ville mit Ost-Süd-Exposition. Die Kölner Bucht gilt als eine der wärmsten Regionen Deutschlands. Die Landwirte können dementsprechend früher und häufiger ernten als in vielen anderen Regionen, was ihnen einen Marktvorteil verschafft.21 17 Vgl. Stieh, Eckhart: Die Stadt Bonn und ihr Umland. Ein geographischer Exkursionsführer, Bonn 1998. 18 Bei Sonderkulturen handelt es sich um den Anbau von Kulturpflanzen, der nicht überall möglich ist, da die Pflanzen besondere Bedingungen an den Standort stellen und die Produktion sehr arbeits- und kostenintensiv ist. 19 Landschafts-Schutzverein Vorgebirge e.V.: Landwirtschaft in Bornheim auf dem Rückzug, URL: http://www.lsv-vorgebirge.de/html/heimatlexikon.html [Stand: 03. 06. 2021]. 20 Vgl. Stieh, Eckhart: Die Stadt Bonn und ihr Umland. Ein geographischer Exkursionsführer. 21 Vgl. ebd.

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Ein weiterer Vorteil sind die vielen windstillen Tage und die sommerlichen Niederschlagsmaxima. Die Stadt Bornheim dient neben der Landwirtschaft als Standort von insgesamt sechs Gewerbeparks, welche aktuell eine Fläche von 140 ha einnehmen. Insbesondere im Bereich der Logistik von landwirtschaftlichen Produkten gewinnt Bornheim zunehmend an überregionaler, nationaler und internationaler Bedeutung. Einzelne Gewerbeparks sind noch nicht vollends ausgebaut oder befinden sich im Entstehungsprozess. In den letzten gut 20 Jahren haben die gewerblichen Betriebsflächen um über 15 % zugenommen. Zugleich lässt sich in den vergangenen Jahrzehnten eine starke Siedlungsflächenexpansion beobachten. Über ein Drittel des Baubestands in Bornheim (knapp 50.000 Einwohner*innen und 21.000 Wohnungen) stammt aus den letzten 30 Jahren, und die Wohnungsbestände sollen bis zum Jahr 2030 nochmals um 10–12 % erweitert werden.22 Zusammengefasst haben sich die landwirtschaftlichen Nutzflächen (55 %) in den vergangenen knapp 30 Jahren um etwa 10 % zugunsten von Gewerbegebieten und Siedlungsflächen verringert. Auch die Anzahl der landwirtschaftlichen Betriebe ist um mehr als 30 % seit 2005 zurückgegangen. Bornheim hat sich somit im Laufe der vergangenen Jahrzehnte von einem landwirtschaftlich geprägten zu einem semi-urbanen Raum entwickelt, in dem unterschiedliche Akteure, wie Landwirte, Politiker, Wohnbevölkerung, Umweltschützer und das Gewerbe einen zunehmenden Raumnutzungskonflikt austragen.

3.2

Studentische Lernprodukte als Indikatoren für die Anwendung von geographischen Basiskonzepten – eine exemplarische Betrachtung

Das Raumbeispiel der Rheinischen Gärten veranschaulicht einen klassischen Raumnutzungskonflikt, der als Gegenstand für den Geographieunterricht besonders viele fachdidaktische Anschlüsse bietet und zudem noch zahlreiche Exkursionsmöglichkeiten für praxisnahe Projektarbeiten eröffnet. Hier zeigt sich sehr beeindruckend, von wie vielen natürlichen und menschlichen Faktoren ein Raum beeinflusst und charakterisiert werden kann. Es kann für Lehrende sehr anspruchsvoll sein, einen geographischen Inhalt so aufzubereiten, dass die Komplexität des Fallbeispiels reduziert und von den Lernenden angemessen verstanden, reproduziert und angewandt werden kann. Dozenten können von Studierenden entworfene Aufgabenstellungen und Methoden als Indikatoren 22 Vgl. Meurer, Christoph: Wohnen in der Region. Wie groß soll Bornheim werden, in: RPOnline, 13. 11. 2019. URL: https://ga.de/region/voreifel-und-vorgebirge/bornheim/wie-gros s-soll-bornheim-werden_aid-47140037 [Stand: 05. 06. 2021].

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dafür nutzen, ob sie mithilfe der geographischen Basiskonzepte diese Herausforderung erfolgreich bewältigen und zeitgemäßen Geographieunterricht planen und durchführen können. Nachfolgend werden einige dieser Aufgabenstellungen und Methoden, welche von Studierenden in einem Exkursionsdidaktikseminar erstellt und erprobt wurden, als studentische Lernprodukte und Indikatoren exemplarisch dargestellt. 3.2.1 Die Mystery-Methode – Indikator zur Anwendung des Basiskonzepts »Mensch-Umwelt-System« – Studentisches Lernprodukt I Das geographische Hauptbasiskonzept ist das »Mensch-Umwelt-System«. In dem erläuterten Raumbeispiel der Rheinischen Gärten ist offensichtlich, wie das naturgeographische (Umwelt-)System (Klima, Böden, Relief etc.) und das humangeographische (Mensch-)System (landwirtschaftliche Nutzung, Bevölkerungs- und Siedlungsentwicklung etc.) sich gegenseitig beeinflussen (s. Abb.1 & 2). Es handelt sich um ein Wirkungsgeflecht von Einzelfaktoren, das einer systemischen Betrachtungsweise bedarf. Diese systemische Betrachtungsweise wird in der Geographiedidaktik zusammengefasst als Systemkompetenz bezeichnet. »Unter Systemkompetenz wird die Fähigkeit verstanden, – einen komplexen Wirklichkeitsbereich in seiner Organisation und seinem Verhalten als System zu erkennen, zu beschreiben und zu modellieren […] und – auf der Basis dieser Modellierung Prognosen und Maßnahmen zur Systemnutzung und -regulation zu treffen.«23

Die Förderung der Systemkompetenz bei Schüler*innen ist eine der Hauptaufgaben von Lehrenden der Geographie und somit zentraler Bestandteil der Lehrerbildung.24 Die »Mystery-Methode«25 eignet sich besonders, um die Systemkompetenz bei Schüler*innen anzubahnen und das Basiskonzept des »Mensch23 Mehren, Martina / Mehren, Rainer: Kompetenzorientiert Unterrichten aufgezeigt am Beispiel des Fachs Geographie, in: Bresges, André et al. (Hg.): Kompetenzen perspektivisch – Interdisziplinäre Impulse für die LehrerInnenbildung, Münster 2015, S. 57–82, hier S. 57. 24 Vgl. Deutsche Gesellschaft für Geographie: Bildungsstandards im Fach Geographie für den Mittleren Schulabschluss, Bonn (2020). 25 »Bei einem Mystery besteht die Aufgabe darin, eine rätselhafte Leitfrage zu einem Fallbeispiel zu beantworten. Dazu erhalten die Schülerinnen und Schüler einen Stapel von 20–30 ungeordneten Informationskärtchen, auf denen Ereignisse und Hintergründe zu diesem Fall notiert sind. Ihre Aufgabe besteht darin, aus diesen Kärtchen ein Wirkungsdiagramm zu entwickeln, mit dessen Hilfe sie die Leitfrage umfassend beantworten können.« Dazu: Mehren, Martina / Mehren, Rainer: Kompetenzorientiert Unterrichten aufgezeigt am Beispiel des Fachs Geographie, S. 59f.

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Umwelt-Systems« zu berücksichtigen.26 Die Studierenden haben dies in dem Fallbeispiel erkannt und sich dafür entschieden, dass sich der Raumnutzungskonflikt in den Rheinischen Gärten im Sinne einer schüleraktivierenden Aufgabenkultur in Form eines systemischen Wirkungsdiagramms (s. Abb.1) nachvollziehbar abbilden lässt. 3.2.2 Lernaufgabe zur Analyse der räumlichen Reichweite von geographischen Prozessen – Indikator zur Anwendung des Basiskonzepts »geographische Maßstabsebenen« – Studentisches Lernprodukt II Geographische Fragestellungen werden nach den Basiskonzepten auf mehreren Maßstabsebenen durchdacht. So haben in unserem Fallbeispiel der Bau und die Nutzung der landwirtschaftlich orientierten Gewerbeparks in Bornheim Auswirkungen auf lokaler bis hin zur globalen Ebene. Auf lokaler Ebene kommt es beispielsweise zur Schaffung neuer Arbeitsplätze, zur Verdrängung landwirtschaftlicher Flächen und gleichzeitig zu einem lukrativen Absatzmarkt für die ansässigen Landwirte. Auf regionaler Ebene sorgt die Genossenschaft Landgard beispielsweise dafür, dass das Köln/Bonner Umland nicht nur mit regionalen Produkten, sondern auch mit landwirtschaftlichen Produkten aus aller Welt versorgt wird – mit allen positiven wie negativen ökonomischen und ökologischen Folgen. Die Student*innen haben mit der Berücksichtigung der geographischen Maßstabsebenen diesem Umstand Rechnung getragen und ein weiteres Basiskonzept bei der Formulierung einer Aufgabenstellung angewandt. Sie haben damit nicht nur den zu vermittelnden geographischen Inhalt (vor)strukturiert, sondern auch den Schüler*innen ein Denkwerkzeug zur Verfügung gestellt, um raumwirksame Entscheidungen in angemessener Tiefe analysieren zu können (s. Abb. 4). 3.2.3 Vernachlässigung des geographischen Raumkonzepts »Konstruierter Raum« – Fehlendes Lernprodukt III Die deutsche Schulgeographie arbeitet mit vier unterschiedlichen Klassifikationen für den Raum: den Raum als Container, den Raum als System von Lagebeziehungen (Beziehungsraum), den wahrgenommenen Raum und den konstruierten Raum (s. Abb. 2). 1. Raum als Container: Räume werden als abgrenzbare Behälter verstanden, in denen geographische Elemente enthalten sind, die erfasst und untersucht werden können. 26 Vgl. Vakahn, Leon / Rohwer, Gertrude / Schuler, Stephan: Diercke Methoden – Denken Lernen mit Geographie, Braunschweig 2007.

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Abb. 3: Von Studierenden entworfene Anleitung zur Erstellung eines Mysterys aus dem Sommersemester 2020.

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Abb. 4: Aufgabenstellung in einem von Student*innen entworfenem Exkursionsreader im Sommersemester 2020 – Berücksichtigung der geographischen Maßstabsebenen.

2. Beziehungsraum: Räume stehen miteinander in (Lage-)Beziehungen. Zwischen geographischen Elementen und verschiedenen Räumen bestehen Interaktionen. 3. Wahrgenommener Raum: Verschiedene Gruppen oder Individuen nehmen Räume unterschiedlich wahr und denken auf eigene Weise darüber. 4. Konstruierter Raum: Räume werden gemacht, indem über sie kommuniziert wird. Dabei bestehen Interessen und auch Unterschiede darin, wie über Räume gesprochen wird.27 Jedes Raumkonzept kann als eigene Perspektive auf den untersuchten Raum verstanden werden. Es ist für (angehende) Lehrer*innen sehr bedeutsam, die Raumkonzepte als erweitertes Raumverständnis der Geographie zu kennen und zur Systematisierung des fachlichen Denkens und der Unterrichtsplanung zu nutzen. Dozenten können die Raumkonzepte ebenfalls dafür verwenden, um das fachliche Denken und die Tiefenstruktur des Geographieunterrichts von Studierenden zu analysieren. In dem hier beschriebenen Fallbeispiel des Exkursionsdidaktikseminars haben die Studierenden beispielsweise den konstruierten Raum außer Acht gelassen haben. Der konstruierte Raum fragt danach, »wer unter welchen Bedingungen und aus welchen Interessen wie über bestimmte Räume kommuniziert und sie durch alltägliches Handeln fortlaufend produziert und reproduziert.«28 Es geht also sehr stark darum, wie der Raum politisch, wirtschaftlich, sozial und auch ökologisch konstruiert wird, um eigene Interessen durchzusetzen. Die Studierenden haben diese unterschiedlichen Positionen zum Standort Bornheim, welche sich zumeist gut in den öffentlichen Medien finden lassen, in ihren didaktischen Arrangements nur unzureichend berücksichtigt.

27 Vgl. Fögele, Janis / Sesemann, Oliver / Westphal, Nils: Mit Basiskonzepten die fachliche Tiefenstruktur des Geographieunterrichts gestalten, S. 5. 28 Rhode-Jüchtern, Tillmann: Raum (Begriffe und Konzepte), in: Böhn, Dieter / Obermaier, Gabriele (Hg.): Wörterbuch der Geographiedidaktik, Braunschweig 2012, S. 227f., hier S. 228.

Die Geographie als Zukunftsfach verstehen und lehren lernen

3.3

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Die geographischen Basiskonzepte als Reflexionstool von didaktischen Arrangements

Die Annahme, dass sich jedes der geographischen Basiskonzepte in einer Unterrichtseinheit oder -reihe wiederfinden lassen muss, wäre falsch. Vielmehr geht es um eine Überprüfung, welche der geographischen Denkstrategien das Kernanliegen und die Ziele des didaktischen Unterrichtsarrangements sinnvoll unterstützen. In der Seminararbeit bietet sich der geographische Würfel, welcher die Basiskonzepte sehr anschaulich zusammenbringt, als hervorragendes Reflexionstool an (Abb. 2). Mithilfe dieser Darstellung können sich Studierende für eine sinnstiftende Strukturierung der geographischen Inhalte sowie passenden Aufgabenstellungen und Methoden in ihrem Unterricht entscheiden und ihr Vorgehen begründen. Zugleich kann der Würfel nach den Unterrichtsversuchen der Studierenden dazu genutzt werden, deren didaktische Entscheidungen nicht nur unterrichtspraktisch, sondern auch vor dem Hintergrund der geographischen ›Grammatik‹ zu bestätigen oder begründet zu hinterfragen. Die geographischen Basiskonzepte sind somit in der Lehrerbildung des Fachs Geographie als wertvolles Reflexionstool für Lehrende und Lernende zu betrachten.

4.

Zusammenfassung

Das Unterrichtsfach Geographie ist ein Zukunftsfach, welches die großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts in den Fokus nimmt. Zentrales Denkwerkzeug der Geographie sind die geographischen Basiskonzepte. Sie sind als »Grammatik« des Faches und als zentraler Baustein der geographiedidaktischen Lehrer*innenbildung zu betrachten. Für Dozierende und Studierende sind die Basiskonzepte wichtige Planungs- und Strukturierungshilfen für den Unterricht sowie wertvolles Diagnose- und Reflexionswerkzeug für didaktische Arrangements in der Seminararbeit. Nicht zuletzt deshalb sind die geographischen Basiskonzepte als essentieller Bestandteil einer der Zukunft zugewandten geographiedidaktischen Fachkultur zu betrachten.

Literatur Demuth, Reinhard / Ralle, Bernd / Parchmann, Ilka: Basiskonzepte – eine Herausforderung für den Chemieunterricht, in: Chemikon. Forum für Unterricht und Didaktik 2 (2005), S. 55–60.

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Deutsche Gesellschaft für Geographie: Bildungsstandards im Fach Geographie für den Mittleren Schulabschluss, Bonn 2020. Fögele, Janis / Sesemann, Oliver / Westphal, Nils: Mit Basiskonzepten die fachliche Tiefenstruktur des Geographieunterrichts gestalten, in: Terrasse Online, 18. 05. 2021. URL: https://www.klett.de/alias/1136693?newsletter=news/geo/23248/artikel1 [Stand: 04. 06. 2021]. Fögele, Janis: Entwicklung basiskonzeptionelle Verständnisses in geographischen Lehrerfortbildungen, Münster 2016. Grunenberg, Janina: Multifunktionalität urbaner Landwirtschaft. Kurzzeitiger Trend oder Chance für die Stadtentwicklung?, in: Verbandszeitschrift des vhw, 01. 01. 2017. URL: https://www.vhw.de/fileadmin/user_upload/08_publikationen/verbandszeitschrift/F WS/2017/1_2017/FWS_1_17_Multifunktionalitaet_urbaner_Landwirtschaft_J._Grune nberg.pdf [Stand: 03. 06. 2021]. Gruschka, Andreas: Verstehen lehren. Ein Plädoyer für guten Unterricht, Stuttgart 2019. Kestler, Franz: Einführung in die Didaktik des Geographieunterrichts, Bad Heilbrunn 2015. Lambert, David: Geographical concepts, in: Rolfes, Manfred / Uhlenwinkel, Anke (Hg.): Metzler Handbuch 2.0 Geographieunterricht. Ein Leitfaden für Praxis und Ausbildung, Braunschweig 2013, S. 174–181. Landschafts-Schutzverein Vorgebirge e.V.: Landwirtschaft in Bornheim auf dem Rückzug, URL: http://www.lsv-vorgebirge.de/html/heimatlexikon.html [Stand: 03. 06. 2021]. Mehren, Martina / Mehren, Rainer: Kompetenzorientiert Unterrichten aufgezeigt am Beispiel des Fachs Geographie, in: Bresges, André / Dilger, Bernadette / Hennemann, Thomas / König, Johannes / Lindner, Heike / Rohde, Andreas (Hg.): Kompetenzen perspektivisch – Interdisziplinäre Impulse für die LehrerInnenbildung, Münster 2015, S. 57–82. Meurer, Christoph: Wohnen in der Region. Wie groß soll Bornheim werden, in: RP-Online, 13. 11. 2019. URL: https://ga.de/region/voreifel-und-vorgebirge/bornheim/wie-gross-so ll-bornheim-werden_aid-47140037 [Stand: 05. 06. 2021]. Rhode-Jüchtern, Tillmann: Raum (Begriffe und Konzepte), in: Böhn, Dieter / Obermaier, Gabriele (Hg.): Wörterbuch der Geographiedidaktik, Braunschweig 2012, S. 227–228. Stieh, Eckhart: Die Stadt Bonn und ihr Umland. Ein geographischer Exkursionsführer, Bonn 1998. Taylor, Liz: Basiskonzepte im Geographieunterricht. Schlüssel, um die Welt besser zu verstehen und den Unterricht besser zu planen, in: Praxis Geographie 41,7/8 (2011), S. 8–14. Uphues, Rainer: Basiskonzepte, in: Böhn, Dieter / Obermaier, Gabriele (Hg.): Wörterbuch der Geographiedidaktik, Braunschweig 2013. Vakahn, Leon / Rohwer, Gertrude / Schuler, Stephan: Diercke Methoden – Denken Lernen mit Geographie, Braunschweig 2007. Wardenga, Ute: Räume in der Geographie. Zu Raumbegriffen im Geographieunterricht, in: Wissenschaftliche Nachrichten 120,11/12 (2002), S. 47–52.

GESCHICHTE

Peter Geiss

Gehört Karl Poppers Falsifikationsprinzip in den Geschichtsunterricht? Zur Einordnung eines Schulfaches zwischen Geisteswissenschaften und empirischen Disziplinen1

1.

Geschichte als Geisteswissenschaft?

In Deutschland hat es sich seit dem 19. Jahrhundert eingebürgert, die Welt der Wissenschaften stark vereinfachend in zwei große Gruppen zu unterteilen: Auf der einen Seite stehen die empirischen Disziplinen, die es mit der Erfassung, Analyse und Auswertung beobachtbarer Fakten zu tun haben, wie die Physik, die Chemie oder die Biologie, also die naturwissenschaftlichen Fächer; auf der anderen Seite befinden sich die sogenannten Geisteswissenschaften, in denen es um das einfühlende »Verstehen« in hermeneutischer Tradition geht, wie etwa ganz klassisch in den Literaturwissenschaften oder in großen Teilen der Philosophie.2 Allerdings sind die disziplinären Felder nicht einmal innerhalb des deutschsprachigen Raumes klar definiert: So besteht etwa keine zweifelsfreie Abgrenzung zwischen Geisteswissenschaften und Kultur- oder Sozialwissenschaften.3 International verkompliziert sich die terminologische Situation noch dadurch, 1 Der vorliegende Beitrag führt Reflexionen meines folgenden Aufsatzes weiter: Geiss, Peter: Objektivität als Zumutung. Überlegungen zu einer postnarrativistischen Geschichtsdidaktik, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 17 (2018), S. 27–41. Für hilfreiche Rückmeldungen, Anregungen und Korrekturen zum Manuskript, das ich mit Rainer Kaenders ausführlich diskutieren konnte, danke ich den Herausgebern, für die Erstellung des Literaturverzeichnisses und weitere Korrekturen Friederike Schürmann. 2 Vgl. die sehr knappe Definition der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften: Was sind die Geisteswissenschaften? Text unter URL: https://abouthumanities.sagw.ch/02-was-geisteswissenschaften.html [Stand: 19. 10. 2021]; ähnlich Danto, Arthur C.: Analytische Philosophie der Geschichte, übers. von Behrens, Jürgen, Frankfurt am Main 1980, S. 328. »Empirisch« ist mit Karl Popper gedacht keinesfalls ein Gegensatz zu »theoretisch«, da seiner Auffassung nach auch die naturwissenschaftliche Empirie von theoretischen Annahmen ausgehen muss. Vgl. Popper, Karl: The Logic of Scientific Discovery, London, New York 2002 (Routledge Classics), S. 90. Die Problematik einer Anwendung eines subjektzentrierten Verstehensbegriffes auf die Geschichtswissenschaft diskutiert erhellend Mommsen, Wolfgang J.: Wandlungen im Bedeutungsgehalt der Kategorie des »Verstehens«, in: Meier, Christian / Rüsen, Jörn, Historische Methode, München 1988, S. 200–226. 3 Vgl. die voranstehend zitierte Definition der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften.

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dass Bezeichnungen wie das englische »humanities« oder das französische »sciences humaines« für das im Deutschen als »geisteswissenschaftlich« bezeichnete Disziplinengefüge verwendet werden.4 Wilhelm Dilthey begründete 1883 die Abtrennung der Geisteswissenschaften von den Naturwissenschaften klassisch mit folgender Denkfigur, die in Variationen bis heute einflussreich geblieben ist: »Der Beweggrund nämlich, von welchem die Gewohnheit ausgegangen ist, diese Wissenschaften als eine Einheit von denen der Natur abzugrenzen, reicht in die Tiefe und Totalität des menschlichen Selbstbewußtseins. Unangerührt noch von Untersuchungen über den Ursprung des Geistigen, findet der Mensch in diesem Selbstbewußtsein eine Souveränität des Willens, eine Verantwortlichkeit der Handlungen, ein Vermögen, alles dem Gedanken zu unterwerfen und allem innerhalb der Burgfreiheit seiner Person zu widerstehen, durch welche er sich von der ganzen Natur absondert.«5

Vereinfachend ist davon auszugehen, dass sich das schulische Fächerspektrum in Deutschland zwar nicht restlos, aber doch weitgehend in die Geisteswissenschaften als verstehend-hermeneutische und die Naturwissenschaften als empirische Disziplinen einteilen lässt – wobei der häufig mit den Naturwissenschaften assoziierten, aber selbst nicht empirischen Mathematik wahrscheinlich eine Sonderstellung zukommt.6 Eine Aktivität wie die Interpretation eines Hölderlin-Gedichts im Deutschunterricht stellt hier keinerlei Zuordnungsprobleme: Schülerinnen und Schüler, die Lyrik deuten, vollziehen ganz eindeutig eine hermeneutisch-verstehende Denkoperation. Zwar können etwa bei der Feststellung des Versmaßes, des Reimschemas oder dem Ausmachen von Enjambements durchaus ›empirisch feststellbare Fakten‹ erfasst werden; die Bearbeitung dieser Ebene wird aber nach wohl konsensfähiger Auffassung sicherlich nicht den Kern dessen ausmachen, was wir gemeinhin unter einer Gedichtinterpretation begreifen, sondern wird sich eher als eine technische Vorbereitung derselben verstehen lassen.7 Aber wie verhält es sich im Vergleich dazu mit der Interpretation einer historischen Quelle im Geschichtsunterricht? Haben wir es hier ebenfalls mit einer hermeneutisch-verstehenden Aktivität geisteswissen4 Vgl. ebd. 5 Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1, Leipzig 1922 [EA 1883], S. 6, zit. nach dem Digitalisat unter URL: https://archive.org/details/einleitun gindieg00dilt [Stand: 22. 09. 2021]; vgl. zu Dilthey Mommsen, Wolfgang J.: Wandlungen, S. 204. 6 Einer meiner Mathematiklehrer pflegte sein Fach demgegenüber als »Königin der Geisteswissenschaften« zu bezeichnen. 7 Im vorlegenden Beitrag nehme ich (wie schon Mommsen, Wolfgang J.: Wandlungen, insbes. S. 217) eine kritische Haltung gegenüber einer ›Überdosierung‹ hermeneutisch-verstehender Ansätze im Fach Geschichte ein, möchte diese Kritik aber in keiner Weise auf andere Fächer wie die Literaturwissenschaften ausdehnen, deren Weltzugänge für den kulturellen Reichtum einer Gesellschaft entscheidend sind.

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schaftlichen Typs zu tun oder kommen hier Analysemodi zumindest mit ins Spiel, die wir eher dem Feld der empirischen Disziplinen zuordnen würden? – Und wenn dem so ist, sind diese Modi dann denen der Naturwissenschaften verwandt oder handelt es sich um ganz eigene, spezifisch historische? Im vorliegenden Beitrag geht es mir um die Diskussion der Frage, inwieweit das Schulfach Geschichte dem geisteswissenschaftlichen Feld zuzuordnen ist und wo es vielleicht doch eher als Teil des Kanons der empirischen Disziplinen zu gelten hat. Eine abschließende Beantwortung dieser Frage wird im engen Rahmen des vorliegenden Aufsatzes schon dadurch verunmöglicht, dass mit der Erziehungsfunktion des Geschichtsunterrichts eine zusätzliche, stark normative Komponente zum Tragen kommt, die in der Geschichtswissenschaft zwar nicht gänzlich fehlt, aber doch nicht so sehr im Vordergrund steht.8 Ein möglicher Prüfstein für die Diskussion, ob das Schulfach Geschichte eher dem geisteswissenschaftlichen Feld oder eher den empirischen Wissenschaften zuzuordnen ist, scheint mir in der Frage zu liegen, wie es dieses Fach mit dem Erkenntnisprinzip der Falsifikation hält, das Karl Popper in seinem wissenschaftstheoretischen Hauptwerk Logic of Scientific Discovery (Logik der Forschung) herausgearbeitet hat.9 Dass das Falsifikationsprinzip in den naturwissenschaftlichen Schulfächern zur Anwendung kommt, scheint mir zweifelsfrei zu sein: Dies geschieht immer, wenn eine der alltäglichen Erfahrung von Schülerinnen und Schülern entstammende Vorstellung – wie etwa in der Physik die Idee einer »Entwertung« von Energie – auf experimenteller Basis als nicht haltbar identifiziert und durch ein zu den Beobachtungen besser passendes Konzept – wie »Energieumwandlung« – ersetzt wird.10 Ich habe an anderer Stelle versucht, dies auf die Arbeit an histori8 Die normativ-erzieherische Dimension des Geschichtsunterrichts und deren Spannungsverhältnis zur analytischen thematisiert Doussot, Sylvain: Éducation à la défense et enseignement de l’histoire des guerres, in: Education et socialisation. Les Cahiers du CERFEE 48 (2018), zit. nach URL: https://doi.org/10.4000/edso.2972 [Stand: 24. 02. 2021]. 9 Das Werk ist zunächst 1935 in Wien auf Deutsch und dann später 1959 in einer erweiterten englischen Fassung erschienen. Im Folgenden zitiere ich nach der in Anm. 2 genannten englischen Ausgabe, da diese dem letzten Stand des Buches entspricht (vgl. Translators note, S. XIIf., von dort auch die Hinweise zur Publikationsgeschichte). 10 Vgl. zum naturwissenschaftlichem »Konzeptwechsel« mit dem genannten Beispiel ›Energie‹ und den zitierten Termini die Erläuterungen in: Duit, Reinders: Piko-Brief Nr. 3 (Februar 2010): Didaktische Rekonstruktion, S. 3f., zit. nach URL: https://www.ipn.uni-kiel.de/de/das-ipn/abtei lungen/didaktik-der-physik/piko/pikobriefe032010.pdf [Stand: 26.07. 2021]. Impulse zu einer möglichen Übertragung der Idee des Konzeptwechsels auf das historische Lernen verdanke ich Scheersoi, Annette: Lebewesen erforschen – biologiedidaktische Ansätze in der Lehrerbildung, in: Geiss, Peter / Ißler, Roland / Kaenders, Rainer (Hg.): Fachkulturen in der Lehrerbildung, unter Mitarbeit von Victor Henri Jaeschke, Göttingen 2016, S. 241–250, hier S. 246f. sowie Wethkamp, Vera / Hildebrand, Thomas / Blum, Ulrich: Lehramtsstudium an der Universität Bonn. Praxisorientierte und fachdidaktische Begleitung von Lernenden und Lehrenden, in:

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schen Schlüsselkonzepten wie »Nation« zu übertragen, sehe hier aber bezogen auf das Falsifikationsprinzip Grenzen und möchte die Anwendbarkeit des Begriffs »Konzeptwechsel« auf das Fach Geschichte im Folgenden nicht weiter diskutieren.11 Dazu an dieser Stelle nur so viel: Es macht einen erheblichen Unterschied, ob ein politisch-historisches Alltagskonzept der Schülerinnen und Schüler – etwa von »Nation« – als unterkomplex oder ethisch defizitär (z. B. aggressiv-identitär) hinterfragt oder ob ein physikalisches Alltagskonzept – wie »Energieentwertung durch Verbrauch« – als nicht im Einklang mit den Beobachtungen stehend überwunden wird. Nur im zweiten Fall wird man ohne Zögern den Begriff der Falsifikation verwenden können, wenn etwa die Schülerinnen und Schüler feststellen, dass die elektrische Energie, die ein Notebook arbeiten lässt, nicht einfach ›verschwindet‹, sondern u. a. in Wärmeenergie umgewandelt wird (was auch ohne Messung fühlbar ist und den Lüfter anspringen lässt…). Dieser Unterschied hat seinen wesentlichen Grund sicher in der von Karl Popper hervorgehobenen Tatsache, dass sich die Begriffe der Sozialwissenschaften – denen die Geschichtswissenschaft in diesem Punkt verwandt ist – überwiegend auf »abstract objects« beziehen.12 Im Gegensatz zu »Energie« ist »Nation« im Unterricht nicht sinnlich erfahrbar oder beobachtbar – und deswegen kann es auch keine empirisch gestützte Falsifikation des Konzepts geben.13 Der Geschichtsdidaktiker Ulrich Baumgärtner benennt die Schwierigkeit der Übertragung eines auf Falsifikation gestützten »Conceptual Change« auf den Geschichtsunterricht sehr klar: »Ein solcher Conceptual Change ist für die Naturwissenschaften von großer Bedeutung, da bestimmte neuartige Erklärungsmuster erschlossen werden müssen und Alltagstheorien eindeutig falsifiziert werden können. In Geschichte ist dies ungleich schwie-

ebd., S. 281–300, hier S. 295; mit weiterer Literatur zit. in: Geiss, Peter: Objektivität, S. 39f. sowie Anm. 66–69. 11 Der Begriff »Konzeptwechsel« wird u. a. erläutert in: Duit, Reinders: Piko-Brief Nr. 1 (Februar 2010): Schüler-Vorstellungen und Lernen von Physik, S. 2, zit. nach der in Anm. 10 angegebenen URL. 12 Popper, Karl: The Poverty of Historicism, London, New York 2002 [EA 1957], S. 125. 13 In dieser Hinsicht muss ich meine Kritik (Geiss, Peter: Objektivität, S. 39f., Anm. 40) an der Zurückweisung des Begriffs »Fehlkonzept« durch Hilke Günther-Arndts für den Geschichtsunterricht überdenken (bezogen auf Dies.: Historisches Lernen und Wissenserwerb, in: Dies. (Hg.): Geschichtsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, 2. Auflage, Berlin 2005, S. 23–47, hier S. 28). Wahrscheinlich ist es für das Fach Geschichte tatsächlich treffender, den Terminus »Fehlkonzepte« zu vermeiden und stattdessen von fachterminologischen Konventionsverstößen oder von unterkomplexer Begriffsverwendung zu sprechen. Ich danke Rainer Kaenders für den berechtigten Hinweis, dass ›Energie‹ erkenntnistheoretisch betrachtet auch keine ›empirische Realität an sich‹, sondern wie ›Kraft‹ ein wissenschaftliches Konzept ist. Dies scheint mir ganz auf der erkenntnistheoretischen Linie Karl Poppers zu liegen.

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riger, da unreflektierte Erklärungsversuche mitunter sehr weit tragen und ihr Ungenügen oft nur für den Experten offensichtlich ist.«14

Allerdings muss doch gerade in einer demokratischen Gesellschaft aufgrund des erheblichen Schadenspotenzials solcher »unreflektierter Erklärungsversuche« dringend der Versuch unternommen werden, ihre Kritik nicht an Fachleute zu delegieren, sondern zur Sache jener demokratischen Öffentlichkeit zu machen, in welche die Schülerinnen und Schüler gerade in der Oberstufe zunehmend hineinwachsen.15 Dies setzt – neben der sehr wichtigen, aber hier nicht fokussierten Prüfung der logischen Konsistenz von Argumentationen16 – irgendeine Form der Orientierung am Falsifikationsprinzip voraus.

2.

Normativität im historischen Lernen – ein Argument für die Zuordnung zu den Geisteswissenschaften?

Dem Schulfach Geschichte kommt – auch im Vergleich mit anderen Fächern – in besonderer Weise ein demokratischer Erziehungsauftrag und damit eben auch eine stark normative Dimension zu.17 Zwar verpflichtet z. B. das Schulgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen selbstverständlich alle Schulfächer auf die Vermittlung demokratischer und ethischer Werte,18 diese Verpflichtung scheint aber im Fach Geschichte deutlicher zum Tragen zu kommen als etwa in der Mathematik: Während sich die Notwendigkeit der Einführung von Grundrechenarten aus der universalen Eigenlogik des Faches ergibt19 und von normativen Setzun14 Baumgärtner, Ulrich: Wegweiser Geschichtsdidaktik. Historisches Lernen in der Schule, 2. Auflage, Paderborn 2019, S. 51, zit. als E-Book. 15 Zu dieser Aufklärungsfunktion des Faches: Jeismann, Karl-Ernst: Zum Verhältnis von Fachwissenschaft und Fachdidaktik – Geschichtswissenschaft und historisches Lernen, in: Ders.: Geschichte und Bildung. Beiträge zur Geschichtsdidaktik und zur Historischen Bildungsforschung, hg. von Jacobmeyer, Wolfgang / Schönemann, Bernd, Paderborn u. a. 2000, S. 73–86, hier S. 81. 16 Diese Prüfung der »internal consistency« ist Popper zufolge die erste Teststufe für eine Theorie. Popper, Karl: Logic, S. 9. Auch wenn diese Teststufe im Folgenden nicht weiter betrachtet wird, liegt hier natürlich ein eminent wichtiges Feld, in dem Schülerinnen und Schüler z. B. lernen, Widersprüche in geschichtswissenschaftlichen Theorien zu erkennen. 17 Vgl. Doussot, Sylvain: Education à la défense. 18 Vgl. Schulgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen vom 15. Februar 2005, §2, Abs. 2, zit. nach URL: https://recht.nrw.de/lmi/owa/br_bes_text?sg=0&menu=0&bes_id=7345&aufgehoben =N&anw_nr=2#NORM [Stand: 03. 07. 2021]. 19 Zur evidenteren Strukturierung anderer Fächer vgl. Stupperich, Martin: Orientierung in der Geschichte – aber wie?, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 60,11 (2009), S. 612– 628, hier S. 614. Das Neutralitätsversprechen der Mathematik kann natürlich in perfider Weise genutzt werden, um ideologische Botschaften in ›camouflierter‹ Form zu übermitteln (wichtiger Hinweis von Rainer Kaenders). Ein besonders verbrecherisches und inhumanes Beispiel hierfür sind ›Rechenaufgaben‹ in NS-Schulbüchern, die suggerieren sollten, dass die

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gen oder kulturellen Partikularismen unabhängig sein dürfte, ist im Fach Geschichte schon die Auswahl der Unterrichtsinhalte sowie deren begriffliche Fassung und Verknüpfung mit Leitfragen hochgradig von Wertehaltungen abhängig.20 Wenn etwa im deutschen Geschichtsunterricht eine gewisse Anzahl an Stunden auf die Vorgeschichte der gewaltsamen und autoritären »Reichsgründung« von 1871 und deren Vergleich mit dem gescheiterten demokratisch-liberalen Gründungsversuch von 1848/49 verwendet wird, so ist dies eben nicht mit der objektiven Bedeutsamkeit des Gegenstandsfeldes zu begründen. Denn weshalb soll die deutsche Geschichte in dieser Zeit ›objektiv‹ wichtiger sein als die Chinas oder Japans im 19. Jahrhundert? Vielmehr ergibt sich diese Auswahlentscheidung eben einzig und allein aus der normativen Einschätzung, dass den deutschen Entwicklungen zwischen 1848 und 1871 unter demokratiepädagogischen Gesichtspunkten in einem immer noch stark national ausgerichteten Erziehungssystem ein besonderer Bildungswert zukommt. Denn in diesem Zeitraum kann eine – gemessen an demokratischen Maßstäben – ausgeprägte Fehlentwicklung der deutschen Nationalgeschichte studiert werden.21 Dies geschieht letztlich in der Hoffnung, dass die Schülerinnen und Schüler Gefahren des Autoritarismus (Obrigkeitsstaat), Nationalismus und Militarismus in der deutschen Geschichte erkennen und auf dieser Grundlage eine Festigung ihres demokratischen Bewusstseins erfahren.22 Der Hintergrund der Auswahlentscheidung ist also ein eindeutig normativer – und er darf und muss dies in einem dem Grundgesetz verpflichteten Geschichtsunterricht auch sein. Aber eignet sich eine solche zweifellos normative Fundamentierung des Geschichtsunterrichts dazu, diesen glasklar den Geisteswissenschaften zuzuordnen Gesellschaft zu viel Geld für »erbkranke Kinder« ausgebe. Vgl. die Schulbuchquelle in folgendem Bericht über eine mathematikdidaktische Lehrveranstaltung: Hinzmann, Carolin J.: Mathematikschulbücher im Nationalsozialismus, in: GDM-Mitteilungen 87 (2009), S. 38–41, hier S. 40, zit. nach URL: https://ojs.didaktik-der-mathematik.de/index.php/mgdm/issue/ view/20 [Stand: 22. 09. 2021]. 20 Vgl. hierzu Max Weber: »Wertinteressen sind es, welche auch der rein empirisch-wissenschaftlichen Arbeit die Richtung weisen«. Weber, Max: Der Sinn der »Wertfreiheit« der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften (1917), in: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann. 7. Auflage, Tübingen 1988, S. 489–540, hier S. 511 (ferner zur Werteabhängigkeit wissenschaftlicher Fragestellungen ebd., S. 499–501 und 510). 21 Im Hintergrund steht die Debatte über einen »deutschen Sonderweg«: vgl. dazu Torp, Cornelius / Müller, Sven Oliver: Das Bild des Deutschen Kaiserreichs im Wandel, in: Dies. (Hg.): Das Kaiserreich in der Kontroverse, München 2009, S. 9–27 und Smith, Helmut Walser: Jenseits der Sonderweg-Debatte, in: ebd., S. 31–50, zit. nach dem Digitalisat unter https:// books.google.de [Stand: 23. 09. 2021]. 22 Vgl. im Rekurs auf den nordrhein-westfälischen Kernlehrplan bereits Geiss, Peter: »Wozu brauche ich das alles im Unterricht?« – Geschichtswissenschaft in der Lehrerbildung, in: Ders. / Ißler, Roland / Kaenders, Rainer (Hg.): Fachkulturen in der Lehrerbildung, unter Mitarbeit von Victor Henri Jaeschke, Göttingen 2016, S. 61–94, hier S. 78.

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und gegenüber den empirischen Disziplinen, insbesondere den Naturwissenschaften, abzugrenzen? Ein wesentlicher Einwand gegen Normativität als Abgrenzungskriterium könnte mit dem Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn darin gesehen werden, dass Auswahlentscheidungen in allen Wissenschaften letztlich von einem »Überzeugungskorpus« (»body of belief«) ausgehen, das nicht in den erforschten Tatsachen selbst angelegt oder der jeweiligen Disziplin immanent ist, sondern »von außen« kommt, z. B. aus einer anderen Disziplin, aus metaphysischen Wurzeln sowie aus »persönlichen oder historischen Zufällen«.23 Warum soll sich ein Astrophysiker eher mit schwarzen Löchern befassen als mit den Saturn-Monden oder eine Biologin eher mit dem Immunsystem von Mäusen als mit dem Stoffwechsel von Meeresalgen? Den zwingend und unabhängig von nicht in der Disziplin selbst oder ihrem Gegenstand angelegten Vorannahmen erforschenswerten Gegenstand gibt es – wenn man der Prämisse Kuhns folgt – in den Naturwissenschaften genauso wenig wie in der Geschichtswissenschaft.24 Ein mögliches Ersatzkriterium für die zur Unterscheidung von Naturwissenschaften und Geschichtswissenschaft ungeeignete Normativität könnte vielleicht, mit dem französischen Historiker Marc Bloch gedacht, die besondere Komplexität und fehlende Mathematisierbarkeit historischer Phänomene sein.25 In dieser enormen Komplexität der Welt des Sozialen sah auch der Wissenschaftsphilosoph Karl Popper einen wesentlichen Unterschied zum Untersuchungsfeld der Naturwissenschaften.26 Allerdings ließe sich hier ebenfalls wieder mit Thomas S. Kuhn einwenden, dass auch in der Welt der Naturwissenschaften die Möglichkeit, empirische Daten eindeutig auf theoretische Aussagen zu be-

23 Kuhn, Thomas S.: The structure of scientific Revolutions. Fourth Edition. With an introductory essay by Ian Hacking, Chicago, London 2012 [EA 1962], S. 17; zum Problem der Normativität in den Naturwissenschaften ferner Patzig, Günther: Das Problem der Objektivität und der Tatsachenbegriff, in: Koselleck, Reinhart / Mommsen, Wolfgang J. / Rüsen, Jörn (Hg.): Theorie der Geschichte, München 1977, S. 319–336, hier S. 320 (unter Verweis auf Kuhn und Popper). 24 John Dewey hat die lebensweltliche Einbettung von Erkenntnisinteressen besonders stark betont – und zwar sowohl für die Natur- als auch für die Sozialwissenschaften: »Es gibt kein uneigennütziges intellektuelles Interesse an physischen oder sozialen Stoffen.« Dewey, John: Die Theorie der Forschung. Aus dem Amerikanischen von Suhr, Martin, Frankfurt am Main 2008, S. 144. Die Wissenschaft zeichnet sich Dewey zufolge allerdings gegenüber anderen lebensweltlichen Interessensphären dadurch aus, dass sie »befreit vom direkten Bezug auf die Belange einer begrenzten Gruppe« sei (so ebd.). Die Bewusstmachung von Deweys Bedeutung für die Geschichtsdidaktik verdanke ich Sylvain Doussot. 25 Vgl. Bloch, Marc: Apologie pour l’histoire ou métier d’historien, in: Ders., L’histoire, La Guerre, La Résistance, hg. von Becker, Annette und Bloch, Etienne, Paris 2006, S. 843–985, hier S. 940. 26 Vgl. Popper, Karl: Historicism, S. 10f. Er relativierte dies dann allerdings wieder mit der Feststellung, dass auch naturwissenschaftliche Beobachtungen durch sehr viele schwer überschaubare Rahmenbedingungen beeinflusst würden. Vgl. ebd., S. 86.

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ziehen und diese damit zuverlässig zu überprüfen, nicht vorausgesetzt werden kann.27

3.

Testen und Falsifizieren auf der Basis von historischen Quellen?

Obwohl das Prinzip der Falsifikation nach Karl Popper nicht problemfrei ist, scheint es mir als mögliches Abgrenzungskriterium zwischen eher hermeneutischen Fächern, wie den Literaturwissenschaften, und empirischen Disziplinen, wie der Physik und anderen Naturwissenschaften, geeignet zu sein.28 Ich möchte am Beispiel einer nordrhein-westfälischen Abituraufgaben für Leistungskurse (2019) exemplarisch prüfen, ob und inwieweit auch der Geschichtsunterricht im Sinne Karl Poppers falsifizierend vorgeht. Dazu muss in aller Kürze erläutert werden, was es mit Falsifikation überhaupt auf sich hat. Das ist besonders wichtig, weil der mit dem deutschen »falsch« verwandte Begriff Poppers im Horizont der seit einigen Jahren geführten Diskussion über »Fake News« in eine Richtung denken lassen könnte, mit der Poppers Wissenschaftslehre überhaupt nichts zu tun hat, da sie sich durch ein Höchstmaß an Wahrheitsverpflichtung auszeichnet. Dies kommt etwa in folgendem Zitat aus dem Vorwort der ersten englischen Ausgabe seines Werkes (1959) zum Ausdruck: »The point is that, whenever we propose a solution to a problem, we ought to try as hard as we can to overthrow our solution rather than defend it.«29 Die in diesem Zitat erkennbare Haltung hat den liberalen Denker Ralf Dahrendorf veranlasst, Karl Popper als herausragendes Beispiel für jene Menschen zu würdigen, die im 20. Jahrhundert den von verschiedenen Ideologien ausgehenden »Versuchungen der Unfreiheit« konsequent widerstanden haben.30 Poppers wissenschaftstheoretische Grundannahme besteht in der Überzeugung, dass Wissenschaft immer mit Modellen und Theorien arbeiten muss, die einem fortwährenden empirischen »Test« zu unterwerfen sind.31 Gute Wissenschaft zeichnet sich seiner Auffassung nach dadurch aus, dass sie ihre Modelle und Theorien nicht durch vage Formulierung und damit mangelnde Überprüfbarkeit oder 27 Vgl. Kuhn, Thomas S.: The structure of scientific Revolutions, S. 146. 28 Die Idee eines Abgrenzungskriteriums (»criterion of demarcation«) zwischen diesen Wissenschaftswelten wurde von Popper formuliert, wobei er nicht von Geisteswissenschaften spricht, sondern von »metaphysical speculation«, was ich wegen der tendenziell pejorativen Aufladung des Begriffs nicht übernehme. Popper, Karl: Logic, S. 10f. 29 Popper, Karl: Logic, S. XIX. 30 Dahrendorf, Ralf: Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung, München 2008; zu Popper vgl. ebd., S. 44–46. 31 Vgl. Popper, Karl: Logic, S. 7, 9f.

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Dogmatismus gegen Widerlegung absichert, sondern diese ganz im Gegenteil möglichst umfassend dem ›Härtetest‹ der empirischen Beobachtung aussetzt.32 Hält eine Theorie einem solchen Test nicht stand, weil Beobachtungen im Widerspruch zu ihren zentralen Aussagen stehen, dann gilt sie als falsifiziert.33 Dies hätte z. B. Albert Einsteins Relativitätstheorie widerfahren können, wenn eine Sonnenfinsternis im Jahr 1919 die von ihm vorhergesagte Ablenkung des Lichts von Sternen durch die von der Sonnenmasse bedingte Krümmung der Raumzeit nicht sichtbar gemacht hätte.34 Aus Poppers Sicht ist es niemals möglich, eine Theorie abschließend zu verifizieren,35 denn dies würde voraussetzen, dass alle von dieser Theorie vorhergesagten Phänomene tatsächlich und umfassend beobachtet wurden.36 Eine überzeugende Theorie zeichnet sich nach seinem Verständnis dadurch aus, dass sie sich vorläufig gegen intensive Bemühungen um ihre Falsifikation behauptet hat.37 Ich gehe davon aus, dass zwischen diesem Gedanken Poppers und dem, was der Historiker Reinhart Koselleck das »Vetorecht der Quellen« genannt hat, eine Analogie besteht.38 So wie Popper schließt auch Koselleck Verifikation auf empirischer Basis – bei ihm Quellenbasis – aus und hält nur Falsifikation für möglich: »Streng genommen kann uns eine Quelle nie sagen, was wir sagen sollen. Wohl aber hindert sie uns, Aussagen zu machen, die wir aufgrund der Quellen nicht machen dürfen. Die Quellen haben ein Vetorecht. Sie verbieten uns, Deutungen zu wagen oder 32 Vgl. ebd., S. 10; und Popper, Karl: Historicism, S. 123 (»[…] just because it is our aim to establish theories as well as we can, we must test them as severely as we can«); ganz ähnlich für die Geschichtswissenschaft: Bloch, Marc: Apologie pour l’histoire, S. 911. 33 Vgl. die voranstehend (Anm. 32) zitierten Werke und Stellen. 34 Vgl. Hawking, Stephen: Eine kurze Geschichte der Zeit, aus dem Engl. übers. von Kober, Hainer, 17. Auflage, Reinbek bei Hamburg, 2017, S. 47–50. Dieses Beispiel zog auch Popper selbst heran: Karl Popper – Ein Gespräch (1974), online unter: https://www.youtube.com/wa tch?v=ZO2az5Eb3H0 [Stand: 03. 07. 2021], Minute 3.59–6.38. 35 Vgl. Popper, Karl: Logic, S. 18. 36 Vgl. Bohnsack, Ralf: Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden. 9. Auflage (E-Book), Opladen und Toronto 2014, S. 17 (Erläuterung von Poppers Zurückweisung empirischer »Verifikation«, zum hier nicht näher zu erläuternden Induktionsproblem ebd. S. 16); ferner (in Bezug auf Hume) Danto, Arthur C.: Analytische Philosophie der Geschichte, S. 129f. und Heinle, Johannes: Art. »Induktionsproblem«, in: Philoclopedia, zit. nach URL: https://www.philoclopedia.de/was-kann-ich-wissen/erkenntnistheorie/induktion sproblem/ [Stand: 08. 07. 2021]). 37 Popper, Karl: Logic, S. 10. Die äußerst knappe und vereinfachende Darstellung von Poppers Wissenschaftstheorie im voranstehenden Absatz basiert über die zitierten Stellen hinausgehend auch auf der sehr klaren Kurzdarstellung in: Hawking, Stephen: Eine kurze Geschichte der Zeit, S. 22. 38 Stefan Jordan spricht sogar von einer Übertragung des Popperschen Ansatzes auf die Geschichtswissenschaft: Jordan, Stefan: Vetorecht der Quellen, Version: 1.0, in: DocupediaZeitgeschichte, 11. 2. 2010, zit. nach URL: http://docupedia.de/zg/Vetorecht_der_Quellen [Stand: 09. 07. 2021].

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zuzulassen, die aufgrund eines Quellenbefundes schlichtweg als falsch oder als nicht zulässig durchschaut werden können. […] Das, was eine Geschichte zur Geschichte macht, ist nie allein aus den Quellen ableitbar: es bedarf einer Theorie möglicher Geschichten, um Quellen überhaupt erst zum Sprechen zu bringen.«39

Auch in der von Koselleck hervorgehobenen Unabdingbarkeit einer die Falsifikation überhaupt ermöglichenden Theoriebildung stimmt er mit Popper überein.40 Diese Quellen sind, mit Marc Bloch gesprochen, nichts anderes als »Spuren« (»traces«) eines vergangenen Geschehens.41 Allerdings ergibt sich Bloch zufolge ein wesentlicher Unterschied zur naturwissenschaftlichen Falsifikation von Theorien und Hypothesen aus der Tatsache, dass die Geschichtswissenschaft keine Möglichkeit hat, Experimente durchzuführen, um solche »Spuren« gezielt hervorzubringen.42 Sie ist somit immer auf Material angewiesen, das aus der Vergangenheit noch überliefert ist, eben auf die von Koselleck mit einem »Vetorecht« ausgestatteten Quellen.43 Der Unterschied zur Datenbasis der Naturwissenschaften ist aber vielleicht nicht ganz so groß, wie es zunächst den Anschein hat. Denn Karl Popper zufolge greifen die Naturwissenschaften auch nicht einfach und direkt auf »Erfahrungen« (von Realität) zu, sondern testen theoretische Aussagen durch Sätze über beobachtete Phänomene (»sentences tested by sentences«).44 Gegen eine Übertragung des Falsifikationsmechanismus auf den Bereich der Geschichtswissenschaft und des historischen Lernens ließe sich die These des Geschichstheoretikers Jouni-Matti Kuukkanen ins Feld führen, der zufolge anspruchsvollere interpretatorische Aussagen über vergangenes Geschehen überhaupt keinen »Wahrheitswert« (»truth value«) haben.45 Kuukkanen geht davon 39 Koselleck, Reinhart: Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt, in: Ders. / Mommsen, Wolfgang J. / Rüsen, Jörn (Hg.): Theorie der Geschichte, München 1977, S. 17–46, hier S. 45f. 40 Vgl. Popper, Karl: Logic, S. 90. 41 Vgl. Bloch, Marc: Apologie pour l’histoire, S. 887; ähnlich Danto, Arthur C.: Analytische Philosophie der Geschichte, S. 72 (»gegenwärtige Zeichen von Vergangenen«). Den Begriff der »Spuren« verwendet auch Barricelli, Michele: Schüler erzählen Geschichte. Narrative Kompetenz im Geschichtsunterricht, Schwalbach /Ts. 2005, S. 20. 42 Vgl. Bloch, Marc: Apologie pour l’histoire, S. 888. 43 Vgl. oben. Anm. 39. 44 Popper, Karl: Logic, S. 77; vgl. zur fehlenden direkten Zugänglichkeit auch der physikalischen Phänomene Danto, Arthur C.: Analytische Philosophie der Geschichte, S. 87f. 45 Kuukkanen, Jouni-Matti: Why we need to move from truth-functionality to performativity in historiography, in: History and Theory 54 (2015), S. 226–243, hier S. 233 (digitale Ausgabe DOI: 10.1111 /hith.10755); vgl. überdies die Rezension von Georg Gangl über Kuukkanen, Jouni-Matti: Postnarrativist Philosophy of Historiography, Basingstoke 2015, in: H-Soz-Kult 01. 07. 2015, zit. nach URL: https://www.hsozkult.de/searching/id/reb-23133?title=j-m-kuuk kanen-postnarrativist-philosophy-of-historiography&q=Georg%20Gangl&sort=newestPubl ished&fq=&total=8&recno=1&subType=reb [Stand: 11. 07. 2021]. Ähnlich wie Kuukkanen argumentieren bezogen auf Wahrheitswerte historischer Aussagen: Popper, Karl: Histori-

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aus, dass sich die Wahrheitswerte »wahr«/»falsch« nur auf einfache Tatsachenfeststellungen wie »Napoleon ist in Korsika geboren« beziehen ließen, während sich bei komplexeren Narrationen wie Christopher Clarks Erzählung von den »Schlafwandlern«, die 1914 sich und Europa in den Ersten Weltkrieg stürzten, oder Eric Hobsbawms Periodisierungskonzept des »kurzen 20. Jahrhunderts« nicht entscheiden ließe, ob sie als wahr oder falsch zu gelten hätten.46 Sie seien nur hinsichtlich der Qualität ihrer Begründung unterscheidbar – »more or less appropriate and warranted as suggestions for how to understand the world.«47 Diese Begründung wird von Kuukkanen nicht im Sinne einer empirischen Untermauerung verstanden, sondern in der Rationalität der Argumentation in einem Kontext sozialer Interaktion gesucht.48 In die Terminologie Poppers übersetzt, bedeutet dies, dass anspruchsvolle historische Deutungen und Narrationen nicht falsifizierbar wären, weil sie sich nicht auf der Basis empirischer Beobachtungen widerlegen ließen: In seiner Schrift The Poverty of Historicism sprach Popper explizit davon, dass historische Interpretationen weder be- noch widerlegbar seien und sprach ihnen den Status ›testbarer Theorien‹ rundweg ab.49 Auch mit Blick auf den Geschichtsunterricht wurde entsprechend angezweifelt, dass Falsifikation leistbar sein könnte.50

4.

Falsifikation durch Wissen? – Ein Aufgabenbeispiel aus dem Zentralabitur Nordrhein-Westfalen (Leistungskurse 2019)

Im Folgenden möchte ich am Beispiel einer ausgewählten Abituraufgabe aus Nordrhein-Westfalen untersuchen, inwieweit auf Prüfungsebene von Schülerinnen und Schülern die Anwendung des Falsifikationsprinzips erwartet wird. Da die Prüfungsanforderungen die Praxis des Geschichtsunterrichts natürlich nicht in ihrer Gesamtheit widerspiegeln und sich die nachfolgenden Überlegungen auf lediglich ein Beispiel aus der Abiturprüfung für Leistungskurse im Jahr 2019 beziehen, kommt den folgenden Beobachtungen ein ausgesprochen explorativer Charakter zu.51 Eine vollständige Analyse des Prüfungsformats ist nicht Ziel des

46 47 48 49 50 51

cism, S. 139f. und (Poppers Position insgesamt nahestehend) Hempel, Carl G.: The Function of General Laws in History, in: The Journal of Philosophy 39, 2 (1942), S. 35–48, hier zit. nach URL: http://www.jstor.org/stable/2017635 [Stand: 20. 10. 2021]. Vgl. mit den zitierten Beispielen Kuukkanen, Jouni-Matti: Why we need to move from truthfunctionality to performativity in historiography, S. 233. Ebd., S. 234. Vgl. ebd., S. 237f. Popper, Karl: Historicism, S. 139f. Vgl. Baumgärtner, Ulrich: Wegweiser Geschichtsdidaktik, S. 51. Für die Überlassung der Aufgaben danke ich der Qualitäts- und Unterstützungsagentur – Landesinstitut für Schule (QUA-LiS NRW), Soest. Betrachtet wird hier nur die erste der

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vorliegenden Beitrags. Entsprechend konzentriere ich mich auf diejenigen Teile der Aufgabe, in denen von den Schülerinnen und Schülern Sachurteile verlangt werden. Damit sind in der geschichtsdidaktischen Terminologie solche Urteile gemeint, die sich z. B. auf das Zutreffen von Aussagen über historische Kausalbeziehungen, die Gewichtung von Ursachen, Tatsachen etc. beziehen, also keine Werturteile.52 Die hier in den Blick zu nehmende Abituraufgabe strukturiert die Interpretation einer Textquelle aus der Endphase der DDR: Es handelt sich um eine von dem evangelischen Pfarrer und führenden Oppositionellen Friedrich Schorlemmer anlässlich seiner Ehrung durch die Carl-von-Ossietzky-Medaille gehaltene Rede.53 Darin verleiht er seiner Freude über den Sturz der SED-Diktatur Ausdruck.54 Zugleich äußert der Redner aber seine Besorgnis angesichts des Vordringens nationalistischer Strömungen, die aus seiner Sicht auch die positiven Errungenschaften des Sozialismus hinter sich lassen und, beladen mit neuen Illusionen und Enttäuschungsrisiken, ihre Zuflucht nun in der Herstel-

insgesamt drei Aufgaben des Sets, GE LK HT 1. Die zweite (GE LK HT 2) wird hier ausgelassen, da sie strukturell in dem hier interessierenden Teil stark der ersten entspricht. Es geht um eine in Kenntnis der späteren Entwicklung vorzunehmende Stellungnahme zu einer Prognose Joseph von Radowitz’, der in einer Denkschrift von 1847 den Trend zur nationalen Einheit Deutschlands als entscheidende Kraftströmung der Zeit ausmacht und seinen Monarchen auffordert, sich im Interesse Preußens an die Spitze der nationalen Sache zu stellen. Dies kann dann – wie im Erwartungshorizont vorgesehen – insbesondere mit Blick auf 1848 und erst recht auf die militärisch und ›von oben‹ verwirklichten Einigung Deutschlands als Antizipation der späteren (v. a. seit 1866 sehr gewaltsamen und ethisch hoch problematischen) Entwicklung eingestuft werden (ebd., S. 4). Unberücksichtigt bleibt auch die dritte Aufgabe des Sets (GE LK HT 3), die in ihrem letzten Teil eine Diskussion der Frage nach »einer Zäsur zwischen den Traditionen des deutschen Nationalismus und dem Nationalsozialismus« auf der Basis eines Textes des Historikers Andreas Fahrmeir vorsieht. Diese Aufgabe ist mit derart komplexen normativen Implikationen verbunden, dass mir eine Analyse im begrenzten Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht als sinnvoll erscheint. 52 Vgl. Weymar, Ernst: Werturteile im Geschichtsunterricht, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 21, 1970, S. 198–215, hier S. 202; ferner Jeismann, Karl-Ernst: »Geschichtsbewusstsein«. Überlegungen zur zentralen Kategorie eines neuen Ansatzes der Geschichtsdidaktik, in: Süssmuth, Hans (Hg.): Geschichtsdidaktische Positionen. Bestandsaufnahme und Neuorientierung, Paderborn u. a. 1980, S. 179–222; vgl. ferner mit weiterer Literatur Geiss, Peter: Nützliche Nachfragen aus Frankreich. Urteilsbezogene Arbeitsaufträge für den Geschichtsunterricht im deutsch-französischen Dialog, in: Bendick, Rainer / Bongertmann, Ulrich / Charbonnier, Marc / Collard, Franck / Stupperich, Martin / Tison, Hubert (Hg./Ed.): Deutschland und Frankreich – Geschichtsunterricht für Europa. Die deutsch-französischen Schulbuchgespräche im europäischen Kontext / France-Allemagne. L’enseignement de l’histoire pour l’Europe. Les rencontres franco-allemandes sur les manuels scolaires dans le contexte européen, Frankfurt am Main 2018, S. 154–170, hier S. 157. 53 Vgl. die Quellenangabe auf S. 1 des im Folgenden durchgehend zitierten Aufgabensets GE LK HT 1 (Abiturprüfung 2019). 54 »Wir haben die Ordnung des Big Brother zum Einsturz gebracht […]« Ebd. S. 2.

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lung nationaler Einheit suchten, wobei sie nach Möglichkeit die Geschichte ausblenden wollten.55 Die dreiteilige Aufgabe lautet folgendermaßen: »Interpretieren Sie die vorliegende Quelle, indem Sie – sie analysieren, (26 Punkte) – sie in den historischen Kontext einordnen (14 Punkte) und das politische Selbstverständnis des Redners charakterisieren (14 Punkte), (28 Punkte) – die Aussagen des Redners vor dem Hintergrund der weiteren Entwicklung beurteilen. (26 Punkte)«

In den Aufgabenteilen 1 und 2 werden eher simple Operationen der Quellenkritik, der Kontextualisierung und der Entnahme von Information gefordert, die hier nicht weiter interessieren müssen. Relevant ist hingegen das in der dritten Teilaufgabe verlangte Urteil, das dem Erwartungshorizont nach etwas zwischen Sach- und Werturteil changiert: Die Schülerinnen und Schüler sollen »vor dem Hintergrund der weiteren Entwicklung« das Zutreffen der vom Autor gemachten Aussagen beurteilen.56 Mögliche Lösungselemente werden dabei in die Rubriken »zustimmend« und »relativierend« eingeordnet.57 Tatsächlich sollen die Prüfungskandidatinnen und -kandidaten hier herausarbeiten, inwieweit die Aussagen Schorlemmers zutreffen (was dem von Popper nicht akzeptierten Prinzip der Verifikation entspricht) oder nicht zutreffen (was Poppers Falsifikation entspricht). Beispielhaft seien hier die Lösungspunkte »Skepsis des Auslandes gegenüber zunehmendem deutschen Nationalismus« oder »Wiedervereinigung als dominierendes Thema vor und nach den Wahlen 1990« genannt.58 Auf diese beiden Beobachtungen kann die Schülerin/der Schüler ihre/seine Zustimmung zu einem Teil der von Schorlemmer vorgetragenen Argumentation stützen. Aber woher gewinnt er oder sie diese beiden Beobachtungen? – Aus der eigenen Erfahrungswelt wohl nicht und aus empirischen Experimenten wohl erst recht nicht. Es ist davon auszugehen, dass die Kandidatin oder der Kandidat auf Wissen aus dem vorangehenden Unterricht unter Einschluss der dort verwendeten Lehrmaterialien und Quellen zurückgreift. Dasselbe gilt für die unter »relativierend« aufgeführten Gesichtspunkte, die dem Falsifikationsprinzip insofern zugeordnet werden können, als sie geeignet sind, Teile von Schorlemmers Situationsanalyse zu widerlegen oder zumindest anzuzweifeln. Das Gros der im Erwartungshorizont genannten Aspekte betrifft die Hoffnung des Redners auf eine Bewahrung der Eigenstaatlichkeit der DDR und eine Erneuerung des Sozialismus. Besonders deutlich wird dies in der folgenden Formulierung: 55 56 57 58

Ebd., S. 2f. Ebd., S. 4. Ebd. S. 4f. Ebd., S. 4.

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»Herausstellung, dass die vom Redner propagierte eigene sozialistische Alternative einer eigenstaatlichen DDR (Dritter Weg) in der politischen Diskussion nach der Volkskammerwahl im März keine besondere Rolle mehr spielte.«59

Wird hier eine in der Quelle enthaltene ›Theorie‹ Schorlemmers über die Situation Ende 1989 und die in ihr angelegten Möglichkeiten und Risiken falsifiziert? Was dem Erwartungshorizont nach geschehen soll oder kann, ist zunächst einmal Folgendes: Die Schülerin/der Schüler zieht historisches Wissen über die nach der Rede eintretenden Entwicklungen – v. a. über das Faktum der Vereinigung der beiden deutschen Staaten – heran, um tendenziell festzustellen, dass Schorlemmers politisches Projekt einer im demokratisch-reformsozialistischen Gewand fortbestehenden DDR nicht realistisch war. Schorlemmer formuliert nun aber bezogen auf dieses Projekt keinerlei falsifizierbare Aussagen. Er sagt nicht: »Die DDR wird ganz sicher fortbestehen und den Sozialismus in erneuerter, humaner und demokratischer Form fortführen.« Vielmehr spricht er den politischen Wunsch aus, dass dies so eintreten möge. Da aber das Artikulieren eines Wunsches die Prognose der Erfüllung ebendieses Wunsches in keiner Weise impliziert, können die zur Relativierung der Argumentation des Autors vorgebrachten Punkte überhaupt nichts falsifizieren. Aber was leisten diese Punkte dann eigentlich? Im Grunde legitimieren sie das unausgesprochene Werturteil, dass es nicht angemessen sein konnte, 1989 mit einem politischen Projekt aufzutreten, das schon unter Berücksichtigung der damals sichtbaren und von Schorlemmer ja auch angesprochenen ökonomischen und sozialen Trends zur deutschen Einheit so wenig Aussicht auf Erfolg hatte. Das ganz an der teleologischen Perspektive dieser nationalen Einheit orientierte Urteil ist kein wissenschaftliches im Sinne Poppers, sondern ein politisches und normatives, das seinen Maßstab im Wiedervereinigungsgebot der bis 1990 gültigen alten Präambel des Grundgesetzes nimmt.60 Letztlich geht es um eine Denkoperation nationalpädagogischen Typs mit der deutschen Einheit als Telos. Zugespitzt formuliert könnte man mit Karl Popper von einer »historizistischen« Argumentation sprechen: Einer historischen Person wird vorgehalten, die Zeichen der Zeit oder ein ominöses »Entwicklungsgesetz« hin zur nationalen Einheit nicht verstanden zu haben.61 59 Ebd. 60 Bundesgesetzblatt, Nr. 1, 23. Mai 1949, S. 1, aufzurufen unter URL: https://www.bgbl.de/xave r/bgbl/start.xav#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl149s0001b.pdf%27%5D__ 1625903437355 [Stand: 10. 07. 2021]. Dass dieser Maßstab ein legitimer ist, steht in einem dem Grundgesetz verpflichteten Unterricht außer Zweifel, aber er ist eben politisch-normativ, nicht wissenschaftlich. 61 »Historizismus« ist Popper zufolge keine Wissenschaft, sondern ein Glaubenssystem, das die Existenz (nicht beweisbarer) Gesetze annehme, denen der Gang der Geschichte unterworfen sei. Vgl. Popper, Karl: Historcism, S. 3 und passim. Vgl. ferner die knappe Darstellung seiner

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Es wäre durchaus möglich, die Rede Schorlemmers als Quelle in einem Prüfungskontext so einzusetzen, dass das von Koselleck benannte »Vetorecht« als historische Spielart des Falsifikationsprinzips zum Tragen käme. Dies würde aber ein gänzlich anderes Aufgabenformat vorsehen: »Setzen Sie sich auf der Grundlage der Quelle mit folgender These auseinander: Die Opposition in der DDR arbeitete auf die Vereinigung der beiden deutschen Staaten hin.«

Hier wäre die Quelle als empirische »Spur« oppositionellen Denkens im Jahr 1989 durchaus geeignet, diese These zu falsifizieren. Zwar inkarniert Schorlemmer die Opposition natürlich nicht als Ganzes, und es dürfte für Schülerinnen und Schüler schwer einschätzbar sein, wie repräsentativ seine Rede für das oppositionelle Spektrum der späten DDR war. Darauf kommt es aber bei der Falsifikation gar nicht an, da schon ein einziges Beispiel genügt, um die mit umfassendem Geltungsanspruch (»die Opposition«, nicht »Teile der Opposition«) formulierte These zu widerlegen.62 Allerdings liegt ein Problem in der offensichtlichen Abwegigkeit der These, die ihrer Widerlegung eine gewisse Trivialität und auch Künstlichkeit verleiht. Es wirkt nicht besonders lernfördernd, Schülerinnen und Schüler offensichtlich falsche Aussagen falsifizieren zu lassen. Formuliert man hingegen die These vielschichtiger und interessanter, so ist dies um den Preis eines höheren Abstraktionsniveaus und eines dadurch bedingt geringeren Grades an Falsifizierbarkeit erkauft: »Setzen Sie sich auf der Grundlage der Quelle mit folgender These auseinander: Die Opposition in der DDR hat wesentlich dazu beigetragen, dass es am 3. Oktober 1990 zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten kam.«

Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht müssen diesen Preis geringerer Falsifizierbarkeit wahrscheinlich zahlen, um überhaupt Aussagen machen zu können, die als erkenntnisfördernd gelten dürfen: Karl Popper ging sogar davon aus, dass mit zunehmender Tragweite und Bedeutsamkeit von Aussagen deren »Vagheit« kompensiert werde.63 Die voranstehend formulierte Aufgabe wirkt Kritik in: [Anonym], The Central Mistake of Historicism: Karl Popper on Why Trend is Not Destiny, o. J., zit. nach URL: https://fs.blog/2016/03/karl-popper-mistake-of-historicism/ [Stand: 25. 07. 2021]. 62 Universale Aussagen (Alle x sind p) können durch einzelfallbezogene (Dieses x ist nicht p) falsifiziert werden. Vgl. Popper, Karl: Logic, S. 19. 63 Vgl. Popper, Karl: Historicism, S. 33; ähnlich auch die treffende Einschätzung Patzigs: »Hoher Informationsgehalt läßt uns auch solche Sätze vorläufig akzeptieren, von denen wir wissen, dass sie nicht strikt, sondern nur approximativ wahr sind.« Patzig, Günther: Das Problem der Objektivität und der Tatsachenbegriff, S. 326. Eine mit dieser Position kompatible Überlegung wurde unabhängig von den vorgenannten Autoren in folgender Bonner Masterarbeit vorgetragen, deren Verfasser überzeugend vorschlägt, die Formulierung gewichtiger Aussagen im Fach Geschichte nicht durch zu rigoristische Heranziehung der Logik zu verunmöglichen,

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interessanter, da sie der von Thomas Nipperdey betonten »Diskrepanz zwischen Absichten und Wirkungen« Rechnung trägt.64 Zugleich ist sie wesentlich schwerer zu falsifizieren: Denn was heißt »wesentlich dazu beitragen« genau und welche Quellen könnten einen solchen »wesentlichen Beitrag« zweifelsfrei und ›hart‹ widerlegen?65 Handelt es sich hier um eine Aussage ohne Wahrheitswert, wie sie Kuukkanen im Blick hat?66 Die mit einer solchen Einstufung verbundene Zurückweisung der Idee klarer Falsifizierbarkeit ist nicht unausweichlich, wenn von »Falsifikationsindizien« statt von vollgültiger Falsifikation gesprochen wird.67 So könnte eine Kandidatin/ein Kandidat ausgehend von einer Analyse der Rede Schorlemmers falsifizierend argumentieren, dass es unzulässig ist, der DDR-Opposition die Vereinigung der beiden deutschen Staaten verallgemeinernd als Ziel zu unterstellen. Dem schlösse sich die Frage nach dem Gewicht eines nicht intendierten Beitrags der Opposition zur Wiedervereinigung an.68 Karl Popper sieht den empirischen Informationsgehalt einer Theorie in Abhängigkeit vom Grad ihrer Falsifizierbarkeit: Wenn der Grad dieser Falsifizierbarkeit hoch ist, gibt es in der beobachtbaren Welt nur einen schmalen Korridor (er spricht von »narrow range«) an Phänomenen, die vorkommen dürfen, ohne

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sondern stattdessen induktive Schlüsse zuzulassen, die Plausibilitätskriterien genügten und deren Ergebnis nicht mit gesichertem »Wissen« gleichgesetzt werden dürfe – eine Beschränkung, durch die sich auch der Widerspruch zwischen induktivem Schließen und Logik vermeiden lasse: Lamy, Pascal: Ist Logik in der Geschichtswissenschaft eine Bereicherung? Eine Analyse auf Grundlage von Danto und Rüsen, Bonn 2019 (unveröffentlichte Masterarbeit), S. 26f., 40 und 44. Vgl. Nipperdey, Thomas: Über Relevanz, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 10 (1972), S. 577–596, hier S. 590. Vgl. Paul Ricœur, La mémoire, l’histoire, l’oubli, Paris 2000, S. 227 (Schwierigkeit der Anwendung der Popperschen Vorgehensweise auf die über Tatsachenfeststellungen hinausgehenden Bereiche der »Erklärung und Repräsentation« von Geschichte). Den Hinwies auf dieses wichtige Werk verdanke ich Sylvain Doussot. Vgl. Kuukkanen, Jouni-Matti: Why we need to move from truth-functionality to performativity in historiography, S. 233. Zum geschichtsdidaktischen Potenzial des Indizienbegriffs (in Analogie zu kriminalistischen Verwendungen): Cariou, Didier: Information ou indice? Deux lectures d’une image en classe d’histoire, in: Revue française de pédagogie 4 n° 197 (2006), S. 63–77, insbes. S. 65 und 76, zit. nach URL: https://www.cairn.info/revue-francaise-de-pedagogie-2016-4-page-63.htm [Stand: 11. 07. 2021]. Zur Bedeutung von Indizien für die Geschichtswissenschaft: Ricœur, Paul: La mémoire, S. 220f. (im Rekurs auf Carlo Ginzburg). Interessant, aber hier aus Platzgründen nicht weiterzuverfolgen, ist die Frage, ob zwischen der von Danto im Rekurs auf Hempel und Popper vertretenen Idee von geschichtswissenschaftlichen »Erklärungsskizzen« (als Ersatz für nicht mögliche Formulierung ›harter‹ historischer Kausalerklärungen) und den im vorliegenden Beitrag angenommenen Falsifikationsindizien eine Verwandtschaft und/oder Beziehung besteht. Danto, Arthur C.: Analytische Philosophie der Geschichte, S. 331–335. Vgl. zum Problem kausaler Gewichtung: Weber, Max: Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik. 1906, in: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Winckelmann, Johannes. 7. Auflage, Tübingen 1988, S. 215–290, hier S. 273–275.

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dass die Theorie durch ihre Beobachtung falsifiziert wird.69 Dies ist etwa bei dem von Kuukkanen vorgebrachten Beispiel der Fall: »Napoleon ist in Korsika geboren.«70 Diese banale Tatsachenfeststellung lässt nur Quellenbefunde zu, die im Einklang mit einem korsischen Geburtsort Napoleons stehen, was einen sehr hohen Grad an Falsifizierbarkeit mit sich bringt. Zugleich erscheint die Auseinandersetzung mit dieser Aussage in geschichtswissenschaftlicher und geschichtsdidaktischer Hinsicht maximal uninteressant. Es hat, wie von Popper angenommen, den Anschein, dass lohnende Thesen und Theorien in der Geschichtswissenschaft damit ›bezahlt‹ werden, dass sie aufgrund ihrer Allgemeinheit einen vergleichsweise geringen Grad an Falsifizierbarkeit zulassen.71 Dies führt Kuukkanen dahin, solchen Thesen und Theorien, die er als »Narrative« bezeichnet, generell einen Wahrheitswert (›wahr‹ oder ›falsch‹) abzusprechen.72 Solche epistemologischen Unklarheiten hinsichtlich der Zuordnung von Wahrheitswerten machen es indessen keineswegs unsinnig, sich im Geschichtsunterricht mit komplexeren Aussagen über die Vergangenheit zu befassen, die insofern über reine Tatsachenfeststellungen hinausgehen, als sie sich auf die Deutung und Bewertung von Geschehenem beziehen. Denn historischen Thesen mit deutendem und bewertendem Charakter kommt mitunter eine reale lebensweltliche Relevanz zu, was sich z. B. an dem juristisch, publizistisch und geschichtswissenschaftlich ausgefochtenen Streit darüber erkennen lässt, ob der Kronprinz Wilhelm von Preußen dem Nationalsozialismus »erheblichen Vorschub« geleistet hat oder nicht.73 Der britische Historiker Evans betonte, dass die Beantwortung dieser Frage eher in das Feld »historischer Urteile« als in den »Bereich harter Tatsachen« gehöre, was er auf die Vagheit des Konzepts »erheblich Vorschub leisten« zurückführt.74 Davon hängt ab, ob das ehemalige preußisch-deutsche Herrscherhaus der Hohenzollern Anspruch auf Rückerstattung von enteignetem Besitz auf dem früheren Staatsgebiet der DDR hat.75 Der Jurist Gärditz spricht hier von einem »komplexen Makrosachverhalt«, dessen 69 Popper, Karl: Logic, S. 96. 70 Kuukkanen, Jouni-Matti: Why we need to move from truth-functionality to performativity in historiography, S. 233. 71 Vgl. oben, Anm. 63. 72 Vgl. Kuukkanen, Jouni-Matti: Why we need to move from truth-functionality to performativity in historiography, S. 233 und 235. 73 Gärditz, Klaus Ferdinand: Geschichte vor Gericht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. 09. 2020, S. 6; Evans, Richard: Das Gewissen des Gutachters, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. 12. 2019, S. 12, hier digital zitiert. Der Wortlaut des Ausgleichsleistungsgesetz (§1, Abs. 4) findet sich hier: https://www.gesetze-im-internet.de/ausglleistg/__1.html [Stand: 11.07. 2021]. 74 Vgl. Evans, Richard: Das Gewissen des Gutachters. 75 Vgl. Gärditz, Klaus Ferdinand: Geschichte vor Gericht und Evans, Richard: Das Gewissen des Gutachters.

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juristische Würdigung sich wesentlich schwieriger gestalte als die Feststellung »konkrete[r] Falltatsachen«, für die Gerichte sonst zuständig seien.76

5.

Das Problem der »Basissätze«

Der Soziologe Ralf Bohnsack hat betont, dass Poppers Falsifikationsprinzip deswegen nicht auf die Sozialwissenschaften anwendbar sei, weil sich hier keine eindeutigen »Basissätze« für die beobachteten Phänomene formulieren ließen.77 Dies liege daran, dass die in sozialwissenschaftlichen Forschungszusammenhängen verwendete Sprache »indexikal« sei, d. h. in ihrem Bezug zur realen Welt keineswegs eindeutig, sondern z. B. von individuellen oder kulturellen Prägungen abhängig.78 Hierzu ein mögliches Beispiel aus der Alltagskommunikation: Ein Verhalten, das ein Beobachter als ›aggressiv‹ empfindet, ist für den anderen vielleicht nur ›selbstbewusst‹ oder ›energisch‹. Dies lässt sich sicherlich auf die Geschichtswissenschaft,79 aber auch auf die Justiz übertragen: Was »erheblich Vorschub leisten« bedeutet, kann von Beobachter zu Beobachter – auch innerhalb des für Demokraten selbstverständlichen Konsenses der Verurteilung jeglicher Unterstützung des Nationalsozialismus – unterschiedlich definiert werden. Hier liegt ein bedeutender Unterschied zu naturwissenschaftlichen Aussagen, wie etwa der von Einstein in der speziellen Relativitätstheorie vorhergesagten Zeitdilatation in einem bewegten System, das mit einem unbewegten verglichen wird: Entweder ist diese Zeitdilatation durch präzise Uhren messbar oder sie ist es nicht, was eine Vorhersage der speziellen Relativitätstheorie falsifizieren würde.80 Vielleicht stellen sich hier technische Probleme im Bereich der Messung, aber ein »Basis-

76 Gärditz, Klaus Ferdinand: Geschichte vor Gericht. Die epistemischen Unterschiede zwischen historischer und juristischer Wahrheitsfindung werden in dem Artikel m. E. etwas überzeichnet. Deutlicher unterscheiden sich beide Perspektiven vielleicht mit Paul Ricœur gedacht darin, dass Geschichtswissenschaft im Gegensatz zur Justiz über das Privileg verfügt, nicht immer zu einem abschließenden Urteil gelangen zu müssen. Vgl. Ricœur, Paul: La mémoire, S. 421. 77 Bohnsack, Ralf: Rekonstruktive Sozialforschung, S. 18. 78 Ebd., S. 21. 79 Zur unvermeidlichen Normativität von Sprache in der Geschichtswissenschaft: Vgl. Patzig, Günther: Das Problem der Objektivität und der Tatsachenbegriff, S. 320. 80 Vgl. die anschauliche Erläuterung auf »Physikunterricht online«, unter URL: https://physik unterricht-online.de/jahrgang-12/zeitdilatation/ [Stand: 11. 07. 2021]; ferner Hawking, Stephen: Eine kurze Geschichte der Zeit, S. 50, und Satz, Helmut: Gottes unsichtbare Würfel, München 2013, S. 211; zum Vergleich dazu Gerber über Schabowskis berühmten Zettel, der entweder kausal relevant war für die Maueröffnung am 9. November 1989 oder eben nicht: Gerber, Doris: Analytische Metaphysik der Geschichte. Handlungen, Geschichte und ihre Erklärung, Berlin 2012, S. 234.

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satzproblem«81 tritt nicht auf, weil sich unterschiedlichste Beobachter ganz unabhängig von kulturellen, sprachlichen oder sonstigen Prägungen darauf verständigen können, was es heißt, wenn die Zeit in einem Bezugssystem langsamer vergeht als in einem anderen. Beispiele für »Basissatzprobleme« sind in der Geschichtswissenschaft und im historischen Lernen Legion: Was soll es z. B. heißen, wenn – plausibel – festgestellt wird, dass der deutsche ›Blankoscheck‹ für Österreich-Ungarn im Juli 1914 den Ersten Weltkrieg sehr wahrscheinlich gemacht hat?82 Diese Aussage kann man aus zwei wichtigen Gründen nicht falsifizieren: Erstens scheitern Falsifikationsversuche an der Vagheit der Formulierung »wahrscheinlich machen« und zweitens daran, dass sich rückwirkend keine experimentelle Situation herstellen lässt, in der die deutsche Reichsleitung diesen ›Blankoscheck‹ nicht ausgestellt hätte. Dies funktioniert nur im Rahmen kontrafaktischen Spekulierens: So versucht etwa Alois Winnerling die Bedeutung des schwedischen Sieges in der Schlacht von Wittstock (1636) dadurch zu gewichten, dass er sich einen weiteren Konfliktverlauf ohne diesen für Schweden günstigen Ausgang vorstellt und zu dem Ergebnis gelangt, dass der Dreißigjährige Krieg dann wahrscheinlich weniger als 30 Jahre gedauert hätte.83 Heißt dies, dass Geschichte im Unterricht als bloßes »Deutungsgeschäft« betrieben werden sollte, wie Michele Barricelli aus Gründen annahm, die angesichts der im vorliegenden Beitrag beobachteten Grenzen des historischen Empirismus durchaus verständlich sind?84 Vielleicht ist ein Rückzug auf das reine Deuten doch nicht unausweichlich. Auch wenn Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht keine Falsifikation im Sinne empirischer Naturwissenschaften leisten können, empfiehlt es sich doch, im Sinne einer »regulativen Idee« am Falsifikationsprinzip festzuhalten.85 Der Poppersche Begriff des falsi81 Den Begriff entnehme ich Bohnsack, Ralf: Rekonstruktive Sozialforschung, S. 18. 82 Vgl. exemplarisch zur Kriegsursachenanalyse: Krumeich, Gerd: Juli 1914. Eine Bilanz, Paderborn u. a. 2014, zit. als E-Book. 83 Vgl. Winnerling, Tobias: Darf ’s ein bisschen weniger sein? Ein zwanzigjähriger Krieg 1616– 1638, in: Nonn, Christoph / Winnerling, Tobias (Hg.): Eine andere deutsche Geschichte, Paderborn 2017, S. 59–86. Vgl. auch die von den Herausgebern verfasste Einleitung des Bandes (Warum eigentlich kontrafaktische Geschichte?, in: ebd., S. 7–19, im Rekurs auf die oben in Anm. 68 zit. Überlegungen Webers ebd. S. 8); ähnliche Versuche in: Demandt, Alexander: Ungeschehene Geschichte. Ein Traktat über die Frage: was wäre geschehen, wenn …?, 2., verb. Auflage, Göttingen 1986, zit. nach URL: https://digi20.digitale-sammlun gen.de [Stand: 14. 07. 2021]. 84 Barricelli, Michele: Schüler erzählen Geschichte, S. 36; vgl. auch ebd., S. 20. 85 Den Begriff der »regulativen Idee« übernimmt Popper von Kant (bezogen auf das Wahrheitskonzept). Karl Popper – ein Gespräch, Minute 23; ferner Ders.: Die Logik der Sozialwissenschaften, in: Adorno, Theodor W. / Dahrendorf, Ralf / Pilot, Harald / Albert, Hans / Habermas, Jürgen / Popper, Karl: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied 1972, S. 103–123, hier S. 116.

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fiers,86 der eindeutig falsifizierenden beobachtungsgestützten Aussage, könnte durch das Konzept des »Falsifikationsindizes« ersetzt werden: Diese oder jene Quelle falsifiziert dann nicht mehr diese oder jene Theorie, sondern indiziert nur deren Falsifikation, ist also ein möglicher Hinweisgeber. Wem dies zu wenig ist, der führe sich vor Augen, dass auch lebensweltlich hoch relevante Systeme wie Politik und Justiz oft nicht auf der Basis zweifelsfreier Falsifikation zu ihren Aussagen kommen: Wenn im Ausgleichsleistungsgesetz für enteigneten Besitz in der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone bzw. dann DDR festgehalten wird, dass keine Ausgleichsleistung erhält, wer dem Nationalsozialismus »erheblich Vorschub geleistet hat«, so wird sich ein entsprechender Vorwurf in vielen Fällen eben nicht durch reine Beobachtung – d. h. im Fach Geschichte und in diesem Fall auch in der geschichtswissenschaftlich beratenen Justiz durch Heranziehung von Quellen – zweifelsfrei be- oder widerlegen lassen, weil das Urteil davon abhängt, welche kausale Gewichtung und Bewertung bestimmte durch Quellen rekonstruierbare Handlungen im Kontext des gesamten Verhaltens einer Person erfahren und wie überhaupt das Adjektiv »erheblich« verstanden wird.87 Trotz dieser Schwierigkeiten wird wohl niemand auf den Gedanken kommen, es wäre unsinnig, dass sich Gerichte überhaupt mit Fragen dieses Typs befassen. Auch politische Entscheidungen von größter Tragweite werden oft nicht auf der Basis systematischen empirischen Testens der dahinterstehen Annahmen mit dem Resultat völliger Gewissheit getroffen, sondern auf der Grundlage mehr oder minder begründeter Einschätzungen, bei denen vielfach nur Indizien für die Falsifikation oder eben vorläufige Nicht-Falsifikation dieser Annahmen die Entscheidungsgrundlage bilden. Ein berühmtes Fallbeispiel hierfür ist die KubaKrise vom Oktober 1962, in der die Kennedy-Administration Orientierung unter anderem in historischen Analogien suchte, aber letztlich nicht wusste, was die Sowjetunion mit der Stationierung von Atomraketen auf Kuba genau vorhatte und wie weit sie in einer durch amerikanische Gegenmaßnahmen provozierten Eskalation gehen würde.88 Wer den folgenden, genau diesen Problemkreis an86 Popper, Karl: Logic, S. 70f. 87 Vgl. zu diesen Problemen bereits die oben zitierten Artikel von Evans und Gärditz. 88 Vgl. aus der kaum noch überschaubaren Literatur: Neustadt, Richard E. / May, Ernest R.: Thinking in Time. The Use of History for Decision Makers, New York 1986, S. 1–16; Haine, Jean-Yves: Kennedy, Kroutchev et les missiles de Cuba. Choix rationnel et responsabilité individuelle, in: Cultures & Conflits 36 (1999/2000), Partie 1, S. 3, zit. nach URL: http://confli ts.revues.org/594 [Stand: 20. 10. 2021]; Siracusa, Joseph M.: Art. »The Munich Analogy«, Kap. »The Munich Analogy – The cuban missile crisis«, in: Encyclopedia of American Foreign Policy, zit. nach URL: https://www.americanforeignrelations.com/E-N/The-Munich-Analog y-The-cuban-missile-crisis.html [Stand: 02. 20. 2021]; zur Ereignisgeschichte knapp: Greiner, Bernd: Die Kuba-Krise. Die Welt an der Schwelle zum Atomkrieg, München 2010; in geschichtsdidaktischer Perspektive: Geiss, Peter: »War da was?« – Historische Bildung im Output-Zeitalter, in: Stomporowski, Stephan / Redecker, Anke / Kaenders, Rainer (Hg.):

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sprechenden Satz von Hannah Arendt über das Urteilen in der Politik für zutreffend hält, der wird auch die tastende Heranziehung von Quellen als Falsifikationsindizien für das ›Testen‹ von Hypothesen im Geschichtsunterricht nicht für ein müßiges Geschäft halten: »Jeder vernünftige Staatsmann holt sich die entgegengesetzten Expertisen ein. Denn er muß die Sache ja von allen Seiten sehen. Nicht wahr? Dazwischen muß er urteilen. Und dieses Urteilen ist ein höchst mysteriöser Vorgang. In dem äußert sich dann der Gemeinsinn.«89

Geschichte macht Aussagen über vergangene Wirklichkeiten und ist schon allein aufgrund dieser »référentialité« (Paul Ricœur)90 ein Fach mit empirischem Anspruch: Es geht nicht um hermeneutische Tiefen subjektiver Innenwelten, sondern um eine durch »gegenwärtige Zeichen von Vergangenem« (Danto)91 noch mittelbar erreichbare reale Außenwelt, über die Aussagen zu machen nur dann wissenschaftlich sinnvoll ist, wenn irgendeine Form der empirischen ›Testung‹ stattfindet.92 Bei der Einlösung dieses Anspruchs ist die Disziplin allerdings in Wissenschaft und Schule aufgrund der unvermeidlichen Normativität und Unbestimmtheit ihrer Fachsprache93 wie auch des – nicht im streng mathematischen Sinne – ›antiproportionalen‹ Verhältnisses zwischen Tragweite und Falsifizierbarkeit von Erklärungen ( je weitreichender die Erklärung, desto weniger falsifizierbar ist sie) mit besonderen Schwierigkeiten konfrontiert.94 Dies kann aber kein vernünftiges Argument dafür sein, die Orientierung am Prinzip der empirischen Falsifikation aufzugeben. Denn die Alternative dazu wäre wohl eine für Ideologien aller Art hochgradig anfällige Form der Geschichtsvermittlung, die nicht im Interesse der Bildung kritischer Bürgerinnen und Bürger einer Demokratie liegen kann, sondern nur jenen schlimmstenfalls totalitären Welterklärern

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Bildung – noch immer ein wertvoller Begriff ?! Fs. Volker Ladenthin, Göttingen 2019, S. 133– 149, hier S. 143f. Hannah Arendt im Gespräch mit Günther Gaus, 28. 10. 1964, hier zit. nach der Transkription des RBB Berlin unter URL: https://www.rbb-online.de/zurperson/interview_archiv/arendt_ hannah.html [Stand: 11. 07. 2021]. Das Gespräch ist zudem als Mitschnitt aufrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=dsoImQfVsO4 [Stand: 25. 11. 2021]. Ricœur, Paul: La mémoire, S. 319; ähnlich Chartier, Roger: Philosophie et histoire: un dialogue, in: Bédarida, François (Hg.): L’histoire et le métier d’historien en France 1945–1995, Paris 1995, S. 149–169, hier S. 163. Die Kenntnis beider voranstehend zitierter Texte und erhellende Impulse zum Verhältnis zwischen Epistemologie und Geschichtsdidaktik verdanke ich Sylvain Doussot. Danto, Artur C: Analytische Philosophie der Geschichte, S. 72. Dies erkennen auch Vertreter des an »Sinnbildung« orientierten Narrativismus an, so etwa Jörn Rüsen in der Dimension der »empirischen Plausibilität«. Rüsen, Jörn: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft, Köln u. a. 2013, S. 61; vgl. ferner Patzig, Günther: Das Problem der Objektivität und der Tatsachenbegriff, S. 322. Vgl. ebd., S. 320. Vgl. oben Anm. 63.

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hilft, vor denen Karl Popper in seiner Auseinandersetzung mit dem »Elend des Historizismus« so eindrücklich und vor dem Hintergrund der großen politischen Abgründe des 20. Jahrhunderts überaus berechtigt gewarnt hat.95

Quellen und Literatur Adorno, Theodor W. / Dahrendorf, Ralf / Pilot, Harald / Albert, Hans / Habermas, Jürgen / Popper, Karl: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied 1972. [Anonym], The Central Mistake of Historicism: Karl Popper on Why Trend is Not Destiny, o. J., zit. nach URL: https://fs.blog/2016/03/karl-popper-mistake-of-historicism/ [Stand: 25. 07. 2021]. Arendt, Hannah / Gaus, Günther: Hannah Arendt im Gespräch mit Günther Gaus, 28. 10. 1964, hier zit. nach der Transkription des RBB Berlin unter URL: https://www.rbb-on line.de/zurperson/interview_archiv/arendt_hannah.html [Stand: 11. 07. 2021], zudem als Mitschnitt aufrufbar unter URL: https://www.youtube.com/watch?v=dsoImQfVsO4 [Stand: 25. 11. 2021]. Ausgleichsleistungsgesetz [Gesetz über staatliche Ausgleichsleistungen für Enteignungen auf besatzungsrechtlicher oder besatzungshoheitlicher Grundlage, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können], zit. nach URL: https://www.gesetze-im-interne t.de/ausglleistg/__1.html [Stand: 11. 07. 2021]. Barricelli, Michele: Schüler erzählen Geschichte. Narrative Kompetenz im Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts. 2005. Baumgärtner, Ulrich: Wegweiser Geschichtsdidaktik. Historisches Lernen in der Schule, 2. Auflage, Paderborn 2019, zit. als E-Book. Bloch, Marc: Apologie pour l’histoire ou métier d’historien, in: Ders.: L’histoire, La Guerre, La Résistance, hg. von Annette Becker und Etienne Bloch, Paris 2006, S. 843–985. Bohnsack, Ralf: Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden, 9. Auflage, Opladen, Toronto 2014, zit. als E-Book. Bundesgesetzblatt, Nr. 1, 23. Mai 1949, S. 1, URL: https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xa v#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl149s0001b.pdf%27%5D__16259034 37355 [Stand: 10. 07. 2021]. Chartier, Roger: Philosophie et histoire: un dialogue, in: Bédarida, François (Hg.): L’histoire et le métier d’historien en France 1945–1995. Paris 1995, S. 149–169.

95 Wie auch Aufklärung bei mangelnder Selbstreflexion inhuman, ja »barbarisch« werden kann, haben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in der »Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente« (Frankfurt am Main 1996, EA 1944, S. 1–4 und 12) eindrucksvoll erläutert. Trotz Poppers bekanntem Konflikt mit der Frankfurter Schule (nachvollziehbar in Adorno, Theodor W. u. a., Der Positivismusstreit) scheint mir seine Warnung vor holistischutopischen »blueprints« und sein Insistieren auf »trial and error« (Popper, Karl: Historicism, S. 67 und 124) nicht in einem Gegensatz zur zentralen Denkfigur der »Dialektik der Aufklärung« zu stehen.

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Peter Geiss

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ERNÄHRUNGS- UND HAUSWIRTSCHAFTSWISSENSCHAFTEN & AGRARWISSENSCHAFTEN

Ruben Rapske

Nachhaltigkeit und berufswissenschaftliche Forschung als Grundlagen einer gemeinsamen Entwicklungsperspektive für die Berufsfelddidaktik Ernährungs- und Hauswirtschaftswissenschaften sowie Agrarwissenschaften

Einleitung An der Universität Bonn wird seit der Wiedereinführung der Lehramtsstudiengänge auch das Lehramt am Berufskolleg wieder in den Studienfachrichtungen Ernährungs- und Hauswirtschaftswissenschaften sowie Agrarwissenschaften angeboten. Bei der Konstruktion und Überarbeitung der entsprechenden Curricula wurde und wird angenommen, dass eine Vorbereitung auf die Arbeit in den Bildungsgängen der dualen Berufsausbildung und der Berufsvorbereitung maßgeblich ist. Dadurch stellt sich vor allem in der beruflichen Fachdidaktik (auch als Berufsfelddidaktik zu verstehen) die Frage nach der Beziehung zwischen berufspraktischen Ansprüchen auf der einen und der Repräsentanz von Wissenschaft auf der anderen Seite. Im Folgenden sollen die Relevanz der berufswissenschaftlichen Forschung betont und Chancen einer gemeinsamen Ausrichtung auf inhaltliche und diskursbezogene Ansprüche einer wissenschaftlichen Lehrerbildung hervorgehoben werden. Als exemplarisches Feld für die Annäherung zwischen berufspraktischen und theoretischen Perspektiven wird hier auf die aktuell stark diskutierte Thematik der Nachhaltigkeit bzw. der nachhaltigen Entwicklung Bezug genommen.

1.

Fachwissenschaftliche Perspektiven unter den Aspekten Nachhaltigkeit und Holismus

Nachhaltigkeit hat als Handlungsprinzip und Idee1 sowohl in den Ernährungs-, Lebensmittel-, und Hauswirtschaftswissenschaften wie auch in den Agrarwissenschaften eine steigende Bedeutung. Damit verbunden ist u. a. eine Wirkung

1 Vgl. Hauff, Volker: Unsere gemeinsame Zukunft, Greven 1987.

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auf das jeweilige fachdisziplinäre Selbstverständnis – Ausschläge, die sich über das Bespielen neuer bzw. neu in Erinnerung gerufener Fachbegriffe kenntlich machen lässt. So verweisen z. B. Lerner und Berg im internationalen Diskurs der Ernährungswissenschaften im Zusammenhang auf die zunehmende Bedeutung holistischer Ansätze (One Health, Eco Health, und Planetary Health)2 v. a. auf eine breite Fassung des Gesundheitsbegriffes (Health). Dabei entsteht in Rückgriff auf Aspekte der Nachhaltigkeit ein zunehmender Blick für normative Zusammenhänge unter Einschluss einer gesellschaftlichen Perspektive, womit Gesichtspunkte der geistigen Gesundheit, die Idee eines gesunden Miteinanders – ausgedrückt u. a. im Begriff des »wellfare«3 – sowie die Ausrichtung auf eine umfassende Gesundheit der Tiere und der Ökosysteme verbunden sind.4 Ridgway et al. verweisen im Diskurs der Public Health Nutrition sogar auf einen allgemeinen Paradigmenwandel.5 Unter Bezug auf das Paradigmen-Theorem Thomas Kuhns heben die Autor*innen heraus, dass die Ansprache öffentlicher Gesundheitsfragen aus rein »biologischen« (bzw. physiologischen) Verständnissen wenig hilfreich sei, um die zentralen Probleme befriedigend zu behandeln.6 Droht hier doch eine reduktionistische Perspektive mit unzulässigen kausal-operativen Verkürzungen. Dies führt zu einer dualistischen Fassung von Zielen und Empfehlungen, welche im Rahmen der Entwicklung von »nutritional health outcomes for populations« sowohl auf einer Mikroebene (der einzelnen Anwendung) als auch einer Mesoebene (der Vermittlung und der Multiplikatoren) gerade die wirklichen Zusammenhänge und Probleme unterlaufen.7 Der in diesem Sinne 2 Vgl. Lerner Henrik / Berg Charlotte: A Comparison of Three Holistic Approaches to Health: One Health, EcoHealth, and Planetary Health, in: Frontiers in Veterinary Science 163,4 (2017), S. 3f. 3 Besonders deutlich wird dies im Ansatz der planetary health, in dem die »healthy diet« des Individuums auf eine »planetary health diet« bezogen wird. Vgl. EAT-Lancet: Healthy Diets From Sustainable Food Systems. Summary Report of the EAT- Lancet Commission, Stockholm 2019, S. 9, 26. 4 Dies unter dem Begriff der »well-being and equity«. Lerner Henrik / Berg Charlotte: A Comparison of Three Holistic Approaches to Health, S. 3f. 5 Vgl. Ridgway, Ella / Baker, Philip / Woods, Juli / Lawrence, Mark: Historical Developments and Paradigm Shifts in Public Health Nutrition Science, S. 43–45. 6 Reduktionistisch bedeutet in diesem Sinne nicht nur, dass die Komplexität der Aufgabe entlang der einzelerkenntnisorientierten Perspektivierung immer weiter reduziert wird, sondern auch, dass ein linearer Blick eingenommen wird, der nur nachträglich wieder aufgebrochen werden kann, aber nicht muss. Wird es eben nicht getan, entsteht ein Gegenüber von (normativen) Zielen und (rein analytischen) Empfehlungen. Vgl. dazu Hoffmann, Ingrid / Wittig, Friederike: Ernährungsforschung: Reduktionismus und integrative Ansätze, in: Hoffmann, Ingrid / Schneider, Katja / Leitzmann, Claus: Ernährungsökologie. Komplexen Herausforderungen integrativ begegnen, München 2011, S. 112–120, hier S. 112–115. 7 Ridgway, Ella / Baker, Philip / Woods Juli / Lawrence, Mark: Historical Developments and Paradigm Shifts, S. 12.

Nachhaltigkeit und berufswissenschaftliche Forschung

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identifizierte Paradigmenwechsel lässt sich aber nicht dahingehend interpretieren, dass eine reduktionistische Perspektive grundsätzlich als obsolet angesehen werden kann. Vielmehr besteht eine immanente Forderung darin, diese naturwissenschaftliche (biologisch-physiologische) Betrachtung in einen erweiterten Orientierungs- und Erörterungsrahmen aufzunehmen. Dem in Deutschland bereits in den 1980er Jahren entwickelten Ansatz der Ernährungsökologie kann insofern nicht nur die Rolle eines Vorreiterdiskurses zugesprochen werden, weil hier ausgehend vom Nachhaltigkeitsaspekt holistische Betrachtungsweisen betont werden,8 ohne dass der Blick in die Tiefen der Sache ausgegrenzt oder der grundlegende Anspruch belastbarer (quantitativ gesicherter) Forschungsergebnisse prinzipiell aufgegeben würde.9 Hier zeigen sich bereits herausfordernde, aber notwendige Grundforderungen. Eine davon ist die komplexere Verzahnung von Untersuchungs- und Darstellungsmethoden.10 Eine andere ist der Fokus auf Anwendungskontexte und damit Kommunikationsverhältnisse.11 Auch wenn der integrative Ansatz der Ernährungsökologie nun seit den 2000er Jahren an Geltung verliert, sind die hier prägnanten Änderungen im entsprechenden internationalen Diskurs durchaus zu finden. Vor allem die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Ernährungs- und Agrarwissenschaftler*innen ist hier noch stärker ausgeprägt und auch von kritischen Akzentuierungen des (der Nachhaltigkeitsorientierung immanenten) Gestaltungsmoments begleitet.12 Den Agrarwissenschaften liegen dabei natürlich auch selbst in Bezug auf Nachhaltigkeit und nachhaltige Entwicklung Anreicherungen und Erweiterun8 Vgl. Schneider, Katja / Hoffmann Ingrid: Das Konzept der Ernährungsökologie, in: Hoffmann, Ingrid / Schneider, Katja / Leitzmann, Claus: Ernährungsökologie. Komplexen Herausforderungen integrativ begegnen, München 2011, S. 38–45. 9 Vgl. Hoffmann, Ingrid / Wittig, Friederike: Ernährungsforschung, S. 115–119. 10 Vgl. Schneider, Katja / Hummel, Eva / Hoffmann, Ingrid: Die Modellierungstechnik NutriMod: Komplexität erfassen und darstellen, in: Hoffmann, Ingrid / Schneider, Katja / Leitzmann, Claus (Hg.): Ernährungsökologie. Komplexen Herausforderungen integrativ begegnen, München 2011, S. 134–139. Des Weiteren: Hoffmann, Ingrid / Schneider, Katja: Probleme bearbeiten: Potentiale qualitativer Modellierung, in: Hoffmann, Ingrid / Schneider, Katja / Leitzmann, Claus (Hg.): Ernährungsökologie. Komplexen Herausforderungen integrativ begegnen, München 2011, S. 177–186, hier 182–184; Hoffmann, Ingrid / Schneider Katja: Probleme lösen: ein ernährungsökologischer Entwurf, in: Hoffmann, Ingrid / Schneider, Katja / Leitzmann, Claus (Hg.): Ernährungsökologie. Komplexen Herausforderungen integrativ begegnen, München 2011, S. 187–192. 11 Vgl. Difila, Rico / di Gulio, Antonietta: Inter- und Transdisziplinarität: eine besondere Art der Wissenschaft, in: Hoffmann, Ingrid / Schneider, Katja / Leitzmann, Claus (Hg.): Ernährungsökologie. Komplexen Herausforderungen integrativ begegnen, München 2011, S. 121– 127, hier 124–127. 12 Am deutlichsten ist dies wiederum im EAT-Lancet Report, da Wissenschaft selbst hier Ziele aufstellt. Vgl. EAT-Lancet: Healthy Diets From Sustainable Food Systems, S. 8–19.

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gen ihres fachdisziplinären Selbstverständnisses nahe. Konkretisiert wird dies maßgeblich über den Begriff der food security (Ernährungssicherheit), einem gewissermaßen klassisch-fachdisziplinär ausbuchstabierten Leitbegriff,13 der nun in den Kontext einer globalen Perspektive gestellt wird – quasi in Opposition zu einer bloß lokalen Perspektivierung.14 Das holistische Moment besteht dabei in einer Transformation des rein instrumentell-ökonomischen Paradigmas zu einer breiteren, integrativen und kritischen Perspektive.15 Zugleich hat die Aufnahme der entsprechenden Kritik,16 wie v. a. bei Meemken und Qaim exemplarisch deutlich wird, nicht zu Brüchen mit der Tradition der Agrarwissenschaften geführt.17 Die Autor*innen vermögen vielmehr im Rahmen der Frage, ob der ökologische Landbau ein globales Zukunftsmodell darstellt, sowohl eine gesellschaftskritische Perspektive einzunehmen als auch (aus naturwissenschaftlichen Perspektivierungen) darauf hinzuweisen, dass es nicht weniger mit Problemen einherginge, die gesamte Erde mit Biolandwirtschaft zu ernähren.18 Dass also unter der Nachhaltigkeitsthematik das fachdisziplinäre Selbstverständnis der Agrarwissenschaften auf größere und interdisziplinäre Zusammenhänge bezogen wird, führt nicht zwangsläufig zu (ökologischen) Spezialdiskursen, sondern zu einem breiten fachdisziplinär-kritischen Austausch. Dieser ist wiederum – wie die Ernährungsökologie zeigt – nie gänzlich auf die Theorie zu beschränken, sondern sollte auch mit Politik und Berufspraxis aktiv gesucht werden. Auf Basis einer solchen verbindenden Perspektivierung liegt es nahe, dass im Rahmen nachhaltigkeitsbetonter Fragestellungen eine Betrachtung der beruflichen Praxisfelder erfolgt. Eine solche Fokussierung dürfte dann zumindest in großen Teilen dem entsprechen, was von Seiten der Berufsbildungstheorie und Berufsfelddidaktik als berufswissenschaftliche Forschung angesehen wird.

13 Vgl. Federico, Giovanni: Feeding the world, An Economic History Of Agriculture 1800–2000, Princeton, N.J., Oxford 2009, S. 196–201. 14 Ebd., S. 167. 15 Vgl. FAO, IFAD, UNICEF, WFP and WHO: The State of Food Security and Nutrition in the World. 16 Wird doch mit dem Bezug auf die Folgen der Lebens- und Produktionsweise die (eurozentristische) Perspektive auf kurzfristige und lokale Zugewinne von Wohlstand einschließlich der Einbindung und Beschränkungen von Wohlfahrtsinteressen zumindest diskutierbar. 17 Vgl. Meemken, Eva-Marie / Qaim, Matin: Organic Agriculture, Food Security, and the Environment, in: Annual Review of Resource Economics 10 (2018), S. 39–63. 18 Vgl. Meemken, Eva-Marie / Qaim, Matin: Organic Agriculture, Food Security, and the Environment, S. 48, 51f. Des Weiteren vgl. FAO, IFAD, UNICEF, WFP and WHO: The State of Food Security and Nutrition in the World 2020. Transforming food systems for affordable healthy diets, Rom 2020, S. 57, 65–92.

Nachhaltigkeit und berufswissenschaftliche Forschung

2.

195

Berufswissenschaftliche Forschung – Nachhaltigkeitsperspektiven im Kontext der Berufsbildungswissenschaft

Berufliche Bildung im Sinne der Berufs- und Wirtschaftspädagogik stützt sich trotz der Konzentration auf Lernfelder und das handlungsorientierte Lernen19 noch immer maßgeblich auf die Fachwissenschaften. Im Rahmen des dominanten kritisch-rationalistischen Paradigmas bekommt der Anspruch der Wissenschaftlichkeit eine hervorgehobene Bedeutung. Indem das »Wissenschaftsprinzip« hier als tragende Begründungsebene neben das berufliche »Situationsprinzip« gestellt wird, entstehen daraus aber zwei schwerwiegende Konfliktlinien: – die Frage nach der unterrichtlichen Ordnung und Sequenzierung der Inhalte selbst20 sowie – die Frage nach dem Zugang zu den Tiefen des Wissens.21 Mit Blick auf das kritisch-emanzipative Paradigma, wie es unter Bezug auf Herwig Blankertz u. a. von Wolfgang Lempert in der Berufspädagogik entfaltet und verschiedentlich ausgeführt wurde,22 lassen sich beide Probleme lösen, ist doch hier auf eine Ebene kritischer »Metatheorie« geführt (Frankfurter Schule), »die es erlaubt, wissenschaftliche Aussagen nach dem jeweils verfolgten Erkenntnisinteresse zu ordnen […] und somit auf die Ebenen der Funktionen, 19 Kultusministerkonferenz: Handreichung für die Erarbeitung von Rahmenlehrplänen der Kultusministerkonferenz für den berufsbezogenen Unterricht in der Berufsschule und ihre Abstimmung mit Ausbildungsordnungen des Bundes für anerkannte Ausbildungsberufe. 14. 12. 2018. URL: https://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2021/2021 _06_17-GEP-Handreichung.pdf, zuletzt geprüft am 12. 10. 2021, S. 17f. Tramm, Tade: Prozess, System und Systematik als Schlüsselkategorien lernfeldorientierter Curriculumentwicklung, in: Gramlinger, Franz / Tramm, Tade (Hg.): bwp@ 4, Lernfeldansatz zwischen Feiertagsdidaktik und Alltagstauglichkeit, 2003/2004. URL: https://www.bwpat.de/ausgabe4, S. 6f. [Stand: 25. 11. 2021]. Riedl, Alfred: Didaktik der beruflichen Bildung. 2., komplett überarbeitete und erheblich erweiterte Auflage, Stuttgart 2011, S. 144–240. 20 Reetz, Lothar: Wirtschaftsdidaktik. Eine Einführung in Theorie und Praxis wirtschaftsberuflicher Curriculumentwicklung und Unterrichtsgestaltung. Bad Heilbrunn/Obb. 1984, S. 77. 21 Vgl. Bürger, Wolfgang / Henzel, Günther: Tieferes Verstehen von Unterrichtsinhalten als Voraussetzung für die Entwicklung von Sachkompetenz – Konsequenzen für kompetenzorientierten Unterricht bei Köchen, in: Stomporowski, Stephan (Hg.): Die Vitamine liegen unter der Schale. Beiträge zur Didaktik der Ernährungs- und Haushaltswissenschaften, Baltmannsweiler 2011, S. 149–177, hier: 150–157. 22 Vgl. Lempert, Wolfgang: Leistungsprinzip und Emanzipation, Frankfurt am Main 1971. Des Weiteren: Lisop, Ingrid / Huisinga, Richard: Arbeitsorientierte Exemplarik. Subjektbildung, Kompetenz, Professionalität – ein Lehrbuch, 3. Auflage, Frankfurt am Main 2004; Greb, Ulrike: Die pflegedidaktische Kategorialanalyse, in: Ertl-Schmuck Roswitha / Greb, Ulrike (Hg.): Pflegedidaktische Handlungsfelder, Weinheim, Basel 2013, S. 124–165.

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Probleme und Konflikte des ökonomischen Systems zu beziehen«.23 Im Rahmen dieser Sequenzierung über Erkenntnisinteressen unter dem Aspekt des Verstehens lässt sich die Frage stellen, inwiefern auch die im Beruf enthaltenen Wissenstiefen erfahrbar gemacht werden können. Wenn hier zugleich der Beruf nur als Form der Arbeit begriffen wird,24 auf die kritisch in einem sozialtheoretischemanzipatorischen Sinne zurückgegriffen werden soll,25 ist der Weg zur wissenschaftlichen Tiefe über die theoretische Ebene doch schnell recht spezifisch definiert. Vor diesem Hintergrund ist zu bemerken, dass man aus der empirischen Betrachtungsweise (auch des kritischen Rationalismus) funktionalen Verengungen zumindest nicht kategorisch entgegenzutreten vermag.26 Zugleich wird unter diesem Paradigma eine inhaltlich unbestimmte wissenschaftliche Position eingenommen, die dann in Richtung pädagogischer Ansprüche und Kategorien spezifiziert werden kann. Einschlägig ist dies im schon genannten (berufsbezogenen) Situationsprinzip nach Lothar Reetz. Stellt Reetz doch – offenbar schon im Hinblick auf das (ergänzende) Bildungs- und Persönlichkeitsprinzip27 – hier nicht nur die Frage nach den gegenwärtigen Handlungssituationen des Berufs, sondern auch nach den möglichen Entwicklungen der Situationen, wie auch des Berufs.28 Um im Rahmen dieser normativen Anlagen indes wissenschaftliche Begründungstiefen zu gewährleisten, bedarf es wiederum einer anderen Form des wissenschaftlichen Zugangs. Dieser wird in einer berufswissenschaftlichen Forschung ausweisbar. 23 Reinisch, Holger: Zu einigen curriculumtheoretischen Implikationen des Lernfeldansatzes. Überlegungen anlässlich der Beiträge von Clement, Kremer, Sloane und Tramm, in: Gramlinger, Franz / Tramm, Tade (Hg.): bwp@ 4. Lernfeldansatz zwischen Feiertagsdidaktik und Alltagstauglichkeit, 2003/2004. URL: http://www.bwpat.de/ausgabe4/, S. 17 [Stand: 25. 11. 2021]. Dass hier vom ökonomischen System gesprochen wird, ist einerseits der Tatsache geschuldet, dass hier auf eine wirtschaftspädagogische Modellierung rekurriert wird. Andererseits ist natürlich auf das Problem zu verweisen, dass im Sinne der kritischen Theorie das ökonomische System der Konsumwelt und ihre Wirkung in den Individuen maßgeblicher Bezugspunkt der Aufklärungsthematik ist. 24 Vgl. Blankertz, Herwig: Berufsbildung und Utilitarismus. problemgeschichtliche Untersuchungen, Düsseldorf 1963, S. 121. 25 Vgl. Greb, Ulrike: Die pflegedidaktische Kategorialanalyse. 26 Vgl. Kutscha, Günter: Berufliche Bildung und berufliche Handlungskompetenz im Abseits politisch-ökonomischer Reflexion. Eine Polemik in konstruktiver Absicht und Wolfgang Lempert zum Gedenken, in: Büchter, Karin / Tramm, Tade / Klusmeyer, Jens (Hg.): bwp@35. Ökonomisierung in der Bildung und ökonomische Bildung. 2018/2019. URL: https://www.b wpat.de/ausgabe/35 [Stand: 25. 11. 2021]. 27 Vgl. Reetz, Lothar: Wirtschaftsdidaktik, S. 77. 28 Vgl. ebd. Zu dessen Bedeutung sei angemerkt, dass ein berufliches Situationsprinzip, welches nur auf gegenwärtige Situationen bezogen wird, kaum ein Hinausgehen über einen beruflichen Qualifikationsbegriff ermöglicht. Siehe dazu auch den Beitrag von Stephan Stomporowski in diesem Band.

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Eine solche Forschungsperspektive wird maßgeblich von Felix Rauner im Rahmen technischer Ausbildungsgänge vertreten.29 Rauner nutzt sie, um sein Konzept einer »offene[n] Beruflichkeit«30 zum Begriff einer beruflichen Gestaltungskompetenz zu führen, die wiederum als umfassende (multiple) Kompetenz in arbeitsprozessbezogenen Dimensionen31 auf (wissensbezogene) Qualifikationsgesichtspunkte und entsprechende Stufungsmodelle verweist.32 Seine eigene berufswissenschaftliche Forschung zeigt daher – auch unter Einbezug historischer Perspektiven – neben Zuständen, Bedarfen, konkreten Ausformulierungen von Qualifikationsstufen, Prozessabläufen und Problemen – erstens gerade auch Wandlungen des Berufs als Ganzes auf.33 Zweitens führt sie im Rahmen von praktischen Stufungen des beruflichen Wissens auch zu Tiefenstrukturen dieses Wissens, zu denen sich natürlich in den flankierenden Fachwissenschaften zumindest Gegenstücke finden lassen.34 Drittens werden mit Blick auf berufliche Praxisgemeinschaften35 auch Zusammenhänge von qualifikationsbezogenem Wissen, der Entwicklung von Berufsbildern und deren Techniken und Sinngebungen erforscht.36 Wie in Projekten im Bereich der Ernährungsberufe (genauer der Gastronomie) gezeigt werden konnte, ist ein berufswissenschaftliches Vorgehen nun auch bei der Erforschung der Bedingungen zukünftiger Transformationsprozesse unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit (z. B. mit Blick auf nachhaltigkeitsorientierte Arbeits- und Lernorte) äußerst fruchtbar.37 Dabei kann die Überschreitung

29 Vgl. Rauner, Felix: Grundlagen beruflicher Bildung. Mitgestalten der Arbeitswelt, Bielefeld 2017. 30 Ebd., S. 77f. 31 Vgl. ebd., S. 175–177. 32 Vgl. ebd., S. 138–178. 33 Vgl. ebd., S. 24–35, 42–58, 68–77, 84–89, 126–131, 435. 34 Vgl. ebd., S. 201, 374–377. 35 Vgl. ebd., S. 179–182. 36 Vgl. ebd., S. 84–89. Des Weiteren vgl. Spöttl, Georg: The car mechatronic – developement of a futur oriented european occupational profile, in: Rauner, Felix / Spöttl, Georg (Hg.): the automobile, service ans occupation in Europe, Bremen 1995, S. 64–69; Becker, Mathias: Zur Ermittlung von Diagnosekompetenz von Kfz-Mechatronikern – Ein berufswissenschaftliches Forschungskonzept, in: Rauner, Felix (Hg.): Qualifikationsforschung und Curriculum, Analysieren und Gestalten beruflicher Arbeit und Bildung, Bielefeld 2004, S. 167–184. 37 Vgl. Stomporowski, Stephan / Meyer, Heinrich: Globalität und Interkulturalität als integraler Bestandteil beruflicher Bildung für eine nachhaltige Entwicklung, Norderstedt 2009. Des Weiteren vgl. Laux, Benjamin / Stomporowski, Stephan: Strukturen und Einflüsse auf die Implementierung nachhaltiger Arbeits- und Geschäftsprozesse im Segment der Hotellerie. Ergebnisse aus dem Modellversuch ›Nachhaltige Lernorte im Gastgewerbe‹, in: Laux, Benjamin / Stomporowski, Stephan (Hg.): Nachhaltig handeln im Hotel- und Gastgewerbe. Maßnahmen erfolgreich einführen und umsetzen, München 2019, S. 21–46, hier S. 22; Stomporowski, Stephan: Markierungspunkte für eine Fachdidaktik Nachhaltigkeit mit Beispielen aus dem Berufsfeld Ernährung, in: Ders. (Hg.): Die Vitamine liegen unter der Schale.

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des beruflichen Routinewissens ausdrücklich mit einer zunehmenden Vertiefung der involvierten wissenschaftsbezogenen Vernetzungsebenen zusammengebracht werden.38 Darüber hinaus zeigen aber auch die Berichte von Buchtmann und Greb die Bedeutung hermeneutischer Implikationen v. a. für Aufschlüsse berufspädagogisch sinnvoller Reflexionsbegriffe.39 Greb ihrerseits geht dabei v. a. von einer sozialwissenschaftlichen Perspektive aus, die sie dann mit Blick auf eine sozialphilosophische Fokussierung konkretisiert.40

3.

Ausblick: Die Möglichkeit eines Zusammenwachsens von beruflicher Fachdidaktik und Fachwissenschaften auch aus Konfliktpunkten

Für die flankierenden Fachwissenschaften liegen also eigene Zugänge zur berufswissenschaftlichen Forschung im Rahmen von (nachhaltigkeitsorientierten) Wendungen ihres Selbstverständnisses zumindest nahe und können genutzt werden. Zugleich tritt der Sinn der Erweiterung auf eine dezidiert berufswissenschaftliche Forschung erst im Lehrkontext der Berufsschullehrerbildung hervor. Für die Berufsfelddidaktik ist die berufswissenschaftliche Forschung in jedem Falle maßgeblich und kann sogar als ihre Voraussetzung verstanden werden. Insofern erscheint gerade aus berufsfelddidaktischer Sicht ein Dialog auch über berufswissenschaftliche Aspekte und Themen wünschenswert. Ein gegenseitiges Interesse indes lässt sich auch über die gemeinsame Ausrichtung auf normative Kontexte wie die nachhaltige Entwicklung41 und damit verbundene zentrale Begriffe (z. B. Gesundheit oder Ernährungssicherheit) skizzieren. Fokussiert werden könnte in diesem Zusammenhang auch die Frage, über welche

38 39

40 41

Beiträge zur Didaktik der Ernährungs- und Haushaltswissenschaften, Baltmannsweiler 2011, S. 110–147, hier S. 126–129. Vgl. ebd., S. 130–140. Vgl. Buchmann, Ulrike / Greb, Ulrike: Pflegedidaktische Curriculumentwicklung in der Lehrerbildung. Case Management und pflegedidaktische Kategorialanalyse, in: Pflegewissenschaft. Zeitschrift für den Dialog von Wissenschaft und Praxis 5 (2008), S. 301–311, hier S. 310f. Vgl. Greb, Ulrike: Die pflegedidaktische Kategorialanalyse, S. 129. Als Basis dient dabei eine Erweiterung nicht nur des Wissens, sondern damit auch der Überführung einer inhaltlichen Ausrichtung auf berufliche Aufgaben, die schon im Szenario wesentlich über berufliche Routinehandlungen hinausgehen. Vgl. Stomporowski, Stephan: Markierungspunkte für eine Fachdidaktik Nachhaltigkeit mit Beispielen aus dem Berufsfeld Ernährung, S. 120–125.

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Studienangebote Lehramtsstudierende darin gefördert und bestärkt werden können, eine bloß reduktionistische Wahrnehmung zu überschreiten.42 Im Rahmen des zugleich eröffneten Themas der Entwicklung der Lehrerbildung lassen sich aber auch mögliche Konflikte absehen. Schon das von Rauner verfolgte Modell beinhaltet so die Kontroverse der Auswahl und des Zuschnitts curricularer Inhalte. Übernehmen hier doch Berufspädagogik und v. a. Berufsfelddidaktik wesentliche Teile der Forschung und konzeptualisieren damit auch die inhaltliche Ausrichtung der involvierten Lehrerbildung wesentlich.43 Grebs Ansatz setzt wiederum, ausgehend von einer im Grunde rein sozialwissenschaftlichen Perspektive, die Aufstufung kritischer Bezüge zu sinnhaften und sittlichen Implikationszusammenhängen ins Zentrum der Lehrerbildung und stellt das Behandeln entsprechender Probleme weit über funktionale und technische Zusammenhänge.44 Und dass aus dem Fokus der Berufsfelddidaktik auf Nachhaltigkeit auch radikale curriculare Forderungen möglich sind – wie das Einrichten eigener und frühzeitiger Pflichtmodule für die Lehramtsstudierenden mit komplexen und v. a. auch holistischen Perspektivierungen –, ist naheliegend. Anzufügen ist daher, dass der wünschenswerte Dialog konfliktbeladene Fragen nicht ausschließen sollte. Vielmehr scheint schon über die Möglichkeit dieser Konflikte ein zentraler Aushandlungs- und Reflexionspunkt berührt. Dieser betrifft die Frage, wer hier eigentlich warum welche Anliegen an die Lehrerbildung heranträgt und welche begrifflichen Verständnisse dabei jeweils vorherrschen. Die Bereitschaft aller Beteiligten, sich dieser Frage in einem offenen, reflektierenden und verantwortungsbewussten Sinne auszusetzen, dürfte für die Entwicklung einer qualitativ hochwertigen Lehrerbildung auch an einem Standort wie der Landwirtschaftlichen Fakultät der Universität Bonn wesentlich sein.

Literatur Bader, Reinhard / Pätzold, Günter: Aufklärung beruflicher Praxis durch Wissenschaft. Ein ungelöstes Problem der wissenschaftlichen Lehrerbildung für berufsbildende Schulen – Zur Intention des Bandes, in: Bader, Reinhard / Pätzold, Günter (Hg.): Lehrerbildung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Beruf, Bochum 1995. Becker, Mathias: Zur Ermittlung von Diagnosekompetenz von Kfz-Mechatronikern – Ein berufswissenschaftliches Forschungskonzept, in: Rauner, Felix (Hg.): Qualifikations-

42 Vgl. Fegebank, Barbara: Berufsfeldlehre. Ernährung und Hauswirtschaft, Baltmannsweiler 2004, S. 54–80. 43 Vgl. Rauner, Felix: Grundlagen beruflicher Bildung, S. 201, 374–377. 44 Vgl. Greb, Ulrike: Die pflegedidaktische Kategorialanalyse, S. 129, 155f.

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Nachhaltigkeit und berufswissenschaftliche Forschung

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202

Ruben Rapske

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INFORMATIK

Dieter Engbring

Informatik – überschätzt und unterschätzt als Schlüssel zum Verstehen der digital vernetzten Welt oder: Von der Grausamkeit, wirklich Informatik zu unterrichten

1.

Einleitung

Das Schulfach Informatik rückt im Zuge der öffentlichen bzw. veröffentlichten Diskussionen um eine (neu zu definierende?) ›Bildung in der digital vernetzten Welt‹ deutlicher in den Fokus, als es in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts der Fall war. Dies betrifft die Allgemeinbildung wie auch die Lehramtsausbildung. Diese Entwicklungen werden hier wie dort mit Hoffnung und Sorge zugleich wahrgenommen. In diesem Aufsatz wird mit offenem Ende erörtert, was der Beitrag der Informatik zur Allgemeinbildung sein könnte. So hat z. B. das Land NRW zum Schuljahr 2021/22 das Fach Informatik in den Jahrgängen 5 und 6 aller Schulformen eingeführt. Informatik erhält damit einen Platz im Pflichtkanon der Sekundarstufe I. Damit wird auch in diesem Bundesland offiziell aus bildungspolitischer Sicht bestätigt, dass Informatik einen Beitrag zur Allgemeinbildung leistet. In der damaligen Pressemitteilung war zu lesen, dass dadurch die »Schülerinnen und Schüler noch besser auf die heutige Lebens- und Arbeitswelt vorbereitet werden [sollen], die immer mehr von der Digitalisierung geprägt ist. Alle Kinder sollen beispielsweise Grundkenntnisse im Programmieren und Medienkompetenzen im Unterricht erlernen.«1 Im Lehrplan heißt es darüber hinausgehend: »Um junge Menschen auf ein selbstbestimmtes Leben in einer durch Digitalisierung geprägten Gesellschaft vorzubereiten und deren Teilhabe zu gewährleisten, bedarf es einer informatischen Grundbildung als wichtigen Bestandteil der Allgemeinbildung. Die vom Fach Informatik vermittelte informatische Grundbildung umfasst Grundkonzepte und Methoden, die der Lebensvorbereitung und Orientierung in einer von der Informationstechnologie geprägten Welt dienen«.2

1 Vgl. URL: https://www.land.nrw/de/pressemitteilung/ministerin-gebauer-landesregierung-br ingt-einfuehrung-der-faecher-wirtschaft-und [Stand: 13. 10. 2021]. 2 Die Schulministerin NRW: https://www.schulentwicklung.nrw.de/lehrplaene/lehrplan/256/si _kl5u6_if_klp_2021_07_01.pdf [Stand 13. 10. 2021], Hervorhebung im Original.

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Dieter Engbring

Informatische Bildung soll also – und dieser Text wird zeigen, dass das mehr oder weniger ausgeprägt ein durchgängiges Muster aller Diskussionen um computerbezogene Bildung ist – Ziele aus drei Bereichen miteinander vereinen. Erstens soll Wissen über die Struktur der Systeme, ihre Formen bzw. ihre Architektur vermittelt werden.3 Zweitens sollen die Wechselwirkungen mit Gesellschaft und Kultur verstanden werden und drittens sollen die Schüler:innen mit diesen Systemen umgehen lernen. Das Fach erhält einen umfassenden Katalog von Aufgaben, der mit dem gegebenen Stundenvolumen kaum umsetzbar ist. Während den Naturwissenschaften Biologie, Chemie und Physik jeweils sieben Stunden in der Stundentafel der Sekundarstufe I zur Verfügung stehen, sind es für die Informatik nur deren zwei, die zudem auf die Jahrgänge 5 und 6 beschränkt sind. Es ist sehr fraglich, ob und, wenn ja, wie diese weitreichenden Ziele dort erreicht werden können. Denn es zeigt sich, dass Informatik durchaus intellektuell anspruchsvoll ist und nicht beliebig reduziert werden kann und darf. Im dem dieser Einleitung direkt anschließenden zweiten Abschnitt wird zunächst den Begründungen nachgegangen, warum die Informatik auch weiterhin einen so geringen Stellenwert hat. Der dritte Abschnitt befasst sich dann mit den aus Sicht des Faches im Kern zu entwickelnden Kompetenzen, die international unter der Überschrift ›Computational Thinking‹ (CT) diskutiert werden und die auch über das Fach hinausweisen sollen. Im vierten Abschnitt wird gezeigt, warum die Beschäftigung mit deren Architekturen nicht ausreichend ist, die Folgen und Wirkungen (Bedeutungen) der Technologien zu verstehen. Der fünfte Abschnitt befasst sich mit den Versuchen einer auf bestehende Fächer verteilte Unterrichtung computerbezogener Fähigkeiten (›Medienkompetenzen‹?4). Dazu wird vor allem auf das historische Konzept einer ›informationstechnischen Grundbildung‹ (ITG)5 eingegangen, das in gewisser Weise eine Blaupause darstellt für die aktuellen Versuche einer ›digitalen Bildung‹ bzw. präziser ›Bildung für die digital vernetzte Welt‹,6 die sich auch im aktuellen

3 Diese drei Begriffe sind bei Carsten Schulte adaptiert, der von einer im Informatikunterricht zu berücksichtigenden Dualität ausgeht. Diese Dualität hat er zunächst mit ›Struktur und Funktion‹, dann mit ›Form und Bedeutung‹ und schließlich mit ›Architektur und Relevanz‹ bezeichnet. In diesem Text wird im Folgenden Architektur der individuellen sowie der gesellschaftlich-kulturellen Bedeutung gegenübergestellt. 4 ›Medienkompetenzen‹ ist ein Begriff, der schon seit vielen Jahren in einer Vielzahl von (Be-) Deutungen verwendet wird. Vgl. hierzu: Gapski, Harald: Medienkompetenz. Eine Bestandsaufnahme und Vorüberlegungen zu einem systemtheoretischen Rahmenkonzept, Wiesbaden 2001. 5 BLK [Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung] (Hg.): Gesamtkonzept für informationstechnische Bildung. Materialien zur Bildungsplanung, Heft 16, Bonn 1987. 6 So die Langform in der sog. »Dagstuhl-Erklärung«. GI [Gesellschaft für Informatik] (Hg.): Bildung in der digital vernetzten Welt 2016 bzw. ohne ›vernetzt‹ in der Strategie der KMK

Informatik – überschätzt und unterschätzt

207

Medienkompetenzrahmen NRW7 widerspiegelt. Insgesamt werden in den Abschnitten drei bis fünf die bis heute ungelösten Herausforderungen deutlich, die drei oben genannten Zielbereiche unterrichtlich zu verbinden. Der sechste Abschnitt lenkt dann den Fokus darauf, dass eine Einordnung der digitalen Artefakte in die Geschichte von Kultur und Technik nötig wäre, eine solche Verbindung herzustellen. Dazu wird erläutert, warum und wie die Lernprozesse von der Nutzung digitaler Artefakte auszugehen haben, um auch die anderen Zielbereiche zu integrieren. Im abschließenden Fazit mit Ausblick wird die Offenheit der zugrundeliegenden Fragestellungen betont. Hier geht es vor allem um die unter- bzw. überschätzte Rolle hinsichtlich ihres Beitrages zur Allgemeinbildung.8

2.

Informatik – unbeliebt und unbekannt

Unmittelbar nach ihrer Etablierung an den Universitäten (1969–1971) wurde Informatik, als 1972 die gymnasiale Oberstufe reformiert wurde, bereits zum Schulfach. Sie wurde als mögliches Wahlpflichtfach im mathematisch-naturwissenschaftlichen Aufgabenfeld notiert, ohne dass es ausgebildete Lehrkräfte oder konkretisierte Vorstellungen zu den Inhalten und Zielen gab. Solche Vorgaben wurden dann erst 1976 durch die Gesellschaft für Informatik (GI) veröffentlicht, an der sich die meisten Lehrpläne der Bundesländer auch orientiert haben. Passend zum damals noch deutlich mehr auf Wissenschaftspropädeutik ausgerichteten Auftrag der gymnasialen Oberstufe, orientierte die GI sich an den Inhalten, die damals an den Hochschulen unterrichtet wurden, formelhaft beschrieben als ›vom Problem zum Programm, vom Programm zum Rechner‹.9 Die von den Standesvertretern der GI in den Jahren danach immer wieder geforderte Integration in den Pflichtbereich unterhalb der Sekundarstufe II erfolgte nur partiell. Stattdessen wurden (unzureichende) Ersatzangebote etabliert, wie z. B. die bereits erwähnte und im fünften Abschnitt noch genauer darzu[Sekretariat der Kultusministerkonferenz] (Hg.): Bildung in der digitalen Welt. Strategie der Kultusministerkonferenz 2017. 7 In einer kompakten Übersicht: URL: https://medienkompetenzrahmen.nrw/fileadmin/pdf/L VR_ZMB_MKR_Rahmen_A4_2020_03_Final.pdf sowie alles weitere URL: https://medienkom petenzrahmen.nrw [Stand jeweils: 13. 10. 2021]. 8 Diese Formulierung, wie auch die Überschrift dieses Aufsatzes, spielen auf den einleitenden Text von Blankertz an. Vgl. dazu: Blankertz, Herwig: Theorien und Modelle der Didaktik, 9. Auflage, München 1975. 9 Vgl. hierzu GI [Gesellschaft für Informatik] (Hg.): Zielsetzungen des Informatikunterrichts, Nachdruck in: Arlt, Wolfgang / Haefner, Klaus (Hg.): Informatik als Herausforderung an Schule und Ausbildung, Reihe: Informatik-Fachberichte 90, Berlin, Heidelberg, New York, Tokyo 1984, S. 338–346.

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stellende ITG. Die Gründe hierfür sind zum einen in der Ignoranz der bildungspolitischen Verantwortlichen zu suchen, und zwar in zweifacher Bedeutung: Erstens ist es die letztlich entschuldbare Unwissenheit, da dieses Fach bislang nicht angeboten wurde. Dies ist ein Teufelskreis, der kaum zu durchbrechen ist. Zweitens gibt es allerdings auch ein ›Nicht-Wissen-Wollen‹ bzw. ein Geringschätzen, das sich auf alle mathematischen, naturwissenschaftlichen und technischen Kenntnisse bezieht. Zum anderen spielen in die Geringschätzung auch Erfahrungen (keine Empirie) hinein, da man ausgehend von der Oberstufen-Informatik als Außenstehender den Eindruck haben kann, dass Informatik ein Spezialfach für besonders Interessierte und Motivierte (Freaks bzw. Nerds) sei. Tatsächlich ist die Sorge, dass die Inhalte und Ziele der Oberstufen-Informatik auf darunter liegende Jahrgangsstufen ›heruntergebrochen‹ werden, nicht ganz unbegründet, da tatsächlich die normativen Dokumente der GI, so z. B. die Bildungsstandards für die Sekundarstufe I10 oder der Kompetenzrahmen für die Primarstufe11 doch sehr wissenschaftsorientiert ausgefallen sind. Beide fußen sehr deutlich auf den letztlich wissenschaftspropädeutischen Überlegungen zu den ›Fundamentalen Ideen der Informatik‹, wie sie von Andreas Schwill veröffentlicht wurden,12 und dem Ansatz, den Peter Hubwieser13 für das Pflichtfach Informatik an bayrischen Gymnasien konzipiert hat. Das Formale bzw. die Architektur stehen im Vordergrund. Das Ganze wird mit der Hoffnung verbunden, dass dieser Unterricht auch über die Informatik hinaus – vor allem vermittels der der Programmierung vorausgehenden Modellierung – einen Beitrag dazu leistet, dass allgemeine Problemlösefähigkeiten entwickelt werden. Dies ist zugleich auch zentrale These dessen, was international unter der Überschrift ›Computational Thinking‹ (CT) diskutiert wird.

10 Vgl. GI [Gesellschaft für Informatik] (Hg.): Grundsätze und Standards für die Informatik in der Schule Bildungsstandards für die Sekundarstufe I, 28,150/151 (2008). URL: https://infor matikstandards.de/fileadmin/GI/Projekte/Informatikstandards/Dokumente/bildungsstand ards_2008.pdf [Stand: 13. 10. 2021]. 11 GI [Gesellschaft für Informatik] (Hg.): Kompetenzen für informatische Bildung im Primarbereich 2019. URL: https://informatikstandards.de/fileadmin/GI/Projekte/Informatikstanda rds/Dokumente/v142_empfehlungen_kompetenzen-primarbereich_2019-01-31.pdf [Stand: 13. 10. 2021]. 12 Schwill, Andreas: Fundamentale Ideen der Informatik, in: Zentralblatt für Didaktik der Mathematik 25,1 (1993), S. 20–31. 13 Hubwieser, Peter: Didaktik der Informatik. Grundlagen, Konzepte, Beispiele, Berlin, Heidelberg 2000.

Informatik – überschätzt und unterschätzt

3.

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›Computational Thinking‹ und Programmieren

Zum CT lieferte Jeanette Wing im Jahr 2006 eine kompakte und auch von vielen geteilte Darstellung. Deren Kern ist eine Reihe von begrifflichen Gegenüberstellungen gegen Ende ihres Textes, auf die später einzugehen sein wird. Zuvor verweist sie auf alltägliche Beispiele: »Consider these everyday examples: When your daughter goes to school in the morning, she puts in her backpack the things she needs for the day; that’s prefetching and caching. When your son loses his mittens, you suggest he retrace his steps; that’s backtracking. At what point do you stop renting skis and buy yourself a pair?; that’s online algorithms.«14

Damit beschreibt sie, wie lebensweltliche Probleme bzw. Aufgaben mit Strategien der Informatik zu bewältigen sind. Vice versa behauptet sie, dass die Beschäftigung mit den genannten Themen der Informatik solche Kompetenzen befördern würde. Das kann sie jedoch nicht wirklich belegen.15 Sie gibt nur Hinweise darauf, dass Wissenschaftler anderer Fächer diese Denkweisen auch benutzen, was partiell wohl korrekt ist, allerdings so, wie es in Wings Text dargestellt wird, zu Missverständnissen führt. Darauf weist Matti Tedre, der in den letzten Jahren die langandauernde Suche nach CT ausführlich analysiert hat,16 in einem kurzen Aufsatz mit Peter Denning und Pat Yongpradit hin. »Because computation has invaded so many fields, and because people who do computational design in those fields have made many new discoveries, some have hypothesized that CT is the most fundamental kind of thinking, trumping all the others such as systems thinking, design thinking, logical thinking, scientific thinking, etc. This is computational chauvinism. There is no basis to claim that CT is more fundamental than other kinds of thinking.«17

Der erhoffte Nutzen des CT ist mit anderen Worten nicht nur fraglich. Argumentationen in diese Richtung leisten der Informatik womöglich einen »Bärendienst«. Tatsächlich soll das Reden von CT die auf ›Programmieren‹ ausgerichtete Praxis des Informatikunterrichts eine darüber hinaus reichende Be-

14 Wing, Jeanette: Computational Thinking. Communications of the ACM 49,3 (2006) S. 33–35, hier S. 34. 15 Solche Belege sind auch kaum zu erbringen. Es scheint eher sogar so, dass ein an solchen Denkweisen ausgerichteter Unterricht – um es mit einem Wortspiel zu verdeutlichen – solche eher (er-)fordert denn (be-)fördert. Dies zeigt auch ein aus Platzgründen hier nicht zu leistender Blick auf die ähnliche Ziele verfolgende Mathematik. 16 Tedre, Matti / Denning, Peter: The Long Quest for Computational Thinking, Proceedings of the 16th Koli Calling Conference on Computing Education Research, November 24–27, Koli Finland 2016, S. 120–129. 17 Denning, Peter / Tedre, Matti / Youngpradit, Pat: The Profession of IT. Misconception about Computer Science, in: Communications of the ACM 60,3 (2017), S. 31–33, hier S. 32.

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deutung geben. Eine der Gegenüberstellungen, die Wing unter der Überschrift »What it is, and isn’t« darstellt, beschreibt dies: »Conceptualizing, not programming. Computer science is not computer programming. Thinking like a computer scientist means more than being able to program a computer. It requires thinking at multiple levels of abstraction«.18

In eine ähnliche Richtung zielt eine weitere Gegenüberstellung Wings, die mit »ideas, not artefacts«19 überschrieben ist und die dann letztlich auch den Eindruck vermittelt, eine Unterrichtung der abstrakten Ideen wäre hinreichend und ohne Bezug auf Anwendungssyteme möglich. Große Teile der Didaktik der Informatik sehen das ähnlich und stellen anstelle des Programmierens den eigentlich kreativen Prozess des Modellierens in das Zentrum ihrer Begründungszusammenhänge. Schon in den ersten Empfehlungen der GI von 1976 findet sich der seither immer wieder rezitierte Satz, dass Informatikunterricht kein Programmierkurs sei.20 Sie übersehen dabei allerdings, dass es ohne das Programmieren bzw. mit der Einhaltung der strikten Reihenfolge nicht funktioniert. Eigentlich müsste es conceptualizing within programming sowie ideas by artifacts heißen. Ein Ausgrenzen des Programmierens würde die Informatik überdies zu einer zweiten Mathematik machen. Den Spezifika der Informatik würde nicht entsprochen, die eben nicht nur konzeptionell arbeitet, sondern auch implementiert, wozu das Programmieren gehört. Auf diese Besonderheiten nimmt sogar der Lehrplan für den 5. und 6. Jahrgang in NRW Bezug. Ob basale programmiersprachliche Kenntnisse wirklich notwendig sind, kann nicht abschließend beurteilt werden, da es keinen echten Maßstab dafür gibt. Vielleicht sollten sie vermittelt werden, da sie wohl ein Schlüssel sind, um überhaupt hinter die Benutzungsschnittstelle der Anwendungen schauen zu können. Zumindest stellt der US-amerikanische Medienwissenschaftler Douglas Rushkoff diese These auf, dass eine solche Einführung unter dem Leitmotiv ›Program or be programmed‹21 nötig sei, damit eine echte Aufklärung stattfinden könne und die Menschen emanzipiert mit den digitalen Technologien umgehen lernten. Aber besteht ein solcher Zusammenhang tatsächlich?

18 19 20 21

Wing, Jeanette: Computational Thinking. Communications of the ACM 49,3 (2006), S. 35. Ebd. Vgl. GI 1984. Rushkoff, Douglas: Program or Be Programmed. Ten Commands for a Digital Age, Berkeley, Calif. 2011.

Informatik – überschätzt und unterschätzt

4.

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Anwendungen verstehen und bewerten

Die ersten Empfehlungen der GI von 1976 beschreiben den Informatikunterricht auch mit der Zielsetzung, die Auswirkungen des Einsatzes computergestützter Systeme zu verstehen: »Im gesamten Informatik-Unterricht, insbesondere bei den dabei verwendeten Beispielen, sind u. a. folgende Fragen aufzuwerfen: Wer benutzt Rechner? Wozu werden Rechner benutzt? Wozu werden Rechner benötigt? Welche Aufgaben sind erst durch den Einsatz von Rechnern zu bewältigen? Was sind die beabsichtigten und unbeabsichtigten Konsequenzen der Benutzung von Rechnern? Worauf ist bei zukünftigem Einsatz von Rechnern zu achten? Bei wem liegen die Verantwortlichkeiten für den Rechnereinsatz?«22

Diese Ziele sind auch Teil der Bildungsstandards der Sekundarstufe I,23 in denen der Inhaltsbereich ›Informatik, Mensch und Gesellschaft‹ (IMG) ausgewiesen wurde. Allerdings wird durch diesen gesonderten Inhaltsbereich noch mehr als 1976 erkennbar, wie wenig dieser mit den übrigen vier Inhaltsbereichen verbunden ist und wie sehr die vier anderen auf einander Bezug nehmen. Außerdem werden in IMG fast ausschließlich argumentative Kompetenzen adressiert. Die für die Informatik sehr viel spezifischeren Prozesse des Modellierens, Implementierens, Strukturierens oder des Vernetzens finden sich dort kaum. Denn es geht im Bereich IMG nicht nur um die objektiv beschreibbare Architektur (die Technik an und für sich), sondern um deren Bedeutung im Kontext von Nutzung und Herstellung (die Technik im Kontext). Es geht mit anderen Worten um die Integration normativer Aspekte. Diese Herausforderung beschrieb bereits 1992 H. J. Forneck, als er die bis dahin existierenden fachdidaktischen Ansätze in der praktischen Umsetzung untersuchte.24 In Bezug auf den algorithmenorientierten Ansatz, der letztlich Fähigkeiten aus dem Umfeld des CT fokussiert, befand er, dass die eigentlich auch zu adressierenden gesellschaftlichen Folgen bzw. Wirkungen nur Anhängsel des Unterrichts seien. »Die additive Hinzufügung von Fragen der Bewertung gesellschaftlicher Auswirkungen der Informatik verdankt sich der transzendentalen Trias von Objektivität, Information und Subjektivität. Die ersten beiden Regionen der algorithmischen Weltkonstitution sind, da rationalisierbar, eigentlicher Gegenstand des Unterrichts. Die letzte Wirklichkeitsregion ›Subjektivität‹ bleibt dem algorithmischen Denken unfassbar. Deshalb können in einer algorithmenorientierten Konzeption[,] im ›eigentlichen‹ Unterricht[,] 22 Vgl. GI 1984, S. 339. 23 Vgl. GI: Grundsätze und Standards für die Informatik in der Schule Bildungsstandards für die Sekundarstufe I. 24 Traurig, aber wahr: Diese vergleichende Untersuchung ist bis heute die einzige, die die möglichen Ausrichtungen des Informatikunterrichts in den Blick nimmt, auf deren Ergebnisse aber nur wenig Bezug genommen wird.

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Fragen der normativen Richtigkeit und der subjektiven Wahrhaftigkeit nicht integriert werden, weshalb sie additiv angefügt werden müssen.«25

Damit ist eine grundsätzliche, weil der Natur der Sache geschuldete zu bewältigende Herausforderung beschrieben, Kenntnisse über die Strukturen und profunden Einschätzungen zu den Folgen und Wirkungen zu verbinden. Profundes, aber vom Kontext losgelöstes Wissen kann zu massiven Fehleinschätzungen führen. Dies illustrieren – also fernab von Beweisen oder Belegen – zwei Anekdoten. Darin geht es um zwei heute zum Alltag vieler Menschen gehörige Technologien. Der Flugpionier Otto von Lilienthal gab sehr pathetisch seiner Hoffnung Ausdruck, dass der Flugverkehr einen Beitrag zu Völkerversöhnung und Frieden leiste: »Die Landesverteidigung, weil zur Unmöglichkeit geworden, würde aufhören, die besten Kräfte der Staaten zu verschlingen, und das zwingende Bedürfnis, die Streitigkeiten der Nationen auf andere Weise zu schlichten als den blutigen Kämpfen um die imaginär gewordenen Grenzen, würde uns den ewigen Frieden verschaffen.«26

Die zweite Anekdote betrifft Albert Einstein, der sogar noch bei der Eröffnung der Funkausstellung 1930 gemutmaßt hatte, dass der Rundfunk im Unterschied zur Presse zur Völkerverständigung beitrage. »Bis auf unsere Tage lernten die Völker einander fast ausschließlich durch den verzerrenden Spiegel der eigenen Tagespresse kennen. Der Rundfunk zeigt sie einander in lebendigster Form und in der Hauptsache von der liebenswürdigen Seite. Er wird so dazu beitragen, das Gefühl gegenseitiger Fremdheit auszutilgen, das so leicht in Misstrauen und Feindseligkeit umschlägt.«27

Beides ist auch rückblickend nicht falsch, denn sicher haben Fliegen (und Reisen) sowie Radio (und andere elektronische Medien) einen Beitrag dazu geleistet, andere Kulturen besser zu verstehen. Es ist nur einseitig und zu optimistisch. Denn beide Technologien sind auch gänzlich anders genutzt worden: Der Rundfunk wurde zum Propagandainstrument, das gar Völkermord rechtfertigte. Flugzeuge wurden zur Kriegsführung eingesetzt, welche die Zivilbevölkerung deutlich mehr in Kriegshandlungen einbezieht. Die Wirkung von Technik zu beurteilen bzw. zu verstehen, ist mithin eine Frage ihrer Einbettung in den Kontext.

25 Forneck, Hermann-Josef: Bildung im informationstechnischen Zeitalter. Untersuchung der fachdidaktischen Entwicklung der informationstechnischen Bildung, Aarau, Frankfurt am Main, Salzburg 1992, hier S. 177f. 26 Zitiert nach: Waßermann, Michael: Otto Lilienthal – Ein Leben für einen Menschheitstraum, in: Lang, Dieter (Hg.): Hundert Jahre Deutsche Luftfahrt. Lilienthal und seine Erben, Gütersloh, München 1991, hier S. 18. 27 Vgl. URL: https://www.einstein-website.de/z_biography/redefunkausstellung.html [Stand: 13. 10. 2021].

Informatik – überschätzt und unterschätzt

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Diese Einbettung ist ergo leichter gefordert denn umgesetzt. Dies ist auch eine Erkenntnis aus Aufstieg und Fall von ›Informatik und Gesellschaft‹ (IuG) als Teilgebiet der Informatik, das in den 1980er und 1990er Jahren aufwuchs, aber dem selbstgesetzten Anspruch, nicht nur abstrakt ethische Fragen zu erörtern, sondern einen Beitrag zur Praxis zu leisten, nicht gerecht wurde. Eine im Jahr 2002 durchgeführte Untersuchung zur damaligen Lage der IuG-Arbeitsgruppen hat zwei Grundprobleme zu Tage gefördert. Erstens war die Lehre auf Breite, aber nicht auf Tiefe angelegt. Zweitens war die Forschung zwar auf Tiefe angelegt, aber jede Gruppe forschte in ihrem eigenen Feld, ohne dass die dort gewonnenen Erkenntnisse auf andere übertragbar waren.28 Die jeweils anwendungsspezifische Beschreibung des Verhältnisses von Informatik und Gesellschaft führte dazu, dass gemeinsame Kernbereiche der Themen nicht berücksichtigt werden konnten. Diese Problematik betrifft so ähnlich auch die Unterrichtsreihen zu ›Informatik im Kontext‹ (IniK). Diese wurden ersonnen als die Vertreter der GI an den Bildungsstandards für die SI arbeiteten. Die so entstandenen Reihen nehmen oftmals problematische Anwendungen der Informatik zum Ausgangspunkt, um dann allerdings fast ausschließlich die Architekturen der Systeme zu beschreiben. Sie kommen nicht wirklich auf die gesellschaftliche Problematik zurück. Diese Unterrichtsreihen spiegeln zudem nur den gerade aktuellen Stand der Technologie wider. Sie liefern spezifische Erkenntnisse und fußen nicht auf gemeinsamen Prinzipien. Die Unterrichtung einer solchen Reihe liefert nur wenig Exemplarisches für die Beschäftigung mit anderen oder zukünftigen Anwendungskontexten.29 So wäre eine anwendungsbezogene Theorie ein wichtiges Element für eine informatische Bildung, die zur Aufklärung über Informatik beiträgt. Ohnehin kann man den Eindruck gewinnen, dass der Anspruch, auch die gesellschaftlich-kulturelle Bedeutung zu verstehen bzw. einzuordnen, eher einer bildungspolitischen Rhetorik geschuldet ist, um den Beitrag zur Allgemeinbildung zu dokumentieren, denn ernst gemeint ist. Vielmehr besteht bei vielen Informatik-Lehrkräften der tiefe Wunsch, solch Normatives nicht integrieren zu müssen. Sie können sich dabei auf einen großen Denker als Anwalt berufen: Auf Gottfried Wilhelm Leibniz geht die Vision zurück, dass man sich nicht streiten müsse, sondern vielmehr rechnen solle.30 Zum anderen beziehen sie sich auf 28 Engbring, Dieter: Informatik im Herstellungs- und Nutzungskontext. Ein technikbezogener Zugang zur fachübergreifenden Lehre, Dissertation, Universität Paderborn 2004. 29 Engbring, Dieter / Pasternak, Arno: IniK. Versuch einer Begriffsbestimmung, in: Brandhofer, Gerhard / Futschek, Gerald / Micheuz, Peter / Reiter, Anton / Schroder, Karl (Hg.): 25 Jahre Schulinformatik. Zukunft mit Herkunft, Tagungsband, Oesterreichische Computergesellschaft, Wien 2010, S. 100–115. 30 »Das einzige Mittel, unsere Schlussfolgerungen zu verbessern, ist, sie ebenso anschaulich zu machen, wie es die der Mathematiker sind, derart, dass man seinen Irrtum mit den Augen

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Edsger W. Dijkstra, einen der wirklich großen Informatiker, der in seinem berühmt geworden Vortrag ›On the Cruelty of really teaching Computing Science‹31 die Informatik als ausschließlich durch die Mathematik zu fundieren versucht.32 In seinen eigenen Worten beschreibt er sie als ›harte Wissenschaft‹, deren Unterrichtung deswegen Grausamkeit mit sich bringe. Das hierin zum Ausdruck kommende elitäre Bewusstsein Dijkstras hat fatale Außenwirkungen. Die genauen Hintergründe dieses Vortrags und der daran anschließenden Debatte in der Informatik, an deren Ende Dijkstra gar den Bau einer Brandmauer zwischen mathematisch fundierter und auf Anwendungsentwicklung orientierter Informatik forderte, kann hier ebenso wenig dargestellt werden wie die »Sichtweisen-Diskussion« deutschsprachiger Informatiker auf der (letztlich vergeblichen) Suche nach einer ›anwendungsbezogenen Theorie der Informatik‹. Festzuhalten ist, wäre die Informatik Dijkstra gefolgt, hätte sie sich nicht so weit in die Gesellschaft und Kultur eingeschrieben. Informatiksysteme wären nicht so allgegenwärtig, wie sie es heutzutage sind. So ist auch aus fachlicher Sicht die Beschränkung auf das Formale tatsächlich nicht haltbar. Damit stellt sich allerdings die bislang nicht beantwortete Frage, wie die Einschreibung zu thematisieren ist, da es dafür keine Blaupause gibt. Dies zeigen die Erfahrung mit der ›Informationstechnischen Grundbildung‹.

5.

›Informationstechnische Grundbildung‹

Ohnehin ist der Zugang vieler Menschen zur Informatik bzw. genauer zu ihren Anwendungen ein anderer. Dieser erfolgt über deren Allgegenwart. Was aber bedeutet diese Allgegenwart für die Bildung? Erfordert diese tatsächlich, dass die Systeme zum Gegenstand von Bildung zu machen? Was hat die z. B. zu erwirkende Medienkompetenz mit Kompetenzen in der Informatik zu tun, wie sie in der eingangs zitierten Pressemitteilung des Schulministeriums NRW benannt wird?

findet und, wenn es Streitigkeiten unter Leuten gibt, man nur zu sagen braucht: Rechnen wir! ohne eine weitere Förmlichkeit, um zu sehen, wer recht hat«. Vgl. Jaenecke, Peter: Über die Verwirklichung des Calculemus-Gedankens in der Aussagenlogik, in: Breger, Herbert / Herbst, Jürgen / Erdner, Sven (Hg.): Einheit in der Vielheit, VIII. Internationaler LeibnizKongress, Nachtragsband, Hannover 2006. 31 Dijkstra, Edsger Wiebe: On the cruelty really teaching Computing Science, in: Communications of the ACM 32,12 (1989) S. 1398–1404. Dijkstra sprach und schrieb Zeit seines Lebens lieber von Computing Science anstelle von Computer Science, der außerdem wohl immer wieder darauf hinwies, »Computer Science is no more about computers than astronomy is about telescopes.« Allerdings findet sich für diese Aussage keine wissenschaftliche Quelle. 32 Dabei beruft auch Dijkstra sich auf Leibniz Vision.

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Diese Fragen werden schon seit den 1980er Jahren erörtert, da offenbar wurde, dass man Computer nicht mehr programmieren können musste, um sie zu nutzen. Es gab nun Personal Computer (PCs – eigentlich ein Trademark von IBM) mit Anwendungssoftware. Daran anknüpfend gab es ab Anfang der 1980er Jahre eine Diskussion über ›Computer-Literacy‹.33 Mit dieser wurde eine möglichst früh einsetzende ›Computer-Schulung‹ in das Zentrum gerückt, mit dem die beabsichtigte Verwendung von Computern in den Schulen erreicht werden sollte. Geprägt wurde die Bezeichnung ›Computer-Literacy‹ auf der »World Conference on Computers in Education« im Jahr 1980. Dort wurde auf die Gefahr eines drohenden ›Computeranalphabetismus‹ hingewiesen: »Angesichts der Bedeutung des Computers auf allen Gebieten müßte ein gebildeter Mensch zwar nicht Informatiker sein, als unverzichtbare Grundkenntnisse sollte er aber über Fähigkeiten verfügen, z. B.: Computerprogramme benutzen, gängige Computerbegriffe verwenden, einfache Programme schreiben, Probleme umgangssprachlich analysieren und Programme interpretieren.«34

Daran knüpfte in Deutschland die Informationstechnische Grundbildung (ITG) an, die 1984 zunächst als Rahmen- und schließlich 1987 als Gesamtkonzept von der Bund-Länder-Kommission (BLK) veröffentlicht wurde. Im Gesamtkonzept wurden dann die folgenden Aufgaben benannt: »1. Aufarbeitung und Einordnung der Erfahrungen, die Schüler in ihrer Umwelt mit Informationstechnik machen 2. Vermittlung von Grundstrukturen, die den Informationstechniken zu Grunde liegen 3. Einführung in die Handhabung eines Computers und dessen Peripherie 4. Vermittlung von Kenntnissen über die Einsatzmöglichkeiten und der Kontrolle der Informationstechniken 5. Einführung in die Darstellungen von Problemlösungen in algorithmischer Form 33 Dieser Begriff wird seit etwa sieben Jahren, genauer seit Veröffentlichung der ICIL (International Computer and Information Literacy) Studie wieder prominenter gebraucht. Das vergleichsweise schwache Abschneiden der Schüler deutscher Schulen war ein Grund den sog. Digital-Pakt auszuloben. Bos, Wilfried / Eickelmann, Birgit / Gerick, Julia / Goldhammer, Frank / Schaumburg, Heike / Schwippert, Knut / Senkbeil, Martin / Schulz-Zander, Renate / Wendt, Heike (Hg.): ICILS [International Computer and Information Literacy Study] 2013: Computer- und informationsbezogene Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern in der 8. Jahrgangsstufe im internationalen Vergleich, Münster, New York 2014. Sowie: Eickelmann, Birgit u. a. (Hg.): ICILS [International Computer and Information Literacy Study] 2018. #Deutschland – Computer- und informationsbezogene Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern im zweiten internationalen Vergleich und Kompetenzen im Bereich Computational Thinking, Münster, New York 2019. 34 Hauf-Tulodziecki, Annemarie: Die informationstechnische Grundbildung, in: Schulcomputer-Jahrbuch 93/94 1992, S. 99–128, hier S. 103, mit Verweis auf: Lewis, Bob / Tagg, Donovan (Hg.): Computers in Education of the IFIP TC-3. 3rd World Conference on Computers in Education – WCCE81, Reprints, Part 1, 2, Amsterdam, North Holland 1981.

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6. Gewinnung eines Einblicks in die Entwicklung der elektronischen Datenverarbeitung 7. Schaffung des Bewußtseins für die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen, die mit der Verbreitung der Mikroelektronik verbunden sind 8. Darstellung der Chancen und Risiken der Informationstechniken sowie Aufbau eines rationalen Verhältnisses zu diesen 9. Einführung in Probleme des Persönlichkeits- und Datenschutzes«35

Im Vergleich zum Rahmenkonzept sind die Aufgaben 5, 6 und 7 hinzugefügt worden; die 3. Aufgabe ist umbenannt worden. Sie lautete im Rahmenkonzept noch Einübung von einfachen Anwendungen der Informationstechniken. Die Aufgabe 5 tangiert das, was zuvor unter der Überschrift CT diskutiert wurde. Die Aufgaben 1, 4 sowie 6 bis 9 adressieren Einschätzungen der gesellschaftlichkulturellen Bedeutung der ›Informations- und Kommunikationstechnologien‹. 2 und 5 zielen auf die Architektur. Nur die 3. Aufgabe zielt auf die Nutzung. Diese rückte durch ihre Verteilung auf vorhandene Fächer in das Zentrum. Zur Unterstützung des fächerverteilten ITG-Unterrichts in NRW wurden durch das dortige Landesinstitut für Schule und Weiterbildung Themenhefte inkl. Software angeboten (in Klammern die avisierten Fächer): z. B. Warenhaus (Politik oder Arbeitslehre), Industrieroboter (Arbeitslehre, Physik oder Politik), Organische Systeme (Biologie), Firma Plüsch, Spielzeugfirma (Politik), Medien in der Freizeit (Deutsch oder Politik), Lärm (Physik, Biologie oder Politik) und Zeitung (Deutsch und Politik). Diese Aufzählung zeigt zum einen, dass ein Überblick über den damaligen Stand der Technik gegeben werden sollte. Zum anderen wird aber auch deutlich, dass über die Unterrichtsfächer, auf die die ITG verteilt werden sollte, ein wenig schülerorientiertes Überstülpen stattfindet. Diese Orientierung an der Berufswelt und damit der vermeintlichen Zukunft der Schüler:innen ist zwar wichtig für die gewünschte Handlungsorientierung, ist allerdings (und ebenso notgedrungen) an gerade (nicht mehr ganz) aktueller Software ausgerichtet. Forneck kritisiert in seiner Untersuchung, dass nicht »der tägliche Gebrauch der Mikroelektronik im Unterricht bzw. in der Schule zum Gegenstand einer solchen Reflexion gemacht werden. Denn hier existiert eine Wirklichkeit, die die Schüler selbst kennen, die sie selbst betrifft, die sie selbst übersehen (lernen) können und in der sie auch Wirklichkeit aktuell mitgestalten können.«36

Zusätzlich erweist sich die Verteilung auf die Fächer als Problem, wie Forneck befindet: 35 BLK: Gesamtkonzept für informationstechnische Bildung. Materialien zur Bildungsplanung, S. 12. 36 Forneck, Hermann-Josef: Bildung im informationstechnischen Zeitalter. Untersuchung der fachdidaktischen Entwicklung der informationstechnischen Bildung, S. 253.

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»Das abendländische Bildungsverständnis beruht wesentlich darauf, dass die Objekte und die Zusammenhänge erkannt und durchschaut sein müssen, um sich eine selbstbestimmte Meinung bilden zu können. Inwiefern die aber ohne eine Einführung in die diese technische Entwicklung konstituierende wissenschaftliche Disziplin und damit in die Logik der Denkungsart möglich ist, bleibt in diesem Ansatz ein ungelöstes Problem.«37

Weitere Herausforderungen offenbaren die Untersuchungen Ulrike Wilkens’ zum Scheitern der ITG. Sie konstatiert ein ›allmähliches Verschwinden‹ aus drei Gründen: Erstens sei die ITG verschwunden, weil sie nicht oder kaum unterrichtet wird. Zweitens würden die ( jetzigen) Inhalte der ITG durch die technische Entwicklung überholt. Und drittens werden computergestützte Systeme derartig alltäglich und zugleich allgegenwärtig, das ihnen niemand mehr allgemeinbildende Relevanz zubilligt.38 Die Allgegenwart und die Selbstverständlichkeit ihrer Nutzung (sie sind i. d. R. leicht zu bedienen) erfordert in der Tat einen anderen Zugang, der – und das betrifft dann auch zweitens – unabhängig vom Stand der Technologie formuliert werden müsste. Die benannten Herausforderungen sind nicht gelöst. Sie betreffen in gleicher Weise die aktuellen bildungspolitischen Papiere. Das sind die schon erwähnte KMK-Strategie zur ›Bildung in der digitalen Welt‹39 und die an diese anknüpfende, weil in ihr geforderte landesspezifische Konkretisierung des Medienkompetenzrahmens NRW,40 wie auch die ›Dagstuhl-Erklärung‹,41 in der drei sehr ähnliche Perspektiven ausgewiesen werden, die in der ebenso illustrativen wie instruktiven Darstellung des ›Dagstuhl-Dreiecks‹ zum Symbol für die Struktur ›digitaler Bildung‹ wurde. Allerdings wird in dieser Erklärung wie auch in den Erläuterungen zum daran anknüpfenden sog. ›Frankfurt-Dreieck‹42 drei Jahre später nur dazu aufgerufen, diese drei Perspektiven unterrichtlich zu verbinden, ohne dass auf die Herausforderungen Bezug genommen wird. Um eine Unabhängigkeit vom Stand der Technologien zu erzielen, ist der Bezug auf die informatischen Grundlagen allerdings – wie zuvor argumentiert – nur ein Baustein, da hierin die normativen Fragen des Warum bzw. des Wozu nicht wirklich beantwortet werden. Diese Fragen so allgemein und so konkret wie 37 Ebd. 38 Vgl. Wilkens, Ulrike: Das allmähliche Verschwinden der informationstechnischen Grundbildung. Zum Verhältnis von Informatik und Allgemeinbildung, Aachen 2000. 39 Vgl. KMK [Sekretariat der Kultusministerkonferenz] (Hg.): Bildung in der digitalen Welt. Strategie der Kultusministerkonferenz 2017. 40 Vgl. URL: https://medienkompetenzrahmen.nrw [Stand: 13. 10. 2021]. 41 Vgl. GI 2016: Bildung in der digital vernetzten Welt 2016. In dieser ist gar von einer ›Bildung in der digital vernetzten Welt‹ die Rede; allerdings ist zu konstatieren, dass das zusätzliche ›vernetzt‹ dort nicht prominent aufgegriffen wird. 42 Brinda, Torsten et al.: Frankfurt-Dreieck zur Bildung in der digital vernetzten Welt, in: Pasternak, Arno (Hg.): Informatik für Alle, Bonn 2019, S. 25–33.

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möglich zu beantworten, ist der Schlüssel. Dazu taugt die Informatik, aber auch eine auf die Fächer verteilte informationstechnische Grundbildung offenbar nicht. Ein Perspektivwechsel, wie ihn schon Forneck in seiner damaligen Zusammenfassung beschrieb, scheint nötig: [Der] Informatikunterricht [vermag] die Leistung traditioneller Fächer insofern nicht zu erreichen, weil die Technisierung der Lebenswelt einen Entwicklungsstand angenommen hat, der es nicht mehr möglich erscheinen lässt, dass Individuen verstehende Rekonstruktionen dieser Wirklichkeit allein, sozusagen als Ausfluss eines wie auch immer gearteten Fächerkanons, zu leisten vermöchten. Unabhängig davon, ob man dieser Problemanalyse zustimmt, bleibt die bildungstheoretische und didaktische Herausforderung eines Faches »Technik«, welches die konstruktive und damit schöpferische technische Tätigkeit menschlichen Handelns fokus[s]iert. Ein solches Fach ist in einer Kultur, deren wesentliche Leistungen technischer Natur sind, längst überfällig.43

Ein solches Fach Technik unterschiede sich allerdings von den bisherigen Ausprägungen dieses Faches, da es nicht nur Großtechnologien und Handwerkstechniken, sondern auch Techniken der Kultur in den Blick nehmen und damit eine allgemeine, auf die Anwendungen bezogene Theorie dessen, was Menschen mit Medien und Werkzeugen machen, bieten würde.

6.

Technikgenese und Interaktion

Der oben bereits erwähnte Versuch einiger aus der Informatik, eine umfassende auf die Anwendungen bezogene Theorie der Informatik zu finden, war vermessen und ist auch folgerichtig gescheitert. Eine solche Theorie wird man allenfalls für spezielle Anwendungskontexte finden, wie z. B. für die sog. BüroAnwendungen. Bei deren Einordnung spielen metaphorisch genutzte Begriffe, wie Werkzeug, Medium, Instrument und Maschine eine wichtige Rolle. An deren Deutung ansetzend, werden für eine solche Sichtweise im Folgenden Versatzstücke dargestellt, die sich mit den drei Perspektiven informatischer, informationstechnischer bzw. ›digitaler‹ Bildung verbinden lassen und diese miteinander in Beziehung setzen. In ihrer Zusammenarbeit mit Frieder Nake beschreibt Ulrike Wilkens die Produkte der Informatik mit dem Terminus »instrumentales Medium«44, womit sie darauf verweist, dass diese Anwendungen sowohl einen medialen als auch

43 Forneck, Hermann-Josef: Bildung im informationstechnischen Zeitalter. Untersuchung der fachdidaktischen Entwicklung der informationstechnischen Bildung, S. 274. 44 Wilkens, Ulrike / Nake, Frieder: Das ästhetische Labor – ein Beitrag zur informationstechnischen Lehrerbildung, S. 330.

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einen instrumentellen Charakter haben. Ähnliches beschreibt auch der Medienund Kommunikationstheoretiker Marshall McLuhan. Er weist darauf hin, dass Technisierungen neben dem instrumentellen auch einen medialen Aspekt haben.45 Während McLuhan damit ursprünglich nur an Verbreitungsmedien für den Transport von Gütern, Energien und Informationen gedacht hat, ist in der Rezeption eine Erweiterung dieser Sichtweise erfolgt, durch die alle Techniken als Medien der Handlungsvermittlung und des Aufbaus von Interaktionsstrukturen verstanden werden. Dass die Begriffe ›Medien‹ und ›Werkzeuge‹ sich überschneiden, zeigen auch die Erkenntnisse aus dem Bereich der Anthropologie. Techniken des Handwerks und der Kultur sind eng miteinander verwandt. Der Kulturanthropologe André Leroi-Gourhan verweist in seinen Schriften darauf, dass die Erweiterung kognitiver Fähigkeiten auf der Weiterentwicklung von Medien und Werkzeugen beruht, so dass letztlich die Evolution der Menschheit als Genese ihrer Techniken zu beschreiben sei.46 Darauf nimmt in seiner Habilitationsschrift zur SoftwareErgonomie Reinhard Keil-Slawik Bezug. Er stellt die Zusammenhänge zwischen den Techniken des Handwerks und der Kultur nicht nur dar, sondern gewinnt daraus Kriterien für eine ergonomische bzw. dem Menschen gerecht werdende Gestaltung interaktiver Systeme, indem er die Medien, Werkzeuge und Instrumente (Artefakte) im Kontext geistigen Tuns als externes Gedächtnis erkennt und damit entlastende Funktionen beschreiben kann. Im physischen Umgang – dies betrifft notwendige handwerkliche Tätigkeiten und auch die Wahrnehmung – mit diesen Externalisierungen sind die Prozesse effizient zu gestalten. Was im Kopf geschieht, könne weitestgehend unberücksichtigt bleiben. Der Aufwand im physischen Bereich ist insbesondere dann hoch, wenn man viele sich wiederholende Handlungen durchführen muss, die zudem nur durch das Medium bzw. Werkzeug erzwungen werden. Von diesen erzwungenen Handlungen können solche an eine universelle Rechenmaschine abgegeben werden, die sich vollständig (z. B. algorithmisch) beschreiben lassen.47 Denn universelle Rechenmaschinen (vulgo Computer) können jede formale (d. h. interpretationsfreie, schematisierte und schriftliche48) Beschreibung sogar zuverlässiger ›verarbeiten‹ als Menschen. Mit dieser Sichtweise auf die Komplementarität von Mensch und Maschine ordnet Keil-Slawik nicht nur die Produkte der Informatik als wenig 45 Vgl. McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle – Understanding media, Dresden [u. a.] 1994. 46 Sehr viel ausführlicher beschrieben in: Leroi-Gourhan, André: Hand und Wort – Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt am Main 1988. 47 Vgl.: Keil-Slawik, Reinhard: Konstruktives Design. Ein ökologischer Ansatz zur Gestaltung interaktiver Systeme, Habilitationsschrift, Forschungsbericht des Fachbereichs Informatik, Bericht Nr. 90–14, TU Berlin 1990. 48 Vgl. Krämer, Sybille: Symbolische Maschinen. Die Idee der Formalisierung im geschichtlichen Abriß, Darmstadt 1988.

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revolutionär denn in der Evolution der Menschheit liegend, sondern stellt sich auch gegen die Sichtweisen der Forschungen zur Künstlichen Intelligenz (KI), die Mensch und Maschine als letztlich funktional äquivalent betrachten – dies ist möglicherweise einer der Gründe, warum die Sichtweise Keil-Slawiks keine große Resonanz in der Informatik gefunden hat. So ist der Begriff des ›Lernens‹ im Kontext von Forschungen der KI ohne Bedeutungsverlust durch den Begriff ›Autokalibration‹ zu ersetzen.49 Diese auf den Prozess der Technikgenese (also auf das Erfinden) gerichtete Betrachtung ist zudem kompatibel mit Sichtweisen der Techniksoziologie, die auch die Artefakte in deren Kontext stellt und zu verstehen, nicht zu bewerten sucht. Der Kontext wird nach deren Einschätzung zum einen durch die Nutzungsprozesse bestimmt, die Keil-Slawik mit in den Blick nimmt, und zum anderen durch die bestehenden Konventionen, Regeln, Normen (z. B. geschriebene und ungeschriebene Gesetze). Die Artefakte, Umgangsformen und Regeln werden als drei Strukturmomente der Technikgenese betrachtet. Wolfgang Krohn notiert dazu, dass die Erfindung des Telefons »erstens die Erfindung einer neuen Organisationsform der Kommunikation, der Kommunikation über große Raumgrenzen hinweg [ist], zweitens natürlich die Erfindung einer Apparatur, und es ist auch die Erfindung bestimmter Verhaltensregeln hinsichtlich der Fernkommunikation«.50

Entsprechend diesem im Zitat angedeuteten Strukturmodell lassen sich auch computergestützte Technologien beschreiben. Vor allem wird deutlich, dass die Verwerfungen, die z. B. derzeit im Kontext sozialer Medien zu beobachten sind, nicht nur Ausfluss deren technischer und struktureller Eigenschaften sind, sondern auch Folge des Umgangs mit diesen bzw. aus dem Mangel an Regulierung resultieren. Last but not least korrespondiert Krohns Sichtweise auf die Technikgenese mit den Strukturmodellen einer ›Bildung in der digital vernetzten Welt‹. Das sind das oben schon erwähnte »Dagstuhl-Dreieck« und dessen Nachfolger, das »Frankfurt-Dreieck«. Die darin benannten Perspektiven verweisen auf die Strukturmomente des Technikgeneseprozesses. In der Abbildung 1 wird der Versuch unternommen, dies aufzuzeigen. Dabei wurde der grundlegende Aufbau des ›Dagstuhl-Dreiecks‹ bzw. des ›FrankfurtDreiecks‹ beibehalten. Es wurden nur die Perspektiven an den Seiten des Dreiecks umbenannt. So ist statt ›technischer Perspektive‹ von Konstruktionen und Dekonstruktionen die Rede, mit denen auf die Artefakte (deren Strukturen, 49 Eine Überlegung aus der damaligen Diplom-Arbeit meines Kommilitonen Matthias Ohlemeyer zu Neuronalen Netzen. 50 Krohn, Wolfgang: Zum historischen Verständnis der Technik, in: Hurrle, Gerd (Hg.): Technik – Kultur –Arbeit, Marburg 1992, S. 27–34, hier S. 28.

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Abb. 1: Technikgenese und ›digitale Bildung‹.

Formen und Architekturen) geblickt wird. Die gesellschaftlich-kulturelle Perspektive ist nun mit Wechselwirkungen umbenannt und verweist auf die gesellschaftlichen Konventionen, die nicht nur zu beachten, sondern auch im politischen Prozess mitzugestalten sind. Unten ist die Handlungsperspektive in Interaktionen umbenannt und bezieht sich auf die individuellen Umgangsformen. Diese Interaktionen zum Ausgangspunkt von ›digitaler Bildung‹ zu machen, ist, wie oben bereits in Bezug auf die ITG beschrieben, gescheitert. Einige Gründe dafür sind benannt worden. Dazu gehört auch und gerade der Versuch, für die gerade aktuelle Technik Bedienungsschulungen vorzunehmen, die diese eher fremdbestimmen. Eine begriffliche Unterscheidung von ›bedienen‹ und ›benutzen‹ legte R. Peschke bereits 1991 vor: »Der Bediener dieser Techniken hat lediglich Daten einzugeben, ist aber ansonsten in ein fertig ablaufendes Programm eingebunden. Der Benutzer möchte anspruchsvollere Probleme und Anwendungen bearbeiten, ohne dafür spezialisierte und vertiefte Kenntnisse der Computertechnik zu benötigen.«51

Entsprechend sind die Benutzungsperspektive und damit die Motivation und das Interesse, Computer nutzen zu wollen, eine wichtige Grundlage, von der aus Unterricht zu gestalten ist. Diesbezüglich hilfreich sind die Erkenntnisse zu den Computernutzungsbiografien, die Maria Knobelsdorf in ihrer Dissertation ausgewertet hat. 51 Peschke, Rudolf: Grundideen des Informatikunterrichts. Erfahrungen und Perspektiven aus den »alten« Ländern der Bundesrepublik Deutschland, in: LOG IN 10,6 (1990), S. 25–33, hier S. 32.

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Abb. 2: Rollen im Umgang mit Computern.52

Im Ergebnis unterscheidet sie vier Umgangs- bzw. Betrachtungsweisen, die aufeinander aufbauen: Ausprobieren, Anwenden, Verändern und Erzeugen (vgl. Abb. 2). Sie hat zudem herausgefunden, dass die vierte Stufe, die sie mit ›Erzeugen‹ kennzeichnet, bei der ›der Computer‹ (eigentlich die jeweilige Anwendung) zum kreativen Werkzeug wird, nur von Informatik-Affinen erreicht wird.53 Insofern ist es sehr fragwürdig, dass der Informatikunterricht (IU) seinen Zugang vor allem über Modellieren und Implementieren versucht, wo kreative Aufgabenlösungen gefordert werden, aber die darunterliegenden, eigentlich vorausgehenden Umgangsweisen von untergeordneter Bedeutung sind. Die anderen kommen allenfalls dazu, die Systeme als ›Wundertüte‹ zu begreifen, so dass sie diese Systeme für sich anpassen, d. h. ›verändern‹ können. Mithin stehen ›Ausprobieren‹ und ›Anwenden‹ am Anfang der Computerbiografien und sollten als solche denn auch Ausgangspunkt des Lernens sein. Unter anderem daran anknüpfend hat Lea Budde kürzlich in ihrer Dissertation untersucht, ob und wie man ausgehend von solchen Interaktionserfahrungen auch eine Beschäftigung mit der Architektur der Systeme stattfindet und ob die daraus resultierenden Kenntnisse auch der Interaktion helfen. Dies scheint sich zu bestätigen. Budde schreibt zusammenfassend: »[D]ie Einnahme der beschreibenden Perspektive auf die Architektur [ist] für einen kompetenten Umgang mit digitalen Artefakten notwendig […]. Es kann davon ausgegangen werden, dass Interesse und Wissen über die Architektur eines digitalen Artefaktes den Menschen ermöglich[en], die Rolle des naiven Benutzers beziehungsweise

52 Knobelsdorf, Maria: Biographische Lern- und Bildungsprozesse im Handlungskontext der Computernutzung, Dissertation, Freie Universität Berlin 2011, S. 144. 53 Ebd.

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der naiven Benutzerin zu verlassen, komplexe Funktionen zu nutzen und Änderungen am Artefakt vorzunehmen.«54

Das von Budde untersuchte Zusammenspiel von Interaktionsrollen, Selbst- und Weltbildern legt nahe, dass die Anwendungen der Informatik zum Ausgangspunkt von Bildungsprozessen zu machen, ertragreich sein kann. Die dann zu destillierenden Prinzipien (»ideas«) wären allerdings weniger die fundamentalen Ideen der Kerninformatik, sondern die Prinzipien des Medien- und Werkzeuggebrauchs, die in diesem Abschnitt angedeutet wurden.

7.

Fazit und Ausblick

Auch nach den Ausführungen in diesem Beitrag sind viele Fragen offen, da noch niemand einen solchen benutzungsorientierten und auf Techniken der Kultur ausgerichteten Ansatz hat gestalten können, der über die Nutzung digitaler Artefakte hinausreicht, diese in ihrer Architektur analysiert, die grundlegenden Ideen bzw. Prinzipien destilliert und dann auch noch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen thematisiert. Hierfür scheint jedoch eine gewisse Notwendigkeit vorzuliegen. Diese angewandte bzw. kontextuelle Informatik zu unterrichten, würde für viele Informatik-Lehrkräfte vielleicht nicht grausam sein, aber doch qualvoll. Sie müssten sich von den formalen Strukturen, vor allem von dem nur konstruktiven Umgang mit diesen lösen. Sie müssten das Konstruieren bzw. das Analysieren unter Einbeziehung unscharfer kontextueller Einflüsse durchführen, die nicht klar mit richtig oder falsch bewertbar sind und sogar auf Werturteilen beruhen. Damit verlieren sie zugleich an (wissenschaftlicher) Tiefe. Dieses Fremdeln der Lehrkräfte ist ebenso mit in Rechnung zu stellen wie die Dispositionen der Lernenden. Diesbezüglich kann man zwar plausible Sichtweisen auch mit dem Blick über den Zaun zu anderen Fächern und ihren Didaktiken antizipieren. Allerdings ist die Didaktik der Informatik diesbezüglich nicht sonderlich weit. Entscheidend ist allerdings – um es in der Fußballersprache zu sagen – ›auffem Platz‹. Die alltägliche Unterrichtspraxis muss dafür ins Zentrum der Forschung rücken. Die Implementation von Pflichtfachangeboten zur Informatik bietet dazu die Möglichkeit, die alltägliche Unterrichtspraxis zunächst und vor allem qualitativ zu untersuchen, um die hier auch angedeutete Breite des Feldes an Fragen, Herausforderungen und Interdependenzen zu eruieren. So können in empirischen Untersuchungen in den kommenden Jahren Anspruch 54 Budde, Lea: Entwicklung und Rekonstruktion einer interaktionsgeprägten Sichtweise auf das komplementäre Mensch-Maschine-Verhältnis, Dissertation, Universität Paderborn 2021, S. 235.

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und Wirklichkeit miteinander verglichen werden. Ein Ergebnis könnte sein, dass sich die dargestellten Herausforderungen auch mit traditionellem Informatikunterricht bewältigen lassen. Dieser Auftrag, Anspruch und Wirklichkeit zu erforschen, betrifft allerdings nicht nur die Informatik, sondern alle Fächer. Auch sie sollten sich fragen, welche ihrer Inhalte und Ziele (noch) wirklich wichtig oder doch nur nützlich oder gar bloß weiterbildend sind, da zu sehr in die Tiefe gegangen wird. So könnte Raum geschaffen werden, um die in diesem Aufsatz immer wieder angedeuteten wichtigen (interdisziplinären) Kompetenzen in den Zwischenbereichen zu thematisieren, die durch die Fachgliederung nicht erreicht werden. Vielleicht wird nicht nur der Beitrag der Informatik zur Allgemeinbildung sowohl unter- als auch überschätzt.

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Dieter Engbring

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KATHOLISCHE RELIGION

Bert Roebben

Religionsunterricht? Systemrelevant! Generative Themen im aktuellen religionsdidaktischen Diskurs

Einleitung Mit der Corona-Pandemie hat sich ein tiefes Paradoxon in unserem modernen Bildungssystem eingenistet. Das pädagogische Projekt, das unser Handeln mit Kindern und Jugendlichen leitet, hat seine Richtung verloren. Was ist der Zweck von Bildung? Was ist der Sinn von Bildung? Welches Bild vom guten Leben inspiriert unsere Bemühungen? Welches Bild vom Menschen ist leitend bei unserer Arbeit? Die Pandemie zwingt uns, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Sie zwingt uns zur Auseinandersetzung mit Pädagogik auf eine neue Art und Weise, weil sie uns zwingt, uns mit der Zukunft der Humanität als globales Projekt auseinanderzusetzen. Aber welchen Weg können wir dann gehen: eine PostCorona-Pädagogik als schulische Neuorganisation von Hygieneregeln, als radikale Unterbrechung des Altbekannten, als Intensivierung wichtiger Erkenntnisse aus der Vergangenheit oder als Beschleunigung der digitalen Schritte, die wir in dieser Zeit der Krise zu gehen gelernt haben? Pädagogik und Didaktik haben es schwer, weil Lehrerinnen und Lehrer sowie in der Lehrerausbildung Tätige keine Zeit haben innezuhalten und sich neu zu orientieren inmitten des Chaos von Alternativen. Eines ist sicher: Wir können nicht länger so tun, als sei nichts geschehen. Etwas ist mit uns passiert: Wir sind andere Menschen geworden – zwischen Hoffnung und Angst – und unsere Bildung trägt Narben davon, unwiderruflich. Lasst uns in der Zerbrechlichkeit ausharren, schrieb ich 2020 während des ersten Lockdowns, und uns auf ein Neues Verletzliches Wir1 vorbereiten, das auch unsere Bildung wiederbeleben wird, sobald wir aus unseren Katakomben befreit sind und uns wieder kollegial in die Augen schauen.2 Klingt diese Aussage naiv? 1 Vgl. Roebben, Bert: Volharden in de broosheid. Spiritualiteit in tijden van corona, 2. Aufl., Antwerpen 2020. 2 Vgl. Roebben, Bert: Religiöse Bildung in Europa – Quo vadis? Unkonventionelle Gedanken in unkonventionellen Zeiten, in: Religionspädagogische Beiträge 83 (2020), S. 98–105.

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Ja, sowohl was die Einschätzung der Pandemie als auch die pädagogischen Konsequenzen angeht. Und heute tappen wir immer noch im Dunkeln und unsere Augen haben sich an die fehlende Perspektive gewöhnt. Das hört sich alles relativ kulturpessimistisch an und das ist es auch. Es ist eine Wüstenerfahrung, in die wir unsere Kinder und Jugendlichen wider besseres Wissen geführt haben. Und wir müssen hier herauskommen, bewusst und besser. Dass Lehrerinnen und Lehrer alles getan haben, um das Leben der Kinder und Jugendlichen zu teilen, um ihnen im doppelten Paradox von Bildungsstagnation und kommunikativer Distanz nahe zu sein, steht außer Frage. Sie haben wirklich das Unmögliche geschafft. Als Corona-Helden hätten sie mehr geehrt werden müssen! Eines der ersten Schulfächer, das während der ersten Corona-Welle (Frühjahr 2020) in vielen Schulen ausfiel, war Religion. Wie Sport und Musik erwies es sich als nicht systemrelevant und konnte still und leise aus dem Lehrplan entfernt werden. In der zweiten Welle (Herbst 2020) lag der allgemeine Schwerpunkt im Unterricht auf der Lernbenachteiligung, und auch Religion musste als reines Wissensfach erneut im Fächerkanon aufgenommen werden. Digitale Produkte wurden entwickelt, um die Schülerinnen und Schüler nicht abdriften zu lassen, aber die Prozesse blieben zu wenig berücksichtigt. Viele (Hochschul-)Lehrerinnen und -Lehrer, darunter auch ich, gingen in die Gegenoffensive und suchten den Kontakt zu ihren Schülerinnen und Schülern sowie Studierenden, zwar über Zoom und ähnliche Kanäle, aber in jedem Fall mit dem Ziel, auf Lernbegegnungen zu setzen oder zu »lernen in der Gegenwart des Anderen«.3 Selbständiges Lernen wurde wiederum mit Präsenzlernen (möglicherweise in der Schule und/ oder virtuell) verknüpft und Lernprozesse auf dem Weg dorthin erhielten Vorrang vor Lernprodukten am Ende. Bei der dritten Welle (Frühjahr 2021) wurden in der Presse Stimmen laut, die Lernprozesse in der Schule einfach wegzulassen, Kindern und Jugendlichen Raum zu bieten für mentale Erholung und so die Schule in ein wellness center zu verwandeln. Die Versuchung, das Fach Religion wieder in ein Laberfach zu verwandeln, lauerte um die Ecke. Für viele Religionslehrerinnen und -Lehrer eine inakzeptable Alternative. Und dies zu Recht.

1.

Die Ausrichtung der Religionsdidaktik neu gestalten?

Zum Zeitpunkt, zu dem ich diese Zeilen schreibe (Mai 2021), sind die Zukunftsaussichten fragil und ein grundsätzliches Umdenken ist erforderlich. Wo wollen wir eigentlich wirklich hin? Was ist die Essenz von Religion in der Schule 3 Vgl. Roebben, Bert: Theology Made in Dignity. On the Precarious Role of Theology in Religious Education (Louvain Theological and Pastoral Monographs 44), Leuven, Paris, Bristol 2016, S. 13–21.

Religionsunterricht? Systemrelevant!

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in und nach der Corona-Krise? Die Zeiten zwingen uns, zum Kern der Sache vorzudringen und dies, mehr denn je, gemeinsam mit den uns anvertrauten Kindern und Jugendlichen – on equal terrain with them.4 Beim Thema Religion geht es um gemeinsame Suchprozesse und relevante Informationen über die menschliche Existenz und Transzendenz – oder anders gesagt, über das PersonSein und über die ultimate reality (Paul Tillich) dieses Person-Seins, auch in Zeiten der Krise.5 Der Schüler/die Schülerin ist herausgefordert, sich als Mensch in die Gemeinschaft einzubringen und zu lernen, seine/ihre Position im Spannungsfeld von Immanenz und Transzendenz kritisch und auf der Basis relevanter Quellen zu bestimmen. Das ist die spezifische (tiefe und breite) theologische Finalität des Faches, die zur Bildungsaufgabe der modernen Schule gehört.6 Die großen Religionen und nicht-religiösen Weltanschauungen haben ihr Licht auf diese Frage geworfen. Sie können uns heute inspirieren. Kinder und Jugendliche haben ein pädagogisches Recht auf diese Erkenntnisse. Guter Religionsunterricht unternimmt einen gemeinsamen Pilgerweg mit Kindern und Jugendlichen, um diesen Einsichten auf lebenserfüllende Weise nachzuspüren und auf dem Weg dorthin Grundlagen zu legen, heute mehr denn je.7 Um diese Herausforderung in ihrer ganzen Komplexität genauer formulieren zu können, ist die Dreiteilung der Fachdidaktik Religion hilfreich, die der verstorbene niederländische Theologe Hans van der Ven in seinem Buch von 1982 »Kritische Godsdienstdidactiek« vorgeschlagen hat.8 Seiner Meinung nach ist es die Aufgabe der (1) fundamentalen Fachdidaktik, die Landschaft abzubilden, in der Kinder und Jugendliche in einer gegebenen Zeit lernen, mit Fragen der Existenz und Transzendenz umzugehen. (2) Die allgemeine Fachdidaktik stellt Konzepte zur Verfügung, die als Orientierungshilfe dienen, um diese Landschaft 4 Tom Beaudoin, zitiert in Roebben, Bert: Religiöse Bildung in Europa, S. 71. 5 Vgl. Roebben, Bert: »What if God was one of us?« Über die Theologizität religiöser Bildung in der Schule, in: Bauer, Daniel / Klie, Thomas / Kumlehn, Martina / Obermann, Andreas (Hg.): Von semiotischen Bühnen und religiöser Vergewisserung. Religiöse Kommunikation und ihre Wahrheitsbedingungen (Festschrift Michael Meyer-Blanck), Berlin, Boston 2020, S. 385–401, hier S. 389–393. 6 Vgl. Englert, Rudolf: Religion gibt zu denken. Eine Religionsdidaktik in 19 Lehrstücken, Stuttgart 2013, S. 36–50; vgl. Roebben, Bert: Glauben und Vertrauen in der Bildung. Elemente einer katholisch-theologischen Bildungstheorie, in: Theologische Quartalschrift 199 (2019), S. 119–132. 7 Vgl. Davids, Nuraan / Waghid, Yusef: Teaching and Learning as a Pedagogic Pilgrimage. Cultivating Faith, Hope and Imagination, London, New York 2019; vgl. Roebben, Bert: Theology Made in Dignity, S. 25–42. 8 Vgl. van der Ven, Johannes A.: Kritische godsdienstdidactiek, Kampen 1982. Für einen Überblick über die aktuelle Debatte in Deutschland zum Thema, vgl. Riegel, Ulrich & Rothgangel, Martin: Religionsdidaktik. Bestandsaufnahme und Forschungsperspektiven, in: Rothgangel, Martin u. a. (Hg.): Lernen im Fach und über das Fach hinaus. Bestandsaufnahmen und Forschungsperspektiven aus 17 Fachdidaktiken im Vergleich, Münster, New York 2020, S. 339–362.

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zugänglich zu machen. Sie tragen dazu bei, den Lernweg nachvollziehbar zu machen. Die (3) spezifische Fachdidaktik befasst sich mit den konkreten Unterrichtsmitteln und -inhalten, die Lehrerinnen und Lehrer methodisch zur Verfügung haben, um den Lernweg mit ihren Schülerinnen und Schülern tatsächlich zu gehen. Für Hans van der Ven sind die Grundlagen der Religionsdidaktik in einem emanzipatorischen Bewusstsein verankert: Gute religiöse Bildung muss zu einer besseren Welt für alle beitragen. Diese pädagogische Grundintuition (u. a. entlehnt von den Bildungsphilosophen Hans-Jochen Gamm und Klaus Mollenhauer) verknüpfte van der Ven Anfang der achtziger Jahre mit der Befreiungstheologie und der Reich-Gottes-Idee, und zwar so weit, dass ihm zufolge eine gute religiöse Bildung zugleich eine Kritik des bürgerlichen Christentums sein sollte. Die biblische Ethik ist nach van der Ven eine pädagogische Leitlinie für ein gutes Leben und Zusammenleben und sollte auch das allgemeine und spezifische berufsdidaktische Handeln leiten. Sind solche pädagogischen Grundlagen der Fachdidaktik heute noch denkbar oder gehören sie endgültig der Vergangenheit an, als damals umfassende weltanschauliche Rahmensetzungen noch allgemeine Anerkennung genossen: explizit theologisch-pädagogische Grundlagen wie etwa bei Jan Amos Comenius im 17. Jahrhundert oder explizit atheistisch-pädagogische wie etwa bei John Dewey zu Beginn des 20. Jahrhunderts? Wie ich bereits erwähnt habe, befindet sich der pädagogische Diskurs heute in einem offenen und unüberschaubaren Feld. Es ist schon eine Leistung, wenn sich heute das Fach Religion – auch außerhalb einer Corona-Perspektive – im Rahmen eines Schulcurriculums über Wasser halten kann. Es gibt keine großen allgemein-pädagogischen oder fundamentaldidaktischen Narrative mehr über die Notwendigkeit des Faches Religion sui generis. Der didaktische Diskurs über die Bedeutung von Religion in Schule und Gesellschaft ist in den letzten Jahren stark von externen Akteuren bestimmt worden. Dabei spielten alle möglichen externen Ziele eine Rolle: Das Fach sollte zur politischen Bildung, zum respektvollen Umgang mit anderen Überzeugungen, zur religiös-literarischen Befähigung, zur Wiederherstellung religiöser und sogar kirchlicher Sozialisation oder zur dialogischen Schulentwicklung beitragen, um nur einige Beispiele zu nennen. Diese instrumentellen Ziele wurden von den gesellschaftlichen Akteuren vor Ort explizit von außen vorgegeben: von der Politik, der Wirtschaft, den Bildungsinstanzen, den Kirchen, der Weltgesellschaft und so weiter. Die großen Bildungsträger ließen sich oft dazu verführen, dieses Spiel mitzuspielen. Der eigentliche Sinn einer guten religiösen Bildung wurde dabei manchmal aus den Augen verloren: insbesondere das Recht der jungen Menschen, existentielle Fragen zu stellen9 und so das Leben auf ihre Weise »neu 9 Vgl. Gustavsson, Caroline: Existential Configurations. A Way to Conceptualise People’s Meaning-Making, in: British Journal of Religious Education 42,1 (2020), S. 25–35.

Religionsunterricht? Systemrelevant!

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definieren und würdigen«10 zu dürfen – im Spannungsfeld von Immanenz und Transzendenz. In den letzten Jahrzehnten haben außerdem zwei komplexe gesellschaftliche Phänomene eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der religiösen Landschaft und damit auch der religiösen Bildung gespielt: zum einen die Enttraditionalisierung von Religion in der Gesellschaft und zum anderen das Auftreten neuer (und oft widersprüchlicher) Sinngebungsinstanzen in der Gesellschaft.11 Die Traditionskrise in den 1970er und 1980er Jahren führte zu mehreren Traditionsbrüchen und Transformationen der Tradition. Die Pluralisierung der Sinnstifter im öffentlichen Raum hat dazu geführt, dass viele die Orientierung verloren haben: Woher wollen wir die Inspiration nehmen (Tradition als Vergangenheit) und wozu wollen wir diese Inspiration einsetzen (Pluralität als Zukunft)? Vor dem Hintergrund des Wandels weltanschaulicher Traditionen versucht ein guter Religionsunterricht, den vielstimmigen Identitäten der Schülerinnen und Schüler aus der Perspektive von Existenz und Transzendenz inmitten komplexer gesellschaftlicher Zusammenhänge Gestalt zu geben. Man beachte die dreifache Verwendung des Plurals! Dass religiöses Lernen – unterbrochen, vertieft und/oder intensiviert durch Corona – zweifellos komplex ist, steht außer Frage. Dass aufgrund unterschiedlicher Leitmotive verschiedene allgemeine fachdidaktische Konzepte (Stufe zwei bei Hans van der Ven) neben- und gegeneinander existieren und auch in CoronaZeiten weiterbestehen, ist an sich schon ein Zeichen für eine gesunde Entwicklung. Dass es in Europa zu einem exponentiellen Wachstum der Konzepte gekommen ist, hat auch mit den Schlüsselfiguren der regionalen Bildungsdebatten zu tun. Grob lässt sich sagen, dass die einflussreichen deutschsprachigen Religionsdidaktiken12 vor allem auf das Thema Traditionsabbruch gesetzt haben und versucht haben, die Kluft zwischen Sache und Person zu überbrücken. Die englischsprachige Religionsdidaktik war vor allem im Bereich der heutigen pluralen Lernkontexte aktiv und entwickelte Modelle des interkulturellen und interreligiösen Lernens, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf der religiösen Alphabetisierung (religious literacy) lag.

10 Vgl. Roebben, Bert: Theology Made in Dignity, S. 18. 11 Vgl. Boeve, Lieven: Katechese als offenes christliches Narrativ. Unterbrechung und Identität in einer pluralistischen Welt, in: Altmeyer, Stefan / Bitter, Gottfried / Boschki, Reinhold (Hg.): Christliche Katechese unter den Bedingungen der »flüchtigen Moderne«, Stuttgart 2016, S. 37–52. 12 Die deutsche akademische Religionspädagogik und -didaktik haben im globalen Vergleich die größte Anzahl an Lehrstühlen – vgl. Unser, Alexander: Empirische Professionalität. Eine zentrale Zukunftsaufgabe der Religionspädagogik, in: Religionspädagogische Beiträge 83 (2020), S. 79–88.

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Bert Roebben

Beide Fachdidaktik-Traditionen kamen durch Austausch (über Forschung, Tagungen und Publikationen)13 immer mehr miteinander in Kontakt und es entstanden kommunizierende Gefäße in der Konzeptentwicklung. Außen- oder Innenperspektiven in der Position des Lehrers, Wissensvermittlung oder Persönlichkeitsentwicklung als Ziel für Schülerinnen und Schüler, religionswissenschaftliche Information oder theologische Deutung als Inhalt des Faches wurden zunehmend komplementär zu dem internationalen Austausch diskutiert.14 Andere nationale Institutionen weltweit begannen, sich in diesen Diskurs einzuschalten. Ich bin der festen Überzeugung, dass ein gemeinsamer Prozess der fachdidaktischen Aufarbeitung heute mehr denn je notwendig ist. Es geht darum, sich zusammen zu setzen, von den Konzepten der anderen zu lernen und gemeinsam einen neuen grundlegenden fachdidaktischen Horizont zu entwerfen, zwar mit regionalen Unterschieden, aber auf jeden Fall synergetisch in seiner Ausarbeitung und Perspektive.

2.

Generative Themen in der aktuellen Religionsdidaktik

Welche generativen Themen (Paulo Freire) haben sich in den letzten Jahren im Spannungsfeld von fundamentaler und allgemeiner Fachdidaktik (erste und zweite Ebene bei Hans van der Ven) und im Rahmen regionaler Unterschiede in Europa herausgebildet? Wie hat das pädagogische Feld – praktisch und theoretisch – auf die gesellschaftlichen Herausforderungen reagiert und wie hat es die theologische Perspektive von Existenz und Transzendenz im Spiegel des faktischen Religionsunterrichts definiert? Im Folgenden diskutiere ich sieben generative Themen, die sich in der akademischen Literatur und im Praxisfeld herauskristallisiert haben und die in Foren des internationalen Wissensaustausches und -transfers erörtert wurden. Ich stelle sie hier als Orientierungshilfe in der heutigen komplexen Landschaft der religionsdidaktischen Forschung vor. Es ist auch eine Übung zur Sicherung von Erkenntnissen, die vor der Krise als ver13 Die zentralen internationalen Fachvereine sind u. a. CoGREE (Coordinating Group for Religion in Education in Europe), EARLI-SIG 19 (Religions and Worldviews in Education), EFTRE (European Forum for Teachers in Religious Education), ISREV (International Seminar for Religious Education and Values) and REA (Religious Education Association). 14 Erfolgreiche Beispiele für diese Zusammenarbeit und diesen Austausch sind TRES (»Teaching Religion in a multicultural European Society«) (2005–2008), REDCo (»Religion in Education. A Contribution to Dialogue or a Factor of Conflict in Transforming Societies of European Countries«) (2006–2009), REMC (»Religious Education in a Multicultural Europe«) (2008–2009), die REL-EDU-Bestandsaufnahme zur religiösen Bildung in Europa (2012–2021) und in jüngerer Zeit das READY Projekt (»Religious Education and Diversity«) (2015–2018), die internationalen Konferenzen zum katholischen Religionsunterricht (2018 und 2020) und das IKT-Projekt (»International Knowledge Transfer«) (2018–2021).

Religionsunterricht? Systemrelevant!

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lässlich galten und die wir aufgrund von Systemblindheit seit der Corona-Pandemie manchmal beinahe aus den Augen verloren hatten. Ich verstehe mich als Grenzgänger zwischen didaktischen Traditionen und hoffe deutlich zu machen, dass sich interessante Synergien ergeben. In und nach Corona muss nicht alles neu erfunden werden. Diese generativen Themen oder Ankerpunkte können helfen, sich in einer Landschaft zurechtzufinden, die sich in einem Zustand erhöhter Komplexität befindet.

2.1

Korrelation

Das unbestreitbare Grundprinzip des Religionsunterrichts ist die Korrelation: Menschliche Erfahrung und religiöse Tradition werden in einen Dialog miteinander gebracht. Das Prinzip geht auf die korrelative Theologie von Paul Tillich, Karl Rahner und Edward Schillebeeckx zurück. Lebensfragen von Kindern und Jugendlichen wurden in Korrelation oder kritische Wechselbeziehung mit Traditionsbestandteilen aus Bibel und Kirche gebracht. Das Modell setzte eine erste religiöse Sozialisation zu Hause oder in der Gemeinde voraus, auf die die Schule dann weiter aufbauen konnte. In einer Zeit der Enttraditionalisierung ist diese Voraussetzung oftmals nicht mehr gegeben: Die Brücke zwischen den beiden Säulen Erfahrung und Offenbarung kann nicht mehr geschlagen werden. Seitdem hat sich eine Reihe neuer Fachdidaktiken, vor allem im konfessionellen Bereich, dieser Situation angenommen. Dazu gehören das Konzept der Elementarisierung, welches das wechselseitige Interaktionssystem von Gegenstand und Person differenzierter abbildet (Karl Ernst Nipkow und Friedrich Schweitzer), ein konstruktivistischer Ansatz, der von einer Vielzahl von Beteiligungsformen und Interpretationslinien ausgeht (Chris Hermans) und das sogenannte hermeneutisch-kommunikative Modell, das die traditionelle Monokorrelation aufhebt und vorschlägt, multikorrelativ zu arbeiten (Herman Lombaerts und Didier Pollefeyt). Letzteres Modell bedeutet, dass Kinder und Jugendliche lernen, sich in Bezug auf eine Vielzahl von Lebensentwürfen frei zu positionieren, immer in Auseinandersetzung mit der christlichen Tradition als Bezugspunkt. Der Paderborner Religionsdidaktiker Jan Woppowa umschreibt diese »konfessorische« Position als »diversitätssensibel und konfessionsbewusst«.15

15 Vgl. Woppowa, Jan: Differenzsensibel und konfessionsbewusst lernen. Multiperspektivität und Perspektivenverschränkung als religionsdidaktische Prinzipien, in: Österreichisches Religionspädagogisches Forum 24,2 (2016), S. 41–49.

236 2.2

Bert Roebben

Inklusion

Ich habe oben erwähnt, dass die religionsdidaktische Landschaft in Bewegung ist und dass sie plural in Bewegung ist – und außerdem »postmigrantisch und religionssensibel«.16 Von nun an ist es am besten, im Plural zu sprechen: Eine Vielzahl von Texten und Traditionen, von Kontexten und Sozialisationen, von Biografien und Identitäten fließt »fluide und fragil«17 an und in (!) jungen Menschen in ein und derselben Klasse vorbei.18 Zudem ist fraglich, ob der eine christlich-konfessionelle Ankerpunkt, an dem sich die Kinder und Jugendlichen sensibel und konfessionell messen können, wie beim vorigen generativen Thema erwähnt, noch vorhanden ist. Und es stellt sich auch die Frage, ob die sogenannten Anderen, zum Beispiel Muslime oder evangelikale Christen, in ihrer religiösen Zugehörigkeit so eindeutig sind, wie wir oft denken. »Die Fokussierung auf religiöse Vielfalt führt leicht dazu, zu übersehen, dass auch innerhalb der Vielfalt die Religion fließend wird, sich von der starren Tradition hin zu einem persönlichen und kreativen Umgang mit den Fragen des Lebens wandelt«, so der niederländische Religionspädagoge Thom Geurts.19 Inklusiver Religionsunterricht basiert auf dem offenen hermeneutischen Raum, in dem sich junge Menschen auf der Basis ihrer eigenen Lebensgeschichten frei bewegen können, von der widerständigen Fremdheit der Religion des Anderen (und der eigenen!) lernen und ihre Wahrheitsansprüche begründen lernen. Das Begegnungslernen umfasst ein respektvolles Lernen in der Gegenwart des konkreten, bedeutungsvollen Anderen. Den safe space des base camp zu verlassen, eine Weile im brave space des Zeltes der Begegnung unterwegs zu sein, zu verweilen und dann wieder zu sich selbst zu kommen und sich neu zu positionieren, ist ein didaktisches Modell, das aus der komparativen Theologie stammt (z. B. Catherine Cornille, Klaus von Stosch und Marianne Moyaert). Dieses Modell bewährt sich inzwischen auch in interreligiösen Lernprozessen und wird zunehmend empirisch untermauert, zum Beispiel im Hinblick auf fehlende religiöse Sozialisation oder eine bewusst atheistische Haltung der Teilnehmenden und im Hinblick darauf, wie Lehrerinnen und Lehrer mit dieser komplexen Situation der weltanschau-

16 Vgl. Schreiner, Peter: Postmigrantisch und religionssensibel – Notwendige Perspektiven für Bildung, in: CI-Informationen. Mitteilungen aus dem Comenius-Institut 2 (2019), S. 5–7. 17 Vgl. Pirker, Viera: fluide und fragil. Identität als Grundoption zeitsensibler Pastoralpsychologie, Ostfildern 2013. 18 Vgl. Bartz, Janieta / Bartz, Thomas: Recognizing and Acknowledging Worldview Diversity in the Inclusive Classroom., in: Education Sciences 8,4 (2018). URL: https://doi.org/10.3390/ed ucsci8040196 [Stand 17. 05. 2012]. 19 Geurts, Tom: Liquideer de vakdidactiek!, in: Narthex. Tijdschrift voor levensbeschouwing en educatie 17,4 (2017), S. 67–73, hier S. 71 [Übersetzung: BR].

Religionsunterricht? Systemrelevant!

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lichen Pluralität einerseits und dem Zusammenbruch religiöser Traditionen andererseits umgehen können.20

2.3

Interpretation

Wir stehen an der Schwelle zu einer neuen Gesellschaft, in der Vielfalt eine Tatsache und Inklusion eine Aufgabe ist. Das Begegnungslernen im Kontext des Neuen Verletzlichen Wir erfordert jedoch eine Art Grammatik des Themas, eine gemeinsame religiöse Alphabetisierung (common religious literacy).21 Es geht um einen transreligiösen, in privaten Traditionen verankerten konzeptionellen Rahmen, der jungen Menschen hilft, die kritischen Fähigkeiten zu entwickeln, um die zeitgenössischen Manifestationen dieser Traditionen zu verstehen.22 Durch die Weitergabe von angemessenen Informationen über Religionen und Weltanschauungen konzentriert sich dieser Ansatz auf die Überwindung von Vorurteilen und Stereotypen im Religionsunterricht. Er wurde in mehrere Dokumente der Europäischen Gemeinschaft zur interkulturellen und politischen Bildung aufgenommen wie die Toledo Guiding Principles und Signposts. Seine Ursprünge gehen zurück auf die angelsächsischen phänomenologischen Forschungstraditionen (z. B. Ninian Smart) und wurde später u. a. als interpretive approach in Großbritannien von Robert Jackson und im Modell Overcoming religious illiteracy für den Unterricht in den USA von Diane L. Moore23 ausgearbeitet.24

20 Vgl. Welling, Katharina: Interreligiöses Lernen im Lehramtsstudium der Katholischen Theologie. Empirische Untersuchungen des Scriptural Reasoning als Basis dialogischer Lernprozesse, New York, Münster 2020. 21 Vgl. Kliemann, Peter: Tübingen, Europa und zurück. Religionsunterricht im internationalen Kontext, Stuttgart 2019, S. 53. 22 Vgl. Vermeer, Paul: Religious Education and Socialization, in: Religious Education 105,1 (2010), S. 103–116. 23 Vgl. Moore, Diane L.: Overcoming Religious Illiteracy. A Cultural Studies Approach to the Study of Religion in Secondary Education, New York 2007. 24 Für eine kritische Bewertung dieser Tradition, womit zugleich die Tür zum kontinentalen Diskurs eröffnet wird, vgl. Biesta, Gert / Hannam, Patricia: Religion and Education. The Forgotten Dimensions of Religious Education? Leiden, Boston 2021; vgl. Hannam, Patricia: Religious Education and the Public Sphere, London, New York 2019.

238 2.4

Bert Roebben

Charakter

Ein generatives Thema, das immer wieder auftaucht, ist die moralische Bildung. 1994 schrieb ich in meiner Doktorarbeit, dass Charakterbildung eine wichtige Voraussetzung für ein gutes und glückliches Leben in einer globalisierten Gesellschaft ist.25 Seitdem sind die Herausforderungen noch größer und komplexer geworden. Beispielsweise auf den Spuren von Emmanuel Lévinas haben Kolleginnen und Kollegen in der Pädagogik großartige Konzepte zur moralischen Bildung entwickelt, die immer die dreifache Fähigkeit Denken, Fühlen und Tun beinhalten.26 Es wäre von hohem Interesse zu untersuchen, wie sich Theorie und Praxis in diesem Punkt gegenseitig befruchten können: Es gibt zahlreiche Lehrerinnen und Lehrer, die sich kreativ mit diesem Thema auseinandersetzen und Kinder und Jugendliche anhand konkreter Fälle auf die Zukunft vorbereiten. Natürlich kann die Schule nur eine untergeordnete Rolle bei der Vermittlung von Tugenden spielen, aber sie kann zumindest interessante Verbindungen zwischen moralischem Verhalten und ethischem Denken herstellen, mit dem Lehrer/der Lehrerin als Vorbild.27

2.5

Narration

Moralische und religiöse Identitätsbildung ist nicht möglich ohne Deutungshorizonte, die im Unterricht über nicht selbstverständliche narrative Umwege (Paul Ricœur) angeboten werden müssen. Als Mensch muss ich (und nur ich) mein eigenes Leben leben, aber die Geschichte anderer kann mich bei dieser Lebensführung inspirieren und/oder irritieren.28 Die Bibeldidaktik29 ist dabei ein

25 Vgl. Roebben, Bert: Moralpädagogische Überlegungen im Hinblick auf die Entwicklung christlicher Identität im Kulturwandel, in: Schreijäck, Thomas (Hg.): Christwerden im Kulturwandel. Analysen, Themen und Optionen für Religionspädagogik und Praktische Theologie. Ein Handbuch, Freiburg, Basel, Wien 2001, S. 248–274. 26 Vgl. Alexander, Hanan A.: Reclaiming Goodness. Education and the Spiritual Quest, Notre Dame (IL) 2001; vgl. Metcalfe, Jason / Moulin- Stoz˙ek, Daniel: Religious Education Teachers’ Perspectives on Character Education, in: British Journal of Religious Education (2020). URL: https://doi.org/10.1080/01416200.2020.1713049 [Stand 17. 05. 2021]; vgl. Veling, Terry: For You Alone. Emmanuel Levinas and the Answerable Life, Eugene (OR) 2014. 27 Vgl. Kuusisto, Arniika / Kallioniemi, Arto: Children’s and Youth’s Perspectives on Diversity in Values Education. Implications for Teacher Education and Teacher Professionalism, in: Kuusisto, Elina / Ubani, Martin / Nokelainen, Petri / Toom, Auli (eds.): Good Teachers for Tomorrow’s Schools: Purpose, Values, and Talents in Education, Leiden, Boston 2021, S. 129– 147. 28 Vgl. Meyer-Blanck, Michael: Zeigen und Verstehen. Skizzen zu Glauben und Lernen, Leipzig 2018.

Religionsunterricht? Systemrelevant!

239

interessantes Werkzeug. Sie hilft, den Lernprozess zu entschleunigen und mit einer »Alphabetisierung der Hoffnung« (Ingo Baldermann) zu vertiefen, – eigentlich auch eine Art Grammatik, aber dann eher musikalischer, poetischer oder prophetischer Natur. Die Psalmen bieten zum Beispiel ein Sprachfeld für eine Fülle von Erfahrungen, die Kindern und Jugendlichen nicht fremd sind, wie beispielsweise Gewalt, Trost, Ehrfurcht, Freude, Hoffnung usw. Sie können ihnen Zuversicht in elementaren Fragen geben, auch im Sinne von Existenz und Transzendenz.30 Auch durch Erinnerungslernen (z. B. über den Holocaust)31 können Erzählungen einen Einblick in die ambivalente Welt von Gut und Böse geben sowie in die fortwährende Aufgabe der Menschheit, to make this world a better place.

2.6

Performanz

Die religiöse Sprache schrumpft oder verändert sich zumindest, die entscheidenden Lebensfragen bleiben aber bestehen.32 Was ist mit dem Substrat religiöser Erfahrungen unterhalb der Sprache, schrumpft und/oder verändert es sich ebenfalls? Und wenn ja: Was kann getan werden, um das Substrat zu stärken, zu restaurieren, herauszufordern, um wieder kreativ zu werden? Ein neuer Zweig des didaktischen Baumes, der darauf reagiert, ist das sogenannte performative Lernen.33 Konkrete Erfahrungen mit Religion werden angeboten, im storytelling verdichtet und dann konzeptuell (in Form von common religious literacy) geklärt. Das SpiRiTex-Projekt in der Bonner Lehrerausbildung geht noch einen Schritt weiter: Selbst angehende Lehrerinnen und Lehrer wissen oft nicht mehr, welche religiöse Erfahrung hinter oder unter einem Begriff steckt. In performativen Settings werden sie also an Formen des gelebten Glaubens herangeführt, wie sie ihnen täglich in heiligen Orten, Ritualen und Texten auf ihrem Weg und

29 Vgl. Schambeck, Mirjam: Bibeltheologische Didaktik. Biblisches Lernen im Religionsunterricht, Göttingen 2009. 30 Vgl. Strumann, Barbara: In Psalmen der Gewalt begegnen. Überführung der Gewaltverflochtenheit in Sprache, Paderborn 2018. 31 Vgl. Forschungsgruppe Remember: Erinnerung an den Holocaust im Religionsunterricht. Empirische Einblicke und didaktische Impulse, Stuttgart 2020. 32 Vgl. Altmeyer, Stefan: Exploring the Unknown: the Language Use of German RE-Students Writing Texts about God. In British Journal of Religious Education 37,1 (2015), S. 20–36. 33 Vgl. Roebben, Bert / Welling, Katharina: Performative Religious Education. Chances and Challenges of a Concept in European Teacher Education, in: Schweitzer, Friedrich / Schreiner, Peter (eds.): International Knowledge Transfer in Religious Education, Münster, New York 2021, S. 91–105.

240

Bert Roebben

dem ihrer Schülerinnen und Schüler begegnen.34 Das führt zu faszinierenden Gesprächen darüber, was Menschen mit Religion machen und was Religion mit Menschen macht. Manchmal wird auch deutlich, dass die eigene, so vertraute Religion zu einer widerständigen und fremden geworden ist und sozusagen neu angeeignet werden muss.35 Interessante Lernprozesse zeichnen sich dann insofern ab, als tradiertes Wissen über religiöse Inhalte in jüngeren Curricula des Lehramtsstudiums nicht mehr als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann.

2.7

Spiritualität

Lernen, Erfahrungen und Deutungshorizonte in der Perspektive von Existenz und Transzendenz zu reflektieren, erzeugt neue Theologie. Kinder und Jugendliche dürfen sich an diesem Geschehen vollumfänglich beteiligen, so die Protagonisten der sogenannten Kindertheologie36 und Jugendtheologie37 in Deutschland. Sie sind nicht nur Rezipienten der Theologie, sondern auch deren Produzenten. Außerdem machen sie uns auf wichtige Kernelemente einer spirituellen Lebenseinstellung aufmerksam, wie z. B. Staunen und Hingabe bei Kindern und Zweifel und Kritik bei Jugendlichen. Wie fordern sie zum Beispiel unsere netten Geschichten von göttlicher Schöpfung und menschlicher Verantwortung heraus, wenn sie mit ihrem #fridaysforfuture-Protest auf den Straßen unserer Städte demonstrieren?38 Es versteht sich von selbst, dass das Vertrauen der/des Lehrenden in den Lernprozess hier groß sein muss. Er oder sie muss sich trauen, im Fluss des Geistes (des Heiligen Geistes?) zu stehen, damit Erfahrung, Sprache und Grammatik in diesem Prozess wachsen können.

34 Vgl. Roebben, Bert: Sacred Spaces, Rituals and Texts in European Teacher Education. The Rationale behind the SpiRiTex-Project, in: Greek Journal of Religious Education 1,1 (2018), S. 9–22. 35 Vgl. Niedermann, Barbara: Religiöse Identität und ihre (Begegnungs-)Räume, in Theo-Care (2021). URL: https://theocare.wordpress.com/2021/04/27/religiose-identitat-und-ihre-begeg nungs-raume-barbara-niedermann [Stand 17. 05. 2021]. 36 Vgl. z. B. Büttner, Gerhard: How Theologizing With Children Can Work. In British Journal of Religious Education 29 (2007), S. 127–139; Zimmerman, Mirjam: What is Children’s Theology? Children’s Theology as Theological Competence: Development, Differentiation, Methods, in: HTS Theological Studies 71,3 (2015). 37 Vgl. Freudenberger-Lötz, Petra: Theologische Gespräche mit Jugendlichen. Erfahrungen – Beispiele – Anleitungen. Ein Werkstattbuch für die Sekundarstufe, München, Stuttgart 2012. 38 Vgl. Gärtner, Claudia: Klima, Corona und das Christentum. Religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung in einer verwundeten Welt, Bielefeld 2020.

Religionsunterricht? Systemrelevant!

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Schluss Die sieben Ankerpunkte definieren die komplexe Landschaft der religiösen Bildung heute. Sie sind organisch miteinander verbunden und treten oft gemeinsam in der gleichen Unterrichtspraxis auf. Mein Plädoyer in diesem Aufsatz zielte darauf ab, diese Bezugspunkte wieder ins Bewusstsein zu rücken, damit man ›post Corona‹ auf sie zurückgreifen kann. Wir müssen nicht bei Null anfangen. Von der digitalen Revolution während der Corona-Pandemie erinnere ich mich besonders an die Möglichkeiten im Gebiet der Bereitstellung von Informationsprodukten. Fernunterricht ist jedoch als Medium für Kommunikationsprozesse unzureichend. Religiöse Bildung, verstanden als Persönlichkeitsbildung, auch in einer offenen transzendentalen Perspektive, findet vor allem in der Gegenwart des konkreten Anderen statt. Wertvolle Informationen können über den Bildschirm verteilt werden. Wertvolle Praktiken wie die oben genannten erfordern Suchprozesse, die mehr denn je gemeinsam und vor Ort durchgeführt werden müssen. Sicherlich muss in einer Post-Corona-Zeit, in der sich alle Beteiligten (Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer, Eltern, Erziehungsberechtigte und Schulleitung) wieder begegnen werden und sich gegenseitig mit vehementen existenziellen Fragen konfrontieren werden, der Religionsunterricht mehr denn je systemrelevant sein – und noch mehr als das – systemsprengend in Richtung des Neuen Verletzlichen Wir.39

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39 Ich danke Christoph Schmitz M.Ed., wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Religionspädagogik, für das sprachliche und inhaltliche Feedback.

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Bert Roebben

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Religionsunterricht? Systemrelevant!

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LATEIN & GRIECHISCH

Melchior Klassen / Gernot Michael Müller / Adrian Weiß

Antike Sprachwelten zwischen Schule und Universität. Die Bonner Lehrerbildung in den Fächern Griechisch und Latein im Lichte der Funktion und Geschichte des altsprachlichen Unterrichts

1.

Der altsprachliche Unterricht von der Antike bis nach dem Zweiten Weltkrieg

Die Sprachen Griechisch und Latein gehören zweifelsohne zu jenen Fächern, die auf eine der längsten Traditionen in der schulischen Vermittlung zurückblicken können.1 Dies resultiert weniger daraus, dass sie selbstredend bereits in der Antike, in der sie in je unterschiedlicher Dimension und Reichweite die Literaturund Verkehrssprachen der mediterranen Welt und darüber hinaus bildeten, integraler Gegenstand des Schulunterrichts gewesen sind.2 Vielmehr beruht ihre besondere Stellung darauf, dass sie über das Ende der Antike hinaus bis heute und damit über alle Epochengrenzen hinweg an Schulen und später auch an Universitäten vermittelt wurden und werden. Die darin zum Ausdruck kommende Kontinuität wird freilich insbesondere durch das Lateinische realisiert. Dabei gehört es zu den weiteren Auffälligkeiten seiner Fortüne, dass sich seine systematische Vermittlung just schon bald nach dem Ende des (West-)Römischen Reichs über dessen ehemalige Grenzen hinaus ausdehnte, zunächst prominent nach Irland3 und im weiteren Verlauf des Mittelalters nach Nord- und

1 Für einen Bogen vom Mittelalter in die Gegenwart vgl. Fuhrmann, Manfred: Latein und Europa. Geschichte des gelehrten Unterrichts in Deutschland von Karl dem Großen bis Wilhelm II., Köln 2001, sowie Apel, Hans Jürgen: Altsprachlicher Unterricht (I. Deutschland), in: DNP 13 (1999), Sp. 113–120. Für eine Betrachtung des Lateinunterrichts von der Antike an vgl. Leonhardt, Jürgen: Latein. Geschichte einer Weltsprache, München 2009. Präzise zum Status des Lateinischen als Bildungssprache vgl. Ders.: Latein als Weltsprache und als Bildungssprache. Stationen eines Konflikts, in: Korenjak, Martin / Schaffenrath, Florian (Hg.): Pontes VI. Der Altsprachliche Unterricht in der Frühen Neuzeit, Innsbruck [u. a.] 2010, S. 247–258. 2 Vgl. Bonner, Stanley Frederick: Education in Ancient Rome. From the elder Cato to the younger Pliny, London 1977, insb. Kap. 3, und Bloomer, W. Martin: The school of Rome. Latin Studies and the Origins of Liberal Education, Berkeley [u. a.] 2011, insb. S. 170–191. 3 Vgl. Esposito, Mario: Latin Learning in Medieval Ireland, edited by Michael Lapidge, London 1988.

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Melchior Klassen / Gernot Michael Müller / Adrian Weiß

Osteuropa.4 In der Frühen Neuzeit begann mit der europäischen Expansion sodann auch die Globalisierung des altsprachlichen Unterrichts mit der Folge, dass die Fächer Griechisch und Latein heute rund um den Globus gelehrt werden.5 Dieser Befund rührt keinesfalls nur daher, dass etwa das Lateinische bis an die Wende zur Neuzeit die internationale Verkehrssprache der Bildungseliten darstellte und dementsprechend auch den Unterricht an Schulen und Universitäten prägte.6 Denn obgleich das Lateinische infolge des im 18. Jahrhundert einsetzenden Paradigmenwechsels seinen Rang als internationale Sprache des Unterrichts und der Wissenschaft verlor, gelangte dessen schulische und universitäre Vermittlung keinesfalls zu einem Ende. Beim Altgriechischen mit seiner erst im Laufe der Frühen Neuzeit wiedereinsetzenden Vermittlung zielte diese ohnehin nie in signifikanter Weise darauf, breitere Kreise zur Kommunikation in dieser Sprache zu befähigen.7 Zwar fand das Griechische in dieser Epoche durchaus auch als Literatursprache Verwendung. Dennoch hat es selbst in den entsprechenden Milieus nie eine dem Lateinischen vergleichbare Verwendung gefunden. Im Kern ausschlaggebend für Persistenz und globale Verbreitung des altsprachlichen Unterrichts bis heute sind denn auch Rezeption und Auseinandersetzung mit Kultur, Literatur und Gedankenwelt der Antike. Hierbei stechen besonders jene Epochen hervor, in denen dieser eine besondere Vorbildlichkeit und demzufolge eine kulturelle Leitfunktion zuerkannt worden ist, mithin etwa die karolingische Erneuerung, die Renaissance sowie der Klassizismus.8 Trotz ihrer Prominenz, die sich in einer entsprechenden Aufmerksamkeit in der Forschung niederschlägt, markieren sie gleichwohl nur bestimmte Phasen innerhalb der Wirkungsgeschichte der Antike und der Alten Sprachen. Diese ist folglich komplexer, als der Forschungsbefund mit seinem eigentümlichen Fokus auf jene soeben genannten Epochen auf den ersten Blick suggerieren mag. So erweist sich 4 Vgl. etwa Black, Robert: Humanism and Education in Medieval and Renaissance Italy. Tradition and Innovation in Latin Schools from the Twelfth to the Fifteenth Century, Cambridge [u. a.] 2001. Außerdem Leonhardt, Jürgen: Latein. Geschichte einer Weltsprache, S. 186–200. 5 Vgl. Leonhardt, Jürgen: Latein. Geschichte einer Weltsprache, S. 231–244. 6 Vgl. ebd., S. 194, sowie im Kontext der respublica litteraria Waquet, Françoise: The Republic of Letters, in: Moul, Victoria (Hg.): A guide to Neo-Latin literature, Cambridge [u. a.] 2017, S. 66– 80, insb. S. 66 und 78–80. 7 Vgl. jetzt Abbamonte, Giancarlo / Harrison, Stephen (Hg.): Making and rethinking the Renaissance. Between Greek and Latin in the 15th–16th century Europe, Berlin, Boston 2019. Spezifischer zu griechischen Handschriften in der frühen Neuzeit vgl. Gamillscheg, Ernst: Manuscripta Graeca. Studien zur Geschichte des griechischen Buches in Mittelalter und Renaissance, Purkersdorf 2010. 8 Vgl. für einen ersten Überblick mit Hinweisen zu vertiefender Literatur Müller, Gernot Michael: Einleitung, in: Gauly, Bardo Maria / Ders. / Rathmann, Michael (Hg.): Dialoge mit dem Altertum. Sinnstiftungen aus der Vergangenheit in Antike, Früher Neuzeit und Moderne, Heidelberg 2019, S. 11–26, hier S. 11–15.

Antike Sprachwelten zwischen Schule und Universität

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einerseits bereits die Modellfunktion der Antike selbst als ein vielschichtiges Phänomen, das sich in jenen Epochen zudem in je spezifischer Ausprägung realisiert hat. Zum anderen hat die Rezeptionsgeschichte der Antike auch solche Phasen ausgebildet, in denen ihr Vorbildcharakter eher verhalten und damit weniger explizit zum Tragen kam oder in denen gar eine kritische Haltung überwog, ohne dass damit die Auseinandersetzung mit ihr selbst unterbrochen wurde.9 Die Epochen, die aus der Antike in programmatischer Weise ihre Leitkultur ableiteten, erweisen sich somit lediglich als besonders hervorstechende Abschnitte einer Wirkungsgeschichte, deren grundlegendes Spezifikum die Bezugnahme auf die Antike darstellt, die sich für jede Epoche immer wieder neu begründet. Die Motive für das ebenso transhistorische wie globale Phänomen einer Beschäftigung mit der Antike sind derweil relativ konstant. Zum einen liegen sie in einem an seinen Rändern freilich flexiblen Kernkorpus von Texten, die bis heute als Impulsgeber für die Klärung kultureller, gesellschaftlicher, künstlerischer oder philosophischer Fragen als relevant angesehen werden. Zum anderen sind sie in der Überzeugung zu suchen, dass sich aus einem vertieften Blick auf die Kultur der Antike insgesamt ein produktives Wechselspiel mit den kulturellen Erfahrungen der eigenen Gegenwart ergibt, das zu einem vertieften Verständnis für deren Bedingungen anleitet.10 Dabei spielt die spezifische Alterität der Antike eine zentrale Rolle.11 So hat gerade die Renaissance im Bewusstsein, dass die Antike erst wieder zu rekonstruieren sei, sich nicht nur programmatisch zu deren Vorbildhaftigkeit bekannt, sondern zugleich erstmals auch die nicht nur histo9 Vgl. als Beispiel die Beiträge in Aurnhammer, Achim / Pittrof, Thomas (Hg.): »Mehr Dionysos als Apoll.« Antiklassizistische Antike-Rezeption um 1900, Frankfurt am Main 2002. 10 In der Didaktik findet sich hierzu gerne der Begriff der »historischen Kommunikation«, vgl. zur Herkunft des Ansatzes Maier, Friedrich: Zukunft der Antike. Die Klassischen Sprachen am Scheideweg, Bamberg 2000, insb. S. 166–169. Vgl. knapp Mittelstraß, Jürgen: Die Modernität der Antike. Zur Aufgabe des Gymnasiums in der modernen Welt, Konstanz 1986, insb. S. 29–36, und Freund, Stefan / Mindt, Nina (Hg.): Antike Konzepte für ein modernes Europa. Die Klassische Philologie und die Zukunft eines Jahrhundertprojekts, Wuppertal 2020. 11 Einschlägig zum Konzept der Alterität vgl. Gloy, Karen: Alterität. Das Verhältnis von Ich und dem Anderen, Leiden [u. a.] 2019. Überblickshaft mit verschiedenen kulturellen Schwerpunkten vgl. die Beiträge in Demandt, Alexander (Hg.): Mit Fremden leben. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 1995. Ferner García Ruiz, María Pilar / Quiroga Puertas, Alberto J. (Hg.): Praising the otherness. linguistic and cultural alterity in the Roman Empire: historiography and panegyrics, Amsterdam 2014. Unter dem Ansatz der Inund Exklusion vgl. jetzt Bernhardt, Markus (Hg.): Inklusive Geschichte? Kulturelle Begegnung – soziale Ungleichheit – Inklusion in Geschichte und Gegenwart, Frankfurt 2021, darin insb. Blösel, Wolfgang: Der Umgang mit dem Fremden in der klassischen Antike, S. 75–100. Alteritätskonzepte im (antiken) Geschichtsunterricht mit einigen Beispielen in der europäischen Geistesgeschichte untersucht Gentner, Elisabeth: Interkulturelles Lernen im Geschichtsunterricht, Frankfurt am Main 2019.

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rische Distanz zu ihr entdeckt und infolgedessen die sich daraus ergebenden Herausforderungen für ihr Verständnis intensiv reflektiert.12 Aus dem Postulat ihres Modellcharakters folgte somit keinesfalls ein gleichsam naiver Optimismus, Gegenwart und Vergangenheit unbeschwert in eins setzen zu können. Gründet die Beschäftigung mit der Antike auch dort, wo sie dieser eine prominente Orientierungsfunktion zubilligt, in der Anerkennnung ihrer Alterität, stiftet der über Jahrhunderte kontinuierliche Umgang mit ihr gleichwohl eine besondere Vertrautheit. Als das gewissermaßen Nächste Andere bietet sich die Beschäftigung mit der Antike somit in besonderem Maße dazu an, zur Reflexion über kulturelle Differenz anzuleiten und exemplarisch deren Wert für eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Grundlagen des eigenen Welt- und Selbstverständnisses zu erproben. Die antiken Sprachen Griechisch und Latein gelten in diesem Zusammenhang als die entscheidenden Schlüssel, um sich einen Zugang zur Antike zu verschaffen. Dies liegt nicht nur daran, dass Texte bzw. schriftliche Zeugnisse ganz allgemein zu den wichtigsten Quellen hierfür gehören, die zudem anders als die materiellen Hinterlassenschaften der Antike gänzlich ortsungebunden rezipiert werden können. Darüber hinaus gehört es zu den Spezifika antiker Literatur, dass ihre sprachliche Gestaltung stärker als etwa bei moderner Literatur von inhaltlicher Relevanz und damit wesentlich für ihr Verständnis ist. Eine qualifizierte Auseinandersetzung mit der Antike lässt sich somit nur durch die originalsprachliche Rezeption ihrer Literatur realisieren, wobei sich bereits beim Erlernen der Sprachen und ihrer Grammatiken vielfältige Gelegenheiten zum Kulturvergleich ergeben. Nicht nur, weil die Antike im schulischen Geschichtsunterricht nur einen schmalen Platz beanspruchen kann und Archäologie als Schulfach nicht existiert, stellen die beiden Fächer Griechisch und Latein den entscheidenden Realisationsrahmen für die Begegnung mit der Antike und ihrer

12 Vgl. zum Überblick über die Historisierung der Antike in der Renaissance Disselkamp, Martin: Parameter der Antiqui-Moderni-Thematik in der Frühen Neuzeit, in: Jaumann, Herbert (Hg.): Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch, Berlin, New York 2011, S. 157–177. Die Rezeption antiker Motive durch Renaissancehumanisten ist am Hof verbreitet, vgl. Mertens, Dieter: Der Preis der Patronage. Humanismus und Höfe, in: Maissen, Thomas / Walther, Gerrit (Hg.): Funktionen des Humanismus. Studien zum Nutzen des Neuen in der humanistischen Kultur, Göttingen 2006, S. 125–154, sowie Maissen, Thomas: Worin gründete der Erfolg der humanistischen Historiographie? Überlegungen zur Rolle der Geschichtsschreibung im »Wettkampf der Nationen«, in: Helmrath, Johannes / Schirrmeister, Albert / Schlelein, Stefan (Hg.): Historiographie des Humanismus. Literarische Verfahren, soziale Praxis, geschichtliche Räume, Berlin, Boston 2013, S. 49–84, und Müller, Harald: Gelehrte und Geschichte. Formen historischer Selbstvergewisserung der Renaissance-Humanisten, in: Friedrich, Udo / Grenzmann, Ludger / Rexroth, Frank (Hg.): Geschichtsentwürfe und Identitätsbildung am Übergang zur Neuzeit. Band 2. Soziale Gruppen und Identitätspraktiken, Berlin, Boston 2018, S. 27–41.

Antike Sprachwelten zwischen Schule und Universität

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Kultur sowie für die sich daraus ergebenden Potenzialitäten für eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Gegenwart dar.13 Eröffnen die Alten Sprachen einen privilegierten Zugang zu Literatur und Kultur der Antike und liefern sie damit in besonderem Maße die Voraussetzungen für jenen kritischen Kulturvergleich, der die Auseinandersetzung mit der Antike zu einem für ein historisch fundiertes Verständnis der Gegenwart relevanten Gegenstand macht, darf nicht unterschlagen werden, dass dieses Potenzial insbesondere im Laufe der jüngeren Bildungs- und Rezeptionsgeschichte fragwürdige und mithin destruktive Konsequenzen gezeitigt hat. Zu erwähnen wären hier beispielsweise die im Zuge der klassizistischen Bewegung des 18. Jahrhunderts entstandene Begeisterung für ein Griechentum, aus dem ein überlegenes Menschheitsideal abgeleitet wurde, welches sich für eine Begründung chauvinistischer Positionen instrumentalisieren ließ.14 Des Weiteren lieferten in diesem Fall vor allem lateinische Texte wirkmächtige Argumente für jene militaristische Gesinnung, die die globale Katastrophe des Ersten Weltkriegs mit vorbereitete.15 Schließlich gilt daran zu erinnern, dass sich aus Kreisen der Altphilologie weder in Schule noch an Universität nennenswerter Widerstand gegen den Nationalsozialismus formiert hat, mehr noch: dass sich die im 19. Jahrhundert herausgebildete Kombination von elitärem Menschheitsideal und Militarismus zur Stütze eines Bildungswesens amalgamierte, das rassistische Ideologie und expansives Allmachtstreben in der Bevölkerung zu verankern verhalf.16 13 Vgl. nochmals Maier, Friedrich: Zukunft der Antike, S. 166–169, aber auch die Beiträge in der Rubrik ›Argumentationen‹, vgl. ebd., S. 13–60. Unter dem Begriff der iniquitas vgl. Ders.: Den Menschenrechten auf der antiken Spur. Die Klassischen Sprachen als Identifikationsfächer des Gymnasiums, in: Friedel, Dieter / Ders. / Westphalen, Klaus (Hg.): Antike verpflichtet. Bildung statt Information, Bamberg 2001, S. 90–104, hier S. 99–102. 14 Vgl. Süßmann, Johannes: s.v. Griechen-Römer-Antithese, in: DNP Supplemente 13 (2018), Sp. 298–306. 15 Vgl. zum Stand des Lateinunterrichts vor und nach dem Ersten Weltkrieg vor allem Kranzdorf, Anna: Ausleseinstrument, Denkschule und Muttersprache des Abendlandes. Debatten um den Lateinunterricht in Deutschland 1920–1980, Berlin, Boston 2018, hier insb. S. 29–80. Zur Entwicklung des Sprachunterrichts im ausgehenden 19. Jahrhundert vgl. Landfester, Manfred: Humanismus und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, Darmstadt 1988, insb. S. 173– 202. Aufschlussreich freilich mit Fokus auf Württemberg vgl. Ilg, Reinhard: Bedrohte Bildung – bedrohte Nation? Mentalitätsgeschichtliche Studie zu humanistischen Schulen in Württemberg zwischen Reichsgründung und Weimarer Republik, Stuttgart 2015, insb. S. 78–89, S. 184 sowie S. 309–374. 16 Einschlägig auch hier Kranzdorf, Anna: Ausleseinstrument, S. 151–214. Vgl. außerdem Kipf, Stefan: Altsprachlicher Unterricht in der Bundesrepublik Deutschland. Historische Entwicklung, didaktische Konzepte und methodische Grundfragen von der Nachkriegszeit bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, Bamberg 2006, S. 19–97. Bezogen auf den Kanon des Lateinunterrichts regte sich schon früh Widerstand gegen den militaristischen Charakter vor allem der 9. Jahrgangsstufe, der allerdings noch wenig Gehör gefunden hat, vgl. Fuhrmann,

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Melchior Klassen / Gernot Michael Müller / Adrian Weiß

Zwar erweist sich diese Schlagseite der Antikenrezeption und damit auch des altsprachlichen Unterrichts als Komplement gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen, dem sich wenige Bereiche in Bildung und Wissenschaft wirksam entziehen konnten. Dennoch hat die Vermittlung der Alten Sprachen damit eine Hypothek auf sich geladen, die insbesondere ab den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts zu ihrer massiven Infragestellung beitrug. Daher wurden sie als reaktionäre Fächer abqualifiziert, die ein vielfach kompromittiertes und nicht nur deswegen als Ballast empfundenes Bildungswissen kontinuierten und damit dem Fortbestand moralisch fragwürdiger Eliten zuarbeiteten.17 Diesen teilweise sicherlich berechtigten Anwürfen hat sich das Fach in Schule und Universität erst zaghaft, dann aber umso wirksamer gestellt. Vor diesem Hintergrund haben die Repräsentant:innen der Alten Sprachen in Wissenschaft und Unterricht die Auswahl der in der schulischen Bildung vermittelten Texte und Gegenstände überdacht. Ergebnis ist die Konzipierung eines kulturwissenschaftlichen Fachs, in dem die Sprachenvermittlung als Zugangsvoraussetzung verstanden wird, sich die antike Literatur-, Kultur- und Geistesgeschichte zu erschließen, um daraus zum kritischen Vergleich mit der eigenen Gegenwart und Lebensumwelt anzuleiten.18 Tatsächlich konnten sich die Zahlen der Schüler:innen sowie der Studierenden in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts behaupten, um in den Nullerjahren des 21. Jahrhunderts sogar erneut Höchststände zu erreichen.19 Vor diesem Hintergrund präsentieren sich die Alten Sprachen im gegenwärtigen Bildungsdiskurs nicht als Auslaufmodell oder als Vehikel einer neuen fragwürManfred: Cäsar oder Erasmus? Die alten Sprachen jetzt und morgen, Tübingen 1995, insb. S. 53–78 und S. 101–126. Für einen vorsichtigen Überblick vgl. Kipf, Stefan: Altsprachlicher Unterricht, S. 125–148. 17 Kritik schlägt dem Lateinunterricht vor allem von der Fremdsprachendidaktik entgegen (vgl. zusammenfassend Lobe, Michael: Das Handlungsfeld Lektüreunterricht, in: Kipf, Stefan / Kuhlmann, Peter (Hg.): Perspektiven für den Lateinunterricht. Ergebnisse der Dresdner Tagung vom 5./6. 12. 2013, Bamberg 2015, S. 34–40), die sich ihrerseits aufgrund einer stark kommunikativen Orientierung dem analytischeren Ansatz der lateinischen Literaturdidaktik opponiert, vgl. hierzu Westphalen, Klaus: Basissprache Latein. Argumentationshilfen für Lateinlehrer und Freunde der Antike, Bamberg 1992, insb. S. 20f. Kritisch gegenüber dem geringen Stellenwert des Lektüreunterrichts vgl. Baum, Michael: Der Widerstand gegen Literatur. Dekonstruktive Lektüren zur Literaturdidaktik, Bielefeld 2019. Zu fachübergreifenden Synergieeffekten etwa zwischen Romanistik und Klassischer Philologie vgl. die Beiträge von Johannes Müller-Lancé und Johanna Nickel in Freund, Stefan / Janssen, Leoni (Hg.): Non ignarus docendi. Impulse zur kohärenten Gestaltung von Fachlichkeit und Mehrsprachigkeitsdidaktik in der Lateinlehrerbildung, Bad Heilbrunn 2019. Eine Veränderung des Kanons in Richtung eines ›kommunikativeren‹ Lateins wie etwa im Humanismus erfolgt bislang nicht, vgl. die Angaben in Anm. 16. 18 Einschlägig ist hier der Begriff der Multivalenz, vgl. exemplarisch Kipf, Stefan: Altsprachlicher Unterricht, S. 176–238. 19 Vgl. Schöneich, Rainer: Bericht zur Lage des altsprachlichen Unterrichts in der Bundesrepublik Deutschland, in: Forum Classicum 48,1 (2005), S. 9–13, sowie Leonhardt, Jürgen: Latein: Geschichte einer Weltsprache, S. 284–289.

Antike Sprachwelten zwischen Schule und Universität

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digen Elitenbildung, sondern als integrale Fächer gymnasialer Bildung, die an deren kontinuierlicher Weiterentwicklung partizipieren und ihren wichtigen Beitrag zu dieser leisten. Dieser produktive Beitrag des Altsprachenunterrichts soll im Folgenden skizziert werden.

2.

Der moderne Altsprachenunterricht – eine Idealskizze

Unabhängig von der historischen Entwicklung und dem Selbstverständnis des altsprachlichen Unterrichts bleibt eine solide Kenntnis des Lateinischen und Griechischen der zeitlose Zugangsschlüssel zu den antiken Kulturen. Aus dieser elementaren Voraussetzung der Sprache begründet sich die gewichtige Rolle des Spracherwerbs im Schulunterricht. Da die Schüler:innen schon früh mit der Fülle und dem Abstraktionsgrad grammatikalischer Phänomene der antiken Sprachen konfrontiert werden, galt und gilt gerade Latein Vielen als ödes sowie theoretisches Paukerfach.20 Dieser Vorwurf wird gegenüber dem Unterricht bereits seit vielen Jahrhunderten erhoben und drängt seine Vertreter:innen in eine Apologie nicht nur ihres eigenen Faches,21 sondern auch ihrer Person selbst, da sie als heutige Ausläufer des gesellschaftlich stigmatisierten Bilds des Lateinlehrers 20 Diese Auffassung des Faches bedingt nicht zuletzt die Stellung des Grammatikunterrichts im 19. und weiten Teilen des 20. Jahrhunderts, die darin bestand, dass aus der Kenntnis griechischer und lateinischer Grammatik positive Auswirkungen auf die moralisch-geistige Erziehung der Schüler:innen entstünden; vgl. Landfester, Manfred: Humanismus, S. 173–201; Kuhlmann, Peter: Sprache und Grammatik erklären, in: Ders. (Hg.): Lateinische Grammatik unterrichten. Didaktik des lateinischen Grammatikunterrichts, Bamberg 2014, S. 7–34, hier S. 7f.; Kranzdorf, Anna: Ausleseinstrument, S. 57–63; 103f. Nach Stefan Kipf wird der strenge und anspruchsvolle Charakter des Lateinunterrichts anschaulich an einem Satz aus dem Lehrbuch Lectiones Latinae von 1970: »›In tormentis educamur‹ – ›Unter Qualen werden wir erzogen‹« (Kipf, Stefan: Altsprachlicher Unterricht, S. 74). 21 Sprechend ist die Vielzahl an Beiträgen, die das Fach zu legitimieren suchen: Freund, Walter: Wie legitimiert sich der griechische Lektüreunterricht heute?, in: AU IX,2 (1966), S. 79–96; Clasen, Adolf: Wozu Latein? Wie ist sein Platz im modernen Curriculum zu begründen?, in: MDAV 13,2+3 (1970), S. 18–27; Fuhrmann, Manfred: Alte Sprachen in der Krise? Analysen und Programme, Stuttgart 1976; Menze, Clemens: Ist humanistische Bildung noch zeitgemäß?, in: Heid, Helmut / Vath, Reingard (Hg.): Pädagogik im Umbruch?, Freiburg i. Br. 1978, S. 9–26; Fritsch, Andreas: Warum und Wozu Latein?, in: LGB 24,1 (1980), S. 3–8; Barié, Paul: Unzeitgemäße Gedanken zum Nutzen der Alten Sprachen für das Leben, in: MDAV 29,2 (1985), S. 35–41, und 30,1 (1986), S. 2–12, und Ders.: Wieso Latein? Konturen eines Faches, in Höhn, Wilhelm / Zink, Norbert (Hg.): Handbuch für den Lateinunterricht. Sekundarstufe I, Frankfurt am Main 1987, S. 7–28; Westphalen, Klaus: Basissprache; Weeber, Karl-Wilhelm: Mit dem Latein am Ende? Tradition mit Perspektiven, Göttingen 1998; Stroh, Wilfried: Latein ist tot, es lebe Latein, Berlin 2007; Maier, Friedrich: Warum Latein? Zehn gute Gründe, Stuttgart 2008; vgl. auch Kipf, Stefan: Altsprachlicher Unterricht, S. 225f. und 286f. Zu beachten sind jedoch besonders die kritischen Gedanken Paul Bariés: Ders.: Dauerreflexion als Berufsrisiko. Von der Lust und der Not der Legitimation, in: MDAV 36,4 (1993), S. 133–136.

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angesehen werden.22 Dieser sprichwörtliche Grammaticus zielte auf die aktive Sprachbeherrschung eines sogenannten klassischen Lateins, nicht zuletzt, da, wie oben angezeigt, an Universitäten schriftliche Qualifikationsarbeiten in dieser besonderen Ausprägung des Lateinischen verfasst werden mussten. Seitdem hat sich der altsprachliche Unterricht insgesamt, seltener jedoch sein Bild in der Öffentlichkeit, verändert. Der moderne Unterricht der Fächer hat sich von der starren Fixierung auf die aktive Sprachbeherrschung gelöst23 und sowohl das Vokabelpensum stark reduziert als auch die Vermittlung grammatischer Phänomene entzerrt. Diese Entzerrung, die freilich nicht ohne didaktische Reduktion mancher grammatischer Phänomene vonstattenging, wurde begleitet von einer Aufwertung inhaltlicher Aspekte.24 Der moderne Altsprachenunterricht untergliedert sich in zwei komplementäre Phasen: die Spracherwerbs- und die Lektürephase.25 Dabei kommt der ersten Stufe 22 Man denke an Figuren wie den Professor Raat in Heinrich Manns Professor Unrat (1904) oder dessen filmische Adaption in Der blaue Engel (1930). Moderne Zugriffe wie Pascal Merciers Nachtzug nach Lissabon (2004, Verfilmung 2011) oder Ein Drilling kommt selten allein (2012) mögen ihrem Protagonisten auch liebevolle Seiten abgewinnen, dies aber stets vor der Folie der Verschrobenheit. 23 Interessanterweise hat das Lateinsprechen (Latine loqui) eine Art Renaissance erlebt, vgl. Fritsch, Andreas: Lateinsprechen im Unterricht. Geschichte – Probleme – Möglichkeiten, Bamberg 1990. Hierzu existieren auch Unterrichtsmaterialien, vgl. Bethlehem, Ulrike: Latine loqui: gehört – gesprochen – gelernt: Kopiervorlagen zur Grammatikeinführung, 2. Auflage, Göttingen 2017 und Böttcher, Eltje: Lateinisch sprechen im Unterricht. Praktische Ansätze des »Latine loqui«, Göttingen 2019. Dass die laute Rezitation lateinischer Texte wichtig für die Erfassung der klanglichen Wirkung von Stilmitteln sei, betonen auch Glücklich, Hans-Joachim: Latein lesen, Latein erleben, in: AU 51,3+4 (2008), S. 83–90 und Kuhlmann, Peter: Fachdidaktik Latein kompakt, Göttingen 2009, S. 41–53. 24 Vgl. zur Entwicklung Kipf, Stefan: Altsprachlicher Unterricht, S. 286–292 und 441–448. Schon früh wirbt für den Primat der Interpretation Carius, Wolfgang: Die Interpretation als Ziel des Lateinunterrichts, in: AU 3,1 (1957), S. 31–54. Hinweise auch von Fink, Gerhard: Verdichten statt Verzichten. Probleme der Ökonomisierung im Lateinunterricht, in: AU 26,5 (1983), S. 24–30. Die diese Entwicklung begleitenden Spannungen scheinen in der Analyse des sogenannten »Neuen Schülers« auf, vgl. Burandt, Rudolf: Die Alten Sprachen und der Neue Schüler. Auswertung mit Ansätzen zur Systemanalyse zu J. Klowskis Ausführungen 2/94, in: MDAV 37,4 (1994), S. 139–142. Vgl. zu den Zielen des heutigen Grammatikunterrichts der antiken Sprachen Maier, Friedrich (Hg.): Lateinunterricht zwischen Tradition und Fortschritt I. Zur Theorie und Praxis des lateinischen Sprachunterrichts, Bamberg 1979, S. 41f.; Hey, Gerhard: Kompetenzorientiertes Lernen im Lateinunterricht, in: Maier, Friedrich / Westphalen, Klaus (Hg.): Lateinischer Sprachunterricht I. Forschungsergebnisse aus Theorie und Praxis, Bamberg 2008, S. 99–101; Kuhlmann, Peter: Fachdidaktik Latein, S. 69–71; Kipf, Stefan: Kompetenzen im Lateinunterricht?! Bestandsaufnahme und Perspektiven eines problematischen Verhältnisses, in: Latein und Griechisch in Berlin und Brandenburg 56,4 (2012), S. 68–69; Kuhlmann, Peter: Sprache und Grammatik, S. 8–10. 25 Vgl. stellvertretend Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.): Kernlehrplan für die Sekundarstufe I Gymnasium in Nordrhein-Westfalen. Latein, Düsseldorf 2019, S. 16 und Kernlehrplan für die Sekundarstufe I Gymnasium in NordrheinWestfalen. Griechisch, Düsseldorf 2020, S. 10. Vgl. zur Debatte auch Kipf, Stefan: Alt-

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neben der Vermittlung grundlegender sprachlicher Kompetenzen eine starke propädeutische Funktion zu. So führen moderne Schulbücher grammatikalische Phänomene im Konnex mit Kulturkompetenzen ein, sei es durch Mythen-, fiktionale Alltagserzählungen oder vereinfachte Originaltexte. Die moderne Didaktik der Alten Sprachen weiß somit bereits in der frühen Spracherwerbsphase die vielfältigen Möglichkeiten zur Auseinandersetzung mit der Antike zu nutzen.26 Von diesem Ausgangspunkt strebt der Unterricht zur darauffolgenden Phase, der Lektüre von Originaltexten.27 Die Lektürephase zeichnet sich dadurch aus, dass Literatur in ihrer Breite begegnet: eine Vielfalt an Gattungen und Autoren unterschiedlichster Provenienz sowie reiche inhaltliche Varianz – kurz: Von philosophischer Prosa bis lyrischer Dichtung fördern die antiken Texte ein umfängliches Literaturverständnis.28 Wie andere Philologien zeichnet daher ebenso den Altsprachlichen Unterricht das aus, was quasi als Maxime für den Lektüreunterricht aus den literaturtheoretischen Gedanken Roland Barthes’ gegriffen werden kann: »[L]a littérature ne permet pas de marcher, mais elle permet de respirer.«29

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sprachlicher Unterricht, S. 251–257. Freilich sind die beiden Phasen nicht streng geschieden, da auch die Lektürephase zur Neueinführung oder Wiederholung grammatischer Phänomene genutzt wird; vgl. etwa Glücklich, Hans-Joachim: ›Basisgrammatik‹ des Lateinischen, in: Höhn, Wilhelm / Zink, Norbert (Hg.): Handbuch für den Lateinunterricht. Sekundarstufe I, Frankfurt am Main 1987, S. 86–103; Uhl, Anne: Repetitio est mater…? Grammatikwiederholung im altsprachlichen Lektüreunterricht, in: AU 55,3 (2012), S. 4–12; Pfaffel, Wilhelm: Grammatik in der Lektürephase, in: Kuhlmann, Peter (Hg.): Lateinische Grammatik unterrichten. Didaktik des lateinischen Grammatikunterrichts, Bamberg 2014, S. 131–141. Vgl. für den Griechischunterricht: Glücklich, Hans-Joachim: Lernziele des Griechischunterrichts und griechischer Anfangsunterricht, in: Anr. 24 (1978), S. 367–374 und Bode, Reinhard: Griechisch auf neuen Wegen, in: AU 45,5 (2002), S. 4–13; für den Lateinunterricht: Glücklich, Hans-Joachim: Lateinische Lektüre auf der Sekundarstufe I, in: AU 22,3 (1979), S. 5–18, und zusammenfassend Kipf, Stefan: Altsprachlicher Unterricht, S. 243–280 sowie für einen Überblick über die Aufnahme von Forschungsdiskurs und curricularen Vorgaben in die Lehrwerke ebd., S. 280–340. Zu Recht wird die Lektüre von Originalautoren dabei als Hauptziel des Altsprachenunterrichts postuliert; vgl. etwa Glücklich, Hans-Joachim: Lateinunterricht. Didaktik und Methodik, 3. Auflage, Göttingen 2008, 13. Als Verzahnung beider Phasen gilt die Eingangslektüre vgl. dazu Kuhlmann, Peter: Modelle und Methoden, in: Ders. / Eickhoff, Birgit / Horstmann, Henning / Rühl, Meike, Lateinische Literaturdidaktik, Bamberg 2010, S. 8–38, hier S. 8f. Vgl. zur Eingangslektüre als Vorbereitung für die Oberstufenlektüre Nickel, Rainer: Lexikon zum Lateinunterricht, Bamberg 2001, S. 16–18. Generell ist der erfreuliche Trend zu beobachten, für einen möglichst frühen Eintritt in die Lektürephase zu werben, vgl. jüngst Sauer, Jochen: Wortschatz, Grammatik und Lektüre neu ponderieren? Didaktische Antinomien, in: Forum Classicum 2 (2019), S. 78–85. Dem Altsprachlichen Unterricht kommt dabei der weite Literaturbegriff der Klassischen Philologie zugute. Vgl. dazu aus fachdidaktischer Perspektive Kuhlmann, Peter: Modelle und Methoden, S. 30–32. Barthes, Roland: Essais critiques, Paris 1964, S. 264.

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Eine besondere Herausforderung der Alten Sprachen in beiden Unterrichtsphasen stellt dabei die Vielschichtigkeit der antiken Texte dar. Zum einen auf inhaltlicher Ebene, da sie über einen oft sehr komplexen Aufbau verfügen und reich an inter- und intratextuellen Bezügen sind. Zum anderen bereits auf sprachlicher Ebene: Denn die antike Literatur besitzt nicht nur eine Tendenz zu umfangreichen, hypotaktischen Sätzen, sondern die Sprache selbst zeichnet sich durch eine charakteristische Bedeutungsvielfalt ihres Wortschatzes aus, die je nach Kontext sehr unterschiedlich und bisweilen nur umschreibend in die Zielsprache überführt werden kann (so entfaltet beispielsweise im Lateinischen res ein Bedeutungsspektrum von Ding über politische Umstände bis hin zum Staat selbst).30 Dass die lebensweltlichen Sphären, denen diese Begriffe entstammen, sich darüber hinaus teils nicht mit der (unmittelbaren) Alltagserfahrung der Schüler:innen decken, ist bei Begriffen wie hostia (Opfertier), servitium (Sklaverei) und selbst der Toga zwar evident. Die damit bezeichneten Signifikate31 sind gleichwohl Elemente des (westlichen) kulturellen Gedächtnisses,32 wobei sie ihre Relevanz für die Schüler:innen nicht primär in einer konservierenden Funktion, sondern in einem weitreichenden Reflexionspotenzial entfalten. Andererseits besitzen sie sogar – wenn auch in divergenter Manifestation – rezente Gegenstücke in der eigenen und in fremden Kulturen. Den Schüler:innen eröffnet sich somit einerseits die Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit einer ihnen fremden Sprachwelt. Die damit verbundene Lebenswelt mit ihren Überzeugungen von gesellschaftlichem Zusammenleben, die meist Ausdruck einer Oberschichtsliteratur darstellt, begegnet ihnen andererseits weit öfter in Differenz als in Kongruenz zur heutigen Zeit. Die Schüler:innen werden konfrontiert mit der literarischen Stilisierung einer klar geordneten Gesellschaft und dadurch zum Deuten der eigenen Realität in einer grundsätzlich heterogenen kulturellen und gesellschaftlichen Gegenwart befähigt.33 Die antiken Texte figurieren als

30 Vgl. Neuhauser, Walter: Ambiguitas als Wesenszug der lateinischen Sprache. Beobachtungen zu einer sprachlichen Erscheinung im Lateinischen, in: Muth, Robert (Hg.): Serta philologica Aenipontana II, Innsbruck 1972, S. 237–258. Für die interpretatorische Nutzbarmachung der Polysemie im Unterricht: Siebenborn, Elmar: Textbegriffe und Interpretationsweisen. Zur semantischen Struktur als Grundlage unterschiedlichen Interpretierens, in: AU 30,6 (1987), S. 17–42 und Kuhlmann, Peter: Religion im griechisch-römischen Kulturraum, in: AU 59,2 (2016), S. 2–9. 31 Signifikate sind hier im Sinne des semiotischen Dreiecks verstanden; vgl. bspw. Eco, Umberto: Einführung in die Semiotik, München 1994, insb. S. 69–76. 32 Zum Begriff des kulturellen Gedächtnisses vgl. grundlegend Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 8. Auflage, München 2018, insb. S. 29–160. 33 Vgl. Lorenz, Sven: Antike als Vorbild und Gegensatz: Wertekonflikte und die kritische Auseinandersetzung mit der antiken Kultur im Lateinunterricht, in: Pegasus-Onlinezeitschrift 17 (2019), S. 111–138. Zwar auf interkulturelle Transferleistungen moderner Fremd-

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Kommunikationspartner, die zwar unmittelbar an ihre eigene Zeit adressiert sind, deren Nachricht jedoch mittelbar auch im 21. Jahrhundert ästhetische und intellektuelle Verständnisprozesse befördern kann. Über den diachronen Kommunikationskanal der antiken Texte lernen die Schüler:innen, durch die Augen einer anderen Person fremde Kulturen und Individuen zu betrachten. Die Rezipient:innen (aber eben auch der Altsprachenunterricht) empfangen und dekodieren die Nachricht nicht nur, sondern positionieren sich selbst und ihre Zeit zu dieser, erwerben also die Kompetenz, sowohl sich in ein Gegenüber hineinzuversetzen als auch Gesellschaft und deren Prozesse zu bewerten. Identifizieren die Schüler:innen doch im noch heute oft bemühten ciceronischen Ausspruch o tempora, o mores die Projektion eines gesellschaftlichen Wandels. Dieser Vorgang stagniert dabei nicht in einem falsifizierten Urteil der Römischen Dekadenz, sondern kulminiert in einer Re-Perspektivierung der historischen Ereignisse auf die eigene Gegenwart.34 Der Sprachenunterricht dient dabei als Pfad in eine fremde Kultur und Umwelt. Dieser Pfad ist langsam und schon die Wahrnehmung der Alten Sprachen geschieht langsam. Denn sie sind für heutige Schüler:innen Schriftsprachen; ihre Inhalte werden überwiegend, und damit im diametralen Unterschied zum Sprachunterricht der sogenannten modernen Fremdsprachen, lesend rezipiert. Lesen bedeutet hier jedoch weit mehr als reines Wort-für-Wort-Übersetzen, sondern bildet ein komplementäres Element zum Verständigungslesen im Sinne des Scanning, Skimming und Fast Reading. Dies stellt nämlich beim Lesen eines altsprachlichen Textes lediglich die erste Stufe eines mehrstufigen Prozesses dar,35 in dessen Verlauf das thematische Erfassen des Textes um eine intensive grammatikalische Analyse des Einzelsatzes erweitert wird und an dessen Ende die Übertragung in die eigene Muttersprache steht. Schüler:innen erlangen sprachen bezogen, aber mit dennoch nützlichen Gedanken auch für die Alten Sprachen: Bredella, Lothar: Literarisches und interkulturelles Verstehen, Tübingen 2002. 34 Die hier vorgebrachten Aspekte lassen sich im Sinne eines existenziellen Transfers (vgl. Munding, Heinz: Antike Texte – aktuelle Probleme. Existenzieller Transfer im altsprachlichen Unterricht, Bamberg 1985) mit der eigenen Gegenwart als »modellbezogene Interpretation« beschreiben: Westphalen, Klaus: Interpretationsebenen, Lektüreprinzipien, Literaturkanon. Voraussetzungen und Bedingungen altsprachlicher Textbearbeitung, in: Maier, Friedrich (Hg.): Lateinunterricht zwischen Tradition und Fortschritt II. Zur Theorie des lateinischen Lektüreunterrichts, Bamberg 1984, S. 131–159, S. 137–139. Vgl. ferner bzgl. der vorgebrachten rezeptionsästhetischen und linguistischen Aspekte des Lektüreunterrichts Kuhlmann, Peter: Modelle und Methoden, S. 14–22. 35 Vgl. hierfür und zu den folgenden Stufen der Textarbeit im Altsprachlichen Unterricht Vester, Helmut: Textgrammatik und Lateinunterricht, in: Neukam, Peter (Hg.): Verstehen, Übernehmen, Deuten, München 1992, 132–157; Disselkamp, Christoph: Ganzheitliche Texterschließung, in: AU 34,6 (1991), S. 107–110; Kuhlmann, Peter: Fachdidaktik Latein, S. 94–142; Glücklich, Hans-Joachim: Lateinunterricht, S. 59–85; ein um das pre-reading erweitertes Modell bietet Kuhlmann, Peter: Modelle und Methoden, S. 24–29.

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währenddessen einerseits eigene Formulierungsfähigkeiten,36 zum anderen leisten sie bei der Übersetzung eine erste Erschließung des Textsinns. Eben deshalb zielt der altsprachliche Unterricht final auf die Interpretation in Form einer geistigen Durchdringung des Gegenstandes, da sich in den behandelten Texten ein Dahinter auftut – ein Dahinter, das sich gerade im Lektüreunterricht der Alten Sprachen in einem triangulären Verhältnis konkretisiert: nämlich aus dem Zusammenspiel von übermittelter Information, kulturellem sowie literarischem Kontext und seiner Autor:in bzw. ihrer literarischen persona. Die Antike erleben die Schüler:innen nicht ausschließlich im Unterricht. Vielmehr begegnen ihnen in zeitgenössischer Literatur und Filmen,37 in Dokumentationen und Kunstwerken, ständig implizite und explizite Reminiszenzen auf die antiken Kulturen, deren Ausmaß an dieser Stelle nicht aufgezeigt werden kann. Dabei eröffnen sich in diesen zeitgenössischen Aneignungen der Antike für den Unterricht sowohl zahlreiche Synergieeffekte mit anderen Fächern als auch ein umfängliches Motivationspotenzial.38 Da schließlich die Rezeption selbst zum Objekt des Unterrichts wird, können die Schüler:innen gleichsam an einem Modell das Phänomen derselben erfahren, ja repetieren. Diese synchrone Rezeptionserfahrung gewinnt darüber hinaus im Unterricht eine weitere Dimension durch die jahrhundertelange Rezeptionstradition altsprachlicher Texte. Denn das Wie des Diskurses mit und der Emanzipierung von der Kontrastfolie Antike hat sich gewandelt, das Dass lebt im Altsprachenunterricht jedoch fort. Letztendlich werden sich Schüler:innen bewusst, Glieder einer langen Kette von Aneignungsprozessen der antiken Texte zu sein. Es ist diese Tradition und im buchstäblichen Sinne die Tradierung der Texte, die zwar hinsichtlich ihres Korpus (weitestgehend) feststehen mag, die Geschichte ihrer Interpretation je36 Dadurch besitzt der Lateinunterricht auch ein sprachförderndes Potenzial speziell für Schüler:innen mit nichtdeutscher Muttersprache. Vgl. etwa Kipf, Stefan / Frings, Katharina: Latein als Brückensprache, in: Kipf, Stefan (Hg.): Integration durch Sprache. Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache lernen Latein, Bamberg 2014, S. 22–42; Siebel, Katrin: Mehrsprachigkeit im Lateinunterricht, Bonn 2017, bes. S. 95–117. 37 Man denke nur exemplarisch an die Aufnahme antiker Gattungstraditionen in Anne Webers Annette. Ein Heldinnenepos, das mit dem Deutschen Buchpreis 2020 ausgezeichnet wurde, oder an Filme bzw. Literatur, die in der Jugendkultur beliebt sind, ihren Bezug zur Antike jedoch nicht unmittelbar preisgeben, wie die bekannte Jugendbuch-Trilogie Die Tribute von Panem (2008–2010, Verfilmungen 2012–2015). Vgl. für die Umsetzung im Lateinunterricht Stierstorfer, Michael: Panem et Circenses reloaded. »Die Tribute von Panem« als Brücke zum römischen Mythos und zur Historie, in: AU 60,1 (2017), S. 6–10. 38 Vgl. Choitz, Tamara: Archäologische Bildbetrachtung im altsprachlichen Unterricht, in: AU 57,2+3 (2014), S. 18–27; Kussl, Rolf (Hg.): Formen der Antikenrezeption in Literatur und Kunst. Im Auftrag des Bayerischen Staatsministeriums für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst, Ebelsbach 2016 und Anselm, Sabine / Janka, Markus (Hg.): Vernetzung statt Praxisschock: Konzepte, Ergebnisse, Perspektiven einer innovativen Lehrerbildung durch das Projekt »Brückensteine«, Göttingen 2016; Choitz, Tamara / Schollmeyer, Patrick: Archäologische Zeugnisse im Lateinunterricht, Göttingen 2021.

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doch befindet sich nach wie vor im Fluss und wird daher durch keine Generation von Schüler:innen des altsprachlichen Unterrichts zu Ende geführt werden.

3.

Quo vadis? Konsequenzen für das Lehramtsstudium

Der Lehrerbildung an den Universitäten kommt es in diesem Zusammenhang zu, neben und nicht zuletzt durch eine entsprechende fachwissenschaftliche Ausbildung die Studierenden zu befähigen, die aufgezeigten Potenziale des modernen Altsprachenunterrichts zu realisieren. Dabei profitiert die Klassische Philologie an den Universitäten zu einem guten Teil von der anhaltenden Bedeutung der antiken Sprachen im gymnasialen Fächerkanon. In der Tat werden sie größtenteils und mehr als in anderen geisteswissenschaftlichen Fächern mit dem Ziel Lehramt studiert. Konsequenz hieraus ist, dass nicht nur die Fachdidaktik der Alten Sprachen, sondern bereits der fachwissenschaftliche Unterricht in Konzeption und Inhalt die Belange schulischer Vermittlung mitreflektiert. Vor diesem Hintergrund ruht das wissenschaftliche Studium der Alten Sprachen Griechisch und Latein auf drei Säulen: Die erste markiert die möglichst effiziente Vertiefung der Sprachkompetenz, die beim schulischen Leistungsstand der Abiturient:innen ansetzt und bis zum Abschluss einerseits zu qualifizierter Sprachkenntnis und andererseits zu einer souveränen Übersetzungskompetenz führt, die der Breite und Heterogenität der antiken Literaturen gerecht wird. Die zweite Säule bezeichnet das Studium der antiken Literaturen, in dem heute traditionelle philologische und interpretatorische Methoden mit modernen literatur- und kulturtheoretischen Zugängen verbunden werden. Ihre literaturgeschichtliche Komponente siedelt die Vermittlung antiker Autoren im Spannungsfeld von Kanon und exemplarischer Begegnung mit den antiken Literaturen in ihrer gesamten Breite an. Hierdurch vermag sie angehende Lehrkräfte auf der einen Seite optimal auf den schulischen Literaturunterricht vorzubereiten. Denn neben der Behandlung einschlägiger Schriftsteller wie Cicero oder Ovid eröffnet dieser heutzutage immer mehr Spielräume, je nach Interessenlage der Schüler:innen oder aufgrund lokaler Gegebenheiten auch andere Autoren einzubeziehen.39 Auf der anderen Seite ermöglicht erst ein alle Epochen umfas39 Der Kanon sowohl von Autoren als auch von Werken ist – nach einer Verengung im 19. Jahrhundert – im Laufe des 20. Jahrhunderts immer vielfältiger geworden und lässt den Lehrkräften breite Spielräume, inhaltliche Schwerpunkte zu setzen. Sichtbar wird diese Erweiterung des Kanons einerseits in den Vorgaben der Lehrpläne selbst, andererseits in den sich an diesen orientierenden Lehrwerken und Lektüreausgaben. Vgl. Kipf, Stefan: Altsprachlicher Unterricht, S. 125–148 und 365–448. Vgl. zur Diskussion um den Kanonizitätsbegriff in der Klassischen Philologie Formisano, Marco / Shuttleworth Kraus, Christina (Hg.): Marginality, Canonicity, Passion, Oxford 2018.

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sendes Studium der antiken Literaturen jenen Überblick, dessen es für eine kompetente Vermittlung der kanonischen Autoren und der Entstehungskontexte ihrer Werke bedarf. Die dritte Säule, die erst in jüngerer Zeit Bedeutung im Schulunterricht erlangt hat, umfasst den Bereich der antiken Kulturgeschichte und damit die entsprechende Analysekompetenz, die über den diachronen Vergleich zu einer kritischen Reflexion über die eigene Gegenwart befähigt. Dabei gehört es zum Wesenskern eines in erster Linie sprach- und literaturwissenschaftlichen Fachs, dass jene über die Auseinandersetzung mit Texten vermittelt wird, sodass die Einleitung in Fragestellungen und Methoden einer kritischen Kulturwissenschaft immer auch mit einer entsprechenden Vertiefung der Textkompetenz einhergeht. Schließlich erlaubt die diachrone Komponente des Fachs, die Deutungsgeschichte antiker Literatur und Kultur und damit dessen Geschichte selbst in den Blick zu nehmen. Sie fragt etwa nach den Gründen für die transhistorische Wirkmächtigkeit bestimmter Autoren oder Werke oder danach, weshalb manchen von ihnen in einigen Epochen besondere Aufmerksamkeit zuteilwurde und in anderen wiederum nicht. Eine solche Perspektive vermittelt nicht nur zu einer allgemeinen Kritikfähigkeit anleitende kulturwissenschaftliche Kompetenzen, sondern befähigt angesichts der eminenten Bedeutung, die die Auseinandersetzung mit der Antike über die gesamte europäische Kulturgeschichte hinweg eingenommen hat und immer noch einnimmt, ganz konkret auch dazu, sich kompetent in die aktuellen Debatten über Rolle und Verantwortung Europas in einer globalisierten Welt einzubringen. Angesichts der konstitutiven Bedeutung der Antike für Kultur und Bildung im 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts und nicht zuletzt auch für das Humboldtsche Bildungsideal ist es nicht erstaunlich, dass die Klassische Philologie zu den Gründungsfächern der Bonner Universität gehörte. Seitdem hat die Bonner Klassische Philologie immer wieder impulsgebend auf die Entwicklung des Fachs im deutschsprachigen Raum und darüber hinaus gewirkt. Nach dem Zweiten Weltkrieg zeichnete sich der Standort vor allem durch einen editionswissenschaftlichen Schwerpunkt aus. In seiner jüngeren Geschichte wurde dieser zu einem pluralen Themen- und Methodenansatz im oben angedeuteten Sinne weiterentwickelt, sodass die Bonner Klassische Philologie heute deren traditionelle Stärken mit den Möglichkeiten eines modernen literatur- und kulturwissenschaftlichen Fachs verbindet. Dies gilt insbesondere für die vergangenen Jahre seit Wiedereinführung der Lehrerbildung in Bonn, womit von Anfang an das Bestreben verbunden war, dieser im Bereich der Klassischen Philologie ein spezifisches Profil zu verleihen. Angesichts der bereits bestehenden Forschungsschwerpunkte der Lehrstühle sowie des besonderen Standortvorteils, über einen Lehrstuhl für Mittel- und neulateinische Philologie zu verfügen, liegt dieses in einer prononciert kulturgeschichtlichen Ausrichtung mit Schwerpunkt auf der Wirkungsgeschichte der antiken Literatur und Kultur, die in dieser Weise

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nicht nur im regionalen universitären Umfeld, sondern deutschlandweit heraussticht. Davon ausgehend entwickelt sich das Lehramtsstudium in den Alten Sprachen an der Universität Bonn kontinuierlich weiter. Aktuelle Handlungsfelder sind dabei neben der Implementierung einer globalen Perspektive in die kulturwissenschaftliche und -theoretische Säule vor allem der Übergang vom Gymnasium zur Universität, um den Studierenden einen optimalen Start in das wissenschaftliche Studium an der Universität Bonn zu ermöglichen.

Literatur Abbamonte, Giancarlo / Harrison, Stephen (Hg.): Making and rethinking the Renaissance. Between Greek and Latin in the 15th–16th century Europe, Berlin / Boston 2019. Anselm, Sabine / Janka, Markus (Hg.): Vernetzung statt Praxisschock: Konzepte, Ergebnisse, Perspektiven einer innovativen Lehrerbildung durch das Projekt »Brückensteine«, Göttingen 2016. Apel, Hans Jürgen: Altsprachlicher Unterricht (I. Deutschland), in: DNP 13 (1999), Sp. 113– 120. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 8. Auflage, München 2018. Aurnhammer, Achim / Pittrof, Thomas (Hg.): »Mehr Dionysos als Apoll.« Antiklassizistische Antike-Rezeption um 1900, Frankfurt am Main 2002. Barié, Paul: Unzeitgemäße Gedanken zum Nutzen der Alten Sprachen für das Leben, in: Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes (MDAV) 29,2 (1985), S. 35–41, und 30,1 (1986), S. 2–12. Barié, Paul: Wieso Latein? Konturen eines Faches, in: Höhn, Wilhelm / Zink, Norbert (Hg.): Handbuch für den Lateinunterricht. Sekundarstufe I, Frankfurt am Main 1987, S. 7–28. Barié, Paul: Dauerreflexion als Berufsrisiko. Von der Lust und der Not der Legitimation, in: Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes (MDAV) 36,4 (1993), S. 133– 136. Barthes, Roland: Essais critiques, Paris 1964. Baum, Michael: Der Widerstand gegen Literatur. Dekonstruktive Lektüren zur Literaturdidaktik, Bielefeld 2019. Bernhardt, Markus (Hg.): Inklusive Geschichte? Kulturelle Begegnung – soziale Ungleichheit – Inklusion in Geschichte und Gegenwart, Frankfurt am Main 2021. Bethlehem, Ulrike: Latine loqui: gehört – gesprochen – gelernt: Kopiervorlagen zur Grammatikeinführung, 2. Auflage, Göttingen 2017. Black, Robert: Humanism and Education in Medieval and Renaissance Italy. Tradition and Innovation in Latin Schools from the Twelfth to the Fifteenth Century, Cambridge [u. a.] 2001. Bloomer, W. Martin: The school of Rome. Latin Studies and the Origins of Liberal Education, Berkeley [u. a.] 2011.

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Antike Sprachwelten zwischen Schule und Universität

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Melchior Klassen / Gernot Michael Müller / Adrian Weiß

Lehrpläne Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.): Kernlehrplan für die Sekundarstufe II Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Griechisch, Düsseldorf 2014. Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.): Kernlehrplan für die Sekundarstufe II Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Lateinisch, Düsseldorf 2014. Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.): Kernlehrplan für die Sekundarstufe I Gymnasium in Nordrhein-Westfalen. Latein, Düsseldorf 2019. Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.): Kernlehrplan für die Sekundarstufe I Gymnasium in Nordrhein-Westfalen. Griechisch, Düsseldorf 2020.

MATHEMATIK

Ysette Weiss / Rainer Kaenders

Meine beste Schülerin, mein bester Schüler

Einleitung Die Fähigkeit, Mathematik zu können, ist in unserer Gesellschaft stark an den Begriff der Begabung gebunden. Dabei wird aus kognitivistischer Sicht Begabung meistens den Lernenden als persönliche Disposition zugeschrieben, und Begabungsförderung versteht sich als die Förderung dieser Anlage im jeweiligen Individuum.1 Auch die konstruktivistische Sicht auf mathematische Begabung sieht diese als Potenzial jedes Kindes; als Resultat individueller Förderung kann jedes Kind auf seine eigene Art begabt werden. Beide Perspektiven richten alle Aufmerksamkeit auf das Kind. Wir nehmen in diesem Beitrag eine Sichtweise ein, in der sich Begabung in der Interaktion und der Beziehung zwischen Lehrkraft und Schüler:in entwickelt.2 Dabei liegt unser Fokus auf der aus unserer Sicht vernachlässigten Seite, der Lehrer:innen. Aus der Perspektive der von Lew Wygotski begründeten kulturhistorischen Schule ereignet sich Begabung in einer gesellschaftlichen Praxis von Lehrer:in und Schüler:in. In diesem Sinne bedeutet als begabt zu gelten, von einer Expert:in erkannt und auserwählt zu werden. Förderung besteht dann in der Entwicklung einer Beziehung, die Einblicke in Werte und Normen einer gesellschaftlichen Praxis ermöglicht. Eine solche Beziehung wird durch Vorstellungen der Lehrer:in über Erfolg und gelungene Teilhabe in dieser gesellschaftlichen Praxis und ihre Rolle als Vorbild geprägt.3 Diese Sicht auf Begabung führt zu einem eigenen Interesse der 1 Siehe z. B. Leikin, Roza / Leikin, Mark / Waisman, Ilana: What Is Special About the Brain Activity of Mathematically Gifted Adolescents?, in: Creativity and Giftedness Advances in Mathematics Education, Cham 2017, S. 165–181. 2 Vgl. Cole, Michael: The zone of proximal development: Where culture and cognition create each other, in: Wertsch, James V. (Hg.): Culture, communication, and cognition: Vygotskian perspectives, Cambridge 1985, S. 146–161. 3 Vgl. Wenger, Etienne: Communities of Practice: Learning, Meaning, and Identity, Cambridge 1998.

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Ysette Weiss / Rainer Kaenders

Lehrer:in an der Förderung mathematischer Begabung, da die Begabung der von ihr selbst Erwählten in ihrem eigenen Leben bedeutungsvoll ist und zur Bereicherung der eigenen sozialen Gemeinschaft führt.4

1.

Der Begabungsbegriff im Schulgebrauch – ein historischer Exkurs

Das Nachdenken über mathematische Begabung steht in einer langen Tradition und hat viele Facetten. Aus der historischen und philosophischen Perspektive steht mathematische Begabung z. B. in Beziehung zu berühmten Mathematikern und ihren Denkschulen. In politökonomischen Kontexten spielt »veranlagte« individuelle mathematische Begabung eine Rolle bei der Förderung naturwissenschaftlicher und technischer Eliten und der Entwicklung von Selektionsverfahren wie IQ-Tests. In der Psychologie dienen Herangehensweisen, in denen Struktur und formales Schließen besonders ausgeprägt und sichtbar werden, zur Modellierung von Denkprozessen. Die Soziologie fragt u. a. danach, ob Förderungen von Veranlagungen, die wir als mathematische Begabung bezeichnen, sozial gerecht ist und nicht nur dem Individuum, sondern auch der Gesellschaft zugutekommen. Diese und weitere Aspekte gehen in unseren Umgang mit dem Begriff der mathematischen Begabung ein, manchmal reflektiert, meist aber implizit durch eine etablierte Praxis. Im Vordergrund dieses Beitrags steht der Begabungsbegriff im Schulgebrauch, genauer gesagt in den weiterführenden und höheren Schulen. Um die damit verbundene Schulpraxis besser zu verstehen, werfen wir einen Blick auf Traditionen, in welchen sich heutige, im schulischen Alltag zur Anwendung kommende Vorstellungen von mathematischer Begabung entwickelt haben. Das staatliche Interesse an der institutionellen Förderung mathematischer Begabung wuchs in Deutschland als Folge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Die Gründung polytechnischer Schulen und technischer Hochschulen zur Ausbildung mathematisch und naturwissenschaftlich breit geschulter technischer Fachkräfte und Ingenieure wurde von der Gründung und Erstarkung höherer Schulen begleitet, die im Unterschied zu den altsprachlichen Gymnasien

4 Analysen des Begabungsbegriffs aus sozialwissenschaftlicher Perspektive findet man u. a. in Böker, Arne / Horvath, Kenneth: Ausgangspunkte und Perspektiven einer sozialwissenschaftlichen Begabungsforschung, in: Begabung und Gesellschaft, Wiesbaden 2018, S. 7–26.

Meine beste Schülerin, mein bester Schüler

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einen Schwerpunkt in der mathematisch-naturwissenschaftlichen Bildung setzten – die Oberrealschule und das Realgymnasium.5 Dabei gerieten die Konzepte der Begabung und der Leistung als grundlegende Begriffe von Bildungsdenken und Bildungspolitik im Schulkontext bedingtermaßen in einen Gegensatz. Während »Leistung« gemeinhin mit Willen, Fleiß und Ausdauer in Verbindung gebracht wird, verweist Begabung sprachgeschichtlich auf ein ohne eigenes Zutun und ohne Anstrengung erworbenes Gut.6

Im Sinne des humanistischen Bildungsideals bedeutete mathematisch begabt zu sein, ein Leistungspotenzial – eine stark ausgeprägte Fähigkeit zu besitzen, Beziehungen und das Wesentliche in neuen allgemeineren Ausgangslagen zu erfassen.7 Auf die Mathematik bezogen bedeutete dies, außergewöhnlich-analytisches und strukturelles Denkvermögen zum Erfassen logischer Zusammenhänge zu besitzen. Zusammen mit der verbreiteten Sicht, Begabung als veranlagt oder gar vererbt zu sehen, wurden dem begabten Mathematiker (und hier handelte es sich fast ausschließlich um Männer8) zwar Selbstdisziplin, Ausdauer und Durchhaltevermögen zugesprochen, dies jedoch weniger als Voraussetzung, sondern eher aus der Beschäftigung mit Mathematik resultierend. Die Entwicklung der angewandten Mathematik sowie Wissen und Fertigkeiten, die als Erfolgsfaktoren für ein erfolgreiches technisch-naturwissenschaftliches Studium galten, führten zu einer breiteren, teilweise auch gegensätzlichen Vorstellung von erfolgreicher mathematischer Tätigkeit und Leistung und damit auch zu neuen Konzepten mathematischer Begabung. Zum Bild des genialen Technikers und Ingenieurs gehörten z. B. auch breite und übertragbare Kenntnisse und Fertigkeiten in Mathematik und den Naturwissenschaften, die dieser vor allem durch Fleiß und Training erwerben musste. In seiner Beschreibung der Entwicklung der Mathematik im 19. Jahrhundert geht Felix Klein9 sehr detailliert auf die Verschiedenheit der Begabungen, Arbeitsweisen und Interessen be-

5 Vgl. Toepell, Michael: Rückbezüge des Mathematikunterrichts und der Mathematikdidaktik in der BRD auf historische Vorausentwicklungen, ZDM 35,4 (2003). 6 Kössler, Till: Leistung, Begabung und Nation nach 1900, in: Reh, Sabine / Ricken, Norbert (Hg.): Leistung als Paradigma, Wiesbaden 2018, S. 193–210, hier S. 193. 7 Vgl. Knabe, Paul: Begabung und Fehlleistung, in: Wolff, Georg (Hg.): Handbuch der Schulmathematik: Einzelfragen der Mathematik, Bd. 5, Hannover, Paderborn 1960. 8 Mathematische Leistungen bei Frauen, wie z. B. bei Simon und Sophia Kovalewskaja, werden als Entartung dargestellt, die das weibliche Glück verhindern. Siehe z. B. Möbius, Paul Julius: Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes, 4. Auflage, Halle 1902. 9 Klein, Felix: Vorlesungen über die Entwicklung der Mathematik im 19. Jahrhundert, Bd. 1, Berlin 1926.

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kannter Mathematiker ein, was zu Typisierungen mathematischer Denkweisen führt.10 Dass auch im Schulkontext der Begriff der mathematischen Begabung durch Leistungen erfolgreicher forschender Mathematiker, aber auch deren Selbstbilder und Ideale geprägt wurde, kann u. a. mit der im 19. Jahrhundert fortschreitenden Akademisierung des Gymnasiallehrerberufs erklärt werden. So hatten die an den Gymnasien tätigen Gymnasiallehrer, -professoren und -direktoren Mathematik studiert, häufig in Mathematik promoviert und waren oft noch forschend, meist elementarmathematisch, tätig. Lehrmaterialien, wie Modelle, Aufgabensammlungen und Mathematiklehrbücher wurden also von Mathematikern, für welche das Nachdenken über mathematische Begabung mit sehr persönlichen und emotionalen Problemen verbunden war, entwickelt und genutzt. Konnten Schüler konzeptuellen Gedanken schnell folgen, diese in andere Darstellungen übertragen oder kreativ Lösungen variieren und verallgemeinern, so waren dies genau die Tätigkeiten, die auch für den erfolgreich forschenden Mathematiker wesentlich waren. Sowohl die Reform des Geometrieunterrichts »Neuere Geometrie« des 19. Jahrhunderts,11 als auch die Meraner Reform des gymnasialen Mathematikunterrichts hatten die Förderung experimenteller Zugänge und das Arbeiten in verschiedenen Darstellungen und Kontexten zum Ziel. Anschaulichkeit, funktionales, prozessbezogenes Denken, Darstellung und Nutzung der Beweglichkeit und Verwandtschaft der Gegenstände, anwendungsbezogene Kontexte, induktive, sich an paradigmatischen Beispielen orientierende Begriffsentwicklung und vor allem die Selbsttätigkeit der Schüler waren Leitmotive der Meraner Reform.12 Die Meraner Vorstellungen von gymnasialem Mathematikunterricht gestatteten es, schülerisches Tun und mathematische Leistung einheitlich zu sehen; mathematisches Arbeiten erfolgte an reduzierten, den Schülern zugänglichen Problemen, mit dem Ziel einer allgemeinen Schulung des funktionalen Denkens. Das mathematische Arbeiten glich dabei dem des forschenden Mathematikers, hatte nur weniger komplexe Sachverhalte zum Gegenstand. Andererseits wurden die gymnasialen Curricula durch die Rolle der Matura als Zulassungsprüfung für technische Hochschulen und Universitäten 10 Auch durch moderne Entwicklungen, die Entstehung neuer mathematischer Disziplinen und die Grundlagenkrise der Mathematik angeregt, beschäftigen sich viele forschende Mathematiker mit der Geschichte und der Philosophie der Mathematik sowie den Besonderheiten mathematischen Denkens. Vgl. auch Poincaré, Henri: Wissenschaft und Methode, Bd. 17, Stuttgart 1914. 11 Vgl. Kitz, Sebastian: Dynamische Geometrie ohne Computer: Die mathematischen Trickfilme des Geheimen Schulrats Münch. Mathematische Semesterberichte 60,2 (2013), S. 139– 149 oder Weiss, Ysette: Kegelschnitte im Mathematikunterricht der letzten 150 Jahre, in: Beiträge zum Mathematikunterricht, Münster 2018. 12 Eine Reform des Mathematikunterrichts in den Jahrzehnten nach der Meraner Konferenz im Jahr 1905.

Meine beste Schülerin, mein bester Schüler

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vor allem durch die Vorbereitung auf das Studium geprägt. Letzteres bedeutete für den Mathematikunterricht die Einführung der Differential- und Integralrechnung, sowie die Stärkung der Analytischen Geometrie, wo gute Leistungen auch durch das Beherrschen des Kalküls und mathematischer Terminologie erreicht werden konnten – also durch Fleiß und Wiederholung. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wuchs das staatliche Interesse und damit der Institution Schule an auf Leistungskriterien beruhenden Selektionsverfahren und Förderungsmöglichkeiten zukünftiger Eliten im Rahmen der höheren Schulen. In dem Maße, in dem geburtsständische Privilegien seit der Aufklärung an Bedeutung verloren und Gesellschaften auf neue Weise meritokratisch, auf der Grundlage von Leistung entworfen wurden, gewannen die in den jeweiligen Individuen ruhenden Potentiale, ihre Talente und Fähigkeiten an sozialer Bedeutung. Begabung und Intelligenz etablierten sich als grundlegende Konzepte in der Vermessung und Klassifizierung von Menschen und in der Zuweisung von Bildungschancen und Berufskarrieren.13

Es waren vor allem die ökonomischen Interessen an der Nutzung mathematischer Begabung, die schon im 19. und verstärkt im 20. Jahrhundert dazu führten, dass die Erkennung, Bewertung und Typisierung mathematischer Begabung ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückten und den Leistungsbegriff an die Performanz in Testverfahren knüpfte. Auch die sich Anfang des 20. Jahrhunderts rasch entwickelnde Intelligenzforschung fokussierte sich auf die Entwicklung von Tests und Selektionsverfahren und weniger auf das Verständnis und den Umgang mit dem Phänomen »mathematischer Begabung«. Für den gymnasialen Mathematikunterricht drückte sich das staatliche Interesse in der Entwicklung von Bewertungssystemen schulischer Leistungen im Unterrichtsfach Mathematik zur Beurteilung mathematischer Begabung aus. »Ein Kind heißt in der Schulsprache mathematisch begabt, wenn seine Leistungen in diesem Fach ohne besondere Mühe gut oder sehr gut sind.«14

Das »mühelose« Erreichen der Leistung kann hier als Ausdruck des Standpunkts betrachtet werden, in mathematischer Begabung eine gegebene, vom Unterricht unabhängige Veranlagung zu sehen. Dass man sich auf Lehrerseite der starken Vereinfachung dieser Sicht bewusst war, zeigen die im gleichen Abschnitt des Handbuchs der Schulmathematik geäußerten Zweifel darüber, ob denn die im Mathematikunterricht beobachtbaren Leistungen auch die Fähigkeit zu wissenschaftlichen und produktivem mathematischen Arbeiten aufzeigen können: 13 Kössler, Till: Auf der Suche nach einem Ende der Dummheit. Begabung und Intelligenz in den deutschen Bildungsdebatten seit 1900. Ders. / Goschler, Constantin (Hg.): Vererbung oder Umwelt? Ungleichheit zwischen Biologie und Gesellschaft seit 1945, Göttingen 2016, S. 103– 133, hier S. 103. 14 Knabe, Paul: Begabung und Fehlleistung, S. 252.

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Der Schulunterricht in Mathematik ist so angelegt, dass der Schülerdurchschnitt Leistungen aufweisen kann, … Die Leistungen in Mathematik benötigen neben einer gewissen Intelligenz, die für die höhere Schule überhaupt notwendig ist, keine besondere Begabung und weitere Auseinandersetzungen mit Schulstoff.15

Das in dieser Situation vorgeschlagene Vorgehen bestärkte den Lehrer, seiner Verantwortung gerecht zu werden, indem er ein besseres Verständnis der vorhandenen Stärken gewönne, um diese entsprechend individuell zu fördern: Will sich der Lehrer ein Urteil über die wirkliche Begabung machen, um vielleicht die Fähigkeit zu wissenschaftlicher Arbeit zu überprüfen, so sind tiefergehende Beobachtungen über Leistungen und das Verhalten des Schülers notwendig.16

Für die Beurteilung von Leistungen wurden natürlich auch Prüfungen herangezogen. In seiner bis in die 1950er Jahre für den Mathematikunterricht an den höheren Schulen sowie die Lehrbuchgestaltung maßgebenden Methodik sprach sich Walter Lietzmann für Leistungsüberprüfungen aus, welche durch Lehrer vorgenommen werden, die die Schüler lange und gut kennen: Daß solche Prüfungen, wo Prüfling und Prüfender einander kennen, bei uns die Regel sind, erscheint mir als ein wesentlicher Vorzug unseres Schulsystems. Wo, wie in Frankreich oder in England, beide Teile einander fremd gegenüberstehen oder sogar – bei Beschränkung auf schriftliche Prüfungen – einander gar nicht vor Augen kommen, ist das Examen an sich schwerer. Trotzdem führt es im Durchschnitt nicht zu höheren Leistungen, trotz eines manchmal unwürdigen Examendrills.17

Für den Mathematiklehrer wurden also eher die mündlichen Prüfungen als Möglichkeiten der Leistungsüberprüfung gesehen, da in ihnen mathematische Begabung erlebbar werden konnte. Wie es auch in den Leitideen der Meraner Reform zum Ausdruck kam, lagen die Unterscheidungen zwischen der wechselnd angeleiteten und selbsttätigen Beschäftigung des Schülers mit Mathematik und der Arbeit des forschenden Mathematikers eher in den Untersuchungsgegenständen als in den Tätigkeiten selbst. Mündliche Prüfungen wurden so als Gespräch eines Schülers mit einem Experten gesehen, dessen Arbeit er aus dem Unterricht kannte und dem er ein konzeptuelles Verständnis des Erlernten demonstrieren konnte. Förderung mathematischer Begabung bestand somit auch in der Konzeption und Vermittlung von elementarisierten Problemen der höheren Mathematik. Neben anspruchsvollen mathematischen Problemen auf Schulniveau, die dem Lehrer die Möglichkeit gaben, Vorgehensweisen der Schüler zu beobachten, wurden ihm in zunehmendem Maße psychologische 15 Ebd. 16 Ebd., S. 253. 17 Lietzmann, Walter: Methodik des mathematischen Unterrichts. Organisation, Allgemeine Methode und Technik des Unterrichts, Teil 1, Leipzig 1926, S. 207.

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Kriterien an die Hand gegeben. Diese waren oft anhand verschiedener Leistungen zu beobachten und deshalb einfacher zu beurteilen als mathematische Problemlöseprozesse individueller Schüler in einer heterogenen Klasse. Die Entwicklung und auch Durchführung der Testung solcher Kriterien wurde zunehmend von spezialisierten Psychologen übernommen. Einen neuen Weg beschritt man erstmalig (1917) bei der Auslese der Schüler für die Berliner Begabtenschulen. Auf Grund ausgedehnter, jeweils mehrere Tage in Anspruch nehmender Versuche mit den Mitteln der experimentellen Psychologie wurden die Fähigkeiten der Schüler gemessen und dann rechnerisch verglichen. Es wurden festgestellt: Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit, Gedächtnis, Kombination, Begriffsbereich, Urteilsfähigkeit, Anschauung und Beobachtungsfähigkeit.18

Die Bildung von Begabtenklassen wirkte auch dem Problem der Leistungsheterogenität entgegen.19 Die wachsende Verantwortung der Mathematiklehrer an höheren Schulen für die Erkennung und Förderung mathematischer Begabung als Wegbereitung einer erfolgreichen Laufbahn im mathematisch-naturwissenschaftlichen oder technischen Bereich betraf nicht nur die höheren Schulen mit mathematisch-naturwissenschaftlichen Schwerpunkten. Die wichtige Rolle der Technik in Deutschlands Hegemoniebestrebungen am Vorabend und während des Zweiten Weltkriegs führte auch zu einer neuen Bedeutung der Mathematik im Bildungskanon. Der Mathematikunterricht sollte nicht nur die Fähigkeiten und Fertigkeiten vermitteln, die Grundlage für eine Laufbahn in der Ingenieurtechnik, den Naturwissenschaften, der Wirtschaft, des Handels und der Verwaltung waren, er diente auch als Charakterschule. Aber das weitaus wichtigere ist der Erziehungswert, der aus der Geistesverbundenheit der Mathematik mit dem Dritten Reiche folgt. Die Grundhaltung beider ist die Heroische. […] Beide verlangen den Dienst: die Mathematik den Dienst an der Wahrheit, Aufrichtigkeit, Genauigkeit. […] Beide sind antimaterialistisch. […] Beide wollen Ordnung, Disziplin, beide bekämpfen das Chaos, die Willkür.20

Auch Mädchen und Frauen, besonders der unteren sozialen Schichten, wurden in Nazideutschland durch Mathematik eine neue Rolle zugewiesen. In den Mathematikbüchern für Mädchen wurde Buchführung nicht nur als Mittel zu einer effektiven Haushaltsführung dargestellt, sondern auch als Dienst für Führer, Volk und Vaterland. So lautet es in einem einführenden Text zu Mathematikaufgaben in einem Rechenbuch für Mädchen, bei dem Hindenburg zitiert wird: 18 Ebd., S. 210. 19 Zu Bildungszielen, Aufnahmeverfahren, Curricula dieser Schule siehe Moede, Walther/ Piorkowsi, Curt / Wolff, Georg: Die Berliner Begabtenschulen, ihre Organisation und die experimentellen Methoden der Schülerauswahl, Langensalza 1919. 20 Hamel, Georg: Die Mathematik im Dritten Reich, in: Unterrichtsblätter für Mathematik und Naturwissenschaften 39 (1933), S. 306–309, hier S. 307.

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Nachdem die großen Pflichten erfüllt sind, kann die Hausfrau für die täglichen Bedürfnisse sorgen. ›Fleiß und Arbeitsamkeit schaffen die Mittel zum Wohlstand der Nation und zu ihrer Freiheit, aber nur dann, wenn sparsam gewirtschaftet wird. Ohne Sparsamkeit bringen auch Fleiß und Arbeitsamkeit nicht vollen Erfolg‹, Hindenburg.21

Die Tendenz der Intelligenzforschung, Begabung durch psychologische Merkmale zu beschreiben, hatte schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts zu Typentheorien mathematischer Begabungen geführt.22 In Nazideutschland entwickelte Ludwig Bieberbach in Anlehnung an eine solche Typenlehre des Psychologen Erich Rudolph Jaensch die Theorie einer Deutschen Mathematik und eine antisemitische Typologie mathematischer Stile.23 Nach Kriegsende gewannen Begabung und Intelligenz eine neue Bedeutung im Rahmen der Elitenrekrutierung in der neuen Demokratie, die die verbliebenen geburtsständischen Privilegien abgeschafft hatte.24 In seinem Beitrag »Auf der Suche nach einem Ende der Dummheit« beschreibt Kössler die Begabungsdebatten seit dem ersten Weltkrieg durch zwei, auf widersprüchliche Weise verbundene Tendenzen. Einerseits wurde Begabungsauslese als Ausgangspunkt einer notwendigen Rationalisierung von Staat und Gesellschaft verstanden, Begabungen müssten planmäßig erkannt, ausgelesen und den gesellschaftlichen Bedürfnissen entsprechend eingesetzt werden, damit Deutschland im darwinistisch verstandenen Konkurrenzkampf der Nationen bestehen könne.25

Individualisierte Tests zur Berufsauslese, die eine große Anpassung von Fähigkeiten an bestehende ökonomische Bedürfnisse anstrebten, sollten höhere Leistungen aber auch höhere Zufriedenheit der Leistenden gewährleisten. Andererseits riefen Ausrichtung am Leistungsprinzip auch Ängste hervor, dass die übermäßige Förderung begabter Kinder aus unteren Schichten die sozialmoralische Ordnung der Gesellschaft bedrohen könne.26 In den ersten Jahren der Nachkriegszeit richtete sich der Mathematikunterricht in den alten Bundesländern wieder stark an den Vorstellungen der Weimarer Republik aus. Das dreigliedrige Schulsystem blieb trotz gegenteiliger Vorgaben der Alliierten erhalten. Vorstellungen eines allgemeinbildenden Mathematikunterrichts, welcher das Ziel einer besseren gesellschaftlichen Teilhabe 21 Specht, Minna: Mädchen rechnen. 3. Heft, Karlsruhe 1936, S. 26. 22 Siehe Thorndike, Edward L.: The Psychology of Learning, Bd. 2, Columbia 1936 sowie Stern, William / Wiegmann, Otto: Methodensammlung zur Intelligenzprüfung von Kindern und Jugendlichen, in: Beihefte zur Zeitschrift für angewandte Psychologie, Heft 20 (1922) als auch Strunz, Kurt: Pädagogische Psychologie des mathematischen Denkens, Heidelberg 1956. 23 Siehe auch Mehrtens, Herbert: Mathematik als Wissenschaft und Schulfach im NS-Staat, in: Dithmar, Reinhard: Schule und Unterricht im Dritten Reich, Neuwied 1989, S. 205–216. 24 Vgl. Kössler, Till: Leistung, Begabung und Nation nach 1900. 25 Ebd., S. 111f. 26 Ebd., S. 112f.

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aller Bürger und die Erziehung kritisch denkender, mündiger Bürger zum Ziele hatte, waren in der Mathematikdidaktik durch Alexander Israel Wittenberg (1926–1965) vertreten. Seine Pädagogik orientierte sich an einer ganzheitlichen individuellen Entwicklung und operierte entsprechend mit einem Begriff der Begabung, die Intelligenz nicht auf die Fähigkeit zum rationalen logischen Denken und ausgewählte Persönlichkeitsmerkmale reduzierte.27 Diese allgemeinbildenden Aspekte wurden aber schon bald durch die Zielstellungen der Mathematikunterrichtsreform Neue Mathematik verdrängt, die in der höheren Bildung vor allem das Ziel der Berufsvorbereitung sah, im speziellen die Vorbereitung auf technische und mathematisch-naturwissenschaftliche Tätigkeitsfelder.28 Auf der 100. Plenarsitzung der KMK (1964) wurden u. a. Ausbildung jedes Einzelnen bis zum höchsten Maß seiner Leistungsfähigkeit und die Schaffung von Angeboten für Ausbildungsmöglichkeiten, die stärker auf die Befähigung des Einzelnen eingestellt waren, sowie Maßnahmen, Schüler in diese ihnen gemäßen Bildungsgänge zu bringen (z. B. Beobachtungstufen), als langfristige Bildungsziele formuliert. Der Erschließung der »Begabungsreserven« der Verbesserung des »Ausleseverfahrens« beim Übergang von der Grundschule auf Realschulen und Gymnasien und der Verdichtung des Netzes dieser Schulen galt eine breit angelegte Strategie der Bildungsplanung und Bildungspolitik.29

Initiiert und organisatorisch unterstützt wurde die international als New Math bekannte Unterrichtsreform vor allem durch die Wirtschaftsorganisation OECD (damals noch OEEC). Für den Mathematikunterricht der höheren Schulen bedeutete die »Neue Mathematik« eine Ausrichtung am Erlernen der modernen mathematischen Sprache,30 die vor allem durch häufige Wiederholung und dadurch erfolgende Gewöhnung an die abstrakten Strukturen der modernen Algebra und Mengenlehre erfolgen sollte. Die Ende der 1960er Jahre vor allem in sozial- und gesellschaftswissenschaftlichen Bereichen wachsende Distanzierung von Elitenförderung und Hinwendung zu individueller ganzheitlicher Förderung widersprach 27 Wittenberg, Alexander Israel: Vom Denken in Begriffen: Mathematik als Experiment des reinen Denkens, Basel, Stuttgart 1957. 28 Wolter, Andrä: Gymnasium und Abitur als »Königsweg« des Hochschulzugangs: Historische Entwicklungslinien und institutionelle Transformationen, in: Abitur und Matura im Wandel, Wiesbaden, Hannover 2016, S. 1–27. 29 Führ, Christoph / Furck, Carl-Ludwig: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte: Bd. 6., 1945 bis zur Gegenwart, 2. Teilband: Deutsche Demokratische Republik und neue Bundesländer, München 1998. 30 Schubring, Gert: Zur strukturellen Entwicklung der Mathematik an den deutschen Hochschulen 1800–1945, in: Mathematische Institute in Deutschland 1800–1945, Wiesbaden 1990, S. 264–278.

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den Ideen der Neuen Mathematik. Die Ausrichtung an der axiomatischen deduktiven Lehre und Methode des programmierten Unterrichtens wirkte sich auch auf die schulischen Vorstellungen von mathematischer Begabung aus. So wurde das effektive Aneignen abstrakt-formaler Begriffe der Algebra und Strukturmathematik und deren Handhabung nun ein Ziel des Mathematikunterrichts der höheren Schulen und damit auch die Grundlage der Leistungsbewertung überdurchschnittlicher schulischer Leistungen. Anders als beim Problemlösen handelte es sich dabei stärker um Fähigkeiten im Erwerb der mathematischen Sprache, deren Einübung eben auch Wiederholung und Fleiß voraussetzten. Auch in der universitären Mathematik, in den Anfängerveranstaltungen, standen vor allem der Erwerb der Sprache der modernen Algebra und analytischer Methoden im Vordergrund und prägten das Bild des in modernen Gebieten forschenden theoretischen Mathematikers. Die der modernen Mathematik entsprechende axiomatische Lehrmethode im Mathematikunterricht, die im Rahmen der Neuen Mathematik stark propagiert wurde, unterstützte eine Vorstellung von mathematischer Begabung, die teilweise identisch mit logischer, rationaler Intelligenz war. Die wachsende Rolle von Mathematik als Selektionsfach spiegelte sich auch in den großen Anteilen der Fragen zum logischen Denken und geometrisch-struktureller Vorstellungen in Eignungs- und Zulassungstests wieder. Letzteres traf auch auf den gesamten westeuropäischen und den amerikanischen Raum zu. Ob und inwieweit die Öffnung des Intelligenzbegriffs in den 1980er Jahren31 auf die Vorstellungen von mathematischer Begabung in der alten Bundesrepublik Einfluss hatte, ist schwer nachzuweisen. In der empirischen Studie zum Gesellschaftsbild des Gymnasiallehrers von Schefer32 sind hingegen Hinweise zu finden, warum die 68er-Bewegung, die Brüche in der Lehrerbildung durch den »Bildungsnotstand« sowie die kritischen Auseinandersetzungen mit der New Math-Bewegung und deren »Scheitern« wenig Einfluss auf das Selbstbild der Mathematikgymnasiallehrer und deren Vorstellungen vom begabten Mathematiker hatten. Die vorherrschende Vorstellung unter den Universitätsmathematikern darüber, wie die Kluft zwischen rückständiger und elementarer Schulmathematik und der modernen begrifflichen Forschungsmathematik zu verringern sei, bestand in einer engen Anbindung (Zeitschriften, Seminare, persönliche Kontakte) der Gymnasiallehrer an die Universitäten und deren kontinuierliche Weiterbildung.33 Letzteres sollte u. a. zu

31 Siehe z. B. Gardner, Howard / Hatch, Thomas: Educational implications of the theory of multiple intelligences. Educational researcher 18,8 (1989), S. 4–10. 32 Schefer, Gerwin: Das Gesellschaftsbild des Gymnasiallehrers, Frankfurt am Main 1969. 33 Volkert, Klaus: Die »Semesterberichte« und die Entwicklung der Mathematikdidaktik in der Bundesrepublik Deutschland (1950–1980). Mathematische Semesterberichte, 63 (1), S. 19–68.

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einer fortwährenden Modernisierung des gymnasialen Mathematikunterrichts und damit verbunden zu gut vorbereiteten Studienanfängern führen. 1970 wurde in den alten Bundesländern der Bundeswettbewerb Mathematik eingerichtet: ein bundesweiter Mathematikwettbewerb, der aus zwei Hausaufgabenrunden und einem mathematischen Fachgespräch mit Experten bestand.34 Die Struktur des Wettbewerbs bezog die jeweiligen Mathematiklehrer kaum in den Wettbewerb ein. Durch den außerschulischen Charakter des Wettbewerbs hatten auch soziale Faktoren Einfluss auf den Erfolg der Schüler. Nach Kriegsende wurde in der damaligen sowjetischen Besatzungszone und ab 1949 in der DDR die Einheitsschule eingeführt. Die Situation unter den Lehrerinnen und Lehrern war, vor allem als Folge der Entnazifizierung der höheren Bildungsanstalten, durch Lehrkräftemangel und daraus resultierend durch eine Fokussierung auf Methodik für enorm heterogene Gruppen gekennzeichnet. Letztere wurden anfänglich großteils durch Quereinsteiger unterrichtet. Das Problem der sozialen Ungerechtigkeit staatlicher Förderung von Eliten gab es in der DDR weniger, da Kinder aus Arbeiter- und Bauernfamilien institutionell gefördert wurden und Kinder aus bildungsbürgerlichen Elternhäusern eher Quotenregelungen und damit teilweise auch Zugangsbeschränkungen unterworfen waren. Seit Ende der 1950er Jahre wurden in der DDR nach dem Vorbild der Sowjetunion35 mathematisch-naturwissenschaftliche Spezialklassen ab der 11. Klasse an großen Universitäten eingerichtet, zu denen der Zugang über Empfehlung durch die Mathematiklehrerin oder den -lehrer, Eignungsprüfungen und später auch Erfolge in lokalen und internationalen Wettkämpfen erfolgte. Anfang der 1960er fanden die ersten Schul-, Kreis,– Bezirksund DDR-Olympiaden statt.36 Die Mathematiklehrer waren in die Wettbewerbe stark einbezogen, da sie die Organisation und die Korrekturen der verschiedenen Stufen übernahmen. Die internationalen Mathematikolympiaden, die seit 1959 ausgetragen wurden und an denen die DDR von Anfang an teilnahm, etablierten einen internationalen Leistungsbezug und organisatorische Strukturen, die auch für den Leistungssport galten. Die Teilnahme als Mannschaft an diesen Wettkämpfen, die gemeinsame Vorbereitung sowie das gemeinsame Lernen in Spezialklassen ermöglichten außer dem sportlichen Wettkampf auch die Entwicklung von Gemeinschaftssinn, der ansonsten in der Beschäftigung mit Mathe34 Langmann, Hans Heinrich: Der Bundeswettbewerb Mathematik, in: Mitteilungen der Deutschen Mathematiker-Vereinigung 18 (2010), S. 206–208. 35 Kramer, Jürg, / Warmuth, Elke: Schnittstelle Schule-Hochschule: Berliner Aktivitäten zur mathematischen Bildung. Mitteilungen der Deutschen Mathematiker-Vereinigung 15,4 (2007), S. 228–237, hier S. 228f. 36 Gräbe, Hans-Gert: Die Förderung mathematisch talentierter Schüler in der Region Leipzig im Umfeld des Mathematik-Beschlusses von 1962. 10 Jahre LSGM, 30 Jahre MSG (16), Leipzig 2005.

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matik nicht selbstverständlich war. Der Mathematikunterricht in den an die Universitäten angeschlossenen Spezialklassen wurde hauptsächlich von Hochschullehrer:innen der entsprechenden Universitäten und Hochschulen durchgeführt. Die Entwicklung eigener Spezialabiture und Lehrmaterialien sowie zahlreiche Übersetzungen sowjetischer ›Schülerliteratur‹ führte zu breiten Diskursen darüber, wie und womit mathematisch begabte Schülerinnen und Schüler gefördert werden können. Ein Netzwerk zur Förderung begabter Schüler:innen, welches sowohl lokal durch Arbeitsgemeinschaften, aber auch republikweit durch Wettkämpfe und Mathelager sowie durch Schülerkorrespondenzzirkel und mathematische Schülerzeitschriften (»Alpha«, »Die Wurzel«) organisiert war, hatte sowohl die Breiten- als auch Spitzenförderung mathematischer Begabung zum Ziel. Besonders durch den Ansatz der Breitenförderung, durch Mathematikkulturgeschichte als Pflichtfach in der Lehramtsausbildung, fachübergreifende populärwissenschaftliche Beiträge und mathematisch allgemeinbildende Schülerzeitschriften wurden neben Vorstellungen von Mathematik als Leistungssport und als Werkzeug in Technik und Naturwissenschaften auch Zugänge über Kunst und Spiel, z. B. über Schach, unterstützt.37 Die breite sowjetische Begabungsforschung in der Mathematikdidaktik war in der DDR vor allem über Krutezkii38 repräsentiert. Entwicklungsforschungen zu alternativen mathematischen Begriffsentwicklungen, die in Spezialklassen getestet wurden, bildeten eine theoretische, empirisch-fundierte Grundlage für den Entwurf von Modellen für die Begabungsförderung, für Methodiken zu deren Umsetzung und für die Entwicklung von Lehrplänen, Lehrmaterialien und populärwissenschaftlicher mathematischer Literatur. An der Entwicklung von Materialien waren sowohl schulische Mathematiklehrkräfte als auch Hochschuldozenten beteiligt.39 1980 erschien auch in der alten Bundesrepublik die mathematische Zeitschrift »Monoid«, deren Verbreitung aber auf lokaler Ebene verblieb. Die im Jahre 1983 gegründete »Talentförderung Mathematik« (zwei Professoren des Fachbereichs Mathematik und zwei des Fachbereichs Erziehungswissenschaft der Universität 37 Vgl. Weiss, Ysette: Die Entwicklung von Gemeinschaften mit mathematikhistorischen Interessen und gemeinsamer Praxis, in: Reinhold, Simone / Liebers, Katrin (Hg.): Mensch – Raum – Mathematik. Historische, reformpädagogische und empirische Zugänge zur Mathematik und ihrer Didaktik. Festschrift für Michael Toepell (Festschriften der Mathematikdidaktik, Bd. 4), Münster 2017, S. 173–190. 38 Vgl. Krutetskii, Vadim Andreyevich: The psychology of mathematical abilities in school children, Chicago 1976. 39 Für einen detaillierten Vergleich der beiden Bildungssysteme siehe Tagungsband zur Doppeltagung von Henning, Herbert / Bender, Peter (Hg.): Didaktik der Mathematik in den alten Bundesländern-Methodik des Mathematikunterrichts in der DDR. Bericht über eine Doppeltagung zur gemeinsamen Aufarbeitung einer getrennten Geschichte, Tagungsband. Fakultät für Mathematik, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg 2003.

Meine beste Schülerin, mein bester Schüler

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Hamburg) wurde vom Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft (BMBW) als Forschungsprojekt der mathematischen Begabungsförderung unterstützt. In den alten Bundesländern entstanden in den 1980er Jahren weitere, meist an den Universitäten angeschlossene Zentren zur Förderung mathematischer Begabung, die aber ebenso größtenteils lokal und ohne größere Vernetzungen agierten. Mit dem Mauerfall wurden die Spezialklassen an den ostdeutschen Universitäten aufgelöst und die Spezialschulen in Gymnasien mit mathematisch-naturwissenschaftlichem Profil umgewandelt, da sie nicht in das Schulsystem der alten Bundesländer passten.40 Die fehlende bundespolitische Unterstützung und damit fehlende Finanzierungen betrafen in den 1990er Jahren sämtliche zentrale »DDR-Projekte« der mathematischen Begabungsförderung. Die Dynamisierung von Begabungsförderung und damit ihre Beförderung in die Bildungspolitik der alten Bundesländer ging intensiv von Interessenvertretungen durch Elternvereinigungen aus. Der Standpunkt, gegen den diese Initiativen ankämpften, beinhaltete die Auffassung, dass besonders begabte Kinder keiner weiteren Unterstützung bedürften. Besonders in den alten Bundesländern war einerseits der Begabungsbegriff mit einer hohen gesellschaftlichen Wertschätzung verknüpft, andererseits wurde die Verausgabung von Ressourcen und Aufmerksamkeit für die schon »mit Gaben versehenen« als besonders ungerecht angesehen. Möglicherweise wegen der in Deutschland besonders verbreiteten hohen Erwartungshaltung der Öffentlichkeit in Bezug auf Begabung, erwies sich die Wahrnehmung von Begabung durch Lehrkräfte geringer als in anderen Ländern. So fand Dahme41 heraus, dass deutsche Sekundarstufenlehrer den Anteil der Begabten unter ihren Schülern auf 3,5 % schätzen, während amerikanische Lehrkräfte den Anteil bei 6,4 % und indonesische bei 17,6 % sahen. Der Konflikt der Förderungswürdigkeit begabter Kinder wurde vor allem durch die Einordnung des Problems in den allgemeinen Rahmen inklusiver Bildung gelöst: The support for educating the gifted is booming in many European countries. The generally held opinion during the previous century was that highly able students did not need special attention or extra facilities. Consequently, the task of developing educational and other provisions for the gifted in schools was completely neglected. Only within the past couple of decades has it become more widely recognized and accepted

40 Strunck, Susanne: Kontinuitäten im Wandel. Spezialschulen und Spezialklassen in den neuen Bundesländern, in: Ullrich, Heiner / Strunk, Susanne (Hg.): Begabtenförderung an Gymnasien Schule und Gesellschaft, Bd. 41, Wiesbaden 2008, S. 101–120. 41 Dahme, Gisela: Zur Motivation von Jugend-forscht-Teilnehmern, in: Witte, Erich H. (Hg.): Sozialpsychologie der Motivation und Emotion, Pabst Science Publishers, Lengerich 1996, S. 61–83.

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that all children need support that is adjusted to their level of ability, whether low or high, in order to develop their potential to the fullest.42

Durch die Kodifizierung von Begabungsförderung als originäres Bildungs- und Individualrecht wurden in den einzelnen Bundesländern seit Beginn des 21. Jahrhunderts Gesetzesgrundlagen geschaffen, die schulische Hochbegabungsförderung sowohl ermöglichen als auch erleichtern. Dazu gehören etwa – Rechtsgrundlegungen zum Überspringen von Jahrgangsstufen, – Verkürzung von (gymnasialen) Bildungsgängen, – Öffnung der Bestimmungen zur gesetzlichen Schulpflicht, – vorzeitige Einschulungen, – Vorgaben zur individuellen Differenzierung und individuellen Dokumentation von Lernentwicklungen, – Zusammenarbeit mit außerschulischen Institutionen, – Öffnung von Schulbezirksgrenzen oder Erlaubnis zur Aufnahme eines Frühstudiums während der Regelschulzeit sowie – eine verbesserte Diagnostik, Lehreraus-, und -fortbildung, Beratung von Eltern und Schüler:innen, differenzierter schulischer Angebote oder Kooperationen mit Hoch- und Fachhochschulen.43

2.

Begabungsförderung in gesellschaftlicher Praxis

In unserem historischen Exkurs standen die schulische Förderung mathematischer Begabung und die Rolle der Mathematiklehrer höherer Schulen im Vordergrund. In den letzten 200 Jahren führten unterschiedliche Vorstellungen von schulischer Mathematik im Gymnasium, wie z. B. als elementarisierte höhere Mathematik, Selektionsfach, Methodenrepertoire für Naturwissenschaften, Charakterschule, Breitensport, Leistungssport oder Hauptfach zu unterschiedlichen Rollen der Mathematiklehrer bei der Entdeckung und Förderung mathematischer Begabung. Die unterschiedlichen Vorstellungen davon, worin mathematische Begabung bestehen kann und unter welchen Bedingungen erfolgreiche mathematische Tätigkeiten möglich werden, sind an unterschiedliche gesellschaftliche Praktiken geknüpft. Letztere sind nur bedingt von bildungspolitischen Rahmenbedingungen abhängig, da sie auch kultur- und sozialhistorisch geprägt sind.

42 Mönks, Franz J. / Pflüger, Robin: Gifted education in 21 European countries: Inventory and perspective, Nijmegen 2005, Foreword, S. 3. 43 Preuß, Bianca Elke Marie-Luise: Hochbegabung, Begabung und Inklusion: schulische Entwicklung im Mehrebenensystem, Educational Governance Bd. 18, Wiesbaden 2012, S. 54f.

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Ein Begriff, der sich für die uns interessierende Beziehung zwischen Lehrkraft und begabter Schülerin eignet, entstammt der kulturhistorischen Schule (Wygotski, Lurija, Leontjew) und der Theorie des situierten Lernens44 – die Community of Practice (CoP). Wir werden diesen Begriff in seiner ursprünglichen Definition im Sinne der Lerngemeinschaft verwenden. Seine späteren wirtschaftsliberalen Interpretationen und Anwendungen im Kontext des Wissensmanagements werden hier keine Rolle spielen.45 Lave und Wenger schlugen einen theoretischen Rahmen vor, in dem Lernen als situierte Aktivität verstanden wird, die dadurch gekennzeichnet ist, wie Lernende oder Neuankömmlinge in eine Praxisgemeinschaft integriert werden. Das Modell verwendet die Idee, außerschulische Lernprozesse als Modelle für schulisches Lernen zu nutzen. Die wesentlichen Teile der Arrangements in einer Community of Practice,46 die das Lernen beeinflussen, sind die Beziehungen zwischen Neuankömmlingen und erfahrenen Experten, die Beziehungen zwischen den Neuankömmlingen, die typischen Aktivitäten in der Gemeinschaft und die Artefakte der Praxisgemeinschaft. Der Prozess, durch den ein Neuankömmling integriert wird, ist grundsätzlich sozial. Die kulturhistorische Dimension des Lernmodells ist in vermittelnden, materiellen oder nichtmateriellen Werkzeugen (z. B. Begriffe, Messinstrumente, Formeln, Bücher) eingebettet, mit welchen das Lernen erfolgt und die einen erheblichen Anteil an Inhaltswissen, das in den jeweiligen Praxisgemeinschaften historisch gewachsen ist, tragen. Lernen in der CoP wird als Enkulturation verstanden, nicht nur als Wissenserwerb. Ähnlich wie bei der CoP betrachten wir nachfolgend schulisches Lernen als Tätigkeit in einer sozialen Praxis und durch die Werte und Normen der am Unterricht Teilnehmenden geprägt. Diese Werte und Normen sind vor allem durch gesellschaftliche Rollen bestimmt, welche in der sinnlichen Erfahrungswelt der Teilnehmenden eine Bedeutung haben. Seitens der Schüler:innen sind dies also auch Rollen in Tätigkeitsbereichen der Eltern und Bekannten. Seitens der Lehrer:innen sind es Rollen in Tätigkeitsfeldern, die Bezüge zur sozialen Praxis im unmittelbaren Umfeld der Schule und ihres persönlichen Lebens haben. Der gemeinsame Wohnort von Lehrer:innen und Schüler:innen und die damit verbundene kulturelle Gemeinschaft führt (meist implizit) zu Vorstellungen von 44 Vgl. Lave, Jean / Wenger, Etienne: Situated learning: Legitimate peripheral participation. Cambridge 1991. 45 Vgl. Bliss, Friederike R. / Johanning, Anja / Schicke, Hildegard: Communities of practice – Ein Zugang zu sozialer Wissensgenerierung, 2006, Deutsches Institut für Erwachsenenbildung. URL: http://www.die-bonn.de/esprid/dokumente/doc-2006/bliss06_01.p [Stand: 28. 11. 2021]. 46 Vgl. Wenger, Etienne: Communities of Practice: Learning, Meaning, and Identity, Cambridge 1998.

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gelungener gesellschaftlicher Teilhabe und daraus resultierender sozialer Wertschätzung und Gemeinschaft. Diese sind stark durch lokale Kulturen und oft unreflektierte Werte, Normen und daraus resultierende Entwicklungsmodelle geprägt. Klassentreffen und Schulfreundschaften zeigen, dass sie auch für den späteren Werdegang, für das Gefühl gelungener gesellschaftlicher Praxis und Teilhabe eine große Rolle spielen. Für das Verständnis der Interaktion zwischen Lehrkraft und Schüler ist es sinnvoll Wygotskis Vorstellung von der Zone der proximalen Entwicklung47 aufzugreifen. In unserem historischen Exkurs zeigte sich, dass die Schwächung der Rolle der Lehrkraft als Verantwortliche für die Erkennung und Förderung mathematischer Begabung mit einer wachsenden Bedeutung von IQ-Tests und anderer Verfahren verbunden ist, welche jedoch auf die Ermittlung des aktuellen Entwicklungsstands abzielen. Die Stärkung der Lehrer:innenrolle führt zu einer wachsenden Bedeutung aktiver Beobachtung, Anleitung zur Selbstständigkeit und Ansätzen, die eine Stärkung vorhandener Potenziale zum Ziel haben. Das dem zugrundeliegende Modell ist das der Zone der proximalen (auch nächsten) Entwicklung, das die Aufmerksamkeit darauf legt, wie das Kind unter Anleitung Probleme löst. Betrachten wir nun Begabung als eine Beziehung die mit dem Erwählen durch eine Lehrkraft und dem Erwähltwerden einer Schüler:in beginnt, so sind die Entwicklungspotenziale, die Fortschritte bei einer angeleiteten Tätigkeit, das Erreichen der Selbstständigkeit und der Umgang mit dem angeeigneten, nun selbstständigen Können maßgebend für die Einordnung durch die Lehrkraft. Wenn für die Lehrkraft das vermittelte Können auch für dessen eigene soziale Praxis bedeutungsvoll und mit sozialer Wertschätzung und gemeinschaftlichem Tun verbunden ist, so kann diese Situation gut durch das Modell der CoP beschrieben werden.

3.

Die Meisterschüler

Stellen wir uns einen forschenden Mathematiker48 vor. Wir sehen ihn im Mathematikunterricht in einer Schulklasse. Schüler, die sich von mathematischen Strukturen angezogen fühlen und die mit diesen auf Anhieb konzeptuell umgehen können, fallen dem vorgestellten Mathematiker womöglich auf und diese wiederum spüren die ihnen erteilte Aufmerksamkeit. Die von dem Mathematiker als begabt wahrgenommenen Schüler sind für ihn auch Nachwuchs für die Ge-

47 Vgl. Rogoff, Barbara: Apprenticeship in thinking: Cognitive development in social context, Oxford 1990. 48 Die männliche Form für Schüler:innen und Mathematiker:innen ist eine bewusste Wahl.

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meinschaft der (forschenden) Mathematiker. Die Beziehung ist daher emotional bedeutungsvoll und bereichert seine eigene soziale Praxis und Gemeinschaft. Diese Beschreibung verkörpert die im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in den Gymnasien durch die Personalunion von Mathematiker und Lehrer geschaffene Verbindung zwischen Schülertätigkeit und forschender mathematischer Tätigkeit und daraus resultierende Vorstellungen von der Förderung mathematischer Begabung als Nachwuchsförderung für die Wissenschaft Mathematik. Welche Art von Beschäftigung mit mathematischen Objekten für die Diagnose mathematischer Begabung geeignet sind, wird durch das Vorbild der erfolgreichen Mathematiker:in geprägt. Dass diese Vorstellung auch heute implizit die Praxis in der Begabtenförderung bestimmt, zeigt auch der erstaunlich einheitliche mathematische Geschmack, der in der Entwicklung von Materialien zur Förderung mathematischer Begabungen zu Tage tritt. Heute ist direkte Interaktion der forschenden Mathematiker:in mit mathematisch interessierten Kindern jedoch eher selten. In der großen Berufswelt sind die forschenden Mathematiker:innen von sehr geringer Anzahl und die Perspektive einer erfolgreichen Teilhabe in der Community praktizierender Mathematiker:innen eher gering. Doch Mathematik ist Hauptfach.

4.

Mathe-Jugend-Training

Wie kann Begabungsförderung als Entwicklung einer Interaktion im Schulalltag verstanden werden? Die Mathematiklehrkraft ist in eine große Vielfalt mathematischer Kommunikationen und Interaktionen einbezogen. Welche Schüler: innen fallen ihr ins Auge, wer bereichert ihren Alltag, wer wird erwählt? Die institutionalisierte Begabtenförderung geht, wie wir gesehen haben, seit Jahrzehnten davon aus, dass den Lehrer:innen Merkmalskataloge zum Erkennen von Begabungen an die Hand gegeben werden müssen. Der Erstellung solcher Merkmalslisten wird auch heute noch umfangreiche Forschung gewidmet. Liest man allerdings die Hilfestellungen zum Erkennen von mathematischer Begabung und dessen Förderung, so wird deutlich, dass hinter den Merkmalen, nach denen die Schüler:innen ausgewählt werden, eine gesellschaftliche Praxis steht, die mit der Lehrer:in im allgemeinen wenig zu tun hat: die Welt des Leistungssports Mathematik. Zwischen letzterer und der Welt des schulischen Mathematikunterrichts gibt es, wie bereits erwähnt, wenige direkte menschliche Begegnungen. Intelligenz-, Kreativitäts-, Leistungs- und Lerntests sowie Schulnoten, Zeugnisse, Verhaltensbeobachtung, Lehrerbeurteilung, Elternnominierung

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geben den Lehrer:innen (aber auch Eltern und Psycholog:innen) gleichwohl die Rolle des Erwählens und der Auslese.49 Für die Entwicklung von Beziehungen zwischen Experten und Novizen sollen die Schüler:innen im Allgemeinen jedoch weitergeleitet und Händen übergeben werden, die das Wertesystem forschender Mathematiker:innen vertreten. In Mathe-AG’s, Mathe-Camps, Mathe-Schüler:innenakademien sowie durch mathematische Wettbewerbe werden die als begabt erwählten Schüler in die Community of Practice der Mathematiker:innen eingeführt. Wir sprechen uns nicht gegen ein Verständnis mathematischer Begabung aus, welches in der Welt des Leistungssports Mathematik als Potenzial für spätere erfolgreiche mathematische Tätigkeit gilt. Wir plädieren auch nicht gegen die üblichen Förderungsarten mathematischer Begabung durch (meist von Experten organisierte) Camps und Wettkämpfe. In manchen Kontexten ist es durchaus sinnvoll, mathematischer Begabung eine Art Universalität zuzusprechen, z. B. um auf dieser Grundlage Trainingsprogramme zu entwickeln, die eine frühzeitige erfolgreiche Teilhabe an der gemeinschaftlichen Praxis der Mathematiker:innen ermöglichen. Beide Autoren engagieren sich seit Jahrzehnten in der Durchführung solcher Aktivitäten und empfinden die dabei entstehenden Beziehungen als große Bereicherung ihrer sozialen Praxis. Das Problem bei der vorrangigen Betrachtung mathematischer Begabung als Potenzial für zukünftige erfolgreiche mathematische Forschung liegt in der fehlenden Einbeziehung der Werte und Normen der Mehrheit der Mathematiklehrer:innen. Einige ihrer Vorstellungen von einem gelungenen Leben in einer sozialen Gemeinschaft können eventuell sogar im Widerspruch zu dem in der institutionellen Begabtenförderung angestrebten möglichen Erfolg durch das Lösen mathematischer Probleme stehen. So könnten einige Mathematiklehrer: innen die durch Experten umgesetzte mathematische Förderung nicht als Weg in ein gelungenes Leben, sondern als Weg in eine kleine Welt von »Nerds« sehen oder in einen »Elfenbeinturm« betrachten. Von der Lebenswelt der Lehrer:innen losgelöste Begabten- und Begabungskonzepte führen zwangsläufig dazu, dass den schulischen Lehrkräften vor allem die Rollen der Auslese und der Weitervermittlung in eine soziale Praxis zukommen, deren Werte nicht immer ihre eigenen sind. Begreift man jedoch Begabungsförderung als Interaktion, so wird auch die jeweilige gesellschaftliche Praxis der Lehrperson in den Blick genommen. Mathematische Begabung ist damit keine Erfüllung objektiver Kriterien, sondern ist 49 Holling, Heinz: Begabte Kinder finden und fördern: Ein Ratgeber für Eltern, Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer. Bundesministerium für Bildung und Forschung, Referat Übergreifende Fragen der Nachwuchsförderung, Begabtenförderung, Frankfurt am Main 2017.

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an die konkrete Lebenswelt der Lehrperson gebunden. Wie aber können Vorstellungen der Mathematiklehrkräfte darüber, welche Fähigkeiten einer Schülerin besonders und förderungswürdig sind, in die Begabungsförderung einbezogen werden?50

5.

Meine beste Schüler:in

Eine Möglichkeit, die gesellschaftliche Praxis der Lehrer:in in den Vordergrund zu stellen, sehen wir in der Betrachtung mathematischer Begabung aus der Perspektive der Interessengruppen nach Paul Ernest. Bevor wir diese vorstellen, möchten wir sie an einem (fiktiven) Beispiel motivieren. Mathematiklehrerin Müller verlässt das Lehrerzimmer und läuft über den Gang zur Klasse 9a, deren Klassenraum im Nachbarflügel liegt. Sie kommt an Özkan vorbei, der sich in der Nähe des Lehrerzimmers aufhält. Müller weiß, dass dieser nun um die Ecke zum Fenster gehen wird und seinen Klassenkameraden auf der anderen Seite des Innenhofs durch Handzeichen signalisieren wird, dass Müller im Anmarsch ist. Müller biegt, gefolgt von Özkan, in den Zielkorridor ein und die Schülerinnen und Schüler haben schon ihre Taschen und Jacken in der Hand und begrüßen sie freundlich. Der Unterricht beginnt mit einem gemeinsamen »Guten Morgen«. Da klopft es an die Türe. Igor kommt zu spät; er hat die Bahn nicht mehr geschafft. Ein kurzer bohrender Blick von Müller mit der Bemerkung »… ich brauche nichts zu sagen, oder?« sagt ihm, dass er heute nach der Schule eine Stunde noch Kaugummis vom Boden kratzen muss. Der Unterricht beginnt, wie jede Mathematikstunde, mit zehn Minuten Kopfrechen. Zunächst Aufgaben aus dem Einmaleins bis 20 – inklusive die Quadratzahlen. Dann auch ein paar Abkürzungsaufgaben, wie Müller sie nennt: Was ist 3 mal 999 oder was ist 997 plus 13 usw.? Und dann noch ein paar Aufgaben zur Größenordnung: Wie hoch ist ungefähr ein Stockwerk in einem Haus? Wie hoch ist dann ein siebenstöckiges Haus? Wie viel Kabel kann man ungefähr auf eine Kabeltrommel wickeln, wenn bei einer Umdrehung 50 cm drauf passen und 33 Umdrehungen möglich sind? Natascha macht eifrig mit, sie hat gemerkt, dass sie hierbei recht schnell die Antworten findet und es macht ihr Spaß. Aber die 50 Ein hier nicht vorgestellter Zugang, der besonders im Grundschulbereich Anwendung findet, besteht in der Pädagogisierung und Psychologisierung der Merkmalslisten für mathematische Begabung. Hohe geistige Aktivität, intellektuelle Neugier, Anstrengungsbereitschaft, Freude am Problemlösen, Konzentrationsfähigkeit, Beharrlichkeit, Selbstständigkeit, Kooperationsfähigkeit sind Beispiele. Vgl. Käpnick, Friedhelm / Nolte, Marianne / Walther, G.: Talente entdecken und unterstützen. Publikation des Programms SINUS-Transfer Grundschule, Kiel 2005. Aber auch hier ist Begabung bei der Schüler:in verortet und nicht durch die Interaktion zwischen Lehrer:in und Schüler:in bestimmt.

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Lehrerin versucht alle Kinder dran zu nehmen und duldet es nicht, wenn jemand nicht aufmerksam ist. Müller gibt ein Zeichen, und es wird ganz still. Es gibt Arbeitsblätter zur Wiederholung, und während die Schülerinnen und Schüler daran ihre Fertigkeiten in der Algebra trainieren, indem sie päckchenweise algebraische Terme sortieren und sie durch Ausklammern »ordentlich machen«, wie Müller immer sagt, kontrolliert die Lehrerin die Hausaufgaben. Hier nichts vorzeigen zu können, bedeutet, dass man einen Strich in Müllers Lehrerkalender bekommt; drei Striche bedeuten, die Hausaufgaben in der Schule machen zu müssen. Kevin hat seine Bearbeitung etwas dahingeschmiert und teilweise durchgestrichen; die muss er dann nochmal abschreiben. Nach 30 Minuten Unterricht ergreift Müller das Wort. »Heute lernen wir die Potenzgesetze in der Algebra. Bisher haben wir immer a ! a ! a ! b ! b geschrieben, wenn die Variablen a und b öfter vorkommen. Das darf man aber auch kürzer schreiben als a3 ! b2 . Jetzt wollen wir schauen, was dann a3 ! b2 mal a5 ! b3 ist …«. So vergeht die Zeit und Müller erklärt. Immer wieder lässt sie auch die Schülerinnen und Schüler etwas sagen. So bemerkt Natascha von sich aus, dass a5 ! b7 durch a3 ! b4 gleich a2 ! b3 ist – Mathe macht ihr Spaß. Özkan meldet sich und bemerkt, dass ja jetzt die »Aufgabe« a ! a ! a ! b ! bþ a ! a ! a ! a ! a ! b ! b ! b auch geschrieben werden kann als a3 ! b2 þ a5 ! b3 ¼ a3 b2 ð1 þ a2 bÞ. »Klasse, Özkan, genau das wollte ich Euch gerade jetzt auch erklären.« Unglaublich, als er vor einem Jahr an die Schule kam, konnte Özkan kaum das Einmaleins, kam oft zu spät, hatte seine Sachen nicht in Ordnung und es fiel ihm überhaupt schwer, sich zurechtzufinden. Zuhause hat er niemanden, der ihm bei den Hausaufgaben helfen kann. Mittlerweile ist er pünktlich, zuverlässig, hat seine Sachen geordnet und dank konsequenten Übens und Arbeitens, beherrscht er jetzt sogar die Grundlagen der algebraischen Schreibweisen. Das lässt auf so manches hoffen. Schließlich gibt Müller einige Übungsaufgaben und sagt die Hausaufgaben an, bei denen alle entsprechenden Aufgaben einer Seite ihrer Materialsammlung durchgerechnet werden sollen. Sie verabschiedet sich kurz und höflich bei der Klasse. In der Nachbarklasse hört man ein Handy – oh je, das verschwindet jetzt vier Wochen im Schulsafe. Für Müller steht als Ziel ihres Unterrichts eine gewisse Lebenstüchtigkeit zur Übernahme von Verantwortung für sich selbst und andere im Vordergrund. Beschäftigung mit Mathematik kann ihrer Überzeugung nach hierzu einen entscheidenden Beitrag leisten. Es ist ihr wichtig, dass ihre Schülerinnen und Schüler den eigenen Lebensweg finden und gehen. Ihrer Lebenserfahrung nach spielt es dazu eine Rolle, ob man Fleiß und Disziplin sowie Ausdauer und Zuverlässigkeit entwickelt. Özkan ist für sie mathematisch begabt, sie glaubt an seine erfolgreiche Zukunft und schätzt seine eigenständige, schnelle Entwicklung in ihrem Mathematikunterricht. Lebenstüchtigkeit bedeutet für sie auch, Fer-

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tigkeiten, die andere vormachen, durch effektives Üben schnell zu beherrschen und umsetzen zu können. Dafür zeigt Özkan eine bemerkenswerte Auffassungsgabe und zeigt sich lernbegierig. Sie wird Özkan bald zusätzliche komplexere Übungsaufgaben geben. Wie gesagt, Lehrerin Müller hält Özkan für bemerkenswert mathematisch begabt. Mit den Eltern von Lena möchte sie einen Termin machen. Lena hat in Geometrie oft zielführende Gedanken, es gelingt ihr aber nicht, selbstständig die Aufgabe von der Tafel abzuschreiben oder eine Lösung oder die Hausaufgaben ordentlich aufzuschreiben. Immer bedarf es bei Lena zusätzlichen Drucks und Kontrolle. Sie hofft auf Unterstützung durch Lenas Eltern; es scheint ihr, dass das Mädchen enorm viel Wert auf ihr tägliches Erscheinungsbild legt, aber nie Zeit für die Hausaufgaben hat. Die hier dargestellte Lehrkraft ist fiktiv, wir haben uns durch Vorträge des Berliner Schulleiters Michael Rudolph und dem von ihm vertretenen Bildungskonzept inspirieren lassen. Es beruht auf Erfahrungen der Schulpraxis und ist sehr anschaulich in dem gemeinsamen Buch mit der Journalistin Susanne Leinemann Wahnsinn Schule – Was sich dringend ändern muss51 dargestellt. In unserer Darstellung von Frau Müller haben wir versucht, eine Verbindung zwischen politischen Ansichten – diese sind nicht bildungsbürgerlich, aber eher konservativ – den Erfahrungen in einem, ihr wichtigen und vertrauten sozialen Milieu und dazu naheliegenden Mathematikunterricht zum Ausdruck zu bringen. Im Unterschied zur Orientierung an Elementarisierungen höherer Mathematik, welche die Grundlage für das Leistungssporttraining der Mathe-Jugend durch Expert:innen der höheren Mathematik bilden, ist die Grundlage ihres Unterrichts eine nicht konzeptuell, sondern eher wörtlich verstandene Schulmathematik. Deren erfolgreiche Aneignung ist für Frau Müller an das Erleben von Selbstwirksamkeit, die Entwicklung von Frustrationstoleranz, Selbstdisziplin, Ausdauer und dadurch auch von Sachverstand und Verlässlichkeit geknüpft. Frau Müller gefällt auch, dass Özkan Verantwortung in der Gruppe übernimmt. Die Schülerin Lena haben wir hier als für die Lehrerin weniger bemerkenswert dargestellt. Warum sie in diesem Unterricht wenig teil hat, hielten wir offen, sie könnte z. B. konzeptuell unterfordert sein, aber auch durch abgesicherte finanzielle Verhältnisse keine Notwendigkeit darin sehen, »hart zu arbeiten«. In unserer Geschichte wurde sie von Frau Müller bisher nicht erwählt und zählt nicht zu ihren besten Schüler:innen.

51 Rudolph, Michael / Leinemann Susanne: Wahnsinn Schule – Was sich dringend ändern muss, Berlin 2021.

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6.

Ysette Weiss / Rainer Kaenders

Begabungsförderung in der eigenen sozialen Interessengemeinschaft

Die hier gegebenen Beispiele zeigen Widersprüche zwischen den bildungspolitisch erzeugten Rollenverteilungen, aber auch kulturhistorisch gewachsenen und durch die Entwicklung der Mathematik bedingten Verteilungen der Verantwortlichkeiten bei der Förderung von mathematischer Begabung und des mathematischen Nachwuchses. Um zwischen der elementaren Schulmathematik und der sehr weit entfernten modernen Mathematik Brücken zu bauen und letztere zu elementarisieren, bedarf es tiefer mathematischer Kenntnisse und auch einer besonderen Begabung. Aber auch ohne letzteres sprechen Lehrkräfte von Begabungen ihrer Schüler: innen, die für sie mit Wertschätzung in der eigenen sozialen Praxis und Wertschätzung in der eigenen Community verbunden sind. Welche Werte und Normen verbergen sich hinter diesen Einschätzungen? Welche Wertesysteme und Interessengruppen an Mathematikunterricht und welche zugehörige Praxis kann man in unserer Gesellschaft unterscheiden? Wo können sich Lehrende hier einordnen? Der britische Philosoph und Mathematikdidaktiker Paul Ernest unterscheidet in seinem Buch The Philosophy of Mathematics Education52 für das Großbritannien der frühen 1990er Jahre fünf verschiedene Interessengruppen am Mathematikunterricht bezüglich – ihrer politischen Ideologie, – ihrer Sicht auf Mathematik, – ihrer moralischen Werte, – ihrer Gesellschaftsbilder, – ihrer Sicht auf das Kind, – ihrer mathematischen Ziele, – ihrer Lerntheorien, – ihrer Auffassungen von Mathematikunterricht, – ihrer bevorzugten Lernmittel, – ihrer Methoden zur Überprüfung von Lernerfolg, – ihrer Sicht auf soziale Diversität und eben auch – bezüglich ihrer Vorstellungen von mathematischer Begabung. Im Folgenden stellen wir Ernests Sichtweisen zu Begabung und deren Förderung vor. Die verschiedenen Wertesysteme von Ernests Interessengruppen sind aus unserer Sicht ein Weg, die sozialen Praktiken der Mathematik lehrenden Lehr-

52 Vgl. Ernest, Paul: The Philosophy of Mathematics Education, London 1991.

Meine beste Schülerin, mein bester Schüler

291

kräfte ernst zu nehmen und ihnen eine Sprache zu verleihen. Wir skizzieren hier nur die jeweilige Sicht auf Begabung und verweisen für ein detaillierteres Bild der jeweiligen Interessengruppe auf Paul Ernests Buch.53 In Ernests Sichtweise gehen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, wie Globalisierung und Digitalisierung noch nicht ein. Es scheint uns aber trotzdem sinnvoll, seine Ordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse nach Interessengruppen am Mathematikunterricht als paradigmatisches Beispiel dafür zu nehmen, wie vorherrschende Verteilung von Macht und Privilegien, politische Interessen und soziale Zugehörigkeit das Bild von Mathematik und damit auch die Interaktion im Mathematikunterricht beeinflussen. Die Perspektive der Interessengruppen gestattet es auch, anstatt einer einzigen angenommenen Vorstellung von Allgemeinbildung, Bildung als Entwicklung in verschiedenen Communities of Practice zu sehen.

6.1

Industrial Trainers

Die in unserer Geschichte zum Ausdruck kommende Sicht von Frau Müller auf mathematische Begabung ordnen wir der Gruppe der Industrial Trainers54 zu. Bei Ernest sind die Vertreter:innen dieser Gruppe durch die grundsätzliche Anerkennung von Autoritäten sowie der gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse und sozialen Unterschiede gekennzeichnet. Im Speziellen gilt mathematische Begabung als vererbt. Die schwächeren Kinder können sich verbessern, indem sie hart arbeiten und eine Moral entwickeln, die ihnen hilft, ihre Veranlagung durch Selbsthilfe zu überwinden. Es ist daher notwendig, diese Begabungen frühzeitig zu erkennen und in mehrgliedrigen Schulsystemen voneinander zu trennen, so dass die Kinder in den entsprechenden Bildungsgängen zu den passenden Abschlüssen gelangen. Dazu bedarf es eines gegliederten Schulsystems, das den unterschiedlichen Typen und Begabungen der Kinder gerecht wird. Eliteschulen sind nicht so wichtig, da die dortigen Lehr- und Lernmethoden durch die Autorität der Eltern und andere Vertreter einer kleinen sozialen Schicht geregelt werden.

53 Vgl. ebd. 54 Vgl. ebd., S. 150.

292 6.2

Ysette Weiss / Rainer Kaenders

Technological Pragmatists

Aus der technologisch pragmatistischen Sicht55 sind mathematische Begabungen ebenfalls Veranlagung. Gleichwohl erfordert es kreativen Unterricht, um ihr Potenzial auszuschöpfen. Mathematik wird vor allem als Werkzeug zum Problemlösen gesehen, vorrangig in technischen und anwendungsbezogenen Kontexten. Im Unterschied zur Gruppe der Industrial Trainers, in der Zurückhaltung, Bescheidenheit und Anpassungsvermögen geschätzt und gefördert werden, sind hier Ehrgeiz, Wettkampfbereitschaft und Durchsetzungsvermögen besonders förderungswürdig. Das »Anstacheln« dieser Eigenschaften und die Bereitstellung von Möglichkeiten zum Wetteifern und sich Austesten wird von den Technological Pragmatists als Förderung gesehen. Mathematiklehrer:innen dieser Interessengruppe werden Kinder, die das Potenzial zur Leitung einer eigenen Firma oder der Gründung eines (Startup-)Unternehmens haben, als besonders begabt wahrnehmen und ihnen Kontakte zu Wettbewerben und Projekten vermitteln, die den Einstieg in die Wirtschaft, Informatik, Ingenieurtechnik o. ä. verheißen.

6.3

Old Humanists

Menschen der Gruppe der Old Humanists56 sehen in der Mathematik eine kulturhistorische Errungenschaft, die einer kleinen Gruppe auf besondere Art Begabter zu verdanken ist. Auch sie gehen davon aus, dass mathematische Begabung Veranlagung ist. Mathematische Begabung und Genie werden mit hoher Intelligenz identifiziert und ermöglichen die Zugehörigkeit zur Elite der Gesellschaft. Mathematische Begabung zeigt sich dem geschulten Auge einer OldHumanist-Mathematiklehrer:in u. a. durch überraschende Zugänge, konzeptuelles Verstehen und Freude an schöner Mathematik. Für die mathematisch Begabten möchten sie Bildungsangebote zur Entfaltung ihrer Begabung und Einführung in die eigene Community bereitstellen oder vermitteln. Schüler:innenakademien, Mathecamps und viele mathematische Wettkämpfe sind auf diese Zielgruppe ausgerichtet.

55 Vgl. ebd., S. 163. 56 Vgl. ebd., S. 178.

Meine beste Schülerin, mein bester Schüler

6.4

293

Progressive Educators

Die Theorie mathematischer Begabung der Progressive Educators57 ist individualistisch. Auch hier sind Begabungen Veranlagung. Es gibt angeborene, vererbte Unterschiede in der mathematischen Begabung und damit unterschiedliche Potenziale individueller mathematischer Entwicklung oder Entfaltung. Dabei werden unterschiedliche Begabungen nicht gegeneinander abgewogen. Der Blick ist nicht hierarchisch, wie bei den Old Humanists und Technological Pragmatists. Pragmatische Erwägungen, wie Berufsvorbereitung, stehen nicht im Vordergrund, sondern die Entwicklung der Kreativität und des Selbstwertgefühls. Welche Begabung sich vorrangig entfalten soll, bleibt der Schüler:in überlassen und hängt von ihrer Bereitschaft ab, auf die verschiedenen Angebote einzugehen. Die Mathematiklehrer:in im Sinne der Progressive Educators kann man sich als engagierte Lehrkraft mit fächerübergreifenden Begabungen in Kunst, oder Musik oder Naturwissenschaften, z. B. in einer Waldorfschule oder einer anderen Schule mit größerem Freiraum für Schüler:innen und Lehrer: innen vorstellen. Ihre Schüler:innen haben vorrangig bildungsbürgerlichen Hintergrund. Die beste Schüler:in stellen wir uns als selbstständig denkende, vielseitig interessierte, kreative Schüler:in vor.

6.5

Public Educators

Der Public Educator sieht mathematische Fähigkeiten58 größtenteils als soziale Konstruktion, wobei die Auswirkungen des sozialen Kontexts eine wichtige Rolle für die Entwicklung des Einzelnen und insbesondere für die Manifestation von »Begabung« spielen. Nach dieser Perspektive wird die oder der Einzelne bei der Geburt mit Merkmalen und Fähigkeiten auf vergleichbaren mathematischen Veranlagungen gesehen. Unterschiede ergeben sich erst nach Jahren der Sozialisierung in unterschiedlichen Umgebungen. So werden den Schülern »Begabungen« durch ihre Erfahrungen und durch die Art und Weise vermittelt, wie sie von anderen wahrgenommen und »gekennzeichnet« werden. Der Public Educator ist deshalb vorrangig an einer Begabtenförderung interessiert, welche die durch verschiedene soziale Kontexte geschaffenen Ungerechtigkeiten in den Blick nimmt und immer wieder Förderangebote schafft, in denen die Unterschiede weniger zum Tragen kommen. So basiert die Community of Practice, die er in der Klasse anstrebt, weniger auf hierarchischen Prinzipien, also Selektion oder konstruktivistischer individueller Förderung. Die Rollen, die die Lehrkraft 57 Vgl. ebd., S. 191. 58 Vgl. ebd., S. 208.

294

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für ihre Schüler:innen im Mathematikunterricht vorsieht, unterstützen zwar das Erlernen der Inhalte der Schulmathematik, gleichwohl mit dem Ziel, deren Bedeutung für unsere Gesellschaft zu hinterfragen. Im Vordergrund steht die kritische Reflexion mathematischer Modellierung für gesellschaftliche und soziale Prozesse. Durch die Betrachtung der an der britischen Gesellschaft der 1980er Jahre modellierten Interessengruppen am Mathematikunterricht möchten wir auch dazu anregen, über die eigenen Werte und Vorstellungen zu mathematischer Begabung nachzudenken und sich in einer größeren Community mit ähnlichen Vorstellungen zu verorten.

7.

Resümee

Unser Ziel war es, die Verschiedenheit sozialer Praktiken und damit einhergehender Wertesysteme, den mathematischen Begabungsbegriff betreffend, vorzustellen und aus der Lehrerperspektive, der Perspektive der Interessengruppen das Verständnis von Begabtenförderung durch die gesellschaftliche Praxis der Lehrer:in zu erweitern.59 Die Community of Practice der forschenden und in der Begabtenförderung engagierten Mathematiker:innen ist aus unserer Erfahrung vornehmlich in zwei Interessengruppen verortet: der Gruppe der Technological Pragmatists und der Gruppe der Old Humanists. Mathematiklehrerinnen und -lehrer decken jedoch das gesamte Spektrum der Gesellschaft ab. Daher laden wir die geneigten Kolleg:innen als Leser:innen ein, ihre ins Auge fallenden, für sie besonders bemerkenswerten Schüler:innen auch mit einer gelungenen Teilhabe an einer sozialen Interessengemeinschaft in Verbindung zu bringen. Die anfänglich erwähnte Tendenz, der Mathematiklehrer:in die Rolle des Selektierens mit dem Ziele der Weitervermittlung zu geben, bewerten wir als problematisch, da sie Widersprüche zwischen den persönlichen Überzeugungen und der institutionalisierten Begabtenförderung unreflektiert lässt.

59 Weitere Begründungen für die Notwendigkeit der Einbeziehung dieser Praxis aus sozialwissenschaftlicher Perspektive findet man u. a. bei Horvath, Kenneth: Wir können fördern, wir können fordern, aber begaben können wir nicht, in: Begabung und Gesellschaft, Wiesbaden 2018, S. 239–261.

Meine beste Schülerin, mein bester Schüler

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PHILOSOPHIE

Roland W. Henke

Das Fach Praktische Philosophie als Herausforderung für die Lehrer*innenbildung Mit einem Interview mit Susanne Teschner

1.

Zur Geschichte des Faches

1.1.

Stellung des Religionsunterrichts in der deutschen Gesellschaft nach 1945

Vor dem Zweiten Weltkrieg war der konfessionelle Religionsunterricht (RU) ordentliches Lehrfach an Schulen. Damit war ein Unterricht gemeint, der die religiösen Weltdeutungen und Wertvorstellungen der katholischen oder evangelischen Religionsgemeinschaft zugrunde legt und in sie hinein sozialisiert (sog. religiöse Unterweisung). Seitens des Staates war damit die Erwartung verbunden, durch den RU wesentliche Werte zu vermitteln, die auch für ein demokratisches Zusammenleben wichtig sind. In der NS-Zeit wurden Staat und Kirche weitgehend gleichgeschaltet. Der NSStaat reduzierte zunehmend die Unterrichtsstunden für den RU und beseitigte die Lehrinhalte, die der nationalsozialistischen Ideologie widersprachen. Ebenso beseitigte er die christlichen Bekenntnisschulen und ersetzte sie flächendeckend durch Gemeinschaftsschulen. Nach dem Ende des 2. Weltkrieges wurde der konfessionelle Religionsunterricht in Westdeutschland durch das im Mai 1949 beschlossene Grundgesetz als ordentliches Lehrfach in allen öffentlichen Schulen neu bestätigt und etabliert.1 Dabei wird den Erziehungsberechtigten das Recht zugesprochen, über die Teilnahme des Kindes am RU zu bestimmen (vgl. Art. 7, Abs. 2). Ab 14 Jahren, also nach der Religionsmündigkeit, dürfen sich Schülerinnen und Schüler auch ohne Einwilligung der Eltern aus Gewissensgründen vom RU abmelden. 1 So heißt es in Art. 7, Abs. 3 des Grundgesetzes: »Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen […] ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechts wird der RU in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt.«

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Mit der Neu- bzw. Wiedereinführung des bekenntnisorientierten RU war die Hoffnung verbunden, dass aus ihm – in der Tradition der Bekennenden Kirche – ein dauerhaftes Widerstandspotential gegen mögliche neuerliche nationalsozialistische, aber auch gegen kommunistische Tendenzen, wie sie in der damaligen Sowjetunion und in der DDR vorherrschten, erwachsen könne und solle. Deshalb wurde den Kirchen auch das Recht zugebilligt, wieder Bekenntnisschulen einzurichten. Mit beiden Maßnahmen war die Vorstellung verbunden, dass die Bekenntnisschulen bzw. der RU Werte vermitteln, die auch für ein demokratisches Zusammenleben fundamental sind. Der RU, für den jetzt ein Aufsichtsrecht sowohl des Staates als auch der Kirchen vorgesehen war, verlor den Charakter einer religiösen Unterweisung und wurde ein wissenschaftsorientiertes Fach, was in der Bezeichnung (Evangelische oder Katholische) »Religionslehre« zum Ausdruck kommt. Sein Blickwinkel auf andere Religionen und Weltanschauungen ist aber bis heute der konfessionelle Standpunkt. Im Lauf der 1960er Jahre ging die Zahl der Bekenntnisschulen zurück und die überkonfessionellen Schulen wurden der Regelfall. Mit Ausnahme von drei Bundesländern, Bremen und Berlin, später auch Brandenburg, blieb aber der Religionsunterricht als ordentliches Schulfach erhalten.2 In der ehemaligen DDR gab es das durch deren Verfassung von 1949 garantierte Recht der Religionsgemeinschaften, Religionsunterricht in den Räumen der öffentlichen Schulen zu erteilen. In der DDR-Verfassung von 1968 wurde dann der Religionsunterricht nicht mehr erwähnt – eine Folge des Schwindens religiöser Orientierungen unter dem Einfluss der marxistischen Ideologie. Daher unterrichteten Religionsgemeinschaften in eigenen Räumen außerhalb der Schulzeit. Mit der Vereinigung beider deutscher Staaten im Jahr 1990 verstärkte sich der Schwund nomineller und überzeugter Christen weiter und erfasste auch die ländlichen und katholischen Gebiete Westdeutschlands. Durch den Zuzug vieler Muslim*innen, besonders seit den 1970er Jahren aus der Türkei, trat zudem eine zweite Weltreligion als bedeutender gesellschaftlicher Akteur in Deutschland auf den Plan. Hintergrund des Schwindens der christlichen Orientierungen in der westdeutschen Gesellschaft war die seit den 1970er Jahren nachwirkende und auf Emanzipation und Aufklärung zielende Studenten- und Hippiebewegung. In ihrem Gefolge griff ein Wertepluralismus um sich, der inzwischen ganz Deutschland

2 Die Sonderstellung dieser Bundesländer im Hinblick auf den RU geht auf die sog. »Bremer Klausel« (Art. 141 GG) zurück: Diese schränkt den Anwendungsbereich von Art. 7, Abs. 3 ein, weil dort am 1. Januar 1949 eine andere rechtliche Regelung als im übrigen Bund bestand. So können in diesen Bundesländern werteerziehende Fächer unterrichtet werden, die inhaltlich nicht von einer Religionsgemeinschaft verantwortet werden.

Das Fach Praktische Philosophie als Herausforderung für die Lehrer*innenbildung

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erfasst hat. Wir leben heute in einer individualisierten »Risikogesellschaft«,3 in der uns keine allgemein anerkannten Wahrheiten mehr darüber Auskunft geben können, wie wir unser Leben gestalten sollen. Vielmehr existiert eine Pluralität divergierender und sich immer schneller wandelnder Lebensstile und -entwürfe. So ist es keineswegs mehr klar, ob man einer traditionellen Religionsgemeinschaft angehört, ob man sich in einer politischen Partei engagiert oder ob man als Single, als getrenntgeschlechtliches oder gleichgeschlechtliches Paar zusammenlebt usw. Das Internet bzw. die sozialen Netzwerke mit ihren vielfältigen Möglichkeiten, unterschiedliche Lebensentwürfe zur Schau zu stellen, verstärken gegenwärtig diese Tendenz.

1.2.

Situation wertorientierender Fächer (Religionslehre / Ethik / Philosophie) seit den 1970er Jahren

Weil seit Beginn der 1970er Jahre die Zahl der Abmeldungen vom RU in den westdeutschen Bundesländern deutlich anstieg, forderten die Katholische und Evangelische Kirche für die nicht am RU teilnehmenden Schülerinnen und Schüler einen Ersatzunterricht, der die Bezeichnung »Ethik« erhielt. Dieser Ethikunterricht (EU) wurde zwischen 1975 und 1978 in vielen Bundesländern (Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, Niedersachsen, Saarland) eingeführt. Damit wurde die Alternative »Religion oder schulfrei« in die Alternative: »Religion oder Ethik« verwandelt – mit der Absicht, die Abwanderungen vom RU zurückzudrängen. Dieser Effekt hielt aber nur kurzzeitig an, bald stieg die Zahl der den EU besuchenden (und damit den RU verlassenden) Schülerinnen und Schüler erneut. Das stabilisierte den EU weiter, dessen Einführung auch schulorganisatorische Vorteile bot.4 Mit der Vereinigung im Jahr 1990 übernahmen die neuen Bundesländer, mit Ausnahme von Brandenburg (und Berlin), die dargestellte Ersatzfachregelung mit dem RU als Regel- und dem EU als Ersatzfach.5 In den 1990er Jahren besuchte ca. ein Viertel der deutschen Schülerschaft den EU, der als Ersatzfach für den RU eingeführt war. In Brandenburg und später 3 Vgl. Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/M. 1986. 4 So musste man den RU nicht in Randstunden legen oder die Abgemeldeten im RU mit beaufsichtigen. 5 Ersatzfach bedeutet, dass getaufte Schülerinnen und Schüler automatisch am konfessionellen RU teilnehmen, während Nicht-Getaufte und muslimische Schülerinnen und Schüler den EU besuchen. Darüber hinaus können die Erziehungsberechtigten auch getaufte Schülerinnen und Schüler im EU anmelden, und im Alter von 14 Jahren (Religionsmündigkeit) können sich die Schülerinnen und Schüler selbst aus Gewissensgründen vom RU abmelden. Der Ersatzfachstatus beinhaltet auch das Verbot, EU einzuführen, wenn kein RU angeboten wird oder werden kann.

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auch in Berlin wurde der EU als reguläres Fach für alle Schülerinnen und Schüler eingeführt, die darüber hinaus freiwillig auch den RU besuchen konnten.

1.3.

Entwicklung des Fachs Praktische Philosophie in Nordrhein-Westfalen

In Nordrhein-Westfalen (NRW), dem bevölkerungsreichsten und wohl pluralistischsten deutschen Bundesland, wurde ab 1995 das Fach Praktische Philosophie (PP) entwickelt. Seine Einführung erfolgte ab 1997 zuerst in einem Schulversuch, dann 2003 endgültig in allen Schulformen – zuerst für die Stufen 9 und 10, später auch für die Stufen 5 bis 8. Neben dem Interesse der beiden christlichen Kirchen, durch die Einführung von PP die Abmeldungen vom RU zu reduzieren, hatte auch das Land ein eigenes Interesse an dem Fach, das viele Fachdidaktiker bis heute teilen: Die Pluralisierung der Lebensformen, der sozialen Beziehungen und Wertvorstellungen sowie das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Ethnien, Religionen und Kulturen verweisen auf die Notwendigkeit eines gemeinsamen Wertekonsenses, der zum Zusammenleben solch disparater Gruppen notwendig ist.6 Hier erreichte der RU große Teile der Schülerschaft nicht mehr. Dazu kamen Zweifel, ob er mit seiner Privilegierung der christlichen Weltsicht die für eine moderne pluralistische Gesellschaft notwendigen Wertorientierungen überhaupt noch vermitteln könne. Was sind aber die für eine pluralistische Gesellschaft notwendigen Wertorientierungen? Zuerst einmal ist hier zu unterscheiden zwischen normativen Bereichen, die pluralistisch sein können und sollen, und solchen, die es nicht sein dürfen. Zum pluralisierbaren Bereich gehören die unterschiedlichen Lebensentwürfe, also das Ausleben von Bedürfnissen und Fähigkeiten, von Mode- und Geschmacksvorstellungen sowie von Formen der Welt- und Selbstinterpretation in Religionen und Weltanschauungen. Diese sind prinzipiell konfliktträchtig und rivalisieren miteinander. Nicht pluralisierbar sind daher die Rahmenbedingungen, die den Ausgleich rivalisierender Lebensentwürfe regeln. Gemeint sind elementare Normen, die nicht bloß für einzelne weltanschauliche bzw. religiöse

6 In diesem Zusammenhang wird häufig auf ein schon 1967 von dem späteren Verfassungsrichter Ernst Wolfgang Böckenförde geäußertes Diktum verwiesen: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. [….] Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen […] reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben […].« Böckenförde, Wolfgang: Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt/M. 1976, S. 60.

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Gruppen gelten, sondern das humane und friedliche Miteinander dieser Gruppen sowie der (ihnen angehörenden) Individuen ermöglichen. So muss man zwischen der im Prinzip einen Ethik elementarer Verbindlichkeiten und der Pluralität von Ethiken eines optimalen Lebens, den christlichen, [islamischen], marxistischen, buddhistischen und anderen Deutungen von Humanität strikt unterscheiden.7

Zu dieser Ethik der elementaren Verbindlichkeiten gehören Werte wie Toleranz als Achtung vor der (Wert)-Überzeugung des anderen, Gewaltverzicht, Aufrichtigkeit in der Kommunikation, Kooperations- und Verständigungsbereitschaft, Empathie, Fairness bzw. Gerechtigkeit und die Bereitschaft, eigene Interessen partiell aufzugeben – weil nur so eine humane Konfliktbewältigung in einer pluralistischen, durch unterschiedliche Lebensentwürfe gekennzeichneten Gesellschaft gelingen kann. Um der Erhaltung des Pluralismus willen ist also eine pluralistische Gesellschaft auf diesen Grundbestand normativer Überzeugungen angewiesen. Bei dessen Herstellung ist nun das Fach PP besonders wichtig, weil hier die unterschiedlichen Weltanschauungen, Religionen und ihre normativen Implikationen selbst im Zentrum des Unterrichts stehen.

2.

Zur didaktischen Konzeption des Fachs Praktische Philosophie

2.1.

Ziele und pädagogische Prinzipien

Das Kerncurriculum PP, das sowohl in der Erstfassung von 1997 als auch in der Zweitfassung Fassung von 2008 schulformübergreifend ausgelegt ist, enthält die ambitionierteste Konzeption zur Werteerziehung im Bereich der Ersatzfächer für Religionslehre.8 Es leistet seinen speziellen Beitrag zur Werteerziehung, indem es Wert- und Sinnfragen systematisch und direkt behandelt und eine rationale beurteilende Auseinandersetzung über Antworten auf sie ins Zentrum stellt.9 Insoweit ist das Fach PP weltanschaulich neutral, aber nicht wertneutral angelegt. In ihm steht – ausgehend von den Fragen und Erfahrungen der Schüle7 Höffe, Otfried: Ethikunterricht in einer pluralistischen Demokratie, in: Treml, Alfred K. (Hg.): Ethik macht Schule. Edition Ethik kontrovers 2 (1994), S. 34. 8 Vgl. Kerncurriculum ›Praktische Philosophie‹. Erprobungsfassung. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Düsseldorf 1997 sowie Kernlehrplan Praktische Philosophie, Frechen 2008. URL: https://www.schulentwicklung.nrw.de/lehr plaene/upload/klp_SI/5017_Praktische_Philosophie_Sek.I.pdf [Stand: 22. 01. 2020]. 9 »Während dies im Religionsunterricht auf der Grundlage eines Bekenntnisses geschieht, übernimmt Praktische Philosophie diese Aufgabe auf der Grundlage einer argumentativdiskursiven Reflexion im Sinne einer sittlich-moralischen Orientierung ohne Bindung an eine bestimmte Religion oder Weltanschauung.« Kernlehrplan PP 2008, S. 9.

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rinnen und Schüler – das begründende Argumentieren im Mittelpunkt. Es gilt der »zwanglose Zwang des besseren Arguments« (Habermas),10 wobei verschiedene begründbare und begründete Standpunkte nebeneinander bestehen bleiben können. Als Grundlage der eigenen Urteile und Argumentationen werden im Fach PP nicht nur erfahrungsgeleitetes und schlüssiges Denken, sondern auch der Einfluss von sozialen und kulturellen Bedingungen sowie Emotionen berücksichtigt. Der angemessene Einbezug von Emotionen und ihre Weiterentwicklung zu Empathie kann nur vor dem Hintergrund des Wissens um die Überzeugungen anderer gelingen. Deshalb soll der Unterricht neben der Entwicklung der Fähigkeit zum rationalen Diskurs (1) auch dazu beitragen, die Wertvorstellungen der Schülerinnen und Schüler und die sie fundierenden Welt- und Selbstdeutungen (2) zu klären.

2.2.

Drei Lernperspektiven

Zuerst zum zweiten Punkt: Hier besteht der besondere Beitrag von PP zur Werteerziehung darin, die Schülerinnen und Schüler mit relevanten rivalisierenden gesellschaftlichen Wertvorstellungen und Sinnentwürfen bekannt zu machen, die in einer pluralistischen Gesellschaft kursieren. Kenntnisse darüber zu besitzen, ist eine Voraussetzung, sich in andere hineinversetzen zu können und auch die eigenen, meist in der individuellen Sozialisation wurzelnden Wertvorstellungen zu klären. Die in einer pluralistischen Gesellschaft kursierenden Wertvorstellungen gründen im Allgemeinen in religiösen und philosophischen Ideen, die oft einander entgegengesetzt sind, wie z. B. Materialismus vs. Idealismus oder Determinismus vs. Willensfreiheit. Sie alle bilden als wirkmächtige Leitideen den Hintergrund der gesellschaftlich virulenten Wertvorstellungen. Sie zu kennen und zu verstehen, bedeutet also, sich darüber bewusst zu werden, welche prinzipiellen Ideen mich selbst oder andere in Gefühlen, Alltagsreflexionen und Handlungen leiten. Habe ich z. B. eine biozentrische Vorstellung von Natur als Mitwelt, dann wird mein Umgang mit der Natur anders ausfallen, als wenn ich sie anthropozentrisch nur als Umwelt und Wirkraum menschlicher Eingriffe betrachte. Der Orientierungsbedarf von Schülerinnen und Schülern wird jeweils in ihren Erfahrungsräumen greifbar. Daher sind die Erfahrungen der Lernenden in ihrer Lebenswelt der Ausgangspunkt ihres Lernens. Erfahrungen in der Familie, etwa 10 Vgl. Habermas, Jürgen: Wahrheit und Gesellschaft. Die diskursive Einlösung faktischer Geltungsansprüche, in: Ders.: Sprachtheoretische Grundlagen der Soziologie. Studienausgabe: Philosophische Texte, Band 1, Frankfurt/M. 2009, S. 131–156, hier S. 149.

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mit Zuwendung oder Ablehnung, Erfahrungen mit Gleichaltrigen, die von sozialer Anerkennung bis zum (Cyber-)Mobbing reichen, bilden u. a. den lebensweltlichen Kontext, an dem der Unterricht ansetzen und auf den er seine erarbeiteten Ergebnisse zurückbeziehen soll. In ihrer Alltagswelt sollen die Lernenden gewohnte Handlungsmuster und Wertvorstellungen in ihrer Fraglichkeit erkennen. So können z. B. Erfahrungen mit sozialer Ausgrenzung zu der Frage führen, woran man echte Freunde erkennt – und damit ist die Erarbeitung unterschiedlicher gesellschaftlicher Vorstellungen von Freundschaft und der dahinterstehenden philosophischen Ideen über sie (z. B. Aristoteles, Montaigne) sowohl motiviert als auch in ihrer orientierenden Bedeutung für den Fragenden gegeben. Der Lehrplan PP nennt die drei skizzierten Aspekte Lernperspektiven: Er spricht von der personalen, der gesellschaftlichen und der Ideenperspektive: – Die personale Perspektive umfasst Lebenssituationen und Alltagserfahrungen der Schülerinnen und Schüler sowie existentielle Grunderfahrungen wie Leid, Einsamkeit, Trauer, Glück usw. – Die gesellschaftliche Perspektive umfasst gesellschaftliche Wertvorstellungen und -konflikte. – Die Ideenperspektive umfasst wirkmächtige religiöse und philosophische Leitideen, verstanden als Antworten auf philosophische Fragen. Dazu macht der Lehrplan die Vorgabe, dass jeder Unterrichtsinhalt in diesen drei Perspektiven zu erarbeiten ist: Die philosophischen und religiösen Ideen und ihr Niederschlag in konkurrierenden gesellschaftlichen Wertvorstellungen sind im Ausgang von lebensweltlich fundierten Fragen und im Rückgang auf sie, also auf die personale Perspektive, zu behandeln. Dabei ist die personale nicht mit der persönlichen Perspektive gleichzusetzen, weil sonst die Privatsphäre der Lernenden nicht geschützt wäre: So dürfen besonders bei Themen mit persönlicher Betroffenheit die individuellen Erfahrungen der Lernenden nicht direkt angesprochen werden, etwa durch Fragen wie: »Hast du keine Freunde?«, »Wirst du gemobbt?«; vielmehr sollten solche Einzelerlebnisse als personale Grunderfahrungen in Form von Bildern, Filmen, fiktiven Texten usw. in den Unterricht eingebracht werden, um von dort aus zu (philosophischen) Fragen zu gelangen. Divergierende gesellschaftliche Wertvorstellungen und ihre dahinterliegenden philosophischen Leitideen müssen im Fach PP nicht nur erarbeitet und verstanden, sondern auch in einer vernunftgeleiteten und Empathie fördernden Auseinandersetzung des Für und Wider ihrer Geltung diskutiert und beurteilt werden. Darin liegt nun der oben zuerst genannte Beitrag von PP zur Werteerziehung begründet: Indem die Schülerinnen und Schüler sich argumentativ und aufeinander eingehend über ihre Wertvorstellungen und die sie bestimmenden Leitideen auseinandersetzen, erfahren sie die für eine pluralistische Gesellschaft notwendigen elementaren Normen als Grundbedingungen ihres philosophi-

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schen Diskurses. Werte wie Toleranz als Respekt vor der Überzeugung des anderen (er könnte von seinen Voraussetzungen aus Recht haben), Gewaltverzicht, dialogische Verständigungsbereitschaft und Aufrichtigkeit in der Kommunikation sind nicht nur Voraussetzungen eines gelingenden philosophischen Diskurses, sondern zugleich die Rahmenwerte, die für das friedliche und bereichernde Zusammenleben in einer pluralistischen Gesellschaft unverzichtbar sind. Sie bilden, mit Höffe gesprochen, die für die pluralistische Gesellschaft konstitutive »eine Ethik elementarer Verbindlichkeiten«,11 da ihre Preisgabe eine Zerstörung des Pluralismus zur Folge hätte. Deshalb ist die Erfahrung einer gelingenden Praxis rationaler Auseinandersetzung auf dem Gebiet von Sinn- und Wertvorstellungen, die einen wesentlichen Teil der eigenen Identität ausmachen, eine Erfahrung, die zur eigenständigen Übernahme der normativen Orientierungen anregt, die diese Erfahrung ermöglichen. Denn Wertvorstellungen bilden sich nach den Erkenntnissen der Sozialpädagogik in der kommunikativen Interaktion mit anderen heraus. Zugleich entspricht Werteerziehung im Fach PP der sozialpädagogischen Erkenntnis, dass Werte nicht gelehrt werden können, sondern dass nur der Einzelne selbst sie als für sich verbindlich setzen und anerkennen kann.12 Zur autonomen Übernahme der für eine pluralistische Gesellschaft notwendigen Wertvorstellungen kann dann allerdings die Erfahrung gelingender Diskurspraxis einen wichtigen Anstoß liefern.

2.3.

Sieben Fragenkreise als Unterrichtsinhalte

Die Auswahl der Inhalte bzw. zu erarbeitenden Leitideen für das Fach PP muss vor dem Hintergrund des Bildungs- und Erziehungsauftrages der Schule einerseits und dem Orientierungsbedarf der Schülerinnen und Schüler anderseits getroffen werden. Der Lehrplan PP trifft hier eine Entscheidung zugunsten von sieben Themen- oder Fragenkreisen. Sie richten sich an sieben zentralen Disziplinen der Philosophie aus und beschränken sich nicht bloß auf ethische Themen oder solche der Praktischen Philosophie:13 1. Die Frage nach dem Selbst (Anthropologie, Psychologie) 2. Die Frage nach dem Anderen (Sozialphilosophie) 3. Die Frage nach dem guten Handeln (Ethik) 11 Vgl. Anmerkung 7. 12 Vgl. Henke, Roland W.: Die Demokratie und der Streit um Werte. Wertediskurse im Unterricht, hg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2017, S. 2–18, hier S. 17. 13 Die Fachbezeichnung »Praktische Philosophie« ist diesbezüglich irreführend und soll lediglich den Handlungsbezug des Faches und darin seine werteerzieherischen Intentionen zum Ausdruck bringen.

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4. Die Frage nach Recht, Staat und Wirtschaft (Politische Philosophie) 5. Die Frage nach Natur, Kultur und Technik (Natur-, Kultur- und Technikphilosophie) 6. Die Frage nach Wahrheit, Wirklichkeit und Medien (Erkenntnistheorie, Medienphilosophie) 7. Die Frage nach Ursprung, Zukunft und Sinn (Metaphysik und Religionsphilosophie).14 Diese Festlegung der Fragen- oder Themenkreise ist nicht zwingend und wird in anderen Ersatzfachkonzeptionen auch anders vorgenommen. Mit ihr liegt aber eine Aufteilung vor, welche die Vielfalt der in einer pluralistischen Gesellschaft wirkenden Leitideen einigermaßen umfassend abbildet und die zugleich eine plausible Unterscheidung dieser Leitideen erlaubt. Wer die unterschiedlichen Leitvorstellungen in diesen sieben Bereichen kennt und unterscheiden kann, der kennt und versteht auch die wesentlichen Wertorientierungen, die eine durch globale Einflüsse geprägte pluralistische Gesellschaft kennzeichnen.15

2.4.

Didaktische Konstruktion: Vier Kompetenzbereiche

Die Ergebnisse der PISA-Studie aus dem Jahr 2000 führten in Deutschland zur schulpolitischen Entscheidung, die Ziele des Unterrichts als Kompetenzen zu fassen.16 Während der an Zielen ausgerichtete Unterricht stärker von der Lehrperson und ihren Intentionen her denkt, nehmen die Kompetenzen die erreichten Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler in den Blick. Daher unterteilt der ›Kernlehrplan Praktische Philosophie‹ von 2008 die durch den Unterricht zu erreichenden Fähigkeiten zum einen in personale und soziale, zum anderen in Sach- und Methodenkompetenzen.17 Methodenkompetenz beinhaltet u. a. die 14 Kernlehrplan Sekundarstufe I in Nordrhein – Westfalen. Praktische Philosophie, hg. vom Ministerium für Schule und Weiterbildung, Frechen 2008, S. 11f. 15 Die gleichrangige Anordnung der Fragenkreise unterschlägt die Unterschiedlichkeit in ihrer Prinzipialität: So liegen erkenntnistheoretische und auch anthropologische Fragestellungen den anderen Fragekreisen zugrunde; dies kann ab Stufe 9 innerhalb der Erarbeitung der jeweils zugeordneten inhaltlichen Schwerpunkte verdeutlicht werden. 16 Maßgeblich beeinflusst wurde diese Entscheidung durch die sog. Klieme-Expertise: Vgl. Klieme, Eckhard et al.: Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise, Bildungsforschung Bd. 1, Bonn, Berlin: Bundesministerium für Bildung und Forschung, unveränderter Nachdruck 2011. URL: https://www.bildungsserver.de/onlineressource.html ?onlineressourcen_id=17614 [Stand: 22. 01. 2020]. 17 Vgl. Kernlehrplan Praktische Philosophie 2008, S. 12–15. Vgl. auch die Bildungsstandards für die Fächer Ethik, Humanistische Lebenskunde, LER, Philosophie, Philosophieren mit Kindern, Praktische Philosophie, Werte und Normen in der Sekundarstufe I, in: Ethik & Unterricht 4 (2006), S. 42–44.

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Fähigkeit, schlüssig argumentieren, philosophische Gespräche führen und Texte erschließen zu können. Zur Sachkompetenz gehören neben dem Erwerb fachlicher Kenntnisse, z. B. zu den Weltreligionen, die selbstständige Reflexion auf Fragen des Menschseins und des Umgangs mit der Natur sowie das Beurteilen der Bedeutung von Kulturen und Religionen für das interkulturelle Zusammenleben. Demgegenüber sind die personale Kompetenz und die Sozialkompetenz stärker auf den wertorientierten Umgang des Einzelnen mit sich selbst und anderen bezogen: Als sozialkompetent zeigt sich u. a., wer respektvoll mit anderen und ihren Überzeugungen umgeht, ihre Perspektive einnehmen, mit ihnen kooperieren und Verantwortung übernehmen kann. Personale Kompetenz schließt die Ausbildung von Ich-Stärke und die Bereitschaft ein, sich an Prinzipien der Vernunft zu orientieren.

2.5.

Prinzipien der Unterrichtsgestaltung

Der Unterricht im Fach PP sollte ein »Modell« sein für den Umgang von Menschen mit unterschiedlichen identitätsbildenden Wertorientierungen in einer pluralistischen Gesellschaft, etwa – für den Respekt vor unterschiedlichen kulturellen Traditionen, religiösen Überzeugungen und Lebensstilen, – für die sachliche Gestaltung von Klärungs- und Auseinandersetzungsprozessen, – für die Bereitschaft zu Kommunikation und Verständigung. Aufgrund der werteerzieherischen Zielsetzung des Fachs ist auch klar, dass in ihm dialogische und das eigene Urteil anregende Verfahren den Vorrang haben vor solchen der (verstehenden) Wissensaneignung. Im Zentrum steht daher das (philosophische) Gespräch, das die rationale Verständigung der Lernenden über identitätsstiftende Wert- und Sinnfragen initiiert. Es sollte zwar durch schriftliche Formen ergänzt, nicht aber ersetzt werden. Medium des philosophischen Gesprächs sind nicht nur die (zufälligen) Meinungen der Schülerinnen und Schüler einer Lerngruppe, sondern auch Texte und andere Materialien, die relevante Erfahrungen darlegen, Fragen stellen, gedankliche Anregungen geben oder (argumentative) Antworten einbringen. Durch ihre Gesprächsführung versucht die Lehrkraft etwa, sowohl ein angemessenes Textverständnis zu sichern als auch die Schülerinnen und Schülern im Sinn der Sokratischen Mäeutik zur ›Geburt‹ eigener Gedanken anzuregen. Sie interveniert besonders dann, wenn die Lernenden aneinander vorbeireden oder sich ein sachlich unangemessenes Text- oder Begriffsverständnis entwickelt.

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Über das philosophische Gespräch hinaus sollten Arbeitsformen eingesetzt werden, die einen motivierenden und abwechslungsreichen Umgang mit den Problemstellungen und Themen des Faches ermöglichen und auch überfachlich angelegt sind (z. B. Rollenspiel, Projektlernen).

2.6.

Die Rolle der Lehrenden im Unterricht

Wie für alle im öffentlichen Schulwesen Lehrenden gilt auch für Lehrerinnen und Lehrer des Faches PP der gesellschaftliche Wertekonsens, wie er in der Landesverfassung und dem Grundgesetz verankert ist, als verbindliche Grundlage ihrer Arbeit. Dabei eröffnet das verfassungsmäßig garantierte Recht auf freie Selbstentfaltung plurale Orientierungsmöglichkeiten im religiösen und weltanschaulichen Bereich sowie im Kontext sozialer Beziehungen und Lebensstile (s. o.). Für die Lehrenden bedeutet dies, dass sie zu den gesellschaftlich kontroversen Fragen und Wertvorstellungen auch einen eigenen Standpunkt einnehmen. Dieser darf und wird auch im Unterricht zur Geltung kommen. Er darf aber nicht indoktrinierend eingebracht werden, weil dies die Meinungsbildung der Schülerinnen und Schüler im Bereich eigener pluraler Wertorientierungen unzulässig beeinflussen und gegen das sog. Überwältigungsverbot18 verstoßen würde. Daher werden die Unterrichtenden mit ihren eigenen Standpunkten und Überzeugungen sensibel und behutsam umgehen und z. B. bedenken, – inwieweit die Lerngruppe überhaupt in der Lage ist, sich mit dem Standpunkt der Lehrerinnen und Lehrer argumentativ auseinanderzusetzen, – ob und ggf. in welcher Weise unterrichtliche Verfahren und Methoden authentische Positionen der Schülerinnen und Schüler freisetzen oder überwältigend wirken, – wie sich ein Klima der Offenheit gestalten lässt, in dem alle am Unterricht Beteiligten sich als Orientierung Suchende, Nachdenkende, Lernende verstehen können, – wie durch den Unterricht eigenständiges Denken und eine lebendige, demokratische Streit- und Verständigungskultur entwickelt werden können. Sollten einzelne Schülerinnen und Schüler gegen die Regeln für eine friedliche Verständigungskultur verstoßen, sind die Lehrenden erzieherisch gefordert.

18 Gemäß dem erstmals 1976 für den Politikunterricht vereinbarten Überwältigungs- oder auch Indoktrinationsverbot (sog. Beutelsbacher Konsens) dürfen Lehrende Schülerinnen und Schülern nicht ihre Meinung aufzwingen, sondern sollen sie in die Lage versetzen, sich mit Hilfe des Unterrichts eine eigene Meinung bilden zu können.

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3.

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Aktuelle Situation des Fachs und Zukunftsperspektiven

In NRW hat sich das Fach PP inzwischen in fast allen Schulformen etabliert. Etwa ein Viertel der Schülerschaft besucht den PP-Unterricht, entweder aufgrund eigener Entscheidung oder aufgrund der Nicht-Zugehörigkeit zu einer christlichen Kirche. Die Zusammensetzung der Schüler*innenschaft ist in Bezug auf die dort vertretenen Weltanschauungen und Wertvorstellungen besonders heterogen.19 Inzwischen liegt auch ein Entwurf für einen entsprechenden Lehrplan für die Grundschulen vor, denn dort gibt es in NRW gegenwärtig noch kein Ersatzfach für den RU. Im Rahmen der Inkraftsetzung dieses Lehrplans soll dann auch der PP-Lehrplan von 2008 (Sek I) überarbeitet werden. Seit einigen Jahren werden aufgrund einer 2011 getroffenen Vereinbarung zwischen dem Schulministerium und dem Koordinationsrat der Muslime in Deutschland Lehrkräfte für einen bekenntnisorientierten islamischen RU (mit der Unterrichtssprache Deutsch) ausgebildet. Dieser wird momentan sukzessive, vorrangig in den Gesamtschulen großer Städte, eingeführt. Zurzeit besuchen ihn ca. 25.000 Schülerinnen und Schülern, also weniger als ein Zehntel der muslimischen Schüler*innenschaft NRWs (ca. 400.000). Die Einführung des islamischen RU, von der man politisch eine stärkere Integration der Muslim*innen erwartet, wird längerfristig zu einer veränderten Schülerschaft im Fach PP bzw. zu einem geringeren Anteil muslimischer Schülerinnen und Schüler in diesem Fach führen. Seit der Vereinigung im Jahr 1990 fordern nicht wenige für alle Bundesländer – nach dem Vorbild von Berlin und Brandenburg – die reguläre Einführung eines weltanschaulich neutralen sinn- und wertorientierenden Unterrichts, den alle Schülerinnen und Schüler besuchen müssen. RU könnte dann zusätzlich und freiwillig von religiös orientierten Lernenden besucht werden. Mit der Einführung des bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterrichts hat das Land aber erst einmal den konfessionellen RU stabilisiert und damit für das Fach PP den Ersatzfachstatus bestätigt. Dieser könnte in NRW auch nur durch eine Änderung des Artikels 7, Abs. 3 des Grundgesetzes abgeschafft werden, für die im Deutschen Bundestag eine Zweidrittel-Mehrheit nötig wäre. Wenn in der deutschen Gesellschaft der Pluralismus noch weiter um sich greifen sollte, ist eine solche politische Entscheidung in fernerer Zukunft sicher nicht ausgeschlossen.

19 Vgl. Blesenkemper, Klaus: Unterrichtsplanung, in: Nida-Rümelin, Julian et al. (Hg.): Handbuch Philosophie und Ethik, Bd. 1: Didaktik und Methodik, Paderborn 2015, S. 321f.

Das Fach Praktische Philosophie als Herausforderung für die Lehrer*innenbildung

4.

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Herausforderungen des Fachs für die Lehrer*innenbildung

Das Studium der Philosophie an der Universität Bonn besteht zum Teil in der Aneignung klassischer philosophischer Positionen und Texte, zugleich sollen die Studierenden einen Einblick in aktuelle Forschungskontroversen und -diskurse bekommen. Wie auch an anderen Universitäten ist der Bachelor in Bonn polyvalent ausgelegt, d. h. die Lehramtsstudierenden kommen erst in der Masterphase mit didaktischen Fragen intensiver in Kontakt. Das wird durch das Praxissemester unterrichtsbezogen flankiert, wobei die Studierenden dann i. d. R. auch erste Unterrichtserfahrungen im Fach ›Praktische Philosophie‹ sammeln. Dabei bildet der Unterricht in diesem Fach eine weitaus größere Herausforderung als der im Fach Philosophie (Sek II), weil hier sowohl die bislang erworbenen Fachkenntnisse als auch die in den Universitätsveranstaltungen erlebte Vorlesungs- und Seminardidaktik unmittelbar wenig weiterhelfen. Zwar ist das Fach, wie oben aufgezeigt, mit seinen sieben Fragenkreisen fachlich breit aufgestellt, und einige der philosophischen Bezugsdisziplinen werden auch im Bachelor-Studiengang traktiert; aber im Sek I-Unterricht kommt es nicht primär darauf an, diese Fachinhalte den Schülerinnen und Schülern über geeignete Texte lediglich zu vermitteln. Vielmehr geht es primär darum, die Lernenden durch lebensweltlich grundierte Materialien und Problemstellungen zum eigenständigen Philosophieren zu führen und das philosophische Potential in ihren Äußerungen durch adäquate Impuls- und Fragetechnik für die gesamte Lerngruppe fruchtbar zu machen. Breite Fachkenntnisse sind also zwar die notwendige, aber nicht die hinreichende Bedingung für einen kompetenzfördernden Unterricht im Fach Praktische Philosophie. Auch in anderen Bereichen stellen sich hier besondere Herausforderungen: Neben rationalen Formen der Auseinandersetzung im Unterrichtsdiskurs müssen auch Methoden und Gesprächstechniken beherrscht werden, die Empathie fördern und bei den Lernenden vorhandene Wertvorstellungen klären. Schließlich sollen die Studierenden auch ein erstes Gespür für die Grundlagen, Kriterien und Probleme der Leistungsbewertung in diesem primär mündlichen Fach entwickeln und etwa erkennen, dass die bloße Quantität von Schüler*innenbeiträgen ein vergleichsweise untergeordneter Indikator für ihre Bewertung darstellt. Für das Erreichen der angestrebten Ziele im Bereich der Werteorientierung ist es von besonderem Belang, dass die Lehrenden im Fach ›Praktische Philosophie‹ eine offene, an rationalen Diskursprinzipien orientierte Atmosphäre in der Lerngruppe schaffen, in der sich junge Menschen in der Auseinandersetzung über eben diese Wertorientierungen begegnen. Eine solche Atmosphäre regt nicht nur zu eigenständigen Denkprozessen an, sie sorgt auch für einen von aktiver Toleranz und Empathie geprägten Austausch unter den Lernsubjekten –

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eine Gelingensbedingung für den späteren Umgang von erwachsenen Bürgern unterschiedlicher Herkunft in einer Gesellschaft mit vielfältigen kulturellen Prägungen und Lebensformen. Obwohl die Lehrenden selbst eine (pluralisierbare) Werteorientierung und weltanschaulich-religiöse Bindung aufweisen, dürfen sie diese einerseits, etwa im Unterrichtsgespräch, nicht zum Orientierungsmaßstab für die Lernenden oder gar zum Bewertungskriterium von deren Leistungen machen. Andererseits dürfen sie aber beim Aufeinandertreffen unterschiedlicher Werteorientierungen der Lernenden auch keine Beliebigkeit zulassen, sondern müssen für die Einhaltung der oben skizzierten elementaren Normen des kommunikativen Austauschs Sorge tragen. Angesichts des Umstandes, dass Studierende im Praxissemester oft selbst noch auf der Suche nach ihrer eigenen weltanschaulichen Identität sind und teilweise auch wenig Erfahrung im toleranten Umgang mit den Weltanschauungen und Wertbindungen anderer Menschen haben, erst recht nicht im Arrangement eines derartigen Umgangs, liegt in der Entwicklung der entsprechenden Lehrerkompetenz eine ganz besondere Herausforderung für die Lehrerbildung. ***

Das Fach Praktische Philosophie im Realitycheck Ein Interview mit Susanne Teschner Im Folgenden soll ein Interview wiedergegeben werden, das ich (Roland Henke) anlässlich dieser Veröffentlichung mit Frau Susanne Teschner geführt habe. Frau Teschner ist seit 2019 abgeordnete Lehrerin im Hochschuldienst am Philosophischen Institut der Universität Bonn und betreut dort den Bereich Fachdidaktik. Roland Henke: Frau Teschner, Sie sind ja nun schon mehrere Jahre für die Lehrer*innenbildung in den Fächern Philosophie und Praktische Philosophie an der Universität Bonn zuständig und haben selbst lange Jahre als Lehrerin für beide Fächer an einem Gymnasium im Kölner Umland gewirkt. Stimmen Sie zu, dass das Fach PP größere didaktische und auch fachliche Anforderungen stellt als der Philosophieunterricht in der Sekundarstufe II? Susanne Teschner: In jedem Fall kann ich bestätigen, dass das Fach einen besonders hohen Anspruch an die Lehrer*innen stellt, da sie einerseits persönlich

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sehr gefordert sind, damit guter Unterricht gelingen kann – in einer meist heterogenen, multikulturellen Lerngruppe, die oftmals erst ›zusammenwachsen‹ muss, da Schülerinnen und Schüler aus verschiedenen Klassen zusammengewürfelt werden. Hinzu kommt die Vielfalt der Themen und Fragenkreise, die unterschiedlichste Lebensbereiche berühren, zu denen die Schüler*innen viel zu sagen haben. Der philosophische Zusammenhang in einem solchen Gespräch muss allerdings von der Lehrkraft allererst hergestellt werden und das geht nur auf dem Hintergrund einer fundierten philosophischen Kenntnis: Zu bemerken, wann Schüler*innen Philosophisches äußern und dieses Potential im Unterrichtsgespräch fruchtbar zu machen, ist viel schwieriger und verlangt Fingerspitzengefühl und eher noch mehr fachwissenschaftliche Qualifikation von den PP-Lehrer*innen als von Unterrichtenden in der Sek II, in der die Schüler*innen sich entlang der Texte bereits im philosophischen Jargon bewegen – leider dort ja auch oft viel weiter entfernt von einer personalen Perspektive. Hier liegt die Chance aber auch das Risiko: Im Fach PP kann sehr authentisch und entdeckerisch mit Schüler*innen philosophiert werden, es kann aber auch dahin kommen, dass bei zu wenig gründlicher didaktischer und fachlicher Durchdringung der Unterricht keine philosophische Qualität mehr aufweist. R. H.: Worin läge für Sie eine solche philosophische Qualität? S. T.: Ich würde lieber umgekehrt fragen, wann der Punkt überschritten ist, dass PP-Unterricht sein philosophisches Profil verliert bzw. gar nicht erst erreicht. Z. B. bieten ein »Gefu¨ hlspropeller« oder eine »Beziehungskiste zum Selberbauen« (beides sind Begriffe aus einem ga¨ ngigen Schulbuch) natu¨ rlich relevante lebensweltliche Bezu¨ ge, aber mir stellt sich hier die Frage, worin das spezifisch Philosophische liegt und ob diese Themenbereiche nicht auch in einem Gespra¨ch mit dem/der SV-Lehrer*in bzw. Beratungslehrer*in, Schulsozialarbeiter*in etc. ihren Platz finden ko¨ nnten. Was setzt den Unterricht im Fach PP von einer Orientierungs- oder Politik- oder gar Religionsstunde ab? R. H.: Was wäre hier Ihre Antwort? S. T.: Hierzu muss ich weiter ausholen. Der Kernlehrplan PP will sehr viel! Das ›Ersatzfach‹ Praktische Philosophie beansprucht gegenüber dem evangelischen/ katholischen Religionsunterricht, alle Konfessionslosen, Andersgläubige oder schlicht Philosophieinteressierte ›einzufangen‹ und – zwar weltanschaulich neutral, aber nicht werte-neutral – auf Grundlage eigener inhaltlicher und didaktischer Zielsetzungen einen substanziellen Prozess moralischer Persönlichkeitsentwicklung anzustoßen. Genau dies war – wie Sie weiter oben ausgeführt haben – ja das eigentliche Anliegen von staatlicher Seite, Religionsunterricht als

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ordentliches Unterrichtsfach nach dem Zweiten Weltkrieg wiedereinzuführen: Die Erwartungshaltung war, ›Widerständigkeit‹ gegen ideologische Vereinnahmung zu befördern und ein Wertefundament für ein demokratisches Miteinander zu legen – Ansprüche, die in analoger Weise nach dem erfolgreich beendeten Schulversuch explizit für das Fach PP reformuliert worden sind.20 Naturgemäß greift der PP-Unterricht im Unterschied zum RU hierbei nicht auf eine feste Basis religiöser Anschauungen zurück, sondern sucht Werte und bestimmte Hinsichten auf lebensweltliche und gesellschaftliche Phänomene aus der »Ideen-Perspektive« heraus inhaltlich zu füllen und zu begründen. Didaktisch lehnt sich die Herangehensweise im Fach PP an das Sokratische Philosophieren an, das im Ausgang von konkreten Erfahrungen auf Verstehen, Analyse und Reflexion setzt.21 Beides zu leisten ist notwendig, um das »Philosophische« am Fach »Praktische Philosophie« nicht aus den Augen zu verlieren; zugleich ist dies auch das Anspruchsvollste. R. H.: Worin sehen Sie hier die größten Herausforderungen? S. T.: 1. Die Ideen-Perspektive ist im Kernlehrplan unterbestimmt und als gesellschaftliches Deutungskonzept fragwürdig. 2. Der Sokratische Ansatz verlangt gut ausgebildete Lehrkräfte, die wissen, worauf es hierbei ankommt. 3. Die Hinzunahme der religiösen Perspektive birgt zusätzliche Klippen – gerade angesichts der Tatsache, dass die Schüler*innen oftmals einen multikulturellen Hintergrund haben. Zum ersten Punkt: Zunächst einmal ist es eine der größten Schwierigkeiten, die »Ideen-Perspektive« stark zu machen. Im Hinblick auf die Altersklasse soll der PP-Unterricht weitestgehend auf philosophische Originaltexte verzichten und vorrangig ›andere Medien‹ einsetzen. Gerade dies erfordert aber, dass narrative Texte, Bilder, Comics etc. allererst in ihrer philosophischen Dimension ergründet sein müssen, um zu philosophischen Ideen zu führen. Es bleibt im Kerncurriculum weitestgehend offen, welche philosophischen Leitideen zum Grundbestand der ›Ideen-Perspektive‹ gehören. Hier liegt meines Erachtens ein wesentliches Problem des Kernlehrplanes, der mit der Modifikation des ur20 Vgl. das Vorwort (S. 3) der damaligen Kultusministerin Gabriele Behler und die Ausführungen (bes. S. 40, 44) von Dieter Birnbacher: Philosophieren als Praxis: Eine Einschätzung des Schulversuchs Praktische Philosophie aus fachphilosophischer Sicht. Beide Beiträge in: Praktische Philosophie in Nordrhein-Westfalen. Erfahrungen mit einem neuen Schulfach. Abschlussbericht der Wissenschaftlichen Begleitung, in: Ministerium für Schule, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.): Schriftenreihe Schule in NRW, Heft 9038, Frechen 2002. 21 Vgl. hierzu Birnbacher, Dieter: Philosophieren als Praxis. Eine Einschätzung des Schulversuchs Praktische Philosophie aus fachphilosophischer Sicht, in: Schriftenreihe Schule in NRW, Heft 9038, Frechen 2002, S. 38.

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sprünglichen Terminus »ideengeschichtliche Perspektive« zu »Ideen-Perspektive« zwar größtmögliche Offenheit, aber zugleich Unklarheit ins Programm schrieb. An die Stelle philosophischer Ansätze (die dann in der Oberstufe ausdrücklich behandelt werden) rücken in der ursprünglichen Konzeption von 1997 Begriffsantagonismen wie »Determination und Freiheit«, »Emotionalität und Rationalität«, »Individualismus und Kollektivismus«,22 um nur die ersten drei zu nennen. Diese beschrieben »das Feld der wirkmächtigen Leitvorstellungen und Ideen«, die innerhalb einer Gesellschaft miteinander konkurrierten und zu Konflikten führten.23 Für mich ist es erst einmal fraglich, ob diejenigen »konkurrierenden Leitvorstellungen und Ideen«, die unsere Gesellschaft prägen, vorrangig philosophischen Charakter haben oder ob nicht gesellschaftliches und politisches Handeln vielfach schlicht interessengeleitet ist. »Ideen« im Hintergrund wären hier zu schön, um wahr zu sein. Im Übrigen müsste gerade an dieser Stelle das kritische Potenzial eines Sokratischen Ansatzes greifen, indem es Schüler*innen hilft, das Dahinterliegende zu durchschauen. Dies allerdings kommt nicht ohne Sachkenntnis in ideengeschichtlicher, interkultureller und religionskundlicher Hinsicht aus. Im immer noch gültigen Kernlehrplan, der 2008 eingeführt wurde, heißt es eigentlich noch weniger konkret: Die Ideen-Perspektive macht Fragen und Antworten der Ideengeschichte, vor allem der Philosophie und der großen Religionen, aber auch aktuelle Denkansa¨ tze fu¨ r die Beantwortung von Fragen der Schu¨ lerinnen und Schu¨ ler systematisch fruchtbar.24

Es fällt in diesem Zusammenhang allerdings nicht ein einziger Name eines Philosophen, einer Philosophin oder einer philosophischen Richtung. Der religionskundliche Rahmen wird durch den Terminus »Weltreligionen« abgesteckt, der Begriff der philosophischen »Ideen-Perspektive« bleibt unterbestimmt, was einen Strauß an Problemen mit sich bringt, sowohl für die Lehrer*innenbildung, für die Entwicklung von Schulbüchern als auch für die konkrete Unterrichtsgestaltung. R. H.: Es geht doch im Fach PP vorrangig um Kompetenzerwerb und nicht um Wissensvermittlung! Sachkompetenz ist nur eine Facette, es scheint mir so, als ob Sie der personalen, sozialen und Methodenkompetenz nur eine untergeordnete Rolle zuschrieben. 22 Vgl. Kerncurriculum ›Praktische Philosophie‹. Erprobungsfassung von 1997, in: Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.): Schriftenreihe Schule in NRW, Heft 9038, Frechen 2002, S. 152. 23 Ebd. 24 Kernlehrplan Praktische Philosophie, in: Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.): Schriftenreihe Schule NRW, Nr. 9038, Frechen 2008, S. 11.

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Roland W. Henke

S. T.: Nein, das ist ein Missverständnis. Natürlich sind die anderen Kompetenzen mindestens genauso wichtig und Sachkompetenz betrifft ja genauso auch die personale und gesellschaftliche Perspektive25, aber ohne klare philosophische Gegenstände lassen sich die Kompetenzen meines Erachtens schwerlich entwickeln. Natürlich geht es vorrangig um Autonomie- und Werteentwicklung, aber es braucht hierzu philosophische Denkanstöße, sonst mutiert der PP-Unterricht zu einer Art »Kindergottesdienst ohne Kirche« – um noch einmal auf den Ersatzfachstatus zurückzukommen. Obwohl ich persönlich mit meinen anderen Fächern Musik und Literatur naturgema¨ ß eine besondere Affinita¨t zu ›anderen Medien‹ habe und diese gar nicht wegdenken möchte, fu¨ rchte ich hier die Gefahr, dass die Basis des Faches verwa¨ssert, wenn Bilder, Songtexte, Fabeln usw. alleinige Grundlage fu¨ r Lernende und Lehrende sind. Angesichts der Tatsache, dass PP-Zertifikatskurse26 in Zukunft zur Ausbildung fachfremder Lehrer*innen dienen, wa¨ re es mir wichtig, dass in diesem Sinne auch Anspru¨ che im KLP festgeschrieben würden. Dass es möglich ist, auch im PP-Unterricht philosophische Originaltexte – als Kürzesttext oder auf andere Weise didaktisiert – mit Erfolg zu lesen, zeigen nicht nur Experimente einer Praxissemesterstudentin im Rahmen eines aktuellen Studienprojektes,27 sondern legen auch neuere Schulbuchkonzeptionen nahe, wie z. B. das Buch »Denk(t)räume wagen« aus dem Cornelsen-Verlag für die Jahrgangsstufen 5 und 6, an dessen NRW-Ausgabe Sie ja auch maßgeblich beteiligt sind.28 Ich würde mir wünschen, dass ein überarbeiteter KLP nicht mehr allzu lange auf sich warten lässt und die allzu große Beliebigkeit der IdeenPerspektive durch mehr Konkretion ersetzt würde. R. H.: Sie haben noch zwei weitere Punkte angesprochen und dabei auch die Lehrer*innenbildung ins Spiel gebracht: die Methodik des Sokratischen Philosophierens und interkulturelle oder religiöse Themen im PP-Unterricht. Mich in-

25 Vgl. Blesenkemper, Klaus: Was ist das ›Praktische‹ an der Praktischen Philosophie?, in: Albers, Franz Josef / Simon-Schaefer, Roland (Hg.): Philosophie konkret: Praktische Philosophie in der Diskussion (= Philosophie und Bildung, hg. v. Martens, Ekkehard / Gefert, Christian / Steenblock, Volker, Bd. 8), Münster 2009, bes. S. 190–192. 26 Gemeint sind wöchentliche Kurse für bereits unterrichtende Lehrer*innen, die von der jeweiligen Bezirksregierung angeboten werden und binnen eines Jahres zur Erlangung der Fakultas im Fach PP qualifizieren sollen. 27 Das Studienprojekt in der Philosophiedidaktik mit dem Titel »Sollte man im Unterricht im Fach Praktische Philosophie in der Jahrgangsstufe 9 Originaltexte oder Nachtexte lesen?« erprobte im Rahmen des Praxissemesters an der Universität Bonn im Wintersemester 2020/ 21 hierzu vergleichend Textmaterialien verschiedener Schwierigkeitsgrade. 28 Brüning, Barbara / Henke, Roland W. (Hg.): Denk(t)räume wagen. Praktische Philosophie, Bd. 1, 5./6. Klasse, Berlin 2020.

Das Fach Praktische Philosophie als Herausforderung für die Lehrer*innenbildung

319

teressiert, wie Sie diese Herausforderung in ihrer fachbezogenen Lehrerbildung zu bewältigen versuchen. S. T.: Das Sokratische Philosophieren (in Abgrenzung zur Methode des Sokratischen Gesprächs) meint eine Herangehensweise in der Philosophiedidaktik, die, von den Phänomenen ausgehend, hermeneutisch zu verstehen und aufzudecken sucht, welche mitgebrachten Interpretationen und Deutungsmuster bereits vorliegen. Sie nimmt analytisch in den Blick, welche Muster evtl. brüchig oder irrational und welche Erklärungen tragfähig sind und auch dialektischer Rede und Gegenrede standhalten. Das Sokratische Philosophieren beschreibt methodische Schritte und gibt damit ein Instrumentarium zur selbstständigen Orientierung und zum ›Zurechtkommen‹ im Pluralismus an die Hand. Dieses Methodenparadigma ist auch in der Lehrer*innenbildung fest verankert, indem schon im Bachelor-Studiengang ein methodisches Grundlagenseminar durchlaufen wird. Es ist außerdem Grundlage von Stunden- und Reihenplanung (vgl. das sogenannte Bonbonmodell nach Sistermann29) und es ist Anleitung zum philosophischen Unterrichtsgespräch, wenn es darum geht, dialogisch und problemorientiert mit Schüler*innen zu philosophieren. Weil Sie es ansprachen: Gerade im Hinblick auf interkulturelle oder religiös bedingte kulturelle Konflikte, die im PP-Unterricht leicht aufflammen können, ist jede Lehrkraft gut beraten, sokratisch vorzugehen. Soll der PP-Unterricht einen Beitrag zum Erhalt einer »Offenen Gesellschaft« leisten und zunehmender Polarisierung und dem damit verbundenen Verlust eines offenen Diskurses entgegentreten, braucht es einen angeleiteten »philosophisch rationalen Diskurs«30, der im Sinne eines Sokratischen Nichtwissens nicht von vornherein unsere westliche Prägung beispielsweise gegen Traditionen und Denkweisen muslimischer Schüler*innen ausspielt. Leider werden die Regeln eines Neutralität wahrenden, wertschätzenden Umgangs mit anderen kulturellen Sichtweisen oft schon durch die in Schulbüchern bereitgestellten Materialien nicht eingehalten: Plakative Darstellungsweisen, die sich in Kapitelüberschriften Bahn brechen (z. B. »Vollverschleiert für Frauenrechte?«)31, sind wohl weniger geeignet, die verschiedenen Kulturen, die in einem Klassenzimmer vertreten sind, miteinander ins Gespräch 29 Vgl. Sistermann, Rolf: Unterrichten nach dem Bonbonmodell, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 4 (2008), S. 299–335. 30 Vgl. Draken, Klaus: Philosophie und Religion. Ein Erfahrungsbericht über ›gerechte religiöse Empörung‹ und ›philosophisch rationalen Diskurs‹, in: Mitteilungen des Fachverbandes Philosophie. Der Philosophieunterricht in NRW 50 (2014), S. 136–145 und ebenso: Ders.: »Kampf der Kulturen« oder »Kampf um Aufklärung«. Ein Praxisbericht von der Verhinderung des Kulturkampfes im Klassenzimmer, in: Philosophieunterricht in Nordrhein-Westfalen, Informationen des Fachverbandes Philosophie in NRW 41 (2006), S. 60–66. 31 Pfeifer, Volker (Hg.): Fair Play. Ethik 9/10, Braunschweig 2019, S. 106.

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Roland W. Henke

zu bringen, zu reflektieren, kritisch zu hinterfragen oder gar einen kulturellen Perspektivwechsel anzuregen. Stattdessen werden im speziellen Fall eurozentristische Vorurteile verfestigt und die Diskussionsbereitschaft muslimischer Mitschüler*innen im Keim erstickt. Nicht nur die Gruppe der Schüler*innen ist allerdings multikulturell, sondern auch die Gruppe der Lehramtsstudent*innen und letztlich die Gesellschaft, in der wir leben. In Sachen des pluralitäts- und religionssensiblen Umgangs gibt es in Bezug auf Themenwahl und Materialgestaltung großen Aufholbedarf. Hierfür Bewusstsein zu schaffen und zur Kreativität zu ermutigen, ist mir in meinen schulvorbereitenden und -begleitenden Seminaren ein großes Anliegen.32 Nur so können wechselseitige Achtung von Meinungs- und Religionsfreiheit und ein gewaltfreier Diskurs – beides Garanten für unsere individuelle freiheitliche Entfaltung – gelingen. R. H.: Ich danke Ihnen für das Gespräch und wünsche weiterhin Erfolg in der fachdidaktischen Betreuung Ihrer Student*innen.

Literatur Avenarius, Hermann / Blum, Werner / Döbrich, Peter / Gruber, Hans / Klieme, Eckhard / Reiss, Kristina / Rost, Jürgen / Tenorth, Heinz-Elmar / Vollmer, Helmut J.: Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise. (Bildungsforschung Bd. 1), Bonn, Berlin 2003, Bundesministerium für Bildung und Forschung, unveränderter Nachdruck 2011. URL: https://www.bildungsserver.de/onlineressource.html?onlin eressourcen_id=17614 [Stand: 22. 01. 2020]. Bildungsstandards für die Fächer Ethik, Humanistische Lebenskunde, LER, Philosophie, Philosophieren mit Kindern, Praktische Philosophie, Werte und Normen in der Sekundarstufe I, in: Ethik & Unterricht 4 (2006), S. 42–44. ULR: https://www.schulentwick lung.nrw.de/lehrplaene/upload/klp_SI/5017_Praktische_Philosophie_Sek.I.pdf [Stand: 22. 01.2020]. Birnbacher, Dieter: Philosophieren als Praxis: Eine Einschätzung des Schulversuchs Praktische Philosophie aus fachphilosophischer Sicht, in: Praktische Philosophie in Nordrhein-Westfalen. Erfahrungen mit einem neuen Schulfach. Abschlussbericht der Wissenschaftlichen Begleitung, in: Ministerium für Schule, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Schriftenreihe Schule in NRW, Heft 9038, Frechen 2002. Blesenkemper, Klaus: Was ist das ›Praktische‹ an der Praktischen Philosophie?, in: Albers, Franz Josef / Simon-Schaefer, Roland (Hg.): Philosophie konkret: Praktische Philoso-

32 Im Zusammenhang dieser Problemstellung entstand ein weiteres interessantes Studienprojekt im Wintersemester 2020/21, das sich unter der Überschrift »Turban statt Motoradhelm? – Eine Materialanalyse zur interkulturellen Fragestellung einer Toleranzgrenze« der Aufdeckung solcher Diskriminierungen und der Entwicklung von Alternativmaterial widmete.

Das Fach Praktische Philosophie als Herausforderung für die Lehrer*innenbildung

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phie in der Diskussion (= Philosophie und Bildung, hg. v. Martens, Ekkehard / Gefert, Christian / Steenblock, Volker, Bd. 8), Münster 2009. Blesenkemper, Klaus: Unterrichtsplanung, in: Nida-Rümelin, Julian / Spiegel, Irina / Tiedemann, Markus (Hg.): Handbuch Philosophie und Ethik, Bd. 1: Didaktik und Methodik, Paderborn 2015, S. 321–322. Böckenförde, Wolfgang: Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt/M. 1976. Brüning, Barbara / Henke, Roland W. (Hg.): Denk(t)räume wagen. Praktische Philosophie, Bd. 1, 5./6. Klasse, Berlin 2020. Henke, Roland W.: Die Demokratie und der Streit um Werte. Wertediskurse im Unterricht. Hg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2017. Draken, Klaus: Philosophie und Religion. Ein Erfahrungsbericht über ›gerechte religiöse Empörung‹ und ›philosophisch rationalen Diskurs‹, in: Mitteilungen des Fachverbandes Philosophie. Der Philosophieunterricht in NRW 50 (2014), S. 136–145. Draken, Klaus: »Kampf der Kulturen« oder »Kampf um Aufklärung«. Ein Praxisbericht von der Verhinderung des Kulturkampfes im Klassenzimmer, in: Philosophieunterricht in Nordrhein-Westfalen, Informationen des Fachverbandes Philosophie in NRW 41 (2006), S. 60–66. Fair Play. Ethik 9/10, hg. von Pfeifer, Volker, Braunschweig 2019. Höffe, Otfried: Ethikunterricht in einer pluralistischen Demokratie, in: Treml, Alfred K. (Hg.): Ethik macht Schule, Edition Ethik kontrovers 2 (1994). Kerncurriculum ›Praktische Philosophie‹. Erprobungsfassung von 1997, in: Ministerium für Schule Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.): Schriftenreihe Schule in NRW, Heft 9038, Frechen 2002, S. 131–196. Kernlehrplan Praktische Philosophie, in: Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.): Schriftenreihe Schule NRW, Nr. 9038, Frechen 2008. Ministerium für Schule, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.): Praktische Philosophie in Nordrhein-Westfalen. Erfahrungen mit einem neuen Schulfach. Abschlussbericht der Wissenschaftlichen Begleitung, in: Schriftenreihe Schule in NRW, Heft 9038, Frechen 2002.

PHYSIK

Jan Heysel / Thomas Hildebrand / Ulrich Blum

Lehramtsstudium Physik: Herausforderungen und Perspektiven zur Gestaltung von Studiengang und Schule

1.

Was uns bewegt: Überblick über den Artikel

Was bewegt uns in der Physikdidaktik in Bonn? Was treibt uns an in Forschung und Lehre? In diesem Beitrag skizzieren wir die Bedeutung und Herausforderungen, die wir für unser Fach und die Lehrerbildung sehen, sowie unsere Ansätze und Perspektiven dazu. Hierzu werfen wir ein Schlaglicht auf drei Aspekte unserer Arbeit: (1) Wir stellen zunächst die Bedeutung einer naturwissenschaftlichen Grundbildung und unseres Forschungsschwerpunkts »Nature of Science« vor; (2) wir beschreiben, wie wir mit dem MILeNa-Programm dem Lehrkräftemangel in der Physik begegnen und (3) durch welche strukturellen Veränderungen im Studiengang des Lehramts Physik wir dessen Studierbarkeit erhöht haben und wie weitere Verbesserungen aussehen könnten.

2.

Naturwissenschaftliche Grundbildung und unser Beitrag zu »Nature of Science«

»Warum brauchen wir Physikunterricht?« Diese Frage, die manch ein Jugendlicher wohl schon einmal gestellt hat, bewegt auch uns in der Fachdidaktik Physik. Wir schauen dazu auf eine Welt, in der weitgreifende Veränderungen stattfinden, die als Herausforderungen wahrgenommen werden können. Beispiele hierzu sind die Digitalisierung, die alle Lebensbereiche betrifft und eine »Kultur der Digitalität« schafft,1 der Klimawandel, der unsere Lebensgrundlage beeinflusst, oder die Corona-Pandemie, die unsere gewohnten Abläufe in Frage stellt. Sollen in einer demokratischen Gesellschaft im Kontext solcher Ereignisse Entscheidungen getroffen werden, setzt dies im Idealfall ein aktives Mitwirken, zumindest aber langfristig eine Zustimmung einer Mehrheit der Menschen in der

1 Vgl. Stalder, Felix: Kultur der Digitalität, Berlin 2016.

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Jan Heysel / Thomas Hildebrand / Ulrich Blum

Gesellschaft voraus. Um sich aktiv an solchen gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen beteiligen zu können, ist in vielen Kontexten eine naturwissenschaftliche Grundbildung notwendig.2 Denn während komplexe gesellschaftliche Kontexte komplexe soziale, politische, oft ethische und weitere Fragen aufwerfen, beruhen einige zentrale Herausforderungen unserer Zeit auf Problemstellungen, die durch eine naturwissenschaftliche Betrachtung beschrieben werden können. So besteht z. B. beim Klimawandel mit seinen diversen sozialen, wirtschaftlichen, politischen und ethischen Implikationen die naturwissenschaftliche Grundlage in dem physikalischen Phänomen des Treibhauseffekts. Damit Menschen in einer demokratischen Gesellschaft solche komplexen Herausforderungen besser verstehen und mündig an einem gesellschaftlichen Entscheidungsprozess partizipieren können, ist eine naturwissenschaftliche Grundbildung zwar nicht hinreichend, unserer Ansicht nach aber notwendig. Als Teil einer naturwissenschaftlichen Grundbildung, die mündige Entscheidungen in persönlichen und gesellschaftlichen Fragen in naturwissenschaftlichen Kontexten ermöglicht, wird in der fachdidaktischen Literatur auch ein Verständnis über Naturwissenschaften gesehen.3 Was dazu über naturwissenschaftliche Forschung unter epistemologischen, methodologischen, wissenschaftshistorischen, philosophischen, sozialen und soziologischen Aspekten gelernt werden soll und wie solche Lernprozesse orchestriert werden können, wird in der Literatur unter dem Begriff »Nature of Science« (NOS) diskutiert.4 Mit Bezug auf die deutschen Bildungsstandards finden sich NOS-Aspekte insbesondere im Kompetenzbereich »Erkenntnisgewinnung«; aber auch für die Kompetenzbereiche »Kommunikation« und »Bewertung« sind NOS-Aspekte relevant.5 Zu dieser Thematik tragen wir als Arbeitsgruppe in der Fachdidaktik Physik durch unsere Forschung als Design-Based Research6 bei: Als didaktischen Ansatz, der auf bestehenden Arbeiten7 aufbaut und diese vor dem Hintergrund der 2 Vgl. Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland [KMK]: Bildungsstandards im Fach Physik für den Mittleren Schulabschluss, München, Neuwied 2004. 3 Vgl. Billion-Kramer, Tim / Lohse-Bossenz, Hendrik / Dörfler, Tobias / Rehm, Markus: Professionswissen angehender Lehrkräfte zum Konstrukt Nature of Science (NOS). Entwicklung und Validierung eines Vignettentests (EKoL-NOS). Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften, 2020. 4 Vgl. Heering, Peter / Kremer, Kerstin: Nature of Science, in: Krüger, Dirk / Parchmann, Ilka / Schecker, Horst (Hg.): Theorien in der naturwissenschaftsdidaktischen Forschung, Berlin 2018. 5 Ebd. 6 Vgl. Design-Based-Research-Collective (Hg.): Design-Based Research. An Emerging Paradigm for Educational Inquiry. Educational Researcher 32,1 (2003), S. 5–8. 7 Vgl. Dagher, Zoubeida / Erduran, Sibel: Reconceptualizing the Nature of Science for Science Education: Why Does it Matter? Science and Education 25,1–2 (2016), S. 147–164; Duschl, Richard A. / Grandy, Richard: Two Views About Explicitly Teaching Nature of Science. Science

Lehramtsstudium Physik: Herausforderungen und Perspektiven

327

Lerntheorie des Deeper Learning8 in konkrete Lernarrangements überführt, entwickeln wir das Konzept der Perspektiven auf Naturwissenschaften.9 Im Rahmen dieses Ansatzes sollen die konstruierten Lernarrangements auf (1) methodische, (2) historische und (3) soziologische Perspektiven der naturwissenschaftlichen Forschung eingehen sowie (4) für philosophische, insbesondere normative Aspekte gesellschaftlicher Herausforderungen sensibilisieren.10 Die entwickelten Lernarrangements werden an Schulen erprobt, evaluiert und weiterentwickelt. Damit möchten wir einen Beitrag zur fachdidaktischen Debatte im Bereich NOS liefern sowie frei verfügbare digitale Lernumgebungen zur Verfügung stellen. Darüber hinaus bietet unsere Forschungstätigkeit für Studierende die Möglichkeit, z. B. im Rahmen von Abschlussarbeiten, vertiefte Einblicke in die Thematik NOS zu erhalten.

3.

Lehrkräftemangel in der Physik und das MILeNa-Programm

3.1

Dramatischer Lehrkräftemangel

Unterricht braucht Lehrkräfte, die diesen gestalten. Daher ist es problematisch, dass der Lehrkräftemangel im Fach Physik weiter wächst: Die Prognose zum Lehrkräftearbeitsmarkt in NRW des Schulministeriums NRW ging für Physiklehrkräfte in der Sek. II bereits von »sehr guten« Einstellungschancen aus11 und für Physiklehrkräfte in der Sek. I von »sehr guten« bis »hervorragenden«.12 »Sehr gut« bedeutet hier, dass »die Zahl der Bewerberinnen und Bewerber […] im Verhältnis zu den zu besetzenden Stellen ausgewogen oder geringfügig niedri-

8 9

10 11 12

and Education 22,9 (2013); Lederman, Norman G. / Lederman, Judith S.: Teaching and learning nature of scientific knowledge: Is it Déjà vu all over again? Disciplinary and Interdisciplinary Science Education Research 1,1 (2019); Zemplén, Gábor. Á.: Putting sociology first-reconsidering the role of the social in »nature of science« education, in: Science and Education 18,5 (2009), S. 525–559. Vgl. Sliwka, Anne: Pädagogik der Jugendphase, Weinheim, Basel 2018. Vgl. Heysel, Jan / Bertoldi, Frank: Expliziter Unterricht zu naturwissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung: »Perspektiven auf Naturwissenschaften« als Brücke zur Schulpraxis, in: Habig, Sebastian (Hg.): Naturwissenschaftlicher Unterricht und Lehrerbildung im Umbruch?, Duisburg-Essen 2021, S. 681–685. Kürzlich ist ein solches Lernarrangement für die sechste Klasse im Rahmen der Arbeitsgruppe Physik der Universität Bonn erprobt worden; ein Lernarrangement für die EF steht in der Entwicklung. Ministerium für Schule und Bildung [MSB]: Prognose zum Lehrkräftearbeitsmarkt in Nordrhein- Westfalen. Einstellungschancen für Lehrkräfte bis zum Schuljahr 2039/40, Düsseldorf 2018, S. 22. Ebd., S. 17.

328

Jan Heysel / Thomas Hildebrand / Ulrich Blum

ger« ist. »Hervorragend« soll heißen, dass »die Zahl der Bewerberinnen und Bewerber […] deutlich geringer [ist] als die Zahl der zu besetzenden Stellen«.13 In einer noch aktuelleren Studie schätzt Klemm, dass die Bedarfsdeckungsquote von Lehrkräften an den allgemeinbildenden Schulen in NRW (Sek. I und II) im Fach Physik »[f]ür den gesamten Zeitraum von 2018/19 bis 2030/31 [bei] lediglich 16,8 Prozent« liege.14 Dies bedeutet einen drastischen Mangel an Lehrkräften in der Physik, der zu massiven Unterrichtsausfällen oder einem starken Qualitätsverlust im Unterricht führen kann, wenn Physikunterricht überwiegend fachfremd unterrichtet wird. Ein zentraler Grund für die viel zu niedrige Bedarfsdeckungsquote ist das altersbedingte Ausscheiden von Physiklehrkräften bei einer zu geringen Nachwuchsrekrutierung. Damit rückt die Aufmerksamkeit auf die Lehrerbildung im Fach Physik und die Frage nach den Gründen für das offensichtlich zu geringe Interesse an dieser Studienrichtung.

3.2

Studierendenstatistik Lehramt Physik

Ein Blick auf die Zahl der Studierenden, die ein Lehramtsstudium in der Physik beginnen, markiert zunächst einmal den Status quo. Nach der aktuellen Studierendenstatistik der ›Deutschen Physikalischen Gesellschaft‹ haben im Wintersemester 2020/21 und Sommersemester 2021 in Deutschland 48 Studierende einen Bachelor für das Lehramt Physik in der Sek. I begonnen. Demgegenüber standen 1008 Studierende für die Sek. II (Gymnasium / Gesamtschule) und nur 12 Studierende für den Bereich der Lehrerbildung an Berufsschulen.15 Einen Masterstudiengang für das Lehramt Physik haben 40 Studierende für die Sek. I begonnen, 311 Studierende für die Sek. II (Gymnasium / Gesamtschule) und 13 Studierende für Berufsschule. Im Vergleich dazu haben 8886 Studierende einen Bachelor im Fachstudiengang Physik aufgenommen und 2532 einen Master im Fach Physik zu studieren begonnen. Hieraus lässt sich erkennen, dass die Einschreibezahlen für die Sek. I und Berufsschule im Lehramt Physik deutlich geringer sind als für die Sek. II (Gymnasium / Gesamtschule), wobei auch hier die Einschreibezahlen insgesamt zu niedrig ausfallen – so nachzulesen in der Studie von Klemm.16 Die Gründe für das geringe Studieninteresse am Lehramt Physik sind hingegen divers. Es scheint hier jedoch nicht am grundsätzlichen Interesse gegenüber dem fachlichen Gegenstand der Physik zu liegen, sondern bei einem 13 Ebd., S. 8. 14 Klemm, Klaus: Lehrkräftemangel in den MINT-Fächern: Kein Ende in Sicht, Essen 2020, S. 21. 15 Vgl. Düchs, Georg / Mecke, Klaus: Belastende Corona-Effekte. Statistik zum Physikstudium an den Universitäten in Deutschland 2021, in: Physik Journal 9,8 (2021), S. 80–85. 16 Vgl. Klemm, Klaus: Lehrkräftemangel in den MINT-Fächern: Kein Ende in Sicht, Essen 2020.

Lehramtsstudium Physik: Herausforderungen und Perspektiven

329

gegebenen Interesse an Physik scheint ein zusätzliches Interesse an Pädagogik selten zu sein, wie es für ein Lehramtsstudium notwendig ist. Dass der Arbeitsmarkt für Physikerinnen und Physiker nahezu Vollbeschäftigung aufweist, lässt bei einem Interesse für Physik auch Überlegungen der Berufssicherheit als Gründe für ein Lehramtsstudium quasi ausscheiden.17 Bei einem gegebenen pädagogischen Interesse wiederum scheint das Fach Physik kein gutes Image zu haben.

3.3

MILeNa

Um die geringe Zahl an Studienanfängern im Lehramt Physik zu steigern, beteiligt sich die Universität Bonn am MILeNa-Programm zur MINT-LehrkräfteNachwuchsförderung.18 Dieses Programm wurde 2013 von der RWTH Aachen initiiert und wird mittlerweile an den nordrhein-westfälischen Universitäten Aachen, Bonn, Duisburg-Essen und Wuppertal in Zusammenarbeit mit der Metropolregion Rheinland e. V. angeboten und durchgeführt. Schülerinnen und Schüler der gymnasialen Oberstufe werden von ihren Lehrerinnen und Lehrern gezielt zur Programmteilnahme eingeladen. Im Rahmen einer Auftaktveranstaltung an der RWTH Aachen sowie eines dreitägigen Basisworkshops an einer der teilnehmenden Universitäten werden die Schülerinnen und Schüler darauf vorbereitet, eigenständige Lehrerfahrungen zu sammeln. Die mitwirkenden Schulen bieten für solche Lehrgelegenheiten unterschiedliche Möglichkeiten an, die von der Gestaltung des Unterrichts für jüngere Schülerinnen und Schüler im Rahmen von Grundschul-Schnupperprogrammen über die Mitarbeit in freiwilligen AGs bis hin zur Übernahme einzelner Unterrichtssequenzen in niedrigeren Klassenstufen reichen. Ergänzt werden diese Lehrgelegenheiten an der eigenen Schule durch Wahlworkshops zu unterschiedlichen Themen, die von den Hochschulen im Laufe des Jahres angeboten werden. Als Universität Bonn haben wir hierzu z. B. eine »MILeNa Video Challenge« angeboten, bei der die teilnehmenden »MILeNas« eigene Erklärvideos für Unterrichtssituationen produziert haben. Abgerundet wird das Programm nach einem Jahr mit einer Abschlussveranstaltung, bei der zum einen die eigenen Erfahrungen der teilnehmenden Schülerinnen und Schüler reflektiert werden und zum anderen über die Perspektive Lehramtsstudium durch die einzelnen Hochschulen intensiv und detailliert informiert wird. 17 Vgl. Heinrich, Alexander / Friebel, Susanne / Metzelthin, Anja: Der Arbeitsmarkt für Physikerinnen und Physiker, in: Physik Journal 19,12 (2020), S. 54. 18 Vgl. Lüders, Christina / Schorn, Bernadette / Salinga, Christian / Blum, Ulrich / Heinke, Heidrun: MINT-Lehrer-Nachwuchsförderung: Status quo und Ausblick, in: Habig, Sebastian (Hg.): Naturwissenschaftliche Kompetenzen in der Gesellschaft von morgen, Wien 2020.

330

Jan Heysel / Thomas Hildebrand / Ulrich Blum

Da das Programm im Laufe der vergangenen Jahre mehrfach strukturelle Veränderungen erfahren hat, ist es bisher nicht möglich, eine systematische Erfolgsanalyse durchzuführen. Aus den individuellen Rückmeldungen der beteiligten Schülerinnen und Schülern ist jedoch deutlich abzulesen, dass nach der Teilnahme am MILeNa-Programm eine Studienentscheidung für oder gegen das Lehramtsstudium wesentlich fundierter erfolgt. Denn zur Grundlage standen nun die wesentlich weiter gefassten und umfangreicheren Kenntnisse über das Lehramtsstudium und den Lehramtsberuf sowie die eigenen unterrichtspraktischen Lehrerfahrungen. Damit dieses Programm einen merklichen Beitrag zur Gewinnung zukünftiger MINT-Lehrkräfte liefern kann, ist eine flächendeckende Umsetzung sowohl mit Blick auf die beteiligten Universitäten als auch mit Blick auf die beteiligten Schulen notwendig. Allein an der Universität Bonn konnte die Zahl der beteiligten Schulen in den vergangenen Jahren deutlich gesteigert werden. Mittlerweile nehmen aus dem Bonner Umfeld neun Schulen am MILeNa-Programm teil, was dazu geführt hat, dass auch während des vergangenen Jahres trotz der Einschränkungen durch die Corona-Pandemie ein Bonner MILeNa-Kurs angeboten werden konnte. Diese Entwicklung nährt die Hoffnung, dass die Zahl der Lehramtsstudentinnen und Lehramtsstudenten in den MINT-Fächern bereits in den nächsten Jahren leicht ansteigen wird, ebenso wie mittelfristig die Zahl der Absolventinnen und Absolventen, die anschließend ins Referendariat wechseln.

4.

Herausforderung Lehramtsstudium Physik

4.1

Studienabbruchsquote

Mit Blick auf die deutschlandweiten Studieneinschreibungen zum Lehramt Physik ist weiterhin festzustellen, dass die Zahl der Studierenden, die einen Masterstudiengang im Lehramt Physik aufnehmen, nur rund einem Drittel der Studienanfänger im Bachelor entspricht. Deutschlandweit muss also von einer Abbrecherquote von rund zwei Dritteln im Lehramtsstudiengang Physik ausgegangen werden. Am Studienstandort Bonn (Abbildung 1) zeigt sich eine etwas erfreulichere Perspektive, da rund die Hälfte der Studienanfänger ihr Lehramtsstudium im Fach Physik abschließt. Auch wenn die Abbrecherquote damit deutlich unter dem Bundesdurchschnitt liegt, ist sie mit Blick auf die schulischen Bedarfe noch immer deutlich zu hoch.

331

Lehramtsstudium Physik: Herausforderungen und Perspektiven

Teilnehmendenzahlen im Lehramtsstudiengang Physik an der Universität Bonn 35

Anzahl Studierende

30 25

Anfang Bachelor

20 15

Ende Master

10 5 0 WS WS WS WS WS WS WS WS WS WS 11/12 12/13 13/14 14/15 15/16 16/17 17/18 18/19 19/20 20/21

Semester des Studienbeginns einer Kohorte Abb. 1: Entwicklung der Studierendenzahlen im Lehramtsstudiengang Physik an der Universität Bonn zu Beginn und am Ende des Studiums in den vergangenen zehn Jahren.19

4.2

Vorgaben für das Lehramtsstudium

Das Lehramtsstudium Physik stellt somit offenbar eine Herausforderung dar, die eine bedeutende Zahl an Studierenden nicht bewältigen kann oder möchte. Weiterführend ist hier ein Blick auf die verschiedenen Rahmenbedingungen des Studiengangs. Zielführend ist zunächst eine ausgewogene Balance von fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Modulen. Die Kultusministerkonferenz (KMK) setzt für die schulische Bildung die Rahmenbedingungen, welche in den ländergemeinsamen inhaltlichen Anforderungen zum Ausdruck gebracht werden.20 Beachtenswert ist, dass die KMK für das Lehramtsstudium an Gymnasien der Sekundarstufe II die identischen Themenfelder vorsieht, die auch im fachwissenschaftlichen Bachelorstudium Physik enthalten sind. 19 Als Anzahl der Studierenden zum Zeitpunkt »Anfang Bachelor« wird die Zahl der Studierenden im Modul »Fachdidaktik II« (zweites Bachelorsemester im Regelstudium) angegeben und für den Zeitpunkt »Ende Master« die Zahl der Studierenden im Praxissemester (vorletztes Semester im Masterstudiengang, d. h. 9. Hochschulsemester bei einer Regelstudienzeit). Auf der Zeitachse ist das Semester des Studienbeginns einer Kohorte angegeben. Wechsel von Studierenden zwischen Kohorten aufgrund von längeren Studienzeiten als Regelstudienzeit sind möglich. Für die Studierendenkohorten, die ab dem WS 2018/19 ihr Studium begonnen haben, liegen die Zahlen zum Praxissemester noch nicht vor. 20 Vgl. Sekretariat der Kultusministerkonferenz [KMK]: Ländergemeinsame inhaltliche Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerbildung, Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 16. 10. 2008 i. d. F. vom 16. 05. 2019, Berlin 2019.

332

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In der Experimentalphysik sind die Themen »Mechanik«, »Thermodynamik«, »Elektrodynamik«, »Optik«, »Atom- und Quantenphysik«, »Festkörper-, Kernund Elementarteilchenphysik« sowie »Kosmologie« zu behandeln, die den experimentalphysikalischen Vorlesungen der ersten fünf Semester des Bachelorstudiums sowie einer fachwissenschaftlichen Vorlesung des Masterstudiums entsprechen. Ähnlich verhält es sich mit der Theoretischen Physik, die mit den Themenfeldern »Theoretische Mechanik«, »Thermodynamik«, »Elektrodynamik« und »Quantentheorie« die Vorlesungen der Theoretischen Physik vom zweiten bis fünften Fachsemester abdeckt. Hinzu kommen Laborpraktika auf Anfänger- und Fortgeschrittenenniveau sowie fachwissenschaftliche Themen mit Anwendungsund Schulbezug wie beispielsweise »Physik und Sport«, »Klima und Wetter« oder »Regel- und Prozesstechnik«. Darüber hinaus müssen die notwendigen Mathematikkenntnisse wie »Vektoranalysis« oder »Partielle Differentialgleichungen« vermittelt werden. Hiermit verlangt der Gesetzgeber ein Lehramtsstudium Physik, das im Wesentlichen die fachwissenschaftlichen Inhalte eines fachwissenschaftlichen Bachelorstudiums Physik sowie zusätzlich schulrelevante Themenfelder umfasst. Wenngleich hierfür sowohl das Bachelor- als auch das Masterstudium zur Verfügung stehen, bleibt aufgrund des Studiums eines weiteren Faches, der Bildungswissenschaften sowie der Fokussierung des Masterstudiums auf das Praxissemester für die Behandlung aller geforderten Themenfelder letztendlich deutlich weniger Zeit, als hierfür eigentlich notwendig wäre. Sowohl diese formalen Rahmenbedingungen als auch die unterschiedliche Zielrichtung des pädagogisch ausbuchstabierten Lehramtsstudiums und des fachwissenschaftlichen Studiums erfordern eine eigenständige Gestaltung des Lehramtsstudiums Physik und verbieten es, dieses als einfachen »Anhang« zum fachwissenschaftlichen Studium zu betrachten. Ein solches Lehramtsstudium sui generis wurde bereits vor längerer Zeit von der ›Deutschen Physikalischen Gesellschaft‹ gefordert.21 Besonders aufgrund von kleinen Kohortengrößen mit teils einstelligen Absolvierendenzahlen stößt dies jedoch auf praktische Schwierigkeiten.

4.3

Der Lehramtsstudiengang Physik in Bonn

In Bonn besteht der Lehramtsstudiengang Physik aus einer Kombination von Modulen, die denen des Fachstudiengangs entsprechen und solchen, die speziell dem Lehramt angepasst wurden. Darüber hinaus existieren neben den eigentli21 Vgl. Deutsche Physikalische Gesellschaft e.V. (Hg.): Zur fachlichen und fachdidaktischen Ausbildung für das Lehramt Physik, Bad Honnef 2014.

Lehramtsstudium Physik: Herausforderungen und Perspektiven

333

chen Fachdidaktikseminaren noch weitere lehramtsspezifische Module. So sind z. B. einige Veranstaltungen der Experimentalphysik im Fachstudiengang und Lehramtsstudiengang Physik identisch, um den Studierenden ein authentisches und umfassendes Bild dieser Inhalte auf einem hohen fachwissenschaftlichen Niveau anbieten zu können. Insbesondere in der Theoretischen Physik und zu Praktika bietet das Lehramt Bonn speziell zugeschnittene Module an, um die besonderen Anforderungen im Lehramtsberuf zu erfüllen.

4.4

Weiterentwicklungen

Ausgehend von Gesprächen mit Lehramtsstudentinnen und Lehramtsstudenten der Physik, konnten im Verlauf der vergangenen Jahre bereits mehrere Modifikationen des Lehramtsstudiums umgesetzt werden, die zu einer besseren Studierbarkeit geführt haben. So wurde beispielsweise die ursprünglich im dritten Fachsemester vorgesehene erste Vorlesung zur Theoretischen Physik inhaltlich aufgespalten und auf das zweite und dritte Fachsemester verteilt. Somit erfolgt der erste Kontakt mit der aus der Schule in der Regel unbekannten und mit größeren Herausforderungen an die mathematischen Rechenfähigkeiten verbundenen Theoretischen Physik bereits im ersten Studienjahr. Gleichzeitig wird durch die zeitliche Streckung des Lerninhalts die Intensität der Konfrontation mit diesem Thema reduziert. Die ergänzenden Mathematischen Methoden werden frühzeitig behandelt und greifen zumindest teilweise Inhalte auf, die bereits im ersten Fachsemester in der Experimentalphysikvorlesung behandelt wurden. Wenngleich diese organisatorische Änderung zu einer verbesserten Studierbarkeit des Lehramtsstudiums Physik geführt hat, so ist die Zahl der Studienabbrüche immer noch deutlich zu hoch. Eine erneute umfassende Befragung aller Lehramtsstudentinnen und Lehramtsstudenten der Physik wurde bereits in Angriff genommen, um die weiterhin bestehenden Schwierigkeiten noch besser identifizieren und Lösungsmöglichkeiten entwickeln zu können. Klar ist bereits jetzt, dass zukünftig eine engere Begleitung der Lehramtsstudentinnen und Lehramtsstudenten im ersten Fachsemester erfolgen soll, mit der insbesondere Defizite bei der mathematischen Vorbildung frühzeitig erkannt und mit ergänzenden Angeboten angegangen werden können. Besonders hilfreich sowohl für die Steigerung der Zahl der Studentinnen und Studenten als auch für den erfolgreichen Abschluss des Lehramtsstudiums Physik wäre die Möglichkeit eines einfachen Wechsels vom fachwissenschaftlichen Bachelorstudiengang Physik in den Master of Education. Studentinnen und Studenten, die erst im Laufe des Bachelorstudiums Physik ihr Interesse am Physik-Lehramt erkennen, fällt ein Wechsel des Studiengangs oftmals sehr

334

Jan Heysel / Thomas Hildebrand / Ulrich Blum

schwer, weil zum einen die notwendigen fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Inhalte des zweiten Unterrichtsfaches und zum anderen die notwendigen bildungswissenschaftlichen Module sowie die vorgeschriebenen Praxiselemente fehlen. Um diesem Problem besser begegnen zu können, soll einerseits zukünftig die inhaltliche Gestaltung des Bachelorstudiengangs Physik selbst eine bessere Durchlässigkeit in das Lehramtsstudium durch eine geeignete Ergänzung zusätzlicher Wahlpflichtmodule ermöglichen. Andererseits muss mit den Bildungswissenschaften und der Mathematik, Chemie und Informatik als naheliegenden zweiten Unterrichtsfächern abgestimmt werden, wie ein solcher Wechsel erleichtert werden kann.

5.

Fazit

In den letzten zehn Jahren haben wir als Fachgruppe Physik/Astronomie der Universität Bonn das Lehramtsstudium Physik kontinuierlich weiterentwickelt und werden dies auch in Zukunft fortsetzen, um den Studiengang immer weiter zu verbessern. Mit dem MILeNa-Programm begegnen wir den bisher im Vergleich zum Bedarf an Physiklehrkräften zu geringen Einschreibezahlen. Durch unsere Forschungstätigkeit in der Fachdidaktik und die Gestaltung unserer Fachdidaktikmodule möchten wir dazu beitragen, dass der Physikunterricht mehr und mehr eine naturwissenschaftliche Grundbildung fördert, die junge Menschen dazu befähigt, mündige Entscheidungen zu persönlichen oder gesellschaftlichen Herausforderungen mit einem naturwissenschaftlichen Kontext treffen zu können.

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Lehramtsstudium Physik: Herausforderungen und Perspektiven

335

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Jan Heysel / Thomas Hildebrand / Ulrich Blum

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ROMANISTIK

Sarah Dietrich-Grappin

Zur Fachkultur und Fachspezifik romanistischer Lehrerbildung und Professionsforschung. Versuch einer Bestandsaufnahme im Sinne reflexiver Praxis

1.

Einleitung

Die vorliegende Festschrift bringt erneut die Wertschätzung der eigenen Fachkultur für die Lehrerinnenbildung am Standort Bonn zum Ausdruck,1 an dem seit der Wiedereinführung des Lehramts 2011 das fachspezifische Profil durch folgende Maßnahmen geschärft wurde:2 – Einführung eines polyvalenten Bachelor of Arts bzw. Science und Master of Education, dabei hohe Durchlässigkeit in fachwissenschaftlichen Modulen, die gemeinsam von Fach- und Lehramtsstudierenden besucht werden; – Zuordnung der fachdidaktischen Professuren (bzw. abgeordneten Lehrkräfte) zu Instituten bzw. Fakultäten, zusätzliche Mitgliedschaft beim Bonner Zentrum für Lehrerbildung (BZL), an dem die bildungswissenschaftlichen Lehrstühle angesiedelt sind; – Qualifikation als reflective practitioner durch fachdidaktische Betreuung des Praxissemesters bzw. fachspezifische Studienprojekte im Master of Education; – Zusammenarbeit zwischen fachdidaktischen Akteuren der ersten und zweiten Phase, d. h. zwischen Universität und dem ZfsL Bonn (gemeinsame Jahrestagung der »AG Fachdidaktiken und Bildungswissenschaften«). Mit den Ländergemeinsamen inhaltlichen Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerbildung wurde der Berufsfeldbezug der ersten Phase und ihre Bedeutung für die Professionalisierung von Lehrkräften ganz grundsätzlich aufgewertet:

1 Vgl. Geiss, Peter / Ißler, Roland / Kaenders, Rainer: Fachkulturen in der Lehrerbildung. Einleitung, in: Dies. (Hg.): Fachkulturen in der Lehrerbildung. Unter Mitarbeit von Victor Henri Jaeschke, Göttingen 2016 (Wissenschaft und Lehrerbildung, Band 1), S. 11–17. 2 Vgl. Glaum, Robert: Grußwort, in: Geiss, Peter / Ißler, Roland / Kaenders, Rainer (Hg.): Fachkulturen in der Lehrerbildung. Unter Mitarbeit von Victor Henri Jaeschke, Göttingen 2016 (Wissenschaft und Lehrerbildung, Band 1), S. 7–10, hier S. 7f.

340

Sarah Dietrich-Grappin

Sie [die fachwissenschaftliche und fachdidaktische Ausbildung im Studium, SDG] muss für die nachfolgenden Bildungsphasen nicht nur anschlussfähig sein, sondern auch auf den Kompetenzerwerb in diesen Phasen einschlägig vorbereiten.3

Da ich erst seit 2020 Bonner Universitätsmitglied bin und zuvor in anderen Lehrund Forschungskontexten in Baden-Württemberg und der Schweiz tätig war, stellt die Festschrift für mich einen willkommenen Anlass dar, meine eigene – vergangene wie aktuelle – Praxis als Akteurin der romanistischen Lehrerbildung der ersten Phase auf ihre Fachkultur hin zu befragen, um das eigene Leitbild zu reflektieren. Das aus der englischsprachigen Hochschuldidaktik stammende Konzept der reflexiven Praxis soll in diesem Beitrag als Methode zum Tragen kommen; es lässt sich definieren als »Fähigkeit, aktuelles Handeln im Kontext von Handlungserfahrung und potentieller Handlungsentwicklung abzubilden und zu steuern.«4 Handlungsleitend war und ist für mich die Prämisse, dass Bildung nur vom Subjekt aus denkbar und möglich ist.5 Es muss in der Lehrerinnenbildung darum gehen, gemeinsam und dialogisch neue Erkenntnisse zum Handlungskontext Schule und Fachunterricht zu generieren – ein Handlungskontext, der sich aufgrund wechselnder Generationen und institutioneller Vorgaben in stetigem Wandel befindet und zu dem sowohl Dozierende als auch Studierende bereits individuelle Zugänge haben. Fachspezifische Züge im weiten Sinne ergeben sich durch den Unterrichtsgegenstand einer romanischen Sprache (bzw. Kultur und Literatur) als Fremdsprache. Für die Lehrerbildung im Bereich der Fremdsprachen ist bedeutsam, dass die jeweilige Zielsprache nicht nur als Unterrichtsgegenstand (neben Kultur und Literatur), sondern auch als Unterrichtsmedium zu bedenken ist. Dies wirkt sich auf fachspezifische Modellierungen des Professionswissens aus, bei dem – im Vergleich zu anderen Fächern – Fachwissen und fachdidaktisches Wissen als gering strukturierte Wissensdo-

3 Sekretariat der Kultusministerkonferenz (Hg.): Ländergemeinsame inhaltliche Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerbildung, Berlin, Bonn 2008. URL: https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2008/2008_1 0_16-Fachprofile-Lehrerbildung.pdf [Stand: 08. 09. 2021], S. 3; zuvor wurden in den Standards für die Lehrerbildung: Bildungswissenschaften (Vgl. Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder (Hg.): Standards für die Lehrerbildung: Bildungswissenschaften, 2004. URL: https://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2004/2004_12_ 16-Standards-Lehrerbildung.pdf [Stand: 08. 09. 2021]) bereits Kompetenzprofile zum pädagogischen Wissen (Unterrichten, Erziehen, Beurteilen, Innovieren) für die erste Phase ausgewiesen (vgl. ebd., S. 8–13). 4 Bräuer, Gerd: Das Portfolio als Reflexionsmedium für Lehrende und Studierende, 2. Auflage, Opladen, Toronto, Stuttgart 2016 (Kompetent lehren, Band 6), S. 19. 5 Vgl. Abendroth-Timmer, Dagmar: Reflexive Lehrerbildung: Konzepte und Perspektiven für den Einsatz von Unterrichtssimulation und Videographie in der fremdsprachendidaktischen Ausbildung, in: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 20, 1 (2011), S. 3–41, hier S. 6.

Zur Fachkultur und Fachspezifik romanistischer Lehrerbildung

341

mänen aufzufassen sind und weniger stark miteinander korrelieren.6 Zweitens ist für Fremdsprachen eine Vielfalt an potentiellen beruflichen Handlungskontexten charakteristisch, die vom Vorschul- und Primarbereich über die weiterführenden Schulen bis zum tertiären Bildungssektor und in die Erwachsenenbildung reichen.7 Fachspezifische Züge der romanistischen Lehrerinnenbildung im engen Sinne ergeben sich aus der Diversität der Disziplin selbst mit ihren auf plurizentrischen Sprachen basierenden Teilphilologien, der Vielfalt an Zugängen seitens romanistischer Lehrerbildner und der bildungspolitischen Verankerung romanischer Sprachen als i. d. R. nachgelernte Fremdsprachen, woraus eine eigenständige Perspektive auf die Themenkomplexe Mehrsprachigkeit und plurikulturelles Lernen erwächst.8

2.

Romanistische Lehrerbildung im Spiegel bildungswissenschaftlicher Paradigmen

Während die Fremdsprachendidaktik seit ihrer empirischen Wende in den 1980er Jahren intensiv den »good language learner«9 und die Lernendenperspektive in den Blick nahm, stellt das Interesse an der Lehrperson ein verhältnismäßig junges Feld theoretischer und empirischer Forschung dar, das im deutschsprachigen Raum um die Jahrtausendwende auflebte10 und sich dabei »an übergeordneten Paradigmen bildungswissenschaftlicher L. [= Lehrerforschung, SDG]«11 orientierte. In diesem Sinne werden die folgenden Überlegun6 Vgl. Blömeke, Sigrid: Einleitung: Professionelle Kompetenzen im Studienverlauf, in: Dies. / Bremerich-Vos, Albert / Kaiser, Gabriele / Nold, Günther / Haudeck, Helga / Keßler, Jörg-U. / Schwippert, Knut (Hg.): Professionelle Kompetenzen im Studienverlauf. Weitere Ergebnisse zur Deutsch-, Englisch- und Mathematiklehrerausbildung aus TEDS-LT, Münster, New York, München, Berlin 2013, S. 7–23, hier S. 13. 7 Vgl. Abendroth-Timmer, Dagmar: Lehrerforschung, in: Surkamp, Carola (Hg.): Metzler Lexikon Fremdsprachendidaktik, Stuttgart 2017, S. 196–199, hier S. 196. 8 Vgl. Ißler, Roland: Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt. Ein bildungsorientierter Ansatz für die romanischen Fremdsprachendidaktiken, in: Ders. / Geiss, Peter / Kaenders, Rainer (Hg.): Fachkulturen in der Lehrerbildung. Unter Mitarbeit von Victor Henri Jaeschke, Göttingen, Bonn 2016 (Wissenschaft und Lehrerbildung, Band 1), S. 107–154, hier S. 111. 9 Rubin, Joan: What the ›Good Language Learner‹ Can Teach Us, in: TESOL Quarterly 9, 1 (1975), S. 41–51. 10 Vgl. Trautwein, Matthias: Professionsforschung in der Fremdsprachendidaktik, in: Hallet, Wolfgang / Königs, Frank G. (Hg.): Handbuch Fremdsprachendidaktik, 1. Aufl., Seelze 2010, S. 346–350, hier S. 346; Roters, Bianca / Nold, Günter / Haudeck, Helga / Keßler, Jörg-U. / Stancel-Pia˛tak, Agnes: Professionelles Wissen von Studierenden des Lehramts Englisch, in: Blömeke, Sigrid / Bremerich-Vos, Albert / Kaiser, Gabriele / Nold, Günther / Haudeck, Helga / Keßler, Jörg-U. / Schwippert, Knut (Hg.): Kompetenzen von Lehramtsstudierenden in gering strukturierten Domänen. Erste Ergebnisse aus TEDS-LT, Münster 2011, S. 77–99, hier S. 79. 11 Abendroth-Timmer, Dagmar: Lehrerforschung, S. 197.

342

Sarah Dietrich-Grappin

gen aus kompetenzorientierter, strukturtheoretischer und berufsbiographischer Perspektive angestellt; trotz diverser Schnittmengen zwischen den Paradigmen wird mit diesem Vorgehen das Ziel verfolgt, Fachspezifika systematisch und transdisziplinär anschlussfähig herausarbeiten zu können. Der kompetenzorientierte Ansatz führte auch innerhalb der Fremdsprachendidaktik zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit professionsorientierten Fragestellungen, wenngleich ihm gerade hier – und im Besonderen seitens der romanistischen Fachdidaktik – immer wieder Vorbehalte entgegengebracht werden. Dagegen wird das strukturtheoretische und berufsbiographische Paradigma innerhalb der Philologien weniger kontrovers diskutiert, dies aufgrund ihrer subjektorientierten und humanistischen Tradition.

2.1

Kompetenzorientierter Ansatz

Der Expertise-Ansatz ist auf den Plan gerufen, wenn es im vorangehenden Sammelband »Fachkulturen in der Lehrerbildung« heißt: »Wenig unterminiert diese Autorität im Schulalltag stärker, als von anderen Leistungen zu verlangen, die man selbst nicht erbringen und bei ehrlicher Betrachtung auch nicht beurteilen kann.«12 Shulman wandte sich mit seiner Modellierung von Professionswissen als content knowledge (Fachwissen), pedagogical content knowledge (fachdidaktisches Wissen) und pedagogical knowledge (pädagogisches Wissen)13 gegen eine »Unterrichtsforschung, in der die Gegenstände verschwunden waren«.14 Er wurde im deutschsprachigen Raum verstärkt nach PISA aufgegriffen. So entwickeln Baumert und Kunter für die COACTIV-Studie15 ein Modell professioneller Handlungskompetenz, in dem das Professionswissen bzw. dessen Ausdifferenzierung (Kompetenzbereiche und deren Kompetenzfacetten) einen zentralen Stellenwert einnimmt.16 12 Geiss, Peter / Ißler, Roland / Kaenders, Rainer: Fachkulturen in der Lehrerbildung, S. 14. 13 Vgl. Shulman, Lee: Knowledge and Teaching: Foundations of the New Reform, in: Harvard Educational Review 57 (1987), S. 1–22, hier S. 8; es werden weitere Domänen aufgelistet, die in der Regel unter den drei genannten subsumiert werden (curriculum knowledge, knowledge of learners and their characteristics, knowledge of educational contexts, knowledge of educational ends). 14 Baumert, Jürgen / Kunter, Mareike: Stichwort: Professionelle Kompetenz von Lehrkräften, in: ZfE 9,4 (2006), S. 469–520, hier S. 479f. 15 Für die COACTIV-Studie (Cognitive Activation in the Classroom: The Orchestration of Learning Opportunities for the Enhancement of Insightful Learning in Mathematics) wurden die Mathematiklehrkräfte der PISA-Klassen 2003/04 getestet und befragt. Vgl. Kunter, Mareike / Baumert, Jürgen / Blum, Werner / Neubrand, Michael (Hg.): Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. Ergebnisse des Forschungsprogramms COACTIV, Münster 2011. 16 Flankiert wird es zudem von weichen Kompetenzfacetten (Überzeugungen, Motivation und Selbstregulation) im Sinne des Kompetenz-Begriffs der Klieme-Expertise. Vgl. Baumert, Jür-

Zur Fachkultur und Fachspezifik romanistischer Lehrerbildung

343

Ein wichtiger Beitrag des kompetenzorientierten Ansatzes für die romanistische Lehrerinnenbildung liegt darin, den Blick auf das Unterrichtsmedium bzw. die berufsspezifische Fremdsprachenkompetenz als zentrale Kompetenz einer Fremdsprachenlehrkraft zu lenken. Der Sprachpraxis wird in den Standards der Lehrerbildung sowohl in den Studieninhalten als auch im fachspezifischen Kompetenzprofil durch Nennung an erster Stelle ein Sonderstatus zugewiesen: Studierende sollten »über ein vertieftes Sprachwissen und ›nativnahes‹ Sprachkönnen in der Fremdsprache«17 verfügen. Auch wenn die Bedeutung sprachpraktischer Kompetenzen für die Profession außer Frage steht, so wird ihre Einordnung in ein übergeordnetes Kompetenzmodell seitens der Fremdsprachendidaktik kontrovers diskutiert. Während Appel sie als prozedurale Komponente dem Gegenstandswissen zum Bereich Sprache (neben Literatur, Kultur) zuordnet,18 wird im schweizerischen Projekt »Berufsspezifische Sprachkompetenzen C1*« die Nähe zum fachdidaktischen Wissen bzw. die Notwendigkeit der Kontextualisierung betont: »Eine hohe allgemeine Sprachkompetenz reicht nicht aus, um einen lernwirksamen zielstufengerechten Unterricht sprachlich zu gestalten.«19 Losgelöst von Shulman setzt Wipperfürth für ihre Diskussion fremdsprachenspezifischer Standards die drei miteinander verwobenen Kompetenzbereiche Lehrersprache, Mehrsprachigkeit und interkulturelle Kompetenz an: Die drei Bereiche Lehrersprache, Mehrsprachigkeit und interkulturelle Kompetenz wurden ausgewählt, da sie zentrale Handlungs- bzw. Zielbereiche des Fremdsprachenunterrichts darstellen. Das Unterrichten in einer Fremdsprache bereitet das grundlegende Problem, dass das Ziel gleichzeitig den Weg dorthin darstellt: Eine (Fremd-) Sprache muss durch die (Fremd-)Sprache gelernt werden.20

Unabhängig davon, welcher theoretischen Einordnung man sich anschließt, stellt ein berufsspezifischer Zielsprachengebrauch in situ Bezug zum Handlungskontext Französisch-, Spanisch- oder Italienischunterricht her. In meiner Bonner Lehre versuche ich in einzelsprachlichen Lehrveranstaltungen jene Phasen zielsprachlich zu gestalten, in denen der spätere Handlungskontext unmittelbar zitiert wird (Vorstellung von Lehrwerksaufgaben, selbst erstellten Verlaufsplänen

17 18 19

20

gen / Kunter, Mareike: Das Kompetenzmodell von COACTIV, in: Kunter, Mareike / Baumert, Jürgen / Blum, Werner / Neubrand, Michael (Hg.): Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. Ergebnisse des Forschungsprogramms COACTIV, Münster 2011, S. 29–53, hier S. 31. KMK 2008, S. 44. Vgl. Appel, Joachim: Erfahrungswissen und Fremdsprachendidaktik. Dissertation, München 2000. Egli Cuenat, Mirjam / Kuster, Wilfrid / Bleichenbacher, Lukas / Klee, Peter / Roderer, Thomas: Aufbau berufsspezifischer Sprachkompetenzen in der Aus- und Weiterbildung zur Fremdsprachenlehrperson, in: Beiträge zur Lehrerinnen- und Lehrerbildung 34,1 (2016), S. 13–20, hier S. 14. Wipperfürth, Manuela: Welche Kompetenzstandards brauchen professionelle Fremdsprachenlehrer und -lehrerinnen?, in: Forum Sprache 1,2 (2009), S. 6–22, hier S. 13.

344

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und Unterrichtsmaterialien, Wiedergabe von Unterrichtsvideographien, Unterrichtssimulationen als Studienleistung). Es handelt sich um Reminiszenzen meiner Lehrerfahrung an der PH Freiburg und Bern, wo im Fach Französisch ausschließlich zielsprachlich gelehrt wird und ich zur Überzeugung gelangt bin, den anvisierten Handlungskontext sinnvoll durch Interaktionen und Arbeitsmaterialien (Arbeitsaufträge, Folien und Merkblätter, didaktisch-methodisches Glossar) spiegeln zu können. Im Hinblick auf das Gymnasial- und Gesamtschullehramt sind zudem kooperative Lehrkonzepte mit der Sprachpraxis gefragt, da in universitären Sprachpraxis-Modulen (Prüfungs)leistungen zu erbringen sind, die sich am Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen21 bzw. dessen native speaker-Ideal orientieren und von der späteren Berufspraxis weitgehend entkoppelt sind.22 Nimmt man die fremdsprachenspezifischen Standards von Wipperfürth zum Maßstab (Lehrersprache, Mehrsprachigkeit und interkulturelle Kompetenz),23 sollte das Ziel solcher Kooperationen sein, den Studierenden als Noch-Lernenden früh und erfahrungsbasiert das Ideal eines plurilingual und pluricultural statt native speaker zu vermitteln. Dazu gehören eine positive Fehlerkultur (Fehler als Ausdruck von Vorwissen, Kommunikationsstrategie und Lernanlass, Scaffolding in der mündlichen Interaktion, Einsatz fehlerdidaktischer Maßnahmen) und die Relativierung sprachlich-kultureller Reinheitsvorstellungen (sprachgebrauchsbasierte Definition von Mehrsprachigkeit, subjektzentrierter Kulturbegriff). Ein dringendes Desiderat besteht deutschlandweit in der Einrichtung von berufsbegleitenden Master-Studiengängen für Fremdsprachendidaktik24 zur besseren fachdidaktischen Ausbildung von Lektoren und Lektorinnen: »Es sollte keine Kluft (mehr) zwischen den Diskursen in den fachdidaktischen Seminaren und der Realität der sprachpraktischen Veranstaltungen bestehen.«25 21 Vgl. Europarat: Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen. Lernen, lehren, beurteilen, Straßburg 2001. URL: http://student.unifr.ch/pluriling/assets/files/Referenzrah men2001.pdf [Stand: 08. 09. 2021]. 22 Vgl. Martinez, Hélène: Lernkompetenz als Grundlage von Professionalität: Plädoyer für ein lebenslanges Lernen, in: Burwitz-Melzer, Eva / Riemer, Claudia / Schmelter, Lars (Hg.): Rolle und Professionalität von Fremdsprachenlehrpersonen. Arbeitspapiere der 38. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts, Tübingen 2018 (Gießener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik), S. 108–120, hier S. 111. 23 Vgl. Wipperfürth, Manuela: Welche Kompetenzstandards, S. 16, 18, 20; da es sich bei romanischen Sprachen im deutschen Bildungssystem um nachgelernte Fremdsprachen handelt, ist ihr Vorschlag für die romanistische Lehrerbildung von besonderem Interesse. 24 Dieses Desiderat hoffe ich in Bonn in naher Zukunft umsetzen zu können, wozu ich Anregungen aus der Schweiz mitbringe (Master Fremdsprachendidaktik der Université de Fribourg. URL: http://studies.unifr.ch/de/master/multi/foreignlanguagedidactics; Master Fachdidaktik Natur, Mensch und Gesellschaft der PH Bern, https://www.phbern.ch/studium/maste r-fachdidaktik-nmgne [Stand: 01. 09. 2021]. 25 Martinez, Hélène: Lernkompetenz, S. 115.

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Für die Fremdsprachen erweist sich die empirische Konturierung fachspezifischen Professionswissens auch aufgrund in sich heterogener Wissensdomänen deutlich komplexer als in den mathematischen Vorbildstudien.26 So wurde in der TEDS-LT-Studie27 für das Fach Englisch, in der die Fremdsprachenkompetenz außen vor blieb,28 ein wenig kumulativer Wissensaufbau festgestellt: – geringe Korrelation der untersuchten Subdimensionen des Fachwissens, – geringe Korrelation zwischen Fachwissen und fachdidaktischem Wissen bzw. pädagogischem Wissen, – positive Korrelation zwischen fachdidaktischem Wissen und pädagogischem Wissen.29 Die Ergebnisse von FALKO, ebenfalls für das Fach Englisch,30 weisen darauf hin, dass gerade ein schulnah modelliertes Fachwissen den Entwicklungsraum für fachdidaktisches Wissen definiert.31 Für die romanistische Lehrerbildung lässt sich hieraus das Desiderat herleiten, die fachwissenschaftliche Lehre wann 26 Vgl. Legutke, Michael K. / Schart, Michael: Fremdsprachliche Lehrerbildungsforschung: Bilanz und Perspektiven, in: Dies. (Hg.): Fremdsprachendidaktische Professionsforschung: Brennpunkt Lehrerbildung, 1. Aufl., Tübingen 2016 (Gießener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik), S. 9–46, hier S. 13. 27 TEDS-LT (Teacher Education and Development Study: Learning to Teach) war die Ausweitung der Kompetenzforschung nach COACTIV auf angehende Deutsch- und Englischlehrkräfte. Für das Fach Englisch wurden Daten an sechs verschiedenen Hochschulen im Studiengang GHR und Gymnasium/Gesamtschule zu zwei unterschiedlichen Messzeitpunkten erhoben (1. Studierende des 3.–5. Fachsemesters, N = 462; 2. Studierende im 6.–8. Fachsemester, N = 420; vgl. Blömeke, Sigrid: Einleitung: Professionelle Kompetenzen, S. 9; Jansing, Barbara / Haudeck, Helga / Keßler, Jörg-U. / Nold, Günter / Stancel-Pia˛tak, Agnes: Professionelles Wissen im Studienverlauf: Lehramt Englisch, in: Blömeke, Sigrid / Bremerich-Vos, Albert / Kaiser, Gabriele / Nold, Günther / Haudeck, Helga / Keßler, Jörg-U. / Schwippert, Knut (Hg.): Professionelle Kompetenzen im Studienverlauf. Weitere Ergebnisse zur Deutsch-, Englisch- und Mathematiklehrerausbildung aus TEDS-LT, Münster, New York, München, Berlin 2013, S. 78–106, hier S. 81; Roters, Bianca / Nold, Günter et al.: Professionelles Wissen, S. 86). 28 Sie wurde nur in Form einer Selbsteinschätzung mithilfe des GER sowie implizit – in Form von Leseverstehen der Testitems auf Englisch – einbezogen. Vgl. Roters, Bianca / Nold, Günter et al.: Professionelles Wissen, S. 84f. 29 Vgl. Blömeke, Sigrid: Einleitung: Professionelle Kompetenzen, S. 13; Legutke, Michael K. / Schart, Michael: Fremdsprachliche Lehrerbildungsforschung, S. 14. 30 Für FALKO (FAchspezifische LehrerKOmpetenzen) wurde das Professionswissen von Studierenden und Berufstätigen im Vergleich in sechs gering strukturierten Fächern untersucht. Vgl. Lindl, Alfred / Krauss, Stefan: Transdisziplinäre Perspektiven auf domänenspezifische Lehrerkompetenzen. Eine Metaanalyse zentraler Resultate des Forschungsprojektes FALKO, in: Krauss, Stefan / Lindl, Alfred / Schilcher, Anita / Fricke, Michael / Göhring, Anja / Hofmann, Bernhard et al. (Hg.): FALKO: Fachspezifische Lehrerkompetenzen. Konzeption von Professionswissenstests in den Fächern Deutsch, Englisch, Latein, Physik, Musik, Evangelische Religion und Pädagogik: mit neuen Daten aus der COACTIV-Studie, Münster, New York 2017, S. 381–438, hier S. 382. 31 Vgl. ebd., S. 416.

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immer möglich unter Bezugnahme auf schulisch vermitteltes Fachwissen zu gestalten. Bei hoher Durchlässigkeit von Studiengängen, wie in Bonn der Fall, könnte für Lehramtsstudierende zumindest ein Zusatzangebot in Form von Tutorien eingerichtet werden, in denen reflexive Praxis angeregt wird.32 TandemLehre zwischen Fachdidaktik und Literatur-, Sprach- oder Kulturwissenschaft wäre wichtig, um empirische Grundlagen zur Modellierung aktuellen schulbezogenen Fachwissens bzw. für den Kontext Schule erweiterten Fachwissens zu erlangen – Konstrukte, die in den Naturwissenschaften bereits rege diskutiert werden.33 Dabei ist für die Fremdsprachen zu bedenken, ein solches Wissen nicht nur gegenstands-, sondern zum Teil auch mediumsadäquat zu repräsentieren, d. h. in der Zielsprache.34 Für die romanistische Fachdidaktik sind die erwähnten Studien insofern von Interesse, als sie dazu anregen, sich innerhalb der Disziplin über die Konturen fachdidaktischen Wissens und seine Vermittlung zu verständigen – dies in diskursiver Auseinandersetzung und nicht ohne Reibung. So wurde fachdidaktisches Wissen in TEDS-LT zum zweiten Messzeitpunkt in drei Subdimensionen untersucht (Methodik, Konzepte, Analysen; Prozesse, Strategien, Spracherwerb; Literaturdidaktik und Interkulturalität), wobei jedes Item einer Schwierigkeitsstufe kognitiver Operationen nach Bloom (remember & retrieve; understand & analyze; evaluate & create) bzw. einem geschlossenen (multiple choice) oder halboffenen (Nennung von Fachtermini, Definitionen) Aufgabenformat zugeordnet war.35 Interessant sind für mich als Prüfende in der Fachdidaktik hier zwei Beobachtungen. Zum einen prüfe ich erstmals in Bonn im fachdidaktischen Grundlagenmodul des Gymnasial- und Gesamtschullehramts per Klausur bzw. erfolgte die Evaluation fachdidaktischen Wissens in Freiburg (GHR) und Bern (Primarstufe) generell in anderen Prüfungsformaten, was etwas 32 Vgl. Abs. 1, S. 340, Abs. 3, S. 361f. 33 Bereits in COACTIV wurde zwischen mathematischem Alltagswissen, Schulstoffwissen, einem vertieften Verständnis für Mathematik zum Ende der Sekundarstufe II und reinem Universitätswissen unterschieden. Vgl. Baumert, Jürgen / Kunter, Mareike: Stichwort: Professionelle Kompetenz, S. 495; neuere Studien versuchen sich an der empirischen Modellierung eines schulbezogenen Fachwissens. Vgl. Heinze, Aiso / Dreher, Anika / Lindmeier, Anke / Niemand, Carolin: Akademisches versus schulbezogenes Fachwissen – ein differenzierteres Modell des fachspezifischen Professionswissens von angehenden Mathematiklehrkräften der Sekundarstufe, in: ZfE 19,2 (2016), S. 329–349. Woehlecke et al. 2017 diskutieren ein für den schulischen Kontext erweitertes Fachwissen als fächerübergreifendes Konstrukt. Vgl. Woehlecke, Sandra / Massolt, Joost / Goral, Johanna / Hassan-Yavu, Safya / Seider, Jessica / Borowski, Andreas et al: Das erweiterte Fachwissen für den schulischen Kontext als fachübergreifendes Konstrukt und die Anwendung im universitären Lehramtsstudium, in: Beiträge zur Lehrerinnen- und Lehrerbildung 35,3 (2017), S. 413–426. 34 So wäre ein institutsinternes, lehrstuhlübergreifendes glosario didáctico – glossario didattico – glossaire didactique wünschenswert, das sich nicht nur aus der Fachdidaktik, sondern auch aus der Literatur-, Sprach- und Kulturwissenschaft speist. 35 Vgl. Jansing, Barbara / Haudeck, Helga et al.: Professionelles Wissen, S. 78.

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über die subjektiven Theorien der Prüfenden und das Wesen der geprüften Wissensdomäne aussagt. Auf der anderen Seite wende ich die Taxonomie Blooms, die in Bern als Studieninhalt im zweiten Französischmodul vermittelt wurde, auch zur Klausurkonzeption an, gelange aber zu Aufgabenformaten, die remember & retrieve konsequent mit einem anderen Operator bzw. einer anderen kognitiven Operation nach Bloom kombinieren, z. B.: Gehen Sie in Abb. 1 für die Aufgabe in Ihrer Zielsprache auf zwei Aufgabenkriterien nach Mertens ein (→ remember & retrieve), die Ihrer Meinung nach sinnvoll umgesetzt sind. Begründen Sie Ihre Einschätzung (→ understand & analyze). Gehen Sie auf ein weiteres Aufgabenkriterien ein, für das Sie einen Optimierungsvorschlag unterbreiten (→ evaluate & create).

Um die höheren kognitiven Operationen nach Bloom zu integrieren, nutze ich verschiedene auf den unterrichtlichen Handlungskontext bezogene Impulse, die aus den Sitzungen zu erinnern oder der Klausur beigelegt sind (Abb. 2). Vor diesem Hintergrund greifen die Schlussfolgerungen aus dem Befund geringer fachdidaktischer Skalenreliabilitäten in TEDS-LT zu kurz: Zum einen sind die konkreten theoretischen Modelle, die vermittelt werden, stark von einzelnen Hochschulen bzw. individuellen Lehrenden abhängig, […]. Andererseits trifft dies aber sehr wahrscheinlich auch auf den Stellenwert zu, der der theoretischen Verankerung selber in der Lehre eingeräumt wird, […].36

Das Desiderat der Kanonisierung und besseren theoretischen Verankerung im Sinne eines Ausbaus bestimmter deklarativer Wissensbestände läuft Gefahr, den genuinen Charakter fachdidaktischen Wissens als Transfer-, Handlungs- und Erfahrungswissen zu unterminieren.37 Auch im aktuell für die Fremdsprachen laufenden Projekt »Fachdidaktisches Wissen in der Lehrer*innenbildung«38 wird 36 Jansing, Barbara / Haudeck, Helga et al.: Professionelles Wissen, S. 103. 37 Insofern sind jene Items, für die lediglich ein bestimmter Studienhalt zu reproduzieren bzw. Fachterminus und seine Definition (halboffenes Aufgabenformat) zu notieren sind, äußerst kritisch zu betrachten. Der proportionale Anteil letztgenannter wurde zum zweiten Messzeitpunkt sogar noch erhöht. Vgl. Jansing, Barbara / Haudeck, Helga et al.: Professionelles Wissen, S. 83. 38 Das Projekt intendiert die Untersuchung fachdidaktischen Professionswissens für Lehramtsstudierende in mehreren methodischen Zugriffen: Es wurden sechs gedruckte Einführungen auf ihre Inhalte hin ausgewertet und um Diskussionsergebnisse mit 60 Fachkolleginnen auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Fremdsprachenforschung ergänzt (Caspari, Daniela / Grünewald, Andreas: FF 1: Das fachdidaktische Wissen angehender Fremdsprachenlehrkräfte, in: Eisenmann, Maria / Steinbock, Jeanine (Hg.): Sprache, Kulturen, Identitäten: Umbrüche durch Digitalisierung, Hohengehren 2021, S. 343–345); außerdem wurde eine Online-Befragung zu den wichtigsten gelehrten Inhalten in Einführungsveranstaltungen initiiert, deren Ergebnisse noch veröffentlicht werden. URL: https:// www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/we05/romandid/forschung/forschung_fachdidwiss en/index.html [Stand: 01. 09. 2021].

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der Versuch einer Kanonisierung kritisch von den befragten Akteuren der fremdsprachendidaktischen Lehre gerahmt, »ein solches [Kerncurriculum, SDG] greife zu kurz und gehe von einem bestimmten Bild der unterrichtlichen Akteure sowie von einem bestimmten Verständnis von (Aus-)Bildung aus.«39 Den Befragten erscheint die Art und Weise der theoretischen Verankerung bzw. der »Aufbau von komplexen Begründungszusammenhängen«40 als die eigentlich wichtige Frage. So wird dem kompetenzorientierten Ansatz vorgehalten, andere Facetten des Wissens- und Kompetenzbegriffs wie savoir-faire (Fertigkeiten, prozedurales Wissen) und savoir-être (Einstellungen) aus den Augen zu verlieren.41 Kritisiert wird zudem die Tendenz, Wissensdomänen voneinander abzugrenzen statt auf deren Gemeinsamkeiten und mögliche Bezugnahmen zu fokussieren.42

39 Caspari, Daniela / Grünewald, Andreas: FF 1: Das fachdidaktische Wissen 2021, S. 345; hierzu ist auch die Beobachtung interessant, dass die auf Basis der Einführungswerke und der eigenen Lehrpraxis erstellten Inhaltscluster überhaupt nicht vom Fachkollegium thematisiert wurden: Es herrschte Konsens darüber, diese Inhalte als potentiell relevant zu betrachten bzw. gerade keine auf Inhalte, sondern eine »auf die Bedeutung und Funktion von FDW [= fachdidaktisches Wissen]« bezogene Diskussion führen zu wollen. Vgl. ebd., S. 344. 40 Ebd., S. 345. 41 Vgl. Martinez, Hélène: Standards in der Lehrer(aus)bildung: Zur Frage der Lehrbarkeit von Kompetenzen, in: Hoffmann, Sabine / Stork, Antje (Hg.): Lernerorientierte Fremdsprachenforschung und -didaktik. Festschrift für Frank G. Königs zum 60. Geburtstag. Unter Mitarbeit von Frank G. Königs, Tübingen 2015 (Gießener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik), S. 333–343, hier S. 335. 42 Vgl. Legutke, Michael K. / Schart, Michael: Fremdsprachliche Lehrerbildungsforschung, S. 16f.

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Abb. 1: Aufgaben für Französisch (Gregor, Gertraud / Jorißen, Catherine / Mann-Grabowski, Catherine / Nikolic, Lara / Philipp, Dirk / Raliarivony-Freytag, Fidisoa / Wagner, Eric: À plus! 4. Lehrwerk für den Französischunterricht an Gymnasien, Berlin 2015, S. 53), Spanisch (Calderón Villarino, Isabel / Elices Macías, Amparo / Grimm, Alexander / Kolacki, Heike / Peppel, Henning / Lützen, Ulrike: ¡Apúntate! 4. Lehrwerk für den Spanischunterricht, Berlin 2019, S. 43) und Italienisch (Orlandino, Euridice / Balì, Maria / Ziglio, Luciana: Espresso ragazzi 3. Ein Italienischkurs. Lehr- und Arbeitsbuch, München 2018, S. 51).

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Abb. 2: Impulsübersicht zur Klausurvorbereitung (Plenum »Sprachlehr- und -lerntheorien«, Seminar »Didaktik und Methodik«).43

43 Abkürzungen links: AO = Aufgabenorientierung, HO = Handlungsorientierung, UV = Unterrichtsvorhaben; Abkürzungen rechts: HSV = Hörsehverstehen, MSD = Mehrsprachigkeitsdidaktik, TMK = Text- und Medienkompetenz.

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2.2

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Strukturtheoretischer Ansatz

Wenn die Bonner Kollegen Geiss, Ißler und Kaenders fragen, wie »ein fachlicher Inhalt denn kindgerecht aufbereitet und perspektiviert werden [soll], wenn er zuvor nicht wenigstens ansatzweise in seinem wissenschaftlichen Gehalt erfasst wurde«,44 so ist das Zusammenspiel von deklarativen Wissensbeständen, Fertigkeiten der didaktischen Reduktion bzw. Transformation und Akteurinnen angesprochen. Dem strukturtheoretischen Paradigma nach, das auf die Professionstheorie Oevermanns zurückgeht, ist die Bestimmung professionellen Handelns »nur als Rekonstruktion der reziproken Handlungsstruktur zwischen Lehrern und Schülern zu fassen«.45 Unter Anerkennung der grundsätzlichen Komplexität und Nicht-Normierbarkeit von Unterricht (»unabstellbare«, »unabschließbare Unsicherheit«) zielt der strukturtheoretische Ansatz auf die Beschreibung seiner Strukturlogik im Sinne einer Typisierung von Handlungsantinomien.46 Als Katalysator für Professionalisierung gelten »fallrekonstruktive[] Kompetenzen, die es bereits im Studium systematisch zu erwerben und weiterzuentwickeln gilt«47, und »die selbstkritische, reflektierende Rückwendung auf das eigene Handeln«.48 Das strukturtheoretische Paradigma ist für die Romanistik zum einen aufgrund des Spannungsfelds Unterrichtsgegenstand (Sprache, Kultur, Literatur) vs. -medium (Zielsprache im Sinne aufgeklärter Ein- oder Mehrsprachigkeit)49 von Interesse. Mit dem Austarieren von Antinomien, wie Lerngegenstand vs. 44 Geiss, Peter / Ißler, Roland et al.: Fachkulturen in der Lehrerbildung, S. 13. 45 Helsper, Werner: Lehrerprofessionalität. Der strukturtheoretische Professionsansatz zum Lehrberuf, in: Terhart, Ewald / Bennewitz, Hedda / Rothland, Martin (Hg.): Handbuch der Forschung zum Lehrerberuf, 2. Auflage, Münster 2014, 216–241, hier S. 216. 46 Vgl. Terhart, Ewald: Lehrerberuf und Professionalität. Gewandeltes Begriffsverständnis – Neue Herausforderungen, in: Zeitschrift für Pädagogik – Beiheft 57 (2011), S. 202–224, hier S. 206f; Schädlich, Birgit: Gegenstände, Prozesse und Personen fremdsprachendidaktischer Lehrerforschung: Bestandsaufnahme und Forschungsdesiderate, in: Burwitz-Melzer, Eva / Riemer, Claudia / Schmelter, Lars (Hg.): Rolle und Professionalität von Fremdsprachenlehrpersonen. Arbeitspapiere der 38. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts, Tübingen 2018 (Gießener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik), S. 164–174, hier S. 165. 47 Helsper, Werner: Lehrerprofessionalität, S. 220. 48 Terhart, Ewald: Lehrerberuf, S. 207. 49 Vgl. Reimann, Daniel: Aufgeklärte Mehrsprachigkeit. Sieben Forschungs- und Handlungsfelder zur (Re-)Modellierung der Mehrsprachigkeitsdidaktik, in: Rückl, Michaela (Hg.): Sprachen und Kulturen: vermitteln und vernetzen. Beiträge zu Mehrsprachigkeit und Inter-/ Transkulturalität im Unterricht, in Lehrwerken und in der Lehrer/innen/bildung, Münster, New York 2016 (Salzburger Beiträge zur Lehrer/innen/bildung, Band 2), S. 15–33; analog zu Butzkamm, der das Einsprachigkeitsprinzip im Fremdsprachenunterricht zugunsten eines didaktisch indizierten Gebrauchs der Muttersprache relativierte, definiert Reimann aufgeklärte Mehrsprachigkeit als Abwägen von Möglichkeiten, weitere Sprachen im Repertoire der Lernenden unterrichtlich zu nutzen.

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Lernende oder Metakognition vs. Interaktion, wird savoir-faire intendiert, d. h. »die deklarative Verfügbarkeit von Wissen und die Fähigkeit, dieses Wissen für Handlungssituationen angemessen – das heißt so, dass sprachlich-kulturelle Lernprozesse angestoßen und begleitet werden – zu transformieren.«50 Studierende können über micro-teaching oder Unterrichtsvideographie in Handlungssituationen bzw. »Fälle« gebracht werden, die es zu rekonstruieren und zu reflektieren gilt, auch um sich schulisch tradierter Vorstellungen bewusst zu werden: »Das Erproben von Lehrhandlungen im Rahmen von Unterrichtssimulationen von Studierenden ist daher eine Möglichkeit, um früher Beobachtetes zu aktivieren.«51 Unterrichtssimulationen bieten sich zur Wortschatz- und Grammatikarbeit an, da es sich hierbei um antinomisch strukturierte Standardsituationen der Spracherwerbsphase handelt, die schulisch mitunter einseitig vorgeprägt sind und in denen sich für nachgelernte Fremdsprachen zusätzliche Entscheidungszwänge auftun.52 Um Studierende wieder in die Schülerrolle zu versetzen, habe ich zum Thema Semantisierung auch mit Simulationen in einer anderen Zielsprache gearbeitet, die entweder von Studierenden in einer Zweitsprache oder mir selbst in einer anderen romanischen Sprache gestaltet wurden. Außerdem erachte ich micro-teaching zum interkulturellen Lernen und zur Vermittlung von Methodenkompetenzen als wichtig, da beide Kompetenzbereiche Studierende vor spezifische Sprachwahl- und Methodenentscheidungen stellen, will man sie explizit schulen und nicht nur unter funktional-kommunikative Lernziele subsumieren. Der strukturtheoretische Ansatz lässt sich auch mithilfe von Unterrichtsmethoden praktizieren, die in der Lehre genutzt, kenntlich gemacht und anschließend reflektiert werden (Abb. 4). Zudem arbeite ich mit Unterrichtsvideos, so zur Diskussion von Unterrichtseinstiegen (kognitiv vs. affektiv, Funktionsvielfalt), Semantisierung (non-verbale vs. verbale Strategien) und mündlicher Fehlerkorrektur (Mitteilungs- vs. Sprachbezug). Da micro-teaching in den vergangen digitalen Semestern in Bonn nicht möglich war, wurde am Lehrstuhl eine Videodatenbank mit Unterrichtsvideos für die Fremdsprachen zusammengestellt, wobei für die romanischen Sprachen ein dringender Bedarf an für Lehrzwecke zugänglichem Material festzustellen ist.53 Darüber hinaus bieten sich 50 Schädlich, Birgit: Gegenstände, S. 164. 51 Abendroth-Timmer, Dagmar: Reflexive Lehrerbildung, S. 5. 52 Z. B. Einsprachigkeitsprinzip vs. Kognitivierung, ein- vs. zwei- oder mehrsprachige Semantisierung und Regelvermittlung, explizite (induktive vs. deduktive) vs. implizite Regelvermittlung, signal- oder beispielgrammatische vs. metasprachliche Regelformulierung, Kognitivierung/Übung (ein- vs. mehrsprachig) vs. Anwendung/Aufgabe (ein- vs. mehrsprachig). 53 Für den Standort Bonn wäre ein geschütztes Videoportal mit Aufnahmen, die aus Kooperationen zwischen Universität, Ausbildungsschulen und dem ZfsL entstehen, ein wünschenswertes Unterfangen. Da die romanischen Sprachen in bildungswissenschaftlichen Studien bislang nicht inkludiert sind, besteht ein Desiderat darin, Videostudien aus romanistischer

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Videoaufnahmen studentischer Unterrichtsimulationen an, um den eigenen Ausbildungsbedarf besser zu bestimmen. Abendroth-Timmer berichtet von möglichen Negativeffekten bei der Selbstbetrachtung (tendenziell kritische Selbstwahrnehmung) und betont die Wichtigkeit von gemeinsamen Reflexionsgesprächen auf Grundlage des Materials (Relativierung der kritischen Selbstwahrnehmung durch positives Feedback, stärkere Fokussierung auf fachdidaktisches Wissen).54 An das strukturtheoretische Postulat der Nicht-Standardisierbarkeit lässt sich außerdem hervorragend aufgrund der für Fremdsprachen typischen Vielfalt an potentiellen unterrichtlichen Handlungskontexten anknüpfen, deren Spannungsverhältnis Dozierende zu Perspektivvielfalt und Offenheit anhält. Mit der Zeit habe ich ein Selbstverständnis als Dialogpartnerin entwickelt, wozu auch gehört, die jeweils eigene Perspektive bzw. Habitusform55 auf das Unterrichtsgeschehen im Reflexionsprozess deutlich zu machen. Als einschlägige Erfahrung erinnere ich mich an die Betreuung integrierter Praktika im Primarbereich an der PH Freiburg, deren Nachbesprechungen für die Praktikumslehrpersonen und Studierenden sowie für mich als ausgebildete Gymnasiallehrperson (Deutsch, Französisch) und akademische Mitarbeiterin (Forschungsprojekt 2. Lernjahr Sekundarstufe) Gelegenheit boten, Wissensbestände zum Thema Anfangsunterricht zu hinterfragen bzw. zu erweitern. Als eindrücklich erinnere ich auch micro-teaching auf Vorschulstufenniveau an der PH Bern, wo im Einführungsmodul auch für Studierende mit Vorschulstufenprofil56 die Studienleistung b) Séquence »Apprendre par enseigner« zu erbringen und eine lehrwerksunabhängige Simulation auf Vorschulstufenniveau wählbar war (Abb. 3).

fachdidaktischer Forschung zugänglich zu machen, z. B. im aktuell im Aufbau befindlichen Metaportal. URL: https://unterrichtsvideos.net/metaportal/ [Stand: 01. 09. 2021]. 54 Vgl. Abendroth-Timmer, Dagmar: Reflexive Lehrerbildung, S. 36. 55 Vgl. Abs. 2.3, S. 359f. 56 An der PH Bern wird ein berufsqualifizierender Bachelor Kindergarten/Primarstufe (mit Profilbildungen im Studium) mit Französisch als obligatorischem Studienfach verliehen. Französisch wird im Kanton als 1. Fremdsprache bereits ab der 3. Klasse lehrwerksbasiert unterrichtet.

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Abb. 3: Studienleistung im Modul »Français 1: Pratiques de classe«, Pädagogische Hochschule Bern, Herbstsemester 2019 (MF = Lehrwerk Mille feuilles57). 57 Die aktuellsten Ausgaben von Mille feuilles 3–6 sind einsehbar unter URL: https://www. 1000feuilles.ch/millefeuilles-de/lehrwerk/ [Stand: 08. 09. 2021].

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Die vor- und nachbereitenden Reflexionsgespräche waren ausgesprochen dialogisch, indem wir die Seminarkonzepte – auch die wenig zielstufenspezifischen (l’introduction du nouveau lexique, la tâche) – auf ihre Anwendbarkeit im zweisprachigen Kanton Bern und sprachlich heterogenen Kindergarten befragten. In meiner Bonner Lehre äußert sich dieses Selbstverständnis als Dialogpartnerin erstmals auch darin, selbst eine Stunde zur Text- und Medienarbeit in der Oberstufe durchgeführt, aufgenommen und als Material in der Lehre verwendet zu haben. Dabei war mir als Dozentin wichtig, eigene offene Fragen in Bezug auf die Stunde zu formulieren und die Studierenden im Sinne einer Fallrekonstruktion einzuladen, auch Kritik und Optimierungsvorschläge anzubringen. Die Maßnahme gab wertvolle Rückmeldung, inwieweit sich Studierende als Teil einer dialogischen Reflexions- und Lerngemeinschaft begriffen. Solche Unterrichtskooperationen mit den Fachleitungen bzw. dem ZfsL bieten sich zur Vorbereitung des Praxissemesters an und können vielseitig organisiert sein (Fachleiterin, Dozent und/oder Studierende als Akteure, Einbezug in Planung, Durchführung und/oder Reflexion von Unterricht).

2.3

Berufsbiographischer Ansatz

Im vorigen Band dieser Reihe wurde das Studium als kritischer berufsbiographischer Moment der »Identifikation mit der eigenen Disziplin bzw. den Disziplinen« angesprochen: Für ein Fach begeistern kann bekanntlich nur, wer selbst Feuer und Flamme dafür ist – und dies setzt eine Vertrautheit mit disziplinären Fragen, Gegenständen und Methoden voraus, die sich ohne ein dezidiert wissenschaftlich ausgerichtetes Studium wohl kaum erreichen lässt.58

Dem berufsbiographischen Ansatz oder auch Persönlichkeitsansatz ist eine individualisierte und dynamische Sichtweise auf Lehrerbildung zu eigen, lenkt er den Blick doch auf das Individuum in seiner Ganzheit und die Rolle von Erfahrung:59 Die Prozesse des allmählichen Kompetenzaufbaus und der Kompetenzentwicklung, die Übernahme eines beruflichen Habitus durch Berufsneulinge, die Kontinuität und Brüchigkeit der beruflichen Entwicklung über die gesamte Spanne der beruflichen Lebenszeit, die Verknüpfung von privatem Lebenslauf und beruflicher Karriere und ähnliche Themen stehen im Mittelpunkt.60

58 Geiss, Peter / Ißler, Roland et al.: Fachkulturen in der Lehrerbildung, S. 14. 59 Vgl. Terhart, Ewald: Lehrerberuf, S. 208. 60 Ebd.

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Es handelt sich um denjenigen Ansatz, der am deutlichsten den Anteil nichtinstitutionalisierter Lehrerbildung am Professionalisierungsprozess reflektiert, d. h. die »vielfältigen (individuellen) Bedingungen der Ausbildung« bzw. die Prägung durch »Vorerfahrungen, Sozialisation und Erziehung sowohl vor als auch während der eigentlichen Ausbildung«.61 Für die Fremdsprachenphilologien ist der Persönlichkeitsansatz aufgrund der Wissensdimensionen Literatur und Kultur unerlässlich. Für die Literaturvermittlung und die Schulung interkultureller Kompetenz ist savoir-être bzw. der eigene Erfahrungshorizont ganz entscheidend. Es ist anzunehmen, dass diesen Wissensdimensionen aufgrund privater, nicht-institutioneller Faktoren eine besondere Dynamik über alle drei Phasen hinweg zuteilwird. Womöglich ist in beiden Wissensdimensionen auch der Grund dafür zu suchen, dass sich die von Caspari und Grünewald befragten Fremdsprachendidaktiker für eine Konzeptualisierung fachdidaktischen Wissens als berufsbiographisch bedingt und veränderbar aussprechen.62 In TEDS-LT wurde zum zweiten Messzeitpunkt eine Stagnation im Bereich der fachdidaktischen Subdimension Literaturdidaktik und Interkulturalität festgestellt.63 Die Autoren erklären diesen Befund mit der Andersartigkeit der zugehörigen Wissensfacetten, an die sich weniger gut über schulisches oder im Studium vermitteltes Wissen anknüpfen lasse.64 Auch wenn hier sicherlich genauer zu differenzieren ist,65 so kann institutionelle Lehrerinnenbildung in beiden Bereichen vor allem dann Grundlagen für professionelles Handeln legen, wenn sie den Echoraum persönlicher Erfahrungen und subjektiver Involviertheit aufgreift. Erstens ist Subjektorientierung auch für die unterrichtliche Vermittlung beider Gegenstände zentral: Lernende sollen sich ein erfahrungsbasiertes Bild von der Zielkultur auf Basis authentischer Dokumente und persönlicher Begegnungen machen und sie sollen auch anhand literarischer Texte zu einem authentischen, mitteilungsbezogenen Sprachgebrauch angehalten werden.66 Zweitens besteht für die Auswahl bildungsrelevanter Inhalte im 61 Cramer, Colin: Entwicklung von Professionalität in der Lehrerbildung. Empirische Befunde zu Eingangsbedingungen, Prozessmerkmalen und Ausbildungserfahrungen Lehramtsstudierender, Bad Heilbrunn 2012, S. 82. 62 Vgl. Caspari, Daniela / Grünewald, Andreas: FF 1: Das fachdidaktische Wissen, S. 344f. 63 Vgl. Blömeke, Sigrid: Einleitung: Professionelle Kompetenzen, S. 14. 64 Vgl. Jansing, Barbara / Haudeck, Helga et al.: Professionelles Wissen, S. 98. 65 So ist grundsätzlich die Zuordnung beider Wissensdimensionen zu einer Subdimension zu hinterfragen, weist der Bereich Literatur doch viele Bezüge zum philologischen Studium auf, wohingegen der Bereich Kultur stärker die Sozialwissenschaftlichen tangiert (vgl. ebd., S. 90). Es ist auch die geringste Skalenreliabilität im Vergleich zu den beiden anderen Subdimensionen in Erinnerung zu rufen. Vgl. ebd., S. 94. 66 In der Fremdsprachendidaktik gelten Kulturen als »subjektive Konstrukte und individuell gewonnene Bedeutungsgewebe«. Rössler, Andrea: Interkulturelle Kompetenz, in: Meißner, Franz-Joseph / Tesch, Bernd (Hg.): Spanisch kompetenzorientiert unterrichten, 1. Aufl., Seelze 2010, S. 137–149, hier S. 138; Authentizität wird nicht nur material-, sondern auch sprachbe-

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Zeitalter der Kompetenzorientierung nicht nur in der Lernerorientierung (Welche Inhalte ermöglichen authentische Sprech- und Schreibanlässe? Welche methodischen Zugänge stehen den Lernenden offen?), sondern auch der Auseinandersetzung mit der eigenen Berufsbiographie ein wichtiger Bezugspunkt (Welche Inhalte präg(t)en meinen Berufswunsch und mein professionelles Leitbild? Welche Bedeutung spiel(t)en methodische Zugänge hierbei?). Wenn es im Grundlagenmodul darum geht, »literatur-, text-, kultur- und mediendidaktische Theorien, Ziele und Verfahren«67 zu vermitteln, versuche ich eine gegenstandsbezogene persönliche Auseinandersetzung zum einen durch Reflexionsimpulse wie die folgenden zu erreichen: Beispiel Literatur 1. Denken Sie an Ihr Studium oder Ihre persönliche Beschäftigung mit fremdsprachiger Literatur: Welche Lektüremomente waren oder sind prägend für Sie, was haben Sie gelernt (über die Zielsprache oder -kultur, sich selbst, methodisch…)? 2. Wählen Sie ein literarisches Werk, um es mit Ihren künftigen SuS zu thematisieren. Begründen Sie kriterienorientiert dessen Passung (Lehrplan, Prinzipien der Authentizität und Lernerorientierung). 3. Entwerfen Sie mindestens einen Arbeitsauftrag zu Ihrem Text (Form und/ oder Inhalt), indem Sie einen der vorgestellten methodischen Ansätze aufgreifen (Dreischritt-Methode, kognitiv-analytischer Ansatz, kreativer Ansatz).

Beispiel Sach- und Gebrauchstexte 1. Mit welchen Texten und Medien der Zielsprachenkultur beschäftigen Sie sich aktuell gerne, warum? 2. Wählen Sie ein Dokument, das zu denen im Lehrplan ausgewiesenen Themenfeldern der Sekundarstufe II passt. Notieren Sie aus dem Bereich der Text- und Medienkompetenz 1–2 Kompetenzen, die Sie mithilfe Ihres Textes schulen möchten. 3. Entwerfen Sie zu Ihrem Text Arbeitsaufträge, bei denen Sie die ausgewählten Kompetenzen sowie einen der vorgestellten methodischen Ansätze (generisches Lernen, SQ3R, reziprokes Lesen, textbesprechende oder -gestaltende Produktionsform) berücksichtigen.

Auf der anderen Seite veranschauliche ich Arbeitsaufträge durch eigene Beispiele, so z. B. indem ich beim interkulturellen Lernen eine ABC-Liste zur Frankophonie mit meinen Assoziationen beginnen lasse, deren Entstehen ich erläutere, oder eine Unterrichtssimulation zeige, die auf persönlichen Fotos und Erfahrungen zum 11. November in Frankreich fußt. Für die Romanistik im Speziellen ist der berufsbiographische Ansatz zudem von Bedeutung, als sie als Disziplin, d. h. in ihren Gegenständen und Methoden, sowie im Bildungsverlauf in besonderem Maße an die Themenkomplexe Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt anknüpft: »Als Wesensmerkmal ist ihr die zogen ausgelegt und meint eine sprachliche Äußerung, in die persönliches Weltwissen und Einstellungen einfließen. Vgl. Widdowson, Henry G.: Aspects of language teaching, 2. Nachdruck, Oxford 1991, S. 44–48. 67 KMK 2008, S. 46.

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Vielfalt geradezu eingeschrieben.«68 Für die romanistische Fachdidaktik ist kennzeichnend, zielsprachliche bzw. spracherwerbstheoretische Lernziele nie als isoliertes Finalitätskonzept, sondern immer auch in ihrer bildungstheoretischen Bedeutung zu betrachten und bildungsorientierte Fragestellungen in den mehrsprachigkeitsdidaktischen Diskurs einzubringen.69 Auch im Hinblick auf die Ausgangsbedingungen von Sprachenlernen darf an sie die Erwartung herangetragen werden, Konzepte zum professionellen Umgang mit sprachlich-kultureller Heterogenität zu entwickeln. Dabei sind schulische wie hochschulische Konzepte gefragt: Anzunehmen ist zudem, dass die Universitäten bei einem passgenaueren Angebot – Stichwort Umgang mit Heterogenität nicht nur in der Schule, sondern auch im tertiären Bildungsbereich – weitere Reserven ausschöpfen können.70

Für hochschulische Konzepte dürfte der berufsbiographische Ansatz im Hinblick auf die eigene Sprachenbiographie besonders interessant sein. So stand der Persönlichkeitsansatz im Rahmen eines Tandem-Seminars mit den Bildungswissenschaften an der PH Freiburg Pate, das auf sprachensensibler Portfolioarbeit basierte. Unser Ziel war es, Studierende aller Lehramtsfächer zu mehr Nachhaltigkeit im professionellen Umgang mit Heterogenität anzuhalten. Dazu arbeiteten wir mit bildungswissenschaftlicher und mehrsprachigkeitsdidaktischer Theorie, die auf die eigene Sprachenbiographie sowie den späteren Handlungskontext anzuwenden war.71 In der Seminarevaluation wurde deutlich, dass der berufsbiographische Ansatz seine Wirkung vor allem im interaktiven Austausch entfaltet:72 Studierende nicht-sprachlicher Fächer wurden durch uns als Dozentinnen und durch Kommilitonen, die ein sprachliches Fach studierten, bei der Analyse 68 Ißler, Roland: Mehrsprachigkeit, S. 111. 69 Vgl. ebd., S. 116, 118; Dietrich-Grappin, Sarah: Mehrsprachigkeitskompetenz als Bildungsziel im schulischen Tertiärsprachenunterricht. Transferbasierte Kommunikationsstrategien im Kontext von spontaner Mündlichkeit und Zwei-Sprachen-Aufgaben, Trier 2020. 70 Blömeke, Sigrid / Buchholtz, Christiane / Bremerich-Vos, Albert: Zusammenhang institutioneller Merkmale mit dem Wissenserwerb im Lehramtsstudium, in: Blömeke, Sigrid / Bremerich-Vos, Albert / Kaiser, Gabriele / Nold, Günther / Haudeck, Helga / Keßler, Jörg-U. / Schwippert, Knut (Hg.): Professionelle Kompetenzen im Studienverlauf. Weitere Ergebnisse zur Deutsch-, Englisch- und Mathematiklehrerausbildung aus TEDS-LT, Münster, New York, München, Berlin 2013, S. 167–187, hier S. 185; im Hinblick auf die Hochschule sind weitere Potenziale anzunehmen, da Studierende mit Migrationshintergrund in TEDS-T in besonderem Maße vom Studium als Lerngelegenheit profitierten, schnitten sie doch zum 2. Messzeitpunkt signifikant positiver ab. Vgl. ebd., S. 182. 71 Vgl. Dietrich-Grappin, Sarah / Comes, Nadine: Sprachensensible Portfolioarbeit in der Lehrerinnenbildung. Der professionelle Umgang mit sprachlicher Heterogenität im Spiegel der eigenen Sprachenbiographie, in: Mordellet-Roggenbuck, Isabelle / Raith, Markus / Zaki, Katja (Hg.): Mehrsprachigkeit in der Lehrerbildung. Modelle, Konzepte und empirische Befunde für die Fremd- und Zweitsprachendidaktik, Berlin 2021, S. 89–111, hier S. 101f. 72 Vgl. ebd., S. 103, 105.

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der eigenen Sprachenbiographie unterstützt, während fächerbezogene Kleingruppen bei der Diskussion von Leitgedanken für den jeweiligen Fachunterricht gefragt waren. Das von meinem Bonner Kollegen Ißler entwickelte Mehrsprachigkeitsmodul basiert ebenfalls auf dem Austausch von Kenntnissen und Erfahrungen in einer kleinen Lerngruppe. Es richtet sich an Lehramtsstudierende, die zwei Sprachen unseres Instituts für Klassische und Romanische Philologie studieren und sich wechselseitig als Lernende und Experten unterstützen: Die Konstellation der Studentinnen und Studenten in mehrsprachigen Lern- und Expertengruppen hat somit Modellcharakter und antizipiert auf einer Metareflexionsebene mögliche Unterrichtsformen und -projekte im zukunftsweisenden Bereich der Mehrsprachigkeit.73

Im Bonner Grundlagenmodul »Fachdidaktik I« fungiert der berufsbiographische Rückblick als ein möglicher Impuls zur Anwendung fachdidaktischer Theorie (Abb. 3), so z. B. zum Thema Spracherwerbshypothesen (Abb. 4). Das Modul »Fachdidaktik II« spannt sich um den berufsbiographisch wichtigen Moment des Praxissemesters, wobei die Studierenden vor- und nachher Gedanken zu ihrem professionellen Leitbild erarbeiten. Außerdem wird das neu geplante Modul »Lernerorientierung« Master-Studierende einer romanischen Sprache des 1. und 4. Fachsemesters zu einer fachlich und berufsbiographisch heterogenen Lerngruppe zusammenführen, weshalb für das Team am Lehrstuhl die Frage zu beantworten sein wird, inwieweit sich die auf der Inhaltsebene vermittelten Heterogenitätskonzepte auch auf Methodenebene in der hochschulischen Lehre umsetzen lassen. Das Modul zeichnet sich außerdem durch das Angebot verschiedener Wahlpflichtveranstaltungen aus, in die der Lehrkörper eigene Expertisen einfließen lässt. Die disziplinäre Vielfalt der Romanistik führt zu diversen Habitusformen seitens der romanistischen Lehrerbildner,74 sodass es sich lohnt, die eigene Perspektive berufsbiographisch bzw. als Einflussgröße auf die eigene Lehre – inhaltlich wie methodisch – zu reflektieren und auch gegenüber den Studierenden zu kommunizieren. So sehe ich vielfältige Bezüge zwischen meiner Berufsbiographie75 und den hier aufgezeigten Praktiken, sei es die Integration be73 Ißler, Roland: Mehrsprachigkeit, S. 134. 74 Heil / Faust-Siehl unterscheiden anhand der Pole Wissenschafts- vs. Berufsfeldbezug vier Habitusformen, von denen der Magister in der Romanistik besonders divers geprägt ist (Verortung als Sprach-, Literatur- oder Kulturwissenschaftlerin in zwei oder mehr Sprachen) und dem Praktiker in einer Sprache gegenübersteht. Heil, Stefan / Faust-Siehl, Gabriele: Universitäre Lehrerausbildung und pädagogische Professionalität im Spiegel von Lehrenden. Eine qualitative empirische Untersuchung, Weinheim 2000, S. 138. 75 Als wichtig stufe ich ein, mich als monolingual sozialisierte Französisch- und Deutschlehramtsstudentin gegen eine rein literaturwissenschaftliche Dissertation zugunsten von Referendariat und unterrichtspraktischen Erfahrungen im Ausland entschieden zu haben, als

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rufsspezifischer sprachpraktischer Sequenzen und die Vermittlung einer positiven Fehlerkultur ungeachtet des Risikos, als Dozentin Fehler zu machen,76 die gemeinsame Fallarbeit anhand eigener, studentischer und fremder Unterrichtssimulationen und -videographien77 oder den berufsbiographischen Zugriff auf die Themenkomplexe Literatur, Kultur und Mehrsprachigkeit.

Abb. 4: Folien aus »Fachdidaktik I«, Plenum »Sprachlehr- und -lerntheorien«, Universität Bonn.

Mitarbeiterin an einer Pädagogischen Hochschule promoviert zu haben und im Privaten durch Heirat und Familiengründung in eine bilinguale Lebenswelt eingetreten zu sein. 76 Vgl. Abs. 2.1, S. 343f. 77 Vgl. Abs. 2.2, S. 352f.

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3.

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Savoir-apprendre als romanistischer Ansatz sekundärer Lehrerbildung

Die Einsicht, dass universitäre Lehrerinnenbildung keinen universalen Theorieanspruch über schulische Praxis haben und situative Deutungen und Handlungsentscheidungen im Berufsfeld nicht vorwegnehmen kann, wird besonders deutlich von Ansätzen sekundärer Lehrerbildung formuliert, für die laut Cramer / Drahmann charakteristisch ist, dass sie verschiedene berufsrelevante Diskurse primärer Lehrerbildung nicht ersetzen, sondern überblicken, kennzeichnen und wechselseitig aufeinander beziehen.78 So führen Cramer / Drahmann den paradigmenübergreifenden Ansatz der Meta-Reflexivität in die bildungswissenschaftliche Diskussion ein, der definiert ist als Kenntnis unterschiedlicher, auf den Lehrberuf bezogener theoretischer Zugänge und empirischer Befunde, die Fähigkeit, diese mit Blick auf ihre jeweiligen Grundlagen und Geltungsansprüche verorten, in ein Verhältnis setzen und sich kritisch mit ihnen auseinandersetzen zu können sowie konsistente, exemplarisch-typisierende Deutungen des komplexen Handlungsfeldes Schule vornehmen zu können.79

Dadurch sollen Studierende bestmöglich befähigt werden, später im Berufsfeld angemessene situative Deutungen und Handlungsentscheidungen unter Rekurs oder in Abgrenzung zu im Studium vermittelten Deutungen vorzunehmen. Professionalität wird verstanden als Sicherheit im Umgang mit der endemischen Ungewissheit des Lehrberufs, und »Meta-Reflexivität« erscheint als adäquateste Antwort darauf.80 Beim hochschuldidaktischen Konzept der reflexiven Praxis, dem eine hohe Wirksamkeit am Übergang von Studium und Beruf zugesprochen wird,81 geht es darum, Studierende in die Lage zu versetzen, ihr aktuelles Handeln im Studium durch Reflexion auf verschiedenen Ebenen (Deskription, Interpretation, Evaluation in Bezug auf einen Handlungskontext) beschreib- und steuerbar zu machen: Was oft fehlt, sind konkrete Einsichten, die das eigene Handeln im Studium und darüber hinaus beeinflussen und letztlich zu Handlungsmaximen für die berufliche Tätigkeit führen und im Berufsfeld zum gezielten Weiterarbeiten, Weiterdenken motivieren.82 78 Vgl. Cramer, Colin / Drahmann, Martin: Meta-Reflexivität in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung, in: Cramer, Colin / König, Johannes / Rothland, Martin / Blömeke, Sigrid (Hg.): Handbuch Lehrerinnen- und Lehrerbildung, Bad Heilbrunn, Stuttgart 2020, S. 17–33, hier S. 30. 79 Ebd., S. 28. 80 Vgl. ebd., S. 30. 81 Vgl. Bräuer, Gerd: Das Portfolio, S. 20. 82 Ebd., S. 16.

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Seitens der romanistischen Fachdidaktik stellt savoir-apprendre bzw. Lernkompetenz einen Ansatz sekundärer Lehrerbildung dar. Savoir-apprendre spiegelt sich in aktuellen Lehrplänen der Sprachenfächer in Form der Sprachlernkompetenz wider und ist auch als Teilkompetenz professioneller Kompetenzen nach dem savoir-Modell zu begreifen (neben savoir, savoir-faire, savoirêtre). In dieser Bedeutung wurde sie bereits 2000 von Leupold als Voraussetzung professionellen Handelns definiert: Unter den Begriff Lernkompetenz fällt die Fähigkeit und Bereitschaft, neue Erkenntnisse aus unterrichtsrelevanten Forschungsbereichen aufzunehmen und mit vorhandenem Wissen bezüglich unterrichtlichen Handelns zu verknüpfen.83

Martinez definiert sie als Mobilisierungskompetenz, womit gemeint ist, dass Lernende wie Lehrende über das eigene Handeln reflektieren und es entsprechend regulieren (können), also sich ihrer Ressourcen und Strategien bewusst sind, ggf. weitere suchen oder transferieren und je nach Anforderung aktivieren.84

Auch das heuristische Modell professioneller Kompetenzen nach Legutke und Schart knüpft im Bereich »Kooperation & Entwicklung« (neben »Sprache, Literatur & Kultur«, »Lehren & Lernen« und »Identität & Rolle«) an savoir-apprendre an: Es geht um die Fähigkeit, mit anderen zu kooperieren, um das eigene unterrichtliche Handeln weiterzuentwickeln, und darum, Verantwortung für die Folgen einer Handlungsentscheidung zu übernehmen.85 Savoir-apprendre bzw. »Kooperation & Entwicklung« bleiben nicht ohne Konsequenzen für das Handeln von universitären Akteurinnen der ersten Phase, die Offenheit für sämtliche berufsrelevanten Diskurse bewahren sollten. Das universitäre Ideal einer transmission hochspezialisierten Wissens sollte zugunsten eines »Bildungskonzeptes aufgegeben werden, das konsequent vom Lehren [und Lernen], den Lehrenden und den Kontexten, in denen sie handeln, ausgeht«.86 Dies impliziert die Schaffung metakognitiver Lerngelegenheiten, in denen berufsrelevante theoretische Konzepte gemeinsam handelnd erfahrbar gemacht und reflektiert werden mit dem Ziel, den Studierenden Verantwortung für ihre professionelle (Weiter-) Entwicklung zu übertragen.87

83 Leupold, Eynar: ›Ich weiß etwas, was du nicht weißt…‹: Lehrkompetenz als Schlüssel zu einem innovativen Fremdsprachenunterricht, in: Wendt, Michael (Hg.): Konstruktion statt Instruktion. Neue Zugänge zu Sprache und Kultur im Fremdsprachenunterricht, Frankfurt a.M., Bern [u. a.] 2000 (Kolloquium Fremdsprachenunterricht, Band 6), S. 175–186, S. 180. 84 Martinez, Hélène: Standards in der Lehrer(aus)bildung, S. 336f. 85 Vgl. Legutke, Michael K. / Schart, Michael: Fremdsprachliche Lehrerbildungsforschung, S. 32. 86 Ebd., S. 17. 87 Vgl. Martinez, Hélène: Lernkompetenz, S. 113.

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Das Konzept forschenden Lernens88 in Form der Studienprojekte im Praxissemester stufe ich im Rückblick auf meine bisherige Berufserfahrung als gelungenste metakognitive Lerngelegenheit im Sinne von savoir-apprendre ein, und zwar aus drei Gründen. Zum einen entwickeln die Studierenden ein persönliches Erkenntnisinteresse, wofür sie ihren aktuellen Wissensstand sowie Feedback im Vorbereitungsseminar nutzen: Entscheidend ist das Abwägen verschiedener berufsrelevanter (fachwissenschaftlicher, fachdidaktischer oder bildungswissenschaftlicher) Diskurse und der Abgleich mit den eigenen Praxiserwartungen sowie denjenigen der Lerngruppe. Zweitens sind sie aufgefordert, die thematisch-methodische Konzeption ihres Studienprojekts durch ihre Praxiserfahrung der ersten Wochen und Monate zu prüfen, ggf. zu revidieren oder weiterzuentwickeln. Dieser Prozess der Prüfung von Praxisrelevanz, der durch das erlebte Berufsfeld und seine Akteure informiert ist, sollte in den Begleitseminaren aufgegriffen und als Teil der Prüfungsleistung verankert sein. Die bei innovativen Produktarbeiten oder empirischen Arbeiten eher selbstverständliche Prozessreflexion ist bei geisteswissenschaftlich-hermeneutischen Projekttypen explizit einzufordern, z. B. in Form eigener themengeleiteter Unterrichtsversuche oder -hospitationen und deren Reflexion.89 Drittens müssen Studierende nach Abschluss des Praxissemesters bei der Verschriftlichung entscheiden, in welche berufsrelevanten Diskurse (und warum und wie) sie mit ihrer Arbeit hineinwirken möchten (Schlussfolgerungen und Desiderata). Um den persönlichen Erkenntnisgewinn in seiner Rolle für die weitere Professionalisierung greifbarer zu machen, wäre darüber hinaus ein iteratives Moment wünschenswert.90 Eine Iterationsmöglichkeit besteht in der neuerlichen Theoretisierung der Praxiserfahrung an der Universität in erweiterter Lerngruppe, z. B. in

88 Huber, Ludwig / Hellmer, Julia / Schneider, Friederike (Hg.): Forschendes Lernen im Studium. Aktuelle Konzepte und Erfahrungen, 2. Aufl., Bielefeld 2013 (Motivierendes Lehren und Lernen in Hochschulen, 10). 89 Am Lehrstuhl Fachdidaktik Romanistik unterscheiden wir zwischen den vier erwähnten Projekttypen. URL: https://www.romanistik.uni-bonn.de/bonner-romanistik/personal/dietr ich-grappin/Merkblatt%20Studienprojekte_2021-22.pdf [Stand: 01. 09. 2021]; Studierende sollen in allen Typen angehalten werden, nicht nur einen Habitus als Vermittlerin (von der Theorie in die Praxis), sondern auch als Schulforscher (Theoretisierung der Praxis) einzunehmen. Vgl. Heil, Stefan / Faust-Siehl, Gabriele: Universitäre Lehrerausbildung, S. 138. 90 Aus der Lehrerfortbildungsforschung weiß man um die Bedeutung der wiederholten Auseinandersetzung mit einem Thema und eingeschobenen Praxiserfahrungen. Vgl. Bräuer, Gerd: Das Portfolio, S. 14. Um hier den Anstoß zu geben, wäre eine letzte Sitzung im Begleitseminar nach Begutachtung der Studienprojekte sinnvoll, d. h. in der vorlesungsfreien Zeit. Hier könnte gemeinsam reflektiert werden, welche Einsichten die Studierenden für ihr Leitbild professionellen Handelns gewonnen haben und wie sie ihre Arbeitsergebnisse in der weiteren Ausbildung oder beruflich weiterverfolgen möchten.

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Form von Kolloquien im letzten Mastersemester.91 Gefragt sind aber auch studentische Initiativen, z. B. um den eigenen Diskursbeitrag wieder an die Praktikumsschule zu tragen oder im Referendariat als Beobachtungsschwerpunkt zu verfolgen.

4.

Fazit und Ausblick

Für die romanistische Professionsforschung besteht in Zeiten von Globalisierung und Migration in der Zusammenführung von kompetenz- und subjektorientierten Ansätzen ein zukunftsweisendes Desiderat.92 Von der romanistischen Fachdidaktik sind Antworten auf den Umgang mit sprachlich-kultureller Heterogenität im Klassenzimmer zu erwarten, das »als ein Ensemble vernetzter Lernorte«93 – ein- wie mehrsprachiger sowie virtueller Lebenswelten – aufzufassen ist. Zu diesem Zweck sollte romanistische Professionsforschung die Wechselbeziehungen zwischen fachspezifischen Facetten des Professionswissens,94 (Aus)bildungsstrukturen und berufsbiographischen Variablen untersuchen und sich der Aufgabe und dem Problem stellen, empirisch feststellbare Spuren mit normativen Vorstellungen professionellen (bzw. erfolgreichen, guten) Handelns im Italienisch-, Französisch- oder Spanischunterricht zu verbinden. Insgesamt bilden längsschnittliche Wirksamkeitsstudien95 bzw. Studien zur zweiten Phase der Fremdsprachenlehrerausbildung oder zur Berufseingangsphase96 sowie mitgetragene Verbundforschung einen blinden Fleck. Für die Weiterentwicklung der romanistischen Lehrerinnenbildung ist, so paradox es erscheinen mag, die Rückbesinnung auf die Subjektorientierung im Rahmen eines übergeordneten Bildungsauftrags entscheidend. Wer die Zusammenführung von Studieninhalten der späteren praktischen Ausbildung überlässt, wozu der Expertise-Ansatz wie auch die Standards der Lehrerbildung letztlich verleiten, vergibt sich die Chance, durch metakognitive Lerngelegenheiten, zu denen alle beteiligten Akteure mit ihren jeweiligen Perspektiven bzw. berufsrelevanten Diskursen beitragen, die Professionalisierung von Lehrkräften frühzeitig zu befördern. Ein übergreifendes Bildungskonzept, »das konsequent von insti91 Für die nächste Studien- und Prüfungsordnung haben wir im Begleitseminar die Teilnahme an einem fächerübergreifenden Kolloquium (romanische + klassische Sprachen) oder einen Vortrag zu durchgeführten Projekten im Modul »Lernerorientierung« als verpflichtend verankert. Außerdem fragen wir das datenschutzrechtliche Einverständnis zur späteren Kontaktaufnahme ab und legen eine Datenbank mit den entsprechenden Projekten an. 92 Vgl. Abendroth-Timmer, Dagmar: Lehrerforschung, S. 198. 93 Legutke, Michael K. / Schart, Michael: Fremdsprachliche Lehrerbildungsforschung, S. 9. 94 Vgl. Wipperfürth, Manuela: Welche Kompetenzstandards. 95 Vgl. Trautwein, Matthias: Professionsforschung, S. 348. 96 Vgl. ebd., S. 347; Abendroth-Timmer, Dagmar: Lehrerforschung, S. 198.

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tutionellen Lehr- und Lernprozessen ausgeht«97 und alle an der Universität zugänglichen Lehr- und Lernpotenziale ausschöpft (Abb. 5), ist für die Romanistik von besonderer Dringlichkeit.

Abb. 5: Lehr- und Lernpotenzial in der Lehrerbildung.98

Bedenkt man den Stellenwert berufsspezifischer Fremdsprachenkompetenz für die Profession und die Tatsache, dass Studierende im Vergleich zur Anglistik weniger gut ausgebildete Fremdsprachenkompetenzen mitbringen, so wird die besondere Notwendigkeit metakognitiver Lerngelegenheiten bereits im Studium deutlich: Professionalität impliziert in diesem Zusammenhang die Fähigkeit, die eigenen Sprachkenntnisse und Fertigkeiten im Hinblick auf die unterrichtliche Praxis zu reflektieren, die Belange der unterrichtlichen Praxis zu identifizieren und die eigene sprachlich-kommunikative Kompetenz situativ zu adaptieren bzw. weiterzuentwickeln.99

Fachdidaktische Akteure spielen eine Schlüsselrolle in der Entwicklung von Lehrkonzepten unter Berücksichtigung aller Potenziale (Abb. 5) sowie in der Vermittlung eines solchen Bildungskonzepts. Für die sprachpraktischen und fachwissenschaftlichen Kolleginnen und Kommilitonen im Fachstudium ermöglicht der erlebte – erinnerte – Unterricht wie auch die Hochschullehre selbst eine berufsrelevante Perspektivierung der behandelten Lehrinhalte und Methoden, wozu jedwede Art formellen oder informellen Austauschs zu begrüßen ist. Darüber hinaus ist gemeinsam mit den bildungswissenschaftlichen Akteuren und allen an der Lehrerbildung beteiligten Fächern an Möglichkeiten struktu-

97 Martinez, Hélène: Lernkompetenz, S. 112f. 98 Legutke, Michael K. / Schart, Michael: Fremdsprachliche Lehrerbildungsforschung, S. 33. 99 Ebd., S. 111.

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reller Transformation im Sinne von Meta-Reflexivität, reflexiver Praxis und savoir-apprendre zu arbeiten. Lehrerbildung sollte von der gesamten Universität als gemeinsames Problem aufgefasst werden, um die »Kultur einer Piazza, eines Forums«100 etablieren zu können.

5.

Literatur

Abendroth-Timmer, Dagmar: Reflexive Lehrerbildung: Konzepte und Perspektiven für den Einsatz von Unterrichtssimulation und Videographie in der fremdsprachendidaktischen Ausbildung, in: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 20,1 (2011), S. 3– 41. Abendroth-Timmer, Dagmar: Lehrerforschung, in: Surkamp, Carola (Hg.): Metzler Lexikon Fremdsprachendidaktik, Stuttgart 2017, S. 196–199. Appel, Joachim: Erfahrungswissen und Fremdsprachendidaktik. Dissertation, München 2000. Baumert, Jürgen / Kunter, Mareike: Stichwort: Professionelle Kompetenz von Lehrkräften, in: ZfE 9, 4 (2006), S. 469–520. Baumert, Jürgen / Kunter, Mareike: Das Kompetenzmodell von COACTIV, in: Kunter, Mareike / Baumert, Jürgen / Blum, Werner / Neubrand, Michael (Hg.): Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. Ergebnisse des Forschungsprogramms COACTIV, Münster 2011, S. 29–53. Blömeke, Sigrid: Einleitung: Professionelle Kompetenzen im Studienverlauf, in: Dies. / Bremerich-Vos, Albert / Kaiser, Gabriele / Nold, Günther / Haudeck, Helga / Keßler, Jörg-U. / Schwippert, Knut (Hg.): Professionelle Kompetenzen im Studienverlauf. Weitere Ergebnisse zur Deutsch-, Englisch- und Mathematiklehrerausbildung aus TEDS-LT, Münster, New York, München, Berlin 2013, S. 7–23. Blömeke, Sigrid / Buchholtz, Christiane / Bremerich-Vos, Albert: Zusammenhang institutioneller Merkmale mit dem Wissenserwerb im Lehramtsstudium, in: Blömeke, Sigrid / Bremerich-Vos, Albert / Kaiser, Gabriele / Nold, Günther / Haudeck, Helga / Keßler, Jörg-U. / Schwippert, Knut (Hg.): Professionelle Kompetenzen im Studienverlauf. Weitere Ergebnisse zur Deutsch-, Englisch- und Mathematiklehrerausbildung aus TEDS-LT, Münster, New York, München, Berlin 2013, S. 167–187. Bräuer, Gerd: Das Portfolio als Reflexionsmedium für Lehrende und Studierende, 2. Auflage, Opladen, Toronto, Stuttgart 2016 (Kompetent lehren, Band 6). Caspari, Daniela / Grünewald, Andreas: FF 1: Das fachdidaktische Wissen angehender Fremdsprachenlehrkräfte, in: Eisenmann, Maria / Steinbock, Jeanine (Hg.): Sprache, Kulturen, Identitäten: Umbrüche durch Digitalisierung, Hohengehren 2021, S. 343–345. Cramer, Colin: Entwicklung von Professionalität in der Lehrerbildung. Empirische Befunde zu Eingangsbedingungen, Prozessmerkmalen und Ausbildungserfahrungen Lehramtsstudierender, Bad Heilbrunn 2012.

100 Huber, Ludwig: Fachkulturen: über die Mühen der Verständigung zwischen den Disziplinen, in: Neue Sammlung 13, 1 (1991), S. 3–24, hier S. 22.

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Zur Fachkultur und Fachspezifik romanistischer Lehrerbildung

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Dritter Teil: Bildungswissenschaften der Bonner Lehrerbildung

Volker Ladenthin

Was ist die richtige Pädagogik?1

Vorbemerkung: Recht bald nach ihrer Gründung initiierte die Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft Alfter in der Lehrerbildung die Zusammenarbeit mit dem Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Bonn, eine Zusammenarbeit, die unter sich stetig ändernden organisatorischen Bedingungen und Namen auf vielfältige Weise bis in die Gegenwart fortgesetzt wird. Der folgende Text thematisiert indirekt die Grundlagen dieser Zusammenarbeit. Es handelt sich um die erweiterte Fassung eines Vortrags auf einer Tagung der Alanus Hochschule, die vom 20. bis 22. Oktober 2016 unter dem Titel »Waldorfpädagogik und Erziehungswissenschaft« stattfand. Wenn Sie mit heftigen Zahnschmerzen zum Zahnarzt gehen, … Was würde passieren, wenn dort in der Praxis statt des einen Zahnarztes nunmehr vier Zahnärzte, zudem ein Psychiater und ein Soziologe stünden und sich untereinander darüber stritten, was die beste Behandlungsmethode für Sie wäre? Wenn die ausgewiesenen Fachleute sich gegenseitig bestätigten, dass doch alles relativ sei. Wenn sie Ihnen historische Zustände, also alte Zahnbohrer und Behandlungsstühle, vorführten? Und wenn jemand erklärte, dass sie mit der Behandlung so lange warten müssten, bis auch noch die letzte aller Fragen geklärt sei? In den Diskursen der Geisteswissenschaften gehören derlei Haltungen zum Standardrepertoire auf Tagungen, und allein schon der Titel meines Vortrages könnte wie eine Provokation wirken. Und die Kollegen vom Fach werden inständig hoffen, dass ich meine Frage »nicht wirklich« zu beantworten beabsichtige. Da werde ich sie allerdings enttäuschen müssen.

1 Dieser Text versteht sich ausdrücklich als komplementär zu: Ladenthin, Volker: Pädagogische Maßgeblichkeiten und deren Rechtfertigung heute, in: Krause, Sabine / Breinbauer, Ines Maria (Hg.): Im Raum der Gründe. Einsätze theoretischer Erziehungswissenschaft IV, Würzburg 2015, S. 69–97.

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1.

Volker Ladenthin

Die Exklusivität der Wissenschaft

Vielleicht werden einige sagen, dass die moderne Wissenschaft lediglich ein Konstrukt sei. Man könne spätestens seit Kant wissen, dass die »Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt […] und die Natur nötigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten.«2 Wissen sei willkürliche, oft durch Tradition verfestigte Abstraktion, das wiesen Friedrich Nietzsche und seine französischen Interpreten doch nach: »Jenes ungeheure Gebälk und Bretterwerk der Begriffe, an das sich klammernd der bedürftige Mensch sich durch das Leben rettet, ist dem freigewordnen Intellekt nur ein Gerüst und ein Spielzeug für seine verwegensten Kunststücke: und wenn er es zerschlägt, durcheinanderwirft, ironisch wieder zusammensetzt, das Fremdeste paarend und das Nächste trennend, so offenbart er, daß er jene Notbehelfe der Bedürftigkeit nicht braucht und daß er jetzt nicht von Begriffen, sondern von Intuitionen geleitet wird. Von diesen Intuitionen aus führt kein regelmäßiger Weg in das Land der gespenstischen Schemata, der Abstraktionen: für sie ist das Wort nicht gemacht, der Mensch verstummt, wenn er sie sieht, oder redet in lauter verbotenen Metaphern und unerhörten Begriffsfügungen, um wenigstens durch das Zertrümmern und Verhöhnen der alten Begriffsschranken dem Eindrucke der mächtigen gegenwärtigen Intuition schöpferisch zu entsprechen.«3

Und selbst Moralisten wie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno folgten ihm, um die Dialektik der instrumentellen Vernunft aufzuzeigen: So sei »die Geschichte des Denkens als Organ […] der Herrschaft«4 zu verstehen. Wissenschaft sei (mit Foucault zu reden) »Ordnung der Dinge« durch Macht. Deswegen könne niemand von Wahrheit reden – alles müsse möglich sein. Wenn überhaupt, dann stünden die Wissenschaften im »Widerstreit« (Lyotard) zueinander. Es gebe Wahrheit nur im Plural. Andererseits erfahren jedoch diejenigen, die die Pädagogik Rudolf Steiners für angemessen halten, vehemente Kritik, die so tolerant nicht ist. Da waltet keine Diskurs-Pluralität. Adorno etwa spricht vom »wüsten Aberglauben Rudolf Steiners«5 – und die Reihe der Kritiker ließe sich fortsetzen. Das scheint mir widersprüchlich zu sein. Man kann nicht zugleich die Pluralität aller Methoden fordern, dann aber eine Methode ausschließen.

2 Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, in: Ders.: Werke in zehn Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. III, Darmstadt 1983, S. 23 (= B XIII). Sämtliche Zitate auch künftig in der Originalorthographie der zitierten Quelle. 3 Nietzsche, Friedrich: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, in: Ders.: Gesammelte Werke in 11 Bänden, Bd. II, München 1964, S. 373–386, hier S. 385. 4 Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung, Amsterdam 1947, S. 144. 5 Adorno, Theodor W.: Aufzeichnungen zu Kafka, in: Ders.: Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1976, S. 302–342, hier S. 328.

Was ist die richtige Pädagogik?

2.

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Wissenschaft als Methode

Wissenschaften sind – erkenntnistheoretisch betrachtet – Verständigungen über Methoden. Nicht ihre Ergebnisse weisen spezielle Handlungen als wissenschaftlich aus, sondern über die Gültigkeit von Aussagen entscheiden allein die Methoden, mit denen Ergebnisse gefunden werden. Wer etwa behauptet, uns umgebe ein »Äther«, wird gefragt, wie er das denn beweise. Als Beweis sind nur bestimmte Methoden zugelassen, die in Methodenlehren begründet werden. (Freilich könnte sich dann später die Frage stellen, mit welcher Methode die Methodenlehren arbeiteten … und so weiter. Es könnte sein, dass sich hier ein Regress ins Unendliche ergibt. Aber wie gesagt, davon später.) Um die richtige Wissenschaft zu betreiben, muss man also begründen, was die richtige Methode einer Wissenschaft ist. (Wenn denn überhaupt noch akzeptiert wird, dass Wissenschaftsorientierung unverzichtbar ist – was in der Lehrerbildung vielerorts gar nicht mehr geschieht.6) Deskriptiv kann man nun feststellen, dass sich in den Wissenschaften mindestens zwei grundlegend zu unterscheidende Methoden ausmachen lassen: Die systematische und die historische Methode.

3.

Die systematische Denkweise

Die systematische Methode versucht, Ordnungsprinzipien zu finden, grundlegende Begriffe, hierarchische Verhältnisse, Prinzipien. Ein Lehrbuch der Botanik etwa, das von der Zelle bis hin zu Biotopen die gesamte nicht-tierische belebte Natur darstellt, wäre ein Beispiel einer solchen Systematik. Ein anderes Beispiel wäre die Systematische Pädagogik, die z. B. von Begründungen für konstitutive und regulative Ideen ausgeht und die Grundbegriffe Bildung, Unterricht und Erziehung ausweist. Eine solche Systematik versucht, ein System zu entwickeln, in dem nur bestimmte Aussagen zugelassen sind, und in dem sich jede Aussage verorten lässt, die den Anspruch hat, »pädagogisch« genannt zu werden. Beim systematischen Denken gelten ausschließlich sachliche Gründe. Daher ist eine Systematik immer exklusiv und exkludierend. Sie sammelt nicht alles, sondern schließt aus, was sich dem Modus der Begründung (und ihrer begründeten Kritik) nicht fügt. In einem Lehrbuch der Botanik finden wir weder Aussagen zur Zoologie noch solche über die Schönheit des Waldes oder die wirtschaftliche Bedeutung von Pflanzen. Wir finden auch keine Aussagen darüber, 6 Vgl. Ladenthin, Volker: Wie in der Lehrerbildung Wissenschaft marginalisiert und zur Akzeptanzbeschaffung umfunktionalisiert wird, in: Pädagogische Korrespondenz 60 (2019), S. 87–101.

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was die Menschen früher als richtig ansahen. Wir finden immer den letzten, den gültigen Forschungsstand repräsentiert. In einer aktuellen Systematischen Pädagogik finden wir sicherlich keine Entfaltung der These, dass nur die herrschende Klasse gebildet sein dürfe, die beherrschte Klasse hingegen lediglich ausgebildet werde, obwohl genau dies ja einmal eine Position war, die sich selbst als pädagogisch verstand.7 Aber das ist längst Geschichte. Das systematische Denken erhebt den Anspruch auf Geltung. Es widerlegt Gedanken, wenn sie nicht nach den Regeln der vorgegebenen Methodik begründet wurden. Ein systematischer Gedanke verträgt sich nicht mit seinem Widerspruch. Er schließt ihn aus. (Auch die Dialektik schließt aus – alles Nicht-Dialektische nämlich.) Wenn Bildung fundamental durch Kompetenzen beschreibbar sein soll, dann kann sie nicht zugleich die Sittlichkeit zur regulativen Idee haben und aus dem »Zweck der Erziehung abgeleitet« (Herbart) werden. Wenn allerdings humanes Handeln das oberste Ziel der Bildungsprozesse ist, kann man Bildung nicht als formale Kompetenz beschreiben. Zwar versucht der Terminus der »Anschlussfähigkeit« unterschiedliche Systematiken zu verbinden, Schnittmengen und übereinstimmende Aussagen zu benennen – aber wer etwa den Menschen ausschließlich als sozialisiertes Wesen beschreibt, kann nicht zugleich eine Theorie seiner Autonomie »anschließen«. Eine Anthropologie, die den Menschen ausschließlich als Konkurrenzwesen versteht, das auf seinen vitalen Vorteil bedacht ist (»homo oeconomicus«), schließt prinzipiell eine Anthropologie aus, die den Menschen als freies Wesen, als Vernunftwesen ansieht. Man kann in der Tat nicht zugleich determiniert und frei sein. Ein Beispiel für eine solche systematische Arbeitsweise ist etwa die Auseinandersetzung von Klaus Prange mit der Pädagogik Rudolf Steiners.8 Er hält sie mit Prinzipien für nicht vereinbar, die er für methodisch korrekt erworben ansieht. Daher versucht er zu zeigen, dass die Waldorf-Pädagogik anders argumentiert, als er argumentieren würde bzw. ein Begründungsdefizit hat. Pädagogik sei, seiner begründeten Auffassung nach, keine Glaubenssache, doch Rudolf Steiner argumentiere mit Grundsätzen, die man glauben müsse. Es ist Pranges gutes Recht, so zu argumentieren, allerdings ist das Ergebnis auch vorhersehbar: Denn beim systematischen Interesse geht es darum, auf methodische Weise ein in sich schlüssiges System vorzustellen. Ein auf andere methodische Weise erstelltes System kann dann nur abgelehnt werden. Hier

7 Dies war die Position von Aristoteles, vgl. Ladenthin, Volker: Ist Bildung notwendig?, in: Heimbach-Steins, Marianne / Kruip, Gerhard / Kunze, Axel Bernd (Hg.): Bildung, Politik und Menschenrecht. Ein ethischer Diskurs, Bielefeld 2009, S. 69–80. 8 Vgl. Prange, Klaus: Erziehung zur Anthroposophie: Darstellung und Kritik der Waldorfpädagogik, 3., um eine Nachschr. verm. Auflage, Bad Heilbrunn/Obb. 2000.

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stehen sich zwei Methodiken gegenüber, jene Klaus Pranges und jene Rudolf Steiners. Und daher verfährt auch Rudolf Steiner in seiner Systematik auf genau dieselbe Art und Weise wie Prange: Er grenzt aus. In einem seiner Vorträge zur Heilpädagogik stellt Steiner eine besondere psychologische Methode dar, die ein Staatsanwalt namens Wulffen benutzt habe, um dann zu folgern: »Nun, nicht wahr, man muss sich über das eine klar sein: was herauskommen würde, wenn die heutige Wissenschaft in die Pädagogik übergehen würde und dann Pädagogen nach dem Schlage dieser Wissenschaft in diesen Schulen lehren würden […]. Das muss man sich ganz klipp und klar vor die Augen stellen.«9

Auch Steiners systematisches Denken ist exkludierend. Es schließt dasjenige aus, was seiner Methode nicht folgt. Er spricht der »heutigen Wissenschaft« das Recht ab, Pädagogik ausgerechnet nach psychologischen Grundsätzen zu gestalten. Es zeigt sich: Die Grundidee des systematischen Denkens ist »Geltung«. Geltung wird systematisch erwiesen. Die wichtigste Konjunktion lautet »weil«.

4.

Die historische Denkweise

Von anderer Art ist die historische Methode. Ihre Grundidee ist »Genese«: Sie rekonstruiert, was es gab. Sie ist inkludierend. Sie sammelt. Ihre Ordnungsprinzipien sind die Zeit und die chronologische Abfolge: »Und dann«, nicht aber »weil«. Der Gedanke der systematischen Richtigkeit des Dargestellten spielt im historischen Forschen gar keine Rolle: Man kann auf die Darstellung der Pädagogik des Aristoteles oder des Nationalsozialismus in einer »Geschichte der Pädagogik« nicht verzichten, nur weil beides einem nicht gefällt und ein historischer und systematischer Irrtum war. Allerdings setzt die historische Betrachtungsweise der Pädagogik einen Begriff von Pädagogik voraus. Eine Geschichte der Pädagogik ist z. B. keine Geschichte der Psychologie oder der Rhetorik, sondern berichtet nur von der Entwicklung pädagogischer Gedanken. Das setzt voraus, dass man zuvor offenlegt, wann denn ein Gedanke als pädagogisch zu qualifizieren sei. So schreibt etwa Winfried Böhm in seiner Geschichte der Pädagogik, dass er nur aufführe, was seiner Idee von Pädagogik entspreche: »Der Mensch als ein mit Vernunft, Freiheit und Sprache begabtes und geschichtliches Lebewesen«, das sich »im Lichte jener Vorstellungen hervor(bringt), die er von sich selbst hat und von sich selbst zeichnet, bei9 Steiner, Rudolf: Heilpädagogischer Kurs, 6. Auflage, Dornach (Schweiz) 1979, S. 24–41, hier S. 27.

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spielsweise als gesellschaftlicher Rollenspieler, als Naturwesen oder als autonome Person.«10 Man kann diese Begriffsbestimmung kritisieren, aber dann muss man eine andere geben. Jede Geschichte setzt einen Begriff dessen voraus, was sie zum Gegenstand wählt. Man wird allerdings diesen heuristischen Begriff der historischen Forschung möglichst weit fassen, um auch jene Konzepte aufzunehmen, welche die Systematik als Irrtum ausschließen möchte. Ja, man wird so verfahren, dass man zumindest alle diejenigen Konzepte darstellt, die von sich aus sagen, sie seien pädagogisch.

5.

Die Beziehungen zwischen systematischer und historistischer Denkweise

Die historische Darstellung setzt also eine systematische Vorentscheidung voraus. Die systematische Darstellung indessen braucht das Historische nur als Beispiel, als Illustration. Sie will ja ihren Gegenstand nicht als Gegenstand der Vergangenheit darstellen, sondern als System gültiger Gedanken, das sogar für die Zukunft gelten soll. Die Geschichtsdarstellung sagt nur, was es alles gab und wie es gewesen ist. Ob es so bleiben kann oder soll, kann sie allein mit historischen Mitteln nicht herausfinden. Dazu braucht die Pädagogik die systematischen Argumente. Aber wozu braucht man dann die Geschichte der Pädagogik? (Lassen wir dabei vorerst ein weiteres Problem unberücksichtigt, dass nämlich jeder systematische Gedanke selbst schnell der Geschichte verfällt, weil die Zeit vergeht. Denn der Anspruch des systematischen Gedankens ist es ja, gewissermaßen zeitlos zu werden. Zugleich muss jede Geschichte immer neu geschrieben werden, weil die Quellenlage und das Komplementärwissen sich immer wieder verändern.) Wenn es darum geht, die Geltung von Argumenten aufzuzeigen, dann – so scheint es – braucht man die Geschichte nur als Illustration, als Beispiel für etwas bereits Bekanntes. So, wie man die Gesetzmäßigkeiten des Dreiecks an jedem beliebigen Dreieck illustrieren kann: An einem Stück Kuchen ebenso wie an einem Grundstück oder an einem Geo-Dreieck. Das Beispiel dient als ergänzendes oder adressatenorientiertes, aufschließendes Medium, als bunte Anekdote, als ›Eisbrecher‹ (bei Vorträgen) oder als Veranschaulichung. Wer etwa sagt, dass jede Pädagogik eine Anthropologie voraussetzt, kann dies an den Ausführungen des Aristoteles über die Beschaffenheit des Menschen in seiner Schrift »Politik« ebenso nachweisen wie an Rudolf Steiners Pädagogik. Die Beispiele 10 Böhm, Winfried: Geschichte der Pädagogik. Von Platon bis zur Gegenwart, München 2004, S. 10.

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sind austauschbar, so lange sie die These belegen. Die Geschichte verschwindet in der Systematik. Dieser systematische Umgang mit Geschichte zeigt sich nicht nur in der systematischen Pädagogik, sondern in jedem systematischen Denken – von der Zahnmedizin bis zur Städteplanung oder Politik, ja in unserem lebensweltlichen Verhältnis zur Vergangenheit überhaupt. Die Art und Weise aber, wie Geschichte zum Beleg, zum Beispiel, zur Illustration für systematisches Interesse werden kann, ist nun sehr aufschlussreich und weiterführend.

6.

Der kritische Umgang mit Geschichte

Heute weit verbreitet ist das kritische Verhältnis zur Geschichte, das die Gegenwart (und das systematische Interesse) als Korrektur von früheren falschen Ansichten ansieht und sich deshalb von dem früheren Denken abgrenzt: Sie selbst haben es soeben praktiziert, als Sie über den Gedanken von Aristoteles gelächelt haben mögen, der Bildung schichtenspezifisch auslegen will: »Gut, dass es so etwas nicht mehr gibt!« Man benutzt die Geschichte nur, um sich von ihr abzugrenzen. Die gesamte Vergangenheit wird zur imperfekten Vorgeschichte der Gegenwart, zur falschen Vorgeschichte. Die Gegenwart (also das systematische Denken) weiß es besser und braucht die Vergangenheit nur als Beleg von Irrtümern. In eine Redewendung gebracht: »Während man früher irrtümlich meinte…, ist man heute der Auffassung …«.

7.

Der affirmative Umgang mit Geschichte

Genau entgegengesetzt ist das affirmative Verhältnis zur Geschichte: Die Vergangenheit wird als Reservoir angesehen, das alles bereitstellt, was auch in der Gegenwart (aus systematischen Gründen) gelten soll. In eine Redewendung gebracht: »Wie man schon bei Kant nachlesen kann…« Die historischen Dokumente und speziell ihre Aura und Autorität werden gewissermaßen als Belege für die Richtigkeit der systematischen Aussagen benutzt: Wer wird schon etwas gegen Kant sagen? Beide Male geht man allerdings auf gleiche Art mit der Geschichte um, nämlich funktional. Immer wird die Geschichte selektiv betrachtet: Einmal, weil sie nur genutzt wird, um sich abzugrenzen, einmal, weil sie nur genutzt wird, um sich Bestätigung und Autorität zu verschaffen. Das Argument wird aber nicht wahrer durch den historischen Rückgriff. Die Geschichte wird hier zum Steinbruch. Sie hat keinen Selbstwert, sondern dient letztlich dem systematischen Interesse. Eigentlich braucht man bei beiden

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Modellen keine Geschichte. Der Systematiker ist von der Richtigkeit seiner systematischen Argumente überzeugt – und entweder sucht er in der Vergangenheit nach Fehlern, von denen er sich abgrenzen, oder nach Bestätigungen, mit denen er sich schmücken kann. Letztendlich siegt aber sein systematisches Argument. Man hat nicht Recht, weil es Kant auch sagt. Sondern man zitiert ihn, weil man das, was er sagt, für richtig hält. Grundsätzlich käme das systematische Denken auch ohne diesen geschichtlichen Beleg aus. Das systematische Denken illustriert lediglich seine Argumente mit Beispielen aus der Geschichte, entweder mit schlechten oder mit guten Beispielen. Das meint die Rede vom Historischen als Steinbruch: Man sucht aus, was sich ins eigene Gedankengebäude einfügen lässt.

8.

Geschichte als Anamnese

Dieser verzweckende Umgang mit der Geschichte hat die Zunft der Historiker verärgert. Zu Recht. Denn bei einer solchen Verzweckung ist Geschichtsforschung überflüssig. Die Geschichtswissenschaft hat sich daher theoretisch unter dem Begriff des Historismus (und der Argumentation Leopold von Rankes) gegen den funktionalen Umgang mit der Geschichte gewandt. Der Historismus will die Geschichte weder als zu kritisierende noch als zu übernehmende, weder kritisch noch affirmativ darstellen, sondern zweckfrei: »Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen: so hoher Aemter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will blos zeigen, wie es eigentlich gewesen.«11 Das nun ist wiederum für den Systematiker völlig unsinnig. Denn nun braucht er die Geschichte schon gar nicht: Wenn sie weder Beispiel für das frühere Misslingen noch Antizipation ist – was soll Geschichte dann? Was sollte den Systematiker interessieren, was anders ist und weder kritisch noch affirmativ zu rezipieren ist? In der Tat hat die Geschichtsschreibung insgesamt ein Legitimationsproblem, wenn sie allein die Erhebung von Ereignissen zum Ziel ihrer Bemühungen macht. Warum soll man etwas wissen, mit dem man nichts anfangen kann? Warum soll man Rudolf Steiner lesen, wenn man ihn weder kritisieren noch übernehmen soll, sondern nur herausarbeiten will, was er eigentlich gedacht hat? Andere als diese beiden Möglichkeiten scheint es ja nicht zu geben: Man kann ihn – oder die gesamte Vergangenheit – entweder kritisieren oder übernehmen. Oder sie ist indifferent, dann braucht man sie schon gar nicht.

11 Ranke, Leopold von: Sämtliche Werke, Bd. 33/34: Geschichte der romanischen und germanischen Völker von 1494–1514, Leipzig 1885, S. 7.

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Wozu also Geschichte? Wozu Geschichtsschreibung? Wozu die Edition älterer Schriften? Die Neuherausgabe der Werke Steiners? Und man könnte direkt fragen: Wozu Rudolf Steiner? Entweder hat er das geschrieben, was systematisch richtig ist; dann weiß man es auch ohne Verweis auf ihn. Oder er hat etwas anderes geschrieben; dann braucht man es nicht, weil es ja unpassend ist. Nur zu archivieren und zu konservieren, dass er etwas geschrieben hat, wäre von arg begrenzter Nützlichkeit. Man kann nicht die gesamte Vergangenheit aufbewahren, denn dann würde die Welt zu einem gigantischen Archiv, das uns handlungsunfähig macht. In der Historik hat man daraufhin ein Argument angeführt, das die Geschichtsschreibung zu retten scheint. Geschichtsschreibung lohne sich, wenn sie etwas hervorbringe, was die Systematik prinzipiell nicht hervorbringen könne – das zugleich aber über das reine Archivieren hinausgehe. Das sei der Gedanke des Gewordenseins.12 Unter systematischer Perspektive werde nur benannt, was gilt. Unter dem Aspekt des Gewordenen werde das benannt, was da ist. Systematisches Denken frage nach der Geltung. Geschichtsschreibung beschreibe das Gewordensein. Lassen Sie es mich am Stadtbild erklären. Dass ICEs mitten durch Bonn fahren und mit ihrem Lärm die Bewohner belästigen, kann man systematisch sicher nicht rechtfertigen. Es ist allein schon medizinisch betrachtet falsch. Aber historisch kann man es erklären: Bahnhöfe wurden zur Kaiserzeit – um die Lärmbelästigung gering zu halten – an den Stadtrand gebaut, aber doch fußläufig erreichbar, weil es nur spärliche Nahverkehrsmittel ab. Als man den Bahnhof plante, war der heutige Standort genau jener, der diesem systematischen Geltungsanspruch genügte: Am Rande der Altstadt (außerhalb der Stadtmauer), aber fußläufig erreichbar. Das Wachstum der Stadt um den Bahnhof herum hat diesen Standort anders erscheinen lassen. Systematisch betrachtet ist das nicht mehr so gut zu rechtfertigen. Aber historisch lässt es sich gut erklären. Geschichtsschreibung wird zur Anamnese. Die Geschichtsschreibung begründet also nicht, dass etwas notwendig ist, sondern erklärt, wie etwas geworden ist. Damit hat die Geschichtsschreibung ein Aufgabenfeld, das nie und nimmer von der Systematik eingeholt werden kann. Das Argument »das ist so geworden« ist ja ein Argumentationstypus, der aus der Systematik ausgeschlossen ist. Sie will nicht wissen, warum etwas so geworden ist, sondern ob es richtig ist, wie es ist. Warum soll es schichtenspezifische Schulen geben? Ja, weil das sich so entwickelt hat! Das wäre systematisch nicht überzeugend. 12 Lübbe, Hermann: Was heißt: »Das kann man nur historisch erklären«?, in: Schieder, Theodor / Gräubig, Kurt (Hg.): Theorieprobleme der Geschichtswissenschaft, Darmstadt 1977, S. 148–163.

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Umgekehrt kann die Systematik nur einen heuristischen Beitrag zur Geschichtsschreibung leisten. Auch wenn sie systematisch überflüssig wären, lässt sich nicht leugnen, dass es die Bücher Rudolf Steiners gibt. Ob man ihn aus dem Kanon der pädagogischen Autoren ausschließt, hinge vom erkenntnisleitenden Interesse ab. (In Böhms Geschichte der Pädagogik ist sein Name aufgeführt.) Allerdings gerät die Rudolf-Steiner-Forschung in einer Handlungswissenschaft wie der Pädagogik in eine existenzbedrohende Zwickmühle: Wenn die Waldorf-Pädagogik sich im Sinne des Historismus darauf beschränkt, Steiners Schriften immer wieder neu zu edieren, zu kommentieren (Vergangenheit also historistisch anzueignen) oder hermeneutisch zu interpretieren, so verliert sich jedes systematische Interesse der Allgemeinheit an ihr. Sie wird eine Art historischer Verein. Sie wird zu einem archivarischen Zweig der Erziehungswissenschaft, abgehängt von der aktuellen Diskussion. Behauptet die Waldorf-Pädagogik dagegen die Geltung ihrer Aussagen, muss sie sich auf systematische Begründungen einlassen, die nicht anders sein können als jene der üblichen Erziehungswissenschaft. So verliert sie ihre Identität. Sie wird dann entweder kritisiert (also abgelehnt) oder akzeptiert – aber dann nur insoweit, wie es die gängigen Systematiken zulassen. Ja, sie muss sich von einer ihrer Methoden abwenden, der Auslegung von Steiners Schriften. Denn systematisch gilt ja etwas nicht, weil jemand es gesagt hat, sondern es gilt, weil es sachlich begründet ist. Es gilt der Inhalt der Aussage, nicht ihre Herkunft. Die sachliche Begründung ist intersubjektiv und für alle gleich – gleichgültig, ob sie zuvor von Kant oder von Steiner hervorgebracht wurde. Man könnte sagen: Wenn Steiners Aussagen gut begründet sind, braucht die Erziehungswissenschaft Steiners Schriften nicht, weil sie Aussagen systematisch, also auch ohne Steiner, gut begründen kann. Sind seine Aussagen nicht begründet, braucht die Erziehungswissenschaft seine Schriften schon gar nicht. Das systematische Interesse siegt auch hier über das historische. Die sachliche Angemessenheit geht über die Tradition. Das ist bei allen Handlungswissenschaften so. Nun scheint es eine Lösung zu geben, die das Historische (im Sinne Rankes) mit dem Systematischen verbindet. Die historisch-systematische Darstellung, die Problemgeschichte. Wir wissen, dass jede Systematik schon in dem Augenblick Geschichte wird, in dem sie aufgestellt wird. Und wir wissen, dass wir die Vergangenheit immer nur selektiv zur Kenntnis nehmen können, also systematisch. Was wäre also naheliegender, als die Vergangenheit unter systematischem Interesse zu betrachten, wohl wissend, dass dieses systematische Interesse ausschließlich historisch entstanden und damit kulturell begrenzt ist? Das Historische würde gewissermaßen auf die Selektivität und Begrenztheit auch des Systematischen hinweisen. Es würde Absolutheitsansprüche des Systematischen mit historischen Argumenten bemessen.

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So könnte das Selbstverständnis, PISA habe mit dem Kompetenzbegriff eine völlig neue Idee zum Maßstab der Bewertung pädagogischen Handelns gemacht, bezweifelt werden, indem man sowohl auf die Geschichte der Lehrzieltheorie wie die der Curriculumforschung verweist, die gleiches vor 50 Jahren schon einmal versucht hatten – und zwar vergeblich. Ja, die These, dass durch PISA ein Innovationsschub erfolgt sei, wäre durch den Hinweis eines Bildungs-Historikers auszuhebeln, der aufzeigte, dass die OECD mit den gleichen theoretischen Vorgaben, den gleichen Methoden und den gleichen Empfehlungen schon vor 40 Jahren behauptet hatte, was seit nunmehr 20 Jahren als hochaktuelles Forschungsergebnis vorgestellt wird13 – und die OECD nunmehr auf eine inzwischen veränderte Welt mit 40 Jahre alten Vorschlägen reagiere.14 So, als hätte sich seitdem nichts in der Schule verändert. Ein anderes Beispiel: Wenn wir heute nach der Inklusion in Schulen fragen, so stellt sich diese Frage nicht aus einem systematischen Interesse (etwa, weil da überraschend ein Forschungsdesiderat entdeckt wurde), sondern allein aufgrund historischer Entwicklungen: Verursacht durch den demographischen Wandel, lassen sich in ländlichen Bezirken keine drei Schultypen plus Sonderschule finanzieren. Es gibt zu wenig Kinder, um finanzierbare Schulgrößen zu erreichen. Also muss man Schultypen zusammenlegen. Das ist ein soziales, also ein historisches Problem, das nun allerdings systematisch gelöst werden muss. (Dabei fällt auf, dass die gegenwärtige Diskussion die längst vorliegenden Lösungen völlig ignoriert. Die umfangreichen empirischen Studien von Dieter Dumke werden überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Hier fehlt es an pädagogischen Historikern, die den Forschungsstand wenigstens aufarbeiten.15 Die aktuelle Systematik ignoriert den Ertrag der Wissenschaft. Das kann man – volkswirtschaftlich bemessen – als Verschwendung bezeichnen.) Auch bei der historisch-systematischen Betrachtung siegt am Ende das Systematische. Im Begriff der Problemgeschichte manifestiert sich das: Die Geschichte wird unter einer Fragestellung, eben der des Problems, betrachtet – mit der Voraussetzung, dass vergangene Zeiten dieses Problem auch hatten.

13 Vgl. Hüfner, Klaus: Bildungswesen: mangelhaft. BRD-Bildungspolitik im OECD-Länderexamen, Frankfurt/M. 1973. Dies ist für Deutschland die erste offizielle PISA-Studie, bevor der Name erfunden wurde. 14 Vgl. meine Analyse der ersten PISA-Studie von 1973 (= Anm. 13): Ladenthin, Volker: Konstruieren sich Leistungsstudien ihre eigene Wirklichkeit?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. 04. 2012, S. 6. 15 Vgl. Dumke, Dieter / Schäfer, Georg: Entwicklung behinderter und nichtbehinderter Kinder in Integrationsklassen, Weinheim, Basel 1993.

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9.

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Das Unsystematische als Proprium der Geschichtsschreibung

Schlechte Zeiten für historische Interessen, möchte man sagen. Es scheint nur die folgenden Möglichkeiten zu geben: – Entweder wird man zum Exegeten – und kann auf nicht mehr als antiquarisches Interesse in der Forschungsgemeinschaft stoßen. – Oder man mischt sich systematisch ein – und verliert dabei die eigene Geschichte im sachlichen Argument. Es könnte aber sein, dass dieser Umgang mit Geschichte defizitär und ihrem Gegenstand und ihrer Bedeutung nicht gerecht wird. Dazu ein Beispiel: In einem kleinen Text zum Geschichtsunterricht deutet Rudolf Steiner auf eine Schwierigkeit der modernen Geschichtsschreibung hin: »Allein da ist denn doch noch stark die Frage, ob das unbedingt berechtigt ist, einen solchen Kausalzusammenhang anzunehmen, daß [!] man zum Beispiel das, was in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geschieht, mehr oder weniger zurückführt auf das, was in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geschehen ist und so weiter zurück.«16 Eine kausal argumentierende Geschichtsschreibung ließe letztlich keine Freiheit zu: Alles wäre, so wie es ist, notwendig und damit alternativlos. (Was würden die Opfer einer Diktatur zu einer solchen Geschichtsschreibung sagen?) Geschichte sei demnach immer nachträgliches Konstrukt unter der Annahme von Kausalität oder Abhängigkeit. Aber wie begründen wir diese Annahmen? Muss die Kausalität nicht vorausgesetzt werden, damit man sie am Einzelfall exemplifizieren kann? Wozu aber dann der Einzelfall? Wäre Geschichte kausal, so hätten schon Adam und Eva festgelegt, dass wir uns hier und heute träfen – Zufälle einmal ausgeschlossen. Absurd! Die Geschichtsschreibung setzt zudem aus systematischen Gründen voraus, dass sie vorab weiß, was Geschichte ist. Was es wert ist, als Geschichte betrachtet und damit herausgehoben und bewahrt zu werden. Dies weiß sie allein aus systematischem Interesse, und daher erforscht eine solche Geschichtsschreibung nicht die Vergangenheit, sondern eher sich selbst. Die dargestellte Vergangenheit wird zur Projektion des Wunschdenkens. Das böse Wort, dass Geschichtsschreibung mehr über ihre Gegenwart aussagt als über die Vergangenheit, die sie erforschen will, mag hier seinen Grund haben: »Was ihr den Geist der Zeiten heißt,/ Das ist im Grund der Herren eigner Geist,/ In dem die Zeiten sich be-

16 Steiner, Rudolf: Zwölfter Vortrag. 7. Mai 1920. Geschichte- und Geographieunterricht, in: Ders.: Die Erneuerung der pädagogisch-didaktischen Kunst durch Geisteswissenschaft. Vierzehn Vorträge (…), Dornach (Schweiz) 1958, S. 184–201, hier S. 185.

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spiegeln.«17 Und in der Tat ist man erstaunt, dass man zum Beispiel bei jeder neuen Mozart-Biographie einen anderen Mozart kausal erklärt bekommt: »Das eben ist das Elend der Trivialbiographie: Sie findet für alles jene eingängigen Erklärungen innerhalb der uns zugänglichen und dem Radius unseres Erlebens entsprechenden Wahrscheinlichkeit. Die Primärquelle ist identisch mit dem Motiv: das Wunschdenken. […] Auch jene Mozart-Literatur, die redlich ›bei der Sache zu bleiben‹ sich bemüht, baut sich meist auf Konklusionen auf, die […] ihre Prämissen verdecken […]«.18

Rudolf Steiner schreibt in Zusammenfassung dieser Kritik am naiven Geschichtsverständnis: »Es ist wirklich wahr, dass sich Wichtiges, Bedeutungsvolles vollzogen hat in der Evolution der Menschheit, dass es eine fable convenue ist, wenn man glaubt, nur das brauche man zu wissen über die Entwickelung der Menschheit, was die triviale Geschichte, das, was man heute eben Geschichte nennt, mitteilt. Es waren die früheren Kulturzeitalter ganz anders, […]«.19

Ranke und die historische Methode unternahmen es angesichts dieser (schon früher geäußerten) Vorbehalte, eine Lösung in der Hermeneutik jenes Verfahrens zu sehen, das der Sache, die es zu verstehen gilt, gerecht zu werden sucht. Nun hat allerdings der französische Strukturalismus darauf hingewiesen, dass für eine hermeneutische Auslegung erst einmal jene Quellen bestimmt werden müssen, die der Auslegung für wert befunden werden. Die Normativität möge dann nicht im systematischen Erkenntnisinteresse liegen, wohl aber in der Bestimmung der Quellen, an denen sich das hermeneutische Verfahren abarbeitet. Hier nun scheint etwas auf, was der Geschichtsschreibung eine neue Bedeutung geben könnte: Sie kann von Vorgängen erzählen, für die wir gar keine Kategorien haben. Sie kann Lösungen anbieten, zu denen wir erst einmal die systematischen Probleme suchen müssen. Ganz in diesem Sinn schreibt Egon Schütz über die Bedeutung des frühgriechischen Philosophen Heraklit: »Obwohl dieser Denker im Ursprung des Abendlandes beheimatet und insofern längst vergangen ist, ist er gleichwohl von uns immer noch nicht eingeholt. […] Die Griechen bedeuten für uns eine ungeheure Herausforderung.«20 Mit dieser Sinnbestimmung wären die Erträge der Geschichtsschreibung systematisch nie einzuholen oder gar zu ersetzen: Geschichtsschreibung hätte die 17 Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Der Tragödie erster und zweiter Teil. Urfaust, hg. u. kommentiert von Erich Trunz, München 1981, S. 26 (= V. 577ff.). 18 Hildesheimer, Wolfgang: Mozart, Frankfurt/M. 1980, S. 11 u. 14. 19 Steiner, Rudolf: Bausteine zu einer anthroposophisch orientierten ›Faust‹-Deutung. 28 Vorträge zwischen 1910 und 1918, 4. Auflage, o. O. 2010, S. 287f. (= RUDOLF STEINER ONLINE ARCHIV http://anthroposophie.byu.edu). 20 Heidegger, Martin / Fink, Eugen: Heraklit, Seminar Wintersemester 1966/67, Frankfurt/M. 1970, S. 9.

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Aufgabe, von dem zu berichten, was die Systematik noch nicht kategorisiert hat oder gar nicht systematisieren kann. Sie müsste von dem handeln, was außerhalb der Systematik liegt, mit der wir die Gegenwart gestalten. Geschichtsschreibung wird zur Irritation der Systematik. Sie berichtet davon, dass es früher anders war als heute. Und damit stellt sie die Frage, was besser ist. Um diese Aufgabe leisten zu können, muss die Vergangenheit nicht systematisch, sondern historistisch erschlossen werden, aus ihrem eigenen Verständnis heraus, möglichst genau, ohne auf Anwendung zu schielen, auf teleologischen Gebrauch, weder kritischen noch affirmativen noch anamnetischen Gebrauch. Geschichtsschreibung muss stören. Sie muss so exakt sein, dass sich systematische Kategorien in Frage stellen lassen. Sie muss daher auch von dem berichten, was außerhalb dieser Kategorien liegt. Geschichtsschreibung kann die Systematik in Legitimationszwang bringen. Wenn man erzählt und zeigt, wie in der mittelalterlichen Zunftgesellschaft Kinder beim Lernen in die handwerkliche Produktion integriert waren, dann stellt sich doch die Frage nach der Begründung des heutigen Lernens und damit Schulsystems. Ist es richtig, Lernen und Leben immer zu trennen? Sollten wir z. B. die Schulzeit zwischen dem 14. und 17. Lebensjahr nicht besser durch drei Jahre Berufsausbildung unterbrechen? Pädagogische Geschichtsschreibung, die sich ernst und wichtig nimmt, muss die Systematiken stören, in Frage stellen. Damit sie das kann, muss sie hermeneutisch arbeiten. So hat sie die Chance, etwas darzustellen, was der Systematik nicht ins System passt. Sie muss nicht Problemgeschichte sein, sie kann Antwortgeschichte werden, d. h. zeigen, dass es in der Geschichte Antworten gab, zu denen wir die Probleme vergessen oder noch gar nicht gefunden haben. Diese »Antwortgeschichte« nötigt die Systematik zur Prüfung. Sie erweitert indirekt die Systematik. Aber die Geschichtsschreibung kann dies nur, wenn sie nicht auf die Systematik schielt. Wenn sie ganz bei sich ist. Es wäre dann die Aufgabe der pädagogischen Geschichtsschreibung, zum Beispiel das zu benennen, was die Gegenwart vergessen hat. Das, was die Gegenwart verdrängt hat oder verdrängen möchte. Das, was aus der Vergangenheit als unerledigt in die Gegenwart reicht. Pädagogische Geschichtsschreibung kann Erinnerung an unerledigte Utopien bedeuten, die die Behauptung der Alternativlosigkeit der Gegenwart als Ideologie entlarven. Sie kann an Hoffnungen erinnern, die man schlicht vergessen hat. Pläne, die nicht weiter konkretisiert wurden. Anfänge, die versickerten. Wenn immer noch versucht wird, die Lehrerausbildung an Kompetenztheorien auszurichten, dann wäre es die Aufgabe der historischen Forschung, jene Folgen zu beschreiben, die formale Bildungstheorien schon in der Vergangenheit gezeitigt hatten. Lehrerbildung an Universitäten darf doch keine Zurichtung auf

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staatliche Ausbildungsinteressen sein. Im Gegenteil, sie muss die Grenzen der Modelle aufzeigen – denn mehr als Modelle sind es nicht. Weil jede Gegenwart die Vergangenheit nur selektiv aufnimmt, weil jede Tradition das meiste zurücklässt, ist in jeder Vergangenheit dieser Mehrwert gelagert. Ohne Geschichtsforschung liegt der Mehrwert brach. Diese Verschwendung können wir uns nicht leisten. Es ist Übermut einer geschichtslosen Gegenwart, wenn sie glaubt, ihre Systematik hielte das ganze Weltwissen parat. Ein Übermut, der teuer zu stehen kommt, weil historische Erfahrungen, die oft schmerzliche Erfahrungen waren, wiederholt werden. Weil man den Fehler zum wiederholten Male begeht. Es ist eine Verschwendung von öffentlichen Mitteln, wenn man am Geld für historische Forschung spart. Ob die Pädagogik Steiners diese Aufgabe erfüllen kann, können Sie besser beantworten als ich. Es ist dies die Stunde der Hermeneutiker. Historische Forschung verlangt, dass man sich so tief in den Gegenstand einarbeitet, dass er die Systematik frag-würdig werden lässt. Dies gelingt, wenn der erforschte Gegenstand sein eigenes Recht bekommt. Hier nur ein kleiner Hinweis, wie man sich die Störung der Systematik durch die Rekonstruktion der Geschichte vorstellen könnte. In seinem zweiten Vortrag vom 26. Juni 1924 zur Heilpädagogik weist Rudolf Steiner darauf hin, dass jene Wissenschaften, die »den Menschen mit anthropologischer Anschauung wirklich prüfen, gar nicht dazu kommen, irgend etwas in ihm zu entdecken, woraus Gedanken entstehen.«21 Als Beantwortung dieser Frage verweist er seinerseits auf den Äther der Welt. Damit freilich hat Rudolf Steiner ein zentrales Problem aufgespürt: Wenn man nicht weiß, woraus Gedanken entstehen, kann man sie auch nicht bilden. Woraus entstehen aber Gedanken? Sind Gedanken kausal bedingt? Physikalisch? Sind sie frei? Spontan oder determiniert? Und wenn sie spontan sind, woher kommen sie? Die Hirnforschung zeigt im MRT, dass Elektronen fließen – aber warum das Gedanken sein sollen, kann sie nicht erklären. Sie setzt es voraus. Und nun könnte man prüfen, welche Antworten die Wissenschaften, die mit dem Pädagogischen befasst sind, auf diese doch recht naheliegende Frage geben. Ein gängiges psychologisches Wörterbuch beruft sich bei der Begriffsbestimmung auf Karl Bühler und definiert, dass Gedanken »letzte Erlebniseinheiten unserer Denkerlebnisse« sind.22 Ist das nicht tautologisch? Wieso kann sich das Erleben in Gedanken verwandeln – bei Tieren geschieht dies ja offensichtlich nicht? Und setzt das Erleben nicht schon den Gedanken 21 Steiner: Heilpädagogischer Kurs, S. 29. (Verben aus Vortragsgründen an den Fließtext angepasst.) Hervorhebung V.L. 22 Art.: »Gedanken«, in: Dorsch – Psychologisches Wörterbuch, 11. Auflage, hg. v. Friedrich Dorsch et al., Bern, Stuttgart, Toronto 1987, S. 236.

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voraus? Ich will und kann diese Frage hier und heute nicht weiter verfolgen. Ich kann mir – mit Rudolf Steiner – auch nicht vorstellen, wie man diese Frage empirisch beantworten kann. Ich würde aber gerne eine Antwort von jenen hören, die diesen Sachverhalt offensichtlich als geklärt voraussetzen und ihre Forschungen auf dieser Voraussetzung aufbauen. Forschung muss doch ihre eigenen Grundlagen offenlegen! Ich sehe in dieser Aufarbeitung von authentischen Positionen, die die Gegenwart stören, ein mögliches Aufgabengebiet der Rudolf-Steiner-Forschung. 1. Zuallererst stünde bei einem solchen Vorhaben die historisch-kritische Herausgabe der Texte, die auch das bewahrt, was nicht zum publizistischen Kanon gehört. Ohne gesicherte Textbasis, ohne die Schichten der Textentstehung und Textüberlieferung gibt es keine authentische Deutung. Andernfalls zitiert man sich den Rudolf Steiner zurecht, den man haben möchte, entweder aus kritischer oder aus affirmativer Absicht. 2. Die zweite Aufgabe wäre die genaue Analyse seines Werkes, aber nicht schon schielend auf mögliche Schul- oder Erziehungspraxis, auf Anwendung, auf Anschlussfähigkeit an die aktuelle Diskussion: Natürlich bietet es sich an, Steiners »Heilpädagogischen Kurs« der heutigen Inklusionsdebatte anzuempfehlen. Aber der Effekt wäre, dass dieser Text entweder kritisch oder affirmativ adaptiert würde. Er würde in der Rezeption verschwinden. Er würde sich in der Akzeptanz auflösen. Die Haltung des »Unzeitgemäßen« wäre derjenige Gestus, mit dem die pädagogische Geschichtsforschung der Gegenwart helfen würde. 3. Die dritte Aufgabe wäre es, nach der Erarbeitung einer authentischen Position den Dialog mit anderen Vorstellungen zu suchen, nicht um einen gemeinsamen Nenner zu finden, sondern um das systematische Wissen zu erweitern. Denn natürlich müssen wir begründet handeln. Wie der eingangs erwähnte Zahnarzt, der immer noch darauf wartet, Sie zu behandeln.

10.

Einheit und Mannigfaltigkeit der Pädagogik

Die Beobachtung, dass jede Systematik die Geschichte selektiv wahrnimmt, hat nun noch eine andere Konsequenz. Die Unterscheidung zwischen der systematischen und der historischen Betrachtung der Pädagogik, die eben nicht in einer historisch-systematischen Betrachtung aufgehoben werden kann, führt nun zu einer grundsätzlichen Frage. Wer hat denn systematisch Recht? Wenn die historische Forschung gänzlich unterschiedliche Systeme herausarbeiten kann – mögen sie nun lange zurückliegen oder noch in die Gegenwart tradiert werden – dann stellt sich mit aller

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Vehemenz die Frage: »Was ist die richtige Pädagogik?« Die Frage meines Vortrags. Um die Beantwortung dieser Frage kommen wir nicht herum, wenn wir pädagogisch handeln wollen, also unsere Kinder erziehen, Kitas gestalten, Schulen organisieren und Universitäten betreiben wollen. Nur wird deutlich, dass es faktisch nicht eine einzige Pädagogik geben kann. Von welcher Art wäre die richtige Pädagogik? Welcher Methode bediente sie sich? Und mit welcher Methode rechtfertigte sich die gewählte Methode? Mit den Vorlieben von Beraterfirmen im Kultusministerium? Systematisch betrachtet kann man nur von dem Handlungsfeld »Pädagogik« sprechen, wenn man voraussetzt, dass man vorab weiß, was Pädagogik ist. Das Problem etwa der empirischen Studien der Gegenwart ist, dass sie zwar die Schule untersuchen, aber nicht die Pädagogik in ihr. Die Hattie- Studie23 etwa fragt danach, was am besten in der Schule wirkt. Bereits mit dieser Fragestellung hat sie sich aus dem Paradigma des Pädagogischen katapultiert: »Wirkung« ist kein pädagogischer Begriff.24 In pädagogischen Interaktionen geht es nicht um Wirkungen, so wie etwa die Sonne auf die Haut einwirkt und sie bräunt oder einen Sonnenbrand bewirkt. So, wie bei der Marketingforschung, bei der man misst, ob nach einer Werbekampagne mehr Kunden die beworbene Zigarettenmarke kaufen. Aber selbst in dieser Forschung weiß man inzwischen, dass gleiche Ursachen höchst unterschiedliche Folgen haben können – weil nämlich die Bedeutung nicht vermittelt, sondern vom Rezipienten erzeugt wird. In pädagogischen Prozessen geht es aber überhaupt nicht um Wirkung, weil es nämlich nach Übereinkunft der gesamten pädagogischen Tradition, von Platons Theorie des Dialogs bis hin zu Interaktions- und Kommunikationstheorien ein pädagogischer Gemeinplatz ist, dass der zu Bildende das selbst hervorbringen muss, was er am Ende wissen oder können soll. Nicht Wirkung, sondern Aufforderung zur Selbsttätigkeit ist das Paradigma der Pädagogik; es besteht, wie Leonard Nelson es treffend formuliert, darin, so auf den Zögling einzuwirken, 23 Hattie, John A. C.: Visible Learning: A synthesis of 800+ meta-analyses on achievement, London, New York 2009. 24 In diesem Sinne unpädagogisch ist die Studie dann auch rezipiert worden: »Er entfaltet seinen Ansatz vor dem Hintergrund der grundlegenden Einsichten (»big ideas«) aus seiner Studie ›Visible Learning‹ (Hattie 2009). In dieser untersucht er mit über 800 Meta-Analysen empirisch, mit welchen Formen des Lehrerhandelns und der schulischen Intervention sich welche Wirkungen erzielen lassen. Er unterscheidet hinsichtlich besonders wirksamer Vorhaben vor allem solche auf den Ebenen der Lernenden, der Lehrenden und des Unterrichts. […] Worauf es vielmehr wirklich ankommt, ist die Qualität und die Wirksamkeit des unterrichtlichen Handelns der Lehrerinnen und Lehrer.« Aus: Höfer, Dieter / Steffens, Ulrich: »Visible Learning for Teachers – Maximizing impact on learning« – Zusammenfassung der praxisorientierten Konsequenzen aus der Forschungsbilanz von John Hattie »Visible Learning«, 26. September 2012, Institut für Qualitätsentwicklung, Wiesbaden, S. 1 u. S. 3. URL: http://www.visiblelearning.de /wp-content/uploads/2013/04/Hattie-2_Veroeff_Zsfa_2012_09_26.pdf, Hervorhebung V.L.

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dass er von Wirkungen frei wird: »Wie kann man jemanden durch äußere Einwirkung dazu bestimmen, sich nicht durch äußere Einwirkung bestimmen zu lassen?«25 Nicht die Wirkung, sondern die Gültigkeit von Gedanken ist das Ziel pädagogischer Bemühungen. Die freilich misst Hattie überhaupt nicht. Aller pädagogischen Forschung, allem pädagogischen Denken (und Handeln) muss eine Einheitlichkeit der Fragestellung zugrunde liegen. Fehlt diese Fragestellung, mag es exzellente Forschung sein, nur eben keine pädagogische. Die Einheitlichkeit der Fragestellung, z. B. jene, die ich am Beispiel Winfried Böhms zitiert hatte, geht allen anderen Untersuchungen logisch voraus. Wenn man nicht angibt, was Pädagogik ist, weiß man nicht, ob Rudolf Steiners Schriften oder die OECD-Studien dazugehören. Das Problem aber ist, dass selbst die Frage nach dem Pädagogischen nur zeitverhaftet formuliert und beantwortet werden kann. Die Landessprachen z. B., in denen man die Antworten formuliert hat, sind nicht deckungsgleich, sondern Anlass zu Übersetzungen, die mehr, aber auch weniger als das Original beinhalten. Wer Steiner übersetzt, schafft einen neuen Steiner. Wir formulieren unsere Antworten in und aus der Vorstellungswelt einer kulturellen Gegenwart. Antworten auf die Frage »Was ist Pädagogik?« sind stets hypothetisch. Es sind Vorschläge unter Geltungsanspruch – wohl wissend, dass niemand alles wissen kann, auch bei der Begriffsbestimmung nicht. Zugleich müssen sie normativen Anspruch erheben, weil sie sonst gar nicht nötig wären. Der Geltungsanspruch, den jede Antwort stellt, belässt die Vielheit nicht in einem »Widerstreit« von Monaden, die sich nichts zu sagen haben. Vielmehr bindet die Forderung nach dem Begriff die Vielheit in einen Dialog zusammen: Jede Antwort stellt die Aufgabe, nach der dazugehörigen Frage zu suchen und verpflichtet, die Antwort zu prüfen. Niemand hat Recht, aber jeder sucht es – und setzt es mit seiner Suche voraus. Und jetzt kommen wir auf die Überlegungen zur Geschichte der Pädagogik zurück: Eine differierende pädagogische Position ist dann gerechtfertigt, wenn sie mit guten und nachvollziehbaren Gründen Aspekte in Anschlag bringt, die andere Positionen außer Acht gelassen haben. Weil wir als endliche Wesen nie alles werden wissen können, brauchen wir die Mannigfaltigkeit der vielen Versuche, die sich zueinander in Beziehung setzen: Wissenschaftliche Schulen können sich nicht nur um sich selbst kümmern und sich selbst tradieren. Aber sie gehen auch nicht auf in einem Allgemeinen, das irgendwer formulieren könnte. Jede wissenschaftliche Aussage bleibt Beispiel für ein Allgemeines, das erst noch zu suchen ist. Für ein Allgemeines, das vorauszusetzen ist, aber immer nur partiell formuliert werden kann. 25 Nelson, Leonard: System der philosophischen Ethik und Pädagogik, aus dem Nachlaß hg. v. Grete Hermann u. Minna Specht, Göttingen 1932, S. 358.

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Jede einzelne wissenschaftliche Systematik braucht die andere, um sich ihrer selbst zu vergewissern, zu versichern oder sich herausfordern zu lassen. Das ist weder additiv gemeint noch als Vorschlag zum Kompromiss. Wahrheit macht keine Kompromisse. Es ist gemeint als Beitrag zu einem Ganzen, das nur in historischen Beispielen formuliert werden kann. Wenn ich Rudolf Steiner richtig gelesen habe, dann hat er das eigene Bemühen auch so verstanden: »Diese Anregungen, die ich geben werde, werden um so unvollständiger sein müssen, als es sich wirklich bei den Erziehungsprinzipien, von denen ich hier spreche, nicht um ein Programm handelt, sondern um eine Praxis. Und wenn es sich um eine Praxis handelt, kann man immer nur einiges, ich möchte sagen beispielsweise aus dieser Praxis anführen.«26 Das heißt doch: Er stellt nicht »die Pädagogik« dar, sondern eine pädagogische Teilpraxis; und diese stellt er nicht als Beleg für eine These, sondern als Beispiel für ein Prinzip dar, für ein noch zu suchendes Allgemeines. Er will Beispiele in systematischer Absicht präsentieren – und somit Genese und Geltung in ein Spannungsverhältnis setzen. Anders könnte Wissenschaft doch auch gar nicht vorgehen – es sei denn dogmatisch oder politisch verordnet. Letzteres ist das Ende von Wissenschaft. Belege findet man in der deutschen Geschichte. Steiner will ein Beispiel geben für etwas noch zu Suchendes – das heißt aber auch, dass seine eigene Pädagogik work in progress ist. Man würde Rudolf Steiners Anliegen nicht gerecht, wenn man ihn kanonisierte. Rudolf Steiners Rede vom Beispiel ist die Verweigerung von Dogmatismus, ja die Warnung vor dem Dogmatismus, ohne dass er jedoch den Anspruch auf Geltung suspendiere. Er will kein Beispiel für etwas schon Bekanntes geben, sondern ein Beispiel für etwas am Beispiel zu Suchendes in Auftrag geben. Im Sinne Rudolf Steiners zu denken hieße hier und von dieser Textstelle ausgehend, ihn weiterzudenken. Nicht im Sinne einer systematischen Adaption, nach der er kompatibel gemacht würde, sondern als Suche nach dem, was er eigentlich sagen wollte, aber nur historisch begrenzt sagen konnte. Ihn auszulegen, hieße, so sagt er, ihn im Lichte neuer Erkenntnis zu denken. Es ist die Aufforderung Steiners, sich mit ihm auf eine Denkbewegung einzulassen und anlässlich von Beispielen das für alle verbindliche Allgemeine zu suchen. Er historisiert gewissermaßen sein eigenes Werk, damit es zum Anstoß werden kann für neues Wirken. Im Begriff der Erziehungskunst wird dieser Grundgedanke nunmehr handlungsbezogen gewendet: »[Das] Erziehungswesen wird hier von anthroposo26 Steiner, Rudolf: Erziehungskunst durch Menschenkenntnis. London, 20. November 1922, in: Ders.: Zeitgemäße Erziehung im Kindheits- und Jugendalter. Zwei Vorträge, gehalten in London am 19. und 20. November 1922, Dornach 1976, S. 25–47, hier S. 26, Hervorhebung V.L.

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phischer Geisteswissenschaft nicht aufgefasst als eine Wissenschaft, nicht als eine theoretische Erkenntnis, sondern als eine wirkliche Kunst […].«27 Erzieherisches Handeln kann nicht aus theoretischen Vorgaben deduziert werden, so wie etwa ein Mechatroniker aus dem Bauplan eines Ingenieurs ein Auto zusammensetzen kann. Jeder Erzieher muss vielmehr so vorgehen, wie wir es aus der Kunst kennen – wo ein Romancier ja auch nicht mit dem Schreiben seines Romanes so lange wartet, bis ihm die Literaturwissenschaftler definitiv erklärt haben, was ein Roman ist. Er fängt an. Sein geplantes Handeln versteht sich als Beispiel, dessen Prinzipien er rechtfertigen muss. Es ist immer – und es war immer – Handeln unter Vorbehalt des begrenzten Wissens. Wie anders sollte man sonst auf eine Schulklasse reagieren? Weder das Kultusministerium noch die Wissenschaft können Handlungsanweisungen geben, was man machen soll, wenn der kleine Felix keinen Sinn in der Mathematik sieht. Weder das Kultusministerium noch die Wissenschaft kennen die Individuallage von Felix. Jeder Lehrende verfährt analog zum Künstler: Er sucht nach Lösungen, deren Prinzipien zu solchen der Pädagogik werden könnten. Jede Systematik ist nur Beispiel für das intendierte Allgemeine. Jedes Beispiel steht allerdings unter strengem Geltungsanspruch: Es intendiert, dass Allgemeine gültig zu bestimmen. So, wie jeder Satz das Sprachsystem gültig bereichern will. Um diesen erkenntnistheoretisch begründeten Anspruch einlösen zu können, brauchen wir die Geschichte. Nicht nur die Problemgeschichte, sondern die ganze Geschichte – und dabei gerade jene, die wir vergessen haben, die verloren wurde, unterdrückt, verfälscht, ignoriert. Jede Systematik, die sich ihrer Grundlagen bewusst ist, bedarf des Unsystematischen als Korrektiv. Hier sehe ich eine wesentliche Aufgabe der pädagogischen Geschichtsschreibung. Sie bleibt dann aktuell, wenn sie sich dem Aktuellen nicht beugt, sondern es prinzipiell erweitert. Deutlich wird aber auch: Sobald versucht wird, dogmatisch eine pädagogische Forschungsrichtung als die einzige durchzusetzen, womöglich auf dem Verwaltungsweg, wie man es bei der Kompetenzorientierung beobachten kann, zerstört man willentlich den Wissenschaftscharakter der Pädagogik und macht eine Weltanschauung aus ihr. Die Geschichte zeigt, wie es weltanschaulichen Pädagogiken ergangen ist. *** Was machen unsere Fachleute in der Zahnarztpraxis inzwischen? Sie verhalten sich genau wie die Pädagogen: Sie suchen die beste Lösung angesichts des Wissens, dass es in Zukunft immer bessere geben könnte, man mit der Behandlung jedoch nicht bis ans Ende der Geschichte warten kann. Und sie lernen, etwa von 27 Steiner: Erziehungskunst durch Menschenkenntnis, S. 26f., Hervorhebung V.L.

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der chinesischen Medizin, dass es mehr gibt, als ihre europäische klinische Ausbildung gewusst hat. Sie suchen in der Vergangenheit nach Beispielen in systematischer Absicht.

Literatur Adorno, Theodor W.: Aufzeichnungen zu Kafka, in: Ders.: Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1976, S. 302–342. Art.: »Gedanken«, in: Dorsch – Psychologisches Wörterbuch, 11. Auflage, hg. v. Friedrich Dorsch et al., Bern, Stuttgart, Toronto 1987, S. 236. Böhm, Winfried: Geschichte der Pädagogik. Von Platon bis zur Gegenwart, München 2004. Dumke, Dieter / Schäfer, Georg: Entwicklung behinderter und nichtbehinderter Kinder in Integrationsklassen, Weinheim, Basel 1993. Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Der Tragödie erster und zweiter Teil. Urfaust, hg. u. kommentiert von Erich Trunz, München 1981. Hattie, John A. C.: Visible Learning: A synthesis of 800+ meta-analyses on achievement, London, New York 2009. Heidegger, Martin / Fink, Eugen: Heraklit, Seminar Wintersemester 1966/67, Frankfurt/M. 1970. Hildesheimer, Wolfgang: Mozart, Frankfurt/M. 1980. Höfer, Dieter / Steffens, Ulrich: »Visible Learning for Teachers – Maximizing impact on learning« – Zusammenfassung der praxisorientierten Konsequenzen aus der Forschungsbilanz von John Hattie »Visible Learning«, 26. September 2012, Institut für Qualitätsentwicklung Wiesbaden. URL: http://www.visiblelearning.de/wp-content/up loads/2013/04/Hattie-2_Veroeff_Zsfa_2012_09_26.pdf [Stand: 17. 02. 2021]. Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung, Amsterdam 1947. Hüfner, Klaus: Bildungswesen: mangelhaft. BRD-Bildungspolitik im OECD-Länderexamen, Frankfurt/M. 1973. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, in: Ders.: Werke in zehn Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. III, Darmstadt 1983. Ladenthin, Volker: Ist Bildung notwendig?, in: Heimbach-Steins, Marianne / Kruip, Gerhard / Kunze, Axel Bernd (Hg.): Bildung, Politik und Menschenrecht. Ein ethischer Diskurs, Bielefeld 2009, S. 69–80. Ladenthin, Volker: Konstruieren sich Leistungsstudien ihre eigene Wirklichkeit?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. 04. 2012, S. 6. Ladenthin, Volker: Pädagogische Maßgeblichkeiten und deren Rechtfertigung heute, in: Krause, Sabine / Breinbauer, Ines Maria (Hg.): Im Raum der Gründe. Einsätze theoretischer Erziehungswissenschaft IV, Würzburg 2015, S. 69–97. Ladenthin, Volker: Wie in der Lehrerbildung Wissenschaft marginalisiert und zur Akzeptanzbeschaffung umfunktionalisiert wird, in: Pädagogische Korrespondenz 60 (2019), S. 87–101. Lübbe, Hermann: Was heißt: »Das kann man nur historisch erklären«?, in: Schieder, Theodor / Gräubig, Kurt (Hg.): Theorieprobleme der Geschichtswissenschaft, Darmstadt 1977, S. 148–163.

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Volker Ladenthin

Nelson, Leonard: System der philosophischen Ethik und Pädagogik, aus dem Nachlaß hg. v. Grete Hermann u. Minna Specht, Göttingen 1932. Nietzsche, Friedrich: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, in: Ders.: Gesammelte Werke in XI Bänden, Bd. II, München 1964, S. 373–386. Prange, Klaus: Erziehung zur Anthroposophie: Darstellung und Kritik der Waldorfpädagogik, 3., um eine Nachschr. verm. Auflage, Bad Heilbrunn/Obb. 2000. Ranke, Leopold von: Sämtliche Werke, Bd. 33/34: Geschichte der romanischen und germanischen Völker von 1494–1514, Leipzig 1885. Steiner, Rudolf: Zwölfter Vortrag. 7. Mai 1920. Geschichte- und Geographieunterricht, in: Ders.: Die Erneuerung der pädagogisch-didaktischen Kunst durch Geisteswissenschaft. Vierzehn Vorträge […], Dornach (Schweiz) 1958, S. 184–201. Steiner, Rudolf: Erziehungskunst durch Menschenkenntnis. London, 20. November 1922, in: Ders.: Zeitgemäße Erziehung im Kindheits- und Jugendalter. Zwei Vorträge, gehalten in London am 19. und 20. November 1922, Dornach (Schweiz) 1976, S. 25–47. Steiner, Rudolf: Heilpädagogischer Kurs, 6. Auflage, Dornach (Schweiz) 1979, S. 24–41. Steiner, Rudolf: Bausteine zu einer anthroposophisch orientierten ›Faust‹-Deutung. 28 Vorträge zwischen 1910 und 1918, 4. Auflage, o. O. 2010. (= RUDOLF STEINER ONLINE ARCHIV URL: http://anthroposophie.byu.edu) [Stand: 17. 02. 2021].

Jutta Standop

Digitale Medien in der Schule – komplexe Anforderungen durch ein komplexes Leitmedium

Einleitung Das Internet gilt als eine der größten Veränderungen der Informationstechnologie seit der Erfindung des Buchdrucks mit erheblichen Auswirkungen auf das alltägliche Leben. Zählten früher Buch, Zeitung, Radio und TV zu den wichtigsten Kanälen, um sich über politische Veränderungen, ökonomische oder kulturelle Verhältnisse, Strukturen oder Tendenzen zu verständigen bzw. zu orientieren, stellen Digitalisierung und globale Vernetzung die Leitfunktion dieser Medien zunehmend in Frage. Jeder Mensch kann heute (relativ) unkompliziert das World Wide Web mitgestalten. Diese Zugänglichkeit und die Vervielfachung des Gemeinschaftlichen führen dazu, dass Kultur und Gesellschaft umfassend durch Digitalität beeinflusst werden. Stalder konstatiert entsprechend eine »Kultur der Digitalität«, die heute den Alltag durchdringt, indem sie »eine alle Lebensbereiche bestimmende kulturelle Konstellation« formt.1 Alle früheren (Leit-)Medien werden durch Digitalität transformiert, die entsprechend als »Beginn einer neuen Kulturepoche begriffen werden« muss.2 Hierbei übernimmt das Internet als neues Leitmedium eine »Hauptfunktion in der Konstitution gesellschaftlicher Kommunikation und von Öffentlichkeit«,3 da es einen erheblichen Einfluss auf die öffentliche Meinung und die Massenmedien hat. Als zunehmend essenzieller Teil der Lebens- und Arbeitswelt beeinflussen die ›Neuen Medien‹ die grundlegende Beziehung des Menschen zu sich selbst, seiner gegenständlichen und sozialen Lebenswelt. Digitale Informationen und Instrumente sind heute »ubiquitär verfügbar und zunehmend (als eingebettete Systeme) unsichtbar. Sie durchdringen persuasiv alle Funktionsbereiche der Gesell-

1 Stalder, Felix: Kultur der Digitalität, Berlin 2019, S. 94. 2 Ebd. 3 Göttlich, Udo: Massenmedium, in: Schanze, Helmut (Hg.): Metzler Lexikon Medientheorie Medienwissenschaft, Stuttgart 2002, S. 193.

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schaft«4 und werden mit fortschreitender Handhabung zunehmend zu einem Teil menschlicher Kompetenz, d. h. neben der Wissensaufnahme in das Langzeitgedächtnis erweitern externe Informationssysteme langfristig die menschliche Informationsverarbeitung und damit die menschliche Leistungsfähigkeit.5 Darüber hinaus verändert sich unsere soziale Wirklichkeit, denn Onlinewelt und stofflich-physikalische Welt verbinden sich miteinander. Basis dieser Allgegenwart digitaler Medien ist v. a. das mobile Internet. So ist die virtuelle Welt durch das Smartphone immer erreichbar, und durch Fotos, Videos und Kommentare lassen sich Vorkommnisse in der stofflich-materiellen Welt digital belegen und vorführen. »Die Nutzung digitaler Medien ist derart Teil unserer Lebenswelt, dass das Digitale nichts ›Besonderes‹ mehr ist«.6 Auch unser Umgang mit Informationen verändert sich. Wir finden im Internet eine riesige Informationsmenge, die über mobile Geräte jederzeit abrufbar ist. Es mehrt sich ein »Laien-Expertentum«7 im Internet, dessen Wissen nicht gesichert und häufig zweifelhaft ist. Diese gesamte Entwicklung hat Konsequenzen für die Gesellschaft und ihre Anstrengungen, die nachwachsende Generation auf ihre zukünftigen Aufgaben vorzubereiten. Für Schule stellen sich Herausforderungen in mehrfacher Hinsicht, denn heute konkurrieren die lokale Begrenzung, fachsystematische Gliederung, zeitliche Ordnung und die sozialen Beschränkungen des Unterrichts mit einer allgegenwärtigen, vernetzten, stets gegenwärtigen Medienwelt.8 Zugleich tangiert die Digitalisierung nicht nur den Medieneinsatz, sondern auch die schulische Medienerziehung. Sie betrifft die Lehrinhalte aller Fächer, die Professionalität von Lehrer: innen und die Organisation von Schule. »Das Wissen einer Kultur erschließt sich uns zusehends über digitale Medien, wir partizipieren an gesellschaftlicher Kommunikation über digitale Medien und entwickeln unsere Persönlichkeit im (inter-) aktiven und reflektierten Handeln in diesen Welten«.9 Daher geht es heute darum, auf welche Weise Schule die aktuellen gesellschaftlichen Anforderungen des digitalen Wandels als schulische Aufgaben annehmen und adäquat auf die Bedürfnisse der Heranwachsenden hin modellieren kann. Dies wiederum führt zu der Frage, wie angehende Lehrer:innen eigentlich auf die sich ihnen zukünftig stellenden Aufgaben angemessen vorbereitet werden können. 4 Kerres, Michael: Mediendidaktik. Konzeption und Entwicklung digitaler Lernangebote, 5. Auflage, Berlin, Boston 2018, S. 71. 5 Vgl. ebd. 6 Kergel, David / Kergel, Birte: E-Learning, E-Didaktik und digitales Lernen, Berlin 2020, S. 85. 7 Pscheida, Daniela: Das Wikipedia-Universum. Wie das Internet die Wissenskultur verändert, Bielefeld 2010, S. 262. 8 Vgl. Herzig, Bardo: Digitalisierung und Mediatisierung – didaktische und pädagogische Herausforderungen, Pädagogischer Mehrwert? Digitale Medien in Schule und Unterricht, Münster [u. a.] 2017, S. 25–57. 9 Heinen, Richard / Kerres, Michael: »Bildung in der digitalen Welt« als Herausforderung für Schule. DDS – Die Deutsche Schule 109,2 (2017), S. 128–145.

Digitale Medien in der Schule

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Bildungsperspektiven in der digitalisierten Welt

Sollen Individuum und Gesellschaft durch Bildung befähigt werden, die sich stellenden Herausforderungen zu bewältigen und zu gestalten, ist vorab ein gesellschaftlicher Konsens notwendig, welche Herausforderungen überhaupt als Bildungsaufgaben zu bewältigen10 und welche Kompetenzen damit verbunden sind. Aufgrund der engen Beziehung zwischen individueller und gesellschaftlicher Entwicklung kann ein Individuum vorrangig solche Kompetenzen entwickeln, deren Entfaltung die Umwelt zugleich fördert und beansprucht. Bildung als grundlegendes Fundament gesellschaftlichen Zusammenlebens bezieht sich auch in einer digitalen Welt auf die Ermöglichung der Teilhabe von Menschen an kulturellen, mediatisierten Leistungen und Wissensbeständen sowie auf die Befähigung zur Partizipation und Mitgestaltung von gesellschaftlicher Kommunikation.11 Im Kontext des Lernens und der Bildung sind Interaktion und Kommunikation zentrale Kennzeichen der Wissensaneignung (gemeinsam mit individueller Produktion und Flexibilität), welche die Elemente des Sach-, Selbstund Sozialbezugs einschließt.12 Hierbei übernehmen digitale Informationstechnologien mittlerweile eine besondere Aufgabe. Sie ermöglichen dem Individuum, innovative mediale Formen des Persönlichkeitsausdrucks ebenso wie veränderte Weisen der Kommunikations- und der Beziehungsformen mit bzw. zu anderen Menschen zu entdecken, um sich das kulturelle Wissen einer Gesellschaft über neue mediale Wege zu erschließen. Medien »als Wege oder Möglichkeitsräume […], die Neues erschließen und damit den Einzelnen, die Organisation/Institution und die Gesellschaft ›transformieren‹«,13 stellen Orte sozialer Begegnung dar und haben eine wachsende Bedeutung für Bildungs- und Subjektivierungsprozesse. Dies macht es allerdings notwendig, die reflexiven Möglichkeiten medialer Räume und Artikulationsformen im Hinblick auf ihre Orientierungsleistungen und -dimensionen zu identifizieren. Soll Bildung Menschen und Gesellschaften in die Lage versetzen, die Herausforderungen einer digitalen Welt konstruktiv zu bewältigen, ist es erforderlich, »digitale Technik zu verstehen, anzuwenden und zu reflektieren, – um das Wissen der Kultur zu erschließen, – um die eigene Identität auszudrücken und zu entwickeln,

10 Vgl. Kerres, Michael: Mediendidaktik. 11 Vgl. ebd. 12 Vgl. Moser, Heinz: Schule 2.0: Medienkompetenz für den Unterricht. Schulmanagement konkret, Band 20, 2010. 13 Kerres, Michael: Mediendidaktik, S. 74.

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– um berufliche Anforderungen bewältigen zu können und – an gesellschaftlicher Kommunikation teilzuhaben«.14

Bislang werden Kompetenzen zum Umgang mit digitalen Medien in Deutschland vor allem im Elternhaus und unter Peers weitergegeben. Dies führt jedoch zu sozialen Ungleichheiten. Allgemeinbildende Schulen sind daher dringend gefragt, Heranwachsende in ihrer Entwicklung zeitaktueller Medienkompetenzen zu unterstützen und die erforderlichen Grundlagen für eine erfolgreiche Lebensgestaltung und gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen.15 Leider reagierte die Bildungspolitik auf Länderebene lange Zeit nicht auf die Notwendigkeit, Schulen Hinweise oder Handreichungen zum Umgang mit dieser Aufgabe an die Hand zu geben (geschweige denn die erforderliche Technik). Erst im Jahre 2017 veröffentlichte die Kultusministerkonferenz ein Strategiepapier,16 in dem Digitalisierung »im weiteren Sinne verstanden [wird] als Prozess, in dem digitale Medien und digitale Werkzeuge zunehmend an die Stelle analoger Verfahren treten und […] neue Perspektiven in allen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Bereichen erschließen, aber auch neue Fragestellungen z. B. zum Schutz der Privatsphäre mit sich bringen«.17 In diesem Sinne ist sie für den Bildungsbereich zugleich »Chance und Herausforderung«, da einerseits formale Bildungsprozesse auf das Individuum bezogen Talente und Potenziale unterstützen können, andererseits »sowohl die bisher praktizierten Lehr- und Lernformen sowie die Struktur von Lernumgebungen überdacht und neugestaltet als auch die Bildungsziele kritisch überprüft und erweitert werden müssen«.18 Im KMK-Papier werden konkrete Anforderungen spezifiziert in Form von Kenntnissen, Kompetenzen und Fähigkeiten, die Heranwachsende für ein selbstständiges und mündiges Leben in einer digitalen Welt benötigen.19 Sie umfassen die Bereiche: 1. Suchen, Verarbeiten und Aufbewahren, 2. Kommunizieren und Kooperieren, 3. Produzieren und Präsentieren, 4. Schützen und sicher agieren, 5. Problemlösen und Handeln, 6. Analysieren und Reflektieren. Im Zuge der

14 Ebd., S. 67. 15 Vgl. Döring, Nicola / Ludewig Yvonne: Die Medienentwicklung an allgemeinbildenden Schulen in Frankfurt aus Sicht von Lehrerinnen und Lehrern – Ergebnisse aus FokusgruppenDiskussionen, in: Thomas Knaus / Olga Engel (Hg.): fraMediale. digitale Medien in Bildungseinrichtungen [Band 2], München 2011, S. 47–58. 16 Vgl. Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland [KMK]: Strategie der Kultusministerkonferenz »Bildung in der digitalen Welt«, Berlin 2016. URL: https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_bes chluesse/2016/2016_12_08-Bildung-in-der-digitalen-Welt.pdf [Stand: 08. 08. 2019]. 17 Ebd., S. 8. 18 Ebd. 19 Vgl. ebd.

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gemeinsamen Vereinbarung der KMK-Strategie folgten länderspezifische Ausformulierungen (vgl. z. B. Medienkompetenzrahmen NRW 2019).20 Wenn der Kompetenzrahmen auch die übergeordnete Bedeutung der Erziehungs- und Bildungsaufträge und einen Primat des Pädagogischen betont, betrachtet Macgilchrist diesen dennoch kritisch. So konstatiert sie bei »42 dieser Kompetenzen ein[en] Primat des Technischen […], etwa in dem Anspruch, eine »Vielzahl von digitalen Werkzeugen [zu] kennen und kreativ anwenden« zu können.21 Nur 15 Kompetenzen heben umfassendere Ziele hervor, zum Beispiel »als selbstbestimmter Bürger aktiv an der Gesellschaft« teilzuhaben«.22 Darüber hinaus kritisiert Macgilchrist, »dass vor allem individuelle Kompetenzen als der Schlüssel zur gesellschaftlichen Teilhabe hervorgehoben werden«,23 da die Aufmerksamkeit sich v. a. auf das Individuum richtet, dem die Verantwortung für eine »gelingende Zukunft« zugewiesen wird. Gesellschaftliche Aspekte der kulturellen Veränderungen wie »neue Kommunikations- und soziale Interaktionsformen, Anschlussmechanismen, Aufmerksamkeitsökonomien, Zeitvorstellungen, Prekarisierungen, auf Nutzerdaten basierende Geschäftsmodelle, das algorithmische Bias oder die Verschiebung gesellschaftlicher Machtstrukturen«24 geraten demgegenüber aus dem Blick. Verändern digitale Medien den Zugang zu Bildung und beeinflussen sie den Bildungsprozess auf spezifische Weise, dann ist zu fragen, welche Kompetenzen für Bildung im Zeitalter der Digitalität notwendig sind. Beispielsweise hat die Partnership for 21st Century Learning – P21 – eine US-amerikanische Non-ProfitOrganisation aus Bildungsexperten, Wirtschaftsvertretern und am Gesetzgebungsprozess Beteiligten – das »Framework for 21st Centrury Learning« erarbeitet. Die dort entworfenen »Learning and Innovation Skills – 4C-Skills« fassen die – nach ihrer Ansicht – wichtigsten Fähigkeiten für Lernen, Erwerbsarbeit und ein erfolgreiches Leben zusammen. Konkretisiert werden sie durch die überfachlichen Kompetenzen Kritisches Denken & Problemlösen, Kommunikation, Kollaboration/Zusammenarbeit sowie Kreativität & Innovation. Diese werden als wesentliche Grundlagen u. a. für das eigenaktive, problemorientierte Lernen betrachtet. Kritisches Denken und Problemlösefähigkeit sind wichtig für die Auswahl praxis- und problemrelevanten Wissens sowie für die Steuerung erlangter Einsichten und Lösungsstrategien. Grundlegend hierfür ist die Kommunikation mit anderen sowohl über die Fragestellungen als auch über mögliche 20 Vgl. URL: https://medienkompetenzrahmen.nrw/ [Stand: 01. 06. 2021]. 21 Macgilchrist, Felicitas: Digitale Bildungsmedien im Diskurs. Wertesysteme, Wirkkraft und alternative Konzepte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte [APuZ], 14. November 2019, S. 18–23, hier S. 21. 22 Ebd., S. 19f. 23 Ebd. 24 Ebd.

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Lösungen und Irrtümer sowie über nachvollziehbare Produktdarstellungen. Da Arbeitsaufträge und Problemstellungen zunehmend komplexer und ihre Bewältigung im Team daher notwendiger werden, ist die Fähigkeit zur Kooperation entscheidend. Kreativität wiederum ist erforderlich für das Erforschen und Analysieren von Fragestellungen, das Ermitteln von Lösungswegen und für kontextübergreifende Beziehungen.25 Als wesentlich für die erfolgreiche Lebensgestaltung der nachwachsenden Generation werden also insbesondere überfachliche Kompetenzen betrachtet, die kognitive wie auch sozial-emotionale Aspekte umfassen und die schließlich zu einem verantwortlichen und entwicklungsfördernden Umgang mit digitalen Medien grundlegend beitragen. Auch die OECD hat sich in den vergangenen Jahren der Frage gewidmet, welche Kompetenzen für Bildung in Zukunft essentiell sein sollen.26 Dennoch sind aus der Perspektive einer Bildung, die sich auf digitale Medien bezieht, auch grundlegende Kompetenzen über Information, Medien und Technologie erforderlich, wie z. B. Döbeli Honegger27 sie darlegt: – die effektive und effiziente Nutzung digitaler Medien in sämtlichen Lebensbereichen (Anwendungs- bzw. Handlungskompetenzen); – die Produktion digitaler Inhalte sowie die Reflexion über Nutzung, Bedeutung und Wirkung von Medien (Medienbildung); – das Verständnis grundlegender informatischer Konzepte und ihre Anwendung zur Lösung von Problemen in sämtlichen Lebensbereichen sowie zum Verständnis der Informationsgesellschaft (Informatorische Grundbildung). Die drei Bereiche ergänzen sich gegenseitig, so kann ohne konkretes Anwendungswissen weder Informatik noch Medienbildung von den Heranwachsenden nachhaltig verstanden werden. Zugleich stellt Medienbildung für Handlungswissen und Informatik die erforderliche Reflexionsebene dar, die fundamentalen Grundlagen für Anwendung sowie Medienbildung liefert wiederum die Informatik.28 Schulisches Lernen dient nicht nur der unmittelbaren Verwertbarkeit und Vorbereitung auf eine Tätigkeit außerhalb der Lernsituation. Vielmehr sollen Lernende allgemeine Grundbildung erwerben, sich in der Gesellschaft orientie25 Vgl. Fadel, Charles / Bialik, Maya / Trilling, Bernie: Die vier Dimensionen der Bildung. Was Schülerinnen und Schüler im 21. Jahrhundert lernen müssen, Hamburg 2017. 26 Vgl. OECD: The Future of Education and Skills: Education 2030. Position paper. URL: http:// www.oecd.org/education/2030/E2030%20Position%20Paper%20(05.04.2018).pdf [Stand: 02. 06. 2021]. 27 Vgl. Döbeli Honegger, Beat: Mehr als 0 und 1: Schule in einer digitalisierten Welt, Bern 2016, S. 77. 28 Vgl. ebd., S. 78.

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ren und auf dem Arbeitsmarkt platzieren können. Die im Zusammenhang mit der Nutzung von Mediengeräten und digitalen Artefakten zu entwickelnden Kompetenzen tangieren fundamentale menschliche Möglichkeiten, sich mit Hilfe von Medien zu artikulieren und zu verständigen, d. h. Medien zur Darstellung und Verständigung zu verwenden. Sind digitale Medien das Leitmedium unserer Gesellschaft, müssen die genannten Kompetenzen als grundlegende Kulturtechniken verstanden werden. Zugleich ist der Medieneinsatz gebunden an die Erarbeitung von Lerninhalten, denn digitale Technik allein fördert die Qualität von Lehr-Lern-Kontexten wenig, sie »zeichnet sich vielmehr durch ihren Gestaltungsspielraum aus, und es kommt letztlich auf die Akteure an, einen […] Wandel der Lernkultur«29 zu realisieren. Nicht digitale Medien verändern also Lernen und Wissenserwerb, diese müssen durch Menschen mit Hilfe digitaler Technik innoviert und durch entsprechende didaktische Arrangements optimiert werden. Die Durchdringung aller Lebensbereiche mit digitaler Technik führt somit zu der Frage, wie diese konstruktiv zur Unterstützung menschlichen Lernens und menschlicher Entwicklung gestaltet und eingesetzt werden kann.30

2.

Schule in einer digitalisierten Welt

Schule als gesellschaftliche Institution soll Heranwachsende dabei unterstützen, selbstbestimmte und verantwortliche Handlungsfähigkeit sowie gesellschaftliche Partizipation zu entwickeln. Vor dem Hintergrund einer von Medien geprägten Welt heißt dies auch, Kinder und Jugendliche zu einem kompetenten und verantwortlichen Medienumgang zu befähigen, da ihre »alltägliche Nutzung nicht notwendig in einen reflektierten und kritischen Umgang mit Medien mündet und sich Partizipationschancen nicht automatisch mit dem Zugang zu Medien erhöhen«.31 Die gegenwärtig zwischen schulischer und außerschulischer Entwicklung bestehende Diskrepanz gilt es aufzugreifen und zu bearbeiten,32 die vor- und außerschulischen Erfahrungen der Schüler:innen zu berücksichtigen und digitale Technik zur Unterstützung menschlichen Lernens sowie menschlicher Entwicklung zu gestalten und einzusetzen.33 Dafür müssen die Wirkungen 29 Heinen, Richard / Kerres, Michael: »Bildung in der digitalen Welt« als Herausforderung für Schule, S. 132. 30 Vgl. Kerres, Michael: Mediendidaktik, S. 138. 31 Schaumburg, Heike / Prasse, Doren: Medien und Schule, Bad Heilbrunn 2019, S. 12. 32 Eickelmann, Birgit: Digitale Medien – Ein blinder Fleck in der Schulpädagogik?, in: Karpa, Dietrich / Eickelmann, Birgit / Grafe, Silke: Digitale Medien und Schule. Zur Rolle digitaler Medien in Schulpädagogik und Lehrerbildung, Immenhausen bei Kassel 2013, S. 186–194. 33 Vgl. Kerres, Michael: Mediendidaktik.

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des aktuellen Leitmedienwechsels auf die schulische Arbeit berücksichtigt werden, die sich zeigen durch – eine veränderte Sozialisation von Heranwachsenden durch Informations- und Kommunikationsgewohnheiten mittels digitaler Medien sowie die ständige Verfügbarkeit von lexikalischem Wissen und Peergroup. – den Verlust des schulischen Informationsmonopols aufgrund zunehmender Verfügbarkeit von Informationen und Anleitungen im Internet zu nahezu allen Themen. Schule gerät unter stärkeren Legitimationsdruck, da außerschulisches, informelles Lernen bedeutsamer wird. – neue Werkzeuge für das Lernen und Arbeiten, die die Zusammenarbeit erleichtern und die nichttextuelle Information und Kommunikation durch Töne, Bilder und Videos fördern, die aber zum Teil veränderte Arbeitsweisen erfordern. – neue Themen für das Verständnis der heutigen Welt, die von Lernenden und Lehrenden ein Grundverständnis über Digitalität fordern. – eine sich durch Digitalisierung, Automatisierung und Vernetzung grundlegend verändernde Berufswelt. Das Verschwinden von Berufen, die Informationsflut, zunehmende Globalisierung, berufliche Anforderungen und die Geschwindigkeit von auftretenden Veränderungen führen zu anderen Arbeitsweisen, die ein lebenslanges Lernen erfordern.34 Für ein sachgerechtes, selbstbestimmtes, kreatives und sozialverantwortliches Handeln in der digitalen Welt benötigen Heranwachsende zunächst basale Fähigkeiten im Umgang mit Medienangeboten im Hinblick auf »Information und Lernen, Problembearbeitung und Erkenntnisgewinn sowie Unterhaltung und Spiel (als grundlegende Handlungs- und Interaktionsfelder). Für eine auf Selbstbestimmung, Partizipation und soziale Verantwortung zielende Bildung ist dies allerdings nicht hinreichend. Neben einer sachgerechten und zielführenden Nutzung und Handhabung ist einerseits ein grundlegendes Verständnis von digitalen Medien als Software und damit verbundener Prozesse der Formalisierung, Algorithmisierung, Berechenbarkeit und maschinellen Verarbeitung und andererseits ein kritisches Urteilsvermögen in Bezug auf die Einflüsse und Auswirkungen der Erzeugung, Analyse und Verarbeitung von Daten erforderlich«.35

Um diese Fähigkeiten erfolgreich vermitteln zu können, müssen Lehrer:innen selbst über fundierte Fachkenntnisse hierzu verfügen wie über pädagogischdidaktische Strategien einer lernförderlichen Vermittlung. 34 Vgl. Döbeli Honegger, Beat: Mehr als 0 und 1, S. 44f. 35 Herzig, Bardo: Digitalisierung und Mediatisierung – didaktische und pädagogische Herausforderungen, in: Fischer, Christian (Hg.): Pädagogischer Mehrwert? Digitale Medien in Schule und Unterricht, Münster 2017, S. 28.

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Digitale Medien eröffnen zahlreiche neue Möglichkeiten des Arbeitens, zugleich verändert sich das Verhältnis von Lehrenden und Lernenden, denn im Internet finden Lernende nicht nur ein Vielfaches an Informationen und Wissenselementen zu allen möglichen Sachfragen, sondern auch zahlreiche – pädagogisch-didaktisch unterschiedlich erfolgreich aufgebaute – Erklärungen und Erläuterungen als Video, Podcast, Präsentation und Text. Die Unterschiede von schulischen und außerschulischen Zusammenhängen verwischen zunehmend, Medienangebote werden gleichermaßen für formale und informelle Fragestellungen verwendet.36 Das Zusammentreffen eines zunehmend digitalisierten traditionellen Lernraums mit einem immer mehr sozialisierten digitalen Lernraum führt zu einer Konvergenz der Lernräume, was zu einem verstärkt raumunabhängigen ubiquitären Lernen führt: – »Lernen und Lehren beschränken sich nicht mehr auf bestimmte, dafür konfigurierte Orte, sondern sind überall möglich. – Mobile Endgeräte eröffnen den ortsunabhängigen Zugang auf digitale Artefakte und verbinden damit verschiedene Lernorte. – Medienbrüche entfallen: Digitale Artefakte werden z. B. zuhause erstellt und im Veranstaltungsraum präsentiert und gemeinsam bearbeitet. Sie können dann an anderen Orten weiter genutzt werden. – Das Lernen im Veranstaltungsraum wird immer digitaler, gleichzeitig wird das Lernen im Internet immer sozialer. – Lernangebote sind – unabhängig von Lernorten – grundsätzlich mit Bezug auf digitale Artefakte und Werkzeuge zu konzipieren«.37

Aufgrund der zunehmenden Automatisierung von Tätigkeiten durch den Computer sollten insbesondere gezielt solche Kompetenzen gefördert werden, die nicht automatisierbar sind. Suchmaschinen übermitteln in Sekundenbruchteilen unzählige Antworten aus zahlreichen Quellen, daher besteht die eigentliche Aufgabe der Nutzer darin, die gewünschten Informationen durch zielführende Fragen zu erhalten und die Suchergebnisse im Hinblick auf Bedeutsamkeit und Echtheit zu kontrollieren.38 Hierfür benötigen diese Orientierungs- bzw. Faktenwissen, um Informationen aus dem Internet nicht unreflektiert zu übernehmen. Kreatives und normabweichendes Denken »werden in einer digitalisierten Welt wichtiger, weil der Computer die einfachen Probleme bereits gelöst hat und damit die ungelösten Probleme komplexer werden«39 und sind dann erforderlich, wenn digital verfügbares Wissen auf ein konkretes Problemfeld bezogen auszuwählen, 36 37 38 39

Vgl. Kerres, Michael: Mediendidaktik. Ebd., S. 40. Vgl. ebd. Döbeli Honegger, Beat: Mehr als 0 und 1, S. 47. Vgl.: Partnership for 21st Century Learning P21. URL: https://www.battelleforkids.org/networks/p21 [Stand: 15. 02. 2021].

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zu be- und verarbeiten ist. Sie kommen ebenfalls zum Einsatz, wenn unkonventionelle und interdisziplinäre Lösungsansätze notwendig werden sowie Kooperation und kommunikativer Austausch in heterogenen, multikulturellen Teams. Digitale Medien können die Lernenden unterstützen, ihre Fähigkeiten zur Differenzierung und zur Konzentration auf zentrale Fragestellungen zu schulen, zugleich bleibt der Wissenserwerb grundlegende Basis für die Entwicklung jeglicher Kompetenzen.40

3.

Didaktische Perspektiven auf digitale Medien im Unterricht

Schulischer Unterricht dient der fachlichen und überfachlichen Wissens- und Kompetenzvermittlung. Als institutionalisierte (Kunst-)Form organisierter Koproduktion von Lehrenden und Lernenden ist er verbunden mit der pädagogischen und didaktischen Intention, Lehr-/Lernprozesse sowie Lehr-/Lernsituationen zu ermöglichen, die der effektiven und individuell förderlichen Aneignung curricularer und extracurricularer Bildungsinhalte dienen. Unterricht ist intentional, ziel- sowie anforderungsbezogen, greift bestimmte Inhalte sowie Themen auf und zeichnet sich durch die Interaktion und Kommunikation zwischen Lehrenden und Lernenden aus.41 Da menschliches Leben keine ›außermedialen Zustände‹ kennt, sind auch Lernprozesse stets medial, denn »jedes Wissen verfügt über eine mediale Spezifik«.42 Wissen ist immer vorläufig, insofern stellt Ergebnisoffenheit ein wichtiges Kennzeichen des Lernens dar, die Aufmerksamkeit richtet sich entsprechend stärker auf den Lernprozess.43 Eine zeitgemäße Bildung benötigt Räume für Lernprozesse mit der Möglichkeit für ›Versuch und Irrtum‹ sowie für innovative Konzepte. Unterschiedliche Lernangebote und -strategien sind daher notwendig, in Form des Übens von Techniken, des Erwerbs von Faktenwissen, der Einschätzung und des Verständnisses komplexer Sachverhalte und Zusammenhänge sowie schließlich durch Reflexion des eigenen Selbst- und Weltbezugs (ebd.). Mediendidaktisch betrachtet, stellt sich die Aufgabe, einerseits den Kompetenzanforderungen des digitalen Zeitalters zu entsprechen und andererseits der digitalen Kommunikation entsprechende 40 Vgl. Köster-Ehling, Olaf / Heinen, Richard: Weit über den Bildschirm hinaus: Digitales ist ganzheitliches Lernen. Die Digitalisierung an Schulen braucht eine neue Pädagogik, in: SchulVerwaltung spezial 21,2 (2019), S. 65–67. 41 Vgl. Standop, Jutta / Jürgens, Eiko: Unterricht planen, gestalten und evaluieren, Bad Heilbrunn 2015. 42 Bächle, Thomas C.: Digitales Wissen, Daten und Überwachung. Zur Einführung, Hamburg 2016, S. 49. 43 Vgl. Standop, Jutta / Jürgens, Eiko: Unterricht planen, gestalten und evaluieren, Bad Heilbrunn 2015.

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Lernprozesse zu realisieren; »dabei ist vor allem darauf zu achten, dass die dialogischen und kollaborativen Potenziale des Digitalen angemessen in Lehr-/ Lernszenarien aktualisiert werden«.44 Die unterrichtliche Integration von Medien findet in einem komplexen didaktischen Gesamtzusammenhang statt, sodass die Einbindung digitaler Medien in Abhängigkeit von ihrer didaktisch-methodischen Zielsetzung im Rahmen unterschiedlicher Unterrichtsarrangements erfolgen kann. Werden Medien als Teil einer komplexen Lernumgebung aufgefasst, ist zu klären, wie das umfangreiche Medienangebot, auf das Lernende inner- und außerhalb der Schule treffen, im schulischen Kontext nutzbar gemacht werden kann und Lernende befähigt werden können, Medien selbstbestimmt und lernwirksam zu nutzen. Dabei ersetzt das Internet in der Regel nicht das Lernen in Präsenz, sondern kann dieses durch virtuelle Angebote ergänzen,45 wodurch der Einsatz bislang vorherrschender Lehr-Lernmaterialien wie z. B. (analoger) Arbeitsbücher seine Normalität verliert. Der Einsatz digitaler Medien sollte aufgrund von inhaltlichen Überlegungen erfolgen und im Vergleich mit anderen unterrichtlichen Arbeitsmitteln konkrete zielführende Vorteile bieten.46 Döbeli Honegger47 sieht folgende qualitative Verbesserungen des Unterrichts durch den Einsatz digitaler Medien: – Erhöhung der Werkzeug- und Methodenvielfalt für eine abwechslungsreiche Unterrichtsgestaltung im Hinblick auf Recherche, Verarbeitung oder Präsentation von Informationen. – Erweiterte, multimediale Kommunikations-, Kollaborations- und Publikationsmöglichkeiten (textuell, auditiv, audiovisuell) inner- und außerhalb der Klasse. Lernende erarbeiten z. B. mit digitalen Medien allein oder gemeinsam Inhalte, beurteilen diese gegenseitig und überarbeiten sie für eine anschließende Veröffentlichung. – Veranschaulichung mit Multimedia: Computer und Internet erleichtern die Nutzung von Bildern, Tönen und Filmen für eine lernförderliche, anschauliche Unterrichtsgestaltung. Zugleich ermöglichen sie Lernenden die Entwicklung eigener inhaltsbezogener multimedialer Produkte. – Motivationsförderung durch die Möglichkeiten digitaler Medien bei den Lernenden, die aber in der Regel nur kurzfristig wirkt. Ein vielfältiger, differenzierter Medieneinsatz hingegen unterstützt die längerfristige Aktivierung von Schülerinnen und Schülern. – Unmittelbare Rückmeldungen durch Lernprogramme, z. B. bei Übungsaufgaben mit einer begrenzten Anzahl richtiger Antworten. Automatisierte Rückmel44 45 46 47

Kergel, David / Kergel, Birte: E-Learning, E-Didaktik und digitales Lernen, S. 40. Vgl. Kerres, Michael: Mediendidaktik. Vgl. Hartmann, Simon / Purz, Dirk: Unterrichten in der digitalen Welt, Göttingen 2018. Döbeli Honegger, Beat: Mehr als 0 und 1.

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dungen ermöglichen den Lernenden eine zeitnahe Reaktion auf das Feedback, zugleich wird die Lehrperson entlastet. Sanktionsfreie Rückmeldungen durch den Computer, z. B. wenn der Lernende eine Aufgabe bereits mehrfach falsch gelöst hat. Heranwachsende sorgen sich nicht, als ›dumm‹ oder ›faul‹ eingestuft zu werden, zugleich werden Fehleinschätzungen und Vorverurteilungen verhindert (allerdings existieren bereits Programme, z. B. ›learning analytics‹, die digital verfügbare Übungsergebnisse statistisch auswerten). Adaptivität: Adaptive Lernprogramme offerieren Lernenden aufgrund bisheriger Arbeitsergebnisse den jeweils nächsten sinnvollen Lernschritt (individuell angepasste Aufgabenformate), um die Lerneffizienz zu erhöhen. Individuelles Lerntempo: Unmittelbare Rückmeldungen oder Adaptivität erleichtern den Schüler:innen das Lernen im eigenen Lerntempo sowohl beim Einsatz von Übungsaufgaben, als auch bei der Arbeit mit Videos oder Tondokumenten. Interaktive Simulationen ermöglichen, beliebig oft und ohne Materialverbrauch wiederholbar zu sein und nicht fehlzuschlagen. Sie werden verwendet, wenn ein reales Experiment in der Schule nicht möglich ist. Aktuelle Lerninhalte und Beispiele bzw. Ereignisse: Tagesaktuelle Zeitungs-, Radio- und Fernsehbeiträge lassen sich durch digitale Medien einfacher im Unterricht einsetzen, beispielsweise zur Erläuterung geschichtlicher oder politischer Phänomene.

Zugleich sind Prüfungstraditionen zu hinterfragen.48 Wird z. B. die Benutzung digitaler Medien in Prüfungen untersagt, werden diese zunehmend lebensfern, wenn zugleich viele Fragestellungen außerhalb einer Prüfungssituation selbstverständlich mit digitalen Medien bearbeitet werden. Das für eine erfolgreiche Problembewältigung in der Lebenswirklichkeit erforderliche Wissen wird dann möglicherweise gar nicht erhoben. Können kognitiv wenig anspruchsvolle Aufgaben zunehmend durch Computer gelöst werden, sollten einzelne Prüfungsaufgaben kognitiv anspruchsvoller angelegt sein, um eher der Lebens- und späteren Berufswelt zu entsprechen. Ist die kompetente Anwendung digitaler Werkzeuge heute für eine erfolgreiche Lebensführung notwendig, sollte diese auch Bestandteil von Prüfungen sein. Sowohl für die Unterrichts- als auch für die

48 Vgl. Mihajlovic´, Dejan: Was ist zeitgemäße Bildung?, in: Krommer, Axel / Lindner, Martin / Mihajlovic´ Dejan / Muuß-Merholz Jöran / Wampfler, Philip: #Digitale Bildung. Auf dem Weg zu zeitgemäßem Lernen. Eine Orientierungshilfe im digitalen Wandel, Hamburg 2019, S. 235– 241.

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spätere Prüfungsgestaltung sollten ganzheitliche Fragestellungen maßgeblich werden.49 Für ihre Lerntätigkeit sollten Heranwachsende entsprechend auf ein persönliches, digital vernetztes Gerät zurückgreifen können (wie dies bei Schulbüchern, Arbeitsheften und anderen Unterrichtsmaterialien selbstverständlich ist), erst dann wird dessen Verwendung alltäglich. Computerräume bzw. Notebookpools sind keine Alternativen, denn hier muss die Lehrperson vorab entscheiden, ob digitale Geräte für den Unterricht nützlich sein könnten, die Lernenden hingegen werden gerade dieser Überlegung beraubt. Darüber hinaus werden eigene Geräte ein Teil der persönlichen Lernumgebung von Heranwachsenden. Sie richten diese auf ihre individuellen Bedürfnisse und Vorlieben ein, speichern Arbeitsergebnisse und Lernverläufe direkt auf dem Gerät, sodass diese immer verfügbar sind. Die Integration digitaler Medien in den bestehenden Unterrichtsstil schließlich führt nicht per se zu einer Veränderung der Lernkultur, denn Computer beseitigen nicht zwangsläufig frontalunterrichtliche Lernsettings. Häufig wird Lernsoftware eingesetzt, die Verhaltensweisen über einzelne Lernaufgaben vor allem behavioristisch verstärkt und Lehrvorträge mit Beamer-Einsatz integrieren sich mühelos in frontale Unterrichtsarrangements. Auch eng gelenkte Aufgabenstellungen, z. B. zur Informationssuche im Internet, berühren traditionelle Unterrichtverfahren durchaus nicht. E-Learning ist das Ergebnis der Digitalisierung im Kontext von Lehr-/Lerngeschehen und Blended Learning und kombiniert Phasen des Onlinelernens mit denen des Präsenzlernens. Das zeit- und ortsunabhängige Lernen und Informieren mit mobilen Endgeräten, die einen unmittelbaren Zugriff auf Informationen bzw. Wissen ermöglichen und in der Regel vernetzt sind, kennzeichnet das Mobile Learning.50 Dieses konzentriert sich auf das Potenzial der Mobilität digitaler Endgeräte und die Möglichkeit, situativ bzw. kontextualisiert zu lernen. So »passt sich Mobile Learning an den Nutzer, den Ort und die Umgebung an und sorgt für eine nahtlose Kombination verschiedener Lernorte mit Hilfe mobiler Endgeräte und drahtloser Netze«.51 Hierdurch können Lernprozesse in ihrem situativen Kontext wahrgenommen und entsprechende didaktische Strategien entwickelt werden, z. B. können wichtige sachbezogene Informationen unkompliziert mit dem Smartphone ermittelt werden. D. h., die tragbaren und vernetzten Endgeräte dienen sowohl als Informationsquelle (z. B. Navigation, Zu49 Vgl. Fadel, Charles / Bialik, Maya / Trilling, Bernie: Die vier Dimensionen der Bildung. Was Schülerinnen und Schüler im 21. Jahrhundert lernen müssen, Hamburg 2017. 50 Vgl. Witt, Claudia de: Vom E-Learning zum Mobile Learning – wie Smartphones und Tablet PCs Lernen und Arbeit verbinden, in: Dies. / Sieber, Almut (Hg.): Mobile Learning. Potenziale, Einsatzszenarien und Perspektiven des Lernens mit mobilen Endgeräten, Wiesbaden 2013, S. 13–26. 51 Ebd., S. 18.

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griff auf Wissensdatenbanken), Kommunikationsmedium (u. a. Meinungsaustausch mit anderen Lernenden) als auch als kognitives Werkzeug (Produktion und Austausch von Notizen, Videos, Mindmaps etc.).52 Um das Potenzial digitaler Medien für das Lernen auszuschöpfen und vor allem um überfachliche Kompetenzen wie kritisches Denken und Problemlösen, Kommunikation, Zusammenarbeit sowie Kreativität und Innovation zu fördern, sind problembasierte, ganzheitliche Aufgabenstellungen zu entwickeln und anzubieten.

4.

Anforderungen an das Lehrer:innenhandeln

Zentrale Person des (›guten‹) Unterrichts ist die Lehrperson,53 die auch den Einsatz digitaler Medien festlegt. Dieser erweist sich nur dann als sinnvoll und zielführend, wenn das gewählte Medium einen Mehrwert für die Lernenden gegenüber anderen Lernsettings erbringt. Dafür muss die Lehrperson über die notwendigen Kompetenzen verfügen, digitale Medien lernförderlich in den Unterricht zu integrieren, d. h., sie sollte diese nicht nur kennen und nutzen können, sondern auch berücksichtigen, inwieweit sich diese auf die Fachinhalte auswirken, Lernprozesse mit ihnen zu gestalten sind, bestimmte Themen mit ihnen besser unterrichtet werden können und wie datensicher die digitalen Werkzeuge sind. Hierfür ist die Kenntnis unterschiedlicher Nutzungsmöglichkeiten sowie die zielführende Verwendung jeweiliger Hard- und Software nicht ausreichend,54 vielmehr stehen Lehrende »vor der konkreten Herausforderung, Medienthemen und -anwendungen sinnvoll für bestimmte Unterrichtsziele und in angemessenen didaktischen Settings nutzen bzw. vermitteln zu können«.55 Zugleich sind die medienbezogenen Kompetenzen der Lernenden zu unterstützen. Medienkompetenz und medienpädagogische Kompetenzen der Lehrperson sind entscheidend für die Umsetzung unterrichtlicher Zielsetzungen und die Unterstützung schulischer Bildungsprozesse von Lernenden unterschiedlicher soziokultureller Herkunft, denn sie wirken auf die Kompetenzen der Lernenden und somit auf deren Leistung. Medienpädagogik und medienpädagogische Bildung von Lehrenden differenzieren zwischen persönlicher Medienkompetenz, berufsfeldbezogener Medienbildung sowie medienpädagogischer Kompetenz. Im schulischen Kontext spricht Letztere insbesondere das Wissen und Können von Lehrenden im Hinblick auf Theorien und Konzepte medienbezogener Erziehung, Bildung und 52 Vgl. ebd. 53 Vgl. Hattie, John: Visible Learning. A synthesis of over 800 meta-analyses relating to achievement, New York 2008. 54 Vgl. Petko, Dominik: Einführung in die Mediendidaktik, Weinheim 2020. 55 Schaumburg, Heike / Prasse, Doren: Medien und Schule, S. 241.

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Sozialisation sowie der Mediendidaktik an.56 Neben den grundlegenden Kompetenzbereichen, die für den Beruf von Lehrer:innen relevant sind,57 ergibt sich somit eine weitere auf Digitalisierung bezogene Aufgabe, die alle Kompetenzbereiche tangiert: die Qualität des Unterrichts ebenso wie die sich aus der Digitalisierung ergebenden Erziehungsaufgaben, die Diagnose von Vorkenntnissen im Umgang mit digitalen Medien, die Bewertung von mit digitalen Medien erbrachten Leistungen ebenso wie die Weiterentwicklung von Schule und Unterricht im Kontext der Digitalisierung. Für die schulbezogene medienpädagogische Kompetenz von Lehrenden ist einerseits ihre eigene Haltung gegenüber Medien und ihr persönliches Engagement für die eigene pädagogische und medienbezogene Professionalität von großer Bedeutung, andererseits die Offenheit gegenüber Veränderungen und die Fähigkeit zur Reflexion.58 Auch wenn Bildungsstandards, Rahmenlehrpläne oder schulinterne Curricula bzw. Medienkonzepte die Basis für Unterrichtsplanung und -durchführung vorgeben, treffen Lehrende vielfältige Entscheidungen über Umfang und Art des Einsatzes digitaler Medien im Unterricht und die Berücksichtigung von Medienbildung. Grundlegend hierfür sind ihre Einstellungen und Überzeugungen sowie – neben den technischen, fachlichen und didaktischen Kompetenzen – das Maß ihres Selbstwirksamkeitsempfindens und ihrer Innovationsbereitschaft. Lehrende können den Medieneinsatz in ihrem Unterricht aktiv fördern, ignorieren oder behindern. Sie können die Möglichkeiten digitaler Medien für Lernprozesse nutzen oder deren Vorteile in Frage stellen bzw. eventuelle Gefahren hervorheben.59 Die letzte ICILS-Erhebung (International Computer and Information Literacy Study) von 2018 hat für deutsche Lehrende nur eine geringe Teilnahme an digitalisierungsbezogenen Fortbildungen festgestellt.60 Der Anteil an Schulen, in der nach Auskunft der Schulleitung alle bzw. fast alle Lehrenden an schulinternen Fortbildungen zum Einsatz digitaler Medien teilgenommen haben, betrug

56 Vgl. Mayrberger, Kerstin: Schule braucht mehr als Medienkompetenz! Agile Lehrentwicklung für das digitale Klassenzimmer der nächsten Generation, in: SchulVerwaltung spezial 21,2 (2019), S. 18–23. 57 Vgl. Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland [KMK]: Standards für die Lehrerbildung: Bildungswissenschaften, Berlin 2014. URL: https://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2004/2004_12 _16-Standards-Lehrerbildung.pdf [Stand: 08. 05. 2021]. 58 Vgl. Mayrberger, Kerstin: Schule braucht mehr als Medienkompetenz! 59 Vgl. Schaumburg, Heike / Prasse, Doren: Medien und Schule. 60 Vgl. Bos, Wilfried / Eickelmann, Birgit / Gerick, Julia et al.: ICILS 2013. Computer- und informationsbezogene Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern in der 8. Jahrgangsstufe im internationalen Vergleich, Münster 2015.

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nur ca. ein Drittel (33,0 %). Nach ICILS 201861 nutzten drei Fünftel (60,2 %) der Lehrkräfte in Deutschland eigenen Angaben zufolge mindestens wöchentlich digitale Medien im Unterricht (ICILS 2013: 34,4 %) und nahezu ein Viertel (23,2 %) setzte 2018 täglich digitale Medien im Unterricht ein (ICILS 2013: 9,1 %). Im internationalen Vergleich war die Mediennutzung in anderen Ländern teilweise deutlich höher (Mittelwert: 47,9 %; Vergleich EU: 47,6 %). Diese Daten dürften sich durch die Corona-Pandemie in den vergangenen Jahren möglicherweise verändert haben, da die Notwendigkeit von Distanzunterricht den Einsatz digitaler Medien in vielen Fällen zwingend erforderlich gemacht hat. Zugleich hat sich das Fortbildungsangebot zu diesem Thema enorm erhöht. Ungeklärt bleibt bislang die Frage nach der Qualität des Unterrichts mit digitalen Medien in dieser Zeit. Auch stellt sich die Frage, ob digitale Medien auch nach einem Ende der Pandemie weiter im Unterricht eingesetzt werden oder nicht vielmehr eine Rückkehr zum traditionellen Unterricht erfolgt. Nach Blömeke62 ist eine grundlegende Vorbedingung kompetenten medienpädagogischen Unterrichtshandelns von Lehrenden ihre sozialisationsbedingte Kompetenz im Medienzusammenhang, d. h. die Fähigkeit der Lehrenden, medienbedingte Lernvoraussetzungen der Schüler:innen in den Unterricht angemessen und konstruktiv einzubeziehen. Grundlage der medienpädagogischen Kompetenz wiederum ist die eigene Medienkompetenz der Lehrenden, d. h., was diese selbst über Medien wissen und welche Kompetenzen sie persönlich im Umgang mit Medien besitzen. Hier zeigt sich eine Besonderheit digitaler gegenüber traditionellen Medien, denn im Gegensatz zu Letzteren weisen digitale Medien eine höhere Komplexität auf, da ihre Funktion nicht nur auf Hardware, sondern vor allem auf den Einsatz bestimmter Software beruht, die spezifische Eigenheiten mit sich bringt und die von Lehrenden erweiterte (digitale) Kompetenzen erfordert. Denn diese bestimmt letztlich, was Lehrende den Lernenden bezüglich der Mediennutzung weitergeben können, sodass diese auf die Chancen und Herausforderungen der zunehmenden Digitalisierung der Lebens- und Arbeitswelt angemessen vorbereitet werden. Damit Lehrende digitale Medien im Unterricht einsetzen, ist eine »Kultivierung des Lernens unter qualifizierter Nutzung der Neuen Medien als geistige Werkzeuge – und dies vor dem Hintergrund eines sich wandelnden Begriffs von

61 Vgl. Eickelmann, Birgit / Bos, Wilfried / Gerick, Julia et al.: ICILS 2018 # Deutschland. Computer- und informationsbezogene Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern im zweiten internationalen Vergleich und Kompetenzen im Bereich Computational Thinking, Münster 2019. 62 Vgl. Blömeke, Sigrid: Medienpädagogische Kompetenz. Theoretische und empirische Fundierung eines zentralen Elements der Lehrerausbildung, München 2000.

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Lernen, Schule und Unterricht« gefragt.63 Benötigen Lehrende die »Fähigkeit zu sachgerechtem, selbstbestimmtem, kreativem und sozialverantwortlichem Handeln mit Medien und Informationstechnologien«,64 »gewinnt die Befähigung der Lehrkräfte zur Umsetzung entsprechend konstruktivistisch orientierter Unterrichtskonzepte zur Unterstützung sozialen, individualisierten und selbstgesteuerten Lernens zunehmend an Bedeutung«.65 So sollten digitale Medien auf der Grundlage der Erkenntnisse der Lehr-Lernforschung optimaler Weise ein eigenaktiv-konstruierendes und kooperatives Lernen ermöglichen und in einer konstruktivistisch-orientierten Lernumgebung eingesetzt werden.66 Doch woran kann sich die Ausbildung angehender Lehrender im Hinblick auf den Erwerb digitaler Medienkompetenz orientieren?

Beispiele neuerer Modelle zur Medienkompetenz, die die Voraussetzungen für digitale Kompetenz bei Lehrpersonen konkretisieren Lehrer:innen aller Bildungsebenen sollen beim Einsatz digitaler Medien zur Verbesserung und Innovation von Bildungsangeboten durch den »Europäischen Rahmen für die Digitale Kompetenz von Lehrenden«67 unterstützt werden. DigCompEdu (Digital Competence Framework for Educators) umfasst drei Bereiche: berufliche Kompetenzen der Lehrenden, pädagogisch-didaktische Kompetenzen und eigene Medienkompetenz, für die sechs Kompetenzbereiche mit 22 Einzelkompetenzen (auf die hier nicht eingegangen wird) definiert werden: Bereich 1 konzentriert sich auf das berufliche Umfeld wie berufliche Kommunikation und Zusammenarbeit, reflektierte Praxis und digitale Weiterbildung. Bereich 2 thematisiert Auswahl, Erstellung und Veröffentlichung digitaler Ressourcen.

63 Reusser, Kurt: E-Learning als Katalysator und Werkzeug didaktischer Innovation. Beiträge zur Lehrerbildung 21 (2003), S. 177. Hervorhebung J.S. 64 Blömeke, Sigrid: Medienpädagogische Kompetenz, S. 172. 65 Bremer, Claudia / Antony, Ingo: Einsatz digitaler Medien für den lernerzentrierten Unterricht, Konzeption und Evaluation der Lehrerfortbildung »Lernkompetenz entwickeln, individuell fördern«, in: Igel, Christoph (Hg.): Bildungsräume. Proceedings der 25. Jahrestagung der Gesellschaft für Medien in der Wissenschaft, 5. bis 8. September 2017 in Chemnitz, Münster 2017, S. 220–231, hier S. 221. 66 Vgl. Staudermann, M. / Schulz-Zander, R.: Dimensionen unterrichtlicher Interaktion bei der Verwendung digitaler Medien, in: Schulz-Zander, Renate / Eickelmann, Birgit / Moser, Heinz / Niesyto, Horst / Grell, Petra (Hg.): Jahrbuch Medienpädagogik 9 (2012), S. 54. 67 Europäische Kommission: DigComp: The European Digital Competence Framework 2019.URL: https://op.europa.eu/en/publication-detail/-/publication/3d35b6b6-d8f8-11e9-9c 4e-01aa75ed71a1/language-en [Stand: 03. 03. 2021].

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Bereich 3 beschreibt das Lehren und Lernen mit digitalen Medien, Lernbegleitung, kollaboratives sowie selbstgesteuertes Lernen. Bereich 4 bezieht sich auf Erhebung und Analyse lernrelevanter Daten sowie Bereitstellung von Feedback, Erhebung des Lernstands, Analyse von Lern-Evidenzen sowie Feedback und Planung. Bereich 5 zielt auf den Einsatz digitaler Medien zur Differenzierung und Individualisierung sowie zur aktiven Einbindung der Lernenden. Bereich 6 vertieft die Förderung digitaler Kompetenz von Lernenden, z. B. Informations- und Medienkompetenz, digitale Kommunikation und Zusammenarbeit, Erstellung digitaler Inhalte, verantwortungsvoller Umgang mit digitalen Medien sowie digitales Problemlösen. Die Bereiche 2 bis 5 beschreiben die zentralen pädagogischen und didaktischen Elemente des Kompetenzrahmens und verdeutlichen, wie Lehrende digitale Medien effektiv und innovativ einsetzen können. Das Auswählen, Erstellen und Managen digitaler Lernmaterialien, die digital gestützte Lernstandsdiagnostik und die Bewertung treten gleichwertig neben Aspekte wie die Gestaltung von Unterrichtsprozessen bzw. die professionelle Weiterbildung. Insgesamt bietet der Kompetenzrahmen eine qualitativ gute Orientierung für die inhaltliche Organisation und Ausgestaltung der Ausbildung von angehenden Lehrerinnen und Lehrern. Und er verdeutlicht noch einmal differenziert, über welche Kompetenzen im Hinblick auf Digitalisierung Lehrer:innen notwendigerweise verfügen müssen. Allerdings kritisieren Petko68 und Schaumburg / Prasse69 an aktuellen Modellen medienpädagogischer Kompetenzen einen überwiegend normativen Charakter und eine unzureichende Differenzierung zwischen dem Wissen (Sachverhalte, Prozesse) und der Fähigkeit, dieses Wissen unterrichtlich adäquat ein- bzw. umzusetzen. Zudem wird die Bedeutung (insbesondere für mediendidaktische Fragen) relevanter fachlicher bzw. fachdidaktischer Aspekte wenig berücksichtigt. Mishra und Koehler70 entwickelten demgegenüber für den Bereich mediendidaktischer Kompetenz das TPACK-Modell: ein theoretisches Konzept mit Bezug zum Kompetenzbegriff von Shulman.71 Koehler und Mishra72 ergänzen die von Shulman definierten Domänen Pädagogisches Wissen und Inhaltswissen 68 Vgl. Petko, Dominik: Einführung in die Mediendidaktik. Lehren und Lernen mit digitalen Medien, Weinheim 2014. 69 Vgl. Schaumburg, Heike / Prasse, Doren: Medien und Schule. 70 Vgl. Mishra, Punya / Koehler, Matthew J.: Technological Pedagogical Content Knowledge: A Framework for Teacher Knowledge. Teachers College Record 108,6 (2006), S. 1017–1054. 71 Vgl. Shulman, Lee S.: Those who understand. Knowledge growth in teaching. Educational Researcher 15,82 (1986), S. 4–14. 72 Vgl. Koehler, Matthew J. / Mishra, Punya: What is technological pedagogical content knowledge? Contemporary Issues in Technology and Teacher Education 9,1 (2009), S. 60–70.

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um die des Technologischen Wissens. Es entsteht ein Modell mit drei Kompetenzbereichen und vier Überschneidungsflächen (Abb. 1). Um die drei Bereiche: 1) fachliches Wissen, 2) fachdidaktisches Wissen und 3) pädagogisches Wissen miteinander zu verknüpfen und dieses Wissen situationsadäquat anzuwenden, müssen Lehrende über folgendes Wissen verfügen: – Inhaltswissen steht für das fachspezifische Wissen, das Lehrende für die Gestaltung ihres Unterrichts benötigen (Wissen über den zu vermittelnden Fachinhalt sowie damit verbundene Konzepte, Theorien, Ideen, organisatorische Rahmenbedingungen u. a.m.).73 – Technologisches Wissen beschreibt, wie Medien funktionieren und sich nutzen lassen (allgemeines Technikwissen für den unterrichtlichen Medieneinsatz: Funktion digitaler Medien und ihre effiziente Nutzung für die eigene Arbeit). – Zum Pädagogischen Wissen gehören Kenntnisse über Lehr- und Lernprozesse, die übergeordneten Ziele der Pädagogik, Werte und Ziele sowie Unterrichtsplanung und -organisation.74

Technologisches Wissen

Technologisches Inhaltswissen

Technologisches Pädagogischess Wissen

Technologisches Pädagogisches Inhaltswissen

Pädagogisches Wissen

Pädagogisches Inhaltswissen

Inhaltliches Wissen

Abb. 1 Das TPACK-Modell75

73 Vgl. Koehler, Matthew J.: TPACK Explained, 2012. URL: http://www.cte.hawaii.edu/Webste r101/docs/TPACKExplained.pdf [Stand: 10. 06. 2021]. 74 Vgl. Koehler, Matthew J. / Mishra, Punya: What is technological pedagogical content knowledge? 75 Ebd., S. 61.

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Diese drei Bereiche bilden folgende vier Schnittmengen: – Das Technologische Pädagogische Wissen thematisiert, »wie Bildungsprozesse sich durch Medien verändern bzw. wie sich mit Medien Bildungsprozesse gestalten lassen«.76 Gemeint sind Kenntnisse über die Wechselwirkungen zwischen Technikverwendung und Pädagogik, der Einfluss des Medieneinsatzes auf den Unterricht, die Beziehung von Technik und Unterrichtsmethode bzw. die Verwendung von Technologien für die Gestaltung von Lehr-Lernprozessen. Mediendidaktische Fragen dienen der Klärung, wie sich Lehr- und Lernprozesse durch den Einsatz digitaler Medien verändern bzw. diese als Teil von Lehr- und Lernprozessen sinnvoll einzusetzen sind (z. B. Nutzung von Wikis für die kollaborative Bearbeitung einer Problemstellung). – Pädagogisches Inhaltswissen: Professionell Lehrende wählen für spezifische Unterrichtssituationen Handlungsformen aus, die sowohl auf die Unterrichtsziele als auch auf konkrete Schüler:innengruppen abgestimmt sind.77 »Pedagogical content knowledge […] includes an understanding of what makes the learning of specific topics easy or difficult: the conceptions or preconceptions that students of different ages and backgrounds bring with them to the learning of those most frequently taught topics and lessons«.78 Neben der inhaltlichen Aufbereitung der Lehre für eine konkrete Lerngruppe geht es um die adäquate Einschätzung von Schüler:innenleistungen und die Beziehungen zwischen diesen Aspekten für das Unterrichtshandeln von Lehrpersonen. – Technologisches Inhaltswissen steht für das Verständnis, wie Technologie ein Fachgebiet und seine Inhalte formt (z. B. Entwicklung der Schreibkultur im Zusammenhang mit digitalen Medien79) und auf welche Weise digitale Technologie und Inhalt sich gegenseitig und zugleich die Inhaltsvermittlung beeinflussen (z. B. wie wirken digitale Animationen auf das Verständnis physikalischer Zusammenhänge?80). Lehrende sollten wissen, welches digitale Medium für welchen Inhalt ihres Faches am besten eingesetzt werden kann und wie sich der Inhalt durch den Einsatz einer bestimmten Technik verändern kann.81 – Schnittmenge aller drei Komponenten ist das Technologische Pädagogische Inhaltswissen (Technological Pedagogical Content Knowledge TPCK) als Grundlage professionellen technologiebasierten Lehrens. Maßgeblich hierfür ist die Verknüpfung von inhaltlichen, technischen und pädagogischen un76 77 78 79 80 81

Petko, Dominik: Einführung in die Mediendidaktik, S. 151. Vgl. Standop, Jutta / Jürgens, Eiko: Unterricht planen, gestalten und evaluieren. Shulman, Lee S.: Those who understand. Knowledge growth in teaching, S. 9. Vgl. Petko, Dominik: Einführung in die Mediendidaktik. Vgl. Schaumburg, Heike / Prasse, Doren: Medien und Schule. Vgl. Koehler, Matthew J.: TPACK Explained.

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terrichtsbezogenen Kompetenzen.82 Aus dieser entwickelt sich konkretes Wissen darüber, für welche Inhalte mit bestimmten pädagogisch-didaktischen Strategien der Einsatz konkreter Medien zielführend ist, d. h., es entsteht ein konkretes, situationsbezogenes Anwendungswissen, mit welchen digitalen Medien welche Fachinhalte von Schülerinnen und Schülern gelernt werden könnten, unter Berücksichtigung der an die jeweilige Lernendengruppe angepassten pädagogisch-didaktischen Vorgehensweise. Im Zentrum des Modells befindet sich somit das komplexe Arrangement zwischen den drei Komponenten Inhalt, Pädagogik und Technik, die nicht isoliert voneinander betrachtet, sondern immer als Teil des Gesamtkontextes wahrgenommen und analysiert werden. Das Modell unterstützt Lehrende dabei, den schulischen Einsatz digitaler Medien zu kategorisieren und die gemeinsamen Schnittmengen der drei Bereiche zu berücksichtigen.83 Darüber hinaus hilft es z. B. bei der Klärung, welche Aspekte des Fachwissens sich wie mit digitalen Medien vermitteln lassen und welches technologische Wissen Lernende dazu benötigen.84 Zentral ist darüber hinaus ein kontextbezogenes Wissen »z. B. bezüglich der Mediensozialisation außerhalb des schulischen Kontextes, zu Hintergründen und Zusammenhängen des Mediensystems oder Gestaltungsmöglichkeiten der Schulorganisation)«.85 Insbesondere für die Integration digitaler Medien in schüleraktiven Unterrichtssettings ist ein pädagogisch-didaktisches Wissen bzw. ein technologisch-pädagogisches Inhaltswissen im Sinne von Koehler / Mishra86 besonders bedeutsam. Die separate Darstellung der drei Bereiche Inhalt, Pädagogik und Technik hierbei ist ein analytischer, künstlicher Vorgang (ebd.). Über die beschriebenen Komponenten hinaus beeinflussen die Persönlichkeit der Lehrperson das Kompetenzniveau der Lernenden, schulspezifische Faktoren sowie demografische und kulturelle Aspekte das Arrangement der einzelnen Komponenten.87 Insofern muss das notwendige Anwendungswissen in der Ausbildung zwar grundgelegt werden, seine professionelle Ausgestaltung erfolgt aber »letztendlich nur durch die reflexive Auseinandersetzung mit der eigenen (medial-digitalen) Unterrichtspraxis«.88 Deutlich wird die Bedeutung des technologischen Wissens 82 Vgl. Petko, Dominik: Einführung in die Mediendidaktik. 83 Vgl. Brandhofer, Gerhard: Lehr-/Lerntheorien und mediendidaktisches Handeln, Marburg 2017. 84 Vgl. Döbeli Honegger, Beat: Mehr als 0 und 1. 85 Petko, Dominik: Einführung in die Mediendidaktik, S. 150. 86 Vgl. Koehler, Matthew J. / Mishra, Punya: What is technological pedagogical content knowledge? 87 Vgl. Brandhofer, Gerhard: Lehr-/Lerntheorien und mediendidaktisches Handeln. 88 Schaumburg, Heike / Prasse, Doren: Medien und Schule, S. 246.

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für die zielführende Gestaltung von Lehr-Lern-Situationen, d. h. der geplante Medieneinsatz erfolgt nicht nachrangig im Laufe der Unterrichtsplanung; vielmehr erfordert die Verwendung digitaler Medien eine frühzeitige Berücksichtigung in den Planungsüberlegungen, denn im Gegensatz zu den bisherigen Medien, die ausschließlich der Übermittlung von Informationen dienten, hat sich die Bedeutung von Technik durch wesentlich mehr und erheblich umfassendere Funktionen im Kommunikationsprozess erhöht.89 Kognitiver und kommunikativer Mediengebrauch sind nun eng miteinander gekoppelt.90 So findet durch den Einsatz von Kommunikationsmedien Denken nicht mehr nur beim einzelnen Individuum statt, vielmehr erweitert sich der Denkprozess in sozialer und technischer Hinsicht.91 Hierdurch entwickelt sich zwischen individueller sowie kollektiver Informationsverarbeitung eine Wechselwirkung. Dazu kommt, dass es nicht mehr um den Einsatz eines einzelnen Geräts geht, sondern dieses Gerät mit unterschiedlicher Software vielfältige Funktionen übernehmen kann. Die Lehrperson muss Kenntnisse über diese Zusammenhänge haben und sie frühzeitig in ihrer Unterrichtsplanung berücksichtigen.

5.

Konsequenzen für die Ausbildung von Lehrer:innen

Die bisherigen Ausführungen haben nicht nur die Bedeutung digitaler Medien für die Gegenwart und die Zukunft unserer Gesellschaft sowie die multidimensionalen Zusammenhänge bei der Berücksichtigung digitaler Medien im Unterricht verdeutlicht. Herauskristallisiert hat sich hierbei auch, was für ein umfassendes Anforderungsprofil sich hierdurch an Lehrer:innen stellt. Entsprechend ergeben sich notwendige Ergänzungen im Hinblick auf deren Ausbildung. Moser92 hat Standards der Medienbildung für Lehrende entwickelt, die hier für die Lehramtsausbildung aufgearbeitet und um zusätzliche Positionen erweitert werden. Hiernach sind erforderlich: – Kenntnis der landesspezifischen Vorgaben von Richtlinien und Lehrplänen sowie Kenntnis des KMK-Strategiepapiers (2016).

89 Vgl. Petko, Dominik: Einführung in die Mediendidaktik. 90 Vgl. Nieding, Gerhild / Ohler, Peter / Rey, Günther D.: Lernen mit Medien, Paderborn 2015. Seel, Norbert M. / Winn, William D.: Research on media and learning: Distributed cognition and semiotics, in Tennyson, Robert D. / Schott, Franz / Seel, Norbert M. / Dijkstraa, Sanne (Hg.): Instructional design: International perspectives. Volume 1: Theory, research, and models, New York 2015, S. 293–326. 91 Vgl. Eco, Umberto: Einführung in die Semiotik, 9. Auflage, Paderborn 2002. Kjørup, Søren: Semiotik, Paderborn 2009. 92 Vgl. Moser, Heinz: Schule 2.0: Medienkompetenz für den Unterricht.

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– Fachspezifisches Wissen und Können im Umgang mit Medien: medienpädagogisches Fachwissen, Kenntnis zentraler Konzepte und Strukturen sowie aktueller fachdidaktischer Diskussionsschwerpunkte. Übertragung der Erkenntnisse in den Unterricht, in Praktikumsphasen, ins Praxissemester sowie ins Referendariat. – Kommunikation: Grundlagen medialer Kommunikation kennenlernen, darüber hinaus Förderung der Kommunikation mittels medialer Botschaften (Media Literacy) im Rahmen von Lehrveranstaltungen. – Informatische Grundkompetenz: Auch Lehrende, die nicht Informatik unterrichten, kennen grundlegende informatische Konzepte zur Problemlösung sowie zum Verständnis der Informationsgesellschaft, da diese Kompetenz eine wichtige Voraussetzung für die Orientierung in einer digitalisierten Welt ist. Sie bringen dieses Wissen in ihren Unterricht ein, um digitale Tools bzw. Medien entsprechend bewerten zu können und die Lernenden hierbei zu unterstützen. – Medien und Gesellschaft: Medien als Teil der gesellschaftlichen Entwicklung inhaltlich in den Unterricht einbeziehen und mit Heranwachsenden reflektieren können, orientiert am Maßstab eines verantwortungs- und respektvollen Medieneinsatzes und -umgangs. – Routinen entwickeln für Kooperation, Partizipation und Internet: Die Kooperation mit Kolleg:innen, Eltern und Schulklassen verläuft zunehmend über digitale Medien (Internet, Smartphone, Lernplattformen etc.), daher sollten angehende Lehrer:innen den aktiven und sachgerechten Einsatz geeigneter Medien und Tools zunehmend beherrschen, z. B. auch die Sicherung und Überprüfung der Qualität der schulischen Lernplattform bzw. des Medieneinsatzes. Darüber hinaus ist die Nutzung digitaler Medien für die Schul- und Klassenadministration (s. u.) zentral. – Lernen, Denken, Entwicklung: Lehrende benötigen Wissen über lern-, sozial-, kognitions- und entwicklungspsychologische Theorien, um das Medienhandeln der Heranwachsenden entwicklungsmäßig einordnen und den Medieneinsatz entsprechend zur individuellen Förderung sorgfältig planen zu können. Hierzu gehören auch – Kenntnisse über Motivationstheorien und die Entwicklung von Interesse: Um die Nutzungsvorlieben Heranwachsender bezogen auf Medien nachvollziehen und Letztere zur unterrichtlichen Förderung von Motivation und Interesse einsetzen zu können. – Heterogenität unterrichtlich zu berücksichtigen speziell für den differenzierten Medieneinsatz bei Heranwachsenden zur Förderung von Chancengerechtigkeit. Die Voraussetzungen bei den Lernenden sind zu erheben, die eigenen Voraussetzungen zu reflektieren.

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– Unterrichtsplanung und -durchführung mit digitalen Medien: Lehrende sollten zur zielführenden Nutzung digitaler Medien zur Unterrichtsvorbereitung in der Lage sein (Informationssuche, Gestaltung/Produktion von Arbeitsblättern, Verwaltung von Materialien/Ressourcen). Sie sollten den systematischen Einsatz digitaler Medien im alltäglichen Unterricht lernen unter Integration fachdidaktischer und medienbildnerischer Inhalte und unterschiedliche Medien (z. B. Fernsehen, Film, Internet), die sie ›crossmedial‹ (= Kommunikation über mehrere inhaltlich, gestalterisch und redaktionell verknüpfte Kanäle, die den Nutzer zielgerichtet über die verschiedenen Medien führen), also übergreifend einsetzen können. Hierfür sind die Ziele und Aufgaben im Verbund von Digital- und Präsenzunterricht festzulegen, der Zugewinn des Einsatzes verschiedener Medien auf Grundlage der didaktischen Analyse ist zu reflektieren und (Teil-)Lernziele in Bezug auf analoge und digitale Kompetenz zu formulieren. Darüber hinaus ist der Mehrwert des Einsatzes von digitalen gegenüber analogen Techniken bei der jeweiligen Erarbeitung oder Sicherung zu prüfen. Individualisiertes Lernen, forschendes Lernen, kollaboratives Lernen (mit externen Partnern) und problemorientiertes Lernen unterstützen in besonderer Weise die Merkmale und Potenziale der digitalen Medien. – Digitale Klassenführung betrifft in hohem Maße die Beachtung des ethischen Schulkonzepts und die Regeln der Klassengemeinschaft (Online-Sozialverhalten, Kommunikationsregeln für das Internet). – Diagnose und Evaluation: Wissen ist zu gewinnen über die systematische Beobachtung und Evaluation der Lernprozesse aller Schüler:innen zur Sicherung ihrer wachsenden Medienkompetenz (z. B. durch Produkterstellungen, wie Präsentationen, Blogs, Audiofiles/Podcasts, kollaborative Dokumente, die in einem geschützten Raum/einer Cloud hochgeladen werden).93 Dieser Anforderungskatalog ist nicht vollständig, er kann durch zusätzliche Aspekte erweitert werden. Dennoch erlaubt er einen ersten Einblick in das erweiterte Kompetenzprofil von Lehrenden, die sich in wachsendem Maße auf ein neues Leitmedium einstellen und ihre Schüler:innen auf einen konstruktiven Umgang damit vorbereiten müssen. Für die gesellschaftliche Teilhabe werden digitale Medien in wachsendem Maße bedeutsamer, so dass ihre zielführende Nutzung zunehmend zu den grundlegenden Kulturtechniken gezählt wird. Über diese müssen Menschen verfügen, um zukünftig selbstbestimmt sowie eigenund mitverantwortlich an der Gesellschaft zu partizipieren und die Anforderungen einer von digitaler Technik geprägten Welt konstruktiv zu bewältigen. 93 Vgl. Moser, Heinz: Schule 2.0: Medienkompetenz für den Unterricht. Hartmann, Simon / Purz, Dirk: Unterrichten in der digitalen Welt.

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Stephan Stomporowski

Berufspädagogik in Zeiten des Klimawandels »Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung« (Artikel 20a GG).

1.

Der Klimawandel als Aufforderung an die Pädagogik

Am 29. 04. 2021 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass die Regelungen zum Klimaschutzgesetz vom 12. Dezember 2019 mit unseren Grundrechten unvereinbar sind und ein Verschieben hoher Emissionsminderungslasten auf Zeiträume nach 2030 eine Verletzung der Freiheitsrechte jüngerer Menschen darstellt.1 Auch für die künftigen Generationen gilt das Grundrecht auf Schutz des Lebens und körperliche Unversehrtheit, weshalb der Staat in der Verantwortung steht, die natürlichen Lebensgrundlagen auch vorausschauend zu schützen. Mit diesem Urteil wird erstmals seit Einführung des Umweltstaatsziels Art. 20a GG im Jahre 1994 ein Grundrecht auf ein ökologisches Existenzminimum anerkannt. Die Politik ist aufgefordert, bestimmte Grenzen der Erderwärmung in ihren Entscheidungsprozessen zu berücksichtigen und Maßnahmen zu ergreifen, um einen irreversiblen, nicht mehr zu kontrollierenden Prozess (Kipppunkte) zu vermeiden. Damit wird dem bislang geltenden Prinzip der Verlagerung von umweltbelastenden Folgewirkungen in den Verantwortungsbereich nachkommender Generationen juristisch widersprochen. Ebenso widerspricht das oberste Verfassungsgericht einer am Substituierbarkeitsgrundsatz2 ausgerichteten moderaten Umwelt- und Wirtschaftspolitik, da z. B. der Vorgriff auf künftige Technologie1 Bundesverfassungsgericht: Pressemitteilung Nr. 31/2021 vom 29. April 2021. 2 Substituierbarkeit wird im Bereich der Nachhaltigkeit verstanden als Möglichkeit der Austauschbarkeit von Naturkapitalien. So wird z. B. im neoklassischen Paradigma von einem grundsätzlichen Kapitalstock ausgegangen, der es den nachwachsenden Generationen ermöglicht, auf dieser Grundlage ihre Bedürfnisse befriedigen zu können. Die Kapitalarten werden hier aber als ersatzbar betrachtet, solange die Bedürfnisbefriedigung selbst nicht bedroht wird. Dazu z. B. Hauff, Michael von / Kleine, Alexandro: Nachhaltige Entwicklung, München 2009, S. 27.

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potenziale keine messbare Grundlage für den Ausgleich verlorengegangener Naturkapitalien beinhaltet.3 Deshalb muss bereits heute ein verbindliches, wirksames und in sich kohärentes Schutzkonzept zur Einhaltung der Klimaziele von Paris entwickelt werden. Die Politik steht nun vor der Herausforderung, nicht nur den gesellschaftlichen Strukturwandel am Arbeitsmarkt fortzuführen, sondern bei der Frage nach der Ausbalancierung von Freiheitsrechten einen versöhnlichen Weg zu finden. Denn Klimaschutz adressiert einen Verteilungskonflikt entlang begrenzter und ungleich vergebener Umweltressourcen, dessen Ausgangspunkt in den Fehlentwicklungen der Vergangenheit liegt und damit v. a. künftige Handlungsoptionen zusätzlich einschränkt. Dies betrifft z. B. den Rückgang des Permafrostes und des Gletschereises sowie den Anstieg der Meerestemperaturen und den Verlust an Biodiversität – Umweltschäden, die kaum noch reversibel sind und sich der Gestaltungshoheit des Menschen zunehmend entziehen. Angesichts solcher Folgewirkungen geht mittlerweile der Weltklimarat davon aus, dass selbst bei einem moderaten Anstieg der CO2-Emissionen eine Verschärfung lokaler Klimakonflikte, eine Beeinträchtigung der allgemeinen Lebensumstände sowie die Einbuße eines Teiles unserer Handlungsfreiheiten als sehr wahrscheinlich zu prognostizieren seien.4 Die klimabezogenen Herausforderungen sind daher nicht bloß eine politischadministrative Aufgabe, sondern eine gesamtgesellschaftliche Angelegenheit, bei der es um eine Neuausrichtung unserer Lebensgewohnheiten geht und die Frage, wie wir diesem Krisenphänomen überhaupt begegnen wollen und wie sich diese Entwicklung in einen aktiven Lernprozess überführen lässt. In dieser Sichtweise ist das Urteil aus Karlsruhe auch ein deutlicher Wink an die Pädagogik, ebenfalls ihre Grundsätze dahingehend zu überprüfen, inwieweit diese noch im Einklang mit dem geforderten gesellschaftlichen Strukturwandel stehen. Und dies betrifft selbst ihre Grundfeste, wie den viel zitierten Kompetenzansatz oder auch die Idee von Mündigkeit – eine Vorstellung, die seit Humboldt den Menschen zum Herrschaftssubjekt sublimiert und die ihm anheimgestellte Position als eine zur Freiheit aufgeforderte Vision »für die individuelle Ausgestaltung« begreifen lässt.5 Was aber, wenn in eben jenem Freiheitsmoment sich quasi unbemerkt eine Entrechtung Dritter vollzieht, die einen kulturübergreifenden Augenblick an kollektiver Übereinstimmung notwendig macht, in der Einsicht, dass »Mün-

3 Ebd., S. 36. 4 Vgl. Intergovernmental Panel on Climate Change [IPCC]: 1,5 °C globale Erwärmung – Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger, Bonn 2018, sowie Santarius, Tilmann: Klimawandel und globale Gerechtigkeit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 24, hg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2007. 5 Frischmann, Bärbel: Aspekte philosophischer Bildungskritik: Rousseau, Fichte, Nietzsche, Adorno, in: Dies. (Hg.): Bildungstheorie in der Diskussion, Freiburg, München 2012, S. 160.

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digkeit als humane Selbstbestimmung nach innen wie nach außen eine natürliche Grundlage braucht«?6 Schule und insbesondere die Berufsschule steht im Zentrum dieser Entwicklung, welche von Seiten der Politik als gesellschaftlicher Transformationsprozess bezeichnet wird und mit dem Schlagwort der Nachhaltigkeit ihre bildungsstrategische Ausrichtung erhält.7 Damit soll der Mensch in die Rolle des Handelnden zurückgeholt werden, weil ihn die ökologischen Veränderungen immer öfter in die Position eines nur Re-agierenden zwingen. Denn der Mensch hat sich ja v. a. deswegen als Gestalter seiner eigenen Zukunft erfahren, weil es ihm fortwährend gelingt, sich von den Abhängigkeiten der Naturgewalten befreien zu können. Und so fällt ihm die Rolle einer mündigen Selbstbeschreibung zu, weil er die zur Sache objektivierte Natur als einen Vorrat an Sachmitteln und Sachqualifikationen für den Zuwachs und die Inbesitznahme an Handlungsfreiheit einzusetzen weiß. Grundlage ist eine ungebremste Ressourcennutzung, die dem Menschen nicht nur einen evolutionären Vorteil anheimgestellt hat, sondern ihn auch immer weiter von seiner ursprünglichen Naturabhängigkeit entrücken ließ. Doch in dieser Bewegung lag zugleich auch der Ausgangspunkt für die weitere Entwicklungsfähigkeit des Menschen, weil im Moment der Distanzierung die Fähigkeit des reflexiven Rückbezuges liegt – ein ›In-Beziehung-Setzen‹, das die Grundvoraussetzung für Sprache, Zeichen und schlussendlich den Aufbau gesellschaftlicher Strukturen bildet.8 Aber weil sich »aus dem Naturgeschehen selbst keine Normen für den Umgang mit der Natur«9ergaben, rückte der Mensch in jedem Augenblick des Zugewinns an Naturbeherrschung immer weiter ins Zentrum seiner eigenen Aufmerksamkeit; dies nötigte ihn, als soziales Wesen Konzepte für seine eigene moralische Selbstbegrenzung als Folge wachsender und konkurrierender Freiheiten entwickeln zu müssen.10 Daher kennt die Konstruktion ethischer Bezugsnormen eben nur den Selbstzweck des Menschen, während die Natur lediglich an diesem gespiegelt wird.11 Als lebensnotwendige Grundlage ist diese zwar dem Menschen seit jeher bekannt, aber eben v. a. nur in der Perspektive der Gestaltung eigener Zukunftsentwürfe. Die historische Er6 Dammer, Karl-Heinz / Wortmann, Elmar: Mündigkeit, Hohengehren 2014, S. 90. 7 Vgl. Bundesregierung: Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie, 2016 Berlin, S. 19. 8 Vgl. Berger, Peter L. / Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt am Main 1969, S. 38. 9 Schmidt, Christine: Nachhaltigkeit lernen? Der Diskurs um Bildung für nachhaltige Entwicklung aus der Sicht evolutionstheoretischer Anthropologie, Opladen, Farmington Hills 2009, S. 188. 10 Vgl. Litt, Theodor: Technisches Denken und menschliche Bildung, Bonn 1957, S. 91, sowie Habermas, Jürgen: Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹, Frankfurt am Main 1969, S. 107. 11 Vgl. Birnbacher, Dieter: Sind wir für die Natur verantwortlich?, in: Ders. (Hg.): Ökologie und Ethik, Stuttgart 1980.

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fahrung eines hochkomplexen Ökosystems ist dagegen vergleichsweise jung und hinterfragt die Handlungsprämissen, auf denen der Fortschritt, ja sogar die Entwicklungsfähigkeit des Menschen angelegt ist. In den Mittelpunkt rückt der Begriff Folgeverantwortung, in welchem sich die Verpflichtung gegenüber dem ›Anderen‹ spiegelt und sich ein Verständnis von ökologischer Grundausstattung als genuin neues Menschenrecht einzustellen vermag. Für die Berufspädagogik stellt sich indes die Frage, ob das Blickfeld ihrer ›beruflichen Handlungskompetenz‹ noch mit dem Gedanken von ökologischer Folgeverantwortung im Einklang steht oder ob sich angesichts des Klimawandels Veränderungen im disziplinären Selbstverständnis der eigenen Fachkultur ergeben müssen.

2.

Die arbeitsorientierte Wende in der Berufsbildung

Im Verlauf der Menschheitsgeschichte hat sich Arbeit immer stärker zu organisierten Arbeitsverhältnissen weiterentwickelt, denen Berufe folgten – als »soziale Organisationsform von Arbeitsvermögen, die auf einer dauerhaften Spezialisierung und Standardisierung von Fähigkeiten« beruhen.12 Die Qualität einer beruflichen Arbeitsleistung wird i. d. R. am fachlichen Wissen und Können des Dienstleisters bemessen, wobei die begriffliche Zuspitzung auf Fachqualifikation insoweit zu kurz greift, als eine Vielzahl weiterer Aspekte den Prozess der Berufsarbeit selbst begleitet. So geht es bei der Reparatur einer Heizung nicht nur die Instandsetzung, sondern eben auch um eine pünktliche und verlässliche Ausführung, ein Gewährleistungsangebot, eine angemessene Kostenstellung u.v.m. Was also tatsächlich veranschlagt wird, das betrifft den Gesamtprozess der beruflichen Dienstleistung sowie eine umfassende Sachbeherrschung bzw. eine berufliche Handlungskompetenz, die über das allgemeine Verständnis fachlicher Qualifikation hinausgeht.13 Diese Sichtweise wird in der Perspektive des Berufstätigen deutlicher, für den die konkrete Bewältigungsleistung immer in einem komplexen Sachzusammenhang eingebettet ist, welcher bei der Annahme des Kundenauftrages beginnt und erst mit der buchhalterischen Abrechnung endet. Beruflichkeit beansprucht daher mehr als nur ›technisches Know-how‹, sondern vollzieht sich innerhalb komplexer Handlungssituationen, die fachliche, soziale und personelle Fähigkeiten miteinander verbinden.14 Berufliche Ausbildungsprozesse berücksichti12 Pahl, Jörg-Peter: Lexikon Berufsbildung, Bielefeld 2015, S. 116. 13 Vgl. Vonken, Matthias: Handlung und Kompetenz, Berlin 2006, S. 64. 14 Vgl. Rauner, Felix: Forschung zur Kompetenzentwicklung im gewerblich-technischen Bereich, in: Jude, Nina / Hartig, Johannes / Klieme, Eckhard (Hg.): Kompetenzerfassung in pädagogischen Handlungsfeldern, Berlin 2008.

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gen diese Komplexität, indem seit den 1990er Jahren vollständige Handlungsabläufe anstelle ausgewählter fachlicher Einzelaspekte zum Bestandteil der Berufsausbildung geworden sind. Ins Zentrum der Lehrplanung rückten die Kernarbeitsprozesse, welche in den jeweiligen Berufsbildern enthalten sind und die das berufliche Strukturgerüst ausreichend abbilden. Dieser Blick auf das Berufs-Typische, in denen vergleichbare Handlungsabläufe zum Ausdruck kommen, hat in der beruflichen Bildung das traditionelle Fächerprinzip aufgelöst und innerhalb der Berufs- und Wirtschaftspädagogik zu einem pädagogischen Paradigmenwechsel hinüber zu einem prozessorientierten Leitgedanken geführt. Anstelle des traditionellen Fächerkanons tritt nun der Lernfeldgedanke, dessen pädagogisches Prinzip der Prozessperspektive vollständiger beruflicher Handlungsabläufe folgt. Aufgrund der Nähe zu den arbeitsprozessbezogenen Bewältigungshandlungen innerhalb der Berufsfelder wird dieser Perspektivenwechsel oft auch als arbeitsorientierte Wende in der beruflichen Didaktik bezeichnet,15 deren formaljuristischer Niederschlag mit der Einführung lernfeldorientierter Rahmenlehrpläne im Jahre 1996 durch die KMK erfolgte.16 Innerhalb der Berufs- und Wirtschaftspädagogik stieß das formal-politische Vorgehen, dem kein nennenswerter wissenschaftlicher Diskurs vorausging, allerdings nur im begrenzten Maße auf Widerspruch. Kritisiert wurde zwar in Teilen der Zunft die Abkehr vom beruflichen Bildungsgedanken als Bezugspunkt der pädagogischen Kategorienbildung17 sowie der ausbleibende berufs- und wirtschaftspädagogische Lernzieldiskurs18, doch bestand überwiegend Einigkeit in der nun deutlich sichtbareren Berücksichtigung beruflicher Handlungspraxis. Zudem kam der initiierte Perspektivenwechsel dem bis heute anhaltenden Trend einer stark praxisorientierten Berufs- und Wirtschaftspädagogik entgegen und zeigte 15 Rauner, Felix: Die arbeitsorientierte Wende in der Didaktik beruflicher Bildung, in: Busian, Anne / Drees, Gerhard / Lang, Martin (Hg.): Mensch, Bildung, Beruf. Herausforderungen an die Berufspädagogik, Bochum / Freiburg 2004. 16 »Sie [die Lernfelder, A. d.A.] sind aus Handlungsfeldern des jeweiligen Berufes entwickelt und orientieren sich an berufsbezogenen Aufgaben- oder Problemstellungen innerhalb zusammengehöriger und zunehmend vernetzter Arbeits- und Geschäftsprozesse«. Sekretariat der Kultusministerkonferenz [KMK]: Handreichung für die Erarbeitung von Rahmenlehrplänen der Kultusministerkonferenz für den berufsbezogenen Unterricht in der Berufsschule und ihre Abstimmung mit Ausbildungsordnungen des Bundes für anerkannte Ausbildungsberufe, Bonn 2018, S. 12. 17 So kritisierte v. a. Reinisch das bei Tramm zugrunde gelegte Situationsparadigma, das einer Aushöhlung weiterführender bildungstheoretischer Denktraditionen gleichkomme und die berufliche Didaktik auf die Bewältigungsproblematik einer prozessorientierten Arbeitswirklichkeit zurückwerfe. Reinisch, Holger: Zu einigen curriculumtheoretischen Implikationen des Lernfeldansatzes, in: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 28, 2003. 18 Vgl. z. B. Lisop, Ingrid: Konstruktionsprinzipien für Lernfelder, in: Bader, Reinhard / Sloane, Peter F. E. (Hg.): Lernen in Lernfeldern, Paderborn 2000, S. 206.

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sich v. a. gegenüber der empirisch ausgerichteten Berufsbildungsforschung konzeptuell anschlussfähig. Mitunter lässt sich die ›Wendung ins Praktische‹ auch als konsequente Fortführung einer schon seit den 1970er Jahren empirisch betonten Ausrichtung der Berufs- und Wirtschaftspädagogik nachzeichnen. Dabei ging es besonders um einen gehaltvollen Anschluss zwischen den bereits zahlreich entworfenen Theoriebezügen mit den realen Bedingungen einer sich ständig im Wandel befindlichen Arbeitswelt.19 Ins Zentrum der berufs- und wirtschaftspädagogischen Aufmerksamkeit rückte nun vermehrt der Kompetenzgedanke – v. a. in Anlehnung an die pädagogische Anthropologie von Heinrich Roth und immer öfter als Modellierung eines entwicklungsbezogenen Lern-Konzeptes.20 Der zunächst noch eher fachlich dargelegte Gedanke berufsspezifischer Schlüsselqualifikationen konkretisierte sich im Zuge der vermehrt (arbeits-)prozessorientierten Perspektive in Richtung ›berufliche Handlungskompetenz‹, die noch aktuell als pädagogischer Normenbezug der formal-juristisch ausbuchstabierten Berufsbildung zugrunde liegt. Dieser Perspektivenwechsel verschob die berufswissenschaftliche Aufmerksamkeit zunehmend in Richtung der »Entschlüsselung des in der praktischen Berufsarbeit inkorporierten Wissens und Könnens«, um auf diese Weise das so freigelegte Arbeitsprozesswissen für eine didaktische Modellierung zugänglich zu machen.21 Dem folgte ein noch anhaltender Forschungsboom in der Entwicklung immer detailreicherer Kompetenzmodelle, Kompetenzbeschreibungen und kompetenzbasierter Diagnoseverfahren.22 Im Fokus stehen insbesondere die Analyse und Beschreibung passgenauer und empirisch valider Lern- und Arbeitsaufgaben, welche die beruflichen Kernarbeitsprozesse als kompetenzbasierte Stufenmodelle abbilden.23 Diesem Trend wird mittlerweile eine zu hohe Detaildichte vorgehalten, da mit den oft eng an den fachbezogenen Anforderungsbeschreibungen ausformulierten Kompetenzzuschnitten sich zunehmend der Blick für umfassende Sinnzusammenhänge verschließe.24 Demgegenüber mangelt es an 19 Dies betraf z. B. die theoretische Forderung nach mehr Chancengleichheit im Betrieb, deren Anliegen nun über belastbare Daten aus empirischen Untersuchungen der tatsächlichen Arbeitsverhältnisse untermauert werden sollte. Lipsmeier, Antinous / Nölker, Helmut / Schoenfeldt, Eberhard: Berufspädagogik, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1975, S. 46. 20 Vgl. Reetz, Lothar: Zum Zusammenhang von Schlüsselqualifikationen – Kompetenzen – Bildung. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung: Das Parlament, Bd. 37, Bonn 1999, S. 13–20. 21 Rauner, Felix: Die arbeitsorientierte Wende in der Didaktik beruflicher Bildung, S. 279. 22 Vgl. Seeber, Susan / Nickolaus, Reinhold: Kompetenz, Kompetenzmodelle und Kompetenzentwicklung, in: Nickolaus, Reinhold / Pätzold, Günter / Reinisch, Holger / Tramm, Tade (Hg.): Handbuch Berufs- und Wirtschaftspädagogik, Bad Heilbrunn 2010, S. 247. 23 Vgl. KMK, 2018, S. 11 sowie Arbeitskreis Deutscher Qualifizierungsrahmen [AK-DQR]: Deutscher Qualifizierungsrahmen für lebenslanges Lernen, Berlin 2011, S. 5. 24 Vgl. Becker, Matthias / Spöttl, Georg: Berufliche (Handlungs-)Kompetenzen auf der Grundlage arbeitsprozessbasierter Standards messen. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 28, 2015, S. 7.

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hermeneutischer Forschungspraxis – eine Schieflage, die auch in der Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik bemängelt wird und v. a. mit Blick auf den Gedanken der Klimaveränderung an Bedeutung gewinnt.25 Als pädagogische Reflexionskategorie dient dem beruflichen Kompetenzgedanken i. d. R. der Lern- und Entwicklungsbegriff als erziehungswissenschaftliche Legitimationsfigur. Demgegenüber hat der berufliche Bildungsbegriff weitgehend an Bedeutung verloren – eine Entwicklung, die bereits in den 1970er-Jahren ihren Ausgangspunkt findet und von der Günter Kutscha sagt, dass damit der Berufs- und Wirtschaftspädagogik insgesamt ihre »kritische Reflexionsinstanz« abhandengekommen sei.26 So gehe es mittlerweile beim Erwerb von beruflicher Handlungskompetenz, so Kutscha weiter, kaum noch um die Entdeckung der eigenen beruflichen Identität und ein Ermöglichen von Mündigkeit, sondern um Lernprozesse, die lediglich auf berufliche Funktionalität abstellten.27 Noch deutlicher formulieren es Franz Kaiser und Thilo J. Kettschau, welche die Geringschätzung berufsbildungstheoretischer Versatzstücke damit gleichsetzen, dass »die Suche nach Sinn und Beitrag, welche das berufliche Handeln zum gesellschaftlichen Wohlstand in sich birgt, nicht mehr Teil der beruflichen Bildung zu sein scheint«.28 Dieser Grundsatzdiskurs innerhalb der Berufs- und Wirtschaftspädagogik ist insofern beachtenswert, weil sich mit dem Thema der Klimaveränderung zunächst ein allgemein-politischer Gesichtspunkt ausdrückt, der nach den (umweltbezogenen) Konsequenzen beruflichen Handelns fragt und somit nicht allein über den Lernbegriff in Anschlag genommen werden kann. Ein Bemühen um diese Frage existiert zwar seit Anfang der 2000er-Jahre im Fokus der ›Beruflichen Bildung für eine nachhaltige Entwicklung‹, doch ist es bislang nicht gelungen, trotz zahlreicher Modellversuche und umfassend erprobter Handlungskonzepte einen durchgreifenden Einfluss auf die bestehenden curricularen Rahmenver-

25 Vgl. Jahn, Robert W. / Borkowski, Tim P. / Götzl, Mathias: Strukturelle und inhaltliche Entwicklung der ZBW in den Jahren 2000–2016. In Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, Heft 4, 2019. 26 Kutscha, Günter: Bildung im Medium des Berufes? In: Lisop, Ingrid / Schlüter, Anne (Hg.): Bildung im Medium des Berufs? Siegen 2009, S. 28. 27 Kutscha, Günter: Klaus Becks »Irrungen und Wirrungen« – Eine notwendige Klärung und ein Plädoyer für »Kritischen Pragmatismus«. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 35, 2020, S. 4 sowie Kutscha, Günter: Berufliche Bildung und berufliche Handlungskompetenz im Abseits politisch-ökonomischer Reflexion. Eine Polemik in konstruktiver Absicht und Wolfgang Lempert zum Gedenken. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 35, 2019, S. 8. 28 Kaiser, Franz / Kettschau, Thilo J.: Die Perspektive kritisch-emanzipatorischer Berufsbildungstheorie als Widerspruchsbestimmung von Emanzipation und Herrschaft, in: Wittmann, Evelyn / Frommberger, Dietmar (Hg.): Jahrbuch der berufs- und wirtschaftspädagogischen Forschung, Opladen, Berlin, Toronto 2019, S. 15.

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einbarungen, Ausbildungsverordnungen und auch auf die konkrete betriebliche Ausbildungspraxis zu nehmen.29 Daher stellt sich hier die grundsätzlichere Frage, inwieweit Kutscha Recht zu geben ist, wenn dieser der berufs- und wirtschaftspädagogischen Fachkultur vorhält, ihr disziplinäres Selbstverständnis zu eng an die betrieblichen Bewältigungshandlungen auszurichten und damit den beruflichen Kompetenzgedanken lediglich an »den Erwerb betriebsspezifisch vermittelter Handlungsfähigkeiten« zu binden und so weitergehende, v. a. gesellschaftlich-bedeutsame Fragestellungen der Idee beruflicher Bildung zu entziehen.30

3.

Die Bedeutung von Kernarbeitsprozessen für die berufliche Bildung

Für die Unterrichtsplanung im Rahmen der beruflichen Erstausbildung ist der Lernfeldgedanke das zentrale didaktische Gestaltungsprinzip, dessen formale Bezüge und inhaltlichen Eckpunkte in den Rahmenlehrplänen der KMK zu finden sind. Die Idee des Lernfeldansatzes rekurriert wiederum auf das dahinterliegende Prinzip der Arbeits- und Geschäftsprozessorientierung, das mit der Betonung auf bedeutsame Handlungssituationen das Typische eines Berufsbildes zum Vorschein bringen möchte. Der pädagogisch ausbuchstabierte Gedanke der ›beruflichen Handlungskompetenz‹ verweist daher auf den Erwerb einer spezifischen Gestaltungsfähigkeit, die sich aus den Anforderungen von berufstypischen Bewältigungsproblematiken ergeben. Aus diesem Grund werden in der berufswissenschaftlichen Forschung Kernarbeitsprozesse analysiert, über deren Aufschlüsselung die Generierung von lernentwicklungstheoretisch begründeten Kompetenzstufenmodellen gelingen soll.31

29 Vgl. Rebmann, Karin: Berufliche Umweltbildung, in: Arnold, Rolf / Lipsmeier, Antonius (Hg.): Handbuch Berufsbildung, 2. Auflage, Wiesbaden 2006, S. 307 sowie Kuhlmeiner, Werner / Weber, Heiko: Transfer und Verstetigung von Modellversuchsergebnissen, in: Melzig, Christian / Kuhlmeier, Werner / Kretschmer, Susanne (Hg.): Berufsbildung für nachhaltige Entwicklung, Die Modellversuche 2015–2019 auf dem Weg vom Projekt zur Struktur, Bielefeld 2021, S. 433. Darüber hinaus bleibt abzuwarten, ob mit der 2020 erfolgten Implementierung der Standardberufsbildposition »Umweltschutz und Nachhaltigkeit« eine grundlegende Veränderung der curricularen Rahmenbedingungen einhergeht, weil auch hier nicht klar ist, ob diese Erweiterung die Folgen beruflichen Handelns miteinschließt. Vgl. Pressemitteilung der Bundesregierung vom 30. 04. 2020 (052/2020). 30 Kutscha, Günter: Berufliche Bildung und berufliche Handlungskompetenz im Abseits politisch-ökonomischer Reflexion, S. 6, 13. 31 Vgl. Becker, Matthias / Spöttl, Georg: Berufliche (Handlungs-)Kompetenzen auf der Grundlage arbeitsprozessbasierter Standards messen. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 28, 2015, S. 12.

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Dieser Gedanke reduziert bewusst die Vielzahl an tatsächlichen Arbeitsabläufen auf wenige und vergleichbare berufliche Kernhandlungen. Ins didaktische Zentrum der Lehrplanung rücken daher v. a. diejenigen Arbeitsprozesse, welche nicht einer spezifischen betrieblichen Besonderheit geschuldet sind, sondern ihren Ausgangspunkt in den Grundstrukturen eines Berufsbildes haben und in den betrieblichen Routinehandlungen zum Ausdruck kommen. Denn diese sind das Ergebnis wiederkehrender Anforderungen, deren Bewältigung auf Grundlage einer vorhandenen Stabilität, Funktionalität und Effizienz gelingt und so auch zum Kern der betrieblichen Ausbildungsvorgänge werden. Darin manifestiert sich zugleich auch das implizit vermittelte Berufsverständnis, da es ja das Berufs-Typische ist, das die beruflichen Routinehandlungen adressieren.32 Davon abweichende oder sogar entgegenstehende Handlungssituationen können hingegen zur Irritation des beruflichen Ausbildungsprozesses beitragen – ein Gedanke, der mit Blick auf die Anforderungen des Klimawandels noch durchaus beachtenswert sein wird. Der arbeitsprozessbezogene Bezugspunkt des Lernfeldgedankens stellt somit auf berufliche Grundfähigkeiten ab, die eine Bewältigung wiederkehrender Anforderungssituationen in Routinesituationen möglich machen. Damit erhält die erziehungswissenschaftliche Perspektive ihren fachdisziplinären Fokus, von dem aus die eigenen Fragestellungen entfaltet und im Rahmen der beruflichen Didaktik auch konzeptualisiert werden.33 Ins Zentrum der berufspädagogischen Kategorienbildung rücken deshalb das sogenannte Arbeitsprozesswissen und die hierüber vermittelten berufstypischen Praxisbegriffe.34 Was außerhalb einer solchen Perspektive steht, bedarf hingegen einer besonderen Begründung und auch Legitimation. Auf diese Weise trägt der Blick auf die betrieblich übergreifenden Grundstrukturen unweigerlich auch zur Reproduktion eines tradierten Berufsverständnisses bei – eine Entwicklung, die der Lernfeldgedanke zweifelsohne mitverantwortet, da nur diejenigen Kernarbeitsprozesse in den Vordergrund rücken, welche ihren Ausgangspunkt in den Bewältigungsanforderungen der vorhandenen betrieblichen Alltagsrealitäten haben. So wird der Ist-Zustand apostrophiert, welcher den Erwerb einer grundständigen Arbeitsfähigkeit betont

32 Lisop merkt an, dass die Reduzierung auf Typisches lediglich einer »Tendenz-Erklärung« gleichkomme, weil Geschäftsprozesse innerhalb der verschiedenen Berufsbranchen etwas »Grundverschiedenes meint«. Lisop, Ingrid: Konstruktionsprinzipien für Lernfelder, in: Bader, Reinhard / Sloane, Peter F. E. (Hg.): Lernen in Lernfeldern, Paderborn 2000, S. 206. 33 Vgl. Fischer, Martin: Arbeitsprozesswissen als Bezugspunkt für die Planung und Evaluation lernfeldorientierten Unterrichts. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Profil 3, 2014, S. 19. 34 Rauner, Felix: Praktisches Wissen und berufliche Handlungskompetenz, ITB Forschungsberichte, 14, Bremen, 2004, S. 15f. sowie Rauner, Felix: Forschung zur Kompetenzentwicklung in gewerblich-technischen Bereich, S. 109.

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und die bestehenden Rollenmuster, Verhaltensnormen, Handlungsvollzüge u. Ä. nachzeichnet.35 Was aber, wenn Betriebe andere Geschäftsprozesse in ihren Mittelpunkt stellen und mit ihrer nachhaltigkeitsorientierten Unternehmenskultur von den beruflichen Ausbildungsstandards abweichen?36 Und wie umgehen mit einer Situation, wenn die berufliche Alltagswirklichkeit nicht mehr mit den klimapolitischen Zielsetzungen übereinstimmt? Oder umgekehrt, welche Konsequenzen ergeben sich für den Unterricht an den Berufsschulen, wenn sich aufgrund der bereits vorhandenen Klimaveränderungen die Bewältigungsanforderungen in den traditionellen beruflichen Handlungssituationen verändern? Oder noch anders, befindet sich die berufliche Bildung in der Klima-Warteschleife, solange die konventionellen Kernarbeitsprozesse sich am Bestand orientieren?

4.

Paradigmen der ›beruflichen Bildung für eine nachhaltige Entwicklung‹

Mit der curricularen Bezugsnorm typischer Arbeits- und Geschäftsprozesse geht es um den Erwerb einer allgemeinen, beruflich situierten Handlungsfähigkeit. Damit einher geht die Reproduktion eines Berufsverständnisses, das auf ebensolche verallgemeinerbare Kernstrukturen zurückgreift. Berufsbildung rekurriert insofern stets vom gleichen berufsfachlichen Standort, von wo aus Sinnbezüge über Kompetenzbeschreibungen ihren Ausdruck finden. Im pädagogischen Zentrum steht also nicht wirklich der Beruf, welcher, wie Lipsmeier betont, »berufspädagogisches Allgemeingut« sei,37 sondern nur bestimmte berufsbildliche Repräsentationen, welche ihre Sinnbezüge in verdichteter Form auf die arbeitsbezogene Wirklichkeit projizieren. Die als inhärent adressierten Bewältigungshandlungen sind also konventionell und sollen eine allgemeine Handlungsfähigkeit garantieren. Ihr pädagogischer Charme liegt in ihrer arbeitsbezogenen Bedeutsamkeit, von wo aus berufliche Handlungsprozesse didaktisch entfaltbar werden und Lernentwicklungen nach Kompetenzniveau operationalisierbar sind. Was jedoch nicht gelingen kann, ist die Entnahme 35 Anleihen dazu finden sich z. B. bei: Berger, Peter L. / Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt am Main 1969. 36 So existiert in der Gastronomie eine Vielzahl an spezialisierten Spartenrestaurants, die sich z. B. auf eine vegane Kost spezialisiert haben oder die Gartenwirtschaft zum Aufgabenbereich von Köchen erklären. Dies führt jedoch bei Kammerprüfungen zu Problemen, da hier von der bestehenden Ausbildungsvorordnung abgewichen wird. Vgl. Stomporowski, Stephan / Laux, Benjamin: Nachhaltig handeln im Hotel- und Gastgewerbe, Stuttgart 2019. 37 Lipsmeier, Antonius: Lernfeldorientierung im Kontext curricularer Besitzstände, in: Bader, Reinhard / Sloane, Peter F. E. (Hg.): Lernen in Lernfeldern, Paderborn 2000, S. 194.

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pädagogischer Kategorien aus der betrieblichen Handlungspraxis selbst – sofern mit beruflicher Bildung nicht bloß ein Lernprozess auf Grundlage fachlicher Qualifikationen gemeint ist. Solche, zumeist bildungstheoretisch ausformulierte Konzepte finden sich allerdings innerhalb der Berufs- und Wirtschaftspädagogik immer weniger. Beispiele dafür sind die Arbeitsorientierte Exemplarik38 von Ingrid Lisop und Richard Husinga sowie das identitätskritisch-konstellativen Modell39 von Ulrike Greb. Doch auch diese Entwürfe machen die berufstypischen Kernarbeitsprozesse zu ihrer Voraussetzung, entlang derer nun Aspekte der Mündigkeit, beruflichen Identität u. Ä. in den Vordergrund rücken. Denn Blankertz’ Motiv einer Bildung im Medium des Berufes beansprucht ja ebenso die Konventionalität beruflicher Kernarbeitsprozesse, um auf dieser Folie die eigenen pädagogischen Zielsetzungen kontextualisieren zu können.40 Im Zentrum steht nun weniger der Funktionalisierungsgedanke i. S. eines Fähigkeitserwerbes, sondern v. a. das Subjekt – genauer, die freigesetzte Subjektivität, die sich von dem Zwangscharakter der betrieblichen Inanspruchnahme zu emanzipieren und selbstbestimmt zu handeln weiß.41 Dieser subjektbezogenen Perspektive wird wiederum das Gesamtgesellschaftliche untergeordnet bzw. zugewiesen, also eben auch Fragen der Umwelt und Klimaveränderung. Daher gerät z. B. die Idee der Nachhaltigkeit hier nicht ins Blickfeld einer gesonderten Betrachtung, sondern in begrifflich-kumulativer Hülse – als eine Art additiv beigefügter Normenbezug in Form einer mitgedachten Subkategorie des Mündigkeitsbegriffes. Und dies geschieht in völliger Missachtung eines mittlerweile ausgedehnten Nachhaltigkeitsdiskurses und einer in diese Richtung bereits oft schon kritisierten Figur von Mündigkeit, die mit Bezug auf »Ökologie […] definitiv an die Grenzen ihrer Ambivalenz stößt«.42 So verwundert es nicht, dass sich das Themenfeld der Klimaveränderung bislang nur an einem eher randständigen Ort der Berufs- und Wirtschaftspädagogik hat etablieren können, obgleich die mittlerweile doch recht hohe Anzahl an Forschungsergebnissen v. a. im Rahmen der Modellversuchsforschung zur Be-

38 Vgl. Lisop, Ingrid / Husinga, Richard: Arbeitsorientierte Exemplarik, Frankfurt am Main 2004. 39 Vgl. Greb, Ulrike: Die pflegedidaktische Kategorialanalyse. Bildungstheoretische Aspekte der Curriculumentwicklung. In: Ertl-Schmuck, Roswitha / Fichtmüller, Franziska (Hg.): Pflegedidaktik als forschende und lehrende Disziplin. Ein Handbuch in fünf Bänden, Bd. 2, Weinheim, München 2010. 40 Vgl. Blankertz, Herwig: Berufsbildung und Utilitarismus, Weinheim, München 1985. 41 Vgl. Blankertz, Herwig: Zum Begriff des Berufes in unserer Zeit, in: Ders. (Hg.): Arbeitslehre in der Hauptschule, Bochum 1969, S. 41. 42 Dammer, Karl-Heinz / Wortmann, Elmar: Mündigkeit, Hohengehren 2014, S. 90; auch Kutscha, Günter: Emanzipatorische und funktionalistische Berufsbildungstheorie, in: Kaiser, Franz / Götzl, Mathias: Historische Berufsbildungsforschung, Paderborn 2020, S. 173.

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ruflichen Bildung für eine nachhaltige Entwicklung43 eine ausreichende Grundlage für einen gehaltvollen Diskurs über eine konstruktive Weiterentwicklung der eigenen Fachkultur bilden würde. Als derzeit dominante Entwicklungslinien lassen sich v. a. handlungstheoretische, konstruktivistische und bildungstheoretische Bezugsnormen herausstellen.

4.1

Handlungstheoretische Bezugsnormen

Ein Großteil der anwendungsorientierten Konzepte zur Beruflichen Bildung für eine nachhaltige Entwicklung greift den handlungstheoretischen Gedanken der Lernfeldstrukturierung auf, indem über den Entwurf konkreter Bewältigungsanforderungen in nachhaltigkeitsbezogenen Arbeitssituationen der Erwerb von Nachhaltigkeitskompetenzen als lerntheoretisch begründetes Entwicklungsmodell in Anschlag genommen wird. Zu diesem Zweck werden fiktive Nachhaltigkeitsbezüge über konkrete Lernsituationen ausbuchstabiert, die dem Lernprozess als problemorientierte und beruflich situierte Aufgabenkomplexe zugrunde gelegt werden. Ein Beispiel ist der Modellversuch FOENAKO.44 Hier werden auf Grundlage der bestehenden Rahmenlehrpläne des Einzelhandels einige Inhaltsfelder exemplarisch mit Nachhaltigkeitsbezügen angereichert und als komplexe Lernsituationen ausformuliert. Das Ziel ist der Erwerb von Nachhaltigkeitskompetenzen, die ihren pädagogischen Aufschlag entlang konkreter Arbeits- und Geschäftsprozesse erhalten. Auszubildende sind aufgefordert, z. B. eine »Sonderaktion nachhaltiger Elektroartikel« oder eine »Preiskalkulation für Bio-Lebensmittel im Rahmen nachhaltiger Sortimentspolitik« eigenständig zu planen und durchzuführen. Der Nachhaltigkeitsgedanke ist als integraler Bestandteil von realen beruflichen Bewältigungsanforderungen aufgehoben und wird in additiver Form den bestehenden Inhalten zugewiesen und neu ausstaffiert. Die pädagogische Bezugsnorm beansprucht i. d. R. einen handlungsorientierten Kerngedanken, obgleich oft nicht geklärt wird, welcher Lerntheorie, welchem lernpsychologischen Paradigma oder welchem handlungstheoretischen Konzept überhaupt gefolgt wird. Ins Zentrum rückt hingegen ein v. a. fachlich ausbuchstabierter Qualifikationsbegriff, der ein entwicklungsbezogenes Lernen in Aus43 Vgl. Melzig, Christian / Kuhlmeier, Werner / Kretschmer, Susanne (Hg.): Berufsbildung für nachhaltige Entwicklung, Die Modellversuche 2015–2019 auf dem Weg vom Projekt zur Struktur, Bielefeld 2021. 44 Vgl. Hagel, Heinz / Riedel, Angelika: Konzeption und Erstellung von Lehr- Lernarrangements zur Entwicklung von Nachhaltigkeitskompetenzen in den Branchen Lebensmittel, Textil und Elektro des Einzelhandels, in: Melzig, Christian / Kuhlmeier, Werner / Kretschmer, Susanne (Hg.): Berufsbildung für nachhaltige Entwicklung, Die Modellversuche 2015–2019 auf dem Weg vom Projekt zur Struktur, Bielefeld 2021, S. 73.

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sicht stellt und oft stark an das Kompetenzkonzept des ›Deutschen Qualifikationsrahmens‹ erinnert. Denn auch hier geht es im Wesentlichen um den Erwerb beruflicher Fachkompetenz bzw. Nachhaltigkeitskompetenzen auf Grundlage operationalisierbarer Wissensbestände und Fertigkeitsanforderungen.45 Der große Charme anwendungsbezogener Konzeptideen liegt im formal-curricularen und im praxisbezogenen Handlungsbereich, da die bestehenden Lernfelder mit ihrer Arbeitsprozessorientierung im Bestand gehalten werden und nachhaltigkeitsorientierte Erweiterungsaspekte die berufspraktische Bezugsnorm nicht überschreitet. Die pädagogische Aufgabe besteht nun wiederum darin, die potenziellen Auswirkungen der klimabezogenen Veränderungen als neue konstruktive Bewältigungsanforderungen innerhalb der jeweiligen Berufsbilder sichtbar werden zu lassen und als Ergänzung zu den bestehenden Lernfeldern didaktisch auszugestalten. Auf diese Weise soll der Blick der Auszubildenden für den Umgang mit neuen, nachhaltigkeitsbezogenen Berufsaufgaben geöffnet und eine Erweiterung ihrer beruflichen Qualifikationen erzielt werden. Die inhaltlichen Zuschnitte haben einen durchaus realitätspraktischen Hintergrund und ›überdehnen‹ den bestehenden Lernfeldgedanken kaum. Weitgehend ausgeklammert bleibt hingegen die Konfrontation zwischen den betrieblichen und nachhaltigkeitsbezogenen Grenzlinien.

4.2

Konstruktivistische und berufsbildungstheoretische Bezugsnormen

Der pädagogische Fokus von Nachhaltigkeitskonzepten auf Grundlage konstruktivistischer und berufsbildungstheoretischer Denkfiguren liegt in eben jenen Spannungsverhältnissen, die sich den Auszubildenden als praxisbezogene Grenzlinien darbieten. Daher geht es weniger um praxisbetonte Anwendungsbezüge, sondern um die »Förderung eines konstruktiven, domänenspezifischen Umgangs mit Widersprüchlichkeiten« – also um einen erkenntniskritischen Handlungsbegriff.46 In gewisser Weise werden hier die Auszubildenden an den Ort zurückgeführt, der sich in Bezug auf ihr potenzielles Nachhaltigkeitshandeln als unüberwindbare Hürde erweist. Denn als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stehen sie im Verantwortungs-, besser im Pflichtbereich ihrer Betriebe, weshalb nun die habitualisierten Denk- und Selbstwahrnehmungsweisen der Branche zur Diskussion gestellt werden. Ziel ist die Konfrontation mit den theoretischen 45 Vgl. Arbeitskreis Deutscher Qualifizierungsrahmen [AK-DQR]: Deutscher Qualifizierungsrahmen für lebenslanges Lernen, Berlin 2011, S. 5. 46 Vgl. Fischer, Andreas / Hantke, Harald / Roth, Jens-Jochen: Innovatives Lernen zwischen betrieblichen Anforderungen und nachhaltigen Herausforderung, in: Melzig, Christian / Kuhlmeier, Werner / Kretschmer, Susanne (Hg.): Berufsbildung für nachhaltige Entwicklung, Die Modellversuche 2015–2019 auf dem Weg vom Projekt zur Struktur, Bielefeld 2021, S. 95.

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Normbezügen des Nachhaltigkeitsgedankens, um zumindest ein »bildungswirksames Unbehagen« auszulösen.47 Allerdings unterscheiden sich die verschiedenen, v. a. hermeneutisch ausbuchstabierten Ansätze hinsichtlich ihres wissenschaftstheoretischen Hintergrundes, was aufgrund der unterschiedlichen Bezugsnormen zu jeweils anderen didaktischen Planungsentwürfen führt. Hier finden sich die Beispiele von Fischer, mit einem betont konstruktivistischen Nachhaltigkeitsansatz, und Greb, die ihr Strukturgittermodel in der Tradition der ›Kritischen Theorie‹ anlegt. Fischer wendet sich in seiner langjährigen Forschungstätigkeit zur sozialökonomischen Nachhaltigkeit immer wieder gegen den Trend anwendungsorientierter Nachhaltigkeitskonzepte, die vom Grundsatz her keinen Bruch mit dem utilitaristischen Denkprinzip vollziehen. Aber auch einige bildungstheoretische Ansätze adressieren nur das Phänomen als solches und erzielen keine Handlungswirkung, weil betont kognitivistische Lernprozesse nur im Erkennen und Abbilden von Zuständen einmünden. Es reicht also nicht, die quasi äußere Form der Widersprüche zwischen betrieblicher Praxis und Nachhaltigkeit sichtbar zu machen. Vielmehr müssen die im Subjekt provozierten Irritationen zur Sprache kommen, um »einen performativen Bildungsakt« überhaupt initiieren zu können.48 Dazu bedarf es sogenannter Resonanzräume, »in denen nicht nur eine fremdbestimmte, affirmativ ausgerichtete sowie eine immer weiter ausdifferenzierte, utilitaristisch geprägte Spezialisierung des beruflichen Handelns angestrebt wird (›Wahrnehmen-Müssen‹ von ›matter-of-facts‹ vor dem Hintergrund von TINA – ›there is no Alternative‹), sondern ein individuelles (inter-) subjektives Wahrnehmen, Erkennen und Entwickeln von Alternativen ermöglicht wird (›Mehr-wahrnehmen-Können‹)«.49

Der Emanzipationsbegriff vollzieht sich hier im selbstreflexiven Subjekt, das die Möglichkeit der Wahrnehmung seiner eigenen und fremd-zugemuteten Grenzen kommunikativ-handelnd überschreitet, um einen epistemologischen Bruch mit den etablierten Wahrnehmungsweisen zu vollziehen. In der Realbegegnung und im Gespräch mit anderen beruflichen Akteuren öffnet sich ein Resonanzraum, dessen ganzheitliche Schwingungen nicht nur als kognitiver Widerhall den geistigen Erkenntnisprozess beansprucht, sondern durchdrungen ist von der Gleichzeitigkeit emotionaler, ästhetischer Einflüsse – eine Inhärenz, die Fischer als Bewegung bezeichnet, weil sich das Subjekt auf vielen Ebenen in einer gewollt angeregten inneren Unruhe befindet. Dieser Erfahrungskorridor setzt Handlungsoptionen frei, deren Verfasstheit keiner Abbildungsrealität folgt, sondern in einem darüber hinausgehenden Wahrnehmungsprozess angelegt ist und, so Fi47 Ebd., S. 98. 48 Ebd., S. 8. 49 Ebd., S. 13.

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scher in Anlehnung an Bohrer, zur frivolen Subjektivität auffordert.50 Dieses kreative Moment beruflicher Bildung sei notwendig, da das über Klimafragen provozierte gespaltene Berufsethos im Widerstreit zwischen Anspruch und Wirklichkeit ansonsten keine performative Kraft entfalten könne. In diesem Zusammenhang plädiert Fischer für ein »Mehr an Philosophie« in der beruflichen Bildung, da nur in diesem sinnverstehenden Bezugsfeld ein kritischer Blick auf die der Arbeitswelt zugrundeliegenden Handlungsprämissen möglich werde. Ein vergleichbar heuristischer Ansatz findet sich bei Greb, die in ihrem Strukturgitteransatz (oft mit pflegepädagogischem Hintergrund) eine hermeneutische Fallkompetenz veranschlagt. Doch im Unterschied zu Fischer, der seine pädagogischen Reflexionskategorien aus dem Spannungsfeld zwischen kurzfristiger ökonomischer Effizienzrationalität und langfristiger Nachhaltigkeitsrationalität generiert, vernetzt Greb Exempel beruflicher Kernarbeitsprozesse mit den von Habermas ausformulierten erkenntnisleitenden Interessen über Arbeit, Sprache und Herrschaft.51 Auf diese Weise beansprucht das so entfaltete Strukturgitter in der Tradition von Blankertz den ideologiekritischen Blick auf die gesellschaftlichen Widersprüche, wie sie sich im beruflichen Handlungsfeld und in der subjektiven Wahrnehmung der Auszubildenden niederschlagen. Eine solche fachdidaktische Reflexion ist angelegt und angewiesen auf eine bereits bestehende kategoriale Rahmung, indem die Diskurslinien bereits festgelegten Handlungskategorien folgen. So werden zwar berufliche Spannungsfelder sichtbar, aber eben nur als isolierte Dimension innerhalb des Ökonomischen, Sozialen oder Ökologischen. Ziel ist, den arbeitsprozessorientierten Kerngedanken der Lernfeldstrukturierung mit Blick auf den Nachhaltigkeitsgedanken über seinen Handlungsbezug auch für berufliche BildungsProzesse zugänglich zu machen, indem über die Einbeziehung des von Habermas ausformulierten Erkenntnisbegriffes »die didaktische Reflexion das Planungsteam über den Horizont berufspädagogischer Interessen hinaus zu universellen, anthropologisch tiefsitzenden Motiven der Erkenntnisgewinnung führt«.52 In solchen hermeneutisch ausformulierten Ansätzen wird genau der Aspekt in das pädagogische Zentrum gerückt, welcher wohl als neuralgischer Kristallisationspunkt zu beschreiben wäre, wenn die Frage der Klimaveränderung zum Thema der beruflichen Bildung wird: Die spürbaren Widersprüche zwischen 50 Fischer, Andreas / Hahn, Gabriela / Hantke, Harald: Gesucht: Resonanzräume für Wahrnehmung und Erkennen in der Berufsbildung für nachhaltige Entwicklung in der sozioökonomischen Bildung, S. 7. 51 Vgl. Greb, Ulrike / Herold, Gabriele: »Das bisschen Haushalt« – Fachdidaktische Reflexionskategorien in der Hauswirtschaft auf Basis des didaktischen Ansatzes BBnE, in: Stomporowski, Stephan (Hg.): Die Vitamine liegen unter der Schale – Beiträge zur Didaktik der Ernährungs- und Haushaltswissenschaften, Hohengehren 2011, S. 67. 52 Ebd., S. 66.

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dem, was mit dem Gerechtigkeitspostulat der Nachhaltigkeitsidee als ›Sein-Sollendes‹ veranschlagt wird und dem realitätsbezogenen ›Seienden‹ von Routinehandlungen, die Auszubildende tagtäglich in ihren Betrieben als Alltagswirklichkeit erfahren, die ihren beruflichen Sozialisationsprozess nachhaltig prägen und i. d. R. keinerlei Nachhaltigkeitsbezüge enthalten.

Kritisches Zwischenfazit Sowohl in den anwendungsorientierten als auch erkenntniskritischen Modellierungen stehen die Kernarbeitsprozesse im Zentrum der pädagogischen Aufmerksamkeit. Entweder werden diese mit nachhaltigkeitsorientierten Inhaltsbezügen als neue Bewältigungsanforderungen konzeptualisiert oder zum Ausgangspunkt eines Reflexionsprozesses bestimmt. Während im berufsbildungstheoretischen Konzept von Greb über die Perspektivierung der typischen Arbeits- und Geschäftsprozesse die Sichtbarkeit gesellschaftlicher Zustände zum Ausdruck gebracht wird, sucht Fischer darüber hinausgehend auch das kritische Potenzial für konkrete Handlungskorridore. Was nicht ins Blickfeld kommt, das ist ein transformatives Berufsverständnis, welches die Projektionsflächen der Arbeit selbst erweitert. Denn das, was über den beruflichen Sozialisationsprozess zum Berufsverständnis sublimiert, resultiert v. a. aus der Habitualisierung routinebezogener Kernarbeitsprozesse. In ihnen ist das aufgehoben, was die Berufsschule über Lernfelder als bedeutsam ausweist und welche der betrieblichen Arbeit als Funktionalität inhärent ist. Und eben hier kultiviert sich Arbeit zum Beruf, da sich von den Kernarbeitsprozessen die weiteren Ausdifferenzierungen in spezialisierte Handlungsbereiche ergeben. Was nun in den beruflichen Nachhaltigkeitskonzepten erfolgt, das ist eine Aufladung dieses Grundgerüstes, indem ergänzende Inhalte als neue Bewältigungsaufgaben additiv hinzugefügt oder indem die dem Kernarbeitsprozess zugrundeliegenden Handlungsprämissen in den Horizont der Reflexion gestellt werden. Damit bleibt aber der Fokus beruflicher Handlungskompetenz innerhalb der spezifisch betrieblichen Arbeitswirklichkeit. Oder anders: Das, was dem Auszubildenden als bedeutsam in Erinnerung gehalten wird und sich als Verantwortungsbereich erschließen soll, sind in jedem Fall die betrieblichen Kernarbeitsprozesse. Nun macht aber der Klimawandel in erster Linie auf die Komplexität von Handlungszusammenhängen aufmerksam – also auf Zustände, die von der zeitlichen und räumlichen Situiertheit einer Handlung losgelöst sind und als Wirkungsverhältnisse ihren Niederschlag finden. Berufliche Arbeitsprozesse lassen sich daher aus ökologischer Perspektive nicht auf den eingeschränkten Raum der betrieblichen Alltagswirklichkeit reduzieren, sondern bilden Hand-

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lungskomplexe, deren Reichweite über den ›sichtbaren‹ Prozesscharakter hinausgehen.

5.

Berufliche Projektionsflächen in anerkennungstheoretischer Wendung

Der Klimawandel ruft die Abhängigkeit des Menschen von den Naturressourcen deutlich in Erinnerung. Beeinträchtigungen der Umwelt zeigen, dass bereits partielle Eingriffe globale Auswirkungen haben, weshalb das Recht jedes Menschen auf freie Entfaltungsmöglichkeit ein intaktes Ökosystem voraussetzt – generationenübergreifend. Mit der Idee von Nachhaltigkeit wird dieser Gedanke als Diskurs über Gerechtigkeit ausgedrückt und als ein über den Kompetenzbegriff hinausgehendes Bildungskonzept veranschlagt.53 Denn ›Fähig-Werden‹ greift auf das ›Fähig-Sein‹ und eine Idee vom ›Sein-Sollen‹ zurück – erfordert also ein Nachdenken über Sinnzusammenhänge, Zielsetzungen und Veränderungspotenziale. Aspekte, die den Gedanken der beruflichen Bildung in das berufspädagogische Zentrum zurückholen und danach fragen, »was unter den veränderten Bedingungen denn Humanität ist, was noch als human zu verteidigen ist bzw. was erst neu als human visiert werden kann«.54 Dem ist allerdings ein Grundverständnis von Schulhandeln inhärent, das Pädagogik als Beteiligungskultur an der Mitwirkung gesellschaftlicher Zustände versteht – ein bildungspolitisches Verständnis, das v. a. Klafki betont und auch hier Berücksichtigung findet.55 In dieser Konsequenz bedeutet es, die von der KMK veranschlagte Rückführung des Lernfeldgedankens auf die Kernarbeitsprozesse zu überschreiten und damit den didaktisch zentralen Begriff der beruflichen Handlungskompetenz aus der alleinigen Perspektive betrieblicher Funktionalität zu lösen, um auch weitere Implikationen sichtbar werden zu lassen. Denn anders lässt sich der Kulturgedanke nachhaltiger Entwicklung nicht einholen, sofern mehr als nur das Verwertungsinteresse unternehmerischer Zielperspektiven zum Ausdruck kommen soll. Damit wird der Handlungsbegriff selbst nicht aufgelöst, sondern für weitere inhärente Beziehungsstrukturen geöffnet. Denn jeder Handlung liegt eine ›Vergangenheit‹, ›Gegenwart‹ und ›Zukunft‹ zugrunde, deren Sichtbarkeit allerdings in der bloßen Bewältigungstätigkeit kaum zum Vorschein tritt. Aber genau diese 53 Vgl. Haan, Gerhard de / Kamp, Georg / Lerch, Achim / Martigon, Laura / Müller-Christ, Georg / Nutzinger, Hans-G.: Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit, Berlin, Heidelberg 2008, S. 225. 54 Euler, Peter: Bildung als »kritische Kategorie« in: Zeitschrift für Pädagogik 49,3 (2003), S. 418. 55 Vgl. Klafki, Wolfgang: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik, Weinheim, Basel 2007, S. 50.

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Sichtbarkeit ist notwendig, um überhaupt Fragen des Klimawandels zur Sprache bringen zu können – so wie die ›Fridays-for-Future‹-Bewegung allein über ihr Dasein an die zeitliche Entrücktheit aktueller Handlungsverantwortlichkeit aufmerksam macht. Und eben diese Sichtbarkeit war auch juristisch notwendig, damit das Bundesverfassungsgericht die Umweltklage überhaupt anzunehmen bereit war – repräsentiert durch das Alter der neun Kläger/innen zwischen der 15 und 32 Jahren.56 Verhandelt wurde das potenzielle Recht einer nachfolgenden Generation, was einem anerkennungstheoretischen Gesichtspunkt entspricht, der die Ko-Autorenschaft praktizierter Normen an eine reziproke Interaktionsbeziehung autonomer Individuen bindet.57 Mit dieser Grundsatzentscheidung betrat ›Karlsruhe‹ insofern Neuland, als sich die Anerkennung der Rechte Dritter auf mögliche Beschränkungen nicht exakt prognostizierbarer Klimafolgen bezieht. Die Ausdehnung einer solchen Risikobewertung beansprucht den durchaus umstrittenen Begriff der Folgeverantwortung. Denn aus ethischer Perspektive, so Julian Nida-Rümelin, könne aufgrund fehlender Wahrscheinlichkeitsbezüge dem Menschen hier keine Verantwortung anheimgestellt werden, weil man nicht dafür verantwortlich sei, »welche Zufälle, die ich nicht kontrollieren kann, dazu führen, dass die eine und nicht die andere Handlungsfolge realisiert wird«.58 Das entbinde aber nicht, so Nida-Rümelin weiter, von der Pflicht des Respekts gegenüber der Autonomie des Anderen und der Rücksichtnahme gegenüber den Selbstbestimmungsmöglichkeiten aller Menschen. Wenn also keine unmittelbare Folgeverantwortung zugemutet werden kann, diese aber dennoch in einer moralischen Handlungsverpflichtung steht, dann gelingt deren Brückenschlag nur auf der Ebene situativ-inhaltlicher (also verhandelbarer) Bezugsnormen. Für das Bundesverfassungsgericht waren es die politisch bereits vereinbarten Treibhausminderungslasten, welche als Maßstab für die Beurteilung der »künftig betroffenen Freiheitsgrundrechte« zugrunde gelegt wurden.59 Ob und wie sich nun tatsächlich ein Folgeeffekt einstellt, das könne, so Karlsruhe, zwar nicht veranschlagt werden, aber als Risikobewertung auch nicht ausgeklammert bleiben. Entscheidend ist, dass sich ein solcher Vorgriff nur über die Sichtbarkeit eines Adressaten einholen lässt, von dem aus konkrete Bewertungsmaßstäbe freigelegt werden können. Auf dieser Grundlage 56 So verweist das Gericht in seiner Urteilsbegründung, dass »die Beschwerdeführenden natürliche Personen sind«, weshalb ihre Verfassungsbeschwerde zulässig sei – im Unterschied zu den Umweltverbänden, die als ›Anwälte der Natur‹ keine Beschwerdebefugnis in Anspruch nehmen können. Vgl. Pressemitteilung Nr. 31/2021 vom 29. April 2021. 57 Vgl. Brumlik, Micha: Anerkennung als pädagogische Idee, in: Hafeneger, Benno / Henkenborg, Peter / Scherr, Albert (Hg.): Pädagogik der Anerkennung, Schwalbach/Ts., 2013, S. 23; Honneth, Axel: Anerkennung – Eine europäische Ideengeschichte, Berlin 2019, S. 200ff. 58 Nida-Rümelin, Julian: Verantwortung, Stuttgart 2011, S. 111. 59 Vgl. Bundesverfassungsgericht: Pressemitteilung Nr. 31/2021 vom 29. April 2021.

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lässt sich auch der von Nida-Rümelin als unwegsam ausgewiesene Wahrscheinlichkeitskorridor über Exempel sichtbarer Handlungssituationen extrapolieren und durchaus auf verhandelbare Handlungshintergründe verdichten. Dieser Gedanke führt zurück zum berufspädagogischen Handlungsbegriff. Denn solange diesem die Sichtbarkeit klimabezogener Situationsbezüge fehlt, verbleibt auch der Verantwortungsbegriff im Gestaltungsspielraum der betrieblichen Alltagswirklichkeit. Oder anders, die reale betriebliche Handlungsumgebung zeigt der involvierten Sozialgemeinschaft ihre bedeutsamen Projektionsflächen auf, über die sich zunächst Verpflichtungen einstellen und deren Ansprüche die berufstätige Person als Folge anwachsender Routinegewissheiten schrittweise in eine selbst auferlegte Verantwortungsbereitschaft überführt.60 Die Berufspädagogik steht nun vor der Aufgabe, das Zentrum ihrer am Berufsbegriff gespiegelten Projektionsfläche so zu erweitern, dass, wie Fischer es ausdrückt, Denk- und Resonanzräume entstehen können,61 die den (um hier in Analogien zu verweilen) »unsichtbaren Dritten« nicht nur zum integralen Teil einer erweiterten beruflichen Sozialgemeinschaft werden lässt, sondern diesem auch Antlitz verleiht. Doch im Unterschied zu den erkenntniskritischen Modellierungen der beruflichen Nachhaltigkeitsbildung bei Greb oder Fischer wird das Einholen eines erweiterten Normenbezuges, wie es die Idee der Nachhaltigkeit fordert, nicht gelingen, wenn den Auszubildenden die Sichtbarkeit des ›Anderen‹ lediglich in Form eines abstrakten Gegenübers in Erscheinung tritt und sich die Logik des beruflichen Alltags einem anspruchsvollen Kategorienaufschlag zu erwehren hat. Richtig ist zwar, dass die der betrieblichen Handlungswirklichkeit inhärenten Wertbezüge zunächst den Auszubildenden sichtbar zu machen sind, weil sich ansonsten keinerlei Verhandlungsgrundlage gegenüber der Idee nachhaltigen Handelns erschließen lässt. Doch ein solcher Diskurs wird wohl stets in der Perspektive einer Verteidigungshaltung eigener betrieblicher Sichtweisen verhaftet bleiben, da der ›Andere‹, der im Nachhaltigkeitsaufschlag zur Sprache kommt, nicht als Teil der eigenen beruflichen Sozialgemeinschaft wahrgenommen wird. Daher muss das Bemühen dahingehend angelegt sein, die Engführung des an den Kernarbeitsprozessen kultivierten Handlungsbegriffes zu lösen und Möglichkeiten eines erweiterten beruflichen Sozialkorridors auszuloten. Dies setzt einen aktiven Auseinandersetzungsprozess über meine berufliche Sozialgemeinschaft voraus, die als sinnstiftende Selbstdeutung dem Einholen anderer Legitimationsfiguren ihre Zugänglichkeit 60 Hier in Anlehnung an Honneths Ausführungen zum Begriff der Sozialgemeinschaft, die er als »die Triebfeder der individuellen Bereitschaft zur Nomenbefolgung« reklamiert. Honneth, Axel: Anerkennung – Eine europäische Ideengeschichte, Berlin 2018, S. 206. 61 Vgl. Fischer, Andreas / Hahn, Gabriela / Hantke, Harald: Gesucht: Resonanzräume für Wahrnehmung und Erkennen in der Berufsbildung für nachhaltige Entwicklung in der sozioökonomischen Bildung, S. 16.

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in Abrede stellt. Daher ist der Handlungsbegriff als solcher zu erweitern und muss die in ihm verwobenen gesellschaftlichen Korrelationen freilegen – muss also den ›Anderen‹ sichtbar und erfahrbar machen, um ihn als Teil der beruflichen Sozialgemeinschaft anerkennen zu können. Mündig ist man deshalb nur unten, in der Höhle Platons, im Blickfeld und im Diskurs mit anderen und nicht oben, außerhalb jedweder Interaktionsbeziehungen, welche zwar die Person von der ›Erkenntnis‹ ergreifen lässt, aber die eben hier nur als leere Pflicht in Erscheinung tritt. Erst in der Handlung korreliert diese Pflicht mit selbst auferlegter Verantwortung, da sie nun über das Abwägen von situativ fassbaren Gründen ihren normativen Einschlag erfährt.62 Aber, so Nida-Rümelin, nicht deshalb, um bevorzugt »das Integral [meiner] Zufriedenheitsniveaus zu maximieren«, sondern um die Integrität der eigenen Person zu wahren, da sich im Verantwortungshandeln stets auch unsere als wertvoll in Anspruch genommenen »lebensprägenden Projekte« niederschlagen.63 Und diese stehen in Koexistenz mit unserer sozialen Umgebung, innerhalb deren wir den ›Anderen‹ wahrnehmen, uns zu diesem in Beziehung setzen können und dem wir uns daher auch zugehörig fühlen. In unserem Falle ist es aber weniger die schon bei Dewey veranschlagte Familie, sondern die betriebliche Alltagswirklichkeit, die ein Großteil unserer Lebenszeit in Anspruch nimmt (so auch zur »Familie« werden kann) und innerhalb deren unsere Aneignungsprozesse wertwirksame Gewichtungen erhalten.64 Der berufspädagogische Neuaufschlag kommt daher nicht umhin, die vorhandenen sozialen Begrenzungen des Handlungsbegriffes in einen erweiterten Sozialkorridor zu überführen, um die Sichtbarkeit derjenigen zum Vorschein zu bringen, die sich als Teil des Handlungskomplexes derzeit außerhalb der konkreten Bewältigungssituation befinden. Sich hingegen der Position zuzuwenden, aufgrund der Vielfältigkeit von nicht kontrollierbaren Handlungszufällen die Inanspruchnahme jedweder Folgeverantwortung als unwirksam zu erklären, bedient lediglich das Unbehagen gegenüber einer personellen Verunsicherung und dem Wunsch nach Aufrechterhaltung eines zur Routine gewordenen beruflichen Burgfriedens. Fluchtort ist der von Milgram beschriebene Agens-Zustand, der die befürchtete Disharmonie in den Aufgabenbereich entrückter 62 Lesenswert hier der 1962 erschienene Beitrag von Klafki, in welchem er den Zusammenhang von Handlungen und Verantwortung aus einer pädagogischen Perspektive bespricht und darauf aufmerksam macht, dass jeder Handlung eine Veräußerung von Überzeugungen inhärent sei, die nicht rückholbar ist und daher den »Raum der Öffentlichkeit betritt«. Klafki, Wolfgang: Zum Problem der Erziehung zur Verantwortung, in: Ders. (Hg.): Studien zur Bildungstheorie und Didaktik, Weinheim, Berlin, Basel 1971, S. 52. 63 Nida-Rümelin, Julian: Verantwortung, S. 172. 64 Aneignung hier i. S. der Inbesitznahme von Erkenntnissen, in deren Folge sich »eine individuelle Prägung« einstellt. Vgl. Jaeggi, Rahel: Entfremdung, Frankfurt am Main 2006, S. 64.

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Autoritäten verschiebt – in den Verantwortungsbereich der betrieblichen Vorgesetzten, der Unternehmensführung oder schlicht der Politik.65 Das Ziel der Erweiterung beruflicher Projektionsflächen stellt hingegen auf eine neue expansive Lernkultur ab, welche die Wahrnehmungspräsenz der Auszubildenden über die an sie herangetragenen Handlungsbezüge steigert und so die Grenzen ihrer eigenen Verfügungsmöglichkeiten neu beschreibt.66 Es geht aber nicht bloß um den emanzipatorischen Gedanken kritischer Berufsidentität in der berufsbildungstheoretischen Tradition Geißlers oder Lemperts,67 sondern um den schon bei Roth zum Ausdruck gebrachten Kompetenzansatz, der die Freisetzung eines nicht nur kritischen, sondern v. a. auch kreativen Potenzials einholt.68 Denn den Herausforderungen des Klimawandels allein im Rückzug auf den Begriff der Emanzipation zu begegnen, bei der das Subjekt der Berufsbildung inhärenten Abhängigkeiten ansichtig wird,69 wird der Unbedingtheit ökologisch manifester Handlungsanforderungen lediglich auf der Ebene reflexiver Normenbezüge gerecht. Der eigentlich politische Charakter eines solchen Konzeptes erschließt sich vielmehr im kreativen Potenzial, das die Einbeziehung der erweiterten Projektionsflächen zum Gegenstand eines betrieblichen Gestaltungsgedankens und damit auch die funktionalistische Anwendungsperspektive als pragmatischen Handlungsgrundsatz anschlussfähig macht. An dieser Stelle ist dann doch Kutscha recht zu geben, wenn er im Blickfeld der Auseinandersetzung über den anhaltenden wissenschaftstheoretischen Paradigmenstreit innerhalb der Berufs- und Wirtschaftspädagogik für einen kritischen Pragmatismus eintritt, um die notwendige Suche nach neuen Ideen nicht von vornherein über einen sich dualistisch entgegenstehenden Zuordnungsstreit zu blockieren.70 Dem ging allerdings ein deutlicher, oft persönlich zugemuteter Disput zwischen ihm 65 Mit dem Begriff des ›Agens-Zustandes‹ beschreibt Milgram die Verschiebung moralischer Zuordnungsprämissen, die sich aufgrund von Gehorsamkeit gegenüber Autoritäten bei der Bewältigung ethischer Konflikte zeigt. Dies erkläre, warum moralische Integrität von Personen beansprucht wird, die sich grausamer Verbrechen schuldig gemacht haben. Milgram, Stanley: Das Milgram-Experiment, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 167ff. 66 Hier in Anlehnung an das subjektwissenschaftliche Lernkonzept. Holzkamp, Klaus: Lernen – Subjektwissenschaftliche Grundlegung, Frankfurt am Main, New York 1995, S. 190, 260. 67 Vgl. Geißler, Karlheinz A.: Berufserziehung und kritische Kompetenzentwicklung, München, Basel, 1974; Lempert, Wolfgang: Berufliche Bildung als Beitrag zur gesellschaftlichen Demokratisierung, Frankfurt am Main 1974. 68 Vgl. Roth, Heinrich: Pädagogische Anthropologie, Bd. II, Hannover 1976, S. 382f. 69 Kernaufgabe von beruflichen Bildungsprozessen, so Büchter, bestehe darin, »die politischen, ökonomischen und sozialen Rationalitäten, die Berufsbildung regieren […] unter dem Aspekt von subjektiver Abhängigkeit« zu diskutieren. Büchter, Karin: Kritisch-emanzipatorische Berufsbildungstheorie – Historische Kontinuität und Kritik. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 36, 2019, S. 15. 70 Vgl. Kutscha, Günter: Klaus Becks »Irrungen und Wirrungen« – Eine notwendige Klärung und ein Plädoyer für »Kritischen Pragmatismus«. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 35, 2020, S. 6.

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und Beck voraus. Während nun Kutscha, wie auch hier, für eine Erweiterung des beruflichen Handlungskompetenzansatzes und eine damit einhergehende Politisierung der beruflichen Bildung eintrat, da die betriebliche Bewältigungsperspektive lediglich einem utilitären Kompetenzgedanken folge, der keinerlei »verallgemeinerungsfähige Legitimationsansprüche« Dritter sichtbar mache,71 diskreditierte Beck dies als eine ideologisch getriebene Sicht, die nicht nur die berufliche Wirklichkeit der Auszubildenden verzerre, sondern die Jugendlichen in ein »desaströsen Loyalitätskonflikt zu ihren Ausbildungsbetrieben« treibe.72 Eine solche, fast vernichtende Entgegnung zeigt die Hürde auf, vor der die Berufs- und Wirtschaftspädagogik in Zeiten des Klimawandels steht. So argumentiert Beck noch immer in der Tradition Zabecks, der bereits Anfang der 1970er Jahre einen axiomatisierten Systembegriff bemüht, um den »›Sinn‹ der Berufs- und Wirtschaftspädagogik in der Integration des Menschen in die arbeitsteilig organisierte Gesellschaft« aufzuspüren.73 Diese funktionalistische Perspektive schließt das gesellschaftskritische Berufsmoment, wie es v. a. in der kritisch-emanzipatorischen Tradition Lemperts angelegt ist, als eine der Berufserziehung fachfremde Inanspruchnahme moralischer Subkategorien faktisch aus. Doch dies bedeutet nicht nur eine Ignoranz gegenüber den Herausforderungen des Klimawandels, sondern v. a. auch eine Geringschätzung des kreativen Potenzials der Auszubildenden selbst. Denn auch die Betriebe sind angewiesen auf deren Innovationsfähigkeiten in Zeiten der Strukturveränderungen, weshalb mit dem öffnenden Blick über die Enge der betrieblichen Kernarbeitsprozesse hinaus durchaus die Handlungsinteressen der Unternehmen berührt werden. Insofern erscheint die pragmatische Perspektive Kutschas versöhnlich, aber auch konstruktiv, wenn er sich gegen ein ›Weiter-so‹ i. S. eines Law-and-Order-Rationalismus (Feyerabend) 74 stemmt, bei der die wissenschaftstheoretische Integrität als pädagogische Fußfessel der Weiterentwicklung beruflicher Bildung entgegensteht.

71 Kutscha, Günter: Berufliche Bildung und berufliche Handlungskompetenz im Abseits politisch-ökonomischer Reflexion, S. 10f. 72 Beck, Klaus: Irrungen und Wirrungen im »Abseits politisch-ökonomischer Reflexion«. Eine nicht ganz unpolemische und zugleich de(kon)struktive Entgegnung auf Günter Kutschas »Polemik in konstruktiver Absicht«. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 35, 2019, S. 5. 73 Nach Zabeck erweist sich Berufsausbildung nur dann als leistungsfähig, »wenn es in ihm gelingt, den Menschen so in die arbeitsteilig organisierte Gesellschaft einzugliedern, daß er innerhalb technisch-ökonomischer Änderungsprozesse funktionstüchtig bleibt«. Zabeck, Jürgen: Funktionsfähigkeit statt Emanzipation als Leitkategorie beruflicher Bildung, in: Lange, Ute / Harney, Klaus / Rahn, Sylvia / Stachowski, Heidrun (Hg.): Studienbuch Theorien der beruflichen Bildung, Bad Heilbrunn 2001, S. 142. 74 Vgl. Feyerabend, Paul: Erkenntnis für freie Menschen, Frankfurt am Main 1979.

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Andreas Gelhard

Die Kunst des Urteilens. Über Hannah Arendts Vortrag ›Die Krise in der Erziehung‹

1.

Einleitung

Es ist nicht selbstverständlich, Hannah Arendt als Vertreterin bildungsphilosophischen Denkens zu behandeln. Arendt gehört zu der ausgesprochen produktiven Gruppe von Philosophinnen und Philosophen, die sich nur ungern der akademischen Disziplin der Philosophie zuordnen lassen.1 In einem bekannten Interview mit Günter Gaus erzählt sie von ihrer frühen Leidenschaft für die Philosophie, will aber selbst nicht als Philosophin bezeichnet werden: »Ich gehöre nicht in den Kreis der Philosophen. Mein Beruf, wenn man davon überhaupt sprechen kann, ist politische Theorie.«2 Dieser Distanzierung vom Fach Philosophie entspricht auf Seiten der Pädagogik das Eingeständnis fachlicher Inkompetenz. Der Vortrag Die Krise in der Erziehung, den Arendt im Jahr 1958 in Bremen hielt und der seitdem zu einem klassischen Text der erziehungswissenschaftlichen Theoriebildung geworden ist, beginnt mit den Worten: »Ich bin 1 Diese Distanzierung von der Philosophie ist, aus Arendts Perspektive, keine »persönliche« Frage, sondern Reaktion auf eine globale Situation, in der das Gefühl der »Heimat in der Welt« und der »Geborgenheit im Sein« nur noch als Ideologie zu haben ist. In ihrem frühen Aufsatz Was ist Existenzphilosophie? (1946) reflektiert Arendt diese Situation, indem sie die philosophischen Versuche nach Hegels letztem großen Systementwurf in zwei Traditionslinien unterteilt: Die »epigonalen« Strömungen, die auch unter Bedingungen der Moderne eine »Heimat in der Welt« wieder herzustellen suchen und eine Reihe von philosophischen Neuansätzen, die durch die »Rebellion der Philosophen gegen [die] Philosophie« gekennzeichnet sind (Arendt, Hannah: Was ist Existenzphilosophie?, Frankfurt/M. 1990, 6f.). Im Jahr 1946 identifiziert Arendt diese Strategie, der Philosophie durch Rebellion gegen die Philosophie die Treue zu halten, noch mit der »Existenzphilosophie«. Das Phänomen lässt sich aber – von Wittgenstein bis Foucault – weit über diese spezifische Strömung hinaus beobachten. Das beste Beispiel für eine Philosophin, die ihre Energie aus der Rebellion gegen die akademische Philosophie zieht, ohne dass sie der »Existenzphilosophie« zuzurechnen wäre, ist Arendt selbst. 2 Hannah Arendt im Gespräch mit Günter Gaus (Zur Person, 1964): URL: www.youtube.com/wa tch?v=J9SyTEUi6Kw [Stand: 01. 08. 2021]. Der zitierte Satz fällt in die erste Minute des Gesprächs.

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Andreas Gelhard

von Beruf keine Pädagogin und werde also hier über etwas sprechen, wovon ich im Sinne der Experten nichts verstehe.«3 Spätestens seit Thomas Kuhns Theorie des wissenschaftlichen Paradigmenwechsels ist bekannt, dass Experten selten für tiefgreifende Innovation auf ihrem wissenschaftlichen Fachgebiet sorgen. Das liegt in der Logik der Sache, weil sich Experten durch die routinierte Anwendung wissenschaftlicher Standards – und nicht durch deren Infragestellung – auszeichnen. Experten urteilen über Sachverhalte, tun das aber nur in einer von zwei möglichen Bedeutungen des Wortes »Urteilen«: Sie subsumieren einzelne Fälle unter allgemeine Maßstäbe, ohne dass diese allgemeinen Maßstäbe selbst noch einmal beurteilt würden. Nur wenn die Maßstäbe des Urteilens – die wissenschaftlichen Standards – selbst dem Urteil entzogen bleiben, kann man seriös vom Urteil einer Expertin sprechen. Wären die Maßstäbe selbst noch einmal Gegenstand des Urteils, könnte die Expertin nicht einmal sinnvoll angeben, auf welchem Gebiet sie Expertin ist, weil sich dieses Gebiet womöglich im Laufe des Verfahrens geändert hätte. Hannah Arendt hat diesen Grundcharakter des Urteilens in einem ihrer Nachlasstexte analysiert und zugleich darauf hingewiesen, dass der angedeutete Sprachgebrauch nur eine von zwei Bedeutungen trifft, in denen man das »Wort Urteilen« gebrauchen kann.4 Wer Urteilen als das »ordnende Subsumieren« von Einzelnem unter Allgemeines versteht, der stützt sich auf ein »Vor-Urteil«, in dem über die geeigneten Maßstäbe des Urteilens entschieden wurde; »beurteilt wird nur das Einzelne, aber weder der Maßstab selbst noch seine Angemessenheit für das zu Messende«.5 Arendt ist nicht die erste, die auf die Begrenztheit dieser Auffassung vom Urteilen hingewiesen hat. Sie hat aber auf besonders prägnante Weise die Differenz zwischen den beiden möglichen Bedeutungen des Begriffs formuliert, die im alltäglichen Sprachgebrauch gern »durcheinandergehen«.6 In ihrer kürzesten Fassung lautet diese Formulierung, dass die menschliche Fähigkeit der Urteilskraft »mit der Fähigkeit zu unterscheiden sehr viel mehr zu tun hat als mit der Fähigkeit zu ordnen und zu subsumieren«.7 Nimmt man diese kurze Formel ernst, so kann man davon ausgeht, dass Arendt auch auf ihrem eigenen Fachgebiet – dem der politischen Theorie – nicht als Expertin, sondern als Philosophin urteilt. Denn der bewusste Umgang mit Unterscheidungen, der ausdrücklich auch die Leitunterscheidungen des eigenen Urteils reflektiert, ist eines der markantesten Kennzeichen philosophischen 3 Arendt, Hannah: Die Krise in der Erziehung (1958), in: Dies.: Übungen im politischen Denken. Teil 1: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. 2. Auflage, übers. von Ursula Ludz, München 2000, S. 255–276, hier S. 255. 4 Arendt, Hannah: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß, München 2003, S. 20. 5 Ebd. 6 Ebd. 7 Ebd.

Die Kunst des Urteilens. Über Hannah Arendts Vortrag ›Die Krise in der Erziehung‹

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Denkens. In Arendts Vortrag über Die Krise in der Erziehung kann man diese Kunst des Urteilens im Vollzug studieren. Das ist sicher einer der Gründe, warum dieser Text einer Autorin, die von Pädagogik im Sinne der Experten nichts versteht, zu einem Klassiker der erziehungswissenschaftlichen Theoriebildung geworden ist.

2.

Die Erneuerung der Gesellschaft

Der bewusste Umgang mit Unterscheidungen, der das philosophische Arbeiten kennzeichnet, verlangt begriffliche Bestimmungen auch da, wo man es anscheinend mit Allerweltswörtern wie »Leben« und »Welt« zu tun hat. In Arendts Vortrag ist diese Unterscheidung von besonderer Bedeutung, weil Arendt der Erziehung die Funktion zuschreibt, Gesellschaft zu erneuern, ohne sie zu zerstören. Diese Erneuerung kann als Prozess der stetigen Regeneration verstanden werden, in dem es um die Erhaltung des Lebens geht.8 Dann hat man es mit Kreisläufen der Erneuerung zu tun, die die Selbsterhaltung von Organismen als Schema für die Erklärung sozialer Dynamiken verwendet. Ein prominentes Beispiel für diese theoretische Perspektive ist John Deweys Theorie der Erziehung. Laut Dewey kann man das Schema natürlicher Selbsterhaltung so weit generalisieren, dass es auch zur Beschreibung sozialer Prozesse geeignet ist.9 Man kann seine Theorie daher als naturalistisch charakterisieren.10 Eine aktuelle Fassung dieser naturalistischen Argumentationsweise findet sich zum Beispiel bei Axel Honneth. Laut Honneth benötigen demokratische Gesellschaften ein öffentliches Schulsystem, um die »Regenerierung ihrer eigenen moralischen Grundlagen« zu sichern.11 Die Prozesse der »Regenerierung« werden dabei in Analogie zu organischen Prozessen gefasst. Erziehung erscheint so als eine Praxisform, die für »Wachstum und Pflege« moralischer »Gewohnheiten und Verhaltensweisen« zuständig ist.12 Mit Arendt kann man dieses Denken in regenerativen Kreisläufen als Kennzeichen einer Denkweise begreifen, die Erziehung aus der Perspektive des Lebens begreift. Dieser Perspektive setzt sie eine genuin politische Auffassung von ge8 Arendt, Hannah: Die Krise in der Erziehung, S. 266. 9 Vgl. Dewey, John: Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik. Aus dem Amerikanischen von Erich Hylla, 5. Auflage, Weinheim, Basel 2011, S. 17. 10 Vgl. Bellmann, Johannes: John Deweys naturalistische Pädagogik. Argumentationskontexte, Traditionslinien. Paderborn 2007. 11 Honneth, Axel: Erziehung und demokratische Öffentlichkeit. Ein vernachlässigtes Kapitel der politischen Philosophie, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 15,3 (2012), S. 429–442, hier: S. 435. 12 Ebd., S. 433.

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sellschaftlicher Erneuerung entgegen, die nicht an natürlichen Kreisläufen der Regeneration, sondern an der Tradition der beiden bürgerlichen Revolutionen orientiert ist, die unser politisches Erbe darstellen.13 Das führt zu einem weit stärkeren Konzept von Erneuerung als es bei Dewey und Honneth zu finden ist. Arendt denkt gesellschaftliche Erneuerung als Erneuerung einer »Welt«, die »von sterblichen Händen geschaffen ist, um Sterblichen für eine begrenzte Zeit als Heimat zu dienen«.14 Eines der wichtigsten Kennzeichen dieser Welt ist, dass sie durch den beständigen Zustrom neu geborener Bewohner erhalten – und zugleich bedroht wird. Denn im Unterschied zu den Organen eines Körpers sind die Bewohner einer Welt mit der Fähigkeit ausgestattet, mit Vergangenem zu brechen und neu zu beginnen. Das markiert die Grenze der Analogie zwischen organischen und sozialen Prozessen. Soll die Welt nicht dem »Ruin der Zeit« überantwortet werden, ist sie auf die menschliche Fähigkeit angewiesen, »Neues zu schaffen«.15 Arendt spricht der Betrachtung von Erziehungsprozessen aus der Perspektive des Lebens nicht die Bedeutung ab. Kinder sind reifende und sich entwickelnde Wesen, deren Entwicklung aufmerksam begleitet werden muss. Arendt kann uns aber vor dem naheliegenden Fehler bewahren, das Nachdenken über Erziehung auf diese Perspektive zu reduzieren. Wer das Potential des »Neuen und Revolutionären«,16 das mit jedem Kind zur Welt kommt, nicht als Chance und Gefahr begreift, wird Erziehung und Schule immer nur durch einen theoretischen Weichzeichner wahrnehmen. Das bedeutet nicht nur eine Einschränkung von Erkenntnismöglichkeiten, sondern hat auch praktische Konsequenzen, weil die sozialen Konflikte, die unvermeidlich mit den Themen Erziehung und Schule verbunden sind, als bloße Systemfehler behandelt werden können, denen man – erfolglos – mit technokratischen Mitteln begegnet.

3.

Die Funktion der Schule

Arendt bestimmt die Schule als den Ort, an dem das Kind seine erste Bekanntschaft mit der Welt macht. Das ist nur verständlich, wenn man »Welt« nicht als Universum oder Umwelt bestimmt, wie man es in einem naturalistischen Theorierahmen voraussetzen könnte, sondern als einen von Menschen errichteten Wohnort, der freies Handeln in einem öffentlichen Raum ermöglicht.17 13 Zur Bedeutung der Amerikanischen und Französischen Revolution für das moderne politische Denken vgl. Arendt, Hannah: Über die Revolution (1963), München 2011. 14 Arendt, Hannah: Die Krise in der Erziehung, S. 273. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Vgl. Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben (1958), München 2006, Kap. V.

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Dieser Welt begegnen Kinder tatsächlich oft erstmals in der Schule, weil Arendt Schule – ganz klassisch – als eine staatliche Institution begreift, die die Autorität der Eltern zeitweilig bricht. Schule öffnet den privaten Bereich der Familie für die Ansprüche einer Welt, die als instituierte (»hergestellte«) Sphäre der Öffentlichkeit ganz anderen Gesetzen folgt: »Das Kind macht normalerweise seine erste Bekanntschaft mit der Welt in der Schule. Nun ist die Schule zwar keineswegs die Welt und darf auch nicht vorgeben, sie zu sein; sie ist vielmehr die Institution, die wir speziell für die Heranwachsenden zwischen die Privatsphäre des Elternhauses und die wirkliche Welt schieben, um den Übergang von Familie zur Welt überhaupt möglich zu machen. Zu ihrem Besuch wird jedes Kind vom Staate, und nicht vom Elternhaus, also von der Öffentlichkeit gezwungen; und so vertritt die Schule gegenüber dem Kind in gewissem Sinne die Welt, wenn sie sie auch noch nicht selbst ist.«18

An dieser Passage lässt sich sehr gut zeigen, dass in der philosophischen Begriffsarbeit alles auf die präzise Ausarbeitung von Unterscheidungen ankommt. Diese Unterscheidungen sind nicht zeitlos gültig, weshalb die Praxis des begrifflichen Unterscheidens sich häufig als Revision eingespielter Unterscheidungen vollzieht. Im Falle der zitierten Passage betrifft das eine kanonische schultheoretische Unterscheidung Hegels. In einer Rede, die Hegel 1811 in seiner Funktion als Direktor eines Nürnberger Gymnasiums hielt, heißt es: »Die Schule steht nämlich zwischen der Familie und der wirklichen Welt und macht das verbindende Mittelglied des Übergangs von jener in diese aus«.19 Diese Formulierung nimmt Arendt offensichtlich auf, indem sie die Schule als Institution bestimmt, »die wir speziell für die Heranwachsenden zwischen die Privatsphäre des Elternhauses und die wirkliche Welt schieben«. Zugleich unterzieht sie Hegels begriffliche Konstruktion einer tiefgreifenden Revision, die unter anderem – aber nicht nur – gewandelten historischen Bedingungen geschuldet ist. Um das zu zeigen, muss man zumindest skizzenhaft darstellen, welche begriffliche Innovation in Hegels schultheoretischer Formel steckt. Schon Hegels Bestimmungen der beiden institutionellen Sphären, zwischen denen die Schule vermittelt, lauten »Leben« und »Welt«. Da es sich um eine Rede vor der versammelten Elternschaft handelt, wird die Sphäre des Lebens allerdings nur in der konkreten Form des familiären Zusammenlebens betrachtet. Dieses Zusammenleben ist, laut Hegel, gekennzeichnet durch »ein Verhältnis der Empfindung, der Liebe, des natürlichen Glaubens und Zutrauens«.20 Das Kind »erfährt ohne

18 Arendt, Hannah: Die Krise in der Erziehung, S. 269f. 19 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Rede zum Schuljahrabschluß am 2. September 1811, in: Nürnberger und Heidelberger Schriften 1808–1817, Frankfurt/M. 1986, S. 344–359, hier S. 348. 20 Ebd., S. 349.

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Verdienst die Liebe seiner Eltern«, es muss aber auch ihren »Zorn« ertragen.21 In der »wirklichen Welt« ist, komplementär, keine grundlose Liebe zu erwarten, dafür aber auch die Unberechenbarkeit der sozialen Beziehungen eingeschränkt. Die soziale Welt in dem von Hegel gebrauchten Sinn ist von kühler Sachlichkeit, erlaubt aber auch, durch eigenes Tun die Anerkennung anderer zu erwerben: »[In] der Welt gilt der Mensch durch das, was er leistet«.22 Die berühmte begriffliche Innovation, durch die Hegel diese an Leistung orientierte Lebensform für die philosophische Analyse erschließt, ist die »bürgerliche Gesellschaft«.23 Wie es im philosophischen Diskurs zu erwarten ist, liegt die Neuerung nicht in der Erfindung eines einzelnen Begriffs, sondern in der Neubestimmung einer Unterscheidung. Die Rede von bürgerlicher Gesellschaft (koinonia politikè, societas civilis) lässt sich seit der Antike belegen; Hegel unterscheidet den Begriff aber zum ersten Mal in der Geschichte der politischen Philosophie klar vom Begriff des Staates.24 Damit eröffnet er die Möglichkeit, die um 1800 beständig wachsende Bedeutung der Ökonomie gegenüber der Politik auf den Begriff zu bringen. Folgt man der Standardlesart von Hegels Rechtsphilosophie, so bezeichnet der Begriff der bürgerlichen Gesellschaft eine Sphäre wirtschaftlichen Besitzstrebens, in der individuelle Akteure ihre privaten Interessen verfolgen. Die Institution Schule, die auf eine erfolgreiche Teilnahme an dieser Gesellschaft vorbereitet, kann so als ein historisches Monument erscheinen, in dem sich der Sieg des Bürgertums über den Adel manifestiert. Ein Anhänger dieser Lesart ist Niklas Luhmann. In seinem Manuskript über das Erziehungssystem der Gesellschaft bringt er die Entstehung des modernen Schulwesens auf die Formel, die Institution Schule werde zu einer zentralen Schaltstelle zur Verteilung von Lebenschancen und vollziehe die Umstellung »von Herkunft auf Karrieren«.25 Luhmann gibt hier ein ausgesprochen simples Rezeptionsschema vor, das auch in der aktuellen Schultheorie den Bezug auf Hegel bestimmt.26 Dieses Schema interpretiert den Übergang der Schüler aus einer institutionellen Sphäre 21 Ebd. 22 Ebd. 23 Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt/M. 1986, §§ 182–256. 24 Vgl. Riedel, Manfred: Bürgerliche Gesellschaft. Eine Kategorie der klassischen Politik und des modernen Naturrechts, Stuttgart 2011, Kap. VI. 25 Luhmann, Niklas: Das Erziehungssystem der Gesellschaft, hg. von Dieter Lenzen, Frankfurt/ M. 2002, S. 70. 26 Ich verweise stellvertretend auf Helmut Fend, der seinem Erstaunen über die Aktualität von Hegels Schultheorie Ausdruck gibt, ihr aber letztlich nur die Vorstellung entnimmt, die Schule sei eine Art von Trainingslager für wirtschaftliches Erfolgsstreben. Vgl. Fend, Helmut: Neue Theorie der Schule. Einführung in das Verstehen von Bildungssystemen, 2. Auflage, Wiesbaden 2008, S. 80, Anm. 7.

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in eine andere zeitlich. Es setzt die Vorstellung der kindlichen Entwicklung als Maß, nach dem das Verhältnis zwischen Familie und bürgerlicher Gesellschaft begriffen wird. Hegel selbst versteht dieses Verhältnis offenbar so, wenn er von der »Vorbereitung« auf das öffentliche Leben, vom »Fortschreiten« im Lernprozess und Ähnlichem spricht.27 Offensichtlich genügt es aber nicht, das Verhältnis zwischen Familie und bürgerlicher Gesellschaft nach dem Muster eines allmählichen Übergangs zu interpretieren. Das Schema der Entwicklung und des Fortschritts ist im Zusammenhang mit Praktiken der Erziehung ganz angemessen und letztlich unvermeidbar – es taugt aber nicht zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen institutionellen Sphären. Die Schüler bleiben auch nach der Einführung in die bürgerliche Gesellschaft Mitglieder ihrer Familie; und ihre Partizipation an der »wirklichen Welt« beginnt, vermittelt durch die Eltern, schon so früh, dass man nicht sinnvoll einen Moment des »Eintritts« festlegen kann. Das Verhältnis zwischen Familie und bürgerlicher Gesellschaft muss daher zumindest zweifach bestimmt werden, wenn man Hegels Theorie der Schule nicht nur in einer stark verkürzten Form zur Kenntnis nehmen will: Schule ist nicht allein eine Agentur zur Vorbereitung auf das Leben, die Lern- und Entwicklungsprozesse organisiert, sie ist auch eine Lebensform, in der Schülerinnen und Schüler täglich »verweilen«.28 Neben der diachronen Dimension der Begleitung und Anleitung von Entwicklungsprozessen hat Schule offenbar auch eine synchrone Dimension der Begegnung zwischen den Beteiligten. Diese Begegnungen können laut Hegel nicht nur mit Konflikten einhergehen, weil die Beteiligten unterschiedliche Vorstellungen von einem guten Zusammenleben haben, sie führen unvermeidlich zu Konflikten, weil die beiden institutionellen Sphären, die die Grenz-Institution Schule in Beziehung setzt, permanent unvereinbare Ansprüche produzieren. Hegel konnte diesen Punkt in seinen Reden vor der versammelten Elternschaft nicht offen aussprechen. In seiner Rechtsphilosophie tut er das aber sehr deutlich. Dass die Eltern regelmäßig gegen Lehrer und Schule »schreien und reden«, ist nach Hegel unvermeidlich, weil die Schule das Recht der bürgerlichen Gesellschaft gegen das der Familie geltend macht.29 Nach Hegel liegt die Aufgabe der Institution Schule daher darin, zwei Sphären menschlichen Zusammenlebens, die im Staat in Konkurrenz zueinander stehen, geordnet auseinanderzuhalten – und auf diese Weise aufeinander zu beziehen. Schule ist – aus Hegels

27 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Rede zum Schuljahrabschluß, S. 352f. 28 Ebd., S. 348. 29 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 387 (§ 239, Zusatz).

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Perspektive im Jahr 1811 – der auf Dauer gestellte Konflikt zwischen Familie und bürgerlicher Gesellschaft.30

4.

Schule und bürgerliche Gesellschaft

Damit ist der Punkt markiert, an dem Arendt Hegels Unterscheidung zwischen Leben und Welt aufnimmt und neu bestimmt. Die Referenz auf Hegels Gymnasialrede ist nicht ausdrücklich ausgewiesen, aber offenbar bewusst gewählt: Auch Arendt bestimmt Schule als Grenz-Institution, die zwischen widerstreitenden Ansprüchen vermitteln muss, ohne den Widerstreit ja ganz beilegen zu können. Zugleich schreibt sie aber in einer historischen Situation, in der Hegels Bestimmung der bürgerlichen Gesellschaft revidiert werden muss. Grund für diese Revisionsbedürftigkeit ist nicht zuletzt der Erfolg der Neubestimmung von Erziehung, die Luhmann als Umstellung von Herkunft auf Karrieren fasst. In ihrem Buch Über die Revolution schreibt Arendt, die Protagonisten der Amerikanischen Revolution hätten die »Schul- und Erziehungsfrage« sehr ernst genommen, »weil die allgemeine Schulpflicht ganz offenbar eine grundsätzliche Voraussetzung für die Wohlfahrt des Landes und das Funktionieren der politischen Institutionen bildete«.31 Diese Einsicht sieht sie in klarem Gegensatz zu dem »typisch liberalen Betroffensein von dem Recht des Individuums auf volle Entwicklung aller seiner Fähigkeiten«, weil diese Vorstellung in letzter Konsequenz nur auf die Vorstellung hinausläuft, es gebe so etwas wie ein individuelles »Recht zum sozialen Aufstieg«.32 Genau diese Vorstellung hat sich in der Folge aber durchgesetzt. Eltern pochen nicht gegen Schule auf ihr Recht zur Erziehung, sondern erwarten von Schule, dass sie ihre Kinder auf eine erfolgreiche berufliche Karriere vorbereitet.33 Blickt man von hier aus zurück auf Hegels Schultheorie, so muss man feststellen, dass genau diejenige Unterscheidung, die die Institution Schule, Hegels Vorstellung zufolge, als artikulierte aufrechterhalten sollte – die Unterscheidung zwischen Familie und bürgerlicher Gesellschaft –, faktisch kollabiert ist. Die Familie ist längst zu einem konstitutiven Bestandteil der bürgerlichen Gesell-

30 Für eine ausführlichere Behandlung von Hegels Schultheorie vgl. Gelhard, Andreas: Die Politisierung institutioneller Widersprüche. Honneth – Hegel – Rancière, in: Flatscher, Matthias / Herrmann, Steffen (Hg.): Institutionen des Politischen, Baden Baden 2020, S. 293– 320, Abschnitt III. 31 Arendt, Hannah: Über die Revolution, S. 91. 32 Ebd., S. 91f. 33 Vgl. Dubet, François: Le déclin de l’institution, Paris 2002.

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schaft geworden.34 Als Hegel die begriffliche Unterscheidung zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft einführte, lag es nicht in seiner Absicht, die politische Sphäre des Staates sauber von einer apolitischen, allein auf Wirtschaftshandeln ausgelegten Sphäre der Gesellschaft zu sondern. Faktisch hat seine Unterscheidung aber genau diese Trennung auf den Begriff gebracht.35 Daraus zieht Arendt in ihrer Neubestimmung der Unterscheidung von Leben und Welt die Konsequenz. Modell von Hegels bürgerlicher Gesellschaft ist laut Arendt die »VolksWirtschaft«, ein »ins Gigantische gewachsener Haushaltsapparat«, den man letztlich nur als Fortsetzung der Familie mit anderen Mitteln verstehen kann: als »Familienkollektiv« oder »Über-Familie«.36 Die Differenz zwischen den Erziehungstheorien Arendts und Hegels hängt wesentlich von ihrer unterschiedlichen Bestimmung der Unterscheidung Leben/ Welt ab. Hegel ordnet die Familie dem Leben und die bürgerliche Familie der Welt zu. Die für ihn entscheidende Differenz ist die zwischen einer institutionellen Sphäre emotionaler Nahbeziehungen, in der Liebe »ohne Verdienst« verschenkt wird und einer institutionellen Sphäre wirtschaftlichen Erfolgsstrebens, in der nur »Leistung« zählt. Fragt man sich vor diesem Hintergrund, was die Maxime einer Erziehung zur »Selbständigkeit«, die er zu Beginn seiner Nürnberger Gymnasialrede formuliert, konkret bedeutet, könnte man vermuten, es gehe Hegel nur um die wirtschaftliche Selbständigkeit des – männlichen – Haushaltsvorstandes, der als Modell dieses Typs von »bürgerlicher Gesellschaft« dient. Tatsächlich erhebt Hegel aber deutlich stärkere Autonomieansprüche, die sich nicht in einer der beiden institutionellen Sphären, sondern nur in der Distanzierung von jedem institutionellen Zugriff verwirklichen lassen. Dass die Schule die – in diesem konkreten Fall ausschließlich männlichen – Schüler in eine »zweifache Existenz«37 zwischen Leben und Welt einführt, bedeutet nach Hegel, dass die Schüler lernen, sich die Konflikte zwischen Familie und bürgerlicher Gesellschaft zunutze zu machen, um sich von starren Identitätszu34 Hegel folgt in seinen Überlegungen zu Schule und Erziehung offenkundig der Pädagogik Rousseaus, in der die Familie noch als ein Gegengewicht zur bürgerlichen Gesellschaft begriffen wird, das als Grundlage gesellschaftlicher Reformen taugt. Diese Hoffnung hat sich, wie Friederike Kuster sehr zutreffend bemerkt, nicht erfüllt: »[Was] Rousseau als Gegenmodell zur bürgerlichen Gesellschaft konzipiert hat, [ist] schließlich zu deren eigener Binnensphäre geworden«. Kuster, Friederike: Rousseau – Die Konstitution des Privaten. Zur Genese der bürgerlichen Familie, Berlin 2005, S. 200. 35 Karl Marx hat das in seiner frühen Auseinandersetzung mit Hegel mit epochemachender Deutlichkeit demonstriert: Die entscheidende Grenzlinie verläuft nicht zwischen Familie und bürgerlicher Gesellschaft, sondern zwischen diesen beiden apolitischen Sphären einerseits und der politischen Sphäre des Staates andererseits. Vgl. Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: Marx, Karl / Engels, Friedrich: Werke, Bd. 1, Berlin 1981, S. 201– 333. 36 Arendt, Hannah: Vita activa, S. 39. 37 Hegel, G.W.F.: Rede zum Schuljahrabschluß, S. 350.

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schreibungen zu befreien. Das strategische Navigieren zwischen konfligierenden institutionellen Ansprüchen kann dann als Muster einer Politisierung institutioneller Konflikte verstanden werden, deren Bedeutung weit über den Bereich der Schule hinausweist. Man kann diese Konstruktion auf der Ebene der verhandelten Inhalte kritisieren. Hegels Modell der bürgerlichen Kleinfamilie ist streng patriarchal organisiert, der ohne Verdienst vergebenen Liebe entspricht die Willkür des väterlichen Zorns. Man kann Hegels Konstruktion aber auch auf der Ebene der begrifflichen Grundunterscheidungen kritisieren. Das tut Arendt faktisch, indem sie die Unterscheidung Leben/Welt neu bestimmt. In Hegels sozialphilosophischer Theorie der Schule sind die Konflikte zwischen Leben und Welt entscheidende Voraussetzung für den Erwerb individueller Selbstständigkeit. Konkrete Gestalt gewinnt der Konflikt zum Beispiel im »Schreien« der Eltern gegen die Schule. Die Erziehungsansprüche der Familie kollidieren hier mit den ganz anders gearteten Leistungsansprüchen der bürgerlichen Gesellschaft. Hegel formuliert diesen Konflikt zweifellos vor seinem Erfahrungshintergrund als Schuldirektor. Zu der Zeit, als Arendt ihren Vortrag über die Krise der Erziehung hielt, hatte sich dieser Grundkonflikt aus der Gründungszeit des deutschen Gymnasiums allerdings längst in ein Scheingefecht verwandelt. Die liberale Vorstellung, Schule sei eine Agentur zur Ermöglichung sozialen Aufstiegs, hatte die bürgerliche Kleinfamilie zu einer Binnensphäre der bürgerlichen Gesellschaft gemacht. Arendt schlägt daher beide der Sphäre des Lebens zu, die durch unabschließbare Kreisläufe der Reproduktion und Regeneration gekennzeichnet ist. Ganz gleich, ob man die Familie als Teil der bürgerlichen Gesellschaft oder die bürgerliche Gesellschaft als »Über-Familie« versteht: Beide fallen, Arendts Analyse zufolge, in eine Sphäre apolitischen Haushaltshandelns, die den Reproduktionskreisläufen des Lebens folgt. Die Welt dagegen bestimmt Arendt als einen von Menschen gemachten Erfahrungsraum, den man in einem elementaren Sinne als politisch bezeichnen kann: Als Raum, in dem freie Wesen unter den Augen anderer handeln. Vor diesem Hintergrund begreift auch Arendt die Schule als Grenz-Institution zwischen Leben und Welt. Diese Grenzstellung ist aber keine zwischen Familie und bürgerlicher Gesellschaft, sondern eine zwischen einer »präpolitisch-privaten« und einer »politisch-öffentlichen« Sphäre des Zusammenlebens.38

38 Vgl. Arendt, Hannah: Die Krise in der Erziehung, S. 271.

Die Kunst des Urteilens. Über Hannah Arendts Vortrag ›Die Krise in der Erziehung‹

5.

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Zwei Perspektiven auf das Kind

Die erste Hälfte von Arendts Vortrag über Die Krise in der Erziehung ist dem USamerikanischen Schulsystem gewidmet. Die dort konstatierte Krise und die entsprechende Kritik der sogenannten Progressive Education wären ein eigenes Thema. Ich muss mich hier auf die zweite Hälfte des Vortrags konzentrieren, die die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion von Erziehung im Allgemeinen stellt. Arendts Beantwortung dieser Frage ist von vornherein an dem Grundgedanken orientiert, dass politisches Handeln, als freies, die menschliche Fähigkeit zum Neubeginn verwirklicht. Diese Fähigkeit führt sie auf die – nur scheinbar banale – Tatsache zurück, dass sich Gesellschaften beständig durch Geburt erneuern. Leitend für alle ihre Überlegungen ist die These, dass der Mensch zum handelnden Neubeginn fähig ist, weil er selbst ein Neubeginn ist. Leitend ist also ein nicht-naturalistischer Begriff von Geboren-Sein. Entsprechend wehrt Arendt in der philosophischen Bestimmung der Erneuerung der Welt alle Metaphern ab, die sich aus Vorstellungen organischer Kreisläufe beziehen. Neu in dem von Arendt in Anschlag gebrachten Sinn ist ein menschliches Wesen nur aus der Perspektive einer Welt, die politisch verfasst und daher durch Neues irritierbar ist. Die menschliche »Grundfähigkeit des Anfangen-Könnens« ist nicht die eines einsamen Schöpfers, sondern bleibt immer auf die »kommunikative Verarbeitung« durch andere ausgerichtet.39 Deshalb ist die Sphäre des Politischen wesentlich Öffentlichkeit. Und deshalb ist Erziehung auf die Sphäre des Politischen bezogen, ohne dass sie in ihr aufgehen dürfte. Erziehung gehört, laut Arendt, zu den »elementarsten und notwendigsten Tätigkeiten« der menschlichen Gesellschaft, weil sich Gesellschaft durch Geburt »ständig erneuert«.40 Da die neu hinzukommenden Menschen aber noch »im Werden« sind, darf man sie nicht ungeschützt den Dynamiken des politischen Handelns aussetzen, die die Bereitschaft verlangen, sich unter den Augen der Anderen »zu exponieren«.41 Die Selbst-Exposition im Licht der Öffentlichkeit ist Bedingung für die volle Verwirklichung eines freien Neubeginns, da Freiheit die Aufnahme der eigenen Initiative durch andere verlangt. Sie ist aber auch immer durch Konflikte geprägt, da die Pluralität moderner Gesellschaften jede Form von prästabilisierter Harmonie ausschließt.42 Das freie Erscheinen unter anderen kann so jederzeit einen agonalen Charakter annehmen, der für Kinder »eine Preisgabe und eine Auslieferung« bedeutete.43 39 40 41 42

Vgl. Straßenberger, Grit: Hannah Arendt, 2. Auflage, Hamburg 2018, S. 97. Ebd., S. 266. Ebd., S. 268. Grit Straßenberger bezeichnet diese Dimension von Arendts Handlungstheorie daher als expressiv-agonal. Vgl. Straßenberger, Grit: Hannah Arendt, S. 96. 43 Arendt, Hannah: Die Krise in der Erziehung, S. 269.

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Laut Arendt kann man diesem Problem nur gerecht werden, indem man das Kind aus zwei Perspektiven zugleich betrachtet: aus der Perspektive des Lebens und aus der Perspektive der Welt. Das Kind ist einerseits noch »nicht fertig« und schutzbedürftig, weil es »im Werden« ist, und es ist andererseits »neu in einer ihm fremden Welt«, ein Neuankömmling mit der ganzen Kraft des Umsturzes und des Neubeginns.44 Die Pädagogik hat traditionell die erste Perspektive bevorzugt. Das liegt nahe, weil Erziehung überflüssig wäre, wenn das Kind nicht noch im Werden wäre. Berühmt ist Siegfried Bernfelds lakonische Definition der Erziehung als »Summe der Reaktionen einer Gesellschaft auf die Entwicklungstatsache«.45 Doch schon in Bernfelds Begriff der »Reaktion« macht sich eine Dimension der erzieherischen Praxis bemerkbar, die sich nicht in die professionelle Begleitung von Entwicklungsprozessen auflösen lässt. Erziehung dient niemals nur der Vorbereitung auf das Erwachsenenalter, sie organisiert immer auch die Begegnung zwischen den Generationen. Diese Begegnung kann ausgesprochen konfliktgeladen sein – vor allem, wenn Kinder und Jugendliche eigene Lebenswelten ausbilden, die sich nicht als »Vorstufen« zu späteren Erwachsenenwelten begreifen lassen.46 Das ist eine Erkenntnis, die Arendt durch die begriffliche Unterscheidung zwischen Leben und Welt erschließt. Arendt spricht in ihrem Erziehungsvortrag zunächst von sehr kleinen Kindern, die – mit einem Wort Kants – noch der »Wartung« bedürfen. Sie führt die Unterscheidung zwischen Welt und Leben ein, indem sie das Gerade-Geborene von den Erwachsenen unterscheidet, die es zur Welt gebracht haben. In dieser Perspektive der maximalen Deutlichkeit geht es auf der Seite des Lebens um »das lebendige Gedeihen eines Wachsenden«,47 während die Welt eine genuine Sphäre der Erwachsenen bezeichnet. In diese Sphäre können Heranwachsende nicht einfach »versetzt« werden, weil sie eine spezifische Form von Widerstandskraft verlangt. Die Welt ist, Arendts Bestimmung zufolge, eine von Menschen errichtete Sphäre des öffentlichen Handelns, in der es keine Möglichkeit des Rückzugs ins Private gibt. Daher lässt sie keinen Raum für pädagogische Überlegungen. »In der Politik kann Erziehung keine Rolle spielen«, so Arendt, »weil wir es im Politischen immer mit bereits Erzogenen zu tun haben.«48 Eigentlich interessant wird die Unterscheidung zwischen Leben und Welt allerdings erst da, wo sich die Verwechslung beider Sphären aufdrängt: in der Schule. In der Schule sind Heranwachsende in einem Alter, in dem es nicht mehr 44 Ebd., S. 266. 45 Bernfeld, Siegfried: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung, Frankfurt/M. 1973, S. 51. 46 Als Fallstudie für die Zeit um 1900 vgl. Maase, Kaspar: Kinder als Fremde – Kinder als Feinde. Halbwüchsige, Massenkultur und Erwachsene im wilhelminischen Kaiserreich, in: Historische Anthropologie 4,1 (1996), S. 93–126. 47 Arendt, Hannah: Die Krise in der Erziehung, S. 270. 48 Ebd., S. 258.

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nur um das »lebendige Gedeihen«, sondern, laut Arendt, um das geht, »was wir gewöhnlich die freie Entwicklung der Eigenart und der Begabung nennen«.49 Das verleitet dazu, auch diese schulischen Entwicklungsprozesse als solche des Lebens zu verstehen: Die Erziehung in der Schule erscheint dann als organische Fortsetzung der Sorge um das Kleinkind und kann am Ende der Schulzeit nahtlos in die weitere Arbeit an den eigenen Fähigkeiten übergehen. Nach Arendt liegt darin aber die Gefahr einer Pädagogisierung des Politischen, die jede Möglichkeit zu einem ernst zu nehmenden Neuanfang ausschließt. Die entsprechenden Erziehungslehren sprechen im Namen individueller Entwicklung, verdecken aber gerade die »Einzigartigkeit« des Kindes, die sich nur aus der Perspektive der Welt erschließt: die Tatsache, dass es sich um »ein Fremdes«, um »ein noch nie dagewesenes Neues in der Welt« handelt.50 Wenn die Praxis der Erziehung nicht nur als Begleitung und Förderung von Entwicklungsprozessen, sondern auch als Begegnung zwischen Fremden gefasst wird, tritt das Konfliktpotential des Verhältnisses zwischen den Generationen, das in Theorien der sozialen Regeneration ausgeblendet wird, sehr deutlich in den Vordergrund. Aus Arendts Perspektive ist dieses Potential keines, das beseitigt, sondern eines, das bewahrt werden muss, wenn die beständige Erneuerung der Gesellschaft möglich bleiben soll.51 Das bedeutet aber, dass wir uns von der Fiktion einer harmonischen Erziehungspraxis verabschieden müssen, in der sich alle Konflikte durch professionelles Lehrerhandeln beilegen ließen. Das ist die Schattenseite unserer Fähigkeit zum freien Neubeginn, die sich nicht beseitigen lässt, ohne Freiheit zu beseitigen. Nach Arendt ist die Kraft der Erneuerung, die das Kind in die Welt bringt, so groß, dass sie immer wieder von Neuem droht, die Welt zu zerstören. Das ist eine Kernaussage ihres Textes. Nicht nur das Kind muss vor der Exposition im Erscheinungsraum der Welt geschützt werden – dieser Erscheinungsraum bedarf auch umgekehrt des Schutzes vor dem Kind. Arendt schreibt: »Das Kind bedarf einer besonderen Hütung und Pflege, damit ihm nichts von der Welt her geschieht, was es zerstören könnte. Aber auch die Welt bedarf eines Schutzes, damit sie von dem Ansturm des Neuen, das auf sie mit jeder neuen Generation einstürmt, nicht überrannt und zerstört werde.«52

Das ist mehr als deutlich. Das Verhältnis zwischen den Generationen hat das Potential zum Dissens – und es muss in genau dieser Form des potentiellen Dissenses erhalten werden, wenn eine Erneuerung der Welt möglich bleiben soll. Arendt fordert, Schule müsse die Kinder »auf ihre Aufgabe einer Erneuerung der 49 50 51 52

Ebd., S. 270. Ebd. Vgl. ebd., S. 273. Ebd., S. 267.

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gemeinsamen Welt« vorbereiten, ohne ihnen die Möglichkeit zur wirklichen, ernsthaften Erneuerung vorgreifend »aus der Hand zu schlagen«.53 Dabei macht sie die Schutzfunktion der Schule stark, die die Lehrerinnen und Lehrer ins Zentrum eines Dissenses stellt: Des Dissenses zwischen den Generationen, der um das Überleben aller willen nicht frontal ausgetragen werden sollte. In den Schlusspassagen ihres Aufsatzes bringt sie das auf die Formel, Erziehung sei strukturell konservativ – auch und gerade, wenn sie das progressive Programm einer Erneuerung der Welt unterstützt. Das Pädagogische und das Politische setzen, aus dieser Perspektive betrachtet, die beiden Zerfallsprodukte der Französischen Revolution – das Konservative und das Progressive – in ein artikuliertes Verhältnis: »Das Konservative im Sinne des Konservierenden scheint im Wesen der erzieherischen Tätigkeit selbst zu liegen, deren Aufgabe es immer ist, etwas zu hegen und zu schützen – das Kind gegen die Welt, die Welt gegen das Kind, das Neue gegen das Alte, das Alte gegen das Neue. Auch die Pauschalverantwortung, die dabei für die Welt übernommen wird, liegt natürlich im Sinne einer konservierenden Haltung. Aber all dies, scheint mir, gilt nur für den Bereich der Erziehung oder für die Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern und nicht für den Bereich des Politischen, wo wir uns mit und unter Erwachsenen und unseresgleichen bewegen. Im Politischen kann diese konservative Haltung, die die Welt, so wie sie ist, akzeptiert und danach strebt, sie im Status quo zu erhalten, nur ins Verderben führen, weil die Welt im ganzen wie alle einzelnen Dinge in ihr unabänderlich dem Ruin der Zeit überantwortet ist, wenn Menschen sich nicht entschließen einzugreifen, zu ändern, Neues zu schaffen.«54

Das ist der Grund, weshalb Arendt Schule in ein Verhältnis der Stellvertretung zur Welt setzt. Schule soll die Heranwachsenden darauf vorbereiten, die Welt zu erneuern und sie zugleich davon abhalten, es sofort zu tun. Die wichtigste Ressource, die der Schule zur Erfüllung dieser Aufgabe zur Verfügung steht, ist Zeit. Sie stiftet ein temporäres Verhältnis, das den Dissens aufschiebt, ohne ihn aufzulösen. Dabei geht es nicht nur darum, den von Menschen gemachten Erscheinungsraum »Welt«, der freies Handeln ermöglicht, vor dem unkontrollierten Abriss zu bewahren; es geht auch darum, die Schülerinnen und Schüler auf die agonalen Dynamiken vorzubereiten, die das Handeln in der Welt charakterisieren. Das könnte zu der Vorstellung führen, Schule ließe sich als eine Art Trainingslager für das politische Leben anlegen, das Welt simuliert, um auf das Leben in der wirklichen Welt vorzubereiten. Nach Arendt ist das aber nicht möglich, weil die Logik dieser Simulation die Grenzen der Institution Schule so weit aufweichen würde, dass sie ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen kann. Dass Schule 53 Ebd., S. 276. 54 Ebd., S. 273.

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vor den Schülern die Welt vertritt, kann nach Arendt nicht heißen, dass sie Welt nachahmt. Warum das so ist, begründet Arendt in einer Kritik der sogenannten progressiven Erziehung.

6.

Kritik der Progressive Education

Arendt verbindet ihre Überlegungen zur gesellschaftlichen Funktion von Erziehung mit einer Kritik der US-amerikanischen Progressive Education. Dabei zielt sie vor allem auf John Dewey als den prominenten philosophischen Begründer dieser Strömung. Das ist einer der Gründe, warum Arendts Vortrag aus dem Jahr 1958 auf den deutschsprachigen Leser des Jahres 2021 eigentümlich aktuell wirkt. Dewey gehört zu den Lieblingsautoren der Bologna-Reformer. Johannes Bellmann hat gezeigt, dass sich im Zuge des Bologna-Prozesses eine spezifisch deutschsprachige Linie der Dewey-Rezeption herausgebildet hat, die Deweys Erziehungsphilosophie als eine entscheidende Hintergrundtheorie – wenn nicht als »philosophische Grundlegung« – der PISA-Studien in Anspruch nimmt. Resultat dieser Rezeptionsstrategie ist eine Fusion von technokratischen Steuerungsstrategien und pragmatistischer Reformpädagogik, die nur deshalb nicht mehr befremdlich wirkt, weil sie so gängig geworden ist.55 Arendts Kritik an Dewey ist ebenso begrifflicher Natur wie ihre Revision von Hegels Schultheorie. Das liegt nahe, weil Deweys Philosophie der Erziehung konsequent die Unterscheidung zwischen Leben und Welt unterläuft. Für Dewey ist die Unterscheidung zwischen Leben und Welt, an der bei Arendt alles hängt, eine der zahlreichen philosophischen Dichotomien, die es zu überwinden gilt. Terminologisches Zeugnis dieser Überzeugung ist die Umstellung von Welt- auf Umweltbegriffe, die es erlauben, ein Kontinuum von biologisch und sozial bestimmten Umwelten aufzuspannen. Erziehung erscheint in dieser Perspektive als ein Prozess der Übertragung von Erfahrungsgehalten zwischen Generationen, der sich nur graduell von organischen Übertragungsprozessen unterscheidet: »Das Bestehen der Gesellschaft«, so schreibt Dewey, »ist genau so wie die Fortdauer des Lebens im biologischen Sinne von einem Vorgang der Weitergabe abhängig.«56 Schon auf den ersten Seiten von Demokratie und Erziehung beschwört Dewey die große Kontinuität des Lebens. Dabei geht es auch ihm um Prozesse der Erneuerung: der erste Abschnitt des ersten Kapitels steht unter dem Titel »Re55 Vgl. Bellmann, Johannes: The Reception of Dewey in Germany after PISA: On the Language of Progressivism and its Adaptability, in: Overhoff, Jürgen / Overbeck, Anne (Hg.): New Perspectives on German-American Educational History. Topics, Trends, Fields of Research, Bad Heilbrunn 2017, S. 175–192. 56 Dewey, John: Demokratie und Erziehung, S. 17.

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newal of Life by Transmission« (»Die Erneuerung des Lebens durch Weitergabe«). Der Prozess der Erneuerung, den Dewey hier beschreibt, entspricht sehr weitgehend dem, was Honneth unter der Regenerierung der moralischen Grundlagen einer Demokratie versteht. Anders als Honneth beseitigt er aber ausdrücklich die Unterscheidung zwischen Leben und Welt, die Arendts Idee einer politischen Erneuerung der Welt zugrundeliegt. Dewey unterwirft nicht nur individuelles Handeln, sondern auch das soziale Zusammenleben einem Schema der beständigen Neuanpassung – des readjustment – zwischen Organismus und Umwelt, das vor allem George Herbert Spencer im Gefolge Darwins populär gemacht hat. Dabei geht er nicht von einer einseitigen Anpassung von Organismen an ihre Umwelten aus, sondern auch von den umgekehrten Prozessen kluger Naturbeherrschung, mit denen der Mensch Umwelten an seine Bedürfnisse anpasst.57 Diese Umstellung von Welt- auf Umweltbegriffe ist eine der zentralen strategischen Operationen, die es Dewey erlauben, einen kontinuierlichen Übergang zwischen Politik und Pädagogik zu denken. Im Zentrum seines Programms zur Demokratie-Erziehung steht die These, dass sich die Fähigkeit zu demokratischem Verhalten nur unter demokratischen Bedingungen – in einer demokratisch gestalteten Umwelt – aufbauen lassen, weshalb Schulen als demokratische Gemeinschaften gestaltet werden sollten, die ganz durch Prozesse der Kommunikation und Kooperation bestimmt sind. Der Aufbau der Fähigkeiten und Haltungen, auf die eine demokratische Gesellschaft angewiesen ist, lässt sich – laut Dewey – am besten organisieren, indem man Schule als demokratische Gesellschaft im Kleinen anlegt.58 Das ist der Punkt, an dem Arendts Kritik ansetzt. Dewey setzt die Perspektive des Lebens absolut und löst die diversen »Umwelten« in ein Kontinuum des readjustment auf, das nur noch regenerative Kreisläufe und keine starke Vorstellung von Erneuerung mehr kennt. Das korrespondierende Programm der demokratischen Erziehung beruht auf der Vorstellung, man könne »eine neue Welt dadurch begründen […], daß man sie innerhalb der Welt der Kinder, also in der Schule, gleichsam im Modellmaßstab einrichtet und hofft, sie werde sich nun so natürlich und automatisch weiterentwickeln, wie die Kinder heranwachsen«.59 Das ist zunächst eine sehr sympathische – weil harmonische – Vorstellung. Der Versuch, Schule als neue Welt »im Modellmaßstab« einzurichten, verlangt aber natürlich Operationen der Selektion und Vereinfachungen, die nach erzieherischen Kriterien durchgeführt werden sollten. Dewey formuliert sie als Maßnahmen zur Einrichtung einer möglichst »unschulmäßigen« Schule.60 Dieses 57 58 59 60

Vgl. ebd., S. 71. Vgl. ebd., S. 460. Arendt, Hannah: Die Krise in der Erziehung, S. 259. So Erich Hyllas Übersetzung von Deweys »unscholastic«: Dewey, John: Demokratie und Erziehung, S. 206.

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Programm umfasst nicht nur die Maxime, möglichst authentisch Problemkonstellationen der Alltagswelt zu simulieren, die fast-echte Erfahrungen ermöglichen, sondern auch die Lehrerinnen und Lehrer in ein möglichst partnerschaftliches Verhältnis zu den Schülern zu setzen. Nach Arendt führt dieses Programm einer möglichst »unschulmäßigen« Schule zu einigen schwerwiegenden Problemen, vor allem zur Nivellierung zweier Differenzen, die die Institution Schule eigentlich als Differenzen aufrechterhalten sollte: 1. der Differenz zwischen Leben und Welt; 2. der Differenz zwischen den Generationen. Berücksichtigt man Arendts Warnung, Heranwachsende nicht vorzeitig den agonalen Dynamiken der Öffentlichkeit auszusetzen, so hängen diese beiden Punkte eng zusammen. Deweys Versuch, den Generationenunterschied in den flachen Hierarchien problemorientierter Kooperationsprozesse aufgehen zu lassen, kann nach Arendt nur darauf hinauslaufen, »aus den Kindern selbst eine Art Öffentlichkeit zu errichten«, die man zwar nur als »Scheinöffentlichkeit« betrachten kann, die den Beteiligten aber, dessen ungeachtet, den Schutz vor dem gnadenlosen Urteil der anderen raubt. Auch die in pädagogischer Absicht errichtete Scheinöffentlichkeit zwingt die Einzelnen, »sich im Licht einer Öffentlichkeit überhaupt zu exponieren«.61 Mit Arendt muss man das als bedenkliche Nebenwirkung einer gut gemeinten Pädagogik betrachten, die immer schon von der harmonisch zusammenarbeitenden Gruppe ausgeht und darüber das einzelne Kind vergisst. Wo das Monopol der Beurteilung von den Lehrerinnen und Lehrern an die peers übergeht, steigt nach Arendt der Druck zum »Konformismus« und verschwindet jede Möglichkeit zu Formen von abweichendem Verhalten, die nicht bloß als »Haltlosigkeit«62 erfahren werden: »[Die] Autorität einer Gruppe, auch einer Kindergruppe, ist stets erheblich stärker und tyrannischer, als die strengste Autorität einer einzelnen Person je sein kann. Sieht man es aus dem Gesichtspunkt des einzelnen Kindes, so sind seine Chancen, zu rebellieren oder etwas auf eigene Faust zu tun, nahezu gleich Null. Es befindet sich nicht mehr in einem sicher sehr ungleichen Kampf mit einem Menschen, der ihm zwar schlechterdings überlegen ist, gegen den es aber immerhin noch auf die Solidarität anderer Kinder, also seinesgleichen, rechnen darf, sondern ist in der schlechterdings hoffnungslosen Situation der absoluten Minorität, in der es mit der absoluten Majorität aller anderen konfrontiert ist.«63

61 Arendt, Hannah: Die Krise in der Erziehung, S. 267f. 62 Ebd., S. 263. 63 Ebd., S. 262.

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Bei Arendt fällt der Schule dagegen nicht nur die Funktion zu, die absolute Autorität der Eltern zu brechen, sie schützt das einzelne Kind auch vor der Autorität der peers. Darin bleibt sie Hegels Einsicht treu, dass Schule als GrenzInstitution zu verstehen ist, die Schüler*innen die Distanzierung von autoritären Ansprüchen und normativen Identitätszuschreibungen gestattet. Das Potential der Erneuerung, das in jedem einzelnen Kind liegt, zu bewahren, bedeutet aus dieser Perspektive, es nicht nur in eine »zweifache«, sondern in eine plurale Existenz einzuführen, die die Heranwachsenden nicht als festgelegte Wesen in die Erwachsenenwelt entlässt. Die institutionelle Position der Lehrer*in, der in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle zukommt, wird dadurch als eine Grenz-Position erkennbar, die zwischen widerstreitenden Ansprüchen vermitteln muss, ohne den Widerstreit je ganz beilegen zu können. Das zeigt sich – zum Beispiel – mit Blick auf das Problem der Autorität: – Die institutionelle Position der Lehrer*in bricht die Autorität der Eltern – ohne dass sie diese Autorität innerhalb der Schule einfach ersetzen und reproduzieren dürfte. (Der Lehrer als strafender Vater: Das war die Gefahr, die Hegel in seiner Schultheorie vor Augen stand.) – Die institutionelle Position der Lehrer*in bricht zugleich die Autorität der peers – ohne dass sie deren Autorität einfach übernehmen und zur Grundlage der eigenen Erziehungsarbeit machen könnte. (Das ist die Gefahr, die Arendt mit der progressiven Erziehung vor Augen stand: Lehrerinnen und Lehrer als Partner, die der Macht der peers ebenso unterworfen sind wie alle anderen.) Woher beziehen Lehrerinnen und Lehrer die Autorität, um diese doppelte Schutzfunktion erfüllen zu können? Es wäre naiv zu glauben, dass dazu allein die überlegene Sachkenntnis ausreicht. Fachliche Autorität muss institutionell durch das Beurteilungsmonopol über die von Schüler*innen erbrachten Leistungen flankiert sein, wenn die angedeutete Position haltbar sein soll. Das ist eine wichtige Erkenntnis, weil sie uns von der Fixierung auf einzelne Personen und deren Fähigkeiten befreit, mit der derzeit nicht nur Schüler*innen, sondern auch Lehrer*innen in den Blick genommen werden. Diese Fixierung, die von sozialen und politischen Rahmenbedingungen weitgehend abstrahiert, hat nicht nur theoretische, sondern auch praktische Konsequenzen. Junge Lehrerinnen und Lehrer beginnen ihr Berufsleben in einem institutionellen Rahmen, der als strukturell konfliktgeladen betrachtet werden muss. Diese Einsicht verbindet die Schultheorie Hegels mit ihrer revidierten Variante bei Arendt. Wer diese theoretische Einsicht konsequent ausklammert, um den angehenden Lehrer*innen einzureden, dass der Respekt der Schülerinnen und Schüler, das gute Verhältnis zu den Eltern und ihre eigene Gesundheit nur von ihren individuellen Fähigkeiten abhängen, treibt sie fahrlässig in eine Situation permanenter Überforderung. Es ist daher wichtig, in der Ausbildung von Lehrer*innen auch einen

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nüchternen Blick auf die Institution Schule zu werfen, deren gesellschaftliche Funktion nicht »empirisch« zu bestimmen ist, weil »Gesellschaft« kein Gegenstand ist, den man einfach beobachten könnte.64 Für den Begriff der Gesellschaft gilt dasselbe, was Kant für den Begriff der Welt feststellt: Er bezeichnet einen Erfahrungsraum, in dem wir uns handelnd orientieren, kein Objekt, das wir beobachtend vor uns bringen könnten. Eine Bildungspsychologie, die die Funktion von Bildung darin sieht, Heranwachsende mit »gesellschaftlich wünschenswerten Persönlichkeitsausprägungen« auszustatten,65 klammert dieses Problem einfach aus. Sie behandelt Gesellschaft als Black Box, aus der man ab und zu Signale empfängt, was wünschenswert ist. Eine ernsthaftere Behandlung des Problems bedarf bildungsphilosophischer Methoden. Bei Arendt kann man lernen, welche Rolle die Kunst des Unterscheidens in solchen Methoden spielt.

Literatur Arendt, Hannah: Was ist Existenzphilosophie? (1946), Frankfurt/M. 1990. Arendt, Hannah: Die Krise in der Erziehung (1958), in: Dies.: Übungen im politischen Denken. Teil 1: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. 2. Auflage, übers. von Ursula Ludz, München 2000, S. 255–276. Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben (1958), München 2006. Arendt, Hannah: Über die Revolution (1963), München 2011. Arendt, Hannah: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß, hg. von Ursula Ludz, München 2003. Bellmann, Johannes: John Deweys naturalistische Pädagogik. Argumentationskontexte, Traditionslinien, Paderborn 2007. Bellmann, Johannes: The Reception of Dewey in Germany after PISA: On the Language of Progressivism and its Adaptability, in: Overhoff, Jürgen / Overbeck, Anne (Hg.): New Perspectives on German-American Educational History. Topics, Trends, Fields of Research, Bad Heilbrunn 2017, S. 175–192. Bernfeld, Siegfried: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung, Frankfurt/M. 1973. Dewey, John: Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik. Aus dem Amerikanischen von Erich Hylla, 5. Auflage, Weinheim, Basel 2011. Fend, Helmut: Neue Theorie der Schule. Einführung in das Verstehen von Bildungssystemen, 2. Auflage, Wiesbaden 2008. Gelhard, Andreas: Die Politisierung institutioneller Widersprüche. Honneth – Hegel – Rancière, in: Flatscher, Matthias / Herrmann, Steffen (Hg.): Institutionen des Politischen, Baden Baden 2020, S. 293–320.

64 Vgl. Marchart, Oliver: Das unmögliche Objekt. Eine postfundamentalistische Theorie der Gesellschaft, Berlin 2013. 65 Vgl. Spiel, Christiane / Schober, Barbara / Reimann, Ralph / Wagner, Petra (Hg.): Bildungspsychologie, Göttingen u. a. 2010, S. 13.

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Andreas Gelhard

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt/M. 1986 (= WA Bd. 7). Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Rede zum Schuljahrabschluß am 2. September 1811, in: Nu¨ rnberger und Heidelberger Schriften 1808–1817, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt/M. 1986 (= WA Bd. 4), S. 344–359. Honneth, Axel: Erziehung und demokratische Öffentlichkeit. Ein vernachlässigtes Kapitel der politischen Philosophie, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 15,3 (2012), S. 429–442. Kuster, Friederike: Rousseau – Die Konstitution des Privaten. Zur Genese der bürgerlichen Familie, Berlin 2005. Luhmann, Niklas: Das Erziehungssystem der Gesellschaft, hg. von Dieter Lenzen, Frankfurt/M. 2002. Maase, Kaspar: Kinder als Fremde – Kinder als Feinde. Halbwüchsige, Massenkultur und Erwachsene im wilhelminischen Kaiserreich, in: Historische Anthropologie 4,1 (1996), S. 93–126. Marchart, Oliver: Das unmögliche Objekt. Eine postfundamentalistische Theorie der Gesellschaft, Berlin 2013. Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: Marx, Karl / Engels, Friedrich: Werke, Bd. 1, Berlin 1981, S. 201–333. Riedel, Manfred: Bürgerliche Gesellschaft. Eine Kategorie der klassischen Politik und des modernen Naturrechts, Stuttgart 2011. Spiel, Christiane / Schober, Barbara / Reimann, Ralph / Wagner, Petra (Hg.): Bildungspsychologie, Göttingen u. a. 2010. Straßenberger, Grit: Hannah Arendt. 2. Auflage, Hamburg 2018.

Joanna Chlebnikow / Anke Backhaus

Fachkulturen = Sprachkulturen: Fachspezifisch differenzieren im Bonner Modul »Deutsch für Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte« durch Blended Learning

1.

Ausgangslage

Sprachliche Handlungsfähigkeit ist für jedes Unterrichtsfach relevant und eine der wichtigsten Voraussetzungen für Schulerfolg. Dass diese sich nicht automatisch einstellt, sondern »Kompetenzen in der Bildungssprache durch bewusste didaktische Unterstützungsmaßnahmen in enger Verbindung mit Fachunterricht gezielt identifiziert, benannt und fokussiert werden müssen«,1 ist eine Erkenntnis, die sich auf empirische Forschungsergebnisse stützt und die Implikationen für die Lehrerausbildung nach sich zieht.2 Eine bildungspolitische Reaktion auf diesen Befund stellte auch die Reform des Lehrerausbildungsgesetztes (LABG) im Jahr 2009 dar, in dem es heißt, dass »Leistungen in Deutsch für Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte […] für alle Lehrämter zu erbringen«3 sind. Das auf dieser Grundlage in NRW eingerichtete Modul »Deutsch für Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte«, kurz DSSZ-Modul, ist an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als einsemestriges vierstündiges Seminar mit 6 Leistungspunkten und einer maximalen Gruppengröße von 30 Studierenden im ersten Jahr der Masterphase angesiedelt. Durch die Wiedereinführung des Lehramtsstudiums für Gymnasien, Gesamtschulen und Be-

1 Roth, Hans-Joachim / Bainski, Christiane / Brandenburger, Anja / Duarte, Joana: Inclusive Academic Language Training. Das europäische Kerncurriculum zur durchgängigen bildungssprachlichen Förderung (EUCIM-TE), in: Winters-Ohle, Elmar / Seipp, Bettina / Ralle, Bernd (Hg.): Lehrer für Schüler mit Migrationsgeschichte, Münster 2012, S. 93–114, hier S. 94. 2 Vgl. ebd.; Becker-Mrotzek, Michael / Schramm, Karen / Thürmann, Eike / Vollmer, Helmut Johannes (Hg.): Sprache im Fach, Münster 2013; Schramm, Karen / Schroeder, Christoph (Hg.): Empirische Zugänge zu Spracherwerb und Sprachförderung in Deutsch als Zweitsprache, Münster 2009. 3 Ministerium für Schule und Weiterbildung: Gesetz über die Ausbildung für Lehrämter an öffentlichen Schulen (Lehrerausbildungsgesetz – LABG) vom 12. Mai 2009, §11. URL: https://ba ss.schul-welt.de/9767.htm [Stand: 31. 05. 2021].

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Joanna Chlebnikow / Anke Backhaus

rufskollegs in Bonn im Jahr 2011 kam das Modul somit erstmals ab dem Wintersemester 2014/2015 zur Umsetzung. Der vorliegende Beitrag gibt einen Einblick in die Konzeption, Weiterentwicklung und die Anpassung an die Corona-Bedingungen des Bonner Moduls. Im Zentrum unserer Betrachtung stehen die Fragen: Welche Rolle spielt Sprache im Fachunterricht? Wie kann man die angehenden Lehrkräfte in das Thema »Sprache im Fach« einführen und auf die Arbeit mit einer sprachlich heterogenen Schülerschaft vorbereiten? Wie geht man hochschuldidaktisch vor, um die Seminarinhalte für Studierende verschiedener Fächer und Schulformen zu spezifizieren? Unter Einbezug von Evaluationsergebnissen aus verschiedenen Phasen der Modulumsetzung möchten wir die Eignung eines binnendifferenzierenden Ansatzes im Sinne von »lessons learned« beschreiben.

2.

Fachkulturen – Sprachkulturen

Durch die Benennung des Kompetenzbereiches ›Kommunikation‹ in den Bildungsstandards sind sprachliche Aspekte nicht nur implizit, sondern auch explizit zum Gegenstand des Unterrichts in allen Fächern geworden. Dass Bildungssprache aktuell so viel Aufmerksamkeit findet, hat einen doppelten Grund: Es ist darunter ein großer Anteil sprachlicher Formen, deren Beherrschung die Schule für das Lernen selbstverständlich voraussetzt, deren Gebrauch sie aber gar nicht lehrt, und ein zunehmender Anteil von Schülern deutscher wie nichtdeutscher Muttersprache bringt die vorausgesetzten Sprachkompetenzen aber nicht in die Schule mit.4

Dabei werden mit dem Begriff ›Bildungssprache‹ verschiedene sprachliche Ebenen in den Blick genommen, deren Abgrenzung und Beschreibung laut Efing5 für das einzelne Fach noch am Anfang stehe. Und auch die Frage, wie die Umsetzung der Integration fachlicher und sprachlicher Inhalte durch die Lehrpersonen in den Fächern umgesetzt werden soll, ist noch nicht genau definiert. Die Bildungssprache, domänenspezifische Begriffssysteme und die Anwendung eines bestimmten fachlichen Vokabulars in fachlich relevanten Operatoren und Textsorten gehören jedoch zu jeder wissenschaftlichen Disziplin und zur Grundbildung von Schülerinnen und Schülern (SuS). Von bildungserfolgreichen SuS wird

4 Feilke, Helmuth: Bildungssprachliche Kompetenzen – fördern und entwickeln, in: Praxis Deutsch 233 (2012), S. 4–13, hier S. 4. 5 Vgl. Efing, Christian: Berufsweltbezogene kommunikative Kompetenz in Erst- und Fremdsprache – Versuch einer Modellierung, in: Ders. (Hg.): Sprache und Kommunikation in der beruflichen Bildung, Frankfurt am Main 2015, S. 17–46.

Fachkulturen = Sprachkulturen

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die adäquate Nutzung dieser zur Erlangung von mittleren und höheren Bildungsabschlüssen erwartet.6 ›Bildungssprache‹ meint dabei eine fachübergreifende sprachliche Kompetenz, die sich von der Alltagssprache unterscheidet, die beispielsweise auf dem Schulhof Verwendung findet. In ihr wird die konzeptionelle Schriftlichkeit mit ihren typischen Kennzeichen auf Wort-, Satz- und Textebene (z. B. »unter Berücksichtigung dieser Ausgangsbedingungen« oder »Findet die Regel Anwendung, so …«) verwendet, die man in Lehrbuchtexten ebenso wiederfindet wie im Erwartungshorizont von Lehrenden. Die Fachsprache bedient sich ähnlicher Strukturen, je nach Fach jedoch in unterschiedlich starker Ausprägung. So werden beispielsweise in den Naturwissenschaften sehr häufig Satzkonstruktionen zur Darstellung von Bedingungen (wenn, … dann) verwendet, wohingegen der Geschichtsunterricht die genaue Unterscheidung der Tempora verlangt. Gleichzeitig wird das sprachliche Repertoire noch um einen speziellen Fachwortschatz und Textsorten erweitert. Der Fachwortschatz zeichnet sich dabei dadurch aus, dass Fachwörter gegenüber anderen Wörtern vor allem einen fachbezogenen Inhalt und eine »Tendenz zur Exaktheit, Eindeutigkeit, Begrifflichkeit, Systematik, stilistischer Neutralita¨ t und Ausdruckso¨ konomie«7 aufweisen. Fachwo¨ rter sind kontextökonomisch, d. h. sie beno¨ tigen keinen Kontext, um von Fachleuten verstanden zu werden. Jeder Mathematiker hat eine Vorstellung zu »Körper«, die von dem des Mediziners abweicht. Gerade wenn diese Wörter schon aus dem Alltagswortschatz bekannt sind, kann dies zu Fehlinterpretationen bei SuS führen. Diese Unterschiede zeigen sich nicht zuletzt auch in den fachtypischen Textsorten, bei denen gleiche Bezeichnungen nicht immer dasselbe meinen. So verlangt die Beschreibung eines Versuches in der Chemie die Einhaltung gänzlich anderer textsortenspezifischer Kriterien als die Beschreibung eines Bildes im Kunstunterricht. Deutlich wird, dass die in der Schule verwendeten sprachlichen Ebenen ebenso vielschichtig sind wie die sprachlichen Ausgangsbedingungen der Schülerinnen und Schüler. Ziel des Moduls »Deutsch für SuS mit Zuwanderungsgeschichte« ist es daher, die Lehramtsstudierenden auf einen kompetenten Umgang mit dieser Situation vorzubereiten. »Dabei sollen neben der Sensibilisierung für die Bedeutung der Sprache für den Bildungserfolg die bildungssprachlichen Anfor6 Vgl. Rincke, Karsten: Alltagssprache, Fachsprache und ihre besonderen Bedeutungen für das Lernen, in: Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften (ZfDN) 16 (2010), S. 235–260, hier S. 236. 7 Fluck, Hans-Rüdiger: Fachdeutsch in Naturwissenschaft und Technik, Einführung in die Fachsprachen und die Didaktik/Methodik des fachorientierten Fremdsprachenunterrichts, Heidelberg 1997, S. 35.

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Joanna Chlebnikow / Anke Backhaus

derungen in der Schule und im eigenen Fach erkannt und analysiert werden.«8 Auf dieser Grundlage sollen didaktische Materialien zur integrativen Förderung von Sprache im Fach erstellt werden können.

3.

Entstehungsphase des Moduls

Aufgrund der im Vergleich zu anderen Hochschulen eher kleinen Kohorten war eine Differenzierung der drei bis vier angebotenen Seminargruppen pro Semester nach den 20 in Bonn studierbaren Fächern für die Lehrämter Gymnasium, Gesamtschule sowie Berufskolleg im Rahmen des DSSZ-Moduls nicht gegeben. Um dennoch eine fächer- und schulformspezifische Fokussierung der Inhalte zu ermöglichen, wurde in der Phase der Konzeption als Möglichkeit zur Binnendifferenzierung ein Blended Learning-Format als bedarfsorientierte Gestaltungsmöglichkeit für die Lehrerbildung gewählt.9 Die Online-Anteile sollten dabei eine Differenzierung nach Fächern und Schulformen und eine stärkere Individualisierung und Praxisorientierung ermöglichen. In der damaligen hochschuldidaktischen Diskussion wurde Blended Learning als ein möglicher Weg zur Optimierung der Lehre betrachtet. So sah der Horizon Report 2016 den Einsatz von Blended Learning-Modellen in der Hochschullandschaft als Trend.10 Nach der eLearning-Euphorie der 1990er Jahre und der Ernüchterung der 2000er Jahre versuchte man durch die Kombination von Präsenz- und virtuellen Angeboten, die Vor- und Nachteile beider Szenarien auszugleichen und nachhaltigere Konzepte zu entwickeln.11 Dazu finden sich in der Literatur umfassende Darstellungen von Bedingungsfaktoren für die Planung und Umsetzung mediengestützter Bildungsangebote, u. a. bei Arnold et al.,12 Kerres13 oder, mit dem Fokus auf der Lehrerbildung, bei Reinmann.14 Mandl 8 Chlebnikow, Joanna / Backhaus, Anke: Förderung fachsprachlicher Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern als Aspekt der Lehrerausbildung, in: Lingwistyka Stosowana / Applied Linguistics / Angewandte Linguistik 1 (2017), S. 1–14. URL: http://www.ls.uw.edu.pl/documen ts/7276721/0/Lingwistyka+Stosowana+22.pdf [Stand: 28. 05. 2021]. 9 Vgl. Reinmann, Gabi: Blended Learning in der Lehrerbildung. Grundlagen für die Konzeption innovativer Lernumgebungen, Lengerich 2008, S. 13. 10 Johnson, Larry / Adams Becker, Samantha / Cummins, Michele / Estrada, Victoria / Freeman, Alex / Hall, Courtney: NMC Horizon Report: 2016 Higher Education Edition, deutsche Ausgabe (Übersetzung: Helga Bechmann), Austin, Texas 2016. 11 Vgl. Arnold, Patricia / Kilian, Lars / Thillosen, Anne / Zimmer, Gerhard: Handbuch E-Learning. Lehren und Lernen mit digitalen Medien, 4. Auflage, Bielefeld 2015, S. 15. 12 Vgl. ebd. 13 Vgl. Kerres, Michael: Mediendidaktik. Konzeption und Entwicklung mediengestützter Lernangebote, München 2013. 14 Vgl. Reinmann, Gabi: Blended Learning in der Lehrerbildung. Grundlagen für die Konzeption innovativer Lernumgebungen, Lengerich 2008.

Fachkulturen = Sprachkulturen

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und Kopp nennen in diesem Zusammenhang vier generelle Gestaltungsprinzipien für Lernumgebungen: Authentizität und Anwendungsbezug, die sich vor allem in der Möglichkeit postulieren, reale Problemstellungen zu bearbeiten, multiple Kontexte und Perspektiven, womit die Betrachtung der Inhalte aus unterschiedlichen Blickwinkeln gemeint ist, soziale Lernarrangements, die die kooperative Zusammenarbeit der Lerngruppe stärken sollen und die instruktionale Anleitung und Unterstützung in Form von Aufgabenstellungen, der Begleitung der Gruppenprozesse sowie Feedbacks.15 Deutlich war, dass für die jeweilige Konzeption »die Passung eines Blended Learning-Angebots erstens zu spezifischen Bedürfnissen und Voraussetzungen der Zielgruppe und zweitens zu den Merkmalen des Kontextes, in dem man sich befindet«,16 entscheidend und notwendig ist. Das Bonner DSSZ-Modul stellte einen solchen Versuch dar und wird im Folgenden genauer vorgestellt.

4.

Aufbau des Moduls

Die Konzeption des DSSZ-Moduls im Blended Learning-Format und die Planung und Umsetzung der Online-Anteile wurden im Rahmen des Projektes »Erstellung, Erprobung und Implementation von eLearning-Einheiten zum sprachsensiblen Unterrichten im Fach. Ein Blended Learning Konzept für das Modul Deutsch für Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte« realisiert, das durch das Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache gefördert wurde.17 Im Rahmen der konzeptuellen Phase wurden die Seminarinhalte festgelegt, der seminarorganisatorische Rahmen des Moduls definiert sowie die Tutorie15 Vgl. Kopp, Birgitta / Mandl, Heinz: Blended Learning. Forschungsfragen und Perspektiven, 2006, S. 9–10. URL: https://epub.ub.uni-muenchen.de/905/1/Forschungsbericht182.pdf [Stand: 31. 05. 2021]. 16 Reinmann, Gabi: Blended Learning in der Lehrerbildung. Grundlagen für die Konzeption innovativer Lernumgebungen, Lengerich 2008, S. 16. 17 Mehr zum Projekt: Backhaus, Anke / Chlebnikow, Joanna: »In der Sprache liegt die Würze« – Sprachsensibel unterrichten im Fach Ernährungs- und Hauswirtschaftswissenschaften. Ein Blended Learning-Konzept für die Lehrerausbildung, in: Terrasi-Haufe, Elisabetta / Börsel, Anke (Hg.): Sprache und Sprachbildung in der Beruflichen Bildung, Münster 2017, S. 105– 120. Backhaus, Anke / Baumann, Barbara / Chlebnikow, Joanna / Darsow, Annkatrin / Paetsch, Jennifer / Wagner, Fränze Sophie: Evaluation als wichtiger Baustein einer nachhaltigen Hochschullehre, in: Becker-Mrotzek, Michael / Roth, Hans-Joachim (Hg.): »Blick zurück nach vorn«. Perspektiven für sprachliche Bildung in Lehrerbildung und Forschung. Lessons Learned und Erfahrungen aus den geförderten Forschungs- und Entwicklungsprojekten, Köln 2017, S. 45–47, URL: https://www.mercator-institut-sprachfoerderung.de/filead min/Redaktion/PDF/Publikationen/Blick_zurueck_nach_vorn_-_Perspektiven_fuer_sprach liche_Bildung_in_Lehrerbildung_und_Forschung.pdf [Stand: 29. 12. 2021].

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rung der Online-Anteile durch die Lehrenden des Moduls beschlossen. Anschließend erfolgten die Detailplanung der Präsenz- und Online-Anteile und die Umsetzung der insgesamt zwölf eLearning-Einheiten auf der universitären Lernplattform (ILIAS). Das Modul wurde von WiSe 2014/15 bis WiSe 2015/16 pilotiert, evaluiert und angepasst. Parallel dazu wurde eine mediendidaktische Einführung für die Lehrenden des DSSZ-Moduls entworfen und durchgeführt. Auf der Grundlage der bestehenden eLearning-Einheiten und unter Berücksichtigung der Evaluationsergebnisse aus der Pilotierung fand im SoSe 2016 eine Erweiterung der fächerdifferenzierenden Aufgaben für die Online-Anteile statt. Diese wurden im WiSe 2016/17 evaluiert und abschließend angepasst. Das Bonner DSSZ-Modul ist in seiner Grundidee eine Kombination aus Präsenz- und Onlinekomponenten. Die Online-Anteile dienen der Differenzierung nach Fächern und Schulformen und ermöglichen eine stärkere Individualisierung und Praxisorientierung. Im Sinne des Blended Learning18 sind beide Komponenten sowohl inhaltlich als auch methodisch miteinander verzahnt. Dadurch ist ein »Lernszenario, in dem Lernen, Kommunikation, Informationsund Wissensaustausch sowohl über persönliche Begegnungen in Präsenzveranstaltungen als auch unabhängig von Zeit und Raum in internetbasierten Lernumgebungen stattfindet«,19 gegeben. Auf der inhaltlichen Ebene ist das DSSZ-Modul in fünf thematische Blöcke gegliedert: 1. Migration und Sprache. Sprachliche und kulturelle Vielfalt in Bildungssystemen, 2. Einführung in Erst- und Zweitspracherwerb, 3. Schulische Bildungssprache, 4. Sprachsensibles Lehren und Lernen im Fach, 5. Schulentwicklung zum kompetenten Umgang mit Diversität. Die insgesamt 13 Präsenzveranstaltungen (P1 – P13) im Umfang von je drei SWS ergänzen sich durch zwölf ebenfalls wöchentlich zu bearbeitende eLearningEinheiten (eL1 – eL12) im Umfang von je einer SWS auf der Lernplattform. Während der Pandemie wurden die Präsenzsitzungen durch digitale Live-Sitzungen mit gleichem Zeitumfang ersetzt, sodass das komplette Modul online durchgeführt wurde. Diese Umstellung und die sich daraus ergebenen didaktischen Anpassungen werden im späteren Verlauf skizziert (Abb. 1). Die auf diese 18 Vgl. Arnold, Patricia / Kilian, Lars / Thillosen, Anne / Zimmer, Gerhard: Handbuch ELearning. Lehren und Lernen mit digitalen Medien, Bielefeld 2015, S. 142. 19 de Witt, Claudia / Czerwionka, Thomas: Mediendidaktik, 2007. URL: http://www.die-bonn.de /doks/2007-mediendidaktik-01.pdf [Stand: 28. 05. 2021], hier S. 119.

Fachkulturen = Sprachkulturen

475

Weise verzahnten Sequenzen (P1+eL1, P2+eL2, …) bilden in sich geschlossene thematische Einheiten und folgen zumeist einem ähnlichen Ablaufschema: In der Präsenzsitzung bzw. der digitalen Live-Sitzung während der Pandemie wird in das Thema der Einheit eingeführt und es werden die theoretischen Grundlagen erarbeitet, in der anschließenden eLearning-Einheit wird die Bearbeitung des Themas anwendungsbezogen, oft im Kontext der eigenen Fächer und Schulformen, fortgesetzt. Die Bearbeitung der eLearning-Einheiten erfolgt asynchron und kann innerhalb der vorgegebenen Deadlines flexibel organisiert werden. Die Ergebnisse fließen in die darauffolgende Präsenz- bzw. digitale Live-Sitzung ein und werden teilweise weiterbearbeitet.

Abb. 1: Chlebnikow, Backhaus: Blended Learning-Struktur des Bonner DSSZ-Moduls.

In der ursprünglichen Form setzten sich die eLearning-Einheiten aus zunächst drei (eL1 – eL6) und mit steigernder Komplexität in der zweiten Modulhälfte (eL7 – eL12) aus zwei Online-Aufgaben zusammen. In allen Einheiten werden verschiedene Aufgabenformate miteinander kombiniert. Die geschlossenen Formate, die auf der Lernplattform ILIAS mit Hilfe des Werkzeugs Test realisiert werden, dienen dabei der Wiederholung und Festigung der Inhalte der vorausgegangenen Präsenz-/Live-Sitzung. Die Bearbeitung findet in Einzelarbeit statt, das Feedback erfolgt automatisch und die Ergebnisse sind ausschließlich für die bearbeitenden Studierenden und die Lehrenden einsehbar. Den Kern jeder eLearning-Einheit bildet jedoch eine offene Aufgabe, die in einem Forum, einem Wiki oder mittels einer Übung durchgeführt wird. Während in austauschbasierten Aufgaben in Foren der Meinungs- und Wissensaustausch zu vorgegebenen Aspekten des Themas im Fokus steht, werden, angeleitet durch die produktorientierten Aufgaben in Wikis oder in den Übungen, gemeinsame Beispiel- und Ideensammlungen oder sprachsensible Unterrichtsmaterialien für das Fach erstellt. Die Lehrenden moderieren die Online-Arbeit, kommentieren in austauschbasierten Gruppenaufgaben und geben individuelle Feedbacks zu den

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erstellten Produkten, die auch für einen späteren Einsatz in der Berufspraxis gedacht sind. Die im Rahmen des Moduls intendierte und mit Hilfe des Blended LearningFormats realisierte Binnendifferenzierung der Modulinhalte für verschiedene Fächer und Schulformen wird in den eLearning-Einheiten durch Aufgaben angeleitet. Mehr als die Hälfte der über 30 Online-Aufgaben, die Studierende im Laufe des Moduls bearbeiten, stellen einen Fächerbezug her. Dieser wird dadurch ermöglicht, dass sich die Studierenden mit fachspezifischen Materialien auseinandersetzen und/oder eigene Materialien für den Einsatz im Fachunterricht erstellen. Zudem wird ein fachlicher Fokus durch die Sozialform ermöglicht, indem Arbeitsaufträge in Fachgruppen bearbeitet werden. Durch diese Auseinandersetzung sollen die Studierenden als spätere Lehrende eine sprachintegrative Sichtweise auf ihr Fach erhalten und dazu befähigt sein, einen Fachunterricht zu planen und durchzuführen, der sowohl fachliche als auch sprachliche Inhalte berücksichtigt. Zur praktischen Planung und Gestaltung eines sprachsensiblen Unterrichts im Fach gehen sie in Anlehnung an den Scaffolding-Ansatz nach Pauline Gibbons vor.20 Angeleitet durch Arbeitsaufträge durchlaufen sie die vier Etappen: Bedarfsanalyse, Ermittlung des Lernstands der SuS, Lernzielformulierung und Unterrichtsplanung und erarbeiten sukzessive passgenaue Unterrichtsaktivitäten fu¨ r eine mögliche Umsetzung in ihrem eigenen Fachunterricht. Dabei sollen bei der Materialerstellung die drei sprachlichen Ebenen des Fachwortschatzes, der Fachoperatoren und des Lesens und Schreibens von Fachtexten fokussiert werden. Das folgende Beispiel aus einer Studierendenarbeit zeigt einen Umsetzungsvorschlag für die Arbeit mit dem Fachwortschatz für den Biologieunterricht (Abb. 2).

5.

Evaluation des Ausgangsformats

In diesem Abschnitt gehen wir auf die Ergebnisse der Studierendenbefragung aus der dreisemestrigen (WiSe 2014/15 – WiSe 2015/16) Pilotierung ein. Die Evaluation des Moduls stützte sich auf Studierendenbefragungen, die zum Abschluss eines jeden Semesters erfolgten. Ergänzend dazu wurden die Perspektiven der Lehrenden und der Entwickler im Sinne der teilnehmenden Beobachtung in die Evaluation einbezogen. Weitere Daten lieferten Listen zum Bearbeitungsstand der Online-Aufgaben durch die Studierenden und ausgewählte Aufgabenlösungen, die im weiteren Verlauf des Projektes einer Analyse unterzogen wurden. Die Ergebnisse der formativen Evaluationen aus der Studierenden-, Lehrenden- und 20 Vgl. Gibbons, Pauline: Scaffolding language, scaffolding learning. Teaching second language learners in the mainstream classroom, Portsmouth 2002.

Fachkulturen = Sprachkulturen

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Abb. 2: Beispiel Arbeitsblatt, Wortebene.

Entwicklerperspektive flossen in die Optimierung und Weiterentwicklung des Moduls ein. Eingesetzt wurden vorrangig Hybridfragen, die eine Kombination aus geschlossenen und offenen Antwortvorgaben darstellen.21 Erhoben wurden die folgenden Aspekte: – Die Akzeptanz des Blended Learning-Formats. Dies war auch deshalb von Interesse, weil die Vermutung bestand, dass die Zielgruppe wenig Vorerfahrung mit Blended Learning-Formaten hatte. Es sollte ermittelt werden, wie das Modul im Blended Learning-Format bei den

21 Vgl. Schnell, Rainer / Hill, Paul Bernhard / Esser, Elke: Methoden der empirischen Sozialforschung, München 2013, S. 325.

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Studierenden ankommt und was besonders positiv bzw. negativ beurteilt wurde. – Die didaktische Ausgestaltung des Moduls. Bei diesem inhaltlich weit gefassten Aspekt interessierte uns die Frage, wie das Verhältnis der Präsenz- zu den Online-Anteilen und, auf der methodischen Ebene, das Verhältnis zwischen individuellen und Gruppenaufgaben empfunden wurde. Zudem sollte die durchschnittliche Bearbeitungszeit für die eLearning-Einheiten überprüft werden. – Die Fächerspezifizierung in den Online-Anteilen. In diesem Zusammenhang sollte ermittelt werden, ob die Online-Aufgaben die intendierte fächerdifferenzierte Auseinandersetzung mit den Seminarinhalten unterstützen und welche Modulbestandteile dabei aus der Sicht der Studierenden bedeutsam waren.

5.1

Akzeptanz des Blended Learning-Formats

»Ich habe mich beteiligt gefühlt, konnte selbständig und eigenverantwortlich arbeiten und mich vorbereiten, mitmachen, nachbereiten, einbringen. Toll! Effektiv! Ich habe viel gelernt und war motiviert und bin weiterhin motiviert, noch mehr zu lernen.« (Teilnehmerzitat, Studierendenbefragung).

Das DSSZ-Modul im Blended Learning-Format kam bei dem Großteil (98 %, n = 101)22 der Studierenden sehr gut an. Besonders häufig wurde in diesem Zusammenhang die Möglichkeit zur Reflexion, Wiederholung, Vertiefung und Anwendung der Modulinhalte in den Online-Anteilen erwähnt, wodurch laut Studierenden eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Thema stattfände und dadurch ein höherer Lerneffekt empfunden wurde. Die Akzeptanz des Blended Learning-Formats wurde zudem durch den kommunikativen Charakter der Aufgaben sowie die Gelegenheit zur Meinungsäußerung und zum Austausch mit anderen Studierenden in Foren positiv beeinflusst. Bei produktorientierten Online-Aufgaben legten die Studierenden dagegen Wert auf die Rückmeldung durch die Lehrenden. Auf der strukturellen Ebene wurden die individuelle Zeiteinteilung (innerhalb der Abgabefristen), ein deutlich erkennbarer Zusammenhang zwischen den Präsenz- und Online-Anteilen, methodische Abwechslung sowie die transparente und klare Struktur als wichtige Faktoren hervorgehoben. Auch die Frage nach der »besten« eLearning-Einheit bzw. Online-Aufgabe bestätigte die oben genannten Aspekte. Unter den Top-Fünf wurden von den 22 Der eingesetzte Fragebogen wurde im Laufe der Pilotierung erweitert, dadurch ergeben sich teilweise unterschiedliche Zahlenwerte.

Fachkulturen = Sprachkulturen

479

Studierenden folgende Online-Aufgaben aufgeführt: Die Erstellung der Bedarfsanalyse (33 %, n = 144), die Erstellung einer sprachsensiblen Aktivität im Fach (31 %), die Erstellung des Teilfertigkeitstests (TF-Tests) für den Fachunterricht (28 %), der kollegiale Austausch im Forum (9 %) und die eLearningEinheit zu den Operatoren im Fach (7 %). Als Begründung der Bewertungen wurde allen voran der starke Praxis- und Fächerbezug angegeben. Die geschlossenen Formate in Form von wissensüberprüfenden Tests wurden von 11 % der Studierenden als gute Zusammenfassung mit motivierender Punktevergabe aufgeführt und als geeignete Möglichkeit empfunden, das Gelernte zu sichern.

5.2

Didaktische Ausgestaltung

»Das Blended Learning Format [war] spannend, transparent, mit direkten Antworten, sehr gut zum Rekapitulieren, sehr dynamisch, motivierend und anschaulich […]. Deutlich mehr gemerkt!« (Teilnehmerzitat, Studierendenbefragung).

Das Verhältnis von drei SWS Präsenz- und einer SWS Online-Anteilen in der Woche beurteilten 95 % (n = 144) der Studierenden als genau richtig. Die bei der Konzeption veranschlagte Zeit für die Bearbeitung der eLearning-Einheiten wurde bestätigt. Um zu ermitteln, wie die Kombination aus verschiedenen Formaten in den Online-Anteilen empfunden wurde, wurden die Studierenden gebeten, das Verhältnis zwischen den individuellen Aufgaben (Test, Umfrage) und den Gruppenaufgaben (Forum, Wiki, Übung) innerhalb der einzelnen eLearning-Einheiten zu bewerten. Die meisten Studierenden (79 %, n = 144) haben das Verhältnis als genau richtig empfunden, für knapp ein Fünftel (19 %) gab es zu viele Gruppenaufgaben. Sehr aufschlussreich waren die Nennungen der Studierenden bei der Frage nach Verbesserungsvorschlägen zum Blended Learning-Format. Dabei wurde die Bearbeitung von produktorientierten Aufgaben in der Gruppe für sinnvoll befunden. Gab es jedoch innerhalb der Gruppe der Fachstudierenden wenig persönlichen Kontakt, wodurch die Suche nach einem geeigneten Arbeitspartner erschwert wurde, bevorzugten einige Studierende aus zeitökonomischen Gründen die individuelle Bearbeitungsmöglichkeit. Bei austauschbasierten Aufgaben in Foren wurde genannt, dass es manchmal schwer gewesen sei, bei fortgeschrittener Diskussion noch neue Aspekte einzubringen. Des Weiteren wurde ein stärkeres Eingehen auf vorhandene Beiträge innerhalb der Gruppen durch die Studierenden selbst gefordert. Zudem wurde von einigen Studierenden eine noch stärkere Einbindung der Ergebnisse aus den Online-Anteilen in die Präsenzveranstaltungen gewünscht.

480 5.3

Joanna Chlebnikow / Anke Backhaus

Fächerspezifizierung in den Online-Anteilen

»Das Blended Learning-Format gefällt mir, weil es einen individuelleren Lernprozess ermöglicht. Die Beschäftigung mit dem Thema zu Hause macht noch einmal differenzierteres und individuelleres Lernen möglich« (Teilnehmerzitat, Studierendenbefragung).

In der Pilotierung wurde abgefragt, inwiefern die Online-Anteile die Studierenden dabei unterstützt haben, die Inhalte des Seminars im Kontext ihrer Fächer zu betrachten, zu bearbeiten oder zu vertiefen. Aus den Ergebnissen der Studierendenbefragung ging hervor, dass die Mehrheit (89 %, n = 90) eine Spezifizierung der Inhalte im Kontext des eigenen Faches als gegeben sah. Im letzten Semester der Pilotierung wurde zudem erstmalig erhoben, welche Komponenten in diesem Zusammenhang besonders unterstützend waren. Bei den vorgegebenen Antwortoptionen mit möglicher Mehrfachnennung ergab sich das folgende Bild: Als besonders gewinnbringend erachteten die Studierenden die Beschäftigung mit dem Lehrwerk des eigenen Faches (87 %) und die Erstellung von Materialien für das eigene Fach (81 %) unter sprachsensiblen Gesichtspunkten. Auch die Auseinandersetzung mit dem Curriculum und den Operatoren des eigenen Faches (57 %) und die Fokussierung der jeweiligen (fach-)sprachlichen Strukturen und des Fachwortschatzes (50 %), der Austausch und die Zusammenarbeit mit den Kommilitonen des Faches (48 %) und die Beschäftigung mit Lernertexten (30 %) waren für die Studierendenden hilfreich.

5.4

Erste Rückschlüsse

Aus den Evaluationsergebnissen des Ausgangsformates ließen sich die folgenden Rückschlüsse ziehen: – Eine fachübergreifende Einführung und Erarbeitung der Themen in den Präsenzanteilen und eine Spezifizierung im Kontext der Fächer im OnlineBereich hat sich bewährt. – Für die Binnendifferenzierung im Online-Bereich benötigt man als Input fachspezifische Materialien, wie Rahmencurricula, Lehrwerke, Operatoren und Schülertexte. – Aufgaben zur Erstellung von Materialien, die in einer ähnlichen Form in der späteren Berufspraxis eingesetzt werden könnten, fördern eine intensivere Auseinandersetzung mit den Seminarinhalten im Kontext der Fächer. – Für individuelle Aufgabenlösungen sind individuelle Feedbacks notwendig.

Fachkulturen = Sprachkulturen

481

– Es empfiehlt sich eine Mischung aus Aufgabenformaten, die sowohl individuelles Arbeiten als auch die Zusammenarbeit und den Austausch in der Gesamtgruppe und in Fachgruppen ermöglicht. – Bei Aufgaben in Foren sollte darauf geachtet werden, der Gruppengröße entsprechend viele Diskussionsanlässe zu schaffen, so dass Redundanzen vermieden werden können. – In der Präsenzsitzung hat sich der Einsatz kooperativer Lerntechniken zur Anbahnung des Kontaktes von Fachstudierenden und die Bildung von Fachgruppen für die anschließende Zusammenarbeit im Online-Bereich bewährt. – Für eine transparente Verzahnung sollten die Ergebnisse aus der Onlinephase in die nachfolgende Präsenzsitzung einfließen. – Die Lehre in beiden Phasen sollte durch dieselbe Person geleistet werden, so dass die Verzahnung der verschiedenen Ebenen besser gelingt. – Für die Optimierung des Konzeptes empfiehlt sich eine begleitende Evaluation, deren Ergebnisse kontinuierlich implementiert werden.

6.

Exkurs: Anpassungen des Moduls an die rein digitale Durchführung unter Pandemiebedingungen

Das DSSZ-Modul wurde nach dem oben skizzierten Modell bis zum Wintersemester 2019/20 durchgeführt. Der Ausbruch der Pandemie und der Wegfall der Präsenzveranstaltungen stellte die Hochschulen im Frühjahr 2020 vor große Herausforderungen. Bei der notwendigen Umstellung auf die rein digitale Lehre ab dem Sommersemester 2020 erwies sich die bereits vorhandene Struktur des Moduls im Blended Learning-Format als Vorteil. Auch die hier aufgeführten Rückschlüsse aus den Evaluationen des Ausgangsformates haben eine Anpassung an die rein digitale Durchführung erleichtert. Das Gesamtgerüst mit seiner Verzahnung der beiden Komponenten aus synchronen Präsenzsitzungen und asynchron auf der Lernplattform zu bearbeitenden eLearning-Einheiten wurde beibehalten. Modifiziert wurde jedoch die Durchführungsart der Präsenzsitzungen in wöchentlich stattfindende digitale Live-Sitzungen. Die Herausforderung bestand darin, den teilnehmeraktivierenden Charakter der Präsenzsitzungen auch bei der rein digitalen Durchführung der Veranstaltungen beizubehalten. Diesem nähert man sich durch die Nutzung mehrfacher Breakout-Sessions in den Live-Sitzungen, in denen Kleingruppenarbeit und kooperative Lerntechniken (wie Kugellager, Placemat etc.) umgesetzt werden. Zum anderen wurden neue digitale Aufgaben entwickelt, die teilweise in die Live-Sitzungen, aber auch in eLearning-Einheiten integriert wurden.

482

Joanna Chlebnikow / Anke Backhaus

Die Evaluationsergebnisse aus zwei digitalen Semestern (Sommersemester 2020 und Wintersemester 2021) zeigen folgendes Bild. Fast alle Studierenden (96 %, n = 76) waren mit der Durchführung der LiveSitzungen über Zoom zufrieden. Über die Hälfte aller Befragten haben diese sogar als sehr gut (55 %) und gut (41 %) bewertet. Auch das Verhältnis von digitalen Live-Sitzungen zu Online-Aufgaben über ILIAS empfanden 77 % (n = 75) als genau richtig. 12 % der Studiereden fanden jedoch, dass es zu viele Live-Sitzungen waren, während sich 10 % der Befragten wiederum weniger Online-Aufgaben gewünscht hätten. Hier zeigt sich ein leicht abgewandeltes Bild gegenüber den Semestern vor der Pandemie, wo das Verhältnis zwischen der damaligen Durchführung von drei SWS Präsenz- und einer SWS Online-Anteilen in der Woche von 95 % (n = 144) der Studierenden als genau richtig empfunden wurde. Um herauszufinden, ob die Studierenden auch in der digitalen Umgebung die Möglichkeit hatten, sich aktiv am Seminargeschehen zu beteiligen, wurden in der Evaluation zwei Aspekte fokussiert. Zum einen wurden die Teilnehmenden gefragt, wie sie ihre eigene Aktivität wahrgenommen haben: War die Teilnahme wie im Vorfeld erwartet, reger oder weniger rege als vorher angenommen? Zum anderen wurden die Studierenden gebeten, den Einsatz der Breakout-Sessions zu beurteilen. Etwas weniger als die Hälfte der Studierenden (43 %, n = 73) hatten den Eindruck, dass sich ihre aktive Teilnahme durch die digitale Umsetzung nicht maßgeblich verändert hat. 29 % der Befragten hatten sogar das Gefühl, dass sie sich reger oder viel reger beteiligt hatten. 27 % der Studierenden haben sich als weniger aktiv wahrgenommen. Der Einsatz von Breakout-Sessions wurde insgesamt für gut befunden. Die meisten Teilnehmenden (73 %, n = 74) haben die Arbeit in den Breakout-Räumen als produktiv bzw. sehr produktiv bewertet. Hier ist ein leichter Positivtrend zwischen dem ersten und dem zweiten digitalen Semester zu verzeichnen. Verglichen mit Kleingruppenarbeit in Präsenzveranstaltungen wurde die Arbeit in Breakout-Sessions von 72 % der Evaluationsteilnehmenden (n = 74) als ebenso produktiv bzw. sogar produktiver empfunden, während knapp ein Drittel (28 %) diese als weniger produktiv wahrgenommen hat.

7.

Resümee

Die Erfahrungen der letzten Jahre, in denen das Modul »Deutsch für Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte« an der Universität Bonn durchgeführt wurde, zeigen, dass das Thema der sprachlichen Bildung in allen Fächern seinen Platz in der Lehrerbildung gefunden hat. Während man in den

Fachkulturen = Sprachkulturen

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ersten Jahren noch Skepsis seitens der Studierenden wahrnehmen konnte, zeigt sich mittlerweile, dass die Notwendigkeit der Integration von Sprache und Fach nicht mehr angezweifelt wird. Vielmehr steht nun die Frage im Vordergrund, wie man als Lehrkraft im Fach didaktisch vorgehen kann, um SuS einen Weg zur sprachlichen Teilhabe und somit zur Bildungsteilhabe zu ermöglichen. Zur hochschuldidaktischen Beantwortung dieser Frage hat sich der fachlich spezifizierende und handlungsorientierte Weg, der durch den Blended LearningAnsatz eingeschlagen wurde, als zielführend erwiesen. Die dadurch gegebene Möglichkeit, sich des Themas der Integration von Sprache im Fach differenziert und in Zusammenarbeit mit den Fachkommilitonen zu widmen, wird von den Studierenden konstant als wertvoll und gewinnbringend bestätigt. Die Entwicklung der didaktischen Medienkompetenz der Studierenden stand zwar zu Beginn der Modulkonzeption nicht im Vordergrund. Das Ziel jedoch, den angehenden Lehrkräften die Möglichkeit zu geben, digitale Medien im Lernprozess selbst zu erfahren, war von Anfang an beabsichtigt. Nicht zuletzt die Pandemie hat gezeigt, wie wichtig es ist, die Lehre so zu gestalten, dass eine flexible Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen gegeben ist. Dies bereits in der ersten Phase der Lehrerausbildung erfahren zu können, ist sicherlich eine gute Basis dafür, um sich selbst aktiv und kompetent in die Weiterentwicklung von Schulen im Zeichen von wachsender Heterogenität und Digitalisierung einzubringen.

Literatur Arnold, Patricia / Kilian, Lars / Thillosen, Anne / Zimmer, Gerhard: Handbuch E-Learning. Lehren und Lernen mit digitalen Medien, 4. Auflage, Bielefeld 2015. Backhaus, Anke / Chlebnikow, Joanna: »In der Sprache liegt die Würze« – Sprachsensibel unterrichten im Fach Ernährungs- und Hauswirtschaftswissenschaften. Ein Blended Learning-Konzept für die Lehrerausbildung, in: Terrasi-Haufe, Elisabetta / Börsel, Anke (Hg.): Sprache und Sprachbildung in der Beruflichen Bildung, Münster 2017, S. 105–120. Backhaus, Anke / Baumann, Barbara / Chlebnikow, Joanna / Darsow, Annkatrin / Paetsch, Jennifer / Wagner, Fränze Sophie: Evaluation als wichtiger Baustein einer nachhaltigen Hochschullehre, in: Becker-Mrotzek, Michael / Roth, Hans-Joachim (Hg.): »Blick zurück nach vorn«. Perspektiven für sprachliche Bildung in Lehrerbildung und Forschung. Lessons Learned und Erfahrungen aus den geförderten Forschungs- und Entwicklungsprojekten, Köln 2017, S. 45–47, URL: https://www.mercator-institut-sp rachfoerderung.de/fileadmin/Redaktion/PDF/Publikationen/Blick_zurueck_nach_vor n_-_Perspektiven_fuer_sprachliche_Bildung_in_Lehrerbildung_und_Forschung.pdf [Stand: 29. 12. 2021]. Becker-Mrotzek, Michael / Schramm, Karen / Thürmann, Eike / Vollmer, Helmut Johannes (Hg.): Sprache im Fach, Münster 2013.

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Joanna Chlebnikow / Anke Backhaus

Chlebnikow, Joanna / Backhaus, Anke: Förderung fachsprachlicher Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern als Aspekt der Lehrerausbildung, in: Lingwistyka Stosowana / Applied Linguistics / Angewandte Linguistik 1 (2017). URL: http://www.ls.uw.ed u.pl/documents/7276721/0/Lingwistyka+Stosowana+22.pdf [Stand: 28. 05. 2021]. Efing, Christian: Berufsweltbezogene kommunikative Kompetenz in Erst- und Fremdsprache – Versuch einer Modellierung, in: Ders. (Hg.): Sprache und Kommunikation in der beruflichen Bildung, Frankfurt am Main 2015, S. 17–46. Feilke, Helmuth: Bildungssprachliche Kompetenzen fördern und entwickeln, in: Praxis Deutsch 233 (2012), S. 4–13. Fluck, Hans-Rüdiger: Fachdeutsch in Naturwissenschaft und Technik, Einführung in die Fachsprachen und die Didaktik/Methodik des fachorientierten Fremdsprachenunterrichts, Heidelberg 1997. Gibbons, Pauline: Scaffolding language, scaffolding learning. Teaching second language learners in the mainstream classroom, Portsmouth 2002. Johnson, Larry / Adams Becker, Samantha / Cummins, Michele / Estrada, Victoria / Freeman, Alex / Hall, Courtney: NMC Horizon Report: 2016 Higher Education Edition, deutsche Ausgabe (Übersetzung: Helga Bechmann), Austin, Texas 2016. Kerres, Michael: Mediendidaktik. Konzeption und Entwicklung mediengestützter Lernangebote, München 2013. Kopp, Birgitta / Mandl, Heinz: Blended Learning. Forschungsfragen und Perspektiven, 2006. URL: https://epub.ub.uni-muenchen.de/905/1/Forschungsbericht182.pdf [Stand: 31. 05. 2021]. Ministerium für Schule und Weiterbildung: Gesetz über die Ausbildung für Lehrämter an öffentlichen Schulen (Lehrerausbildungsgesetz – LABG) vom 12. Mai 2009, §11. URL: https://bass.schul-welt.de/9767.htm [Stand: 31. 05. 2021]. Reinmann, Gabi: Blended Learning in der Lehrerbildung. Grundlagen für die Konzeption innovativer Lernumgebungen, Lengerich 2008. Rincke, Karsten: Alltagssprache, Fachsprache und ihre besonderen Bedeutungen für das Lernen, in: Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften (ZfDN) 16 (2010), S. 235– 260. Roth, Hans-Joachim / Bainski, Christiane / Brandenburger, Anja / Duarte, Joana: Inclusive Academic Language Training. Das europäische Kerncurriculum zur durchgängigen bildungssprachlichen Förderung (EUCIM-TE), in: Winters-Ohle, Elmar / Seipp, Bettina / Ralle, Bernd (Hg.): Lehrer für Schüler mit Migrationsgeschichte, Münster 2012, S. 93–114. Schnell, Rainer / Hill, Paul Bernhard / Esser, Elke: Methoden der empirischen Sozialforschung, München 2013. Schramm, Karen / Schroeder, Christoph (Hg.): Empirische Zugänge zu Spracherwerb und Sprachförderung in Deutsch als Zweitsprache, Münster 2009. de Witt, Claudia / Czerwionka, Thomas: Mediendidaktik, 2007. URL: http://www.die-bon n.de/doks/2007-mediendidaktik-01.pdf [Stand: 28. 05. 2021].

Udo Käser

Bonner Lehrerbildung 2022+ oder: Wie sind wir aufgestellt für eine Lehrerbildung nach der Pandemie?

Einleitung Die Organisation von Bildungsprozessen macht es immer wieder erforderlich, sich getroffener Entscheidungen über Strukturen und Abläufe zu vergegenwärtigen und diese neu zu überdenken. Ursächlich ist dies nicht bloß Folge eines Bemühens um Aktualisierung, Modernisierung oder Optimierung, auch wenn ein solcher Eindruck entstehen mag angesichts moderner Konstrukte wie »Bildungsmonitoring«1 oder der Aussagekraft, welche in diesem Zusammenhang quantitativen Daten für die Beschreibung von Bildungsprozessen zugeschrieben wird – seien es nun Zahlen aus Schulleistungsuntersuchungen für den Bereich der schulischen Bildung2 oder Eckdaten über die Struktur von Studiengängen wie durchschnittliche Studiendauer, Abbruchquoten oder die Häufigkeit von Fachwechseln für den Bereich der akademischen Bildung3. Diese Auffassung, die Bildungsprozesse quantifizieren will und unter ein Primat von Funktionalität4 und Effizienz5 stellt, ist jedoch eine irrige Vorstellung, die verkennt, dass Bildung 1 Vgl. Grünkorn, Julia / Klieme, Eckhard / Stanat, Petra: Bildungsmonitoring und Qualitätssicherung, in: Köller, Olaf / Hasselhorn, Marcus / Hesse, Friedrich W. / Maaz, Kai / Schrader, Josef / Solga, Heike / Spieß, C. Katharina / Zimmer, Karin (Hg.): Das Bildungswesen in Deutschland, Bad Heilbrunn 2019, S. 263–298, hier S. 263–264. 2 Vgl. Liebeskind, Uta: Institutionen der Hochschulbildung, in: Köller, Olaf / Hasselhorn, Marcus / Hesse, Friedrich W. / Maaz, Kai / Schrader, Josef / Solga, Heike / Spieß, C. Katharina / Zimmer, Karin (Hg.): Das Bildungswesen in Deutschland, Bad Heilbrunn 2019, S. 599–628, hier S. 606–608. 3 Vgl. Leuze, Kathrin / Lörz, Markus: Bildungsverläufe im Hochschulbetrieb, in: Köller, Olaf / Hasselhorn, Marcus / Hesse, Friedrich W. / Maaz, Kai / Schrader, Josef / Solga, Heike / Spieß, C. Katharina / Zimmer, Karin (Hg.): Das Bildungswesen in Deutschland, Bad Heilbrunn 2019, S. 629–662, hier S. 629–644. 4 Vgl. Käser, Udo: Jenseits von Bologna und Pisa: Bildung als Leitgedanke für Schule und Universität, in: Stomporowski, Stephan / Redecker, Anke / Kaenders, Rainer (Hg.): Bildung – noch immer ein wertvoller Begriff ?!, Göttingen 2019, S. 269–279, hier S. 271. 5 Vgl. Ißler, Roland Alexander: Zeit für Bildung in Zeiten der Effizienzlogik. Ein Gang zum Brunnen oder: Vom Wert kultureller und humaner Bildung für den romanischen Fremd-

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Udo Käser

ein hochgradig subjektiver Vorgang von Bedeutungszuweisungen ist, der erlebt werden muss6 und nicht zuletzt eben auch Zeit braucht.7 Vielmehr ergibt sich die Notwendigkeit, die Form von Bildungsorganisation immer neu zu bedenken, aus dem Begriff der Bildung selbst: Wenn Bildung so verstanden wird, dass mit ihr eine Verfassung des Menschen einhergeht, in der er in sich selbst und in seiner Beziehung zur Welt eine gewisse Ordnung gestiftet hat,8 wenn die Frage nach Bildungsgehalt notwendig mit der Frage nach der Bedeutung für das Leben in der Gegenwart verbunden ist,9 wenn Bildungsprozesse immer mit einem dialektischen Spannungsverhältnis einhergehen und Harmonie entgegenstehen10 – dann ist klar, dass jedwede Organisation, die für sich in Anspruch nimmt, Bildungseinrichtung zu sein, allein um den Begriff der Bildung willen, sich selbst hinsichtlich ihrer konzeptionellen Ausrichtung und ihres Selbstverständnisses stets neu in Frage stellen und in Frage stellen lassen muss. Die Geschehnisse rund um die schulischen Konsequenzen der COVID-19Pandemie bzw. Corona-Krise sind ein aktueller Anlass, der eine solche Selbstreflexion erzwingt und die Frage aufwirft, wie die Universität Bonn im Allgemeinen und das Bonner Zentrum für Lehrerbildung im Speziellen aufgestellt sind bzw. aufgestellt sein müssten, um angehende Lehrkräfte gut auf ihre schulischen Aufgaben in einer Zeit nach der Pandemie vorzubereiten. Hierzu sollen in einem ersten Schritt die schulpolitischen Maßnahmen in Reaktion auf COVID-19 aufgezeigt werden. In einem zweiten Schritt werden empirische Befunde dargestellt, wie Lehrkräfte Schule und Unterricht in der Zeit der Pandemie gestaltet haben und wie dies von ihren Schülerinnen und Schülern erlebt wurde. Drittens wird untersucht, was wir über die Folgen der Pandemie für Schülerinnen und Schüler wissen und was dies vermutlich für die Arbeit von Lehrkräften bedeutet. Schließlich werden diese Ergebnisse rückbezogen auf die universitäre Lehrerbildung: Muss sie bzw. wie muss sie verändert werden, um Lehramtsstudierende auf Schule nach der Pandemie angemessen vorzubereiten?

6 7 8 9 10

sprachenunterricht, in: Stomporowski, Stephan / Redecker, Anke / Kaenders, Rainer (Hg.): Bildung – noch immer ein wertvoller Begriff ?!, Göttingen 2019, S. 177–198, hier S. 179–182. Vgl. Litt, Theodor: Pädagogik, in: Hinneberg, Paul (Hg.): Die Kultur der Gegenwart, T. 1, 6: Systematische Philosophie, 3. Auflage, Leipzig, Berlin 1921, S. 276–310, hier S. 292–294. Vgl. Ißler, Roland Alexander: Zeit für Bildung in Zeiten der Effizienzlogik, S. 184f. Litt, Theodor: Naturwissenschaft und Menschenbildung, 3. Auflage, Heidelberg 1959, S. 11. Vgl. Litt, Theodor: Pädagogik, S. 294. Vgl. Litt, Theodor: Naturwissenschaft und Menschenbildung, S. 100.

Bonner Lehrerbildung 2022+

1.

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Schulpolitische Maßnahmen in der Zeit der Pandemie

Um die schulpolitischen Maßnahmen im Jahr 2020 unter den Bedingungen von COVID-19 einordnen zu können, muss man sich klar machen, dass sie in einer Situation ergriffen wurden, in der es zwar schon seit ca. 50 Jahren das Internet gab (1969 erlaubte der Vorläufer des Internets zunächst die Vernetzung von Großrechnern), Konzepte zur digitalen Bildung mindestens seit den 1980er Jahren im Raum standen (1977 hatte Commodore den ersten Homecomputer angeboten, infolgedessen Computer im Unterricht eingesetzt wurden, wenn auch noch nicht in curricular systematisierter Form) sowie Web 2.0 oder die Cloud seit knapp 20 Jahren existierten (beides ging 2003 online), diese digitale Wirklichkeit die Schulpolitik in Deutschland jedoch noch nicht erreicht hatte: Noch von 2013 stammte die Aussage von Angela Merkel, dass das Internet für uns alle Neuland sei. In NRW war das Leitbild »Lernen im Digitalen Wandel« erst 2016 formuliert und das Paket »Gute Schule 2020« mit Fördermitteln in Höhe von zwei Milliarden Euro zur Sanierung und Modernisierung von Schulen – hierunter auch Auf- und Ausbau der digitalen Infrastruktur – 2017 verabschiedet worden. Auf Bundesebene war der DigitalPakt Schule mit fünf Milliarden Euro Fördermitteln zum Aufbau einer digitalen Bildungsinfrastruktur erst 2019 geschlossen worden. Hinzu kamen massive Probleme beim Abruf der Gelder – bis zum Herbst 2020 waren erst 0,4 Prozent der Mittel des DigitalPakts und in NRW 25 Prozent der Mittel zur Anschaffung von Schüler-Laptops abgerufen worden.11 Welche Maßnahmen wurden nun nach Ausbruch der Pandemie 2019 ergriffen? In NRW kam es am 16. März 2020 zum ersten Schul-Lockdown mit Schule auf Distanz als Unterrichtsformat. In der Folge durften die Mittel des DigitalPakts auch für Online-Lernplattformen genutzt werden. Ab dem 20. April 2020 begann schrittweise die Öffnung der Schulen – zunächst in Sachsen, später dann auch in NRW. Nach den Sommerferien begann der Unterricht in NRW mit Maskenpflicht und Hygienekonzepten an den Schulen. Im November 2020 kam es teilweise wieder zu Schulschließungen und es wurde Hybridunterricht erlaubt. Mit verlängerten Weihnachtsferien begann dann der zweite Schul-Lockdown. Ab dem 12. Februar 2021 kam es teilweise zur Rückkehr zum Präsenzunterricht, bei dem auch Wechselmodelle umgesetzt wurden12 und in deren Folge es in den Schulen zu umfassenden Schutzmaßnahmen wie dem verpflichtenden Tragen

11 Für eine detaillierte Darstellung zur Digitalität von Schule vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung (Hg.): Bildung in Deutschland 2020, Bielefeld 2020, S. 231–301. 12 Für eine ausführliche Darstellung vgl. Fickermann, Detlef / Edelstein, Benjamin: Schule während der Corona-Pandemie. Neue Ergebnisse und Überblick über ein dynamisches Forschungsfeld, in: Die Deutsche Schule. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Bildungspolitik und pädagogische Praxis, 17. Beiheft (2021), S. 7–30, hier S. 8–16.

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Udo Käser

von Masken und der regelmäßigen Durchführung von Schnelltests kam.13 Für das Schuljahr 2021/22 sprachen sich die Kultusministerinnen und Kultusminister der Bundesländer am 10. Juni 2021 und erneut am 6. August 2021 für einen uneingeschränkten Regelbetrieb aus.14 Somit waren Schulen in Deutschland anders als Schulen in manchen europäischen Nachbarländern, wie zum Beispiel den Niederlanden, schlecht auf die Herausforderungen von Schule unter den Bedingungen der Pandemie vorbereitet.15 Hinzu kam, dass zumindest der erste Schul-Lockdown von Seiten der Schulpolitik auch nur schleppend organisiert und vorbereitet wurde. So fand die Kommunikation mit den Schulen oft nur verzögert statt. Für technische Probleme (zum Beispiel defekte Fenster, welche das Lüften von Klassenräumen im Wechselunterricht verhinderten) mussten vor Ort passende Lösungen gefunden werden, ohne dass die Schulpolitik Maßnahmen ergriffen hätte, welche für alle Schulen eine Hilfe gewesen wären (zum Beispiel Anschaffung und Installation geeigneter Lüftungssysteme). Weiterbildungsmaßnahmen für digitales Unterrichten waren im Wesentlichen beschränkt auf die technische Handhabung von Online-Plattformen ohne einen unterrichtsmethodischen oder fachdidaktischen Bezug. Solche zusätzlichen Erschwernisse für die pädagogische Arbeit in der schulischen Praxis erhöhten die – schon im Normalfall nicht geringe –16 Belastung und Beanspruchung von Lehrkräften und Schulleitungen zusätzlich.17

13 Vgl. Fickermann, Detlef / Edelstein, Benjamin / Gerick, Julia / Racherbäumer, Kathrin: Schule und Schulpolitik während der Corona-Pandemie: Nichts gelernt?, in: Die Deutsche Schule. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Bildungspolitik und pädagogische Praxis, 18. Beiheft (2021), S. 7–36, hier S. 10–14. 14 Vgl. ebd., S. 15f. 15 Vgl. Böttger, Tobias / Zierer, Klaus: Effekte der pandemiebedingten Schulschließungen im Frühjahr 2020 auf fachlich-kognitive Leistungen von Schüler*innen im In- und Ausland. Ein narratives Review, in: Die Deutsche Schule. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Bildungspolitik und pädagogische Praxis, 18. Beiheft (2021), S. 39–58, hier S. 40. 16 Vgl. Käser, Udo / Wasch, Jennifer: Burnout bei Lehrerinnen und Lehrern. Eine Bedingungsanalyse im Schulformvergleich, Berlin 2009, S. 105f. 17 Vgl. Schräpler, Jörg-Peter / Bellenberg, Gabriele / Küpker, Markus / Reintjes, Christian: Schule und Unterricht im angepassten Regelbetrieb. Analyse und Reflexion Corona-bedingter (Teil-) Schließungen von Schulen anhand der COSMO-Befragung in NRW, in: Reintjes, Christian / Porsch, Raphaela / im Brahm, Grit (Hg.): Das Bildungssystem in Zeiten der Krise, Münster, New York 2009, S. 279–307, hier S. 280f. und 302.

Bonner Lehrerbildung 2022+

2.

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Unterricht während des ersten Lockdowns und das Erleben von Schülerinnen und Schülern von Schule auf Distanz

Hinsichtlich des Umfangs der Schulschließungen in NRW zeichnet die Studie von Jörg-Peter Schräpler, Gabriele Bellenberg, Markus Küpker und Christian Reintjes ein klares Bild und weist auch strukturelle Unterschiede genau aus: In NRW gibt es kein harmonisches Bild, sondern große Standortunterschiede zuungunsten von Berufskollegs und Gesamtschulen sowie von Schulen mit einem Einzugsgebiet von Familien, die sozial, familial, wohnlich und technisch ohnehin benachteiligt waren.18 Wie aber wurde Unterricht in dieser Zeit gestaltet und wie wurde das Unterrichtsangebot von Schülerinnen und Schülern wahrgenommen? Die Befunde von Udo Käser, Anja Schultze-Krumbholz und Sebastian Wachs machen deutlich, dass Lehrkräfte in NRW während des ersten Schul-Lockdowns vor allem mit Wochenplänen gearbeitet haben und Arbeitsaufträge per E-Mail verschickten. Teilweise wurde bereits Online-Unterricht gegeben und wurden digitale Arbeitsmaterialien wie Erklärvideos auf YouTube eingesetzt. Seltener kamen Lernportale zum Einsatz. Ein binnendifferenzierter Online-Unterricht kam nur vereinzelt vor, ebenso wie die Verwendung selbst erstellter Lernvideos.19 Dabei wurde die Kompetenz der Lehrkräfte, digital zu unterrichten, von ihren Schülerinnen und Schülern im Mittel eher positiv bewertet. Während die Kinder und Jugendlichen ihre Selbstwirksamkeit und ihr Autonomieerleben für die Zeit des ersten Schul-Lockdowns ebenfalls positiv bewerteten, lagen für intrinsische Motivation und Prokrastination problematische Ergebnisse vor: Ca. 50 Prozent der Schülerinnen und Schüler waren kaum intrinsisch motiviert und zwischen 20 und 30 Prozent berichteten davon, sich spürbar unwohl zu fühlen sowie Schwierigkeiten zu haben, den Tag und ihr Lernen für die Schule zu gestalten. Dabei berichteten vor allem Mädchen von solchen Problemen, ältere Jugendliche / junge Erwachsene am Berufskolleg sowie solche Untersuchungsteilnehmer, die die digitale Kompetenz ihrer Lehrkräfte kritisch beurteilten. Insofern deutet sich an, dass Schülerinnen und Schüler, die mit digitaler Technik wenig vertraut sind, auch selten eine Unterstützung von Lehrkräften erfahren, welche ihnen nutzt. Umgekehrt hatte die wahrgenommene digitale Kompetenz von Lehr-

18 Vgl. ebd., S. 303. 19 Vgl. Käser, Udo / Schultze-Krumbholz, Anja / Wachs, Sebastian: Unterrichtliches Handeln in Zeiten der Pandemie: Welche Auswirkungen hat die Gestaltung des pädagogischen Raums unter Schule auf Distanz auf Schülerinnen und Schüler, in: digiGEBF21, Thementagung: Corona und Bildung (https://www.digigebf21.de/custom/media/GEBF_2021/ProgrammTT BildungCorona.pdf). URL: https://digigebf21.virtual-venue.io/de/session/67/talk/60 [Stand: 31. 05. 2021].

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kräften eine hohe protektive Wirkung in Hinblick auf emotionale und motivationale Einbußen der Schülerinnen und Schüler.20 Letztlich bilden diese Zusammenhänge sehr gut Erwartungen ab, die der Selbstbestimmungstheorie von Edward L. Deci und Richard M. Ryan entsprechen21 und sich so auch in umfangreicheren Untersuchungen zum ersten SchulLockdown etwa für Österreich bestätigen. Hier zeigt sich, dass auch in der Corona-Krise Autonomieerleben, Empfinden sozialer Verbundenheit und Kompetenzerwartung mit positiven Gefühlen und intrinsischer Motivation einhergehen und dieser Zusammenhang durch die Möglichkeit zu selbst-reguliertem Lernen moderiert wird.22 Gerade solche Gelegenheiten, sich als Schülerin bzw. Schüler im Distanzunterricht als kompetent und autonom zu erleben und soziale Verbundenheit zu erfahren, mussten aber unter den Bedingungen der CoronaKrise durch Lehrkräfte in besonderer Weise initiiert werden. Entsprechend wünschen sich Schülerinnen und Schüler von ihren Lehrkräften auch mehr kommunikative Situationen im digitalen Unterricht.23 Und eben aus diesem Grund erweist sich deren digitale Kompetenz als so wichtig, welche im Sinne von Dieter Baacke als eine spezifische Form von Medienkompetenz nicht subjektivindividualistisch verkürzt verstanden werden darf, sondern mit Bezug auf Lehrkräfte deren Fähigkeit einschließt, mittels der Nutzung von Medien an überindividuellen, interpersonellen und gesellschaftlichen Diskursen teilzuhaben, solche Diskurse medial zu gestalten und zu initiieren sowie derartige Fähigkeiten Schülerinnen und Schülern zu vermitteln.24

20 Vgl. ebd. Analoge Befunde finden sich zum Beispiel auch bei Wacker, Albrecht / Unger, Valentin / Rey, Thomas. »Sind doch Corona-Ferien, oder nicht?« Befunde einer Schüler*innenbefragung zum »Fernunterricht«, in: Die Deutsche Schule. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Bildungspolitik und pädagogische Praxis. 16. Beiheft (2020), S. 79–94, hier S. 86–91. 21 Vgl. Deci, Edward L. / Ryan, Richard M.: The »what« and »why« of goal pursuits: Human needs and the self-determination of behavior, in: Psychological Inquiry, 11,4 (2000), S. 227– 268, hier S. 228f. und S. 233–235. 22 Vgl. Holzer, Julia / Lüftenegger, Marko / Käser, Udo / Korlat, Selma / Pelikan, Elisabeth / Schultze-Krumbholz, Anja / Spiel, Christiane / Wachs, Sebastian / Schober, Barbara: Students’ basic needs and well-being during the COVID-19 pandemic: A two-county study of basic psychological need satisfaction, intrinsic learning motivation, positive emotion and the moderating role of self-regulated learning, in: International Journal of Psychology (2021), S. 1–10, hier S. 8f. URL: https://doi.org/10.1002/ijop.12763 [Stand: 31. 05. 2021]. 23 Vgl. Wacker, Albrecht / Unger, Valentin / Rey, Thomas: »Sind doch Corona-Ferien, oder nicht?«, S. 79–94, hier S. 92. 24 Vgl. Baacke, Dieter: Medienpädagogik, Tübingen 2007, S. 97–99.

Bonner Lehrerbildung 2022+

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Folgen der Pandemie und Konsequenzen für die pädagogische Arbeit von Lehrkräften

Auch wenn die Befunde von Udo Käser, Anja Schultze-Krumbholz und Sebastian Wachs deutlich machen, dass Schülerinnen und Schüler zumindest mit dem ersten Schul-Lockdown im Allgemeinen ihrer eigenen Wahrnehmung nach gut zurechtgekommen sind,25 zeigt sich auch, dass es Kinder gibt, die in Folge der Pandemie massive Belastungen erlebt haben. So berichten zehn Prozent der Eltern von Schülerinnen und Schülern, dass sich ihr Kind während der CoronaKrise in hohem Maße einsam und ausgeschlossen gefühlt hat.26 15 Prozent berichten von massiven Schwierigkeiten ihrer Kinder, mit den Anforderungen der Corona-Krise zurechtzukommen.27 Zugleich zeigen vorliegende Studienergebnisse auch deutliche Einbußen in der Leistungsentwicklung an. So weisen die Ergebnisse der besonders umfangreichen niederländischen Studie von Per Engzell, Arun Frey und Mark Verhagen darauf hin, dass es sich bei der Zeit der Schulschließung mit Lernen auf Distanz nicht etwa nur um verminderte Lernzeit, sondern um verlorene Zeit handelt: Netto verbesserten sich die Schülerinnen und Schüler in ihrer durchschnittlichen Leistungsentwicklung nicht.28 Besonders ungünstig ist die Leistungsentwicklung für Kinder aus Haushalten, die ohnehin schon benachteiligt sind: So fallen die Verluste für Kinder aus bildungsfernen Familien noch deutlicher aus, weswegen die Autoren die klare Befürchtung äußern, dass ein Matthäus-Effekt vorliegt und die Schulschließungen dazu führen, dass sich bestehende Unterschiede noch vergrößern und sich die Bildungsschere noch weiter öffnet.29 Mit Blick auf die Situation in Deutschland sind diesbezüglich eher noch größere Effekte zu erwarten, da die Situation in den Niederlanden günstiger war: Die Schulschlie25 Vgl. Käser, Udo / Schultze-Krumbholz, Anja / Wachs, Sebastian: Unterrichtliches Handeln in Zeiten der Pandemie. 26 Vgl. Langmeyer, Alexandra / Guglhörer-Rudan, Angelika / Naab, Thorsten / Uhlen, Marc / Winklhofer, Ursula: Kindsein in Zeiten von Corona. Erste Ergebnisse zum veränderten Alltag und zum Wohlbefinden von Kindern, München 2021, S. 21. 27 Vgl. ebd., S. 23. 28 Vgl. Engzell, Per / Frey, Arun / Verhagen, Mark: Learning loss due to school closures during the COVID-19 pandemic, in: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America, 27. 04. 2021, 118,7 (2021), S. 1–7, hier S. 4–6. URL: https://www.pnas.org /content/pnas/118/17/e2022376118.full.pdf [Stand: 31. 05. 2021]. 29 Vgl. ebd., S. 4f. und Böttger, Tobias / Zierer, Klaus: Effekte der pandemiebedingten Schulschließungen im Frühjahr 2020 auf fachlich-kognitive Leistungen von Schüler*innen im Inund Ausland, S. 60 und S. 62–64 sowie Weber, Christoph / Helm, Christoph / Kemethofer, David: Bildungsungleichheiten durch Schulschließungen? Soziale und ethnische Disparitäten im Lesen innerhalb und zwischen Schulklassen, in: Die Deutsche Schule. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Bildungspolitik und pädagogische Praxis, 18. Beiheft (2021), S. 83– 99, hier S. 83–87 und S. 94–96.

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ßungen dauerten weniger lang und die technologische Vorbereitung sowie die Finanzierung der Schulen waren besser als bei uns. Allerdings liegen auch Befunde vor, bei denen Verluste in der Leistungsentwicklung weniger dramatisch ausfallen oder sich sogar positive Befunde zeigen. Dies zeigt sich beispielsweise für das Lesenlernen zu Beginn der Grundschule.30 Dies ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass solche Fähigkeiten basal sind und entsprechende Lernprozesse häuslich gut unterstützt werden können. Dabei zeigt sich aber auch hier, dass einerseits hinsichtlich der Leistungsentwicklung eine große Varianz vorliegt, andererseits Elternarbeit, die sozioökonomische Situation in Familien sowie digitale Kompetenz protektive Faktoren für Leistungsfortschritte der Kinder darstellen. Gerade Elternarbeit ist in der Zeit der Corona-Krise damit ein Faktor, der in besonderer Weise dafür sorgt, dass sich die Schere weiter öffnet, da Haushalte, in denen die finanzielle Situation günstig ausfällt und hohe digitale Kompetenzen vorliegen, oftmals auch solche Haushalte sind, in denen Eltern bessere Möglichkeiten haben, ihre Kinder effektiv zu unterstützen (zum Beispiel durch Einrichten eines Arbeitsplatzes, Strukturieren von Tagesabläufen, Vermitteln von Lernstrategien und Unterstützen bei ihrer Umsetzung, Rückmeldung geben).31 Hinsichtlich der Auswirkungen des zweiten Schul-Lockdowns liegen noch keine gesicherten Erkenntnisse vor. Es kann vermutet werden, dass die Effekte weniger stark als für den ersten Schul-Lockdown ausfallen, da alle Betroffenen besser vorbereitet waren. Auch ist es denkbar, dass von der Rückkehr zum Normalunterricht ab Ende Mai 2021 ein Schub ausgelöst wurde, durch den Defizite der Vormonate kompensiert werden konnten. Hierfür sprechen auch schulpolitische Maßnahmen wie das Aktionsprogramm »Aufholen nach Corona«, welches von der Bundesregierung mit finanziellen Mitteln in Höhe von zwei Milliarden Euro unter anderem für Nachhilfe- und Förderprogramme am 5. Mai 2021 auf den Weg gebracht wurde.32 Auch wenn diese Hoffnungen nicht völlig unrealistisch sind, sprechen erste Befunde gegen allzu optimistische Erwartungen einer kompensatorischen Wirkung der getroffenen Maßnahmen. So weisen Ergebnisse von Studien, die am Bonner Zentrum für Lehrerbildung der Universität Bonn im Arbeitsbereich 30 Vgl. Förster, Nathalie / Forthermann, Boris / Holl, David / Back, Mitja / Souvignier, Elmar: Kurzfristiger Einfluss der COVID-19 Pandemie auf die Leseleistung von Zweitklässlern in Deutschland, in: digiGEBF21, Thementagung: Corona und Bildung, URL: https://digigebf 21.virtual-venue.io/de/session/71/talk/75 [Stand: 31. 05. 2021]. 31 Vgl. Köller, Olaf / Fleckenstein, Johanna / Guill, Karin / Meyer, Jennifer: Pädagogische und didaktische Anforderungen an die häusliche Aufgabenbearbeitung, in: Die Deutsche Schule. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Bildungspolitik und pädagogische Praxis, 16. Beiheft (2020), S. 163–174, hier S. 171. 32 Vgl. Fickermann, Detlef / Edelstein, Benjamin / Gerick, Julia / Racherbäumer, Kathrin: Schule und Schulpolitik während der Corona-Pandemie: Nichts gelernt?, S. 19–22.

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»Diagnose und Förderung« realisiert wurden, für das Fach Mathematik darauf hin, dass im neuen Schuljahr 2021/22 Fünftklässler erhebliche Defizite im Bereich Arithmetik aufweisen, während sich bei Zehntklässlern große Probleme beim Verständnis für funktionale Zusammenhänge zeigten. Insofern ist zu befürchten, dass die bislang getroffenen Maßnahmen die aufgetretenen Defizite zumindest nicht vollständig kompensieren werden. Vielmehr ist mit erheblichen Folgen für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu rechnen – nicht nur in kognitiver, sondern auch in sozialer und emotionaler Hinsicht.

4.

Was bedeuten die Auswirkungen der Pandemie auf Schülerinnen und Schüler für die zukünftige Arbeit von Lehrkräften?

Stellt man die Frage, wie mit den erwarteten Folgen, wie sie aufgezeigt wurden, am besten umzugehen ist, so wird klar, dass ein bloßer Ruf nach mehr Digitalität nicht ausreichen kann. Auch kann die Antwort nicht darin liegen, einen völlig neuen Anspruch an Schule für die Zeit nach der Pandemie zu erfinden. Dies ergibt sich notwendig dadurch, dass unabhängig davon, wie schwerwiegend die Folgen letztlich auch sein werden, die Aufgaben einer Lehrkraft im Kern immer pädagogische sind – dies war weder anders unter den Bedingungen von COVID19 noch kann dies in der Folge anders sein. Hierzu gehören genuin Aufgaben von Lehrkräften gegenüber Schülerinnen und Schülern, sie zu unterrichten, zu erziehen, zu beraten, zu beurteilen, zu beaufsichtigen, zu betreuen und umfassend zu fördern.33 Insofern stellt sich vielmehr die Frage, wie diese Handlungsfelder von Lehrkräften ausgestaltet und infolge der Pandemie möglicherweise neu akzentuiert werden müssen. Dabei kann zusammenfassend die Erwartung formuliert werden, dass als schulische Folge der Pandemie für das Schuljahr 2021/22 und darüber hinaus mit einer Situation zu rechnen ist, die vor allem durch hohe Diskrepanzen und Ungleichheiten gekennzeichnet sein wird – noch mehr als sonst. Die Verluste (und möglicherweise teilweise auch individuellen Gewinne) werden von Schülerin zu Schülerin und von Schüler zu Schüler unterschiedlich ausfallen und vor allem komplexe Verstehensprozesse und metakognitive Fähigkeiten betreffen, sodass weder einfach Abhilfe zu schaffen sein wird, noch die Probleme ohne Weiteres diagnostiziert werden können. Insofern werden sich für Schule und Unterricht nach der Pandemie konkrete Aufgaben stellen. In einem ersten Schritt wird eine fachlich fundierte Individualdiagnose benötigt werden, welche Schü33 Vgl. etwa §57 im Schulgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen.

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lerinnen und Schüler sowie Lehrerinnen und Lehrer nicht zusätzlich belasten darf und aufdecken muss, wo die Notwendigkeit besteht, spezifische Fördermaßnahmen zu ergreifen. Sodann wird die Aufgabe darin bestehen, fachdidaktisch und lernpsychologisch fundiert den Unterricht darauf auszurichten, diagnostizierten Problemen entgegenzuwirken. Dies muss in einer Art und Weise geschehen, welche das soziale Miteinander unter den Schülerinnen und Schülern nicht aus dem Blick verliert. Schon vor der Corona-Krise waren Gewalt unter Schülerinnen und Schülern im Allgemeinen und Bullying im Speziellen ein zentrales Problem deutscher Schulen: In nahezu jeder Schulkasse kam eine Bullying-Problematik vor.34 Entsprechend darf nach der Krise ein Bemühen um Kompensation im Leistungsbereich nicht zu Lasten sozialer Aspekte gehen. Dies gilt umso mehr, als es eine nennenswert große Gruppe von Schülerinnen und Schülern gab, die durch die Krise sozial isoliert wurde und für die sich umso stärker die Notwendigkeit ergibt, ihre soziale Einbindung in die Lerngemeinschaft zu fördern. Das Bereitstellen finanzieller Mittel durch das Aktionsprogramm »Aufholen nach Corona« bildet für entsprechende Maßnahmen einen formalen Rahmen. Sollte jedoch nicht mehr geschehen, als diese nach dem Gießkannenprinzip zu verteilen, kann schon jetzt eine umfassende Wirksamkeit mit Blick auf das Ziel, Lernrückstände auszugleichen, ausgeschlossen werden: Pro Kind entsprechen die Fördermittel einem Betrag von nicht mehr als ca. 120,– €,35 also ungefähr sechs Nachhilfestunden. Selbst eine Verteilung der Mittel nach Indikatoren, durch die benachteiligte Schülerinnen und Schüler besonders berücksichtigt würden, wie sie Detlef Fickermann und Ilka Hoffmann vorschlagen,36 schafft keine grundsätzliche Abhilfe, solange es sich bei den Maßnahmen nicht um eine Förderung handelt, welche auf einer fachdidaktisch orientierten Fehleranalyse basiert. Darüber hinaus macht die Pandemie bestimmte Veränderungen für die Organisation von Schule deutlich, für die eine Notwendigkeit besteht und die grundsätzlicher Natur sind. So weisen Anne Sliwak und Britta Klopsch darauf hin, dass

34 Vgl. Knauf, Rhea-Katharina / Eschenbeck, Heike / Käser, Udo: Bullying im Klassenverband. Prävalenz, soziometrische und leistungsbezogene Merkmale der Participant Roles, in: Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie 49,4 (2017), S. 186–196, hier S. 191. 35 Vgl. Fickermann, Detlef / Edelstein, Benjamin / Gerick, Julia / Racherbäumer, Kathrin: Schule und Schulpolitik während der Corona-Pandemie: Nichts gelernt?, S. 20. 36 Vgl. Fickermann, Detlef / Ilka Hoffmann: Ungleiches ungleich behandeln. Alternative Vorschläge zur Verteilung der Bundesmittel des Programms »Aufholen nach Corona« auf die einzelnen Länder – Online First, in: Die Deutsche Schule. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Bildungspolitik und pädagogische Praxis 113, 3 (2021), S. 348–367, hier S. 354–360.

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[…] die Corona-Pandemie und die davon ausgelösten sozialen Einschränkungen, die Lehrende, Lernende und nicht zuletzt Eltern vor große Herausforderungen stellen, [die] tradierte ›Grammatik der Schule‹ [durchwirbeln] und gnadenlos deren Schwachstellen [offenlegen].37

Vor diesem Hintergrund identifizieren sie vier Problemfelder, welche sich als Aufgabe an die Schulentwicklung zukünftig stellen werden: (1.) Ko-Konstruktion anstelle einer Koexistenz von Lehrkräften:38 Lehrkräfte, die aufeinander abgestimmt handeln, erreichen für ihre Schülerinnen und Schüler wesentlich mehr und sind wirksamer als Lehrkräfte, die nur nebeneinander agieren. Zugleich stellt eine damit einhergehende soziale Unterstützung unter Wahrung pädagogischer Autonomie einen der stärksten protektiven Faktoren gegen berufliche Belastung dar.39 (2.) Formative ergänzt bzw. ersetzt summative Leistungsrückmeldung:40 In einer gestuften Lernförderung wird Schülerinnen und Schülern angezeigt, welche Fortschritte sie machen und wo Lern- und Übungsbedarfe bestehen. Hierdurch wird der Entwicklung epistemologischer Fehlvorstellungen entgegengewirkt, die spätere Lernprozesse erheblich belasten können.41 Mit Blick auf die Problembereiche der Pandemie erhalten Schülerinnen und Schüler so vor allem auch eine Hilfe bei der Strukturierung von Lernprozessen. (3.) Partnerschaft zwischen statt Koexistenz von Schule und Familie:42 Ein partnerschaftliches Miteinander von Lehrkräften und Eltern mit dem Ziel, das Kind ganzheitlich zu unterstützen, begünstigt die Entwicklung von Heranwachsenden in hohem Maße. Letztlich zielt diese Forderung darauf ab, im Sinne des ökosystemischen Ansatzes der menschlichen Entwicklung von Urie Bronfenbrenner das Mesosystem zwischen Schule und Familie enger zu vernetzen, um die Individuation von Schülerinnen und Schülern zu fördern.43 37 Sliwka, Anne / Klopsch, Britta: Disruptive Innovation! Wie die Pandemie die »Grammatik der Schule« herausfordert und welche Chancen sich jetzt für eine »Schule ohne Wände« in der digitalen Wissensgesellschaft bieten, in: Die Deutsche Schule. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Bildungspolitik und pädagogische Praxis, 16. Beiheft (2020), S. 216–229, hier S. 217. 38 Vgl. ebd., S. 218f. 39 Vgl. Morgenroth, Stefanie / Buchwald, Petra: Burnout und Ressourcenerhaltung bei Lehrkräften, in: Unterrichtswissenschaft 43,2 (2015), S. 136–149, hier S. 147f. 40 Vgl. Sliwka, Anne / Klopsch, Britta: Disruptive Innovation!, S. 216–229, hier S. 219f. 41 Vgl. Weinert, Franz E.: Aus Fehlern lernen und Fehler vermeiden lernen, in: Althof, Wolfgang (Hg.): Fehlerwelten. Vom Fehlermachen und Lernen aus Fehlern, Opladen 1999, S. 101–109, hier S. 104. 42 Vgl. Sliwka, Anne / Klopsch, Britta: Disruptive Innovation!, S. 216–229, hier S. 220. 43 Vgl. Berk, Laura E.: Entwicklungspsychologie, 3. Auflage, München u. a. 2005, hier S. 32f.

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(4.) Hybride anstelle von abgeschlossenen Lernumgebungen:44 Schule darf kein System sein, das losgelöst von gesellschaftlichen Kontexten für sich steht und in dem sich das Lernen von Schülerinnen und Schüler nicht oder nur eingeschränkt in Verbindung zur Welt vollzieht. Entsprechend gilt es, informelles Lernen45 zum Beispiel an außerschulischen Lernorten – in der digitalen wie in der realen Welt – stärker zu nutzen.

5.

Was bedeutet dies für eine Lehrerbildung 2022+?

Was bedeutet dies für die Lehrerbildung? Wenn sich zukünftig Lehrkräften sowohl verstärkt als auch neu die Aufgabe stellen wird, auf fachdidaktisch und lernpsychologisch fundierter Basis zu diagnostizieren sowie Schülerinnen und Schüler sozial und kognitiv zu fördern, dabei mit Kindern und deren Eltern eine Lerngemeinschaft zu bilden und Unterricht innerhalb und außerhalb der Schule mit methodischer Passung individuell wirksam zu gestalten, dann muss das Lehramtsstudium genau diese professionellen Fähigkeiten seinen Studierenden vermitteln oder zumindest anbahnen. Das Bild von Anne Sliwka und Britta Klopsch greift auch hier: Wie in anderen Bereichen wirkt die Pandemie als Brennglas,46 unter dem vorliegende Schwächen deutlich hervortreten. Denn Fachlichkeit, Kooperativität und Nachhaltigkeit entsprechen als Grundsätze der Bonner Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern diesen Anforderungen zwar genau. Sie nehmen in den Blick, dass unterrichtliches Handeln aus dem Fach fundiert erfolgen muss, zeigen die Notwendigkeit von Lernen in Gemeinschaft an und weisen darauf hin, dass Lernerfolg langfristig gesichert werden muss. Deutlich wird aber auch, dass in dieser Weise Fähigkeiten von Lehrkräften, das soziale Miteinander von Schülerinnen und Schülern zu fördern und damit erzieherisch zu wirken, bislang viel zu wenig berücksichtigt werden. In diesem Sinne tritt bereits im Leitbild ein bislang bestehender Mangel an Einbindung der Pädagogischen Psychologie hervor. Außerdem liegt die Übereinstimmung erst einmal nur in formaler Hinsicht vor und muss in der akademischen Lehre als Bildungsprozess spannungsreich mit Leben gefüllt werden. Hierzu gehört, dass Fachdidaktiken und Lernpsychologie als Elemente der Lehrerbildung weiter gestärkt werden, um Fachwissenschaft mit schulischem Unterricht überhaupt sinnvoll in Verbindung bringen zu können. Weiterhin darf sich Kooperativität nicht nur auf ein Miteinander in 44 Vgl. Sliwka, Anne / Klopsch, Britta: Disruptive Innovation!, S. 216–229, hier S. 221. 45 Vgl. Röhr-Sendlmeier, Una Maria / Käser, Udo: Informelles Lernen aus psychologischer Perspektive, in: Rohs, Matthias (Hg.): Handbuch Informelles Lernen, Wiesbaden 2016, S. 207– 223, hier S. 219f. 46 Vgl. Sliwka, Anne / Klopsch, Britta: Disruptive Innovation!, S. 216–229, hier S. 217.

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der Lehre beziehen (zum Beispiel in einer Zusammenarbeit von Universität mit Schulen oder dem ZfsL), sondern muss viel stärker als bisher Studierende selbst einbeziehen und sich deren individuelle Förderung zum Ziel machen. Grundsätze wie Lernen durch Lehren müssten zur akademischen Selbstverständlichkeit werden – auch weil so vor Augen geführt wird, was es bedeutet, eine Lerngemeinschaft zu bilden, was später das Ziel in der Schule gegenüber Schülerinnen und Schülern sowie Eltern sein soll. Veranstaltungsformen, wie eine klassische Vorlesung bieten solche Möglichkeiten aber gerade nicht. Und erst, wenn die Universität sich wieder zum Ziel macht, jedem Studierenden individuelle Entwicklungsmöglichkeiten auf einer persönlichen Ebene anzubieten, kann erwartet werden, dass die Lehramtsstudierenden in ihrem späteren Beruf als Lehrerin oder Lehrer auch einen Schülerfokus vor einen Sachfokus stellen. Konsequenzen ergeben sich des Weiteren für das Bereitstellen methodischen Wissens und die Förderung unterrichtlicher Fähigkeiten. Wenn Prinzipien wie Produktorientierung oder entdeckendes Lernen bzw. Methoden wie direkte Instruktion oder Scaffolding besondere Chancen für die Gestaltung von Lehr-LernArrangements im unterrichtlichen Alltag von Lehrkräften bieten, dann muss die akademische Ausbildung von Lehrkräften nicht nur solche methodischen Aspekte theoretisch fundieren und praktisch anleiten, sondern auch selbst in dieser Weise gestaltet sein. Schließlich ergeben solche Weiterentwicklungen mit Blick auf eine zukunftsweisende Bildung von Lehrerinnen und Lehrern nur Sinn, wenn sie in Bezug zu einer reflektierten Praxis umgesetzt werden. Alle genannten Erfordernisse, welche schon vor der Pandemie bestanden, aber durch sie noch einmal deutlicher wurden, unterliegen der Bedingung, dass sie an der Praxis von Lehrerinnen und Lehrern orientiert sein müssen.47 Anders ist eine »Grammatik der deutschen Lehrerbildung« heute nicht mehr zeitgemäß.48

Literatur Autorengruppe Bildungsberichterstattung (Hg.): Bildung in Deutschland 2020, Bielefeld 2020. Baacke, Dieter: Medienpädagogik, Tübingen 2007. Böttger, Tobias / Zierer, Klaus: Effekte der pandemiebedingten Schulschließungen im Frühjahr 2020 auf fachlich-kognitive Leistungen von Schüler*innen im In- und Ausland. Ein narratives Review, in: Die Deutsche Schule. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Bildungspolitik und pädagogische Praxis, 18. Beiheft (2021), S. 39–58.

47 Vgl. Käser, Udo: Jenseits von Bologna und Pisa, S. 269–279, hier S. 276f. 48 Vgl. Sliwka, Anne / Klopsch, Britta: Disruptive Innovation!, S. 216–229, hier S. 226.

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Deci, Edward L. / Ryan, Richard M.: The »what« and »why« of goal pursuits: Human needs and the self-determination of behavior, in: Psychological Inquiry 11,4 (2000), S. 227– 268. Engzell, Per / Frey, Arun / Verhagen, Mark: Learning loss due to school closures during the COVID-19 pandemic, in: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America, 27. 04. 2021, 118,7 (2021), S. 1–7. URL: https://www.pnas.org /content/pnas/118/17/e2022376118.full.pdf [Stand: 31. 05. 2021]. Fickermann, Detlef / Edelstein, Benjamin: Schule während der Corona-Pandemie. Neue Ergebnisse und Überblick über ein dynamisches Forschungsfeld, in: Die Deutsche Schule. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Bildungspolitik und pädagogische Praxis, 17. Beiheft (2021), S. 7–30. Fickermann, Detlef / Edelstein, Benjamin / Gerick, Julia / Racherbäumer, Kathrin: Schule und Schulpolitik während der Corona-Pandemie: Nichts gelernt?, in: Die Deutsche Schule. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Bildungspolitik und pädagogische Praxis, 18. Beiheft (2021), S. 7–36. Fickermann, Detlef / Hoffmann, Ilka: Ungleiches ungleich behandeln. Alternative Vorschläge zur Verteilung der Bundesmittel des Programms »Aufholen nach Corona« auf die einzelnen Länder – Online First, in: Die Deutsche Schule. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Bildungspolitik und pädagogische Praxis 113, 3 (2021), S. 348–367. Förster, Nathalie / Forthermann, Boris / Holl, David / Back, Mitja / Souvignier, Elmar: Kurzfristiger Einfluss der COVID-19-Pandemie auf die Leseleistung von Zweitklässlern in Deutschland, in: digiGEBF21, Thementagung: Corona und Bildung (https://www.digigebf 21.de/custom/media/GEBF_2021/ProgrammTTBildungCorona.pdf). URL: https://digige bf21.virtual-venue.io/de/session/71/talk/75 [Stand: 31. 05. 2021]. Grünkorn, Julia / Klieme, Eckhard / Stanat, Petra: Bildungsmonitoring und Qualitätssicherung, in: Köller, Olaf / Hasselhorn, Marcus / Hesse, Friedrich W. / Maaz, Kai / Schrader, Josef / Solga, Heike / Spieß, C. Katharina / Zimmer, Karin (Hg.): Das Bildungswesen in Deutschland, Bad Heilbrunn 2019, S. 263–298. Holzer, Julia / Lüftenegger, Marko / Käser, Udo / Korlat, Selma / Pelikan, Elisabeth / Schultze-Krumbholz, Anja / Spiel, Christiane / Wachs, Sebastian / Schober, Barbara: Students’ basic needs and well-being during the COVID-19 pandemic: A two-county study of basic psychological need satisfaction, intrinsic learning motivation, positive emotion and the moderating role of self-regulated learning, in: International Journal of Psychology (2021), S. 1–10. URL: https://doi.org/10.1002/ijop.12763 [Stand: 31. 05. 2021]. Ißler, Roland Alexander: Zeit für Bildung in Zeiten der Effizienzlogik. Ein Gang zum Brunnen oder: Vom Wert kultureller und humaner Bildung für den romanischen Fremdsprachenunterricht, in: Stomporowski, Stephan / Redecker, Anke / Kaenders, Rainer (Hg.): Bildung – noch immer ein wertvoller Begriff ?!, Göttingen 2019, S. 177–198. Käser, Udo: Jenseits von Bologna und Pisa: Bildung als Leitgedanke für Schule und Universität, in: Stomporowski, Stephan / Redecker, Anke / Kaenders, Rainer (Hg.): Bildung – noch immer ein wertvoller Begriff ?!, Göttingen 2019, S. 269–279. Käser, Udo / Schultze-Krumbholz, Anja / Wachs, Sebastian: Unterrichtliches Handeln in Zeiten der Pandemie: Welche Auswirkungen hat die Gestaltung des pädagogischen Raums unter Schule auf Distanz auf Schülerinnen und Schüler, in: digiGEBF21, Thementagung: Corona und Bildung (https://www.digigebf21.de/custom/media/GE

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BF_2021/ProgrammTTBildungCorona.pdf). URL: https://digigebf21.virtual-venue.io/ de/session/67/talk/60 [Stand: 31. 05. 2021]. Käser, Udo / Wasch, Jennifer: Burnout bei Lehrerinnen und Lehrern. Eine Bedingungsanalyse im Schulformvergleich, Berlin 2009. Knauf, Rhea-Katharina / Eschenbeck, Heike / Käser, Udo: Bullying im Klassenverband. Prävalenz, soziometrische und leistungsbezogene Merkmale der Participant Roles, in: Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie 49,4 (2017), S. 186–196. Köller, Olaf / Fleckenstein, Johanna / Guill, Karin / Meyer, Jennifer: Pädagogische und didaktische Anforderungen an die häusliche Aufgabenbearbeitung, in: Die Deutsche Schule. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Bildungspolitik und pädagogische Praxis, 16. Beiheft (2020), S. 163–174. Langmeyer, Alexandra / Guglhörer-Rudan, Angelika / Naab, Thorsten / Uhlen, Marc / Winklhofer, Ursula: Kindsein in Zeiten von Corona. Erste Ergebnisse zum veränderten Alltag und zum Wohlbefinden von Kindern, München 2021. Leuze, Kathrin / Lörz, Markus: Bildungsverläufe im Hochschulbetrieb, in: Köller, Olaf / Hasselhorn, Marcus / Hesse, Friedrich W. / Maaz, Kai / Schrader, Josef / Solga, Heike / Spieß, C. Katharina / Zimmer, Karin (Hg.): Das Bildungswesen in Deutschland, Bad Heilbrunn 2019, S. 629–662. Liebeskind, Uta: Institutionen der Hochschulbildung, in: Köller, Olaf / Hasselhorn, Marcus / Hesse, Friedrich W. / Maaz, Kai / Schrader, Josef / Solga, Heike / Spieß, C. Katharina / Zimmer, Karin (Hg.): Das Bildungswesen in Deutschland, Bad Heilbrunn 2019, S. 599–628. Litt, Theodor: Naturwissenschaft und Menschenbildung, 3. Auflage, Heidelberg 1959. Litt, Theodor: Pädagogik, in: Hinneberg, Paul (Hg.): Die Kultur der Gegenwart. T. 1, 6: Systematische Philosophie, 3. Auflage, Leipzig, Berlin 1921, S. 276–310. Morgenroth, Stefanie / Buchwald, Petra: Burnout und Ressourcenerhaltung bei Lehrkräften, in: Unterrichtswissenschaft 43,2 (2015), S. 136–149. Röhr-Sendlmeier, Una Maria / Käser, Udo: Informelles Lernen aus psychologischer Perspektive, in: Rohs, Matthias (Hg.): Handbuch Informelles Lernen, Wiesbaden 2016, S. 207–223. Schräpler, Jörg-Peter / Bellenberg, Gabriele / Küpker, Markus / Reintjes, Christian: Schule und Unterricht im angepassten Regelbetrieb. Analyse und Reflexion Corona-bedingter (Teil-)Schließungen von Schulen anhand der COSMO-Befragung in NRW, in: Reintjes, Christian / Porsch, Raphaela / im Brahm, Grit (Hg.): Das Bildungssystem in Zeiten der Krise, Münster, New York 2021, S. 279–307. Sliwka, Anne / Klopsch, Britta: Disruptive Innovation! Wie die Pandemie die »Grammatik der Schule« herausfordert und welche Chancen sich jetzt für eine »Schule ohne Wände« in der digitalen Wissensgesellschaft bieten, in: Die Deutsche Schule. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Bildungspolitik und pädagogische Praxis, 16. Beiheft (2020), S. 216–229. Wacker, Albrecht / Unger, Valentin / Rey, Thomas: »Sind doch Corona-Ferien, oder nicht?« Befunde einer Schüler*innenbefragung zum »Fernunterricht«, in: Die Deutsche Schule. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Bildungspolitik und pädagogische Praxis, 16. Beiheft (2020), S. 79–94.

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Udo Käser

Weber, Christoph / Helm, Christoph / Kemethofer, David: Bildungsungleichheiten durch Schulschließungen? Soziale und ethnische Disparitäten im Lesen innerhalb und zwischen Schulklassen, in: Die Deutsche Schule. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Bildungspolitik und pädagogische Praxis, 18. Beiheft (2021), S. 83–99. Weinert, Franz E.: Aus Fehlern lernen und Fehler vermeiden lernen, in: Althof, Wolfgang (Hg.): Fehlerwelten. Vom Fehlermachen und Lernen aus Fehlern, Opladen 1999, S. 101– 109.

Bernhard Schmalenbach

Ästhetische Praxis für die Lehrer*innenbildung. Ein Vorschlag zur Gestaltung der kommenden zehn Jahre

Einleitung Künstlerische Tätigkeiten erscheinen in der Evolution des Menschen vor der Ausbildung von Schrift und jeder Form systematischer Aufbereitung von Wissen. Paläoontologen gehen davon aus, dass Zeichnungen, Malereien und Plastiken in Zusammenhang magisch-ritueller Praktiken standen, in denen auch musikalische und performative Handlungen eingebunden waren.1 Kunsttheoretische Reflexion beginnt in der griechischen Antike. Der hier verwendete Begriff der téchne als Kunstfertigkeit integriert im heutigem Sinne handwerkliche, wissenschaftliche, praktische und künstlerische Disziplinen und bezeichnet zunächst das Vermögen, einen bestimmten Bereich zu überschauen und praktisch zu beherrschen, so dass z. B. Gegenstände, Musik oder Bildwerke hergestellt werden können.2 Bald weitet sich der Begriff und bezeichnet einerseits unterschiedliche Spezialfertigkeiten, so auch die der Erziehung; andererseits spricht man auch von einer Lebenskunst. In der weiteren Entwicklung werden die mechanischen von den freien Künsten differenziert, wobei die letzteren häufig in Form eines Systems dargestellt werden, bis sie, etwa bei Marianus Capella im 5. Jahrhundert n. Chr., in allegorischer Siebenzahl gefasst werden. Die artes liberales stehen hier unter dem Primat der Philosophie, später dann der Theologie, wobei ihnen eine vorbereitende Funktion zukommt.3 In der Neuzeit vollzieht sich die Emanzipation der Einzelkünste und mit ihnen die des Künstlers als Prototyp des schöpferischen Menschen.4 Das Grimm’sche Wörterbuch unterscheidet die Bedeutungen von Kunst als 1) Wissen, 2) abstraktes Können, 1 Anati, Emmanuel: Höhlenmalerei. Düsseldorf, Zürich 2002. 2 Horn, Christoph / Rapp, Christof (Hg.): Wörterbuch der antiken Philosophie, Nördlingen 2002, S. 354ff. 3 Schwaetzer, Harald: Universität im 21. Jahrhundert?, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 46,1 (2021), S. 7–19, S. 11. 4 Bilstein, Johannes: Kunst und Künste, in: Wulf, Christoph / Zirfas, Jörg (Hg.): Handbuch Pädagogische Anthropologie, Wiesbaden 2014, S. 495–502.

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3) Fertigkeit sowie 4) den »erhöhte(n) Sinn von Kunst.«5 Auch Pädagogik wird als Erziehungskunst verstanden, wenngleich sich der Kunstbegriff mehr und mehr im Sinne der schönen Künste verselbständigt und institutionalisiert.6 Schillers Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen charakterisieren die ästhetische Stimmung als Steigerung der den Menschen konstituierenden Polaritäten und diesen als ganzen Menschen, insofern er künstlerisch oder spielerisch tätig ist.7 Der Topos der Ganzheitlichkeit wird insbesondere in der Entwicklung von Reformpädagogik und Heilpädagogik aufgegriffen und spielt auch in der Begründung der künstlerischen Therapien eine bedeutende Rolle. Von der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an wird der Diskurs um die schöpferische Praxis einerseits anhand des Kreativitätsbegriffs und der mit diesen verbundenen Theorien geführt und andererseits im Rahmen diverser Konzepte von Ästhetischer Bildung.

1.

Erziehungskunst

Bereits die Begründer der neuzeitlichen Pädagogik, Wolfgang Ratke und Johan Amos Comenius, kennzeichnen diese als eine Lehrkunst oder Didaktik, worunter sie ein systematisches und geplantes Vorgehen verstehen.8 Die Wegbereiter der Pädagogik als eigenständiger und systematisch beschriebener Wissenschaft im 18. Jahrhundert sprechen von Erziehungskunst, so Johann Peter Miller in den Grundsätzen einer weisen und christlichen Erziehungskunst (1769), Ernst Christian Trapp in seinem Versuch einer Pädagogik (1780) oder Friedrich Samuel Bock im Lehrbuch der Erziehungskunst von (1780).9 Dabei wird der Begriff Erziehungskunst im Sinne von Kunstfertigkeit verstanden und als Oberbegriff für die pädagogische Praxis verwendet, um deren spezifische Aufgabenstellungen herauszustellen.10 5 Grimm, Jacob / Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 5, Leipzig 1873, zit. nach Bilstein, Johannes: Kunst, in: Weiß, Gabriele / Zirfas, Jörg: Handbuch Bildungs- und Erziehungsphilosophie, Wiesbaden 2020, S. 89–98, hier S. 91. 6 Bilstein, Johannes: Kunst und Künste, in: Wulf, Christoph / Zirfas, Jörg (Hg.): Handbuch Pädagogische Anthropologie, Wiesbaden 2014, S. 495–502. 7 Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. In einer Reihe von Briefen (1795), in: Ders.: Gedichte und Prosa, hg. von Emil Staiger, Zürich 1984, S. 400–536. 8 Lischewski, Andreas: Meilensteine der Pädagogik. Geschichte der Pädagogik nach Personen, Werk und Wirkung, Stuttgart 2014, S. 101–104 und S. 108. 9 Miller, Johann Peter: Grundsätze einer weisen und christlichen Erziehungskunst, Göttingen 1771; Trapp, Ernst Christian: Versuch einer Pädagogik, Halle 1780; Bock, Friedrich Samuel: Lehrbuch der Erziehungskunst, zum Gebrauch für christliche Eltern und künftige Jugendlehrer, Königsberg 1780. 10 Bei Johann Peter Miller etwa als »eine durch Fleiß und Übung erlangte Fertigkeit, nach der auf Vernunft, Religion und Erfahrung gegründeten Erkenntnis die Fähigkeiten und Kräfte der

Ästhetische Praxis für die Lehrer*innenbildung

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Auch Kant greift in seiner Vorlesung Über Pädagogik den Begriff der Erziehungskunst auf und stellt ihn der Regierungskunst gleich, insofern beide die wohl schwersten Erfindungen des Menschen seien.11 Da die Entfaltung der Naturanlagen nicht von selbst geschehe, sei alle Erziehung Kunst, zunächst mechanisch betrieben, doch in der Pflicht, »judiziös«, nach den Gesetzen einer Wissenschaft, fortgebildet zu werden.12 Doch erst mit Schillers Briefen bekommt die pädagogische (wie die soziale) Praxis eine genuin ästhetische Qualität, auch wenn dies für die Pädagogik im Allgemeinen nicht ausgeführt wird. Jedoch arbeitet Schiller die bildende Wirkung ästhetischer Erfahrungen für die Integration der gegenläufig wirkenden menschlichen Vermögen und den ihnen zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten heraus, als Bedingung für die Entwicklung eines Handelns in Freiheit.13 Die Zusammenführung von Gegensätzen, etwa einer universalisierenden und einer individualisierenden Aufgabe von Erziehung oder des Gegensatzes von Unterstützung und ›Gegenwirkung‹, steht auch im Zentrum von Schleiermachers Konzeption der Pädagogik als Kunstlehre. Hier sind es nicht allgemeine Regeln, welche den Pädagogen belehren: »Diese Schwierigkeit wäre also – und nicht nur für diesen Gegensatz, sondern für jeden ähnlichen – gelöst dadurch, daß wir sagen, was in jedem Augenblick zu tun sei, unterstützen oder gegenwirken, hängt ab von der Aufforderung, die der Moment mit sich bringt.«14 Damit wird das künstlerische Moment methodisch gefasst im Sinne eines Handelns, welche die Erfordernisse oder Gesetzmäßigkeiten einer spezifischen Situation entdeckt und mit den gültigen Normen verbindet. Hierzu bedarf es des Gefühls: »Alle pädagogische Richtigkeit hängt von dem richtigen Sinn und Gefühl für die ver-

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Kinder nach Seele und Leib durch die besten Mittel zum rechtmäßigen Gebrauch und folglich zu einem tugendhaften und gemeinnützigen Leben geschickt zu machen.« (Miller, ebd., § 4. S. 1.). Trapp leitet die ›Kunst‹ aus der Bedeutung ihres Gegenstands ab: »Die Nothwendigkeit der Erziehung führt zur Nothwendigkeit der Erziehungskunst, wenn man bedenkt, wie wichtig das Geschäft ist.« (Trapp, ebd. § 5, S. 9). Zudem sei sie schwer durchzuführen, stehe in Verbindung mit vielen Fragen und Problemen und dies umso mehr, da es noch an experimentalpsychologischen Kenntnissen mangele (ebd., § 6, 11–16). Daraus folge, daß »sonach die Erziehung eine eigene Kunst sein, von ihren eigenen Leuten getrieben werden müsse, und daß diese sich sorgfältig darauf vorzubereiten haben, daß sie also nicht als Nebenwerk, nicht als unbedeutenden Anhang einer andern Disciplin widmen müssen, wenn sie etwas darin leisten wollen« (ebd. § 6, S. 15f.). Kant, Immanuel: Über Pädagogik, in: Werkausgabe, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. XII, S. 693–761, hier S. 703f. Ebd., S. 17f. Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, inbes. 12.–15. Brief. Schleiermacher, Friedrich: Vorlesungen über die Pädagogik 1826, in: Ders.: Texte zur Pädagogik, Kommentierte Studienausgabe, Bd. 2, hg. von Michael Winkler und Jens Brachmann, Frankfurt am Main 2000, S. 62.

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schiedenen zu betrachtenden Verhältnisse ab.«15 Denn es sei ein Irrtum zu glauben, dass man Regeln aufstellen könne, die »das Prinzip ihrer Anwendung schon in sich tragen und wovon es eines leitenden Gefühls nicht mehr bedarf.«16 Mit der Reformpädagogik findet die Vorstellung einer pädagogischen Kunst eine weitere Akzentuierung. Die Kunsterziehungsbewegung entdeckt die schöpferischen Kräfte des Kindes und widmet sich dem Studium und der Förderung seiner Ausdrucksgestaltungen. Daraus entwickelt sich die Forderung, den gesamten Unterricht in einer künstlerischen Weise einzurichten, etwa, indem der Unterricht durch die Rezeption von Werken der Kunst bereichert und auf ästhetische Ausdrucksformen Wert gelegt wird.17 Wenn das Kind als ein schöpferisches Wesen betrachtet wird, dann muss sich die Wahrnehmung der Pädagog*innen als eine ästhetische erweisen. Diesen Gedanken entfaltet Rudolf Steiner als Begründer der Waldorfpädagogik.18 Ihm zufolge besteht die Aufgabe des Pädagogen darin, das »werdende Menschenwesen zur Selbstoffenbarung anzuregen«,19 und dies nicht nur im künstlerischen Tun im engeren Sinn. Gegenstand pädagogischen und anthropologischen Wissens soll der Mensch in seiner schöpferischen Dimension, in der Entwicklung seines Potentials sein. Dieses im einzelnen Kind zu entdecken, erfordert ein Wahrnehmungsvermögen, das einer ästhetischen Einstellung folgt. Schöpferische Tätigkeit manifestiert sich in Erkenntnisvorgängen, in ethischen Urteilen ebenso wie im praktischen Tun – auf beiden Seiten der pädagogischen Beziehung.20 Mit dieser und mit verwandten Positionen hat sich der vormals eher auf Fertigkeiten bezogene Begriff der Erziehungskunst in einer solchen Weise vertieft, dass nun der Prozess des Lernens, sein Gegenstand und die Akteure gleichermaßen ästhetisch gefasst werden. Es erscheint konsequent, dass sich dieses Verständnis des Kindes und seiner Bildung auch in der Lehrerbildung niederschlug. So forderte Eduard Spranger 1919 eine »Bildnerhochschule«, welche neben der theoretischen Arbeit eine technisch-künstlerische Abteilung enthalten sollte, verbunden mit dem »Bekenntnis zu dem Ideal eines lebensoffenen, auch seinen schöpferischen Kräften

15 Schleiermacher, Friedrich: Pädagogik. Die Theorie der Erziehung von 1820/21 in einer Nachschrift, hg. von Christiane Ehrhardt / Wolfgang Virmond, Berlin 2008, S. 110. 16 Ebd. »Leitendes Gefühl« bezeichnet hier, was später als pädagogische Intuition gefasst werden wird. 17 Lischewski, Andreas: Meilensteine der Pädagogik, S. 293–298, besonders S. 296. 18 Halfen, Roland: Erziehungskunst: Annäherung an einen Fundamentalbegriff, in: Zdrazˇil, Tomásˇ (Hg.): Anthroposophie und Pädagogik: Beiträge zur Allgemeinen Menschenkunde Rudolf Steiners, Stuttgart 2017, S. 110–142. Eine Monografie zum Verständnis von »Erziehungskunst« im Rahmen der Waldorfpädagogik steht noch aus. 19 Steiner, Rudolf: Pädagogik und Kunst, in: Ders. (Hg.): Der Goetheanumgedanke. Gesammelte Aufsätze 1921–1925, Dornach 1961, S. 288–292, hier S. 289. 20 Ebd.

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entwickelten Menschen.«21 In den bald darauf begründeten Pädagogischen Hochschulen wurden die ›musischen Künste‹ Musik, Bildende Kunst, Sprache und Bewegung gelehrt – nicht nur, weil diese Tätigkeiten in der Volksschulpädagogik eine besondere Stellung einnehmen sollten, sondern auch mit dem Ziel, die Einseitigkeiten ›reiner‹ Geistigkeit oder weltzugewandter Zerstreuung auf Seiten der werdenden Pädagogen zu überwinden und ihnen zu einer Erfahrung des Zusammenhangs von Geist, Seele und Körper zu verhelfen.22 Der Orientalist und preußische Kulturminister Carl Heinrich Becker, Wegbereiter der Pädagogischen Akademien (Hochschulen), sah als Leitbild für deren Arbeit »das Ideal einer harmonisch alle menschlichen Kräfte entwickelnden Gesamtpersönlichkeit«, für welches im Rahmen der wissenschaftlichen, rein intellektuell geprägten Hochschulen »zur Zeit kein Raum« sei.23 Die schöpferischen (und die körperlichen) Kräfte schätzte er gar als bedeutender ein als die des rationalen Intellektes.24 Auch in der Ausbildung der Waldorfpädagog*innen, welche 1928 ihren Anfang nahm und die heute an Hochschulen wie an Seminaren stattfindet, wird der künstlerischen Praxis ein bedeutender Platz eingeräumt.25

2.

Kreativität

Infolge J.P. Guilfords Vortrag über Kreativität im Jahre 1950 ist das Konzept der Kreativität der in Pädagogik und Psychologie leitende Begriff für schöpferische Handlungen geworden.26 Dabei erweist sich die begriffliche Konturierung von ›Kreativität‹ als ein schwieriges Unterfangen, worauf bereits Hartmut von Hentig hinwies – bei aller Zustimmung für künstlerische Praxis in der Schule.27 21 Lischewski, Andreas: Meilensteine der Pädagogik, S. 428; Spranger, Eduard: Gedanken über Lehrerbildung, Leipzig 1919, S. 52. 22 »Wenn die musischen Künste junge und auch ältere Menschen entweder aus ihrer Befangenheit in idealen ›reiner‹ Geistigkeit und Innerlichkeit zu neuem Sich-›Äußern‹ zu befreien oder – umgekehrt – aus moderner ›Zerstreutheit‹ zu ›sammeln‹ vermögen, so ist damit sehr viel gesagt. Die Betreffenden erfahren dann nämlich auf eine sehr reale, meist tief in ihr Wesen eingreifende Weise etwas von den geheimnisreichen Zusammenhängen, die zwischen Leib und Geist und Seele des Menschen bestehen.« Kittel, Hellmuth: Die Entwicklung der Pädagogischen Hochschulen 1926–1932: eine zeitgeschichtliche Studie über das Verhältnis von Staat und Kultur, Berlin, Hannover, Darmstadt 1957, S. 52. 23 Becker, Carl Heinrich: Die Pädagogische Akademie im Aufbau unseres Bildungswesens, Leipzig 1926, S. 51. 24 Ebd., S. 43. 25 Loebell, Peter: Lehrerbildung für reformpädagogische Schulen, in: Barz, Heiner (Hg.): Handbuch Bildungsreform und Reformpädagogik, Wiesbaden 2018, S. 401–407, hier S. 403f. 26 Guilford, Joy Paul: Creativity, in: American Psychologist 5,9 (1950), S. 444–454. 27 Von Hentig kritisiert nicht nur die begriffliche Unschärfe (»Begriffsfregatte«, S. 60), sondern auch die Rahmung, Instrumentalisierung und vermeintliche Herstellbarkeit von Kreativität, vgl. von Hentig, Hartmut: Kreativität. Hohe Erwartungen an einen schwachen Begriff, Wien

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Häufig wird Kreativität als das Vermögen definiert, etwas Neues hervorzubringen oder schöpferisch tätig zu sein, wobei hier auch eine bestimmte Wertsetzung des Produktes hinzukommt.28 In der Folge von Guilfords Studien sowie der Arbeiten von Howard Gardner und Robert Sternberg wurde Kreativität in die Nähe des Intelligenzkonzeptes gerückt oder als Ensemble von Persönlichkeitsmerkmalen gesehen.29 Kreativität wird demgemäß als Verbindung von kognitiven Merkmalen gefasst, wie das »Divergente Denken« mit den Aspekten Orginalität, Flexibiliät, Gedankenflüssigkeit u. a., gepaart mit Konzentration und Aufmerksamkeitssteuerung sowie der Fähigkeit, die eigenen Denkvorgänge zu beobachten, zu bewerten und zu steuern. Hinzu kommt noch manches mehr, so motivationale und volitionale Elemente, wozu Motivation, Offenheit, Anstrengungsbereitschaft u. a. zählen.30 Dabei gilt Kreativität sowohl als anthropologische Universalie wie auch als wertvolle Eigenschaft. Kaum ist in dieser Lesart von Kreativität die ehedem nur den göttlichen Mächten vorbehaltene schöpferische Potenz in die Verfügbarkeit des Individuums übergegangen, wandelt sie sich zu einem Bestandteil kulturellen Kapitals, zu einer messbaren Kompetenz, die zu erwerben oder zu mehren dringliche Aufgabe derer ist, welche erfolgreich sein wollen. In diesem Sinne verstanden ist die Ideologisierung und Vergesellschaftung von Kreativität als neue Subjektformung eingehend kritisiert worden.31 Eine weitere Beschreibung der kreativen Persönlichkeit erfolgt nicht über eine offene Zahl von Komponenten, sondern bezieht sich auf die Struktur der Persönlichkeit. Mihály Czikszentmihályi weist darauf hin, dass kreative Personen gegensätzliche Eigenschaften und Haltungen miteinander verbinden, wie etwa Offenheit und Beharrlichkeit, Unbefangenheit und Sachkenntnis, Spielfreude und Disziplin.32 Arthur Cropley und Martin Reuter fügen dem noch weitere hinzu, wie die von Sensibilität und Durchsetzungsvermögen. Es fällt nicht schwer, diese

28 29 30 31 32

1978. Auch Christian Rittelmeyer weist auf Inkonsistenzen in einschlägigen Definitionen hin, vgl. Rittelmeyer, Christian: Kreativität als inner- und außerfachliche Wirkung des Kunstunterrichts. Theoretische Überlegungen und empirische Befunde, in: Berner, Nicole (Hg.): Kreativität im kunstpädagogischen Diskurs. Beiträge aus Theorie, Praxis und Empirie, München 2018, S. 207–220. Runco und Jaeger bezeichnen als definierende Merkmale Neuheit, Relevanz und Wirksamkeit. Runco, Marc A. / Jaeger, Garrett J.: The Standard Definition of Creativity, in: Creativity Research Journal 24,1 (2012), S. 92–96. Cropley, Arthur / Reuter, Martin: Kreativität und Kreativitätsförderung, in: Rost, Detlef H. / Sparfeldt, Jörn R. / Buch, Susanne R. (Hg.): Handwörterbuch Pädagogische Psychologie, 5. Auflage, Weinheim 2018, S. 363–374, hier S. 364f. Ebd., S. 364ff. Vgl. Reckwitz, Andreas: Die Erfindung der Kreativität, Berlin 2012. Csíkszentmihályi, Mihály / Rathunde, Kevin: The development of the Person: An Experiential Perspective on the Ontogenesis of Psychological Complexity, in: Applications of Flow in Human Development and Education: The Collected Works of Mihály Csíkszentmihályi, Dordrecht 2014, S. 7–79.

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Polaritäten als Variationen der antagonistischen Triebe aus Schillers Anthropologie zu erkennen. Über die Person hinausreichende Beschreibungen definieren Kreativität als ein mehrstelliges Geschehen, in dem zur Person die Umgebung, das Material und das Produkt hinzukommen.33 Weitere Beschreibungen erfolgen über den kreativen Prozess und seine Stufen sowie über die Unterscheidung von Schichten oder Stufen innerhalb eines Kontinuums des Schöpferischen, wie in der sogenannten Four-C-Theorie: Auf der basalen Ebene liegt die Alltagskreativität, die wirksam ist, wenn jemand für sich eine neue Erkenntnis oder einen neuen Handlungsvollzug entdeckt. Eine höhere Ebene wird, häufig mit Hilfe von Anleitung oder Lernen, erreicht, wenn die kreative Leistung von anderen Personen als solche anerkannt wird. Auf der Grundlage einer intensiven und über Jahre erfolgenden Praxis bildet sich eine professionelle Kreativität heraus. Die letzte Stufe dieses Modells liegt in kreativen Leistungen, welche sich in Werken manifestieren, die über die Lebensspanne ihres Schöpfers als bedeutend gelten.34 Dieses Modell sollte um eine weitere Stufe erweitert werden: diejenige der impliziten Kreativität, welche in allen Ausdrucksvorgängen aufgefunden werden kann. So lässt sich unter einer kommunikationspsychologischen Perspektive zeigen, wie Personen in sozialen Interaktionen in schöpferischer Weise sozialen Rapport herstellen, komplexe Situationen darstellen oder Probleme oder Aufgabenstellungen lösen, ohne sich dessen bewusst zu sein. Dies zeigen Untersuchungen aus unterschiedlichen Disziplinen, die auf einer Mikroebene im Bereich von Sekunden und darunter vorgenommen werden. Als ein Beispiel seien hier Forschungen zur Kommunikation zwischen Säuglingen und ihren Müttern angeführt, in denen insbesondere die Mutter mit Hilfe sprachlicher Mittel wie der Modulation von Tonhöhe, Rhythmus und Lautgestaltung Bedeutungen überträgt und eine Synchronisation der Partner herstellt.35 Dass die entsprechenden Forschungsberichte Titel wie »Communicative Musicality« oder »Poetics of Babytalk«36 tragen, ist nicht Ausdruck eines metaphorischen Sprachgebrauchs. Denn tatsächlich bekommen hier musikalische und poetische Elemente eine die Kommunikation in hohem Maße tragende Bedeutung. Ein weiteres Beispiel gibt die Gestenforschung: So konnte Cornelia Müller zeigen, dass redebegleitende Gesten, welche häufig die Lautsprache auf ikonische Weise erweitern und präzisieren, 33 Rhodes, Mel: An Analysis of Creativity, in: Phi Delta Kappa 42,7 (1961), S. 305–310. 34 Beghetto, Ronald A. / Kaufmann, Jean-Claude: Towards a Broader Conception of Creativity: A Case for »Mini-c« Creativity, in: Psychology of Aesthetics, Creativity, and the Arts 1,2 (2007), S. 73–79. 35 Malloch, Stephen / Trevarthen, Colwyn (Hg.): Communicative Musicality. Exploring the Basis of Human Companionship, Oxford 2009. 36 Miall, David S. / Dissanayake, Ellen: The Poetics of Babytalk, in: Human Nature 14,4 (2003), 337–364.

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künstlerische Formen gleichsam verkörpern: so beschreibt sie einen plastischen, einen skizzierenden und einen im engeren Sinne bildhaften Gebrauch von Gesten in der Alltagskommunikation.37 Kreative Prozesse finden sich ebenfalls in der Erinnerungstätigkeit oder im Umgang mit ›inneren Bildern‹ und Imaginationen.38 Für das Verständnis und die Beschreibungen von menschlichen Handlungen im Allgemeinen (Handlungstheorie) macht Hans Joas ebenfalls die Bedeutung der Kreativität des Handelns geltend und kennzeichnet ihn als einen eigenen Typus, den er zwischen den Handlungsmodellen des rationalen Handelns und des normativen Handelns ansiedelt und der zugleich die beiden Modelle ›überwölbt‹.39 In einer Übertragung dieses Kreativitätsdiskurses wurde das Konstrukt des fächerübergreifenden ›kreativitätsfördernden Unterrichts‹40 formuliert, welcher auf Seiten der Schüler*innen u. a. positive Effekte in Bezug auf kognitive Leistung, Arbeitsstil, Motivation und Selbstbild zeitigt.41 Die kreative Persönlichkeit stützt sich auf Fähigkeiten, Einstellungen und Wissen42, wie auch Kreativität dazu beiträgt, diese weiterzuentwickeln,43 sie bedarf jedoch sozialer Resonanzzusammenhänge und Antwortbeziehungen. Zusammenfassend wird Kreativität als Vermögen wie als Prozess verstanden, der in verkörperter Form und thematischer wie sozialer Einbettung latent wirksam ist und gesteigert, als genuin künstlerische Tätigkeit, in Erscheinung tritt.

3.

Ästhetische Prozesse in der künstlerischen Praxis

So ungeklärt der Gegenstandsbereich ›Kunst‹44 ist, so sehr finden sich Übereinstimmungen in den Beschreibungen ästhetischer Erfahrung. Diese vollzieht sich in den künstlerischen Tätigkeiten ebenso wie in der Rezeption künstlerischer 37 Müller, Cornelia: Gestural modes or representation as techniques of depiction, in: Müller, Cornelia et al. (Hg.) Body – Language – Communication. An International Handbook on Multimodality in Human Interaction. Berlin, Boston 2014, S. 687–1701. 38 Vgl. Schmalenbach, Bernhard: Psychologie der Kunst, in: Kunst in der Ausbildung sozialer Berufe. München 2011, S. 95–118. 39 Joas, Hans: Kreativität des Handelns, Frankfurt am Main 1996, S. 15. 40 Soh, Kaycheng: Creativity Fostering Teacher Behaviour Around the World. Annotations of Studies Using the CFTIndex, in: Cogent Education 2,1 (2015), S. 1–18. 41 Cropley, Arthur: Creativity and Education: An Australian Perspective, in: International Journal of Creativity and Problem Solving 22,1 (2012), S. 9–25. 42 Cropley, Arthur / Reuter, Martin: Kreativität und Kreativitätsförderung, in: Rost, Detlef H. / Sparfeldt, Jörn R. / Buch, Susanne R. (Hg): Handwörterbuch Pädagogische Psychologie, 5. Auflage, Weinheim 2018, S. 363–374. 43 Ebd. 44 »Was Kunst sei, gilt spätestens seit der Erweiterung des Kunstbegriffs in der Moderne und seiner Auflösung in alltägliche Lebensvollzüge hinein als letztlich nicht lösbare Aporie.«

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Werke. Der Zugang zu beiden erfolgt über vielfältige Sinneswahrnehmungen, welche zunächst in gesamtleiblich-synästhetischer Resonanz aufgenommen werden. Ästhetische Prozesse können in beiden Formen als dialogische gefasst werden.45 Getragen von einer offenen Haltung, stellt sich eine Begegnung mit einem Werk ein, bricht womöglich ab, wird wieder aufgenommen, vertieft sich. Werk (bzw. Tätigkeit) und verstehende Wahrnehmung auf Seiten des Subjektes bilden eine Einheit: Das Werk kommt erst in der Rezeption zur Erscheinung.46 Dies bedeutet zugleich, dass sich das Subjekt verändert. Im Übergang von Wahrnehmung, Imagination und Reflexion bildet sich ein Raum, welcher von einem auf pragmatisch-instrumentellen Vollzügen geleiteten Interesse ebenso entfernt ist wie von einem auf Erkenntnisgewinnung abzielenden Interesse: Ästhetisches Wahrnehmen bedeutet in der Formulierung von Martin Seel, »etwas um seines Erscheinens willen in seinem Erscheinen zu vernehmen.«47 Die Gestaltung von Farben, Klängen, Materialien u. a. erfolgt in einem symbolischen Raum, der diese Elemente in eine neues Beziehungsgewebe überträgt: die in den jeweiligen Künsten sich artikulierende ›Sprache‹. In diesem Sinne, so die Literaturwissenschaftlerin Henrike Stahl, charakterisiert der russische Strukturalismus als wesentliches formales Merkmal poetischer Sprache, dass sie aus dem primären Zeichensystem ein sekundäres erzeugt, wobei beide Ebenen in unterschiedlicher Weise zueinander gestellt werden können. »Über die sprachlichen und kausallogischen Zusammenhänge des primären Zeichensystems wird ein Netz intra- wie inter- und extratextuell bezüglicher Zusammenhänge gespannt.«48 Dessen Bezüge in ihrer Vielfalt, gebildet u. a. durch Äquivalenz oder Kontrast, verweisen nicht auf den poetischen Sinn, sondern modellieren ihn.49 Der poetische, der musikalische oder der Bild-Sinn kann hierbei in die unterschiedlichsten Richtungen hin orientiert werden: auf die Gegenstandswelt, auf soziale, kulturelle, geschichtliche und gesellschaftliche Prozesse, auf psychische Vorgänge oder auf theoretische Fragen.

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Krautz, Jochen: Ästhetische Bildung im Weltbezug. Personale Kunstpädagogik und relationale Didaktik, in: Coincidentia. Zeitschrift für europäische Geistesgeschichte. Beiheft 3, Schwaetzer, Harald (Hg.): BildungsFragen, Bernkastel-Kues 2014, S. 121–160. Dialogizität, hier zunächst allgemein gefasst, vollzieht sich tatsächlich in sehr unterschiedlichen Formen, etwa im Hinblick auf verschiedene Künste, wie Aktionskunst, Musik, Installation u. a., sowie in der Entwicklung der Kunstepochen, wo etwa mit dem 20. Jahrhundert das Material zum eigenständigen Element des Dialogs wird, und auch hinsichtlich diverser Ansätze oder Positionen. Vgl. Stahl, Henrieke: Interpretation als Dialog. Votum für eine strukturale Hermeneutik, in: Coincidentia. Zeitschrift für Europäische Geistesgeschichte. Beiheft 2: Schwaetzer, Harald (Hg.): Bildung und Fragendes Denken, Bernkastel-Kues 2013, S. 117–137 sowie Bockemühl, Michael: Bildrezeption als Bildproduktion. Ausgewählte Schriften zu Bildtheorie, Kunstwahrnehmung und Wirtschaftskultur, Bielefeld 2016. Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, München 2000, S. 49. H. Stahl bezieht sich hier auf die Theorie Juri Lotmans. Stahl, Henrike: Interpretation als Dialog, S. 128.

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Gleichwohl wird stets eine Sphäre konstituiert, deren »Sinn«, »Aussage«, »Erlebnisgestalt« und »Geltung« durch einen Verstehens- und Interpretationsprozess erfasst werden kann oder der primär erlebend mitvollzogen wird. Die Vielgestaltigkeit und der Reichtum ästhetischer Erfahrungen verbindet sich mit unterschiedlichen ›Wirkungen‹, oder besser, Potentialen: Anregung von Reflexion, Vertiefung der Wahrnehmungstätigkeit, Aufbrechen von kognitiven und emotionalen Mustern, von Stereotypen und Positionen, Erweiterung von Perspektiven, Irritation und Befremdung50, Vertiefung des Verstehens u. a.m. Hier knüpfen sowohl kunstpädagogische als auch kunsttherapeutische Ansätze an. Sie setzen gemeinsam auf die Erfahrung, dass ästhetische Praxis und schöpferische ›Kräfte‹ sowohl bedingt als auch impulsiert und damit der Person die Möglichkeit geben, sich selbst zu bilden.

4.

Zeitgenössische Konzepte ›ästhetischer Pädagogik‹

Dass Erziehen oder Unterrichten als ›pädagogische Kunst‹ bezeichnet würde, findet man in einschlägigen aktuellen Sammelwerken selten oder nicht.51 Gleichwohl gibt es Ansätze oder auch Beschreibungen, welche einen Bezug zur ästhetischen Praxis nehmen.

Lehrkunstdidaktik Dass Unterrichten als Kunst verstanden und vor allem: entwickelt werden kann, macht Hans Christoph Berg in enger Anlehnung an die naturwissenschaftliche Didaktik Martin Wagenscheins geltend.52 Diese Didaktik hebt vor allem auf den Inhalt und seine Vermittlung als einen dramatischen Prozess ab, der im Medium von »anschauender Erkenntnis und Imagination«53 gekennzeichnet wird. Die Lehrenden erarbeiten die Unterrichtsinhalte mit den Schülern in Form von exemplarischen ›Lehrstücken‹, welche gleichsam inszeniert werden. In diesen Stü50 Ein häufig anzutreffendes und schwer wiegendes Missverständnis betrifft die Gleichsetzung von ästhetischer Praxis (oder auch ›Ganzheitlichkeit‹) und Harmonie, Ausgleich, Heilung, Versöhnung und dgl. mehr – auch in der Rezeption Schillers, der u. a. die Dimension von Befremdung und Fremdheit betont, vgl. Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 5. Brief. 51 Vgl. Cramer, Colin / König, Johannes / Rothland, Martin / Blömeke, Sigrid (Hg.): Handbuch Lehrerinnen- und Lehrerbildung, Bad Heilbrunn 2020; Harring, Markus / Rohlfs, Carsten / Gläser-Zikuda, Michaela (Hg.): Handbuch Schulpädagogik, Münster, New York 2019. 52 Berg, Hans Christoph: Lehrkunstdidaktik – Entwurf und Exempel einer konkreten Inhaltsdidaktik, in: Journal of Social Science Education 3,1 (2004), S. 1–18. 53 Ebd., S. 2.

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cken sollen Themen in charakteristischen Urphänomenen erscheinen. Beispiele unter vielen betreffen Faradays ›Naturgeschichte der Kerze‹, eine Beschreibung Athens zur Zeit des Perikles, die Fabeln Äsops oder physikalische Themen wie das Barometer. Es sind die ursprünglichen Fragen der Forscher, die in den Unterricht eingebracht werden, so dass die Schüler*innen diese nachvollziehen und deren Lösungen ›nachentdecken‹. Hier werden Naturgesetze oder soziale und künstlerische Vorgänge in einer lebendigen Dynamik ausgestaltet und prototypisch zur Erscheinung gebracht, wobei es dem Lehrkünstler nicht um Vermittlung als solche geht, sondern darum, die »Erschließung neuer Sichtweisen, Denkformen und Handlungsmöglichkeiten« bei den Schülern anzuregen.54 In Analogie zur Dramentheorie charakterisiert Berg den gemeinsamen Bildungsprozess als einen dramatischen Vorgang mit entsprechenden Handlungslinien und Rollen, insbesondere aber einer spezifischen Dynamik, welche das Lernen energetisch trägt. Der Lehrende versucht auf diese Weise einen künstlerischen Prozess im Unterricht zu ›inszenieren‹, zugleich blickt er mit einer ästhetischen Haltung auf seinen ›Stoff‹.

Performativität Konzepte der Performativität zeigen auf, dass sich Pädagogik in einem Handlungsraum entfaltet, in dem die Subjekte stets aufeinander bezogen sind, nicht nur in sprachlichen Interaktionen, sondern im Zusammenwirken von räumlichen Positionierungen, Handlungsroutinen und Ritualen und in Verbindung von Sprache, Gestik, Material und Raum. Dieses Gefüge körperlich-sprachlicher Praktiken als Inszenierungen bildet das implizite Fundament von Bildungsprozessen aller Art, welche mit der bewussten Gestaltung von didaktischen Prozessen und dem Umgang mit Materialien einhergehen. In ihrem Zusammenwirken entstehen Handlungsordnungen, welche Lernvorgänge in Gang bringen, ausrichten, befördern oder behindern. Mit dem Blick auf den dramatisch-performativen Charakter etwa des Unterrichts lassen sich Formen und Dynamiken gestalten, welche Kreativität und Spontaneität betonen. Jeannette Böhm unterscheidet hier den pädagogischen Handlungsraum als »materialen Zweckraum, als performativen Ritualraum und als inszenierten Aufführungsraum.«55 Die performative (dramatische) Qualität baut in hohem Maße auf ›Mimesis‹, insofern in Ritualen Praktiken, Wissen und Regeln übernommen, aber zugleich va-

54 Ebd., S. 3. 55 Böhme, Jeanette: Handlungsraum, in: Wulf, Christoph / Zirfas, Jörg (Hg.): Handbuch Pädagogische Anthropologie, Wiesbaden 2014, S. 423–432.

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riiert und in imaginativer Form weiterentwickelt werden.56 Eine spezifische Ausgestaltung mimetischer Praxis in der Pädagogik liegt in der Anwendung der vielfältig einsetzbaren Rollenspiele. Solche intendierten performativen Praktiken bilden gemeinsam mit anderen, nicht intendierten Handlungen und Situationen einen wesentlichen Modus, in dem sich Bildungsprozesse ereignen. Diesen zu gestalten, lässt sich nur in Teilen auf theoretischem Wissen gründen.57

Unterricht als praktische Kunst Auch über die spezifische Entwicklung einer Lehrkunstdidaktik hinaus finden sich nach wie vor explizite wie implizite Beschreibungen von Unterricht als einem künstlerischen Prozess, etwa im Rahmen der Pädagogischen Anthropologie und der Kunstdidaktik. So spricht der Kunstpädagoge Jochen Krautz von Lehrkunst, weil im Kunstunterricht ein »fach- und sachspezifisches praktisches Können und Wissen nötig ist, das nicht allein durch wissenschaftliche Erkenntnis, sondern durch praktische Übung und Erfahrung erworben werden muss.«58 Der Begriff der Lehr- oder Unterrichtskunst wird hier gegen Positionen in Stellung gebracht, weil weder die Begründung noch die Gestaltung des Unterrichts aus den Befunden empirischer Studien ableitbar sei oder in der Anwendung von Kompetenzrastern und der Umsetzung festgelegter ›Kriterien guten Unterrichtes‹ gestaltet werden könne.59 Neben theoretischem wie erfahrungsbezogenem Wissen (und Üben) kommt es, Krautz zufolge, auf die Wahrnehmung individueller Situationen, auf Offenheit, Flexibilität und pädagogische Sensibilität an.60 Mit ähnlichen Akzenten, doch darüber hinaus die Analyse der Bedeutung pädagogischer Performativität weiterdenkend, betrachten auch Christoph Wulf und Jörg Zirfas pädagogisches Handeln nicht (nur) als ein »Ensemble von Techniken«, sondern als eine »Kunst, die nur in Grenzen theoretisierbar ist.« Denn sie schließe das Vermögen ein, performative Prozesse (s. o.) zu inszenieren.61 Als spezifisch ästhetische Elemente pädagogischen Handelns und mithin als Gemeinsamkeiten von Pädagogik und Kunst benennt Eckart Liebau »situative(r) Wahrnehmungs-, Ausdrucks, Darstellungs- und Gestaltungssouveränität.«62 56 Wulf, Christoph: Mimesis, in: Wulf, Christoph / Zirfas, Jörg (Hg.): Handbuch Pädagogische Anthropologie, S. 247–258, hier S. 248. 57 Wulf, Christoph / Zirfas, Jörg: Performativität, in: Wulf, Christoph / Zirfas, Jörg (Hg.): Handbuch Pädagogische Anthropologie, S. 515–525, hier S. 515ff. 58 Krautz, Jochen: Kunstpädagogik. Eine systematische Einführung, Paderborn 2020. 59 Ebd., S. 128 und S. 17. 60 Ebd., S. 138. 61 Wulf, Christoph / Zirfas, Jörg: Performativität, S. 517. 62 Liebau, Eckart: Schulkünste, in: Liebau, Eckart / Zirfas, Jörg (Hg.): Die Kunst der Schule. Über die Kultivierung der Schule durch die Künste, Bielefeld 2009, S. 47–65, hier S. 55.

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Pädagogik der Resonanz Während sich die bisher skizzierten Überlegungen zu einer möglichen ästhetischen Dimension pädagogischen Handelns eher an performativ-dramatischen und an bildenden Künsten orientieren, gründet das Konzept von Schule als Resonanzraum auf der latenten Musikalität sozialer und pädagogischer Prozesse.63 In diesem Sinne beschreibt Hartmut Rosa die Linien des didaktischen Dreiecks einer gelungenen Unterrichtseinheit als ›Resonanzachsen‹, in denen die Beziehung zur Sache einen faszinierenden und vibrierenden Charakter bekommt und die Beziehung von Schüler*innen und Lehrer*innen von Interesse und Beeindruckbarkeit getragen sind, so dass eine Stimmung entsteht, in welcher sich ein Bildungsprozess vollzieht, der nicht auf »Weltaneignung«, sondern auf »Weltbeziehungsbildung« oder »Anverwandelung« angelegt ist.64 Soziale wie dingliche Bezugnahmen werden hier von Rosa als Schwingungsverhältnisse angelegt, in denen Sache und Person in Erscheinung treten. Wo Resonanzachsen jedoch blockiert werden, gerät schulische Pädagogik zur »Entfremdungszone«.

Verbindung von Gegensätzen und Wechselwirkungen der Elemente Eine ästhetische Dimension des Handelns im Unterricht könnte des Weiteren über die Verbindung und Abstimmung relevanter Dimensionen und Elemente beschrieben werden, etwa über die Verbindung der ›Tiefenstrukturen des Unterrichts‹, in denen sich einander ergänzende Haltungen und Orientierungen manifestieren und in einen Zusammenhang gebracht werden. Dieser wiederum steht in einem dynamischen Bezug sowohl zur Persönlichkeit der Lehrenden wie zur Lerngruppe. Fritz K. Oser und Franz J. Baeriswyl sprechen daher von Unterricht als Choreografie.65 Einen ebenfalls musikalischen Begriff aufnehmend, leiten Werner Jank und Hilbert Meyer die Unterrichtsqualität aus dem Zusammenwirken von Zielen, Inhalten und Methoden ab, insofern dieses ›stimmig‹ ist.66 Es verwundert nicht, dass die Erforschung gerade dieser Integration miteinander in Beziehung stehender Dimensionen »bislang vonseiten der Forschung noch nicht zufriedenstellend geklärt« ist,67 geht es hier gerade um den über63 Rosa, Harmut: Resonanz, Frankfurt, 7. Auflage, Berlin 2016, S. 402–420. 64 Ebd., S. 410f. u. S. 412. 65 Oser, Fritz K. / Baeriswyl, Franz J.: Choreographies of Teaching: Bridging Instruction to Learning, in: Richardson, Virginia (Hg.): Handbook of Research on Teaching, 4. Auflage, Washington D.C. 2001, S. 1031–1065. 66 Jank, Werner / Meyer, Hilbert: Didaktische Modelle, 10. Auflage, Berlin 2011, S. 56ff. 67 Holzberger, Doris / Kunter, Mareike: Unterrichts aus der Perspektive der Pädagogischen Psychologie und der empirischen Unterrichtsforschung, in: Möller Jens / Köller, Michaela /

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greifenden Bezug der Elemente (Ganzheitlichkeit). Daher kommt auch Eckhard Klieme zu der Schlussfolgerung: »Die Unterrichtsforschung ist weit davon entfernt, diese Orchestrierung zu verstehen.«68 Werner Helsper betont weitere dem Lehrerhandeln inhärente Polaritäten, von ihm als ›Antinomien‹ gekennzeichnet, wie Nähe und Distanz oder Autonomie und Heteronomie.69 Weitere Polaritäten didaktischen Handelns, wie Zeigen/ Erklären, Planung/Unvorhersehbarkeit oder abstrakt/anschaulich, versammelt für die Elementarbildung, doch darüber hinaus ebenfalls gültig, Norbert Neuß.70 Hier wird eine von Kant begonnene und über Schleiermacher und Litt (»Führen und Wachsenlassen«) weitergeführte Linie fortgesetzt. In jüngerer Vergangenheit, vor dem Hintergrund der inklusiven Bildung, fügte Jürgen Budde diesen Polaritäten ein dreistelliges Modell hinzu, welches die Aufgabe beschreibt, im Unterricht die Grundsätze von Universalismus, Individualität und Differenz zu integrieren.71 Auch das zweite Motiv, die Betonung situationsspezifischer Fähigkeiten und Einstellungen, hat eine lange Geschichte. Die Anerkennung dieser Dimension hat zu einer Erweiterung der Kompetenzmodelle des Lehrer*innenhandelns72 um Fähigkeiten, wie Wahrnehmung, Interpretation und Entscheidungsvermögen geführt.73 Aus einer anderen Perspektive erfolgt eine Beschreibung des Übergangs zwischen allgemeiner Theorie und spezifischer Situation über das entwickelte Konzept des Pädagogischen Taktes, in Anlehnung an Herbart.74 Georg Hans Neuweg verweist auf die Bedeutung von »›Intuitiven‹ Forme(n) der Handlungsregulation, die sich stärker durch die sensible Einlassung auf ständig

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Riecke-Baulecke, Thomas (Hg.): Basiswissen Lehrerbildung: Schule und Unterricht/Lehren und Lernen, Seelze 2016, S. 39–52, hier S. 47. Klieme, Eckhard: Unterrichtsqualität, in: Harring, Markus / Rohlfs, Carsten / Gläser-Zikuda, Michaela (Hg.): Handbuch Schulpädagogik, Münster, New York 2019, S. 393–408, hier S. 405. Helsper, Werner: Strukturtheoretischer Ansatz in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung, in: Cramer, Colin / König, Johannes / Rothland, Martin / Blömeke, Sigrid (Hg.): Handbuch Lehrerinnen- und Lehrerbildung, Bad Heilbrunn 2020, S. 179–195. Neuß, Norbert: Unterrichten im Elementarbereich, in: Kiel, Ewald / Herzig, Bardo / Maier, Uwe / Sandfuchs, Uwe (Hg.): Handbuch Unterrichten an allgemeinbildenden Schulen, Bad Heilbrunn 2019, S. 91–100, hier S. 92ff. Budde, Jürgen: Erziehungswissenschaftliche Perspektiven auf Inklusion und Intersektionalität, in: Sturm, Tanja / Wagner-Willi, Monika (Hg.): Handbuch schulische Inklusion, Opladen 2018, S. 61–76. Köller, Michaela / Köller, Olaf / Baumert, Jürgen: Professionelle Kompetenz von Lehrkräften, in: Möller, Jens / Köller, Michaela / Riecke-Baulecke, Thomas (Hg.): Basiswissen Lehrerbildung: Schule und Unterricht – Lehren und Lernen, Seelze 2016, S. 9–22. Blömeke, Sigrid / Gustafsson, Jan-Eric / Shavelson, Richard J.: Beyond Dichotomies: Competence Viewed as a Continuum, in: Zeitschrift für Psychologie 223,1 (2015), S. 3–13. Rothland, Martin: Theorie-Praxis-Verhältnis in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung, in: Cramer, Colin / König, Johannes / Rothland, Martin / Blömeke, Sigrid (Hg.): Handbuch Lehrerinnen- und Lehrerbildung, S. 133–140, hier S. 135f.

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wechselnde situative Umstände als durch das Anwenden expliziten Wissens und das Abarbeiten von Handlungsplänen abzeichnen.«75 Häufig wird hier, unter zumeist implizitem Rückgriff auf die Expertiseforschung, von ›Mustererkennung‹ als einer entscheidenden Fähigkeit gesprochen.76

Wahrnehmung von Individualität als ästhetischer Vorgang Insbesondere im Rahmen von Heilpädagogik/Inklusiver Pädagogik finden sich Konzepte einer ästhetisch gefassten Wahrnehmung und Beschreibung individueller Situationen.77 Leitend ist hier der Anspruch, zu einem ganzheitlichen Verstehen einer Lebenslage (oder Lernausgangslage) zu gelangen, um diese bestmöglich zu begleiten. Ganzheitlichkeit kann hier in mehrfacher Hinsicht angestrebt werden: in der Verbindung aller Aspekte auf der Ebene der Person, in der Zusammenschau von Individuum und sozialem Umfeld sowie auf das Verständnis einer je gegebenen Situation im Rahmen der Biografie.78 Die Komplexität dieses Anspruchs hat zur Entwicklung von methodischen Konzepten geführt, in deren Vollzug eine individuelle Situation, auch für die Person selbst, ›zur Erscheinung‹ kommen kann – in Genese, Gegenwart und Potential. Ganzheitlichkeit wird aber nicht erreicht, indem man eine mehr oder weniger willkürlich gebildete Summe einzelner Aspekte bildet oder einen Katalog von Items abarbeitet; in diesen Fällen werden auf Ganzheitlichkeit abzielende Konzepte mit Recht massiv kritisiert, da ihnen formale Kriterien fehlen, welche ihre Geltung bezeugen könnten. Diese aber kann erreicht werden, wenn man ›ganzheitliche‹ soziale Wahrnehmung als eine ästhetische Wahrnehmung versteht, in der Lesart Heinrich Barths als eine solche, »in der jedes Moment der Mannigfaltigkeit zum Ganzen und zu den anderen Momenten in einer Beziehung, deren Ausfall das Ganze nicht nur vermindern, sondern verändern würde.«79 Unter Rückgriff auf phänomenologische und hermeneutische Verfahren ergeben sich hier Bezüge zum ästhetischen Verstehen, wobei das Verständnis einer individuellen Lebenssituation und ihrer Potentiale (d. h. ihrer schöpferischen Möglichkeiten) 75 Neuweg, Georg Hans: Implizites Wissen in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung, in: Cramer, Colin / König, Johannes / Rothland, Martin / Blömeke, Sigrid (Hg.): Handbuch Lehrerinnenund Lehrerbildung, S. 764–769, hier S. 765. 76 Vgl. Wolfgang Nieke, der ebenfalls Intuition als Bestandteil des Lehrerhandelns stark macht und die Einübung einer »reflektieren Intuition« fordert. Nieke, Wolfgang: Lehrerbildung als Kompetenzerwerb – Perspektiven auf neu zu bestimmende Aufgaben, in: Loebell, Peter / Martzog, Philipp (Hg.): Wege zur Lehrerpersönlichkeit, Opladen 2017, S. 15–38, hier S. 33. 77 Schmalenbach, Bernhard: Von der ästhetischen Kraft der Heilpädagogik, in: Coincidentia 3,1 (2012), S. 195–222. 78 Ebd., S. 207f. 79 Barth, H.: Erkenntnis der Existenz, S. 110.

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eines Verfahrens bedarf, welches ästhetische Kriterien aufnimmt: Dialogizität, Sich-berühren-Lassen, Schärfung der Wahrnehmung, Perspektivenwechsel u. a. Folgt man dem Gedanken der Verwandtschaft von sozialen und ästhetischen Erfahrungen, so würden solche Verfahren eine Intensivierung, Klärung oder Steigerung dessen darstellen, was sich in der sozialen Wahrnehmung stets ereignet.

5.

Erforschung ästhetischer Erfahrung

Die Erforschung der Wirksamkeiten ästhetischer Erfahrungen richtet sich auf unterschiedliche Felder: Eine besondere Aufmerksamkeit kommt der sogenannten Transferforschung zu, welche sich mit der Frage des Einflusses diverser ästhetischer Tätigkeiten auf Eigenschaften und Fähigkeiten befasst, vor allem von sozialem Verhalten, schulischen Leistungen und Eigenschaften oder Haltungen wie Empathie u. a. Christian Rittelmeyer referiert zentrale Befunde dieser Forschungen, diskutiert deren Vorannahmen und Probleme und legt eine Rahmentheorie für die differenzierte Erforschung ›bildender Wirkungen vor‹, welche u. a. Strukturanalysen von Werken und Tätigkeiten, Erfahrungsanalysen, die Aufarbeitung biografischer Berichte in Verbindung mit Kunsterlebnissen, die Erforschung von Körperresonanzen und die Analyse von volitionalen Prozessen umfasst.80 Diese Theorie zeigt zum einen Forschungsmethoden auf, sie macht aber auch plausibel, wie bildende Wirkungen ästhetischer Erfahrung theoretisch begründet werden können, fernab eines ›technisch-instrumentellen‹ Mechanismus, der nun auf die ›Kunst‹ gerichtet wäre. Des Weiteren liegen Berichte über den Einsatz ästhetischer Tätigkeiten im Rahmen von Ausbildung und Studium im Bereich der Pädagogik, Heilpädagogik und Sozialen Arbeit vor.81 Eine Reihe von Forschungsarbeiten untersucht ferner die Bedeutung ästhetischer Praxis innerhalb der Professionalisierung und der Ausübung medizinischer und therapeutischer Berufe.82 Dabei werden unterschiedlichste Aktivitäten angeregt: dramatisches Spiel, die Erstellung narrativer und lyrischer Texte, bildnerische Tätigkeiten und die Betrachtung und Analyse von Werken der Kunst.83 Auch außerhalb solcher Kontexte weisen Forschungen 80 Rittelmeyer, Christian: Bildende Wirkungen ästhetische Erfahrungen, Weinheim 2016. 81 Vgl. Schmalenbach Bernhard: Kunst in der Ausbildung sozialer und pädagogischer Berufe, Oberhausen 2011. 82 Vgl. ebd., S. 11–37. 83 Einige Beispiele, hier bezogen auf die Arbeit mit lyrischen Texten: Garrie, Alaina J. / Goel, Shruti / Forsberg, Martin M.: Medical Students’ Perceptions of Dementia after Participation in Poetry Workshop with People with Dementia, in: International Journal of Alzheimer’s Disease, Article ID 2785105, (2016), S. 1–7; Jack, Kirsten / Illingworth, Sam: Developing

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auf den Zusammenhang von ästhetischer Praxis und Persönlichkeit hin, z. B. im Hinblick auf die Ausbildung von Empathie.84 In einer bemerkenswerten Studie konnten Jörg Fingerhut et al. demonstrieren, dass ästhetische Präferenz als ein definierendes Merkmal personaler Identität anzusehen ist; die Autor*innen sprechen demnach von einem genuin ›ästhetischen Selbst‹.85 Erste Studien über ästhetische Praxis in der Lehrer*innenbildung oder an Studierenden der Pädagogik liegen bislang im Rahmen der waldorfpädagogischen Lehrerbildung vor, mit positiven Ergebnissen.86

6.

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Unterricht und Erziehung können, wie gezeigt wurde, auf unterschiedlichen Ebenen als ästhetische Praxis verstanden werden, bis hin zu einem starken Begriffsverständnis, welches auf genuin ästhetische Elemente pädagogischer Praxis verweist. Diesen Zusammenhang weiterzuverfolgen und für universitäre Lehrer*innenbildung fruchtbar zu machen, bedeutet nicht, in eine Kontroverse über diverse Lesarten unterrichtlicher und pädagogischer Tätigkeit einzutreten oder gar der ›Kunst‹ die Rolle zuzuweisen, die so häufig, vor allem von Studierenden an Hochschulen, vermisste ›Brücke‹ zwischen ›Theorie‹ und ›Praxis‹ einzunehmen. Schon aus der strikten Spaltung beider ergeben sich Aporien. Nicht nur sind gute Theorien, im Sinne Kurt Lewins, praktisch. Die Arbeit an Theoriebildungen ist eine ebenso praktische und folgenreiche Tätigkeit, wie das konkrete Handeln in Situationen Wissen und Theorien voraussetzt, anwendet und verändert. Ferner: Denken und Handeln können einen ästhetischen Charakter annehmen, so wie die ästhetische Rezeption und Praxis mehr oder weniger stark gedanklich, emotional und leibästhetisch-aktionale Aspekte betonen kann.

Reflective Thinking through Poetry Writing: Views from Students and Educators, in: International Journal of Nursing Education Scholarship 16,1 (2019); Cronin C. Hawthorne C. (2019). ›Poetry in motion‹ a place in the classroom: Using poetry to develop writing confidence and reflective skills. Nurse Education Today. May 76, S. 73–77. 84 Wöllner, Clemens: Is Empathy Related to the Perception of Emotional Expression in Music? A Multimodal Time-Series Analysis, in: Psychology of Aesthetics, Creativity, and the Arts 6,3 (2012), S. 214–233. 85 Fingerhut, Joerg / Gomez-Lavin, Javier / Winklmayr, Claudia / Prinz, Jesse J.: The Aesthetic Self. The Importance of Aesthetic Taste in Music and Art for Our Perceived Identity, in: Frontiers in Psychology 11,577703 (2021), S. 1–18. 86 Vgl. Heinritz, Charlotte / Röhler, Alexander: Bedeutung und Auswirkungen von Kunstangeboten im Curriculum von pädagogischen Studiengängen, in: BIOS 26,1 (2013), S. 6–27; Martzog, Philipp / Kuttner, Simon / Pollak, Guido: A Comparison of Waldorf and Non Waldorf Student Teachers Social Emotional Competencies: Can Arts Engagement Explain Differences?, in: Journal of Education for Teaching 42 (2016), S. 1–14.

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Dass diese Bereiche also sich durchdringen, bedeutet allerdings nicht, dass sie als solche nicht beschreibbar und unterscheidbar wären. Dies gilt insbesondere für deren zentrale inhaltliche Kategorien. Begriffe aus dem Bedeutungsfeld der Ästhetik wie Stimmigkeit, Ganzheitlichkeit oder Inspiration87 lassen sich ebenso wenig aus den durch sie verbundenen Elementen ableiten, wie die Qualität einer Sinfonieaufführung aus der Qualität der Instrumente, den Handlungen der Musiker, der Dirigentin, der Komposition, der Akustik, der Publikumsreaktionen usf. Auch von Seiten der Theorie, aus der Anwendung musik- und aufführungstheoretischen und sozialpsychologischen Wissens ›in der Praxis‹ lässt sich kein musikalisches Ereignis vorhersagen. Dem steht nicht entgegen, dass man in der Aufführung die Wirksamkeit der Faktoren und die Bestätigung von Gesetzen auffinden kann und folglich sich an ihnen orientiert. Mit dieser Analogie aber soll hier nicht die Gleichartigkeit von Unterrichten und Musizieren behauptet, sondern nur die Eigenständigkeit der ästhetischen Dimension illustriert werden, welche auch im Unterricht gefunden werden kann. Daher ist es sinnvoll, in der Wahrnehmung, Beschreibung und Vorbereitung pädagogischer Tätigkeit diese Sphäre als solche zu berücksichtigen, welche epistemologisch wie handlungstheoretisch zwischen implizitem und explizitem Wissen, zwischen Allgemeinem und Konkretem angesiedelt ist. Dem Impuls, die ästhetische Qualität pädagogischen Sehens und Handelns auch für die universitäre Lehrerbildung fruchtbar zu machen, stehen viele Wege offen. Sie können sich an Praxiserfahrungen ebenso anschließen wie an die Erarbeitung bildungswissenschaftlicher Themen. Ersteres z. B. in der Aufbereitung oder Erforschung von Praxissituationen in ästhetischer Form, der Untersuchung von Handlungssituationen auf schöpferische Elemente und Spielräume hin, der Rekonstruktion von Beratungs- und Begegnungssituationen über diverse musikalische Stimmungen, der Beschreibung und Analyse von Unterrichtssituationen als performativen Ereignissen, der Betrachtung individueller Lebens- und Lernausgangslagen in phänomenologischer Methodik, der narrativen oder poetischen Reflexion biografischer und pädagogischer Erfahrungen. In der Bearbeitung bildungswissenschaftlicher Grundlagen ließen sich deren ästhetische Dimensionen aufarbeiten. Die Beschäftigung mit zentralen Aspekten wie etwa Menschenbildern, Theorien des Lernens oder pädagogischen Haltungen würde durch eine Bezugnahme auf Werke der Kunst oder mit künstlerischen Übungen an Anschaulichkeit, Tiefe und Nähe gewinnen, ohne deren objektive Dimension zu vernachlässigen. Bekanntlich sind die Künste, in einem weiten 87 Der Begriff der Inspiration etwa spielt eine bedeutende Rolle in John Hatties Charakterisierung der ›guten‹ Lehrerpersönlichkeit, vgl.: Clinton, Janet / Hattie, John / Al-Nawab, Hadeel Faisel: The good teacher – Our best teachers are inspired, influential and passionate, in: Harring, Markus / Rohlfs, Carsten / Gläser-Zikuda, Michaela (Hg.): Handbuch Schulpädagogik, Münster, New York 2019, S. 880–888.

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Sinn verstanden, seit jeher ein zentraler Ort der Explikation, der Verstörung und der Weiterentwicklung anthropologischer, philosophischer, gesellschaftlicher, kultureller und sozialer Themen und Positionen gewesen. Geschichte und Gegenwart der Kunst stellen eine Fülle von Werken bereit, welche mit theoretischen (und empirischen) Perspektiven in Bezug gesetzt werden können. Gleichfalls ist es möglich, hier mit kunstpraktischen Auseinandersetzungen zu arbeiten. Damit ist die Ebene der Fächer selbst noch nicht berührt. Die Sprachen haben es, neben der sprachwissenschaftlichen Säule, ohnehin mit Literatur zu tun. Doch auch anderen Fächern wohnt eine ästhetische Dimension inne88, was zuallererst denen klar ist, welche sich zu ihnen hingezogen fühlen. Daher ist auch der Zugang zu diesen, vor allem die Beförderung dieses Zugangs, eine ästhetische Frage. Es ist zu vermuten, dass diese umso bedeutender wird, je offener der schulische Unterricht für eine Vielfalt von Methoden und Settings sowie für Heterogenität auf Seiten der Schülerschaft wird. So wie diese Ansätze an die wissenschaftliche und die praktische Bildung anknüpfen und diese in Richtung ästhetischer Erfahrung weiterführen, so lässt sich auch der andere Weg gehen, der an der künstlerischen Tätigkeit ansetzt. In unmittelbarer Nachbarschaft zur pädagogischen Situation selbst stehen Übungen im Bereich von Sprache, Drama und performativer Kunst, welche eine Auseinandersetzung und Weiterentwicklung der sprachlich-interaktiven Präsenz anregen könnten. Auch Erfahrungen, Prozesse und Übungen aus anderen Bereichen lassen sich in Beziehung zu Aspekten der Persönlichkeit – zu Einstellungen, Haltungen, Eigenschaften und Mustern – setzen, insofern durch sie Erfahrungsräume von Übung und Reflexion, Wahrnehmung von Grenzen und Bedingungen, von Exploration und Horizonterweiterung aufgebaut werden. Die nötige Intensität vorausgesetzt, kann eine Begegnung mit eigenen kognitiven, emotionalen und handlungsbezogenen Strukturen und Themen stattfinden, welche sich als solche auch in der pädagogischen Praxis niederschlagen. Künstlerische Auseinandersetzungen und Erfahrungen vermögen diejenigen, die sich auf sie einlassen, an »unsere Begabung für das schlechthin Unvorhersehbare«89 zu erinnern, an die »Fähigkeit, einen neuen Anfang zu machen, d. h. zu handeln«,90 der aber stets in Bezug auf gegebene und selbst hervorgebrachte Situationen verbleibt. Das ›interesselose‹ Handeln erlebt sich im Vollzug, nicht (allein) im Produkt. Vollzugsbewusstsein erst begründet die Fähigkeit, theoretische wie praktische Setzungen zu reflektieren, gerade auch auf deren Alter88 Siehe hierzu etwa Johnson, Samuel G.B. / Steinerberger, Stefan: Intuitions About Mathematical Beauty: A Case Study in the Aesthetic Experience of Ideas, in: Cognition 189 (2019), S. 242–259, doi: 10.1016/j.cognition.2019.04.008; Bliersbach, Markus / Reiners, Christiane: Kreativität und Chemie?, in: Chemie in unserer Zeit 51,5 (2017), S. 324–331. 89 Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, 14. Auflage, München 2014, S. 217. 90 Ebd., S. 18.

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nativen hin, mithin Perspektiven zu wechseln. Ästhetisches Handeln schafft nicht nur symbolische Formen, sondern bewegt sich in einer Haltung, welche die Fragen offen halten kann und neue Fragen findet. Möglicherweise brauchen wir gerade für die Bearbeitung der existentiellen sozialen, kulturellen und ökologischen Aufgaben an der Seite von ethischen Grundsätzen, von je gültigem Wissen und praktischem Engagement die Einübung eines ästhetischen Weltverhältnisses. Es liegen hinreichend methodische Überlegungen, Forschungsergebnisse und theoretische Grundlagen vor, um ein solches Projekt anzugehen. Die Herausforderung wird darin liegen, ein schlüssiges Konzept zu entwickeln, die nötige interdisziplinäre Zusammenarbeit herbeizuführen, die Rahmenbedingungen herzustellen und eine begleitende Evaluation einzurichten, welche ein solches Vorgehen kritisch begleitet. Eine Transformation der Lehrer*innenbildung würde unterschiedliche Ebenen umfassen. Die Grundlage bestünde in einer kritischen Verständigung der Beteiligten über die ästhetischen Dimensionen der verschiedenen Ebenen der Gestaltung schulischen Lernens – von der pädagogisch-didaktischen Ebene über die sozialen und kommunikativen Prozesse im Rahmen der Schulgemeinschaft bis hin zur Ebene von Organisation, Leitung und Schulentwicklung. Darauf aufbauend läge die zentrale Aufgabe in der Gestaltung der Lehrer*innenbildung in der Erarbeitung ästhetischer Perspektiven und Potentiale im Bereich der Fächer und der Fachdidaktiken, wie auch der bildungswissenschaftlichen Module. Schließlich würde man spezifische Module auf der Bachelor- wie der Masterebene entwickeln, welche der Persönlichkeitsbildung durch künstlerische Praxis gewidmet wären. Vieles, und nicht zuletzt die Verdichtung schon länger bestehender gesellschaftlicher und bildungssystembezogener Entwicklungen im Jahr 2020/21 sprechen dafür, der Begegnung mit Kunst und künstlerischer Tätigkeiten in der Lehrer*innenbildung den Raum zu geben, der ihrer Bedeutung entspricht.

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Vierter Teil: Gäste der Bonner Lehrerbildung

Daniel Scholl

Die Komplexität der beruflichen Aufgaben von Lehrerinnen und Lehrern als Herausforderung für die Kompetenzförderung – Zur Kooperation und Kollaboration als Zukunftschance der Lehrerinnen- und Lehrerbildung

1.

Einleitung

Unterricht gilt als eine der Kernaufgaben von Lehrkräften,1 die aufgrund ihrer Komplexität große Herausforderungen an die Entwicklung von professionellen Handlungskompetenzen stellt.2 Um deshalb bereits angehende Lehrkräfte bestmöglich auf den wirksamen Umgang mit dieser Komplexität vorzubereiten, wurde in den letzten drei Jahrzehnten intensiv daran gearbeitet, Unterricht als zentralen Gegenstandsbereich in die intendierten Curricula der fachlichen, fachdidaktischen, bildungswissenschaftlichen und schulpraktischen Studienanteile der Lehrerinnen- und Lehrerbildung aufzunehmen und ein entsprechendes Professionswissen bereits ab dem Beginn des Studiums grundzulegen. Hochschulweit gestützt wurde diese Entwicklung unter anderem dadurch, dass für die bildungswissenschaftlichen Anteile des Studiums ländergemeinsame Standards3 konzipiert wurden, die inzwischen – auch bekräftigt durch die empirische Lehrerinnen- und Lehrerkompetenzforschung4 – zu einem integralen Bestandteil der bildungswissenschaftlichen Curricula an den einzelnen Universitäten geworden sind.5 1 Vgl. Baumert, Jürgen / Kunter, Mareike: Stichwort: Professionelle Kompetenz von Lehrkräften, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 9,4 (2006), S. 469–520. 2 Vgl. Huang, Yizhen / Richter, Eric / Kleickmann, Thilo / Wiepke, Axel / Richter, Dirk: Classroom complexity affects student teachers’ behavior in a VR classroom, in: Computers & Education 163 (2021). DOI: 10.1016/j.compedu.2020.104100 [Stand: 01. 05. 2021]. 3 Vgl. Sekretariat der Kultusministerkonferenz: Standards für die Lehrerbildung: Bildungswissenschaften. (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 16. 12. 2004 i. d. F. vom 16. 05. 2019), 2019. URL: https://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2004/20 04_12_16-Standards-Lehrerbildung-Bildungswissenschaften.pdf [Stand 05. 05. 2021]. 4 Vgl. Kunina-Habenicht, Olga / Lohse-Bossenz, Hendrik / Kunter, Mareike / Dicke, Theresa / Förster, Doris / Gößling, Jill / Schulze-Stocker, Franziska / Schmeck, Annett / Baumert, Jürgen / Leutner, Detlev / Terhart, Ewald: Welche bildungswissenschaftlichen Inhalte sind wichtig in der Lehrerbildung?, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 15,4 (2012), S. 649–682. 5 Vgl. Schulze-Stocker, Franziska: Die Normierung der Bildungswissenschaften in den Lehramtsstudiengängen durch gesetzliche Vorgaben: Wie (re)organisieren Universitäten ihr bil-

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Ohne genauer auf diesen Entwicklungsprozess der Lehrerinnen- und Lehrerbildung oder die intensive Erforschung von professionellen (Handlungs-) Kompetenzen in den vergangenen Dekaden einzugehen, lässt sich in dieser Entwicklung der Versuch ausmachen, über einen aufgabenanalytischen Blick auf das facettenreiche Berufsfeld von Lehrerinnen und Lehrern berufliche Aufgaben mitsamt den notwendigen und spezifischen, lehr- und lernbaren professionellen Kompetenzen zu identifizieren.6 Verbunden mit diesem Versuch ist das Vorhaben, eine Grundlegung dieser Kompetenzen über eigenständige und spezialisierte wissenschaftliche Domänen (die Fächer, die Fachdidaktiken und die Bildungswissenschaften) mit ihren jeweiligen wissenschaftlichen Weltsichten und disziplinären Professionalisierungsperspektiven an den Hochschulen anzubahnen. Herausfordernd an diesem Vorhaben ist allerdings nach wie vor, dass diese Kompetenzen zur erfolgreichen Bewältigung der komplexen beruflichen Aufgaben in der Praxis zusammengebracht werden müssen, die Grundlegung dieser Kompetenzen in den Disziplinen aber eher unabhängig voneinander geschieht. Für die gemeinsamen Aufgaben wie das Unterrichten7 ist das unproblematisch, solange die jeweiligen Kompetenzen komplementär zueinander sind und einen je eigenen Beitrag zur Lösung unterrichtlicher Aufgaben leisten. Schwieriger wird es in den Fällen, in denen die Komplexität dieser Aufgaben in den unterschiedlichen Disziplinen zu eigenständigen parallelen Betrachtungen führt, die nicht nur während des Studiums unvermittelt nebeneinanderstehen, sondern auch in der beruflichen Praxis scheinbar gleichberechtige Orientierungsmöglichkeiten für das Handeln anbieten. Ein solcher Fall, und zwar die komplexe Planungsaufgabe als Teilaspekt des Unterrichtens im Kreislauf von Planung, Durchführung und Analyse, soll in diesem Betrag beispielhaft genauer betrachtet werden. Dabei liegt der Fokus auf dem Problem, dass es vor allem in den Didaktiken eine unüberschaubare Zahl von Planungsmodellen gibt,8 die Unterstützung bei der Lösung der Planungsaufgabe bieten sollen: Schon mit Beginn des Studiums werden Studierende insbesondere dungswissenschaftliches Lehrangebot? Eine empirische Untersuchung von Studienprogrammen an Universitäten in Nordrhein-Westfalen, Münster 2016. 6 Vgl. Brouwer, Niels / Korthagen, Fred: Can Teacher Education Make a Difference?, in: American Educational Research Journal 42,1 (2005), S. 153–224. 7 Vgl. Bauer, Johannes / Prenzel, Manfred / Renkl, Alexander: Evidenzbasierte Praxis – im Lehrerberuf ?! Einführung in den Thementeil, in: Unterrichtswissenschaft 43 (2015), S. 188– 192. 8 Vgl. Scholl, Daniel: Nach welchem Konzept der Unterrichtsplanung soll man sich richten? Zum Problem der unüberschaubaren Angebotsvielfalt der Allgemeinen Didaktik im deutschsprachigen Raum, in: Zierer, Klaus (Hg.): Jahrbuch für Allgemeine Didaktik. Thementeil: Entwicklung und Weiterentwicklung allgemeindidaktischer Modelle der Unterrichtsplanung, Baltmannsweiler 2011, S. 108–124.

Die Komplexität der beruflichen Aufgaben von Lehrerinnen und Lehrern

529

in den bildungswissenschaftlichen und fachdidaktischen Studienanteilen in diese Modelle eingeführt, allerdings in Entsprechung zur Situation in den jeweiligen Disziplinen so, dass diese Modelle noch nicht auf der Ebene des hochschulischen Angebots integriert werden, sondern erst von den Studierenden in ihren praktischen Unterrichtsversuchen. Allein diese wenigen Andeutungen zur Unterrichtsplanung im Spannungsfeld einer komplexen beruflichen Aufgabe bei gleichzeitig differenzierter, aber oft nicht verknüpfter Vorbereitung auf ihre Bewältigung in den Bildungswissenschaften und Fachdidaktiken laden dazu ein, stärker über mögliche Kooperationen und Kollaborationen in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung nachzudenken. Solch engere Formen der Zusammenarbeit könnten dazu beitragen, unter Beibehaltung der bestehenden fachlichen Strukturen mit ihren eigenen Fachkulturen und den jeweils intendierten Curricula die Chancen von interdisziplinären Projekten zu nutzen, um spezifische Lerngelegenheiten mit integrierten Perspektiven für die Vorbereitung von Lehrkräften zu finden. Während das Potenzial solcher Projekte unter anderem im Zusammenhang mit dem Einsatz von Unterrichtsvideos zur Förderung des fachlichen, fachdidaktischen und bildungswissenschaftlichen Wissens als Aspekt der Analysekompetenz in den vergangenen Jahren gründlich ausgelotet wurde,9 lässt gerade der rasante technologische Fortschritt künftig Ausweitungen solcher Projekte auch auf solche Aufgaben zu, auf deren Vorbereitung es einer Unterstützung bedarf, die nicht allein auf der Basis von Unterrichtsvideos angeboten werden kann. Die Universität Bonn, an der ich das große Glück hatte, von 2015 bis 2016 eine Professur für Allgemeine Didaktik und Theorie der Schule zu vertreten, hat sich der Herausforderung der Gestaltung von Rahmenbedingungen für eine gelingende interdisziplinäre Kooperation und Kollaboration zur Qualifikation von angehenden Lehrkräften angenommen. Um entsprechende Formen der Zusammenarbeit zu fördern, hat sie sich den Werten verpflichtet, die Lehrerinnenund Lehrerbildung durch ausdrückliche Berücksichtigung der Expertise in den jeweiligen Fächern mit ihren Kulturen sowie der Kooperation der Fächer miteinander zu gestalten.10 Anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der Neugründung der Lehrerinnenund Lehrerbildung an der Universität Bonn sollen diese Werte im vorliegenden Beitrag als Ergebnis der engen Zusammenarbeit der dortigen Disziplinen und als eine wichtige Basis für die künftige Entwicklung der Zusammenarbeit im Rahmen der Lehrerinnen- und Lehrerbildung gewürdigt werden. Dazu wird zunächst 9 Vgl. Gaudin, Cyrille / Chaliès, Sébastien: Video viewing in teacher education and professional development: A literature review, in: Educational Research Review 16 (2015), S. 41–67. 10 Vgl. Leitbild der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. URL: https://www.bzl. uni-bonn.de/organisation/170706-leitbild-lehrerbildung.pdf [Stand: 07. 04. 2021].

530

Daniel Scholl

beispielhaft für die Teilaufgabe der Unterrichtsplanung dargelegt, warum es sich bei ihr um eine komplexe Aufgabe handelt, die sich aus verschiedenen Aspekten als jeweils herausfordernd für die Lehrerinnen- und Lehrerbildung darstellt und die nach Kooperation und Kollaboration zur Entwicklung spezifischer Lerngelegenheiten verlangt. Anschließend wird ein interdisziplinäres und multiprofessionelles Kooperations- und Kollaborationsprojekt vorgestellt. Ganz im Sinne der Werte der Kooperation und der Berücksichtigung von Fachkulturen der Universität Bonn, wurde in diesem Projekt eine softwarebasierte Fördermöglichkeit zur Unterstützung von Planungsanfängerinnen und -anfängern bei der Bewältigung der komplexen Unterrichtsplanungsaufgabe entwickelt. An diesem Projekt sollen mögliche Erträge von engeren Formen der Zusammenarbeit in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung, in diesem Fall zwischen Allgemeiner Didaktik und drei Fachdidaktiken, veranschaulicht werden.

2.

Zur Komplexität von Unterricht

Unterricht gilt als ein »komplexes Geschehen […], das höchste Anforderungen an den Lehrerberuf stellt«.11 Diese Komplexität wurde in Unterrichtstheorien schon früh genauer zu beschreiben versucht:12 So besteht Unterricht aus einer großen Anzahl von Ereignissen, deren Gestaltung die Bewältigung einer Menge von Teilaufgaben notwendig macht. Diese Ereignisse und Aufgaben treten oft gleichzeitig auf und verlangen nach unmittelbaren Entscheidungen im Hier und Jetzt, wobei die Folgen der jeweiligen Entscheidungen oft nicht eindeutig vorhersagbar sind, allerdings jederzeit von allen Unterrichtsteilnehmerinnen und -teilnehmern wahrgenommen werden, sodass Unterricht seine eigene Geschichtlichkeit ausbildet, die den Rahmen für das weitere unterrichtliche Geschehen mit absteckt. Bei genauerer Betrachtung von Unterricht unter diesem Blickwinkel der Komplexität fällt schnell auf, dass auch die einzelnen unterrichtlichen Teilaufgaben selbst durch deren Komplexität gekennzeichnet sind. Diese Feststellung sei stellvertretend für die »Unterrichtsplanung als komplexe Aufgabe«13 unter ausgewählten aufgabenkomplexitätstheoretischen, kognitionspsychologischen und disziplinären Gesichtspunkten ausgeführt.

11 Dick, Andreas: Vom unterrichtlichen Wissen zur Praxisreflexion. Das praktische Wissen von Expertenlehrern im Dienste zukünftiger Junglehrer, Bad Heilbrunn 1996, S. 73. 12 Vgl. Doyle, Walter: Classroom Organization and Management, in: Wittrock, Merril C. (Hg.): Handbook of Research on Teaching, 3. Aufl., New York 1986, S. 392–431. 13 Gassmann, Claudia: Erlebte Aufgabenschwierigkeit bei der Unterrichtsplanung. Eine qualitativ-inhaltsanalytische Studie zu den Praktikumsphasen der universitären Lehrerbildung, Wiesbaden 2013, S. 108.

Die Komplexität der beruflichen Aufgaben von Lehrerinnen und Lehrern

2.1

531

Die Komplexität der Unterrichtsplanungsaufgabe

Über die unterschiedlichen Planungsansätze hinweg wird ein zentraler Aspekt der Unterrichtsplanung in der komplexen Aufgabe des lernvoraussetzungsbezogenen Treffens von Planungsentscheidungen in voneinander abhängigen Entscheidungsbereichen gesehen. Prototypisch wird dieser Aspekt im Entscheidungsmodell der Berliner Didaktik mit ihrem Prinzip der Interdependenz deutlich, das sich auf die »Wechselwirkung der Planungsmomente«14 bezieht und dazu auffordert, die einzelnen Planungsentscheidungen zu Zielen, Inhalten, Methoden und Medien widerspruchsfrei untereinander und mit den situativen und individuellen Lernvoraussetzungen zu verknüpfen. Auch international werden vergleichbare Annahmen über diese Aufgabe getroffen.15 Die interdisziplinäre Tradition der Auseinandersetzung mit einer solchen Aufgabe und ihren wechselwirkenden Entscheidungselementen hat deren Komplexität zunächst entweder als psychische Erfahrung, als Aufgabencharakteristikum oder als Interaktion zwischen Person und Aufgabe angesehen,16 bevor mit der Unterscheidung in objektive und subjektive Aufgabenkomplexität17 erste Versuche der Integration dieser Perspektiven begannen. Das gegenwärtig elaborierteste integrative Modell von Liu und Li18 synthetisiert mehrere Komplexitätsdimensionen aus einer Vielzahl bestehender Modelle und Untersuchungen. Eine Aufgabe ist demnach umso komplexer, je mehr Aufgabenkomponenten sie aufweist, je unterschiedlicher, uneindeutiger und veränderbarer diese Komponenten sind, je unzuverlässiger oder fehlleitender die vorliegenden Informationen sind, je stärker die Aufgabenkomponenten miteinander verknüpft sind, je mehr Aufgabenkomponenten sich widersprechen, je mehr neue Informationen, Störungen oder Unregelmäßigkeiten bei der Aufgabenbewältigung auftreten, je mehr kognitive oder physische Voraussetzungen die erfolgreiche Ausführung der Aufgabe beeinflussen und je höher der Zeitdruck für die Aufgabenbearbeitung ist.

14 Schulz, Wolfgang: Unterricht – Analyse und Planung, in: Heimann, Paul / Otto, Gunter / Schulz, Wolfgang (Hg.): Unterricht. Analyse und Planung, 6., bearb. Aufl., Hannover, Dortmund, Darmstadt, Berlin 1972, S. 13–47, hier S. 45. 15 Vgl. Shavelson, Richard J. / Stern, Paula: Research on Teachers’ Pedagogical Thoughts, Judgments, Decisions, and Behavior, in: Review of Educational Research 51,4 (1981), S. 455– 498. 16 Vgl. Campbell, Donald J.: Task complexity: A review and analysis, in: The Academy of Management Review 13,1 (1988), S. 40–52. 17 Vgl. Maynard, Douglas C. / Hakel, Milton D.: Effects of Objective and Subjective Task Complexity on Performance, in: Human Performance 10,4 (1997), S. 303–330. 18 Vgl. Liu, Peng / Li, Zhizhong: Task complexity: A review and conceptualization framework, in: International Journal of Industrial Ergonomics 42,6 (2012), S. 553–568.

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Daniel Scholl

Beispielhaft übertragen auf die Unterrichtsplanung, ist diese Aufgabe also komplex, weil eine größere Menge unterschiedlicher und jederzeit veränderbarer Planungsentscheidungen im Zusammenhang mit den diagnostizierten Lernvoraussetzungen zu treffen ist. Aufgrund der »Unterdeterminiertheit«19 der Unterrichtsplanung und der fortwährenden Notwendigkeit der Adaption der voneinander abhängigen Planungsentscheidungen an die jeweiligen Planungsvoraussetzungen20 sind die nicht verlässlich absehbaren Folgen potenziell unstimmiger Entscheidungen und die prinzipiellen Folgen des Handelns unter Druck21 permanente Begleiter der jeweiligen Planung.

2.2

Kognitionspsychologische Aspekte der Unterrichtsplanung

Gerade Planungsanfängerinnen und -anfänger scheinen diese Komplexität der Unterrichtsplanungsaufgabe nur mit großen Schwierigkeiten bewältigen zu können. Oft erkennen sie Zusammenhänge zwischen ihren Planungsentscheidungen nicht, weshalb sie sich in ihrem eher statischen Planungsdenken22 auf einzelne Planungsbereiche wie z. B. die Inhalte konzentrieren.23 Aus kognitionspsychologischer Perspektive liegt die Ursache für diese Schwierigkeiten als eher subjektiver Aspekt der angedeuteten Komplexität der Planungsaufgabe24 in den kognitiven Anforderungen, die das Treffen von wechselseitig aufeinander bezogenen Entscheidungen stellt. So ist im Sinne der Cognitive Load-Theorie (CLT)25 eine intrinsische kognitive Überlastung des kapazitätsbegrenzten Arbeitsgedächtnisses grundsätzlich umso wahrscheinlicher, je mehr interagierende

19 Bromme, Rainer: Die alltägliche Unterrichtsvorbereitung des (Mathematik-) Lehrers im Spiegel empirischer Untersuchungen, in: Journal für Mathematik-Didaktik 7,1 (1986), S. 3– 22, hier S. 8. 20 Vgl. Beck, Erwin / Baer, Matthias / Guldimann, Titus / Bischoff, Sonja / Brühwiler, Christian / Müller, Peter / Niedermann, Ruth / Rogalla, Marion / Vogt, Franziska: Adaptive Lehrkompetenz. Analyse und Struktur, Veränderbarkeit und Wirkung handlungssteuernden Lehrerwissens, Münster, New York, München, Berlin 2008. 21 Vgl. Wahl, Diethelm: Handeln unter Druck. Der weite Weg vom Wissen zum Handeln bei Lehrern, Hochschullehrern und Erwachsenenbildnern, Weinheim 1991. 22 Vgl. Westerman, Delores A.: Expert and Novice Teacher Decision Making, in: Journal of Teacher Education 42,4 (1991), S. 292–305. 23 Vgl. Koeppen, Kim E.: The experience of a secondary social studies student teacher: seeking security by planning for self, in: Teaching and Teacher Education 14,4 (1998), S. 401–411. 24 Vgl. Mutton, Trevor / Hagger, Hazel / Burn, Katharine: Learning to plan, planning to learn: the developing expertise of beginning teachers, in: Teachers and Teaching 17,4 (2011), S. 399– 416. 25 Vgl. Sweller, John / van Merriënboer, Jeroen J. G. / Paas, Fred: Cognitive Architecture and Instructional Design: 20 Years Later, in: Educational Psychology Review 31,2 (2019), S. 261– 292.

Die Komplexität der beruflichen Aufgaben von Lehrerinnen und Lehrern

533

Elemente bei der Bearbeitung einer bestimmten Aufgabe simultan im Gedächtnis gehalten und verarbeitet werden müssen und je geringer das Vorwissen ist.26 Müssen also bei der Begründung der jeweiligen Planungsentscheidungen Zusammenhänge mit den weiteren Entscheidungen und Planungsbedingungen, viele Planungselemente und deren Interaktionen gleichzeitig berücksichtigt und im Arbeitsgedächtnis aufrechterhalten werden (hohe Elementinteraktivität), dann sorgt dies für eine hohe intrinsische kognitive Belastung.27 Diese Belastung kann bis hin zur Überlastung des Arbeitsgedächtnisses reichen. Die Gefahr der Belastung ist dabei nicht absolut, sondern relativ zu verstehen, weil sie von dem individuellen Planungsvorwissen abhängt.28 So konnten erfahrene Lehrkräfte auf der Grundlage ihres breiten und tiefen Vorwissens und der häufigen fallbezogenen Anwendung dieses Wissens bereits entlastende Planungsroutinen und -schemata ausbilden.29 Dagegen verfügen Planungsanfängerinnen und -anfänger über diese Routinen und Schemata noch nicht. Deshalb bereitet ihnen die Belastung ihres Arbeitsgedächtnisses besondere Schwierigkeiten mit den Wechselwirkungen von Planungsentscheidungen und lässt die Planungsaufgabe aus diesen Gründen als komplex erscheinen. Gerade diese Art von subjektiver Komplexität erschwert die Bildung entlastender Routinen zusätzlich.

2.3

Disziplinäre Aspekte der komplexen Unterrichtsplanungsaufgabe

Auch wenn diese kognitionspsychologische Perspektive dort so gut wie keine Rolle spielt, wird die Unterrichtsplanung vor allem in der didaktischen Tradition zum Teil als so folgenreich für die Praxis eingeschätzt, dass ihre Qualität die gesamte Arbeit von Lehrkräften bestimme.30 Gleichzeitig zieht sich durch diese Tradition die Annahme, dass nicht nur »Unterricht […] eine überaus komplexe Erscheinung«31 sei, sondern auch die Unterrichtsplanung zu jenen komplexen Aufgaben gehöre, »in denen die Grundprobleme der Schulpädagogik wie in 26 Vgl. van Merriënboer, Jeroen J. G. / Sweller, John: Cognitive load theory and complex learning: Recent developments and future directions, in: Educational Psychology Review 17,2 (2005), S. 147–77. 27 Vgl. Schrader, Josef / Schöb, Sabine: Die Planung von Lehr-Lern-Einheiten mit digitalen Medien: Konzepte und Befunde, in: Zeitschrift für Weiterbildungsforschung 39,3 (2016), S. 331–347. 28 Vgl. Kalyuga, Slava / Ayres, Paul / Chandler, Paul / Sweller, John: The Expertise Reversal Effect, in: Educational Psychologist 38,1 (2003), S. 23–31. 29 Vgl. Yinger, Robert J. Routines in teacher planning, in: Theory Into Practice 18,3 (1979), S. 163–169. 30 Vgl. Witzenbacher, Kurt: Praxis der Unterrichtsplanung. Unterrichtsvorbereitung und Unterrichtsgestaltung, München 1994. 31 Bönsch, Manfred (1966): Grundphänomene im Unterricht. Ein Studienbuch, Bad Heilbrunn/ Obb. 1966, hier S. 7.

534

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einem Brennpunkt zusammentreffen«.32 Solche Einschätzungen haben dazu geführt, dass sich die Allgemeine Didaktik als gesamte Disziplin der Aufgabe verschrieben hat, die Unterrichtsplanung zu einem ihrer zentralen Gegenstände zu machen33 und Lehrkräften Planungsmodelle als Orientierungshilfen für die Bewältigung der Planungsaufgabe anzubieten. Dieses Angebot ist im Verlauf der Disziplingeschichte allerdings selbst zu einem Problem geworden, weil allein in der Allgemeinen Didaktik in der Bundesrepublik Deutschland seit 1945 weit über 100 didaktische Modelle entwickelt wurden, die den Anspruch erheben, als eigenständige Ansätze Unterstützung bei der Planungsaufgabe zu geben.34 Verschärft wird dieses Problem dadurch, dass die Fachdidaktiken, die Jank und Meyer35 schon vor zwei Jahrzehnten auf ca. 200 schätzten, ebenfalls entsprechende Angebote machen. Vorausgesetzt, dass diese Angebote trotz aller zum Teil begründeten Kritik an der Allgemeinen Didaktik36 ihre Berechtigung haben, offenbaren sie einen weiteren Aspekt der Komplexität der Planungsaufgabe. Dieser Aspekt liegt nicht mehr in der Planungsaufgabe oder den kognitiven Kapazitätsgrenzen ihrer Bewältigung, sondern in der Komplexität der disziplinären Perspektiven auf diese Aufgabe: Die einleitend angedeuteten curricularen Strukturen, die Theoriesituation in den Didaktiken und der andauernde Prozess der Institutionalisierung

32 Klafki, Wolfgang: Didaktische Analyse als Kern der Unterrichtsplanung, in: Roth, Heinrich / Blumenthal, Alfred (Hg.): Auswahl. Grundlegende Aufsätze aus der Zeitschrift Die Deutsche Schule, Hannover, Dortmund, Darmstadt, Berlin 1964, S. 5–34, hier S. 5. 33 Vgl. Arnold, Karl-Heinz / Koch-Priewe, Barbara: Traditionen der Unterrichtsplanung in Deutschland, in: Bildung und Erziehung 63,4 (2010), S. 401–416. 34 Vgl. Scholl, Daniel: Metatheorie der allgemeinen Didaktik. Ein systemtheoretisch begründeter Vorschlag, Bad Heilbrunn 2018. 35 Vgl. Jank, Werner / Meyer, Hilbert: Didaktische Modelle, 5. Aufl., Berlin 2002. 36 Diese Kritik bezieht sich zum Beispiel auf den Begriffsgebrauch in der Allgemeinen Didaktik (vgl. z. B. Lüders, Manfred: Gibt es Erkenntnisfortschritte in der Allgemeinen Didaktik? Ein empirischer Beitrag zur disziplinären Entwicklung der Schulpädagogik, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 21,5 (2018), S. 1083–1103.) oder die eher fehlende Evidenzbasierung didaktischer Planungsmodelle (vgl. Wernke, Stephan / Zierer, Klaus (Hg.): Die Unterrichtsplanung: Ein in Vergessenheit geratener Kompetenzbereich?! Status Quo und Perspektiven aus Sicht der empirischen Forschung, Bad Heilbrunn 2017). Auch Versuche der Entwicklung einer allgemeinen Fachdidaktik (vgl. Bayrhuber, Horst / Abraham, Ulf / Frederking, Volker / Janka, Werner / Rothgangel, Martin / Vollmer, Helmut J. (Hg.): Auf dem Weg zu einer Allgemeinen Fachdidaktik. Allgemeine Fachdidaktik, Band 1. Münster, New York 2017) oder die Orientierung der neueren Expertise- und Kompetenzforschung an Shulmans bedeutsamer Unterscheidung der Facetten des pädagogischen, fachdidaktischen und fachlichen Wissens (vgl. z. B. Shulman, Lee: Knowledge and Teaching. Foundations of the New Reform, in: Harvard Educational Review 57,1 (1987), S. 1–23), die als internationales Äquivalent zur Unterscheidung von Allgemeiner Didaktik und Fachdidaktik verstanden werden kann, erwachsen eher kritischen Sichtweisen von Allgemeiner Didaktik.

Die Komplexität der beruflichen Aufgaben von Lehrerinnen und Lehrern

535

der Fachdidaktiken37 in den theoretischen und schulpraktischen Studienanteilen der Lehrerinnen- und Lehrerbildung begünstigen, dass angehende Lehrkräfte in ihrem Studium in der Regel unterschiedliche allgemein- und fachdidaktische Planungsmodelle kennenlernen. Da diese Modelle meist unverbunden nebeneinanderstehen, müssen Studierende sie bei ihren ersten Planungsversuchen in ihren Schulpraktika eigenständig integrieren. Zum Problem wird diese Integration besonders dann, wenn die Planungsmodelle unterschiedlichen Konzepten folgen und abweichende oder sogar widersprüchliche Planungsempfehlungen geben. Bei allen Versuchen der systematischen Theoriebildung in den Disziplinen der Allgemeinen Didaktik und der Fachdidaktiken, die über eine lange Tradition miteinander verbunden sind38 – auch wenn ihre Gesprächsbereitschaft in den verschiedenen Phasen dieser Tradition theoriebedingt unterschiedlich groß war39 –, bleibt diese Integrationsaufgabe als Voraussetzung für eine Orientierung am disziplinären Wissen zur Unterrichtsplanung deshalb selbst komplex: Die Inbeziehungsetzung des disziplinären Wissens, in diesem Fall die Integration der Planungsmodelle, die eigentlich komplexitätsreduzierend wirken sollen, ist eine systematische Daueraufgabe, die sich für angehende Lehrkräfte als ähnlich schwierig erweist wie die komplexe Planungsaufgabe selbst.

3.

Konsequenzen der komplexen Unterrichtsplanungsaufgabe für die Kooperation und Kollaboration in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung am Beispiel eines Strukturentwicklungsprojekts zur Förderung der Unterrichtsplanung

Allein an diesen wenigen Hinweisen lässt sich erkennen, dass die Lehrerinnenund Lehrerbildung vor einer doppelten Aufgabe steht: Einerseits lassen die aufgabenkomplexitätstheoretischen und kognitionspsychologischen Aspekte anklingen, dass es die angehenden Lehrkräfte zu einem professionellen Komplexitätsmanagement40 zu befähigen und kognitiv entlastend auf die komplexe 37 Siehe zu diesem Prozess der Institutionalisierung der Fachdidaktiken genauer Roßa, AnneElisabeth: Zum Verhältnis von allgemeiner Didaktik und Fachdidaktik in der Lehrerbildung. Einschätzungen von Lehramtsstudierenden zur Fähigkeitsentwicklung in universitären Praxisphasen, Bad Heilbrunn 2013. 38 Vgl. Plöger, Wilfried: Allgemeine Didaktik und Fachdidaktik, München 1999. 39 Vgl. Plöger, Wilfried: Zur Entwicklung und zum gegenwärtigen Verhältnis von Allgemeiner Didaktik und Fachdidaktik – Ein Rückblick, in: Meyer, Meinert A. / Plöger, Wilfried (Hg.): Allgemeine Didaktik, Fachdidaktik und Fachunterricht, Weinheim 1994, S. 23–41. 40 Vgl. Shulman, Lee S. (Hg.): The wisdom of practice. Essays on teaching, learning, and learning to teach. San Francisco, Calif. 2004.

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Aufgabe der Unterrichtsplanung vorzubereiten gilt. Andererseits verweisen die disziplinären Aspekte darauf, die unterschiedlichen Planungsmodelle als mögliche Unterstützung beim Erlernen der Planung schon auf der Ebene des Angebots ausdrücklicher aufeinander zu beziehen und in spezifischen Lerngelegenheiten zu thematisieren. Eine basale Möglichkeit für die Bewältigung dieser zweiten Aufgabe als Voraussetzung für die Bewältigung der ersten besteht in einer engen interdisziplinären Zusammenarbeit auf Projektebene.41 Eine solche Zusammenarbeit, die in Forschungszusammenhängen eine übliche Organisationsform der Arbeit darstellt, baut auf der Annahme, dass die Kooperation,42 die modellübergreifend43 an Schulen bereits seit längerer Zeit als bedeutsamer Motor für die Schulentwicklung44 in der Trias von Organisation, Personal- und Unterrichtsentwicklung gesehen wird,45 auch für die Weiterentwicklung des Lehrangebots von Universitäten zentral ist. In Ergänzung zur Kooperation, die in der Regel eher auf eine arbeitsteilige Bearbeitung von Aufgaben mit einem gemeinsamen Ziel abhebt, könnte dabei eine besondere Chance für Projekte der Lehrerinnen- und Lehrerbildung an Hochschulen in der Kollaboration liegen, in der jeder »gleichermaßen mit seinen individuellen Kenntnissen und Fähigkeiten zur Lösung der Gesamtaufgabe« beiträgt.46 Im Folgenden wird ein Projekt vorgestellt, in dem diese Herausforderung der Kooperation und Kollaboration aufgegriffen wurde. Auf eine vergleichbare Grundlage für die Lehrerinnen- und Lehrerbildung wie an der Universität Bonn, in deren Leitbild die Kooperation zwischen den Disziplinen bei gleichzeitiger Berücksichtigung der jeweils eigenen Fachkulturen hochgeschätzt wird, baut das Projekt »DU – Digitales Unterrichtscoaching im Bachelor Combined Studies mit 41 Vgl. Krauskopf, Karsten / Frohn, Julia: Verbindungen etablieren – Ansätze für die phasenund projektübergreifende Kooperation in der Lehrerbildung auf Basis explorativer Erhebungen, in: Borowski, Andreas / Ehlert, Antje / Prechtl, Helmut (Hg.): PSI-Potsdam. Ergebnisbericht zu den Aktivitäten im Rahmen der Qualitätsoffensive Lehrerbildung (2015– 2018), Potsdam 2018, S. 307–320. 42 Vgl. z. B. Spieß, Erika: Kooperation und Konflikt, in: Schuler, Heinz (Hg.): Enzyklopädie der Psychologie, Themenbereich D, Organisationspsychologie, Göttingen 2004, S. 193–247. 43 Vgl. Köker, Anne: Bedeutungen obligatorischer Zusammenarbeit von Lehrerinnen und Lehrern. Eine neue Perspektive auf Professionelle Lerngemeinschaften, Bad Heilbrunn 2012. 44 Vgl. Fussangel, Kathrin / Gräsel, Cornelia: Forschung zur Kooperation im Lehrerberuf, in: Terhart, Ewald / Bennewitz, Hedda / Rothland, Martin (Hg.): Handbuch der Forschung zum Lehrerberuf, 2. Aufl., Münster 2014, S. 846–864. 45 Vgl. Terhart, Ewald / Klieme, Eckhard: Kooperation im Lehrerberuf – Forschungsproblem und Gestaltungsaufgabe, in: Zeitschrift für Pädagogik 52,2 (2006), S. 163–166. 46 Schmalz, Jan Sebastian: Zwischen Kooperation und Kollaboration, zwischen Hierarchie und Heterarchie: Organisationsprinzipien und -strukturen von Wikis, in: kommunikation @ gesellschaft 8 (2007), S. 1–21. URL: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0228-200708083 [Stand: 24. 02. 2021].

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Lehramtsoption«. Dieses Projekt, das durch das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur gefördert wird, wurde an der Universität Vechta als interdisziplinäre und multiprofessionelle Kooperation zwischen der Allgemeinen Didaktik, den Fachdidaktiken Geographie, Mathematik und Sport sowie dem Zentrum für Lehrerbildung und der Softwareentwicklung durch den ELAN e.V. ins Leben gerufen. Schon zu Beginn des Projekts haben sich die Mitglieder auf zwei übergreifende Projektziele verständigt: 1. Im Projekt sollte eine digital gestützte Fördermöglichkeit der Unterrichtsplanung für die (unbegleiteten) schulpraktischen Studienanteile (unter anderem im Allgemeinen Schulpraktikum im vierten Semester des Bachelorstudiums) konzipiert und umgesetzt werden. Dieses Ziel wurde auf der geteilten und evidenzbasierten Annahme formuliert, dass didaktisch sinnvoll eingesetzte (softwaregestützte) Lerntechnologien positive Effekte für die Lehre in Hochschulen haben.47 Im Ergebnis sollte deshalb eine Unterrichtsplanungssoftware entwickelt werden, die an das große Angebot an Technologien zur Unterstützung der Unterrichtsplanung48 anschließt. Die Software sollte als Plug-in in das Lernmanagementsystem Stud.IP (Studienbegleitender Internetsupport von Präsenzlehre) implementiert werden und angehende Lehrkräfte bei ihren ersten Planungsversuchen virtuell begleiten. Dieses Ziel leitete die Kooperation als arbeitsteilige Zusammenarbeit zwischen den Didaktiken (Konzeption) und dem ELAN e.V. (Softwareprogrammierung). 2. In Orientierung an den aufgabenkomplexitätstheoretischen, kognitionspsychologischen und disziplinären Aspekten der Unterrichtsplanung sollte dieses Plug-in eine kognitiv entlastende Einführung in die Bewältigung der komplexen Unterrichtsplanungsaufgabe anhand eines integrativen Planungsmodells bieten. In diesem Modell, dessen Entwicklung samt Konzeptualisierung der digitalen Planungsstruktur die Kollaboration leitete, sollten allgemeinund fachdidaktische und damit domänenübergreifende und -spezifische Fragen der Unterrichtsplanung beantwortet werden.

47 Vgl. Schmid, Richard F. / Bernard, Robert M. / Borokhovski, Eugene / Tamim, Rana M. / Abrami, Philip C. / Surkes, Michael A. / Wade, C. Anne / Woods, Jonathan: The effects of technology use in postsecondary education: A meta-analysis of classroom applications, in: Computers & Education 72 (2014), S. 271–291. 48 Vgl. z. B. Strickroth, Sven: PLATON: Developing a Graphical Lesson Planning System for Prospective Teachers, in: Education Sciences 9,4 (2019), S. 254. DOI: 10.3390/educsci9040254 [Stand: 05. 09. 2020].

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4.

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Das Plug-in zur Unterrichtsplanung als Ertrag der Kooperation und Kollaboration verschiedener Disziplinen und Professionen

Im Mittelpunkt der Anwendung als Ertrag der Einlösung der Ziele stehen ausführliche Strukturplanungen von Unterricht, die das begründete Treffen von Planungsentscheidungen im Zusammenhang von sechs Planungsbereichen unterstützen. In Anlehnung an das Berliner Planungsmodell49 sind diese Bereiche die situativen und individuellen Voraussetzungen sowie die die Intentionalität, der Inhalt, die Methodik und die Medien. Die Grundlage für diese Strukturplanungen bildet ein konsensuell erarbeitetes, integratives allgemein- und fachdidaktisches Modell50 mit einer Systematik von Planungsbereichen, die auch international anschlussfähig ist.51 Dieses Modell wurde in vier Varianten in das Plug-in aufgenommen: einer allgemein- und jeweils einer geographie-, mathematik- und sportdidaktischen. Zu Beginn der Arbeit mit dem Plug-in entscheiden die Nutzerinnen und Nutzer, mit welcher Variante sie arbeiten möchten. Sämtliche Inhalte des Plug-ins in den Varianten stellen fachdidaktische Spezifikationen der allgemeindidaktischen Variante dar, sodass es sich bei der zugrundliegenden Planungsstruktur um ein gemeinsames generisches Modell mit jeweils domänenspezifischen Planungselementen handelt. In den Varianten ist die Benutzerinnen- und Benutzeroberfläche identisch aufgebaut: Auf der Übersichtsseite eines jeden Plans werden die sechs Planungsbereiche abgebildet und durch Icons symbolisiert (Abb. 1). Diese Planungsbereiche können in selbst gewählter Reihenfolge bearbeitet werden. Innerhalb der Planungsbereiche können Freifelder mit Texteditoren zu bestimmten Aspekten angelegt werden, z. B. im Bereich individuelle Voraussetzungen u. a. zum Vorwissen, Interesse oder Lern- und Arbeitsverhalten (Abb. 2) und im Bereich Inhalt zur Sachanalyse oder zur Didaktischen Analyse (die sich wiederum weiter aufgliedern lässt). Zu jedem der sechs Planungsbereiche und ihren einzelnen Aspekten liefert die Anwendung Informationsbausteine mit kurzen Definitionen und Erläuterungen am rechten Seitenrand. Auf Basis dieses integrativen Planungsmodells besteht die zentrale Funktion des Plug-ins darin, ein iconbasiertes, strukturiertes Unterstützungssystem für 49 Vgl. Heimann, Paul / Otto, Gunter / Schulz, Wolfgang (Hg.): Unterricht. Analyse und Planung, 6. Aufl., Hannover 1972. 50 Vgl. Scholl, Daniel / Küth, Simon / Flath, Martina / Lathan, Hannah / Schwarz, Björn / Wolters, Petra / Rheinländer, Kathrin / Schüle, Christoph: Zum Konstrukt der Planungskompetenz in allgemein- und fachdidaktischen Ansätzen, in: Zierer, Klaus (Hg.): Jahrbuch für Allgemeine Didaktik 2019. Thementeil: Allgemeine Didaktik und Fachdidaktik, Baltmannsweiler 2020, S. 75–91. 51 Vgl. Friesen, Norm: Lesson Planning. Anglo-American perspectives, in: Bildung und Erziehung 63,4 (2010), S. 417–430.

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Abb. 1: Die sechs Planungsbereiche des Plug-ins Unterrichtsplanung.

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interdependente Planungsentscheidungen zur Reduktion der intrinsischen kognitiven Belastung anzubieten. In jedem der sechs Planungsbereiche werden an gleicher Stelle die jeweils anderen fünf Bereiche angezeigt, die durch die entsprechenden Icons dargestellt werden (Abb. 2, rechts oben). Diese Icons können in einem Ampelsystem eingefärbt werden, um zu überprüfen, inwieweit die Entscheidungen im gerade bearbeiteten Planungsbereich mit bereits getroffenen Entscheidungen in den anderen Bereichen abgestimmt wurden. Eine entsprechende Ikonographie gibt es außerdem in der Planübersicht: Dort verweist die Einfärbung auf bisher unbeachtete (rot), einseitig mitgedachte (gelb) und vollständig berücksichtigte (grün) Zusammenhänge. Mithilfe dieses Systems wird versucht, die hohe Komplexität der Unterrichtsplanungsaufgabe und die damit einhergehende hohe Belastung des Arbeitsgedächtnisses zu reduzieren: Die Unterrichtsplanungsaufgabe mit ihrer hohen Elementinteraktivität (gleichzeitige Berücksichtigung aller Zusammenhänge zwischen den Entscheidungen in den Planungsbereichen) wird in viele Teilaufgaben aufgelöst (bilaterale Entscheidungen im Verhältnis von zwei Planungsbereichen), die flexibel und nacheinander bearbeitet werden können (eine Art des sogenannten part-whole sequencing52). Durch diese Auflösung und erst zunehmende Steigerung der Elementinteraktivität der Planungsaufgabe sollte – das wird über die anstehende Evaluation der Software bald empirisch ermittelt – die Anzahl der Elemente, die während einer Planungsentscheidung simultan im Arbeitsgedächtnis aufrechterhalten werden müssen, verringert werden, ohne dadurch die Dynamik des Planungsdenkens in einer Linearität eines Planungsalgorithmus aufzulösen. So sollte es mit der Unterstützung dieses Selbstkontrollsystems zum Beispiel leichter fallen, adaptive Zielentscheidungen durch die Abstimmung von lernbereichsspezifischem Vorwissen und Kompetenzzielen zu treffen und diese Entscheidungen zunehmend angemessen begründet mit exemplarischen Unterrichtsinhalten zu verknüpfen.

5.

Schluss

Mit der Unterrichtsplanung wurde in diesem Beitrag nur ein Beispiel für eine der komplexen Aufgaben von Lehrkräften besprochen. Dennoch lassen sich aus der angenommenen Komplexität dieser Aufgabe Herausforderungen für die Lehrerinnen- und Lehrerbildung ableiten, deren Bewältigung interdisziplinäre Formen der Zusammenarbeit als notwendig erscheinen lassen. Eine exemplari52 Gerjets, Peter / Scheiter, Katharina / Catrambone, Richard. Designing Instructional Examples to Reduce Intrinsic Cognitive Load: Molar versus Modular Presentation of Solution Procedures, in: Instructional Science 32,1/2 (2004), S. 33–58.

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Abb. 2: Ausschnitt aus dem Planungsbereich individuelle Voraussetzungen.

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sche Form einer solchen Zusammenarbeit wurde dabei mit der Entwicklung des Unterrichtsplanungs-Plug-ins vorgestellt, das eine spezifische Lerngelegenheit für unbegleitete Schulpraktika gerade für Planungsanfängerinnen und -anfänger bietet: Mit seinem allgemein- und fachdidaktischen integrativen Modell und seinem System der komplexitätsreduzierenden Zergliederung der Planungsaufgabe könnte es eine kognitiv entlastende Lernmöglichkeit für die Unterrichtsplanung bieten – und das bei einer differenzierten, aber gleichzeitig aufeinander bezogenen Berücksichtigung unterschiedlicher disziplinärer Perspektiven auf die Planungsaufgabe. Auch wenn dieses Projekt nicht an der Universität Bonn durchgeführt wurde, bekräftigt es indirekt einen der zentralen Werte des dortigen Leitbildes der Lehrerinnen- und Lehrerbildung: die interdisziplinäre Kooperation in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung bei gleichzeitiger Berücksichtigung der jeweiligen fachlichen Kulturen. Dass ein solches Leitbild neben den Chancen dieser intensiven Formen der Zusammenarbeit auch mit weiteren Herausforderungen für die Abstimmung von unterschiedlichen Sichtweisen einhergehen kann, scheint aufgrund des Wissens über gelingende Kooperation und Kollaborationen53 unumgänglich. Dass mit diesem Leitbild aber auch ein so wichtiger Wert auf institutioneller Ebene etabliert wurde, durch den diese Formen der Zusammenarbeit mit entsprechenden Erträgen begünstigt werden,54 die die Annahme dieser Herausforderungen rechtfertigen, scheint für eine zukunftsträchtige Entwicklung der Lehrerinnen- und Lehrerbildung in Anbetracht der notwendigen Vorbereitung auf die komplexen beruflichen Aufgaben ebenso gewiss.

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53 Vgl. Vangrieken, Katrien / Dochy, Filip / Raes, Elisabeth / Kyndt, Eva: Teacher collaboration: A systematic review, in: Educational Research Review 15 (2015), S. 17–40. 54 Vgl. Main, Katherine Mary: A Year Long Study of the Formation and Development of Middle Years’ Teaching Teams, 2007. URL: http://hdl.handle.net/10072/366879 [Stand: 07. 04. 2021].

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Thomas Mikhail

Kultivierung einer pädagogischen Denkungsart im Lehramtsstudium. Zum Konzept »pädagogischer Handlungsqualität«

Einleitung An kaum einen Beruf werden derart viele und vielfältige Anforderungen gestellt wie an den des Lehrers. Neben den klassischen Aufgaben des Unterrichtens und Erziehens werden in den »Standards für die Lehrerbildung« der Kultusministerkonferenz das Beurteilen und Innovieren als weitere (Kern-)Kompetenzbereiche ausgewiesen. Hinzu kommen Aufgaben der Beratung von Schülern wie Erziehungsberechtigten, was den Lehrpersonen Wissen und Kompetenzen aus den Bereichen der Psychologie und Kommunikationstheorie abverlangt. Die zunehmende Inklusion an Schulen erfordert den Umgang mit einer durch Diversität und Heterogenität geprägten Schülerschaft, wofür sonder- und heilpädagogisches, teils medizinisches Wissen nötig ist. Der gerade während der Pandemie augenscheinlich gewordene Bedarf an digitalen Kompetenzen kommt ebenso hinzu wie juristisches Wissen, das stellenweise als »blinder Fleck«1 in der Lehrerbildung betrachtet wird. Mit dieser Vielfalt an Anforderungen geht beinahe zwangsläufig eine inhaltliche Fragmentierung in der Lehrerbildung einher. Diese äußert sich darin, dass viele Lehramtsstudierende »ihr Studium als wenig kohärent wahrnehmen und dadurch nur bedingt eine sinnhaft zusammenhängende Wissensstruktur aufbauen können«.2 Die im Studium erworbenen wissenschaftlichen Kenntnisse und Einsichten bleiben nicht selten als singuläre Wissensinhalte nebeneinander bestehen, sodass häufig kein Transfer auf die und in die Berufspraxis erfolgen kann. Was nach Karen Hammerness fehle, sei ein zusammenhangstiftendes ›Leitbild‹ (im Original »vision«), d. h. eine vernetzende Perspektive, in der die 1 Füssel, Hans-Peter: Recht – ein blinder Fleck in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung, in: Cramer, Colin / König, Johannes / Rothland, Martin / Blömeke, Sigrid (Hg.): Handbuch Lehrerinnen- und Lehrerbildung, Bad Heilbrunn 2020, S. 114–122. 2 Hellmann, Katharina / Kreutz, Jessica / Schwichow, Martin / Zaki, Katja: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Kohärenz in der Lehrerbildung. Theorien, Modelle und empirische Befunde, Wiesbaden 2019, S. 1.

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vielfältigen Wissensinhalte im Hinblick auf die Anforderungen im Lehrerberuf (»good teaching«) gebunden werden können.3 Ein solch zusammenhangstiftendes Leitbild scheint auch mit Blick auf aktuelle Professionalisierungsdebatten gefordert.4 Wenn man – wie Werner Helsper – davon ausgeht, dass zur Beschreibung professionellen pädagogischen Handelns nur solche Modelle angemessen erscheinen, die »von einer selektiven Verwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse nach Praxisbelangen«5 ausgehen, dann ist damit die Frage nach einem Kriterium aufgeworfen, das erst eine solche Selektion ermöglicht. Jede Selektion setzt ja ein Kriterium voraus, woran mindestens zwei Optionen bewertet werden. Allerdings kann dies nur ein einziges Kriterium sein, woran Lehrer ihr Wissen selektieren, weil eine Pluralität an Kriterien wieder nur dazu nötigen würde, unter diesen dasjenige auszuwählen, das für die konkrete Handlungssituation als angemessen erscheint. Die Problemstellung einer inhaltlichen Segregation spitzt sich so auf die Frage zu, welches Kriterium bzw. – nach Hammerness – welches Leitbild das angemessene ist, um im Lehramtsstudium zur Anwendung zu kommen? Welche ›Vision‹ soll gelehrt werden, um einerseits Studierenden die Möglichkeit einer inhaltlichen Kohärenz bieten zu können sowie andererseits prospektiv als Selektionskriterium bei der Ausübung ihrer Profession zu dienen? Als dieses Leitbild bzw. Selektionskriterium wird im Folgenden ›das Pädagogische‹ vorgeschlagen und im Hinblick auf seine Bedeutung für die Lehrerbildung entfaltet. Vor diesem Hintergrund gliedern sich die nachfolgenden Überlegungen in vier Schritte: Zunächst wird eine praxeologische Differenzierung nach Josef Derbolav vorgenommen, mit der sich ›das Pädagogische‹ als Leitbild des Lehrerberufs legitimieren lässt (1.). Nach dieser Legitimation wird geklärt, was ›das Pädagogische‹ überhaupt ist, d. h. weshalb es wie begrifflich gefasst werden kann (2.). Hierzu rekurriere ich auf das Konzept »Pädagogische Handlungsqualität«, das an anderen Stellen bereits ausführlich entfaltet und begründet wurde.6 In einem dritten Schritt wird für ausgewählte Bereiche exemplarisch skizziert, wie sich ›das Pädagogische‹ im Lehramtsstudium kultivieren lässt (3.), bevor abschließend organisatorische Herausforderungen benannt werden (4.). 3 Hammerness, Karen M.: From coherence in theory to coherence in practice, in: Teachers College Record 108,7 (2006), pp. 1241–1265. 4 Vgl. Helsper, Werner: Professionalität und Professionalisierung pädagogischen Handelns. Eine Einführung, Opladen, Toronto 2021. 5 Ebd., S. 136. 6 Vgl. Mikhail, Thomas: Zur Legitimation von Maßgaben pädagogischen Handelns. Unterwegs zu einer transzendental-pragmatischen Pädagogik (TRAPP), in: Breinbauer, Ines / Krause, Sabine (Hg.): Im Raum der Gründe. Einsätze theoretischer Erziehungswissenschaft IV, Würzburg 2015, S. 99–118; Mikhail, Thomas: Pädagogisch handeln. Theorie für die Praxis, Paderborn 2016 sowie Mikhail, Thomas: Erziehungswissenschaft zwischen Syntaktik, Semantik und Pragmatik, in: Pädagogische Rundschau, 6 (2016), S. 659–674.

Kultivierung einer pädagogischen Denkungsart im Lehramtsstudium

1.

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Das Pädagogische als Leitidee in der Lehrerbildung

Es ist beinahe trivial, den Lehrerberuf der pädagogischen Berufsgruppe zuzuordnen – weshalb es zunächst erstaunlich ist, dass aktuell die weitaus größten Studienanteile auf die Fachwissenschaften entfallen und sich mittlerweile die Psychologie als »vorherrschende Bezugswissenschaft« in der Lehrerbildung »weitgehend durchgesetzt« hat.7 Komplizierter wird diese Zuordnung, wenn man sie nicht einfachhin als Konvention hinnimmt, sondern wenn sie gerechtfertigt werden soll. Warum soll das Pädagogische im Zentrum des Lehrerberufs stehen und damit als Leitbild der Lehrerbildung dienen? Eingangs wurden bereits unterschiedliche Aufgaben benannt, deren Liste sich noch verlängern lässt, insbesondere wenn man die Schule als Arbeitsplatz näher betrachtet.8 Zunächst ist die Schule eine gesellschaftliche Einrichtung, die maßgeblich von (bildungs-)politischen Entscheidungen abhängt, um das ordnungspolitische System zu stabilisieren. Bei der Verbeamtung leistet der Lehrer nach juristischer Vorgabe einen Diensteid, wodurch er zu Übernahme hoheitlicher Aufgaben wie der Erfüllung des staatlichen Erziehungsauftrags, dem Erteilen von Zensuren oder dem Ausstellen von Zeugnissen berechtigt ist. Nach gesellschaftlicher und v. a. elterlicher Erwartung werden an ihn hohe moralische Anforderungen gestellt. Lehrer sollen Schüler nicht einfach nur zu guten Menschen erziehen, sondern zugleich auch selbst moralisch gut mit den Heranwachsenden umgehen. In den 1970er Jahren hat Josef Derbolav ein Analyseinstrument entwickelt, mit dem sich die menschliche Gesamtpraxis »nach konstitutiven, d. h. voneinander grundsätzlich unterschiedenen, einander notwendig ergänzenden und sachlich unentbehrlichen Aufgaben«9 differenzieren lässt. Diese von ihm so bezeichnete »Praxeologie«10 erlaubt eine Verortung der Schulfunktionen sowie der Aufgaben des Lehrers, die nicht naiv-fraglos oder vorschnell das Pädagogische in den Mittelpunkt rücken, sondern es in einem »multiplen Gefüge« von elf unterschiedlichen »gesellschaftlichen Bedürfnissen« und »Notständen« betrachten.11 7 Criblez, Lucien: Wozu Pädagogik? Zum Funktionswandel der Pädagogik in der Lehrerbildung, in: Beiträge zur Lehrerinnen- und Lehrerbildung 20,3 (2002), S. 300. 8 Vgl. Nieskens, Birgit: Der Arbeitsplatz Schule, in: Rothland, Martin (Hg.): Beruf Lehrer / Lehrerin. Ein Studienbuch, Münster, New York 2016, S. 33–48. 9 Derbolav, Josef: Pädagogik und Politik. Eine systematisch-kritische Analyse ihrer Beziehungen. Mit einem Anhang zur »Praxeologie«, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1975, S. 91. 10 An dieser Stelle soll nicht verschwiegen werden, dass Derbolavs Verständnis von Praxeologie zwar nicht fundamental, aber doch erheblich von dem abweicht, was darunter aktuell in der Soziologie (z. B. bei Andreas Reckwitz), aber auch in der pädagogischen Professionalisierungsforschung (bei Fritz Bohnsack) verstanden wird. 11 Derbolav: Pädagogik und Politik, S. 94.

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Als Teil der menschlichen Gesamtpraxis erfüllt die Institution Schule nicht nur eine Aufgabe, sie befriedigt nicht nur ein gesellschaftliches Bedürfnis, sondern wird von gleich mehreren ›reguliert‹. Die elf Einzelpraxen können, so Derbolav in seinem subtilen Begründungsverfahren, nach »regulativen Ideen« unterschieden werden, die sich »naturwüchsig« aus grundlegenden gesellschaftlichen Notständen ergeben und gleichsam zu deren Überwindung beitragen.12 So folgt die medizinische Praxis der Idee der Gesundheit, die ökonomische derjenigen des Wohlstands, die ästhetische dem zweckfrei Schönen, die politische dem Regulativ des Gemeinwohls, die moralische Praxis dem Sittlichen und die pädagogische Praxis der Idee gebildeter Selbstbestimmung.13 Betrachtet man die Geschichte der Schule von ihren Anfängen in Mesopotamien mit den sog. Tafelhäusern bis ins digitale Zeitalter mithilfe dieser praxeologischen Strukturtheorie, lässt sich feststellen, dass sich ihre Funktionen und Aufgabenzuschreibungen mitunter beträchtlich gewandelt haben bzw. unterscheiden.14 Mal schrieb man ihr die Funktion der Rekrutierung fähiger junger Verwaltungsbeamter zu, mal diente sie der Vorbereitung auf den Kriegsdienst, mal zur Stabilisierung des politischen Ordnungssystems, bei Kurt Hahn hatte sie vornehmlich eine therapeutische Funktion, um die nachwachsende Generation von den Krankheiten der Gesellschaft zu ›heilen‹, zeitweise wurde sie sogar – namentlich bei Melanchthon – als »Abbild«15 des Paradieses bzw. als dessen irdische Vorwegnahme betrachtet. Es ist nur konsequent, dass sich angesichts dieser Vielfalt an Funktionen, für die jeweils eine andere regulative Idee konstitutiv ist, die Aufgaben des Lehrerberufs ebenso wandeln und vervielfältigen. Zugleich bietet Derbolavs Praxeologie die Möglichkeit, nach dem gesellschaftlichen Bedürfnis bzw. nach dem koexistenziellen Notstand zu fragen, der über allen Wandel hinweg durchgängig die Funktion von Schule sowie die Aufgaben des Lehrerberufs mitbestimmt haben muss bzw. bis heute immer noch mitbestimmt. Hierbei fällt auf, was Theodor Ballauf einleitend, gleichsam zusammenfassend in seiner historisch-systematischen Untersuchung zu den »Funktionen der Schule« für die pädagogische Aufgabe feststellt: »Wie auch immer diese Funktion in der Schule entstellt wurde, wieviele Einwände vorgebracht wurden – immer mußte zu dieser Funktion zurückgekehrt werden, wollte man nicht die Schule überflüssig machen«. Und er fügt hinzu: »Soviel auch gegen »Bildung« gesagt worden ist – es hat sich herausgestellt, daß nicht ohne sie

12 Ebd. 13 Vgl. ebd., S. 95f. 14 Vgl. Ladenthin, Volker / Mikhail, Thomas: Schule, in: Staatslexikon. Hg. von der GörresGesellschaft, 8. Auflage, Freiburg i. Br. 2021, Sp. 2–24. 15 Schwab, Hans-Rüdiger: Philipp Melanchthon. Der Lehrer Deutschlands. Ein biographisches Lesebuch, München 1997, S. 177.

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auszukommen ist und daß alle Ersatzbegriffe wie Lernen, Qualifikation u. a. Gefahr laufen, um das zu betrügen, was doch jeweils versprochen wird.«16 In praxeologischer Perspektive ist die Schule die einzige gesellschaftliche Einrichtung, in der das gesellschaftliche Bedürfnis nach gebildeter Selbstbestimmung – sogar vor dem Elternhaus, elementarpädagogischen Einrichtungen und der Hochschule – befriedigt werden kann bzw. in deren Zentrum das Pädagogische ›vernetzend‹ steht. Während Elternhaus und Kindergarten weitaus stärker disziplinierende, kustodiale und/oder fürsorgliche Funktionen erfüllen, während die Hochschule – nach Derbolav – maßgebend von der »Szientistik«17 reguliert wird, ist das Proprium der Schule die pädagogische Idee der Bildung. Zwar gehen in die Schule auch Ideen anderer Einzelpraxen ein, sodass auch diese ausgeübt und folglich deren Ausübung im Lehramtsstudium erlernt werden muss; zwar scheint das pädagogische Bedürfnis von diesen anderen Ideen beeinflusst, allerdings durch keine ersetzt werden zu können. Mit dieser praxeologischen Legitimation des Pädagogischen als maßgebende Idee bzw. als Leitbild für den Lehrerberuf stimmen auch aktuelle professionstheoretische Überlegungen überein. So identifiziert beispielsweise Helsper sechs Momente, die professionelles Handeln charakterisieren, wozu er sowohl die Zuordnung des Handlungskomplexes zum »Gesamtzusammenhang von Dienstleistungen am Menschen« als auch einen »universalistischen Anspruch« zählt, der aus der ›Behandlung‹ von existenziellen »Krisensituationen« erwächst.18 Beide professionstheoretischen Aspekte, durch die Helsper auch den Lehrerberuf charakterisiert sieht, finden sich bereits in Derbolavs Praxeologie als Verortung des Pädagogischen als Teil menschlicher Gesamtpraxis, der aus einem gesellschaftlichen Bedürfnis bzw. einer Notlage resultiert. Derbolavs Perspektive bietet jedoch den Vorteil, das Pädagogische (i. S. der Krisenbewältigung) als Leitbild des Lehrerberufs zu legitimieren, dabei aber zugleich auch andere Aufgaben im Blick zu behalten und sie so auf das zentrale Moment der Professionstätigkeit beziehen zu können.

16 Ballauff, Theodor: Funktionen der Schule. Historisch-systematische Analysen zur Scolarisation, Köln, Wien 1984, S. 5. 17 Deren Naturwüchsigkeit und regulative Idee sieht Derbolav in der »Verwunderung« und im »Streben nach Wahrheit« begründet; Derbolav, Josef: Die politische Strukturtheorie zwischen Wissenschaftspluralismus und Ideologiekritik, in: Ders. (Hg.): Kritik und Metakritik der Praxeologie, im besonderen der politischen Strukturtheorie, Kastellaun 1976, S. 15. 18 Helsper, Werner: Professionalität und Professionalisierung, S. 19f.

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2.

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»Pädagogische Handlungsqualität« als Leitbild der Lehrerbildung

Wenn die Legitimation des Pädagogischen im Sinne eines bestimmenden Leitbildes des Lehrerhandelns plausibel erscheint, stellt sich nun die Frage, was unter ›dem Pädagogischen‹ konkret vorzustellen ist. Eine Ausbuchstabierung der Idee des Pädagogischen liegt mit dem Konzept »Pädagogische Handlungsqualität« vor. Dabei handelt es sich um den Versuch, den Begriff des Pädagogischen durch ein transzendental-pragmatisches Verfahren zu begründen. Die Transzendentalpragmatik ist ein von Karl-Otto Apel entwickelter sprachanalytischer Ansatz, der sich im Rückgriff auf C. S. Peirce und L. Wittgenstein insbesondere mit der Konstitution der Sozialwissenschaften auseinandersetzt.19 Dabei führt sie den von Immanuel Kant vertretenen wissenschaftstheoretischen Anspruch fort, dass Wissenschaften auf Grundsätze bzw. Prinzipien angewiesen sind (bei Kant ›synthetische Urteile a priori‹), durch die erst ein ›sicherer Gang‹ des Erkennens gewährleistet werden kann. Im Vordergrund des Konzepts »Pädagogische Handlungsqualität« steht die Analyse solcher Grundsätze für (zwischenmenschliche) Sprachhandlungen, die – auch sensu Derbolav – als pädagogische bestimmt und damit gleichsam von anderen Handlungsformen wie medizinischen, politischen, juristischen etc., aber auch fürsorglichen oder disziplinierenden unterschieden werden können. Herleiten lässt sich die Bestimmung des Pädagogischen zunächst mittels eines heuristischen Schemas, das historisch auf F. D. E. Schleiermacher zurückgeht und durch drei Dimensionen charakterisiert ist: durch eine anthropologische, eine teleologische und eine methodische Dimension.20 In den Begriff des Pädagogischen geht demnach erstens eine grundsätzlich bestimmte Vorstellung des Menschen ein als dem ›Objekt‹ pädagogischer Behandlung; zweitens liegt dem Pädagogischen immer auch eine Zielperspektive zugrunde (gr. télos – Ziel), die mit pädagogischem Handeln verfolgt wird; drittens ist das Pädagogische durch eine spezifische Art und Weise des Handelns charakterisiert, womit das Ziel in Ansehung des Menschenbildes auch erreicht werden kann. Ohne hier allerdings eine ausführliche Begründung der transzendental-pragmatischen Methode zu leisten, soll sie lieber – bezogen auf die Schule – zum Einsatz kommen. Gesucht werden also drei Grundsätze für eine genuin pädagogische Vorstellung vom Menschen, für eine pädagogische Zielperspektive sowie für eine spezifisch pädagogische Methode, die zusammengenommen pädagogisches Handeln von anderen Handlungsformen abgrenzen. 19 Vgl. v. a. Apel, Karl-Otto: Transformation der Philosophie, Band 2: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, 7. Auflage, Frankfurt am Main 2015, S. 155ff. 20 Vgl. Schurr, Johannes: Schleiermachers Theorie der Erziehung, Düsseldorf 1975, S. 55.

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Der anthropologische Grundsatz des Pädagogischen kann mit dem Begriff der Bildsamkeit bestimmt werden. Bildsamkeit meint dabei, die Schüler in ihrer prinzipiellen Unbestimmtheit, in ihrer Verständnisfähigkeit und in ihrer Vernunftbegabung in den Blick zu nehmen. Um pädagogisch handeln zu können, muss man Schüler vorstellen, als ob sie verstehen, als ob sie anerkennen, aber auch als ob sie bestreiten können, was man ihnen sagt. Kurzum: Man muss sie vorstellen, als ob sie frei wären. Das klingt zunächst nach einem hehren moralischen Anspruch. Freiheit bzw. Bildsamkeit werden im pädagogischen Vollzug aber immer schon vorausgesetzt. Immer wenn der Lehrer den Schülern etwas erklärt, wenn er ihnen etwas zeigt, wenn er Fragen stellt und damit zum Antworten auffordert, dann hat er die Schüler bereits in deren Bildsamkeit vorgestellt – ob ihm das situativ bewusst ist oder nicht. Im Erklären, Zeigen und Fragen setzt er ja voraus, dass die Schüler die Sachverhalte verstehen und einsehen können. Er hat sie im Blick, als ob die Schüler das Erklärte und Gezeigte anerkennen, als ob sie auf seine Fragen plausibel antworten können. Er setzt aber ebenso voraus, dass die Schüler die Sache ganz anders sehen können als er selbst, dass sie diese anders bewerten, dass sie sich auch anders entscheiden können, als er das vielleicht von ihnen wünschen oder sogar erwarten mag. – Beide Stoßrichtungen, sowohl die mögliche Anerkennung als auch der potenzielle Widerspruch, setzen die Vorstellung voraus, dass die Schüler weder durch biologische Faktoren noch durch soziale Einflüsse determiniert seien. Zweifellos muss man den Menschen in Bezug auf andere Handlungsformen anders vorstellen. Der Mediziner z. B. betrachtet den Menschen notwendig als Organismus, also unter kausalen Verhältnissen. Ein Richter hat den Delinquenten immer auch in seiner sozialen Determination im Blick, um in der Schuldfrage zu urteilen, beispielsweise im Fall der Strafminderung angesichts problematischer Lebensumstände. Aber der für pädagogisches Handeln konstitutive Charakter der Bildsamkeit wird sofort offenkundig, sobald man versucht, einen anderen davon zu überzeugen, dass der Mensch so oder anders vorzustellen sei. Denn sobald man einen anderen überzeugen will, kommt man nicht umhin, diesen vorzustellen, als ob er das Gesagte einsehen und anerkennen oder aber ablehnen und bestreiten kann. Jeder Widerspruch gegen diese anthropologische Vorstellung des Pädagogischen, jede Leugnung, sobald sie artikuliert wird, stellt denjenigen, den man von der Falschheit überzeugen oder besser: den man über die Falschheit der Bildsamkeit belehren will, vor, als ob er bildsam sei. Weil die Schüler beim Erklären, Zeigen und Fragen so in den Blick kommen (müssen), als ob sie bildsam seien, besteht das Ziel dieser Maßnahmen im selbstbestimmten Umgang mit dem Erklärten, Gezeigten und Gefragten. Selbstbestimmung meint dabei nichts anderes als das Selberdenken, Selberwerten

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und Selberentscheiden des Gegenübers.21 Der andere soll ja etwas lernen, d. h. sich Wissen, Kompetenzen oder Fertigkeiten aneignen. Bereits die Rede von Wissen, Kompetenz und Fertigkeit impliziert aber, dass jemand etwas weiß, dass jemand über Kompetenzen verfügt, dass jemand etwas kann. Dieser andere, und allein dieser andere selbst, kann und soll wissen, werten und entscheiden lernen. Darauf abzielenden Handlungen ist der Grundsatz der Selbstbestimmung immer schon denknotwendig inhärent. Das teleologische Prinzip der Selbstbestimmung meint dabei das Gegenteil von bloßem Meinen oder Glauben, ebenso das Gegenteil von Kadavergehorsam und willenloser Abhängigkeit. Wer pädagogisch handelt, setzt gerade nicht voraus, dass das Erklärte oder Gezeigte einfach vom Gegenüber geglaubt werden soll. Schüler sollen nicht glauben, dass die Fläche des Hypotenusenquadrats in rechtwinkligen Dreiecken der Summe der Kathetenquadrate entspricht. Sie sollen vielmehr selbst einsehen, dass und weshalb es sich so verhält. Genau aus diesem Grund und nur unter der Voraussetzung von Selbstbestimmung erklärt oder zeigt man den Schülern etwas, legt es mit Gründen dar, führt Beispiele an, sagt es nochmals mit anderen Worten. Im pädagogischen Handeln will der Lehrer, dass die Schüler etwas selbst einsehen, etwas selbst als wertvoll erachten, damit sie sich selbstbestimmt entscheiden lernen, um ihr Leben eigenverantwortlich gestalten zu können. Dieses Telos ist der pädagogischen Handlungsform nicht etwa als wohlmeinendes Zubrot beigegeben, sondern geradezu als wesentliches Charakteristikum eingeschrieben. Selbstbestimmung als Zielperspektive bestimmt pädagogisches Handeln freilich nicht nur in sachlich-unterrichtlicher, sondern gleichsam in moralischerzieherischer Hinsicht: Wenn ein Lehrer einen Schüler dazu anhält, pünktlich zu sein, wenn er ihm die Vorteile des Pünktlichseins und die Nachteile des Verspätens darlegt, dann zielt dieses Handeln nicht allein darauf, den Unmut des Lehrers oder eine Bestrafung zu vermeiden. Vielmehr soll doch der Schüler bei aller argumentativen Erklärung selbst den Wert der Pünktlichkeit einsehen. Er soll selbst entscheiden lernen und später selbst entscheiden können, in welchen Situationen Pünktlichkeit geboten, in welchen ein anderer Wert vorzuziehen ist. Denn wer nur darauf getrimmt wurde, stets pünktlich (in der Schule) zu sein, der muss zwangsläufig die ältere Person, die einen Schlaganfall erlitten hat, auf dem Bordstein alleine liegen lassen, wenn er ihr auf dem Schulweg begegnet.22

21 Vgl. Heitger, Marian: Bildung als Selbstbestimmung, hg. von Winfried Böhm und Volker Ladenthin, Paderborn 2004. 22 Zur Differenz von »Werteerziehung« und »Werterziehung« und der darin maßgebenden Relativität von Werten sowie ihrer Bedeutung für pädagogisches Handeln vgl. Rekus, Jürgen: Bildung und Moral. Zur Einheit von Rationalität und Moralität in Schule und Unterricht, Weinheim 1993, S. 96ff.

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Selbstbestimmung als teleologischer Grundsatz pädagogischen Handelns lässt sich schlichtweg nicht widerlegen oder leugnen. Auch der Widerlegungsversuch bzw. das Leugnen dieses Urteils setzt jemanden voraus, der widerlegt bzw. leugnet. Dem Widerlegen bzw. Leugnen muss aber Selbstbestimmung ebenso logisch vorausgesetzt werden, damit es als erhobener Geltungsanspruch überhaupt zugeschrieben und ihm somit der Möglichkeit nach zugestimmt oder dieser bestritten werden kann. Weder beim Zustimmen noch beim Bestreiten bewegen sich lediglich unsere Lippen und setzt sich unser Sprechapparat in Gang, ohne dass der Sprechende darüber bestimmt, dass und v. a. welche Geltungsansprüche mit dem Sprechen erhoben werden. Selbstbestimmung ist auch dann noch unhintergehbare Voraussetzung pädagogischen Handelns, wenn die neuere Hirnforschung nachzuweisen sucht, dass sie lediglich eine Illusion unseres Gehirns sei. Zumindest der Hirnforscher wird eine solche Aussage nur unter der Voraussetzung von Selbstbestimmung tätigen können.23 Andernfalls müsste er sich auf den widersprüchlichen Standpunkt zurückziehen: »Ich als Gehirn sage, dass mein Gehirn mir etwas vorgaukelt.« Letztlich kann die methodische Dimension pädagogischen Handelns mit dem Grundsatz der Dialogizität ausgewiesen werden. Sie ist mit den Beispielmaßnahmen des Erklärens, Zeigens und Fragens bereits implizit angedeutet. Diesen Maßnahmen liegt die Voraussetzung zugrunde, dass pädagogisches Handeln zwar einerseits interpersonal strukturiert, aber andererseits nicht im Sinne einer kausalen Relation fundiert ist. Pädagogische Maßnahmen sind Aufforderungshandlungen, allerdings Aufforderungen eigener Art.24 Die dialogische Eigenart pädagogischer Aufforderung zeigt sich in Kontrast zu solchen Aufforderungshandlungen, mit denen der Anspruch auf unbedingte Verbindlichkeit einhergeht. Letztere Aufforderungen lassen dem Schüler keine andere Wahl, als der durch den Lehrer fremdgesetzten Aufforderung nachzugehen bzw. nachzukommen. Pädagogische Aufforderungshandlungen zeichnen sich dagegen dadurch aus, dass der Schüler vor die Wahl gestellt wird, selbst zu bestimmen, ob und v. a. weshalb er der Aufforderung nachkommen soll. Unter der einen wie unter der anderen Voraussetzung (unbedingte vs. optionale Verbindlichkeit) gestaltet sich die Aufforderungshandlung unterschiedlich: im ersten Fall befehlend, im zweiten argumentierend. Unter Voraussetzung 23 Vgl. Zunke, Christine: Kritik der Hirnforschung. Neurophysiologie und Willensfreiheit, Berlin 2008. 24 Zur Spezifik eines pädagogischen Verständnisses von Aufforderungshandlungen und damit einhergehenden Problemen und Einwänden vgl. Benner, Dietrich: Allgemeine Pädagogik. Eine systematisch-problemgeschichtliche Einführung in die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns, 7. Auflage, Weinheim, Basel 2012, S. 82ff. sowie kritisch Langewand, Alfred: Über die Schwierigkeit, Erziehung als Aufforderung zur Selbsttätigkeit zu begreifen, in: Zeitschrift für Pädagogik 2 (2003), S. 274–289.

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unbedingter Verbindlichkeit geht es darum, den eigenen Geltungsanspruch durchzusetzen (»Das ist so!« oder »Mach das jetzt!«). Unter Voraussetzung von Dialogizität geht es darum, den Schüler zur Prüfung des eigenen Geltungsanspruchs aufzufordern; also aufzufordern, darüber nachzudenken, ob eine Aussage richtig oder eine Handlung geboten ist. Dialogizität bedeutet demzufolge, die Schüler intentional zum Selberdenken, Selberwerten und Selberentscheiden aufzufordern. Auch Dialogizität als methodischer Grundsatz des Pädagogischen lässt sich nicht bestreiten, ohne in einen Selbstwiderspruch zu geraten. Denn falls jemand die Richtigkeit dieser Voraussetzung bestreiten und für seine Widerlegung Zuspruch erhalten wollte, dann könnte er dies nur, indem er mit demjenigen, den er von der Falschheit der Dialogizität überzeugen wollte, in ein dialogisches Verhältnis träte. Er müsste mit Argumenten, mit Erklärungen und Beispielen zeigen, dass die Dialogizität als methodische Voraussetzung pädagogischen Handelns falsch ist. Aber gerade in diesem Versuch müsste er selbst wiederum Dialogizität bei seinem Überzeugungs- bzw. Belehrungsversuch voraussetzen. Er hätte mit seiner Performanz bestätigt, was er in propositionaler Hinsicht, also mit seinem Aussageinhalt, zu bestreiten vorgibt. Um diese transzendentalpragmatischen Überlegungen auf eine prägnante Formulierung zu bringen: Wer pädagogisch handelt oder handeln möchte, muss notwendig den Menschen in den Blick nehmen, als ob er bildsam sei, um ihn durch dialogische Argumentation zum Selberdenken, Selberwerten und Selberentscheiden aufzufordern. Diese Begriffsbestimmung lässt sich weiterhin zu der Formel verdichten: Pädagogisches Handeln ist die Aufforderung zur Prüfung von Geltungsansprüchen.

3.

Das Pädagogische als Denkungsart in der Lehrerbildung

Mit der transzendentalpragmatischen Bestimmung des Pädagogischen als Aufforderung zur Prüfung von Geltungsansprüchen ist selbstverständlich noch nichts über konkrete Maßnahmen im Schulalltag ausgesagt. Wer diese Bestimmung und ihre Begründung im Lehramtsstudium gelernt hat, steht immer noch vor der Frage, was daraus für die künftige Ausübung des Lehrerberufs folgt. Dennoch sind mit der Bildsamkeit, Selbstbestimmung und Dialogizität drei Grundsätze gewonnen, die das Nachdenken über zukünftige Berufstätigkeit konturieren sowie orientieren. Die Vorstellung von Schülern als bildsam, die im Dialog zum Selberdenken, Selberwerten und Selberentscheiden aufgefordert werden (sollen), begründet

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zunächst ein »sphärenspezifisches Ethos«.25 Erst ein solches Ethos im Sinne einer berufsspezifischen (Gesamt-)Haltung charakterisiert – daran lässt die (pädagogische) Professionsforschung keinen Zweifel – eine professionelle Lehrperson im Unterschied zu einer lediglich routinierten.26 Während sich der routinierte Lehrer quasi mechanisch-regelhaft verhält, kann der professionelle Lehrer angesichts der Einzigartigkeit der Personen und Einmaligkeit der Situationen handeln. Handeln im Unterschied zu Verhalten erscheint aber nur möglich, wenn man sich reflexiv auf Grundsätze stützt und nicht in rezeptologischen Anweisungen oder Gewohnheiten steckenbleibt. Nach einer Unterscheidung Kants könnte man formulieren, der routinierte, gewohnheitsmäßige Lehrer habe eine »Sinnesart«, der professionelle brauche eine auf Grundsätze gestützte »Denkungsart«.27 Es bleibt die Frage, wie man ein solches Ethos gewinnt. Oder besser: Wie lässt sich eine pädagogische Denkungsart im Lehramtsstudium kultivieren? Es erscheint, wie gesagt, nicht auszureichen, sich die Formel »das Pädagogische ist die Aufforderung zur Prüfung von Geltungsansprüchen« auswendig zu lernen und sich dann nur noch zu merken. Stattdessen wäre es – hält man am Pädagogischen als Leitbild der Lehrerbildung fest – die zentrale Aufgabe, sowohl a) die Funktion der Schule, b) die Planung und Vorbereitung von Unterricht als auch c) den Umgang mit Schülern orientiert an den Grundsätzen der Bildsamkeit, Selbstbestimmung und Dialogizität zu reflektieren. Möglichkeiten einer solchen Kultivierung sollen hier exemplarisch skizziert werden: Zu a) In bildungswissenschaftlichen Lehrveranstaltungen könnte in historischen Durchgängen analysiert werden, welch vielfältige, eben nicht-pädagogischen Funktionen der Institution zugewiesen wurden. Gerade die Schulgeschichte bietet einen Fundus an Beispielen, wann und wie Schule für ökonomische, militärische, politische oder weltanschauliche Zwecke instrumentalisiert wurde. Die Vorstellung einer pädagogisch ambitionierten, auf Beförderung der Selbstbestimmung der Schüler hin ausgerichtete Schulorganisation kann sich in Kontrastierung zu anderen ›Verzweckungen‹ wesentlich deutlicher ausprägen denn als ›reine Idee‹. Kritisch bzw. diskursanalytisch könnte aber auch aus Anlass aktueller bildungspolitischer Papiere herausgearbeitet werden, welche Menschenbilder in aktuelle Schulkonzeptionen und schulische Organisationstheorien eingehen und welche Folgen dies für den gesellschaftlichen Diskurs,

25 Schimank, Uwe / Volkmann, Ute: Das Regime der Konkurrenz. Gesellschaftliche Ökonomisierungsdynamiken heute, Weinheim, Basel 2017, S. 40. 26 Helsper: Professionalität und Professionalisierung, S. 20. 27 Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, in: Ders.: Werkausgabe in 12 Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 4, Frankfurt am Main 1974, S. 501.

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aber auch für den faktischen Umgang mit Schülern hat.28 So lohnt es sicherlich darüber diskutieren, welchen Unterschied es macht, ob die Schule die ›Employability‹ der Schüler fördern solle und diese damit unterschwellig zum Humankapital degradiert oder sie eben in ihrem Vermögen zur verantwortlichen Selbstbestimmung bestärken möchte. Auch das heute geläufige Label der »Lernfabrik 4.0«, das sich Berufsbildende und Gewerbliche Schulen gerne anheften, könnte daraufhin geprüft werden, inwiefern es damit um die Vorstellung einer ›Produktion‹ von Wissen oder sogar eines bestimmten Menschentyps geht. Zur Kultivierung einer pädagogischen Denkungsart würde beitragen, dass nicht-pädagogische Funktionszuweisungen und Menschenbilder zunächst in ihrer Differenz zu den Grundsätzen der Bildsamkeit, Selbstbestimmung und Dialogizität markiert, darüber hinaus aber auch – zum Beispiel in wissenschaftlichen Arbeiten – Möglichkeiten ihrer Integration bzw. vielmehr Transformation in eine pädagogisch legitime und plausible Organisationsstruktur der Schule konstruktiv gewendet werden würden. Zu b) Konzepte der Unterrichtsplanung und -vorbereitung sind heute (beinahe fraglos) beherrscht vom Modell der Kompetenzorientierung. Die in den Bildungsund Kernlehrplänen detailliert beschriebenen und konkretisierten Bildungsstandards werden häufig als Zielvorgabe herangezogen und nach Erkenntnissen der Lehr-Lernforschung in solche Unterrichtssequenzen übersetzt, die in möglichst kurzer Zeit einen möglichst hohen Learning Outcome erwarten lassen. Selbstverständlich müssen bildungswissenschaftliche Lehrveranstaltungen ein solches (fach-)didaktisches und Lehrplanwissen zur Verfügung stellen bzw. thematisieren. Mit pädagogischem Leitbild könnte man allerdings nicht beim Erwerb des sogenannten »pedagogical content knowledge« und »curriculum knowledge« stehenbleiben. Um eine pädagogische Denkungsart zu kultivieren, bedürfte es zudem einer kritischen Auseinandersetzung mit der Kompetenzorientierung im Allgemeinen29 sowie dessen Funktion für die Unterrichtsvorbereitung im Besonderen.30 Hierfür würden insbesondere die Grundsätze der Selbstbestimmung und Dialogizität als kritische Prüfsteine herangezogen werden müssen. Reflektiert werden müssten die ausgewählten Unterrichtsinhalte beispielsweise hinsichtlich ihres Bildungswerts für die Schüler genau dieser oder jener Klasse. Ist das Kri28 Vgl. Standop, Jutta / Röhrig, Ernst Daniel / Winkel, Raimund (Hg.): Menschenbilder in Schule und Unterricht, Weinheim, Basel 2017. 29 Vgl. Krautz, Jochen: Kompetenz statt Bildung? Kompetenzorientierung ist keine Lösung, sondern das Problem, in: Ladenthin, Volker / Nostadt, Anja / Ders. (Hg.): Weniger ist weniger. G8 und die Kollateralschäden. Analysen und Materialien, Bonn 2016, S. 85–97. 30 Vgl. Mikhail, Thomas: Entwicklung »Pa¨ dagogischer Handlungsqualita¨ t« in der Lehrer*innenbildung, in: Böhme, Jeanette / Cramer, Colin / Bressler, Christoph (Hg.): Erziehungswissenschaft und Lehrerbildung im Widerstreit!? Verhältnisbestimmungen, Herausforderungen und Perspektiven, Bad Heilbrunn 2018, S. 201–210.

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terium für seine Auswahl »personal-sozial«, »beruflich-pragmatisch« oder »kulturell-gesellschaftlich« ausgerichtet?31 Diese kritischen Differenzierungen sollen weder zur Unterschlagung der Potenziale und noch weniger zur Ablehnung der Kompetenzorientierung führen. Vielmehr kann eine pädagogische Denkungsart insofern kultiviert werden, als Unterschiede als solche erst erkannt werden. Lehramtsstudierende sollen also unterscheiden lernen, um sich zukünftig im Beruf verantwortlich entscheiden zu können. Was für die Reflexion der Inhaltsauswahl gilt, gilt analog für die Unterrichtsgestaltung. Bildungswissenschaftliche Lehrveranstaltungen könnten z. B. zwischen verschiedenen Handlungsformen differenzieren. Ausgehend von einer dialogischen Aufforderung zur Prüfung von Geltungsansprüchen können eine »Durchsetzung von Geltungsansprüchen« (Instruktion) sowie eine »Aufforderung zum Erheben eigener Geltungsansprüche« (explorative Lernphasen) unterschieden und auf ihre pädagogische sowie lernökonomische Bedeutung für Unterricht bezogen werden.32 Zu c) Die pandemische Situation hat das Lehrer-Schüler-Verhältnis vor enorme Herausforderungen gestellt, insbesondere was die Frage nach angemessener Beziehungsgestaltung in einer digitalen Unterrichtsumgebung angeht. Um eine pädagogische Denkungsart zu kultivieren, käme bildungswissenschaftlicher Lehre die Aufgabe zu, Möglichkeiten und Grenzen eines digitalen Unterrichtsdialogs zu erforschen. Dass die Person des Lehrers durch (digitale) Lernmittel ersetzt wird oder aktuell ersetzt werden muss, ist freilich keine ›Erfindung‹ von heute; sie ist bereits angelegt im mittelalterlichen Katechismusunterricht, der in der Reformationszeit seinen Höhepunkt erreichte. Dabei wurde allerdings nie die Frage nach der Bedeutung der Dialogizität gestellt – nach pädagogischer ›Vision‹ wäre aber dies die entscheidende Frageperspektive. So könnten in der Lehrerbildung grundsätzlich, aber auch (in Studienprojekten) fach-, mithin situationsspezifisch Möglichkeiten eines digitalen Unterrichts reflektiert, erforscht und erprobt werden; eines digitalen Unterrichts allerdings, der explizit pädagogischen Ansprüchen einer dialogischen Gestaltung genügt. Ein zentraler inhaltlicher Aspekt für die Kultivierung eines pädagogischen Leitbildes stellt die schulische Erziehung bzw. der Erziehungsauftrag der Schule dar. Vor dem Hintergrund der Ausweitung eines schulischen Ganztags und der damit zwangsläufig steigenden (sozial-)pädagogischen Funktion wird dieser Bereich künftig für Lehrer immer relevanter. In der Lehrerbildung sollte daher 31 Vgl. Esslinger-Hinz, Ilona u. a.: Der ausführliche Unterrichtsentwurf, Weinheim, Basel 2013, S. 51. Grundlagen einer explizit pädagogisch begründeten Lehrplantheorie hat Volker Ladenthin vorgelegt: Lernen – Lehrplan – Lehre. Zur Rekonstruktion pädagogischer Grundbegriffe, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 1 (2012), S. 14–29. 32 Eine ausführliche Begründung für diese dreifache Differenzierung findet sich in Mikhail, Thomas: Pädagogisch handeln, S. 211ff.

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– wie es auch in den KMK-Standards festgelegt wurde – ein Akzent auf die kritische Reflexion erziehungstheoretischer Ziele in einer pluralistischen Gesellschaft gelegt werden. Gerade was den Aspekt der Werterziehung anbelangt, sind die theoretischen Fundamente der gängigen Konzepte enorm heterogen.33 Pädagogisch betrachtet wären diese Konzepte daher auf die Frage zu beziehen, inwiefern sie dem Ziel der Selbstbestimmung der Schüler Rechnung tragen. Welche Werte sind pädagogisch legitim? Was bedeutet überhaupt pädagogische Legitimität von Werten? Wie sind Erziehungsprozesse zu gestalten, in denen Schüler selbst die moralische Gültigkeit von Werten prüfen lernen sollen? Pädagogische Denkungsart wird dadurch kultiviert, dass diese Fragen überhaupt erst aufgeworfen werden; dass Studierende in eine normkritische Sichtweise eingeführt werden, die die Schulwirklichkeit (mit ihren politischen und juristischen Vorgaben, gesellschaftstypischen und zeitdiagnostischen Merkmalen) zwar als gegebene versteht, diese aber zugleich im Hinblick auf mögliche und verantwortbare Transformationen reflektiert.

4.

Das Pädagogische als Leitbild in der Lehrerbildung?

Auch wenn man der Legitimation des Pädagogischen als Leitbild sowie den skizzierten Möglichkeiten seiner Umsetzung in der bildungswissenschaftlichen Lehre zustimmen mag – offen bleibt die Frage nach einer standortspezifischen Hochschulorganisation. Virulent wird diese Frage insbesondere im Hinblick auf die curriculare Abstimmung der an der Lehrerbildung beteiligten Fakultäten, Institute und/oder Fachbereiche, letztlich der einzelnen Dozenten. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die ausgeführten Überlegungen lassen nicht den Schluss zu, die Bildungswissenschaften wären den Fachwissenschaften, Fachdidaktiken sowie den anderen beteiligten Disziplinen wie der Psychologie und Lehr-Lernforschung hierarchisch übergeordnet. Ein Plädoyer für ein pädagogisches Leitbild in der Lehrerbildung betrifft nicht nur in erster Linie, sondern ausschließlich eine Aufgabe und Herausforderung für die Bildungswissenschaften. Die Bildungswissenschaften, sofern das Pädagogische ihr Proprium ist, das von keiner anderen Disziplin abgenommen oder an diese delegiert werden könnte, wäre in diesem Sinne – wie Karen Hammerness fordert – jene vernetzende und zugleich integrative Lehrinstanz, auf die hin alle weiteren und für den Lehrerberuf notwendigen Inhalte und Kompetenzen auf die einheitliche Perspektive bezogen und in der als Denkungsart in dieser Perspektive gebunden werden könnten. Insofern bedürfte es also gar keiner wie auch 33 Vgl. Standop, Jutta: Werte in der Schule. Grundlegende Konzepte und Handlungsansätze, 2. Auflage, Weinheim, Basel 2016.

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immer hierarchisch organisierten Restrukturierung der Lehramtsstudiengänge, sondern ›lediglich‹ einer konsensuellen Anerkennung dieses Leitbildes innerhalb der Bildungswissenschaften. Aber selbst dies dürfte – erfahrungsgemäß – überaus herausfordernd sein.

Literatur Apel, Karl-Otto: Transformation der Philosophie. Band 2: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, 7. Auflage, Frankfurt am Main 2015. Ballauff, Theodor: Funktionen der Schule. Historisch-systematische Analysen zur Scolarisation, Köln, Wien 1984. Benner, Dietrich: Allgemeine Pädagogik. Eine systematisch-problemgeschichtliche Einführung in die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns, 7. Auflage, Weinheim, Basel 2012. Criblez, Lucien: Wozu Pädagogik? Zum Funktionswandel der Pädagogik in der Lehrerbildung, in: Beiträge zur Lehrerinnen- und Lehrerbildung 20,3 (2002), S. 300–318. Derbolav, Josef: Pädagogik und Politik. Eine systematisch-kritische Analyse ihrer Beziehungen. Mit einem Anhang zur »Praxeologie«, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1975. Derbolav, Josef: Die politische Strukturtheorie zwischen Wissenschaftspluralismus und Ideologiekritik, in: Ders. (Hg.): Kritik und Metakritik der Praxeologie, im besonderen der politischen Strukturtheorie, Kastellaun 1976, S. 9–48. Esslinger-Hinz, Ilona / Wigbers, Melanie / Giovannini, Norbert / Hannig, Jutta / Herbert, Leonore / Jäkel, Lissy / Klingmüller, Christine / Lange, Bernward / Neubrech, Nadine / Schnepf-Rimsa, Elke: Der ausführliche Unterrichtsentwurf, Weinheim, Basel 2013. Füssel, Hans-Peter: Recht – ein blinder Fleck in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung, in: Cramer, Colin / König, Johannes / Rothland, Martin / Blömeke, Sigrid (Hg.): Handbuch Lehrerinnen- und Lehrerbildung, Bad Heilbrunn 2020, S. 114–122. Hammerness, Karen M.: From coherence in theory to coherence in practice, in: Teachers College Record 108,7 (2006), S. 1241–1265. Heitger, Marian: Bildung als Selbstbestimmung, hg. von Winfried Böhm und Volker Ladenthin, Paderborn 2004. Hellmann, Katharina / Kreutz, Jessica / Schwichow, Martin / Zaki, Katja: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Kohärenz in der Lehrerbildung. Theorien, Modelle und empirische Befunde, Wiesbaden 2019, S. 1–8. Helsper, Werner: Professionalität und Professionalisierung pädagogischen Handelns. Eine Einführung, Opladen, Toronto 2021. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, in: Ders.: Werkausgabe in 12 Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 4, Frankfurt am Main 1974. Krautz, Jochen: Kompetenz statt Bildung? Kompetenzorientierung ist keine Lösung, sondern das Problem, in: Ladenthin, Volker / Nostadt, Anja / Ders. (Hg.): weniger ist weniger. G8 und die Kollateralschäden. Analysen und Materialien, Bonn 2016, S. 85–97. Ladenthin, Volker: Lernen – Lehrplan – Lehre. Zur Rekonstruktion pädagogischer Grundbegriffe, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 1 (2012), S. 14–29.

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Kerstin Helker

Das Konzept »Herausforderungen« als Training in Ungewissheit – Zukunftsperspektiven für die Schulpraxis

1.

Einleitung

Dass die Zukunft unvorhersehbar ist, ist keinesfalls eine Erkenntnis, die wir erst in der aktuellen SARS-CoV-2-Pandemie gewonnen haben, jedoch wurde sie durch eben jene sehr bestärkt. Schon zuvor haben Forscher:innen darauf hingewiesen, dass aktuelle weltweite soziale, politische und ökonomische Entwicklungen neue Herausforderungen für Bildung und Erziehung Heranwachsender darstellen.1 Die Fridays for Future-Bewegung hat hier eindrücklich vor Augen geführt, dass sich der Großteil der Heranwachsenden insbesondere der mit dem Klimawandel verbundenen Herausforderungen sehr bewusst ist. Plakate wie »Wofür Bildung, wenn es keine Zukunft gibt?« (bei einem Fridays for Future-Protest in Salzwedel) verdeutlichen, dass fehlende Zukunftsperspektiven den wahrgenommenen Nutzen von Lernen negieren und motivational wirksam werden können. »Die wahre Ursache für mangelndes akademisches Engagement bei Lernenden ist, dass junge Generationen die Zukunft nicht als etwas sehen, das sie anstreben, sondern eher als etwas, vor dem sie fliehen sollten.«2 Moderne und zukunftsfähige Lernumgebungen müssen also, so wird in diesem Beitrag argumentiert, Lernenden nicht nur Kompetenzen, sondern auch Perspektiven für den Umgang mit Ungewissheit in ihrer persönlichen, schulischen und beruflichen Zukunft und nachhaltiges Handeln aufzeigen. Das Konzept Herausforderungen stellt solche Lernumgebungen dar. Entsprechend nimmt dieser Beitrag die Fragen der Nachhaltigkeit, einer Bildung für nachhaltige Entwicklung in den Blick und geht auf die Frage ein, wie moderne und zukunftsfähige Lernumgebungen für nachhaltiges Lernen aussehen 1 Vgl. z. B. Lerkkanen, Marija-Kristiina / Pakarinen, Eija: The role of parental beliefs and practices in children’s motivation in a changing world, in: Gonida, Eleftheria N. / Lemos, Marina S. (Hg.): Motivation in Education at a Time of Global Change: Theory, Research, and Implications for Practice, Bingley 2019, S. 151–167. 2 Morselli, Davide: The olive tree effect: Future time perspective when the future is uncertain, in: Culture and Psychology 19,3 (2013), S. 305–322, hier S. 312, Übersetzung KH.

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können. Da die Schaffung von Lernumgebungen, die organisatorisch und pädagogisch gerahmte Ungewissheit bieten, sowohl in Schule als auch Hochschule Einzug hält und sich in ersten Studien als gewinnbringend darstellt, wird besonderes Augenmerk auf die aktuelle Umsetzung und Nutzbarmachung von überfachlichen und fachspezifischen Herausforderungen als Lerngelegenheiten für eine nachhaltige Bildung wie auch Bildung für nachhaltige Entwicklung gelegt.

2.

Nachhaltigkeit – eine Anforderung an das Lehren und Lernen?

Auch wenn die Auseinandersetzung mit Nachhaltigkeitsfragen erst in den letzten Jahren zunehmende Aufmerksamkeit erfuhr, ist die Debatte keineswegs neu. Schon 1962 betonte Rachel Carson in ihrem Werk Silent Spring,3 dass die technischen Mittel, die wir einsetzen, um die Kräfte der Natur zu nutzen, auf Dauer die Grundlagen unserer Existenz untergraben. Dennoch wird die Veröffentlichung des Brundtland-Berichts4 im Jahr 1987 gemeinhin als Ausgangspunkt der Nachhaltigkeitsdiskussion angesehen. Sie brachte die Umwelt-Bewegung auf eine neue Ebene im Sinne einer geteilten Verantwortung, einer zeitlichen Dimension, aber auch der Idee, dass sowohl gegenwärtige als auch zukünftige Generationen spezifische Bedürfnisse haben werden: »Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne die Fähigkeit künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.«5 Dabei werden nicht mehr lediglich Umweltaspekte, wie Artensterben, Klimawandel und Ressourcenverteilung als zukünftige Herausforderungen angesehen, sondern auch Fragen nach Migration und Digitalisierung, deren Lösung ebenfalls gesellschaftlicher Veränderungsprozesse bedarf. Nachhaltiges, d. h. umwelt- und generationengerechtes Verhalten stellt aber auch ein soziales Dilemma dar. Es ist ein Konflikt zwischen unmittelbarem Eigeninteresse und längerfristigen kollektiven Interessen6 und bedeutet, dass zwar jedes Individuum mehr von der Situation profitieren würde, wenn es nicht kooperierte und die Auswirkungen des ökologisch inkorrekten Verhaltens eines Einzelnen minimal sind,7 aber dass es der Gemeinschaft langfristig besser ginge, 3 Vgl. Carson, Rachel: Silent Spring, Boston 1962. 4 Brundtland-Kommission / United Nations: Our Common Future, Oxford 1987, o.S., http:// www.un-documents.net/wced-ocf.htm [Stand: 16. 09. 2021]. 5 Ebd. 6 Vgl. z. B.: Van Lange, Paul A. M. / Joireman, Jeff / Parks, Craig D. /Van Dijk, Eric: The psychology of social dilemmas: A review, in: Organizational Behavior and Human Decision Processes 120 (2013), S. 125–141. 7 Vgl. Joireman, Jeff: Environmental Problems as Social Dilemmas: The Temporal Dimension, in: Strathman, A. / Joireman, Jeff (Hg.): Understanding Behavior in the Context of Time – Theory, Research, and Application, Mahwah 2005, S. 289–304.

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wenn alle kooperierten, anstatt ihrem eigenen Vorteil oder ihrer Bequemlichkeit zu folgen.8 Auch Kate Raworth stellt in ihrem Konzept des Doughnuts9 heraus, dass nachhaltige Entwicklung soziale Bedürfnisse berücksichtigen muss. Es verwundert daher nicht, dass Probleme im Zusammenhang mit Nachhaltigkeitsfragen, wie sie von den Vereinten Nationen in ihren 17 Nachhaltigkeitszielen beschrieben werden, manchmal als »wicked«,10 also als »hinterhältig« bezeichnet werden. Nach Lönngren haben diese Probleme gemeinsam, dass das Verständnis des Problems nicht vom Verständnis der Lösung getrennt werden kann, es nicht eine einzige richtige Lösung gibt, sondern mehrere verschiedene Wege, das Problem anzugehen, die nicht immer miteinander kompatibel sind. Eine Lösung kann zu einem Zeitpunkt günstig, zu einem anderen Zeitpunkt aber höchst problematisch sein, jedes Problem ist neu und einzigartig, da es immer in einen einzigartigen Kontext eingebettet ist und Lösungen auf dieser Basis sorgfältig entwickelt werden müssen. Zusätzlich müssen für jedes Problem konkurrierende Wertesysteme und Ziele berücksichtigt werden, da Probleme und Lösungen mehrere Interessengruppen betreffen. Im Zusammenhang mit diesen Nachhaltigkeitszielen und -problemen wurden die sogenannten »Grand Challenges«, also große Herausforderungen, beschrieben, die zwingend angegangen werden müssen, um die Lebensbedingungen für die Menschheit im kommenden Jahrhundert zu verbessern.11

3.

Bildung für nachhaltige Entwicklung

Auch in den Schulen ist diese Forderung bereits angekommen. Der im Anschluss an die UN-Dekade »Bildung für nachhaltige Entwicklung« verfasste Orientierungsrahmen für den Lernbereich Globale Entwicklung hat zum Ziel, »Bildungsqualität in unseren Schulen [zum] Fundament zukunftsfähiger Entwick-

8 Vgl. Dawes, Robyn / Messick, David M., Social Dilemmas, in: International Journal of Psychology 35,2 (2000), S. 111–116, zitiert nach Milfont, Taciano L. / Wilson, Jessie / Diniz, Pollyane: Time perspective and environmental engagement: A meta-analysis, in: International Journal of Psychology 47,5 (2012), S. 325–334. 9 Raworth, Kate: A safe and just space for humanity. Can we live within the doughnut? Oxfam discussion papers, 2012; Raworth, Kate: A Doughnut for the Anthropocene: humanity’s compass in the 21st century. The Lancet Planetary Health 1,2 (2017), S. 48f. 10 Lönngren, Johanna: Engineering Students’ Ways of Relating to Wicked Sustainability Problems, (Licentiate Thesis, Chalmers University of Technology), Gothenburg 2014. 11 Rådberg, Kamilla K. / Lundqvist, Ulrika / Malmqvist, Johan / Svensson, Oskar H.: From CDIO to challenge-based learning experiences – expanding student learning as well as societal impact? European Journal of Engineering Education 45,1 (2020), S. 22–37.

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lung«12 zu machen und einen stärkeren Realitäts- und Zukunftsbezug fachlicher Inhalte zu fördern. So soll durch eine Verbindung von Wissen und Handeln eine Teilhabe von Schüler:innen an nachhaltigen, gesellschaftlichen Veränderungen ermöglicht werden, indem Lernende Kompetenzen erwerben, die ihnen erlauben, mit verschiedenen Herausforderungen, seien es Situationen, Personen oder Lerndesiderate, umzugehen und Lösungen zu entwickeln, die die vielfältigen verschiedenen Interessen (aktueller wie zukünftiger Generationen) in den Blick nehmen.13 Die Umsetzung des Bildungskonzepts Bildung für nachhaltige Entwicklung stellt die Frage in den Mittelpunkt, welche Kompetenzen Lernende heute brauchen, um den Herausforderungen in ihrer persönlichen, schulischen und beruflichen Zukunft zu begegnen, und auf welche Weise welche Lerngelegenheiten geschaffen werden müssen, um diese Kompetenzen und die notwendigen Wissensbestände zu entwickeln und zu fördern. De Haan und Bormann haben ein zentrales und bis heute wirksames Konzept für einen derartigen Ansatz beschrieben, in dem sie Gestaltungskompetenz als ein Zusammenwirken dreier Bereiche mit jeweiligen Unterkompetenzen ausgearbeitet haben: Sach- und Methodenkompetenz 1. Weltoffen und neue Perspektiven integrierend Wissen aufbauen; 2. Vorausschauend denken und handeln; 3. interdisziplinär Erkenntnisse gewinnen; 4. Risiken, Gefahren und Unsicherheiten erkennen und abwägen können; Sozialkompetenz 5. Gemeinsam mit anderen planen und handeln können; 6. An Entscheidungsprozessen partizipieren können; 7. Sich und andere motivieren können, aktiv zu werden; 8. Zielkonflikte bei der Reflexion über Handlungsstrategien berücksichtigen können; Selbstkompetenz 9. Die eigenen Leitbilder und die anderer reflektieren können; 10. Selbstständig planen und handeln können; 12 Kultusministerkonferenz (KMK) / Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ): Orientierungsrahmen für den Lernbereich Globale Entwicklung im Rahmen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung, Bonn 2016, S. 16. 13 Vgl. Di Giulio, Antonietta / Künzli David, Christine / Defila, Rico: Bildung für nachhaltige Entwicklung und interdisziplinäre Kompetenzen – Zum Profil von Lehrkräften, in: Bormann, Inka / De Haan, Gerhard (Hg.): Kompetenzen der Bildung für nachhaltige Entwicklung. Operationalisierung, Messung, Rahmenbedingungen, Befunde, Wiesbaden 2008, S. 179–197.

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11. Empathie und Solidarität für Benachteiligte zeigen können; 12. Vorstellungen von Gerechtigkeit als Entscheidungs- und Handlungsgrundlagen nutzen können.14 Die von der Kultusministerkonferenz als Teil des Orientierungsrahmens zum Lernbereich Globale Entwicklung15 beschriebenen Kompetenzen (Erkennen, Bewerten, Handeln) zeigen Gemeinsamkeiten mit denen von de Haan, indem beide einen vernetzten und systemischen Wissenserwerb und übergreifende Wissensbestände in den Mittelpunkt stellen. Diese Sichtweise wird auch von anderen Ansätzen geteilt, die Ungewissheit als Lerngelegenheit nutzbar machen wollen, etwa das Lernen an Herausforderungen, in welchem sowohl Lernziele als auch Methoden zum Erreichen dieser Ziele von den Lernenden festgelegt werden. Insofern entspricht das Bildungskonzept den Anforderungen an moderne und zukunftsfähige Lernumgebungen, auf die im Folgenden weiter eingegangen wird.

4.

Moderne und zukunftsfähige Lernumgebungen

Die Forderung nach »powerful learning environments«16 ist keinesfalls völlig neu oder gar erst mit dem Konzept einer Bildung für nachhaltige Entwicklung propagiert worden. Bereits vor etwa 25 Jahren wiesen verschiedene Autor:innen darauf hin, dass moderne Gesellschaften Schul- und Universitäts-Abgänger:innen benötigten, die nicht nur über eine spezifische Wissensbasis verfügen, sondern auch in der Lage sind, komplexe Probleme effizient zu lösen.17 Soziale, wirtschaftliche, ökologische und medizinische Herausforderungen sind – wie oben

14 De Haan, Gerhard: Gestaltungskompetenz als Kompetenzkonzept einer Bildung für nachhaltige Entwicklung, in: Bormann, Inka / De Haan, Gerhard (Hg.): Kompetenzen der Bildung für nachhaltige Entwicklung. Operationalisierung, Messung, Rahmenbedingungen, Befunde, Wiesbaden 2008, S. 23–43. – Eine Erweiterung dieses Konzeptes haben de Haan und Kolleg:innen 2008 unter dem Titel: Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit – Grundlagen und schulpraktische Konsequenzen im Springer-Verlag publiziert. 15 KMK / BMZ: Orientierungsrahmen für den Lernbereich Globale Entwicklung, S. 90ff. 16 De Corte, Eric: Toward powerful learning environments for the acquisition of problemsolving skills. European Journal of Psychology of Education 5,1 (1990), S. 5–19. 17 Vgl. z. B. Engel, Charles E.: Not just a method but a way of learning, in: Boud David / Feletti, Grahame (Hg.): The challenge of problem-based learning, London 1997, S. 17–27; Gagné, Ellen D. / Yekovich, Carol Walker / Yekovich, Frank R.: The cognitive psychology of school learning, New York 1993; Segers, Mien: An alternative for assessing problem-solving skills: The overall test, in: Studies in Educational Evaluation 23,4 (1997), S. 373–398; Gijbels, David / Dochy, Filip / van den Bossche, Piet / Segers, Mien: Effects of Problem-Based Learning: A Meta-Analysis From the Angle of Assessment, in: Review of Educational Research 75,1 (2005), S. 27–61.

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bereits beschrieben – komplex, offen und unklar definiert.18 Entsprechend wird betont, dass Arbeitnehmer:innen der Zukunft die Fähigkeit benötigen, in multidisziplinären Teams zu arbeiten und Technologie kreativ zu nutzen, um komplexe regionale, nationale und globale Probleme zu lösen. Ziel sei es, soziale Krisen zu minimieren und den Nutzen für Zielgruppen oder die Gesellschaft als Ganzes zu optimieren.19 Dazu gehören die sogenannten 21st century skills, die von Rios und Kolleg:innen definiert wurden als »eine Kombination aus kognitiven (z. B. nicht-routinemäßiges Problemlösen, kritisches Denken, Metakognition), interpersonellen (d. h. sozialen) und intrapersonellen (d. h. emotionalen, selbstregulierenden) Fähigkeiten, die formbar sind (d. h. potenziell auf Interventionen reagieren) und über die Zeit relativ stabil sind, wenn keine exogenen Kräfte wirken (z. B. intentionale Interventionen, Lebensereignisse, Veränderungen in sozialen Rollen)«.20 Bei der Gestaltung von Lehr- und Lernsettings muss dies insofern berücksichtigt werden, als verschiedene Wissensdomänen in Schule und Hochschule nicht mehr isoliert voneinander vermittelt und auch untersucht werden sollten, da das erworbene Wissen nur schwer zugänglich wäre.21 Lehrmodelle, die auf der Vermittlung von solch trägem Wissen basieren, verlieren somit ihre Funktionalität22 – eine Entwicklung, die sich in Deutschland auch in der Umsetzung der Kompetenzorientierung als Reaktion auf die Ergebnisse der ersten PISA-Studie beobachten ließ. Gefordert wird die Vermittlung von »anwendungsfähigem Wissen und ganzheitlichem Können«,23 also solches, das in konkreten Lebenssituationen abrufbar ist und nutzbar gemacht werden kann. Kompetenzorientierter Unterricht erfolge daher immer entlang lebensnaher Fragen und Problemstellungen. Moderne und lernförderliche Lernumgebungen sollten, so die Forderung, eine flexible Anpassung der didaktischen Unterstützung ermöglichen, insbesondere durch eine Balance zwischen entde-

18 Vgl. Gómez Puente, Sonia M. / van Eijck, Michiel / Jochems, Wim: A sampled literature review of design-based learning approaches: a search for key characteristics, in: International Journal of Technology and Design Education 23,3 (2013), S. 717–732. 19 Tang, Anson C. / Chow, Meyrick C.: To evaluate the effect of challenge-based learning on the approaches to learning of Chinese nursing students: A quasi-experimental study, in: Nurse Education Today 85 (2020), S. 1. 20 Rios, Joseph A. / Ling, Guangming / Pugh, Robert / Becker, Dovid / Bacall, Adam: Identifying critical 21st-century skills for workplace success: A content analysis of job advertisements, in: Educational Researcher, 49,2 (2020), S. 80–89, hier S. 80, Übersetzung KH. 21 Vgl. Vermunt, J. D. / Verloop, N.: Congruence and friction between learning and teaching, in: Learning and Instruction 9 (1999), S. 257–280. 22 Vgl. Vermunt, Jan D. / Verloop, Nico: Congruence and friction between learning and teaching. 23 Klieme, Eckhard / Hartig, Johannes: Kompetenzkonzepte in den Sozialwissenschaften im erziehungswissenschaftlichen Diskurs, in: Prenzel, Manfred / Gogolin, Ingrid / Krüger, HeinzHermann (Hg.): Kompetenzdiagnostik – Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Sonderheft 8 (2007), S. 11–29, hier S. 13.

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ckendem Lernen und direkter Instruktion.24 Weiterhin nutzen solche Umgebungen so oft wie möglich repräsentativ-authentische, reale Lebenskontexte, die für die Lernenden eine persönliche Bedeutung haben, damit Schüler:innen Verbindungen zwischen aktuellen Lernzielen und ihren persönlichen Zukunftsperspektiven herzustellen können.25 Darüber hinaus bieten solche Lernumgebungen Möglichkeiten für verteiltes und kooperatives Lernen durch soziale Interaktion sowie Möglichkeiten zum Erwerb allgemeiner Lern- und Denkfähigkeiten (einschließlich heuristischer Methoden, metakognitiver Kenntnisse und Strategien),26 die in verschiedene Themenbereiche eingebettet sind,27 und das Prüfen und Bewerten mit dem Lernen verbinden.28 Entsprechend diesen Forderungen versuchen einige Schulen, Selbstregulation und Verantwortungsgefühl der Schüler:innen für ihr eigenes Lernen zu steigern, indem sie zum einen stark autonomieförderliche Lernumgebungen,29 zum anderen Situationen wahrgenommener Unsicherheit schaffen. So führten etwa Helker und Wosnitza eine Studie zum Verantwortungsempfinden mit allen Schüler:innen einer Schule durch, in der die Autonomie der Schüler:innen betont und gefördert wird, indem Lerninhalte in Modulen angeboten werden, die die Schüler:innen in offenen Workshops in ihrer eigenen Zeit und ihrem eigenen Tempo bearbeiten können.30 Die Ergebnisse zeigten, dass das Verantwortungs24 Vgl. De Corte, Eric: Fostering cognitive growth: a perspective from research on mathematics learning and instruction, in: Educational Psychologist, 30 (1995), S. 37–46. 25 Vgl. z. B.: Creten, Hilde / Lens, Willy / Simons, Joke: The role of perceived instrumentality in student motivation, in: Efklides, Anastasia / Kuhl, Julius / Sorrentino, Richard M. (Hg.): Trends and prospects in Motivation Research, Dordrecht 2001, S. 33–45; Kauffman, Douglas F. / Husman, Jenefer: Effects of Time Perspective on Student Motivation: Introduction to a Special Issue, in: Educational Psychology Review 16,1 (2004), S. 1–7; Phalet, Karen / Andriessen, Iris / Lens, Willy: How Future Goals Enhance Motivation and Learning in Multicultural Classrooms, in: Educational Psychology Review 16,1 (2004), S. 59–89. 26 Vgl. Boekaerts, Monique: Self-regulated learning: Where are we today? in: International Journal of Educational Research 31 (1999), S. 445–457. 27 Vgl. De Corte, Eric: Fostering cognitive growth. 28 Vgl. Dochy, Filip / Segers, Mien / van den Bossche, Piet / Gijbels, David: Effects of problembased learning: a meta-analysis, in: Learning and Instruction 13 (2003), S. 533–568. 29 Vgl. z. B.: Bryan, Lynn A. / McLaughlin, H. James: Teaching and learning in rural Mexico: a portrait of student responsibility in everyday school life, in: Teaching and Teacher Education 21,1 (2005), S. 33–48; Peterson, Elizabeth R. / Rubie-Davies, Christine M. / Elley-Brown, Margie J. / Widdowson, Deborah A. / Dixon, Robyn S. / Irving, E. S.: Who is to blame? Students, teachers and parents views on who is responsible for student achievement, in: Research in Education 86,1 (2011), S. 1–12. Zimmerman, Barry J. / Kitsantas, Anastasia: Homework practices and academic achievement: The mediating role of self-efficacy and perceived responsibility beliefs. Contemporary Educational Psychology 30,4 (2005), S. 397– 417. 30 Vgl. Helker, Kerstin / Wosnitza, Marold: The interplay of students’ and parents’ responsibility judgements in the school context and their associations with student motivation and achievement, in: International Journal of Educational Research 76 (2016), S. 34–49.

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gefühl dieser Schüler:innen für den Lernprozess und die Lernergebnisse mit all ihren Motivations-, Kompetenz- und Autonomieüberzeugungen sowie mit den schulischen Ergebnissen (gemessen an den Mathematiknoten der Schüler:innen) korrelierte. Vermehrt wenden sich Bildungseinrichtungen verschiedenen Initiativen des Erfahrungslernens zu, um selbstreguliertes Lernen, also das bewusste Planen, Überwachen und Regulieren von kognitiven, verhaltensbezogenen und motivationalen/emotionalen Prozessen durch die Lernenden,31 durch motivationale, kognitive und behaviorale Herausforderungen zu veranlassen. In solchen integrierten, ganzheitlichen Lernansätzen sollen Erfahrung, Kognition und Verhalten miteinander verbunden werden.32 Diese Initiativen zielen darauf ab, den Lernenden motivierende offene Lernerfahrungen zu bieten, bei denen sie das Gelernte in authentischen Umgebungen anwenden können, in denen sie mit realen Problemen konfrontiert werden, die von ihnen verlangen, Informationen zu identifizieren, mit anderen Lernenden zu diskutieren und verschiedene Lösungen auszuprobieren.33 Diese Ansätze werden zunehmend auf der Schulebene diskutiert und finden mittlerweile als Formen des induktiven Lehrens und Lernens und des aktiven Lernens Eingang auf der Unterrichtsebene.34 Ein solches Lernen verlangt nun wiederum von den Lernenden, Bedeutungen zu entdecken und Kompetenzen zu erwerben, indem sie neue Informationen kritisch untersuchen und mit bereits vorhandenem Wissen und Erfahrungen verknüpfen.35 Infolgedessen steigt die Motivation, weil Lernende einen deutlichen Nutzen des erforderlichen Wissens wahrnehmen,36 wie z. B. die Analyse von Daten oder eines

31 Hadwin, Allyson F. / Järvelä, Sanna / Miller, Michale: Self-regulated, co-regulated, and socially shared regulation of learning, in: Zimmerman, Barry J. / Schunk, Dale H. (Hg.): Handbook of self-regulation of learning and performance, New York 2011, S. 65–84, hier S. 68. 32 Vgl. Akella, Devi: Learning together: Kolb’s experiential theory and its application, in: Journal of Management and Organization 16 (2010), S. 100–112. 33 Vgl. Moore, David T.: For interns, experience isn’t always the best teacher. The Chronicle of Higher Education. URL: http://chronicle.com/article/For-InternsExperienceIsnt/143073/ [Stand: 01. 09. 2021]. 34 Vgl. Membrillo-Hernández, Jorge / Muñoz-Soto, Rodrigo B. / Rodríguez-Sánchez, Álvaro C. / Díaz-Quiñonez, J. Alberto / Villegas, Patricia V. / Castillo-Reyna, Josefina / Ramírez-Medrano, A.: Student engagement outside the classroom: analysis of a challenge-based learning strategy in biotechnology engineering, Paper presented at the 2019 IEEE Global Engineering Education Conference (EDUCON), 2019. 35 Vgl. Tang, Anson C. / Chow, Meyrick C.: effect of challenge-based learning on approaches to learning. 36 Eccles, Jacquelynne S. / Adler, Terry F. / Futterman, Robert / Goff, Susan B. / Kaczala, Caroline M. / Meece, Judith L. / Midgley, Carol: Expectancies, Values, and Academic Behaviors, in Spence, Jane T. (Hg.): Achievement and achievement motivations, San Francisco, 1983, S. 75– 145. Eccles, Jacquelynne S. / Wigfield, Alan: Motivational Beliefs, Values, and Goals, in: Annual Review of Psychology 53 (2002), S. 109–132.

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Szenarios zur Lösung eines komplexen realen Problems.37 Es überrascht nicht, dass es nicht die eine Lehr-/Lernmethode gibt, um induktives Lehren und Lernen zu implementieren. Vielmehr »umfasst dieser Ansatz eine Reihe von Lehrmethoden, einschließlich forschendes Lernen, problembasiertes Lernen, projektbasiertes Lernen, fallbasiertes Lehren, entdeckendes Lernen und Just-in-timeLehren«38 – und natürlich die neueste Entwicklung, das challenge-based learning bzw. das Lernen an Herausforderungen. Während in der Literatur Überlegungen zu modernen und zukunftsfähigen Lernumgebungen bisher meist ohne Bezug zur Bildung für nachhaltige Entwicklung entwickelt wurden, decken sich die geforderten Kriterien für die Gestaltung von Lehr-Lernumgebungen mit denen, die etwa Muheim und Kollegen für die Bildung für nachhaltige Entwicklung vorstellen, nämlich Zugänglichkeit oder auch Lebensweltorientierung, Handlungs- und Reflexionsorientierung, entdeckendes Lernen, verbunden mit einer Problem- bzw. Phänomenorientierung, Verbindung von formalem und materialem Lernen sowie Vielperspektivität bzw. Interdisziplinarität.39 Überfachliche und fachspezifische Herausforderungen stellen durch eine hohe Orientierung an den Lernenden sowie vielfältige Gelegenheiten zur Partizipation solche Lerngelegenheiten dar, die auch das Potenzial zur Anknüpfung an eine Bildung für nachhaltige Entwicklung haben. Entsprechend sollen im Folgenden zwei Projekte, auf Schul- und Hochschulebene, vorgestellt und diskutiert werden.

5.

Lernen an Herausforderungen

5.1

Herausforderungen als überfachliche schulische Entschulungsprojekte

In Deutschland ist in den letzten Jahren eine schulübergreifende Bewegung entstanden, die den Auswirkungen einer unsicheren und ambivalenten Zukunft auf die Bildungsleistung und Motivation der Schüler:innen begegnet, indem sie deren Kompetenz zum Umgang mit Unsicherheit und Ambiguität fördert. Durch ein erlebnispädagogisches Projekt namens Herausforderung, bei dem die Schüler:innen bewusst in Situationen gebracht werden, die Unsicherheit und Erschöpfung hervorrufen, erhoffen sich die Schulen, dass ihre Schüler:innen sich in diesen Situationen dennoch als autonom, entscheidungs- und problemlö37 Prince, Michael J. / Felder, Richard M.: Inductive Teaching and Learning Methods: Definitions, Comparisons, and Research Bases, in: Journal of Engineering Education (2006), S. 123– 138. 38 Prince, Michael J. / Felder, Richard M.: Inductive Teaching and Learning Methods, S. 123. 39 Muheim, Verena / Künzli David, Christine / Bertschy, Franziska / Wüst, Letizia: Bildung für eine nachhaltige Entwicklung vertiefen, Herzogenbuchsee 2014, S. 44.

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sungsfähig erleben und so von den Herausforderungen der realen Welt im späteren Leben profitieren. Wie sieht das genau aus? In Herausforderungen werden die Schüler:innen einer bestimmten Jahrgangsstufe (meist neunte oder zehnte Klasse) für einen bestimmten Zeitraum (meist zwei bis drei Wochen vor oder nach den Sommerferien) vom schulischen Unterricht befreit, um sich alleine oder in Kleingruppen von zwei bis sechs Schüler:innen einer selbstgewählten außerschulischen Herausforderung zu stellen. Diese Herausforderung besteht meist darin, den Heimatort zu verlassen, mit wenig Geld zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs zu sein und auf gewohnten Komfort verzichten zu müssen. Dabei sind Herausforderungen an den durchführenden Schulen fester Bestandteil des Schulprogramms, werden gleichzeitig aber als von Schule befreites Lernen im Sinne des Aufbruchs von Gleichschrittigkeit, engen Lehrplanvorgaben und Taktung sowie Leistungsüberprüfung durch eine »Entschulung von Schule«40 stilisiert. Schule schafft in diesen erlebnispädagogischen Expeditionen einen Freiraum von sich selbst und dem Druck, gruppenübergreifende Lernziele zu verfolgen, Entwicklungsschritte möglichst gleich zu vollbringen. Gleichzeitig sind mit Herausforderungen eine Vielzahl von Lernzielen für die Schüler:innen verknüpft, die man mit »verschultem Lernen« zwar nicht erreichen, im Rahmen von Schule aber doch ermöglichen möchte. Die Projektidee der Herausforderungen ist im Kontext von (erlebnispädagogischen) Überlegungen zur Optimierung schulischen Lernens zu sehen, obwohl Herausforderungen sich meist weniger auf das Lernen von Inhalten konzentrieren, sondern vielmehr darauf, dass die Schüler:innen Lernziele verfolgen, die neben unterhaltsamen und herausfordernden Aktivitäten erreicht werden und die in konventionellen Settings nicht durchgeführt werden können.41 Entsprechend der Beobachtungen von Milton, Cleveland und Bennet-Gates, dass junge Menschen, die in eine natürliche Umgebung gebracht und vom Druck des Lesens, Schreibens und der Anerkennung durch den Lehrer befreit wurden, neue In-

40 Vgl. z. B. Hecht, Michael: Entschulung, in: Bollweg, Petra / Buchna, Jennifer / Coelen, Thomas / Otto, Hans-Uwe (Hg.): Handbuch Ganztagsbildung, Wiesbaden 2017, S. 1177–1189. Vgl. auch: Montessori, Maria: Von der Kindheit zur Jugend: Zum Konzept einer Erfahrungsschule des sozialen Lebens, hg. von Harald Ludwig und Michael Klein-Landeck, Freiburg im Breisgau 2015; Fölling-Albers, Maria: Entscholarisierung von Schule und Scholarisierung von Freizeit? Überlegungen zu Formen der Entgrenzung von Schule und Kindheit, in: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 20,2 (2000), S. 118–131; von Hentig, Hartmut: Cuernavaca oder: Alternativen zur Schule? Stuttgart 1971; von Hentig Hartmut: Bewährung. Von der nützlichen Erfahrung nützlich zu sein. Weinheim 2007. 41 Vgl. Fox, Paul / Avramidis, Elias: An evaluation of an outdoor education programme for students with emotional and behavioural difficulties, in: Emotional and Behavioural Difficulties 8,4 (2003), S. 267–283, hier S. 268.

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teressen und Fähigkeiten entdeckten,42 sollen diese erlebnispädagogischen Expeditionen den Schüler:innen ermöglichen, Herausforderungen und Lernobjekte zu identifizieren, die ihrem aktuellen Stand der persönlichen Entwicklung entsprechen.43 Ob diese anvisierten positiven Effekte in Herausforderungen auch tatsächlich erreicht werden, ist in der Forschung noch nicht eindeutig belegt. Zwar wurden in verschiedenen Studien die Auswirkungen von schulbasierten Outdoor-Abenteuerbildungsprojekten untersucht,44 wobei auch Hattie und Kolleg:innen in ihrer Meta-Analyse den Nutzen von Abenteuerprogrammen hinsichtlich ihres nachhaltigen Einflusses auf das Leben der Teilnehmer:innen positiv hervorgehoben haben,45 doch ist es noch immer schwierig, universelle Effekte solcher Programme in quantitativen Daten zu identifizieren.46 Einzelne Studien konnten jedoch eine Verbesserung des Selbstwertgefühls und des Wohlbefindens nach der Teilnahme an einem schulbasierten Interventionsprogramm47 sowie der Selbstwirksamkeit zeigen.48 Eigene Forschung in diesem Bereich mit 763 Teilnehmer:innen von Herausforderungen an verschiedenen deutschen Schulen zeigten ebenfalls eine generell positive Bewertung der persönlichen Erfahrung mit der Herausforderung und noch mehr mit der allgemeinen Projektidee – unabhängig 42 Vgl. Milton, Barbara / Cleveland, Eliza / Bennett-Gates, Dianne: Changing perceptions of nature, self, and others: a report on a park/school program, in: The Journal of Environmental Education 26,3 (1995), S. 32–39. 43 Vgl. Havighurst, Robert J.: Developmental tasks and education, New York 1974; Milton, Barbara / Cleveland, Eliza / Bennett-Gates, Dianne: Changing perceptions of nature, self, and others; Sliwka, Anne: Pädagogik der Jugendphase. Wie Jugendliche engagiert lernen, Weinheim, 2018; Trautmann, Matthias: Entwicklungsaufgaben im Bildungsgang, Wiesbaden 2004; von Hentig, Hartmut: Bewährung. 44 Vgl. z. B. Beames, Simon / Mackie, Chris / Scrutton, Roger: Alumni perspectives on a boarding school outdoor education programme, in: Journal of Adventure Education and Outdoor Learning 20,2 (2020), S. 123–137. 45 Vgl. Hattie, John / Marsh, H. W. / Neill, James T. / Richards, Garry E.: Adventure Education and Outward Bound: Out-of-Class Experiences That Make a Lasting Difference, in: Review of Educational Research 67,1 (1997), S. 43–87. 46 Vgl. Williams, Ian R. / Rose, Lauren M. / Raniti, Monika B. / Waloszek, Joana / Dudgeon, Paul / Olsson, Craig A. / Allen, Nicholas: The Impact of an Outdoor Adventure Program on Positive Adolescent Development: A Controlled Crossover Trial, in: Journal of Outdoor and Environmental Education 21,2 (2018), S. 207–236. 47 Vgl. Boeger, Annette / Dörfler, Tobias / Schut-Ansteeg, Thomas: Erlebnispädagogik mit Jugendlichen: Einflüsse auf Symptombelastung und Selbstwert, in: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 55,3 (2006), S. 181–197. 48 Vgl. z. B. Kümmel, Ursula / Hampel, Petra / Meier, Manuela: Einfluss einer erlebnispädagogischen Maßnahme auf die Selbstwirksamkeit, die Stressverarbeitung und den ErholungsBeanspruchungs-Zustand bei Jugendlichen, in: Zeitschrift für Pädagogik 54,4 (2008), S. 555– 571; Markus, Stefan / Eberle, Thomas / Fengler, Janne: Einflussfaktoren auf die Entwicklung allgemeiner und spezifischer Selbstwirksamkeitserwartungen in mehrtägigen erlebnispädagogischen Interventionen, in: Empirische Pädagogik 33,1 (2019), S. 71–100.

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davon, was sie oder ihre Gruppe in der Zeit gemacht haben.49 Das Erleben von Kompetenz, Autonomie und sozialer Eingebundenheit während der Herausforderung sowie die Motivation der Schüler:innen korrelierten mit ihrer geschilderten positiven Gesamterfahrung und -bewertung. Diejenigen Schüler:innen, die ihre Herausforderung als mäßig bis sehr nützlich für ihre persönliche, berufliche und/oder schulische Zukunft bewerteten, wurden gebeten, zu schildern, welche nützlichen Dinge sie während des Projekts gelernt hatten. Die Teilnehmer:innen nannten überwiegend Nützlichkeit für sich selbst, wobei die Verbesserung der sozialen Fähigkeiten der am häufigsten genannte Aspekt war. Darüber hinaus wurden Selbstständigkeit und Selbstvertrauen genannt. Der von den Schüler:innen berichtete Lernerfolg durch die Herausforderung entspricht somit den Zielen, die die meisten Outdoor-Abenteuerprojekten verfolgen, die neben der Förderung von Spaß auch den Erwerb neuen Wissens und Bewusstseins sowie die Verbesserung von Verhalten und Wohlbefinden in den Mittelpunkt stellen.50

5.2

Challenge-based learning

Neben solchen überfachlichen Bestrebungen, Herausforderungen als Anlass und Gelegenheit für schulisches Lernen nutzbar zu machen, findet sich im sogenannten Challenge-based learning (CBL) eine Lehr-Lernform, die – neben den auch hier betonten überfachlichen Kompetenzen der Lernenden – fach- und inhaltsspezifische Lehr- und Lernziele beschreibt. CBL teilt Eigenschaften mit seinem Vorläufer, dem problem-based learning,51 erhöht jedoch den Schwierigkeitsgrad des im Zentrum des Lernens stehenden Problems durch das Fehlen einer vordefinierten Studie, eines Inhalts oder einer Herausforderung52 und durch die Kombination von gesellschaftlichen Zielen (Nachhaltigkeit) mit der Forderung nach einer unternehmerischen Denkweise und Arbeitsmethode.53 Genau wie beim problembasierten Lernen hat die Praxis eine Reihe von unter49 Vgl. Helker, Kerstin / Rürup, Matthias: ›What a bad idea to camp next to a train station‹ – student-reported outcomes and evaluations of the outdoor adventure project ›challenges‹, in: Journal of Adventure Education and Outdoor Learning (2021). 50 Vgl. z. B. Priest, Simon / Gass, Michael A.: Effective leadership in adventure programming, Champaign 2005. 51 Vgl. Weber, Agnes: Problem-Based Learning – Ansatz zur Verknüpfung von Theorie und Praxis, in: Beiträge zur Lehrerinnen- und Lehrerbildung 23,1 (2005), S. 94–104. 52 Vgl. Gallagher, Silvia E. / Savage, Timothy: Challenge-based learning in higher education: an exploratory literature review, in: Teaching in Higher Education (2020), S. 1–23, hier S. 3. 53 Vgl. Malmqvist, Johan / Rådberg, Kamilla K. / Lundqvist, Ulrika: Comparative Analysis of Challenge-Based Learning Experiences. Paper presented at the 11th International CDIO Conference, Chengdu University of Information Technology 2015.

Das Konzept »Herausforderungen« als Training in Ungewissheit

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schiedlichen Ansätzen hervorgebracht, was »eine verwirrende Vielfalt dessen erzeugt, was CBL ist und wie man es implementiert«54 und so mehrere Definitionsversuche daraus resultieren, die alle unterschiedliche Merkmale des Konzepts betonen. Eine verbreitete Definition wurde von Malmqvist, Radberg und Lundqvist vorgelegt, die CBL als eine Lernerfahrung beschreiben, bei der das Lernen durch die Identifizierung, Analyse und Gestaltung einer Lösung für ein soziotechnisches Problem stattfindet.55 Diese Lernerfahrung sei typischerweise multidisziplinär, fände in einem internationalen Kontext statt und ziele darauf ab, eine gemeinschaftlich entwickelte Lösung zu finden, die ökologisch, sozial und wirtschaftlich nachhaltig ist. Obwohl für den Sekundarbereich entwickelt, hat der Einsatz von CBL vor allem im Hochschulbereich in den 20 Jahren seit seiner ersten Erwähnung in der Literatur56 stark zugenommen, um die transversalen Kompetenzen der Studierenden, ihr Wissen über soziotechnische Probleme und die Zusammenarbeit mit Akteuren aus Industrie und Gesellschaft zu fördern.57 Hier wurde CBL als interdisziplinäre Erfahrung definiert, bei der das Lernen durch die Identifizierung, Analyse und kollaborative Gestaltung einer nachhaltigen und reaktionsfähigen Lösung für ein soziotechnisches Problem stattfindet, bei dem sowohl das Problem als auch die Ergebnisse offen sind.58 Die Wurzeln von CBL liegen jedoch im Sekundarbereich, wo das Lehr-LernKonzept aus der Initiative »Apple Classrooms of Tomorrow – Today« (ACOT)59 hervorging, die darauf abzielte, Designprinzipien für moderne Lernumgebungen zu identifizieren, und später in Zusammenarbeit mit Pädagog:innen herausforderungsbasierte Lernumgebungen in der Schulbildung entwickelte und zu testete.60 Das Lernen an lösungsoffenen Herausforderungen wird dabei als eine kollaborative Lernerfahrung verstanden, bei der Lehrer:innen und Schüler:innen zusammenarbeiten, um über drängende Themen zu lernen, Lösungen für reale Probleme vorzuschlagen und Maßnahmen zu ergreifen. Der Ansatz fordert die Schüler:innen auf, über ihr Lernen und die Auswirkungen ihres Handelns zu reflektieren und ihre Lösungen einem großen Publikum zugänglich zu machen.61 54 Vgl. Gallagher, Silvia E. / Savage, Timothy: CBL in higher education, S. 2, Übersetzung KH. 55 Vgl. Malmqvist, Johan / Rådberg, Kamilla K. / Lundqvist, Ulrika: Comparative Analysis of CBL Experiences. 56 Vgl. Giorgio, Todd D. / Brophy Sean P.: Challenge Based learning in biomedical engineering: a legacy cycle for biotechnology, in: ASEE (2001), S. 2701–2711. 57 Vgl. Gallagher, Silvia E. / Savage, Timothy: CBL in higher education. 58 Vgl. van den Beemt, Antoine / MacLeod, Miles / Van der Veen, Jan: Interdisciplinarity in tomorrow’s engineering education, Paper presented at the 48th SEFI Annual Conference on Engineering Education, SEFI 2020. 59 Vgl. Apple Inc.: Challenge Based Learning – A Classroom Guide. California 2010. 60 Vgl. ebd. 61 Vgl. ebd.

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Der Ansatz soll das Lernen relevant machen und durch eigene Betroffenheit,62 die Schüler:innen in der Auseinandersetzung mit dem Problem erfahren, zum Lernen und Handeln motivieren.63 Ob dies tatsächlich gelingt, ist weiterhin Gegenstand der Forschung. Johnson, Smith und Smythe fanden heraus, dass 97 % der Schüler:innen, die an einem CBL-Projekt teilnahmen, die Erfahrung als lohnend empfanden und angaben, dass sie den Ansatz anderen empfehlen würden.64 Die Schüler:innen nahmen verbesserte Fähigkeiten in den Bereichen Teamarbeit, Technologie, kritisches Denken, Forschung, Kommunikation und Präsentation mit sowie persönliches Wachstum und Einfluss auf ihre Kommiliton:innen und die Gemeinschaft. Jeder Fünfte nannte das Lernen in einem Themenbereich als Gewinn. Die wichtigste Leistung in den Augen vieler Schüler:innen war die von ihnen erstellte Präsentation.65 Um die Ergebnisse weiter zu untersuchen, führten Johnson und Adams eine große Studie mit 1.239 Schüler:innen und 65 Lehrer:innen und Administratoren zu den Ergebnissen von CBL in der Sekundarstufe durch und stellten fest, dass der CBL-Ansatz effektiv beim Aufbau von 21st century skills, bei der Einbindung der Schüler:innen in das Lernen, bei der Beherrschung des Materials, bei der Nutzung der begrenzten Zeit der Lehrer:innen und speziell bei technologisch reichhaltigen Umgebungen ist.66

6.

Lernen an Herausforderungen als modernes und zukunftsfähiges Lernen?

Bietet das Lernen an und durch Herausforderungen nun also eine Perspektive, überfachliches und fachliches Lernen miteinander zu kombinieren? CBL wurde immer wieder als vielversprechender Ansatz angepriesen, um den Bedürfnissen Lernender im 21. Jahrhundert gerecht zu werden, d. h. nachhaltiges Lernen zu unterstützen, das an zukünftige Anforderungen anpassbar ist. CBL bietet den Lernenden die Möglichkeit, Entscheidungen über ihren eigenen Lernweg zu treffen und entspricht somit dem Wunsch vieler Schüler:innen nach einem Sinn in ihrer schulischen Bildungstätigkeit sowie nach wahrgenommener Nützlichkeit, die motivational wirksam werden kann. Gleichzeitig trainieren sie Schlüsselkompetenzen, wie multidisziplinäre Teamarbeit und Entscheidungsfindung, 62 Johnson, Laurence F. / Adams, Samantha: Challenge Based Learning – The Report from the Implementation Project, Austin 2011. 63 Nichols, Mark / Cator, Karen / Torres, Marco: Challenge Based Learner User Guide, Redwood City 2016. 64 Johnson, Laurence F. / Smith, Rachel S. / Smythe, J. Troy / Varon, Rachel K.: Challenge-Based Learning – An Approach for Our Time, Austin 2009. 65 Vgl. ebd. 66 Vgl. Johnson, Laurence F. / Adams, Samantha: CBL.

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fortgeschrittene Kommunikation, Ethik und Führung von sich selbst und anderen.67 Wie oben diskutiert, scheinen Veränderungen in den Verantwortlichkeiten den von außen zugeschriebenen wie auch selbst wahrgenommenen Rollen von Lehrenden und Lernenden zwingend erforderlich, um Antworten auf die Herausforderungen und Unsicherheiten der Zukunft entwickeln zu können und nachhaltiges Lernen wie auch Bildung für nachhaltige Entwicklung zu fördern. Die zwei dargestellten Konzepte des Lernens an Herausforderungen fördern eine selbstregulierte Wissenskonstruktion durch die Lernenden, was zugleich die Rolle der Lehrenden als bloße Wissensvermittler verändert. Da die Schüler:innen ihre eigenen Fragen aus der Herausforderung selbstständig entwickeln, agieren die Lehrkräfte weniger als Anleiter denn als Begleiter des Lernens, indem sie auf individuelle Fragen und Bedenken eingehen und eingreifen, um den Schüler:innen zu helfen, ihren Fokus zu behalten, wenn das Problem zu groß erscheint.68 Herausforderungen, so scheint es, können Schüler:innen dazu motivieren und befähigen, alternative Lern- und Denkstrategien zu erkunden,69 so dass Schulen und Lehrende zu Wissensressourcen und kreativen Umgebungen werden, in denen alle Lernenden Wissen aus der realen Welt erwerben, Herausforderungen aus der realen Welt bewältigen und stabile kognitive, interpersonal und intrapersonale Fähigkeiten, also die sogenannten 21st-century skills, entwickeln, mit denen sie komplexe Probleme lösen können.70 Insofern können nicht nur Fragen der Nachhaltigkeit und zukunftsfähiger Antworten auf drängende gesellschaftliche Probleme zum Gegenstand des Lernens an Herausforderungen werden. Lernen an Herausforderungen scheint, so lässt sich resümieren, auch Potenzial für eine Verbindung mit einer Bildung für nachhaltige Entwicklung zu bieten. In den durch schulische Herausforderungsprojekte wie auch Challenge-based learning geschaffenen Lernräumen erwerben Lernende Kompetenzen, die ihnen erlauben, flexibel mit verschiedenen Problemanforderungen, seien es Situationen, Personen oder Lerndesiderate, umzugehen und Lösungen zu entwickeln, die vielfältigen Interessen in den Blick zu nehmen, wie in den Konzepten einer Bildung für nachhaltige Entwicklung gefordert. Die Offenheit und Ungewissheit, mit der sich Lernende in Herausforderungen auseinandersetzen müssen, können zwar keine Zukunftsängste abbauen, wohl aber durch einen stärkeren Realitätsund Zukunftsbezug der Inhalte nachhaltiges Lernen fördern und Zukunftskompetenzen aufbauen.

67 Vgl. Malmqvist, Johan / Rådberg, Kamilla K. / Lundqvist, Ulrika: Comparative Analysis of CBL Experiences. S. 10. 68 Vgl. Johnson, Laurence F. / Smith, Rachel S. / Smythe, J. Troy / Varon, Rachel K.: CBL, Scare 8. 69 Vermunt, Jan D. / Verloop, Nico: Congruence and friction between learning and teaching. 70 Nichols, Mark / Cator, Karen / Torres, Marco: CBL User Guide, S. 17.

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Claudia Wich-Reif: Wahrnehmen – Reflektieren – Bewerten: Sprachliche Variation in der Sekundarstufe aus linguistischer Perspektive Abb. 1: Inhaltsfelder und Kompetenzbereiche (aus: KLP Deutsch Sek II, S. 16). Abb. 2: Wortverlaufskurve anfangen (DWDS, URL: https://www.dwds.de/r/plot/?view=1 &corpus=zeitungen&norm=date%2Bclass&smooth=spline&genres=0&grand=1&slic e=1&prune=0&window=3&wbase=0&logavg=0&logscale=0&xrange=1946%3A2021& q1=anfangen [Stand 30. 09. 2021]). Abb. 3: Wortverlaufskurve beginnen (DWDS, URL: https://www.dwds.de/r/plot/?view=1 &corpus=zeitungen&norm=date%2Bclass&smooth=spline&genres=0&grand=1&slic e=1&prune=0&window=3&wbase=0&logavg=0&logscale=0&xrange=1946%3A2021& q1=beginnen [Stand: 30. 09. 2021]). Abb. 4: Moderne Regionalatlanten des Deutschen (Schmidt, Jürgen Erich / Dammel, Antje / Girnth, Heiko / Lenz, Alexandra N. (2019): Sprache und Raum im Deutschen: Aktuelle Entwicklungen und Forschungsdesiderate, in: Herrgen, Joachim / Schmidt, Jürgen Erich (Hg.): Sprache und Raum. Ein internationales Handbuch der Sprachvariation. Bd. 4: Deutsch (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 30.4), Berlin, Boston 2019, S. 28–60, hier S. 31). Abb. 5: Abfrage des possessiven Dativs aus dem DMW-Fragebuch (Kallenborn, Tim: Regionalsprachliche Syntax. Horizontal-vertikale Variation im Moselfränkischen (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Beihefte 176), Göttingen 2019, hier S. 177–218,

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Abbildungsverzeichnis

bes. S. 197; Bildnachweis: pixabay, URL: https://pixabay.com/de/service/license/ [Stand: 30. 09. 2021]). Abb. 6: Varianten von machen im DMW-Gebiet. Abb. 7a: Varianten von Küche im DMW-Gebiet. Abb. 7b: Varianten von Küche im DMW-Gebiet, Tortendiagramme. Abb. 8: Der deutsche Sprachraum aus der Perspektive linguistischer Laien.

Imke Lichterfeld / Philipp Reul / Daniel Schönbauer: Lehramt Englisch: Synergien zwischen Fachdidaktik und Fachwissenschaft Abb. 1: Arbeitsblatt: Building Statues Worksheet: »…and Action!« (Roeder, Alena von: Portfolio zu »Shakespeare and Time«, Bonn 2020, S. 8). Abb. 2: Altes bilingual gestaltetes Straßenschild in »Klein-Amerika«. Streetsign in BonnPlittersdorf (Foto: Philipp Reul). Abb. 3: »American Way of Life« wird auch durch ungewöhnliche Straßenbreite erlebbar. Europastraße in Bonn-Plittersdorf (Foto: Philipp Reul). Abb. 4: Die Stimson Memorial Church ist ein Beispiel für die enge Verbindung von Kirche und Gesellschaft in den USA (Foto: Philipp Reul).

Roland Ißler: Keine Angst vor dem accent circonflexe! Zum fremdsprachendidaktischen Potential von Sprachgeschichte und Sprachwandelerscheinungen im Fach Französisch. Ein Plädoyer für die Einheit von Fachwissenschaft und Fachdidaktik in der universitären Lehrerbildung Abb. 1: Schiefer, Lara Sophie: »Die Qual der (Sprach-)Wahl. Eine empirische Auseinandersetzung mit der Schülermotivation in Bezug auf den Französischunterricht der Sekundarstufe II«, Universität Bonn, Poster, Wintersemester 2016/17. Abb. 2: Beispiele der Bedeutungsunterscheidung durch etymologische Orthographie im Französischen (Soulié, Julien / la Mine, M.: Et cetera, et cetera. La langue française se raconte, Paris 2020, S. 96). Abb. 3: Beispiele sogenannter etymologischer Dubletten (gelehrtes Lehnwort vs. durch historischen Sprachwandel entstandenes Erbwort) im Französischen (Soulié, Julien / la Mine, M.: Et cetera, et cetera. La langue française se raconte, Paris 2020, S. 17). Abb. 4: Beispiele italienischer Lehnwörter im Französischen (Soulié, Julien / la Mine, M.: Et cetera, et cetera. La langue française se raconte, Paris 2020, S. 38). Abb. 5: Ein zweisprachig beschriftetes Objekt aus der Lebenswelt heutiger Schülerinnen und Schüler als Impuls für eine sprachhistorische Betrachtung (Foto: Roland Ißler).

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Abb. 6: Schülergerechte Herleitung der historischen Schreibweise -x am Wortende in der französischen Gegenwartssprache (Soulié, Julien / la Mine, M.: Et cetera, et cetera. La langue française se raconte, Paris 2020, S. 125).

Nils Thönnessen: Die Geographie als Zukunftsfach verstehen und lehren lernen – Basiskonzepte als Grundlage der geographischen Fachkultur Abb. 1: Von Student*innen erstelltes Wirkungsgefüge zum Raumnutzungskonflikt in den Rheinischen Gärten rund um Bornheim. Abb. 2: Basiskonzepte der Geographie (Fögele, Janis / Sesemann, Oliver / Westphal, Nils: Mit Basiskonzepten die fachliche Tiefenstruktur des Geographieunterrichts gestalten, in: Terrasse Online vom 18. 05. 2021. URL: https://www.klett.de/alias/1136693?newslette r=news/geo/23248/artikel1 [Stand 04. 06. 2021], S. 2). Abb. 3: Von Studierenden entworfene Anleitung zur Erstellung eines Mysterys aus dem Sommersemester 2020. Abb. 4: Aufgabenstellung in einem von Student*innen entworfenem Exkursionsreader im Sommersemester 2020 – Berücksichtigung der geographischen Maßstabsebenen.

Dieter Engbring: Informatik – überschätzt und unterschätzt als Schlüssel zum Verstehen der digital vernetzten Welt oder: Von der Grausamkeit wirklich Informatik zu unterrichten Abb. 1: Technikgenese und ›digitale Bildung‹. Abb. 2: Rollen im Umgang mit Computern (Knobelsdorf, Maria: Biographische Lern- und Bildungsprozesse im Handlungskontext der Computernutzung. Dissertation. Freie Universität Berlin 2011, S. 144).

Ulrich Blum / Jan Heysel / Thomas Hildebrand: Lehramtsstudium Physik: Herausforderungen und Perspektiven zur Gestaltung von Studiengang und Schule Abb. 1: Entwicklung der Studierendenzahlen im Lehramtsstudiengang Physik an der Universität Bonn zu Beginn und am Ende des Studiums in den vergangenen zehn Jahren.

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Sarah Dietrich-Grappin: Zur Fachkultur und Fachspezifik romanistischer Lehrerbildung und Professionsforschung. Versuch einer Bestandsaufnahme im Sinne reflexiver Praxis Abb. 1: Aufgaben für Französisch (Gregor, Gertraud / Jorißen, Catherine / Mann-Grabowski, Catherine / Nikolic, Lara / Philipp, Dirk / Raliarivony-Freytag, Fidisoa / Wagner, Eric: À plus! 4. Lehrwerk für den Französischunterricht an Gymnasien, Berlin 2015, S. 53), Spanisch (Calderón Villarino, Isabel / Elices Macías, Amparo / Grimm, Alexander / Kolacki, Heike / Peppel, Henning / Lützen, Ulrike: ¡Apúntate! 4. Lehrwerk für den Spanischunterricht, Berlin 2019, S. 43) und Italienisch (Orlandino, Euridice / Balì, Maria / Ziglio, Luciana: Espresso ragazzi 3. Ein Italienischkurs. Lehr- und Arbeitsbuch, München 2018, S. 51). Abb. 2: Impulsübersicht zur Klausurvorbereitung (Plenum »Sprachlehr- und -lerntheorien«; Seminar »Didaktik und Methodik«). Abb. 3: Studienleistung im Modul »Français 1: Pratiques de classe«, Pädagogische Hochschule Bern, Herbstsemester 2019. Abb. 4: Folien aus »Fachdidaktik I«, Plenum »Sprachlehr- und -lerntheorien«, Universität Bonn. Abb. 5: Lehr- und Lernpotenzial in der Lehrerbildung (Legutke, Michael K. / Schart, Michael: Fremdsprachliche Lehrerbildungsforschung: Bilanz und Perspektiven, in: Dies. (Hg.): Fremdsprachendidaktische Professionsforschung: Brennpunkt Lehrerbildung, Tübingen 2016, S. 33).

Jutta Standop: Digitale Medien in der Schule – komplexe Anforderungen durch ein komplexes Leitmedium Abb. 1: Das TPACK-Modell (Koehler, Matthew. J. / Mishra, Punya: What is technological pedagogical content knowledge? Contemporary Issues in Technology and Teacher Education, 9(1)/2009, S. 61).

Joanna Chlebnikow / Anke Backhaus: Fachkulturen = Sprachkulturen: Fachspezifisch differenzieren im Bonner Modul »Deutsch für Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte« durch Blended Learning Abb. 1: Chlebnikow, Backhaus: Blended Learning-Struktur des Bonner DSSZ-Moduls. Abb. 2: Beispiel Arbeitsblatt, Wortebene.

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Daniel Scholl: Die Komplexität der beruflichen Aufgaben von Lehrerinnen und Lehrern als Herausforderung für die Kompetenzförderung – Zur Kooperation und Kollaboration als Zukunftschance der Lehrerinnenund Lehrerbildung Abb. 1: Die sechs Planungsbereiche des Plug-ins Unterrichtsplanung. Abb. 2: Ausschnitt aus dem Planungsbereich individuelle Voraussetzungen.

Autorinnen und Autoren (Stand: Dezember 2021)

Backhaus, Anke Universität Bonn Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bonner Zentrum für Lehrerbildung (BZL) mit Schwerpunkt ›Deutsch für Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte‹ [email protected] Dr. Blum, Ulrich Universität Bonn Studiengangsmanager Physik/Astronomie und wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Fachdidaktik Physik [email protected] Chlebnikow, Joanna TH Köln / ehem. Universität Bonn Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Akademie für wissenschaftliche Weiterbildung / Sprachlernzentrum mit Schwerpunkt ›Einsatz digitaler Medien in der Lehre‹ [email protected] Jun.-Prof. Dr. Dietrich-Grappin, Sarah Universität Bonn Junior-Professorin für die Fachdidaktik Romanistik [email protected]

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Autorinnen und Autoren

Dr. Engbring, Dieter Universität Bonn Akademischer Oberrat für die Didaktik der Informatik [email protected] Prof. Dr. Fohrmann, Jürgen Universität Bonn Professor für Neuere Deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft Rektor der Universität Bonn vom 23. April 2009 bis 30. April 2015 [email protected] Prof. Dr. Gelhard, Andreas Universität Bonn Professor für Allgemeine und Systematische Pädagogik [email protected] Prof. Dr. Geiss, Peter Universität Bonn Professor für Didaktik der Geschichte [email protected] Dr. Helker, Kerstin Eindhoven University of Technology, Niederlande Postdoc am TU/e innovation Space [email protected] Dr. Henke, Roland W. Universität Bonn Lehrbeauftragter für Philosophiedidaktik an den Universitäten Bonn und Köln [email protected]

Autorinnen und Autoren

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Dr. Hense, Jonathan Universität Bonn Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fachdidaktik Biologie [email protected] Heysel, Jan Universität Bonn Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fachdidaktik Physik [email protected] Hildebrand, Thomas Universität Bonn/ Collegium Josephinum Bonn Lehrbeauftragter in der Fachdidaktik Physik [email protected] Dr. Ißler, Roland Universität Bonn Akademischer Rat am Institut für Klassische und Romanische Philologie [email protected] Prof. Dr. Kaenders, Rainer Universität Bonn Professor für Mathematik und ihre Didaktik [email protected] PD Dr. Käser, Udo Universität Bonn Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bonner Zentrum für Lehrerbildung (BZL) mit Schwerpunkt ›Diagnose und Förderung‹ [email protected] Klassen, Melchior Universität Bonn Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Klassische und Romanische Philologie [email protected]

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Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Ladenthin, Volker Universität Bonn Professor für Historische und Allgemeine Erziehungswissenschaft [email protected] Dr. Lichterfeld, Imke Universität Bonn Studiengangsmanagerin am Institut für Anglistik, Amerikanistik und Keltologie [email protected] Prof. Dr. Dr. Meyer-Blanck, Michael Universität Bonn Professor für Praktische Theologie und Religionspädagogik [email protected] PD Dr. Mikhail, Thomas Universität Stuttgart Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Erziehungswissenschaft [email protected] Prof. Dr. Müller, Gernot Michael Universität Bonn Professor für Klassische Philologie / Latinistik [email protected] Rapske, Ruben Universität Bonn Fachdidaktik der Ernährungs- und Hauswirtschaftswissenschaft sowie der Agrarwissenschaft [email protected] Reul, Philipp Universität Bonn / Gymnasium Kreuzgasse, Köln Abgeordneter Lehrer am Institut für Anglistik, Amerikanistik und Keltologie [email protected]

Autorinnen und Autoren

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Prof. Dr. Roebben, Bert Universität Bonn Professor für Religionspädagogik der Katholisch-Theologischen Fakultät [email protected] Prof. Dr. Scheersoi, Annette Universität Bonn Professorin für die Fachdidaktik Biologie [email protected] Prof. Dr. Schmalenbach, Bernhard Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft Alfter Professor für Heilpädagogik/Inklusive Pädagogik [email protected] Schönbauer, Daniel Universität Bonn / St.-Ursula-Gymnasium Brühl Lehrbeauftragter für Fachdidaktik Englisch am Institut für Anglistik, Amerikanistik und Keltologie [email protected] Prof. Dr. Scholl, Daniel Universität Siegen Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Schulpädagogik [email protected] Prof. Dr. Standop, Jutta Universität Bonn Professorin für Allgemeine Didaktik und Schulpädagogik [email protected] Prof. Dr. Stomporowski, Stephan Universität Bonn Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaften und Berufspädagogik [email protected]

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Autorinnen und Autoren

Dr. Thönnessen, Nils Universität Bonn Lehrer im Hochschuldienst [email protected] Weiß, Adrian Universität Bonn Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Klassische und Romanische Philologie [email protected] Prof. Dr. Weiss, Ysette Universität Mainz Professorin für Mathematikdidaktik [email protected] Prof. Dr. Wich-Reif, Claudia Universität Bonn Professorin für Geschichte der Deutschen Sprache und Sprachliche Variation [email protected]