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German Pages [184] Year 1979
©otKf& ji n ima
eine Bibliothek des modernen wissenschaftlichen Denkens
Bisher erschienen: Karl H. BORCH, Wirtschaftliches Verhalten bei Unsicherheit. C. West CHURCHMAN - Rüssel L. ACKOFF - E. Leonard ARNOFF, Operations Researdi. Morton D. DAVIS, Spieltheorie für Nichtmathematiker. Heinz HAAS (Hrsg.), Tedinikfolgen-Abschätzung. Richard C. JEFFREY, Logik der Entscheidungen. Norman MALCOLM, Ludwig Wittgenstein. Oskar MORGENSTERN, Spieltheorie und Wirtschaftswissenschaft. Ernest NAGEL - James R. NEWMAN, Der Gödelsche Beweis John von NEUMANN, Die Rechenmaschine und das Gehirn. Erhard OESER, Wissenschaft und Information. Band 1 : Wissenschaftstheorie und empirische Wissenschaftsforschung. Band 2: Erkenntnis als Informationsprozeß. Band 3 : Struktur und Dynamik erfahrungswissenschaftlicher Systeme. Erhard OESER, Wissenschaftstheorie als Rekonstruktion der Wissenschaftsgeschichte. Band 1: Metrisierung, Hypothesenbildung, Theoriendynamik. Howard RAIFFA, Einführung in die Entscheidungstheorie. Hans SACHSSE (Hrsg.), Möglichkeiten und Maßstäbe für die Planung der Forschung. Hubert SCHLEICHERT, Elemente der physikalischen Semantik. Erwin SCHRÖDINGER, Was ist ein Naturgesetz? Manfred SCHMUTZER (Hrsg.), Mathematische Methoden in der Politikwissenschaft. Claude E. SHANNON - Warren WEAVER, Mathematische Grundlagen der Informationstheorie. Herman WEYL, Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft. Dean E. WOOLDRIDGE, Mechanik der Gehirnvorgänge. Dean E. WOOLDRIDGE, Mechanik der Lebensvorgänge.
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Wissenschaftstheorie als Rekonstruktion der Wissenschaftsgeschichte Fallstudien zu einer Theorie der Wissenschaftsentwicklung
Band 2
Experiment, Erklärung, Prognose
R. Oldenbourg Verlag Wien München 1979
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Oeser, Erhard: Wisscnschaftstheorie als Rekonstruktion der Wissenschaftsgeschichte : Fallstudien zu e. Theorie d. Wissenschaftsentwicklung / Erhard Oeser. — Wien, München : Oldenbourg. Bd. 2. Experiment, Erklärung, Prognose. — 1979 (Scientia nova) ISBN 3-7029-0130-2 (Wien) ISBN 3-486-49301-9 (München)
© 1979 R. Oldenbourg Verlag Wien Druck: R. Spies & Co., Wien ISBN 3-7029-0130-2 R. Oldenbourg Wien ISBN 3-486-49301-9 R. Oldenbourg München
Inhalt Fallstudieii 1. Galileis Gesetze der Fall- und Wurfbewegung. Das Experiment als aktive Forschungsmethode . . . .
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2. Newtons Gravitationsgesetz. Die Integration von Teiltheorien
53
3. Ebbe und Flut. Die strukturelle Identität von Erklärung und Prognose
85
4. Neptun und Vulkan. Die Vollendung und Ausschöpfung abgeschlossener Theorien
126
Sdilußkapitel. Einstein und die klassische Methode .
154
.
Literatur
171
Personenregister
173
Sachregister
176
Fallstudien 1. Galileis Gesetze der Fall- und Wurfbewegung Das Experiment als aktive Forschungsmethode Galilei gilt als der Begründer der experimentellen Physik. Er vereinigt zwei Traditionen, die jeweils einen eigenen, selbständigen Ursprung hatten: die experimentelle Erfahrung und die wissenschaftliche Theorie. Die ältere von beiden ist die Tradition der experimentellen Erfahrung. Sie war vorhanden, lange bevor es eine wissenschaftliche Theorie gab, und sie blieb audi von der rationalen Spekulation über die Natur, wie sie in der Antike und im Mittelalter betrieben wurde, weitgehend unabhängig. Denn es waren auch die sozialen Träger der beiden Traditionen verschieden. Die experimentelle Handlung ist eine Tätigkeit, die von Handwerkern ausgeübt wurde: von Mechanikern, Schiffsbauern und Architekten. Dieser Werkstättentradition stand bis in die Neuzeit die Tradition der Gelehrten gegenüber, in der die Tätigkeit der Hand keine entscheidende Rolle im Erkenntnisprozeß spielte. Deshalb galt auch die Mechanik nicht als eine wissenschaftliche Disziplin, sondern bloß als eine Kunstfertigkeit, die nicht zur Erkenntnis, sondern bestenfalls zur Uberlistung der Natur beitragen konnte. Erst Galilei gelang es, dieses Nebeneinanderlaufen beider Traditionen endgültig zu verbinden, indem er die experimentelle Handlung in den Prozeß der wissenschaftlichen Erkenntnis einbaute. Das Experiment wird damit ein Mittel zur Entscheidung über die Wahrheit oder Falschheit einer Theorie und zugleich ein Mittel zur Entdeckung und Stützung des Neuen. Zumindest das erste leistet zwar auch die wissenschaftliche empirische Erfahrung schlechthin, die Beobachtung. Der Unterschied zur experimentellen Methode besteht aber darin, daß bei der gewöhnlichen Beobachtung das Eintreten eines Ereignisses oder das Ablaufen eines Vorganges passiv abgewartet werden muß, während das Experiment eine aktive Forschungsmethode ist, in der die Vorgänge aktiv ausgelöst werden. Damit ergibt sich aber für die kausale Betrachtungsweise eine neue Möglichkeit: Es können die beobachtbaren Wirkungen nach Belieben variiert werden, wodurch die funktionale Seite der Ur-
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1. Galileis Gesetze der Fall- und Wurfbewegung
sache in isolierbarer Weise hervortritt und gesetzmäßig erfaßt werden kann. Unmittelbar nach dem Erscheinen von Galileis letztem großen Werk, den „Discorsi e dimostrazioni matematiche intorno a due nuove scienze attenenti alla meccanica, ed ai movimenti locali", schrieb Descartes am 11. Oktober 1638 an Mersenne folgendes Urteil über Galileis methodisches Vorgehen: „Sein Fehler ist, daß er beständig abschweift und niemals seinen Stoff erschöpft, woraus man erkennt, daß er ihn nie ordnungsgemäß geprüft hat und daß er, ohne die ersten Gründe der Natur zu betrachten, lediglich die Ursachen einiger besonderer Vorgänge gesucht, so daß er ohne Fundament gebaut hat." 1 Damit hatte aber Descartes im Grunde genommen nichts anderes geliefert als eine negative Charakterisierung jener „Schritt-für-Schritt-Prozedur", die Galilei metodo risolutivo und metodo compositivo nennt. Die doppelte Methode entgegengesetzter Operationen ist jedoch nicht erst eine Erfindung Galileis, sondern wurde bereits als eine Alternative zu einer aprioristischen Physik in einer direkt an Aristoteles orientierten Methodendiskussion im Rahmen des Paduaner Aristotelismus vorweggenommen. Die methodologischen Überlegungen der Paduaner Schule, die in den Werken Zabarellas ihren Abschluß finden, bilden eine Übergangslösung zwischen dem idealen Modell der beweisenden Wissenschaft, wie es Aristoteles in den Zweiten Analytiken darstellt, und Galileis Methodologie. Während bei Aristoteles die induktiv gewonnenen Erklärungsprinzipien, von denen man in der beweisenden Wissenschaft auszugehen hat, hinterher, nachdem sie gewonnen worden sind, entweder als nicht mehr demonstrable, evidente Axiome oder als Theoreme von a priori einsichtigen Axiomen gedeutet werden, haben die Paduaner die Notwendigkeit dieser Annahme nicht mehr anerkannt 2 . Trotzdem bleibt das Schwergewicht dieser Methodologie auf der Bildung eines Syllogismus mittels der kompositiven Methode. Für Galilei dagegen hat der Syllogismus endgültig die Fähigkeit verloren, apodiktisches Wissen über das reale Seiende erzeugen zu können. Daher kritisiert er in dem Antwortsdireiben auf die Einwände der Aristoteliker Lodovico delle Colombe und 1
2
Le opere di Galileo Galilei, Edizione Nazionale, hrsg. v.A. Favaro, Florenz, 1890—1909, Bd. 17, S. 360. Vgl. E. J. Dijksterhuis, Die Mechanisierung des Weltbildes, Berlin Göttingen - Heidelberg 1956, S. 264.
Das Experiment als aktive Forschungsmethode
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Vincenzio di Grazia gegen seine von ihm selbst als antiaristotelisch bezeichnete Schrift über die schwimmenden Körper nicht nur die aprioristische Physik, sondern auch die noch immer nicht „richtig benutzte" Schritt-für-Schritt-Prozedur des metodo risolutivo und compositivo. Während die „gravierendsten Fehler" des Apriorismus in der Postulierung von Prinzipien bestehen, die entweder weniger gewiß sind als die Konklusionen oder identisch sind mit dem, was demonstriert werden soll, und nur dem Namen nach verschieden, besteht die fehlerhafte Anwendung der Methodenzweiheit von risolutivo und compositivo in der voreiligen Konstruktion von Syllogismen, die auf falschen oder zumindest doch zweifelhaften Behauptungen beruhen. Galilei sieht dagegen in dem richtig angewendeten Verfahren des metodo risolutivo „die beste Methode der Entdekkung" 3 . Auch in den Dialogen über die beiden Weltsysteme legt Galilei ganz ausdrücklich das Schwergewicht seiner methodischen Überlegungen auf die risolutive Methode, die er audi bereits bei Aristoteles realisiert sieht. Obwohl dieser zwar die apriorischen Prinzipien an die Spitze seines niedergeschriebenen Lehrsystems gestellt hat, war es doch nicht die Art und Weise, wie er zu diesem System gelangte: „Vielmehr halte ich es für ausgemacht, daß er zuerst mittels der Sinne, der Erfahrung und der Beobachtung, soviel als möglich, von der Richtigkeit der Schlußfolgerung sich zu überzeugen versuchte und dann erst sich nach Mitteln umtat, sie zu beweisen; so nämlich verfährt man gewöhnlich in den deduktiven Wissenschaften: und zwar darum, weil, wenn die These richtig ist, man bei Benutzung der analytischen Methode leicht auf irgend welchen schon bewiesenen Satz oder zu einem selbstverständlichen Axiome gelangt; ist aber die Behauptung falsch, so kann man ins unendliche weitergehen, ohne je auf irgend eine bekannte Wahrheit zu treffen, wenn man nicht gar auf eine offenbare Unmöglichkeit oder etwas Widersinniges stößt." 4 3
4
Riposta alle opposizioni del Sig. Lodovico delle Colombe, e del Sig. Vincenzio di Grazia, contro al Trattato del Sig. Galileo Galilei = Delle cose che stanno sull' aqua, e que in quella si muovono, Florenz 1615; Le opere di Galileo Galilei, Bd. 4, S. 521. Vgl. Ν. Jardine, Galileo's Road to Truth and Demonstrative Regress, in: Stud, in Hist, and Phil, of Science, Bd. 7 (1976), S. 304 f. G. Galilei, Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme, das Ptolemäische und das Kopernikanische, übers, v. E. Strauß, Leipzig 1891, S. 220.
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1. Galileis Gesetze der Fall- und Wurfbewegung
Wie Galilei selbst diese methodische Vorstellung in seinen eigenen Forschungswegen realisiert hat, zeigt deutlicher als jede abstrakte Interpretation die Gewinnung und demonstrativ gesicherte Darstellung der Gesetze der Fall- und Wurfbewegung. Der Ausgangspunkt der Galileischen Bewegungstheorie ist die Statik, der älteste Zweig der Mechanik, der schon in der Antike in wissenschaftlicher Weise von Archimedes ausgebaut worden ist. Bevor sich aber Galilei auf Archimedes beruft, werden gewissermaßen in einer Art von Vorspiel Alltagsprobleme der vorwissenschaftlichen Mechanik behandelt, die alle auf die „ Un Vollkommenheit der Materie" zurückführbar scheinen, die letzten Endes „die schärfsten mathematischen Beweise zu schänden machen kann". Probleme dieser Art sind die Bruchfestigkeit von Gegenständen und die damit zusammenhängende Frage, warum es notwendig ist, größere Maschinen stabiler zu bauen als kleinere. Zum Beispiel, „warum man ein so viel größeres Gerüst erbaut, um eine große Galeere vom Stapel zu lassen, während man sie lange nicht in demselben Maße kleiner für kleinere Schiffe braucht" 5 . Diese Betrachtung gilt nicht nur für Maschinen und künstliche Produkte, sondern auch für die Objekte der N a t u r : „Ist es nicht klar, daß ein Pferd, welches drei oder vier Ellen Η odi herabfällt, sich die Beine brechen kann, während ein Hund keinen Schaden erlitte, desgleichen eine Katze selbst von 8 oder 10 Ellen Höhe, ja eine Grille von einer Turmspitze und eine Ameise, wenn sie vom Monde herabfiele? Kleine Kinder erleiden beim Fall keinen Schaden, wo Bejahrte sich Arm und Beine zerbrechen. Und wie kleinere Tiere verhältnismäßig kräftiger und stärker sind, als die großen, so halten sich die kleinen Pflanzen besser: und nun glaube ich . . . , daß eine 200 Ellen hohe Eiche ihre Äste in voller Proportion mit einer kleinen Eiche nicht halten könnte, und daß die Natur ein Pferd nicht so groß wie 20 Pferde werden lassen kann, noch einen Riesen von zehnfacher Größe, außer durch Wunder oder durch Veränderungen der Proportionen aller Glieder, besonders der Knochen, die weit über das Maß einer proportionalen Größe ver5
G. Galilei, Unterredungen und mathematische Demonstrationen über zwei neue Wissenszweige, die Mechanik und die Fallgesetze betreffend, hrsg. ν. A. v. Oeningen, Nachdruck, Darmstadt 1973, S. 4.
Das Experiment als aktive Forschungsmethode
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stärkt werden müßten." 0 Die Gesetze der Geometrie, die von der Proportion aller Körper gelten sollen, legen diesen Sachverhalt nicht nahe. Daher kann also die Ursache nur in der Unvollkommenheit und Veränderlichkeit der Materie liegen, die keine mathematische Gesetzmäßigkeit zuläßt. Dieses alte Argument hat bereits Ptolemäus zur Auffassung geführt, daß die physikalische Betrachtungsweise f ü r die Astronomie keinen Nutzen bringt und daß deshalb nur Arithmetik und Geometrie allein ein zuverlässiges und unumstößliches Wissen garantieren könnten 7 . Galilei indessen geht einen neuen Weg. Indem er zunächst von aller Unvollkommenheit der Materie und somit von einer unkontrollierbaren Veränderlichkeit abstrahiert, zeigt sich, daß diese nun durch Abstraktion beseitigte Unvollkommenheit der Materie nicht genügt, „den Ungehorsam der wirklichen Maschinen gegen ideale zu erklären". Der Grund ist vielmehr ein physikalischer, der auf das Wirken von Kräften zurückzuführen ist. Unter der Voraussetzung einer ideal vollkommenen Materie läßt sich darauf eine „völlig klare, mathematische Betrachtung aufbauen" 8 . Diese mathematische Betrachtung führt dann nach einigen Umwegen und Abschweifungen über die Kohäsionskräfte der Materie und das Vakuum direkt auf das Hebelprinzip und damit auch zu einem ersten Theorienvergleich zwischen den Vorläufern Galileis in dieser Fragestellung: Aristoteles und Archimedes. Allerdings ist der Aristoteles, von dem Galilei spricht, nicht der historische Aristoteles, sondern der Pseudoaristoteles der „Mechanischen Probleme", die heute mit Sicherheit nicht Aristoteles zugeschrieben werden. Von diesem Aristoteles hieß es in der Renaissancezeit, daß „er zuerst vor allen Anderen" den Satz „bewiesen" habe, „demgemäß die Kraft zur Last sich umgekehrt verhält, wie die Entfernungen der Angriffspunkte vom Unterstützungspunkt". Galilei korrigiert diese Ansicht, die er in den Discorsi durch den Aristoteliker Simplicio aussprechen läßt, mit dem Hinweis auf Archimedes, der diesen Beweis tatsächlich in seiner Schrift „De aequiponderantibus" auf Grund eines Lehrsatzes über das Gleichgewicht geliefert hat 9 . " Ebenda, S. 5 f. 7 Vgl. C. Ptolemäus, Handbuch der Astronomie, aus dem Griedi. übers, und mit erklärenden Anmerkungen versehen v. K. Manutius, Leipzig 1912, Bd. 1, S. 3. 8 Galilei, Unterredungen, S. 4. 8 Vgl. ebenda, S. 94.
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1. Galileis Gesetze der Fall- und Wurfbewegung
In der Aufstellung des Hebelgesetzes, das die feste Grundlage für die weiteren Schritte sein soll, modifiziert Galilei die ursprüngliche Darstellung des Archimedes so, daß die heuristische Funktion des Experimentes deutlich zutage tritt (vgl. Abb. 1). So läßt er Salviati sagen: „Es wird gut sein, einen etwas anderen Weg als Ardiimedes einzusdilagen, als Einleitung in alles Folgende, und nur eines vorauszusetzen, daß nämlidi gleiche Gewichte an gleich langen Armen im Gleichgewicht seien (was auch Archimedes annimmt), woraus gefolgert werden kann, daß ungleiche Gewichte im Gleichgewicht sich befinden, wenn sie sich umgekehrt wie die Arme verhalten; zugleich erkennt man, daß kein wesentlicher Unterschied besteht zwischen diesem Fall und jenem gleicher Gewichte in gleichen Entfernungen. Denken wir uns ein Prisma oder einen Zylinder AB, der an den Enden bei H, I aufgehängt sei an zwei Fäden AH, IB. Wird das Ganze bei C aufgehängt, mitten zwischen H, I, so findet offenbar Gleichgewicht statt nach unserer Voraussetzung. Es sei nun das Prisma bei D in ungleiche Teile geteilt, und zwar sei DA größer, DB kleiner, und damit die Teile in unveränderter Lage beharren in bezug auf H, I, bringen wir einen Faden E D an, der bei E befestigt ist und die Teile der Prismen AD, D B hält; da keine Veränderung in bezug auf H I eingetreten ist, ist das Gleichgewicht nicht gestört. Aber dasselbe findet statt, wenn statt der beiden Fäden AH, D E ein einziger Faden in der Mitte GL zwischen beiden angebracht wird, und ebenso auf der anderen Seite in FM mitten zwischen ED und IB. Nehmen wir nun HA, ED, I B fort und belassen bloß GL, FM, so beharrt das Gleichgewicht, während C der Unterstützungspunkt geblieben ist. Jetzt aber haben wir zwei Körper AD, DB, hängend an G, F eines Wagebalkens GF, mit dem Unterstützungspunkt C. Die Distanzen der Aufhängepunkte sind CG, CF. Wir müssen nun beweisen, daß die genannten Strecken sich umgekehrt wie die Gewichte verhalten, das heißt daß CG zu C F wie Prisma DB zum Prisma D A : es ist nun GE gleich Va E H und E F gleich V2 EI, folglich ist GF gleich V2HI, folglich gleich CI; zieht man von beiden gleichen Strecken den gemeinsamen Teil CF ab, so bleibt der Rest GC gleich dem Rest FI oder gleich FE; fügt man beiderseits CE hinzu, so kommt GE gleich CF; folglich wie GE zu EF, so verhält sich FC zu CG; wie ferner GE zu EF, so auch die doppelten Strecken zu den doppelten, das heißt wie H E zu EI und folglich wie Prisma AD zu Prisma DB. Folglich weiter wie GC
Das Experiment als aktive Forschungsmethode
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zu CF, so das Gewidit BD zum Gewicht DA, was zu beweisen war. Idi hoffe, Ihr findet keine Schwierigkeit in der Behauptung, die beiden Prismen AD, DB seien im Gleichgewicht in bezug auf C, da die Hälfte des ganzen Zylinders AB rechts, die andere links liegt, in welchem Sinne sie zwei gleiche äquidistante Gewichte vorstellen." 10
Abb. 1
Um die Funktion der experimentellen Handlung in diesem Text zu erkennen, ist es notwendig, nicht nur auf die verschiedenen Proportionen zu achten, die durch die Veränderungen entstehen, sondern auf die Veränderungen selbst. Denn sonst entsteht jener Eindruck, den G. Vailati bereits an der Darstellung Madis kritisiert hat, daß „aus dem Gleichgewicht gleicher Gewichte an gleichen Armen das allgemeine Hebelgesetz gefolgert werden könne" 11 . Weder die Einsicht einer Abhängigkeit des Gleichgewichts von Gewicht und Abstand überhaupt, noch die bestimmte, nämlich umgekehrte Proportionalität zwischen Hebelarm und Gewicht ist ohne experimentelle Erfahrung möglich. Das zeigt schon die intuitive Kenntnis des Gleichgewichtszustandes durch die Symmetrie des eigenen Körpers, die nicht durch intellektuelle Einsicht, sondern durch die körperliche Handlung der Selbstbewegung gewonnen wird. Ebenso ist nun die Galileische Demonstration des Gleichgewichtssatzes und die daraus erfolgende „Herleitung" des Hebelsatzes eine Anweisung zur Durchführung von Handlungen. Der Ablauf der Handlungen besitzt aber gemäß diesen Anweisungen eine logische Struktur, die sich adäquat durch die prozeßlogischen Begriffe von Bedingung und Ereignis beschreiben läßt. 10 11
Ebenda, S. 94 f. G. Vailati, La dimostrazione del principio delle leva data da Archimede, Bolletino di bibliografia e storia delle scienze matematiche, Maggio e Giugno, 1904.
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1. Galileis Gesetze der Fall- und Wurfbewegung
Unter der Bedingung einer idealen homogenen Beschaffenheit der Materie wird der Zustand des Gleichgewichts dadurch hergestellt, daß der Unterstützungs- oder Aufhängepunkt so gewählt wird, daß er mathematisch genau eine Symmetrie beider Arme schafft. In diesem Fall ist dann insofern jeder andere Gleichgewichtsfall enthalten, als keine der angegebenen weiteren Handlungen das Gleichgewicht stört. Das heißt, daß bei einem Wechsel der Bedingungen, in diesem Fall beim Zerschneiden des Prismas in ungleiche Teile und bei Veränderung der Aufhängungen, kein Ereignis eintritt, das einen neuen Zustand schafft. Damit ist bewiesen, daß diese Fälle gleichwertig sind, und zwar gleichwertig im exakt-quantitativen Sinn der mathematischen Betrachtungsweise, das heißt der metrischen Begriffe, die die Gleichheit der Bedingungen garantieren. Die weiteren Schritte sind Variationen der Gestalt, die unter Beibehaltung der Grundvoraussetzung einer ideal unveränderlichen Materie keine Veränderungen hervorrufen und somit die Allgemeingültigkeit des Gesetzes demonstrieren: „Verwandeln wir nun die beiden Prismen AD, DB in zwei Würfel oder in zwei Kugeln oder in irgend zwei andere Formen, so beharrt das Gleichgewicht in bezug auf C, denn zweifelsohne ändert die Gestalt nicht das Gewicht, wenn gleichviel Materie beibehalten wird. Hieraus können wir allgemein schließen, daß stets zwei Gewichte bei wechselseitig entsprechender Distanz im Gleichgewicht stehen." 12 Das so allgemein formulierte Hebelgesetz dient nun aber nicht nur zur Bestimmung der Gleichgewichtsfälle, sondern gerade umgekehrt zur gesetzmäßigen Erklärung jener Fälle, in denen das Gleichgewicht gestört wird und eine Zustandsänderung eintritt, das heißt, statt Ruhe Bewegung herrscht. Das war auch das Hauptproblem der antiken Mechanik, wie die folgenden Ausführungen aus der früher Aristoteles zugeschriebenen Schrift „Mechanische Probleme" zeigen: „Wunderbar erscheint, was zwar naturgemäß erfolgt, wovon aber die Ursache sich nicht offenbart . . . Solcherlei ist, worin Kleineres das Größere bewältigt, und geringes Gewicht schwere Lasten, und beiläufig alle Probleme, die wir mechanische n e n n e n . . . Zu den Aporien aber von dieser Gattung gehören die den Hebel betreffenden. Denn ungereimt erscheint es, daß eine große Last durch eine kleine Kraft, jene noch verbunden mit einer größeren Last bewegt werde. Wer ohne Hebel eine 12
Galilei, Unterredungen, S. 95.
Das Experiment als aktive Forschungsmethode
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Last nicht bewegen kann, bewegt sie leicht, die eines Hebels nodi hinzufügend." 13 Die Anwendung des Hebelgesetzes zur exakten Lösung derartiger praktischer mechanischer Probleme gibt Galilei die Gelegenheit, die wissenschaftstheoretisdie Grundproblematik experimenteller Forschung zu erörtern: die Isolierung des zu beobachtenden „natürlichen" Vorgangs von der „künstlichen", instrumentellen Einrichtung. So sagt also Galilei unmittelbar an die Formulierung des Hebelsatzes anschließend: „Nachdem wir dieses klar erkannt haben, müssen wir überlegen, wie solche Kräfte, Widerstände, Momente und Gestalten abstrakt gedacht werden können, losgetrennt von aller Materie, und andererseits konkret und bedingt durch Materie; Eigenschaften, die den immateriell betrachteten Gestalten zukommen, werden eine gewisse Änderung erleiden durch Hinzunahme von Materie und Schwere. Wenn wir zum Beispiel einen Hebel betrachten (vgl. Abb. 2), AB mit dem Unterstützungspunkt C, und zwar so disponiert, daß der Felsblock D gehoben werden könne, so ist klar, daß in Β eine Kraft denkbar wäre, die dem Widerstand der Last D Gleichgewicht hielte, wenn die Kraft zur Last sich verhielte, wie die Strecke AC zu CB, und das ist richtig, wenn man von anderen Momenten als der Kraft in Β absieht, mit anderen Worten, wenn man den Hebel AB für immateriell ansieht. Berücksichtigen wir aber das Gewicht des Hebelarmes selbst, sei er nun aus Holz oder Eisen gefertigt, so wird das zu Β hinzugefügte Gewicht die Proportion verändern. Zukünftig wollen wir diese zwei Arten der Betrachtung sondern; wir sprechen von einem absoluten Verhalten, wenn das Instrument abstrakt behandelt wird, ohne Rücksicht auf das Gewicht der Teile des Instrumentes: fügen wir alsdann letzten Einfluß hinzu, so wollen wir die Bezeichnung zusammengesetzte' Momente oder Kräfte gebrauchen."14 Bereits bei der einfachsten Versuchsanordnung tritt also jenes Grundproblem aller experimentellen Forschung auf, das Galilei selbst als das „Problem des Rechners" bezeichnet hat: Der Rechner, der von idealen Strukturen ausgehen muß, gerät in Schwierigkeiten, wenn er allen Singularitäten des Einzelfalls
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Aristotelis Opera, hrsg. v. G. Laemarius, o. O. 1597, Bd. 2, S. 1125; vgl. E. Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung, 8. Aufl., Leipzig 1921, S. 9 f. Galilei, Unterredungen, S. 95 f.
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1. Galileis Gesetze der Fall- und Wurfbewegung
Β
Abb. 2
gerecht werden will. Nur dann, wenn es ihm gelingt, den empirisch gegebenen Einzelfall unter die Gesetzmäßigkeit jener allgemeinen Strukturen zu bringen, kann dieser besondere Fall als geklärt gelten. Ist. das nicht möglich, so liegt die Schuld weder bei der Natur noch bei den idealen, vorausgesetzten Strukturen, sondern „beim Rechner, der nicht richtig zu rechnen versteht" 1 6 . Galilei kann dieses Problem sowohl bei dem einfachen Beispiel des Experimentes zum Hebelsatz als auch bei den späteren wesentlich komplizierteren statisdien und dynamischen Experimenten an der schiefen Ebene dadurch lösen, daß er den „Schnitt" zwischen den Störbedingungen, die infolge der Materialität der Maschinen auftreten, welche den Vorgang bestimmen, auslösen oder auch messen sollen, genau festlegen kann. H a t man das Hebelgesetz als das Grundprinzip für die Konstruktion einfacher Maschinen erkannt, so kann man es leicht für die Erkenntnis und Konstruktion anderer Maschinen verwenden. So bildete auch bei Galilei der nächste Schritt die statische Untersuchung des Gleichgewichts auf schiefen Ebenen, die den Übergang zu den dynamischen bzw. kinematischen Untersuchungen der Fallrinnenexperimente darstellen. Die im wesentlichen bereits durch Wohlwill an H a n d von Originalmanuskripten geklärte biographische Entwicklungsgeschichte Galileis zeigt, daß der historische Ablauf der logischen Argumentationsstruktur des Entdeckungsprozesses entspricht. Wie Duhem in seinem Buch „Les origines de la statique" nachgewiesen hat, ist das Problem der Verteilung der Lasten, die durch Schnur und Rolle verbunden sind, auf der schiefen Ebene bereits von den Vorläufern Leonardo da Vincis behandelt worden. Unabhängig von Galilei und ausführlicher hat auch der holländische Militäringenieur Stevin in seinem Werk über die Grundlagen der Wägekunst die Gleichgewichtsverhältnisse auf der schiefen 15
Galilei, Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme, S. 220.
Das Experiment als aktive Forschungsmethode
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Ebene untersucht. Das Titelbild der geschlossenen Kette auf dem Prisma (Abb. 3) der lateinischen Übersetzung seiner „Mathematischen Erinnerungen", mit der Stevins Erkenntnisse audi international in der Gelehrtenwelt bekanntgeworden sind, demonstriert nach Mach in der gleichen Weise wie die Galileisdien Demonstrationen des Hebelgesetzes das damit gleichwertige Prinzip der schiefen Ebene:
Abb. 3
„Auf schiefen Ebenen von gleidier Höhe wirken gleiche Gewichte im umgekehrten Verhältnis der Längen der sdiiefen Ebenen." 1 · Im vorliegenden Fall bleibt daher das System in Ruhe. Der Gleichgewichtszustand wird nicht gestört. Es tritt keine Bewegung ein. Wenn Dijksterhuis 17 aus der besseren Kenntnis der holländischen Originalsdiriften Mach kritisiert, daß er Stevin das Prinzip der virtuellen Verschiebung zuschreibt, ist Mach jedoch grundsätzlich im Redit, wenn er die unabhängige Entwicklung dieser dynamischen Fragestellung bei Galilei als Zwischenstufe zur Entwicklung der Fallgesetze ansieht: „Die statischen Untersuchungen der schiefen Ebenen führen zur Betrachtung des Falles auf solchen und leiten auch zur Beobachtung schwingender Pendel." 18 Galilei hat sich mit der statischen Fragestellung des Gleichgewichts auf der schiefen Ebene sehr früh beschäftigt, und zwar noch im Sinne einer aristotelischen Dynamik. Durch die Verschiebung der ungleichen Gewichte auf der schiefen Ebene variiert er die Bedingungen und beachtet zum Unterschied von seinen Vorläufern in der Antike und im Mittelalter, die u 17 18
2
Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung, S. 25. Dijksterhuis, Die Mechanisierung des Weltbildes, Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung, S. 119. Oeser, Band 2
S.
362.
18
1. Galileis Gesetze der Fall- und Wurfbewegung
ihre Aufmerksamkeit auf die Gewichte und deren Abstände von der Drehachse richteten, die Falltiefe der Gewichte, das heißt deren mögliche Annäherung und Entfernung von dem Erdmittelpunkt. Die allgemeine Einsicht aus diesen Gleichgewichtsuntersuchungen auf der schiefen Ebene ist die instinktive Erkenntnis der Tatsache, daß schwere Körper sich von selbst nur abwärts bewegen. Wenn mehrere sdiwere Körper zu einem System verbunden sind, so daß sie sich nicht unabhängig voneinander verschieben können, so bewegen sie sidi nur, wenn hierbei im ganzen sdiwere Masse sinken kann. Auf einen trivialen Ausdruck gebracht heißt das: „Es geschieht nidits, wenn nidits geschehen kann." Die experimentelle Anordnung aber, in der die Bedingungen, unter denen bei Zustandsveränderungen kein Ereignis, das heißt keine Gleichgewichtsstörung eintritt, metrisch-quantitativ genau festgelegt werden, macht zusätzlich zu der bereits instinktiv vorausgewußten allgemeinen Tatsache die Gesetzmäßigkeit dieses Verhältnisses in numerisdien Relationen deutlich. Gleichgewicht erweist sich auf diese Weise als eine mathematisch genau definierte Art der Bewegung. Mit dieser Betrachtungsweise ist jedodi bereits der Übergang von der Statik zur Dynamik geleistet. Daß bei Galilei dieser Übergang zur Dynamik erst ein Schritt von der Statik zur Kinematik, das heißt zur reinen Bewegungslehre bedeutete, in der die Frage nadi dem Warum, das heißt nach der Ursache der Bewegung, hinter der Frage nach dem Wie, das heißt der gesetzmäßigen Beschreibung des Ablaufes der Bewegung, zurücktritt, ist prozeßlogisch gesehen eine rekonstruktiv genau erklärbare Folge der internen Vorgeschichte der Galileischen Theorie der Fall- und Wurfbewegung. Die im Hinblick auf die später konstituierte axiomatisch-deduktive Bewegungstheorie als prätheoretisch zu bezeichnende Phase, in der das Experiment vorerst nur heuristische und stützende Funktion hat, ist keineswegs als eine rein empirische Phase zu betrachten, die frei ist von jeder theoretischen Spekulation. Vielmehr sind audi diese experimentellen Untersuchungen theoretisch vorbelastet durch eine differenzierte Weiterentwicklung der aristotelischen Dynamik. Von dem Begriffsapparat dieser antik-mittelalterlichen Tradition der Dynamik konnte sich Galilei nur dadurch befreien, daß er den ganzen Hintergrund dieser Terminologie, die dynamische Betrachtungsweise selbst, beseitigte, in der im Grunde genommen nur unbekannte Ursachen mit verschiedenen
Das Experiment als aktive Forsdiungsmethode
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Worten wie gravitas, virtus, vis impressa, impetus usw. belegt wurden. Galilei verziditet daher auf die nutzlosen Benennungen der Ursachen der Bewegung und wendet sich der Gesetzmäßigkeit des Ablaufes der Bewegung zu. Damit hat aber Galilei die kausale Erforschung der Naturvorgänge nicht gänzlich aufgegeben, sondern, wie nodi zu zeigen ist, sie lediglich auf den funktionalen Aspekt eingeengt und zugleich präzisiert. Wo er jedodi von der rein kinematischen Betrachtungsweise abweicht, ist er wieder von der traditionellen Terminologie bestimmt. Dies zeigt deutlich der eingeführte Hilfssatz aus der dynamischen Lehre von den Impulsen. Obwohl er in diesem Zusammenhang wie ein anachronistischer Überrest aus der aristotelisch-scholastischen Dynamik wirkt, wird doch gerade in seiner experimentellen Darstellung jenes Argumentationsglied im Prozeß der Entwicklung der kinematischen Theorie Galileis erkennbar, das nach dem Prinzip der Variation einen kontinuierlichen Übergang von den Untersuchungen über die schiefe Ebene zum freien Fall schafft. Die Variation besteht in diesem Fall nidit in einer Verschiebung der Gewichte, sondern in der verschiedenen Neigung der schiefen Ebene (siehe Abb. 4): „Laßt uns die sehr bekannte Tatsache betrachten, daß die Momente oder Geschwindigkeiten ein und desselben Körpers bei verschiedenen Neigungen der Ebene verschieden sind und daß sie den höchsten Wert hat bei senkrechter Richtung gegen den Horizont, daß aber bei geneigter Ebene die Geschwindigkeit um so geringer ist, je mehr die Ebene vom Lot abweicht, daher der Impuls (l'impeto), die Fähigkeit (il talento), die Energie (l'energia), oder sagen wir die Tendenz zum Fall (il momento del descendere) im Körper vermindert wird von der Ebene, auf welche er sich stützt, und hinabgleitet. Zu besserem Verständnisse sei AB eine senkrecht zum Horizont A C errichtete Linie, darauf bringe man dieselbe in verschiedene Neigungen gegen den Horizont, wie in AD, AE, A F etc.; alsdann wird der Körper längs der Senkrechten BA den Maximalimpuls beim Fallen erhalten, einen geringeren längs D A , nodi geringer längs E A usw., noch geringer längs FA, um schließlich ganz zu verlöschen längs einer Horizontalen C A , in welcher der Körper sowohl bei Bewegung wie in der Ruhe sich indifferent verhält und von sich aus keine Tendenz zur Bewegung nach irgendeiner Seite hat, wie er auch keinen Widerstand einer Bewegung entgegensetzt; denn da es unmöglich ist, daß ein Körper sich von selbst nach oben bewegt und sich vom allgemeinen Sdiwer2*
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1. Galileis Gesetze der Fall- und Wurfbewegiing
punkt (centro commune) entfernt, nach welchem alle schweren Körper hinstreben, so ist es audi unmöglich, daß er von selbst sich bewege, wenn bei soldier Bewegung sein eigener Schwerpunkt sich nicht dem allgemeinen Schwerpunkt nähert: daher auf der Horizontalen, die hier eine Fläche bedeutet, die überall gleich weit vom allgemeinen Schwerpunkt absteht und deshalb tatsächlich frei von jeglicher Neigung ist, der Körper keinen Impuls erfährt." 16
Wie bereits aus der Zeichnung ersichtlich, lassen sich nun diese dynamischen Untersuchungen mit den statischen Gleidigewiditsuntersudiungen verbinden: „Es ist klar, daß die Tendenz eines Körpers zum Fall so groß ist, wie der Widerstand oder wie die geringste Kraft, die hinreicht, den Fall zu verhindern und den Körper in Ruhe zu erhalten. Diese Kraft, diesen Widerstand zu messen, bediene ich midi des Gewichtes eines anderen Körpers. Auf der Ebene FA ruht der Körper G mit einem Faden versehen, der über F geschlungen ein Gewicht H trage. Überlegen wir ferner, daß die senkrechte Fallstrecke des letztern stets gleich sei der ganzen Fortbewegung des anderen Körpers G längs der Geneigten AF, nicht aber gleich der Senkung von G in senkrechter Richtung, in welcher der Körper G (wie jeder andere Körper) seinen Druck ausübt; denn betrachten wir im Dreieck AFC die Bewegung von G, in der Richtung von A nach F hinauf, so ist diese zusammengesetzt aus einer horizontalen A C und einer perpendikulären CF, und da der erstem kein Widerstand entgegenwirkt, so ist der der Bewegung entgegenstehende Widerstand nur längs der Senkrechten CF zu überwinden (denn bei der horizontalen Bewegung findet gar kein
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Verlust statt, audi ändert sich nicht die Entfernung vom gemeinsamen Schwerpunkt aller Körper, da diese im Horizonte unverändert bleibt). Wenn also der Körper G bei der Bewegung von A nach F nur den senkrechten Widerstand C F überwindet, und weil der andere Körper H durchaus senkrecht eine eben so lange Strecke wie auf F A fällt, und weil dieses Verhalten beim Auf- oder Absteigen immer dasselbe bleibt, ob die Körper viel oder wenig Bewegung ausführen (da sie miteinander verbunden sind), so können wir zuversichtlich behaupten, daß, wenn das Gleichgewicht bestehen und die Körper in Ruhe bleiben sollen, die Momente, die Geschwindigkeiten oder ihre Tendenzen (propensioni) zur Bewegung, d. h. die Strecken, die sie in gleicher Zeit zurücklegen würden, sich umgekehrt wie ihre Gewichte (le loro gravità) verhalten müssen, was für alle mechanische Bewegung bewiesen ist, so daß es den Fall von G zu hindern hinreicht, wenn H so viel mal weniger als G wiegt, wie das Verhältnis von C F zu F A beträgt. Macht man also G zu H , wie F A zu F C , so wird das Gleichgewicht eintreten, denn H , G werden gleiche Momente haben und in Ruhe verharren."» H a t sich bisher in der Vorgeschichte der Galileisdien Theorie der Fall- und Wurfbewegung, in den statischen Untersuchungen zum Hebelgesetz und zu den Gleichgewichtsverhältnissen auf der schiefen Ebene sowohl die heuristische als auch die stützende Funktion des Experimentes erwiesen, so zeigt die Widerlegung der aristotelischen Lehre vom freien Fall und die Errichtung einer rein kinematischen Alternativtheorie der Fall- und Wurfbewegung die wichtigste Funktion des Experimentes als Entscheidungsmittel zur Falsifikation und Verifikation erfahrungswissenschaftlicher Theorien. Die Falsifikation der alten Theorie ist jedoch von der Verifikation der neuen Theorie nicht zu isolieren, wie das aussagenlogisch sich mit Recht auf den Unterschied von modus ponens und modus tollens berufende asymmetrische Konzept der Falsifikation es nahelegt. Vielmehr zeigt sich in einer prozeßlogisch darstellbaren „Zweistufenformulierung" 2 0 , daß Verifikation und Falsifikation als einheitlicher Prozeß des Theorienvergleichs aufzufassen sind. D a s heißt, wie es keine absolute Verifikation einer Theorie gibt, so " Galilei, Unterredungen, S. 165 f. 2 0 Vgl. T. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a. M. 1973, S. 195.
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gibt es auch keine absolute Falsifikation. Verifiziert oder auch falsifiziert wird eine Theorie immer nur relativ zu einer anderen. Jede mit dieser experimentellen Erfahrung begründete negative Entscheidung gegen eine Theorie ist somit gleichzeitig auch eine positive Entscheidung für die entsprechende Alternativtheorie. Der Destruktion der alten Theorie entspricht daher genau die Konstruktion der neuen Theorie. Galilei leitet seine Theorie der Fallbewegung mit der „Darstellung und Widerlegung" der „Aristotelischen Lehre" ein, worunter wiederum nicht der historische Aristoteles der überlieferten Lehrsdiriften zu verstehen ist, sondern der Pseudoaristoteles der „Mechanischen Probleme". Wenngleich diese weiterentwikkelte aristotelische Dynamik in der Auffassung des historischen Aristoteles ihre Wurzeln hat, besteht doch der wesentliche Unterschied darin, daß Aristoteles selbst keine quantitativ-metrische Theorie aufgestellt hat, sondern im Bereich der qualitativkomparativen Begrifïsbildung stehengeblieben ist. Das heißt, daß er zwar die Bewegung von Körpern hinsichtlich ihrer Geschwindigkeit vergleicht, aber das jeweils bestimmbare Verhältnis zwischen Zeit und durchlaufener Strecke nicht zahlenmäßig angibt, sondern nur vergleichsmäßig: relativ größer, kleiner oder gleich21. Dynamisch betrachtet, das heißt im Hinblick auf eine bewegende Ursache, werden dann audi die Gründe für diese in der Wahrnehmung beobachtbare Verschiedenartigkeit der Geschwindigkeiten deutlidi. Denn die verschiedenen Geschwindigkeiten der bewegten Körper sind abhängig von der jeweils wirkenden Kraft und Schwere. Ursprünglich ist die Kraft bei Aristoteles nur Ursache der Bewegung, insofern sie etwas anderes bewegt 22 . Im weiteren Verlauf der Argumentation wird aber die bewegende Kraft auf alle Kräfte ausgedehnt, nicht nur auf die, welche den Körper umgeben, sondern audi auf die Eigenschaft, die in dem Körper selbst liegt, die Schwere. Die Sdiwere bzw. die Leichtigkeit ist nach der Aristotelischen Auffassung das Vermögen des Körpers, sich zum anderen Körper in eine bestimmte naturgemäße Lage zu bringen 23 . Das Leitbild für diese Auffassung, nach der die Ortsbewegung 81
Physik VI, 2, vgl. K. Ulmer, Die Wandlung des naturwissenschaftlichen Denkens zu Beginn der Neuzeit bei Galilei, in: Symposium, Bd. 2, Freiburg 1959, S. 325 f. a Vgl. Met. 1046 a 10, Phys. 301 a 24. " Vgl. Phys. 307 b 33, 301 a 24.
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nichts anderes ist als das Herstellen der dem Körper zu dem anderen Körper naturgemäßen Lage, ist audi hier die Waage, auf der das Gleichgewicht eine genau definierte Art der Bewegung, nämlich die Ruhe, repräsentiert. Die Schwere ist daher bei Aristoteles nur dann bewegende Kraft, insofern der Körper sich nicht an dem ihm gemäßen Ort befindet. Aus dieser grundsätzlichen Überlegung ergibt sich eine Reihe von weiteren Bestimmungen: Je schwerer der Körper ist, desto größer ist seine Fähigkeit, die Widerstände zu überwinden, die ihn vom natürlichen Ort fernhalten. Deswegen ist der schwerere Körper auch der schnellere24, und er bewegt sich um so schneller, je mehr er sich dem ihm gemäßen Ort nähert 28 . Die Gründe für diesen letzteren Tatbestand gibt Aristoteles nicht genau an. Seine Bemerkungen über die Luft als das fördernde Medium, in dem die Körper sich bewegen, führen jedoch zu den weiteren Oberlegungen über die Unmöglichkeit des Vakuums. Mit der Analyse dieser Behauptung läßt auch Galilei seine Kritik an der Aristotelischen Dynamik beginnen. Bei Aristoteles selbst ergibt sich jedoch als Grundauffassung, daß dem einheitlichen individuellen Bewegungsphänomen, das jeweils von der individuellen Schwere oder Leichtigkeit des Körpers und der hemmenden oder fördernden Kraft der Umgebung des Körpers abhängt, keine allgemeine oder gar numerisch exakt feststellbare Gesetzmäßigkeit zukommt. In der Weiterentwicklung der Aristotelischen Lehre in der Spätantike, im Mittelalter und in der Renaissance wird diese von der Metaphysik her verständliche Selbstbeschränkung aufgehoben und die aristotelische Dynamik zu einer quantitativmetrischen Theorie umkonstruiert, wodurch sie erst überhaupt experimentell überprüfbar und widerlegbar wird. Die beiden Grundaxiome dieser Theorie sind: 1. Körper von verschiedenem Gewicht bewegen sich in ein und demselben Medium mit Geschwindigkeiten, die ihrem Gewicht proportional sind. Zum Beispiel: Ein Körper mit zehnmal größerem Gewicht bewegt sich zehnmal schneller. 2. Die Geschwindigkeiten ein und derselben Masse verhalten sidi in verschiedenen Medien umgekehrt wie die Dichtigkeit. Wenn zum Beispiel die Dichtigkeit des Wassers zehnmal so groß ist wie die der Luft, dann ist die Geschwindig24 ss
Phys. 216 a 18 f. Phys. 230 b 25, 265 b 14, 288 a 18 f.
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keit in der Luft zehnmal größer als die Geschwindigkeit im Wasser*8. In der experimentellen Widerlegung dieser beiden quantitativmetrisdi formulierten Grundgesetze der aristotelischen Dynamik gewinnt Galilei die Bestandteile seiner neuen kinematischen Theorie. Das bedeutet einerseits, daß das Experiment in seiner falsifizierenden Funktion die heuristische Funktion beibehält, und andererseits, daß der konstruktive Aufbau der neuen Theorie der alten Theorie in strenger Weise parallel verläuft. So läßt auch Galilei seinen Argumentationsprozeß mit einem Experiment beginnen, das sich gegen den ersten Satz der aristotelischen Dynamik richtet. Dieses Experiment ist als eine Art Vorspiel zur eigentlichen Widerlegung anzusehen, denn es deckt zunächst lediglich die Inkonsequenz auf, die in dieser Auffassung liegt. Der Ausgang dieses Experiments ist so klar, daß es bloß in Gedanken durchgeführt werden muß. Im Dialog zwischen Salviati, dem Vertreter von Galileis nuova scienza, und Simplicio, dem Aristoteliker, wird dieses Gedankenexperiment folgendermaßen geschildert: „Salv.: Wenn wir zwei Körper haben, deren natürliche Geschwindigkeit verschieden sei, so ist es klar, daß, wenn wir den langsameren mit dem geschwinderen vereinigen, dieser letztere von jenem verzögert werden müßte, und jener, der langsamere, müßte vom schnelleren beschleunigt werden. Seid Ihr hierin mit mir einverstanden? Simpl.: Mir scheint die Konsequenz völlig richtig. Salv.: Aber wenn dieses richtig ist, und wenn es wahr wäre, daß ein großer Stein sich z. B. mit 8 Maß Geschwindigkeit bewegt, und ein kleinerer Stein mit 4 Maß, so würden beide vereinigt eine Geschwindigkeit von weniger als 8 Maß haben müssen; aber die beiden Steine zusammen sind doch größer, als jener größere Stein war, der 8 Maß Geschwindigkeit hatte; mithin würde sich nun der größere langsamer bewegen als der kleinere; was gegen Eure Voraussetzung wäre. Ihr seht also, wie aus der Annahme, ein größerer Körper habe eine größere Geschwindigkeit als ein kleinerer Körper, ich Euch weiter folgern lassen konnte, daß ein größerer Körper langsamer sich bewege als ein kleinerer." 27 Mit dieser Argumentation ist grundsätzlich bewiesen, daß die aristotelische Dynamik M 17
Vgl. Galilei, Unterredungen, S. 56. Ebenda, S. 57 f.
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keine in die Richtung der quantitativ-metrischen Begriffsbildung fortsetzbare Theorie ist. Die ursprüngliche Lehrmeinung des Aristoteles von der jeweils individuellen natürlichen Geschwindigkrit eines Körpers ließ auch eine quantitative Formulierung mit numerischen Maßangaben prinzipiell nicht zu. Sie war im Rahmen dieser qualitativen, auf die unmittelbare Erfahrung und auf die Metaphysik des natürlichen Ortes gestützten Theorie der Bewegung weder möglich noch notwendig. Jede Weiterentwicklung in die Richtung der Quantifizierung war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die negative Entscheidung gegen die Fortsetzbarkeit der aristotelischen Dynamik liefert aber zugleich den ersten Schritt zu einer neuen Theorie vom freien Fall. Aus der Erkenntnis der Unmöglichkeit, daß beim freien Fall die Hinzufügung eines Gewichtes eines kleineren Steines zu dem eines größeren Steines, gleichgültig ob der schwere Stein seine Lage auf oder unter dem großen Stein hat, die Geschwindigkeit vermindern würde, ergibt sich die Einsicht, daß „große und kleine Körper mit gleichem spezifischen Gewicht sich mit gleicher Geschwindigkeit bewegen" 28 . Diese Hypothese als Teilerkenntnis einer noch systematisch zu konstruierenden Alternativtheorie wird aber bereits in diesem isolierten Stadium einem experimentellen Test unterworfen, der ihre Wahrscheinlichkeit durch einen quantitativ-metrischen Vergleich mit der Alternativhypothese bestätigt. Eine absolute Verifikation oder absolute Falsifikation ist für die Anerkennung der neuen und für die Ablehnung der alten Hypothese weder möglich nodi notwendig. Es genügt ein klares Verhältnis der Abweichung der beiden Hypothesen von der experimentellen Erfahrung. Galilei drückt dieses Verhältnis dadurch in drastischer Weise aus, daß er Salviati von der neuen Hypothese sagen läßt, sie weiche „um Haaresbreite von der Wirklichkeit ab", während die alte Hypothese der aristotelischen Lehre vom freien Fall einen „Fehler von Ankertau-Dicke" enthält: „Aristoteles sagt, daß Körper von verschiedenem Gewicht in ein und demselben Mittel sich mit Geschwindigkeiten bewegen, die ihren Gewichten proportional sind, und gibt ein Beispiel mit Körpern, bei welchen man den reinen, absoluten Effekt des Gewichts wahrnehmen kann, mit Vernachlässigung des Einflusses, den die Gestalt, die kleinsten Momente haben, Dinge, die stark vom Medium beeinflußt 2
» Ebenda, S. 59.
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werden, so daß die reine Wirkung der Schwere getrübt wird: wie ζ. B. Gold, der spezifisch schwerste Körper, als sehr dünnes Blatt in der Luft flattert; desgleichen in der Form eines sehr feinen Pulvers. Wollt Ihr nun den allgemeinen Satz erfassen, so zeigt, daß derselbe für alle Körper richtig sei und daß ein Stein von 20 Pfund Gewicht 1 Ornai schneller falle als einer von 2 Pfund: das, behaupte ich, ist eben falsch, und mögen beide von 50 oder 100 Ellen herabfallen, sie kommen stets in demselben Augenblick an." 29 Daß ein einziges Experiment dieser Art nodi keine endgültige Entscheidung darstellt, sondern nur der Anfang einer Reihe von weiteren Experimenten ist, die die gewonnene Erkenntnis unterstützen und präzisieren, ergibt sich bereits aus dem in diesem Entwicklungsstadium der neuen Hypothese nicht eindeutig zurückweisbaren Einwand, daß vielleicht „bei einer Fallhöhe von mehreren Tausend Ellen das eintreten würde, was bei kleinerer nicht beobachtet wird". Die Unmöglichkeit einer Realisierung eines solchen Experimentes, „da man solche senkrechte Erhebungen auf der Erde gar nicht findet"30, weist bereits auf den gleichwertigen Ersatz des „gebremsten" Falls auf der schiefen Ebene hin. Die Präparierung eines solchen Experimentes bedarf aber schon einer wissenschaftlichen Theorie, die die Äquivalenz beider Fälle nachweisen kann. Deshalb bricht der Argumentationsprozeß bezüglich des ersten Lehrsatzes der aristotelischen Dynamik an dieser Stelle vorläufig ab, und Galilei wendet sich dem zweiten Satz zu, der sich auf die die Bewegung hindernde oder fördernde Kraft des Mediums richtet. Entsprechend der Argumentationsstruktur, die die Widerlegung des ersten Satzes bestimmt hat, wird auch hier in einem Vorspiel die Inkonsequenz dieses zweiten Axioms durch ein Gedankenexperiment vorgeführt, das wegen seiner Evidenz keiner realen Demonstration bedarf: Angenommen, daß die Dichtigkeit des Wassers zehnmal größer ist als die der Luft, „so müßte man entsprechend dem Aristotelischen Satze geradezu behaupten, in der Luft falle der Holzstab mit 20 Maß Geschwindigkeit, im Wasser mit 2 Maß, und solle im Wasser nicht emporsteigen, bis er schwimmt, wie es doch geschieht." Auch hier erweist sich, daß quantitativ-metrische Angaben » Ebenda, S. 59 f. 30 Ebenda, S. 60.
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die ursprüngliche Lehre des Aristoteles, die mit den qualitativen Relationsbegriffen der „Schwere" und „Leichtigkeit" operiert, auf eine inadäquate Form bringen, die notwendig an der Erfahrung scheitern muß. Dies zeigt sich auch, wenn man das Gedankenexperiment weiter fortsetzt und an Stelle des Holzstabes einen zweiten Stab von anderem Material sich vorstellt, der im Wasser wirklich mit zwei Maß Geschwindigkeit sich bewegt, und fragt, wie rasch dieser in der Luft fallen würde. Dann aber wird erst recht die Inkonsequenz der Aristotelischen Auffassung deutlich, wie Salviati dem Aristoteliker Simplicio gegenüber folgendermaßen demonstriert: „Nach Aristoteles müßtet Ihr sagen, mit 20 Maß Geschwindigkeit: aber letztgenannten Wert habt Ihr selbst dem Holze zuerkannt: also müßten beide, redit verschiedene Körper mit gleicher Geschwindigkeit in der Luft sich bewegen. Wie stimmt das zum ersteren Gesetz des Philosophen, demgemäß verschiedene Körper in ein und demselben Medium sich mit ganz verschiedener Geschwindigkeit bewegen, und zwar im Verhältnis ihrer Gewichte? Aber abgesehen von all solchen Überlegungen, wie kommt es, daß die allerhäufigsten und allerhandlichsten Phänomene von Euch übersehen worden sind, habt Ihr nicht beachtet, wie zwei Körper im Wasser sich verschieden, etwa im Verhältnis von 1:100 bewegen, während beim Fall in der Luft kein Hundertstel Unterschied des Betrages bemerkt wird? Wie etwa ein Marmorei 1 Ornai schneller als ein Hühnerei im Wasser niederfällt; während beim Fall beider aus 20 Ellen Höhe durch die Luft das Marmorei keine vier Finger breit jenes übertrifft; und endlich mancher Körper sinkt in 3 Stunden 10 Ellen tief im Wasser, welch' letztere Strecke in der Luft nur ein oder zwei Pulsschläge beansprucht." 31 Nach einigen Überlegungen über die unterschiedliche Wirkung, die verschiedene Medien auf den Bewegungsablauf ausüben, wobei bei Körpern mit unterschiedlichem spezifischen Gewicht nicht nur „Luft" und „Wasser" als Medium in Betracht gezogen werden, sondern nach dem Prinzip der Variation auch der Extremfall einer Bewegung in Quecksilber, wird dann die Alternativhypothese zum zweiten Aristotelischen „Bewegungsaxiom" aufgestellt: „Angesichts dessen glaube ich, daß, wenn man den Widerstand der Luft ganz aufhöbe, alle Körper ganz gleich schnell fallen würden." 3 2 Die experimen» Ebenda, S. 61.
n
Ebenda, S. 65.
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teile Bestätigung der Hypothese ist wiederum nur relativ im Vergleich zum empirischen Wahrheitswert der alten Hypothese zu sehen. Denn die einfachen Experimente, mit denen Galilei in diesem prätheoretischen Stadium seiner nuova scienza operiert, können der zunächst bloß als Vermutung aufgestellten Hypothese nur einen hohen Wahrscheinlichkeitsgrad zuweisen auf Grund eines gegenüber der alten Hypothese klaren Verhältnisses der größeren Wirklichkeitsnähe. Ein Experiment, das genau den Bedingungen der zu überprüfenden Hypothese entsprechen würde, war zumindest damals, zu Galileis Zeiten, nicht realisierbar, so daß das Experiment nur unter jenen Bedingungen stattfinden konnte, die den vorausgesetzten theoretischen Bedingungen nodi am ähnlichsten sind: „Wir wollen die Bewegung der verschiedensten Körper in einem nicht widerstehenden Mittel untersuchen, so daß alle Verschiedenheit auf die fallenden Körper zurückzuführen wäre. Und da nur ein Raum, der völlig luftleer ist und auch keine andere Materie enthält, sei dieselbe noch so fein und nachgiebig, geeignet erscheint das zu zeigen, was wir suchen, und da wir solch einen Raum nicht herstellen können, so wollen wir prüfen, was in feineren Medien und weniger widerstehenden geschieht im Gegensatz zu anderen weniger feinen und stärker widerstehenden. Finden wir tatsächlich, daß verschiedene Körper immer weniger verschieden sich bewegen, je nachgiebiger die Medien sind, und daß schließlich, trotz sehr großer Verschiedenheit der fallenden Körper im allerfeinsten Medium der allerkleinste Unterschied verbleibt, ja eine kaum noch wahrnehmbare Differenz, dann, scheint mir, dürfen wir mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen, daß im Vakuum völlige Gleichheit eintreten werde." 38 Das klare numerische Verhältnis, das zugunsten der neuen und zuungunsten der alten Hypothese spricht, läßt Galilei von Salviati auf folgende Weise aussprechen: „Was also geschieht in der Luft, in der wir eine gutdefinierte Gestalt des Körpers annehmen wollen, und dazu eine sehr leidite Substanz, z. B. eine gespannte Blase, in welcher die eingeschlossene Luft, in Luft gewogen, nichts wiegen würde (oder wenig, da sie etwas komprimiert sein könnte), so daß das Gewidit bloß von der Membran herrührt, also noch nicht den lOOOsten Teil eines Bleigewichtes von derselben Größe betrüge. Diese beiden » Ebenda, S. 65 f.
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Körper, Herr Simplicio, lasset fallen aus einer Höhe von 4 oder 6 Ellen, um wieviel meint Ihr, werde das Bleigewicht früher ankommen als die Blase? Glaubt mir, nicht um's dreifache oder doppelte, obgleich das Gewicht um's lOOOfadie verschieden." 34 An diesem Verhältnis ändert auch die durch Variation desselben Experimentes sich ergebende Tatsache nichts, daß bei sehr großen Strecken das Blei die Blase immer mehr zurückläßt. Vielmehr zeigen diese Resultate, daß die Ursache der verschiedenen Geschwindigkeiten von Körpern verschiedenen spezifischen Gewichts „außerhalb" liegt; und zwar im Widerstand des Mediums, der sich um so stärker auswirkt, je länger der Fall dauert. Wenn man aber diesen Widerstand aufheben könnte, würden alle Körper gleich sdinell fallen. Diese Feststellung leitet Galilei wiederum von dem Befund her, „daß Körper sehr verschiedenen Gewichts um so mehr in der erlangten Geschwindigkeit differieren, je größer die zurückgelegten Strecken sind: was nicht statthätte, wenn das verschiedene Gewicht die Ursache wäre. Denn da diese Gewichte immer dieselben sind, so müßte dasselbe Verhältnis zwischen den Strecken obwalten, während wir bei der Bewegung ein stetes Anwachsen desselben bemerken; ein sehr schwerer Körper wird den sehr leichten beim Fall durch eine Elle nicht um den zehnten Teil übertreffen, aber von 12 Ellen herab schon um den dritten Teil, von 100 Ellen herab um 90/ioo."35 Galilei läßt nun Salviati eine Reihe von Experimenten aufzählen, die alle den Sinn haben zu zeigen, wieviel das Gewicht des Mediums von dem Gewicht des beweglidien Körpers fortnimmt. Dadurch findet Galilei ein rechnerisches Verfahren zur Bestimmung der absoluten Geschwindigkeit der Körper im Vakuum. Alle diese Versuche mit Körpern verschiedenen spezifischen Gewichts, Stäben aus Blei, Elfenbein, Ebenholz usw., durchgeführt im Medium der Luft von einem Turm oder im Wasser, zeigen, daß die neue Hypothese von der prinzipiellen Gleichheit der Fallgeschwindigkeiten im Vakuum „genauer" in den Resultaten stimmt als die Überlegungen des Aristoteles. Trotzdem gibt aber Galilei zu, daß seine Lehre „so vollkommen neu und auf den ersten Anblick recht unwahrscheinlich ist, daß, wenn man sie nicht genug aufhellen und klarer als die Sonne erscheinen lassen könnte, es besser wäre, sie zu verschweigen, als ihr Ausdruck zu geben" 88 . " Ebenda, S. 66.
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Ebenda.
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Ebenda, S. 74.
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Mit diesen Worten geht Galilei von dem probabilistischen Hypothesenvergleich über zu den eigentlichen, das heißt positiv „beweisenden Experimenten". Es ist dies jene Form der Fallexperimente, wie sie dann in die wissenschaftliche axiomatischdeduktive Theorie der Bewegung eingebaut werden: die Bewegung von Kugeln längs einer geneigten Ebene und die Pendelbewegung. Diese Experimente stehen stellvertretend für die „natürliche" Bewegung des freien Falls, bei dem die mathematisch erfaßbaren Gesetzmäßigkeiten nicht eindeutig von den störenden Nebenbedingungen zu isolieren sind: „Der Versuch mit zwei an Gewicht möglichst verschiedenen Körpern, die man fallen läßt, um zu beobachten, ob sie gleiche Geschwindigkeit erlangen, bietet einige Schwierigkeiten dar, weil bei großer Höhe das Medium, welches stets geöffnet und zur Seite geschoben werden muß, größeren Einfluß hat auf einen sehr leichten Körper als auf den heftigen Impuls eines sehr schweren Körpers, denn der sehr leichte wird zurückbleiben, und bei geringer Höhe könnte man zweifeln, ob eine Differenz vorhanden sei, da sie kaum beobachtet werden kann. Deshalb habe ich überlegt, ob man nicht mehrmals das Herabfallen durch geringe Höhen wiederholen könnte, so zwar, daß eine Akkumulation jener kleinen Zeitdifferenz entstünde, zwischen der Ankunft des schwereren und des leichteren Körpers, wodurch ein sogar sehr leicht wahrnehmbarer Unterschied in die Erscheinung träte. Um übrigens langsamere Bewegungen zu untersuchen, bei welchen die Arbeit des Widerstandes, die Wirkung der Schwere zu vermindern, kleiner ist, habe ich die Körper längs einer schwach geneigten Ebene fallen lassen, da auf einer solchen geradeso wie beim freien Fall das beobachtet werden kann, was sich auf Körper verschiedenen Gewichts bezieht, und weiter gedachte ich mich zu befreien von dem Widerstande, der durch den Kontakt mit der geneigten Ebene entstehen könnte; endlich habe ich zwei Kugeln genommen, eine aus Blei und eine aus Kork, jene gegen lOOmal schwerer als diese, und habe beide an zwei gleiche feine Fäden von 4 bis 5 Ellen Länge befestigt und aufgehängt; entfernte ich nun beide Kugeln aus der senkrechten Stellung und ließ sie zugleich los, so wurden Kreise von gleichen Halbmessern beschrieben, die Kugeln schwangen über die Senkrechte hinaus, kehrten auf denselben Wegen zurück, und nachdem sie wohl lOOmal hinund hergegangen waren, zeigte sich deutlich, daß der schwerere Körper so sehr mit dem leichten übereinstimmte, daß weder
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in 100 noch in 1000 Schwingungen die kleinste Verschiedenheit zu merken war; sie bewegten sich in völlig gleichem Schritt. Man bemerkt wohl einen Einfluß des Mediums, welches einen Widerstand darbietet der Bewegung und weit merklicher die Schwingungen der Korkkugel vermindert, als die des Bleies, aber dadurch werden sie nicht mehr oder minder häufig, selbst wenn die vom Kork zurückgelegten Bögen nur 5 oder 6 Grad betragen, und die des Bleies 50 oder 60 Grad, sie werden sämtlich in ein und derselben Zeit zurückgelegt." 37 Galilei hat bis zu diesem Punkte seiner Argumentationskette nicht den Anspruch erhoben, an die Stelle der Aristotelischen Lehre eine neue Wissenschaft gesetzt zu haben. Die beiden ersten Tage der Discorsi bewegen sich noch im Rahmen empirischer Untersuchungen, wie sie für die Werkstättentradition, in deren Rahmen sich die experimentelle Methode weitgehend unabhängig von der theoretisch begründeten Wissenschaft entwickelt hat, kennzeichnend ist. Dementsprechend sind auch diese beiden Teile der Discorsi ausschließlich in Italienisch abgefaßt, das heißt also in der natürlichen Alltagssprache, in der grundsätzlich die Vertreter dieser Tradition ihre Erkenntnisse ausgedrückt haben. Beispiele dafür sind Stevin, der holländisch schrieb, der Seemann und Kompaßbauer R. Norman, dessen Werk „The New Attractive" (1581) den Theoretiker W. Gilbert sehr stark beeinflußt hat, und schließlich der unmittelbare Vorläufer Galileis in dem Problem der Wurfgeschoßbahnen Nicolo Tartaglia, dessen erfolgreichstes Werk „Quesiti et inventioni diverse" (1546) den „Ton der venezianischen Werkstatt, des Kaufladens und des Arsenals"*8 getreulich wiedergibt. Wie sehr der „technische Empirismus" der Werkstättentradition vom wissenschaftlich-theoretischen Rationalismus noch zu Galileis Zeiten getrennt war, zeigt nicht nur die berühmte Weigerung des Paduaner Aristotelikers Cesare Cremonini, durchs Fernrohr zu blicken, sondern auch Galileis ausdrückliche Rechtfertigung jener Methode, die „nicht bloß die scheinbaren Schwierigkeiten behebt, sondern auch die wahren Rätsel der Natur löst, mit Überlegungen, Beobachtungen und Versuchen, die jedermann zugänglich sind". Galilei muß diese Vorgangsweise insofern verteidigen, als die damit erreichten „Neuerungen gelegentlich deswegen gering geachtet wer" Ebenda, S. 74 f. 88 Vgl. L. Olschki, Galilei und seine Zeit, Halle 1927, S. 82.
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den, weil sie gemeinplätzig und auf gar zu niedrigen und populären Grundsätzen erbaut seien, als ob nidit die bewunderungswürdigste und schätzbarste Eigenschaft der demonstrativen Wissenschaften das Hervorquellen und Hervorkeimen aus ganz bekannten gemeinverständlichen und unbestrittenen Prinzipien sei"3®. Mit der Aufstellung einer solchen demonstrativen Wissenschaft in der Form einer axiomatisch-deduktiven Theorie verbindet daher nun audi Galilei einen Anspruch, welcher in der bisherigen Tradition der Erfahrungswissenschaft lediglich in der Astronomie realisiert war: nämlich den Nachweis gegenseitiger Abhängigkeitsbeziehungen meßbarer Größen. Dadurch wird die Physik erst zu einer exakten Wissenschaft, deren Gesetze im Zusammenhang mit bestimmten Zusatzbedingungen Voraussagen mit genauen numerischen Angaben erlauben. In diesem Anspruch hat Galilei selbst das eigentlich Neue an seiner „novissima scientia" gesehen. Formuliert ist dieser Anspruch ebenso wie das Resultat ausdrücklich am Beginn des dritten Tages der Discorsi als Einleitung zur axiomatisch-deduktiven Theorie der Ortsbewegung, die nun zum Unterschied von den vorhergehenden Beschreibungen der Experimente in der lateinischen Wissenschaftssprache abgefaßt ist: „Über einen sehr alten Gegenstand bringen wir eine ganz neue Wissenschaft. Nichts ist älter in der Natur als die Bewegung, und über dieselbe gibt es weder wenig nodi geringe Schriften der Philosophen. Dennoch habe ich deren Eigentümlichkeiten in großer Menge und darunter sehr wissenswerte, bisher aber nicht erkannte und nodi nicht bewiesene, in Erfahrung gebracht. Einige leichtere Sätze hört man nennen: wie zum Beispiel, daß die natürliche Bewegung fallender schwerer Körper eine stetig beschleunigte sei. In welchem Maße aber diese Beschleunigung stattfinde, ist bisher nicht ausgesprochen worden; denn so viel ich weiß, hat niemand bewiesen, daß die vom fallenden Körper in gleichen Zeiten zurückgelegten Strecken sich zueinander verhalten wie die ungeraden Zahlen. Man hat beobachtet, daß Wurfgeschosse eine gewisse Kurve beschreiben; daß letztere aber eine Parabel sei, hat niemand gelehrt." 40 Galilei läßt die Abhandlung, die den Titel „De motu locali" trägt, in drei Teile zerfallen: 1. Über die gleichförmige Bewe3
· Galilei, Unterredungen, S. 140. Ebenda, S. 140.
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gung (De motu aequabili), 2. Über die natürlich beschleunigte Bewegung (De motu naturaliter accelerato), 3. Über die gewaltsame Bewegung oder über die Bewegung der Wurfgeschosse (De motu violento, seu de motu proiectorum). Die beiden ersten Teile werden in den „Discorsi", in denen nun die italienische Alltagssprache der Unterredner mit der lateinischen Wissenschaftssprache des Traktates abwechselt, am dritten Tag besprochen, der letzte Teil wird am vierten Tag behandelt. Am fünften Tag wird noch einmal auf den Begriff der gleichförmigen Bewegung zurückgegriffen und Proportionalitätsfragen der Euklidischen Geometrie erörtert. Der sechste Tag, der vom Stoß handelt, bringt wichtige Formulierungen zur Entwicklung des Trägheitsgesetzes. Die Definition der gleichförmigen Bewegung, mit der der erste Teil der Abhandlung beginnt, ist als Definition eines theoretischen oder genauer eines rein strukturellen Begriffes zu verstehen, das heißt, eines soldien Begriffes, der die Gesamtstruktur einer axiomatisch-deduktiven Theorie bestimmt und nur innerhalb dieser Theorie eine partielle empirische Deutung erhält. Eine solche Definition ist daher weder eine apriorische Wesensbestimmung im aristotelischen Sinn nodi die vollständige Beschreibung eines empirisch in der Wahrnehmung erfahrbaren Gegenstandes oder Vorganges. Die Definitionen der theoretisch-strukturellen Grundbegriffe einer axiomatisch-deduktiven Theorie haben vielmehr den Sinn, die Beziehungen und Abhängigkeiten der in ihnen verwendeten Begriffe aufzuzeigen, die dann in den Axiomen explizit festgelegt werden. Die Definition der gleichförmigen Bewegung lautet bei Galilei: „Ich nenne diejenige Bewegung gleichförmig, bei welcher die in irgend weldien Zeiten von Körpern zurückgelegten Strecken untereinander gleidi sind." In dieser Definition sind die folgenden vier Axiome enthalten: „I. Axiom: Die bei ein und derselben Bewegung in längerer Zeit zurückgelegte Strecke ist größer als die in kürzerer Zeit vollendete. II. Axiom: Bei gleichförmiger Bewegung entspricht der größeren Strecke eine größere Zeit. III. Axiom: In gleichen Zeiten wird bei größerer Geschwindigkeit eine größere Strecke zurückgelegt als bei kleinerer Geschwindigkeit. IV. Axiom: Die Geschwindigkeit, bei welcher in einer gewissen 3
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Zeit eine größere Strecke zurückgelegt wird, ist größer als die Geschwindigkeit, bei welcher in derselben Zeit eine kleinere Strecke vollendet w i r d . " 4 1 Diese axiomatische Darstellung des Begriffs der gleichförmigen Bewegung als Grundlage der terrestrischen Medianik hat ihre parallele Entsprechung in der antiken Himmelsmechanik. Während jedoch Ptolemäus der gleichförmigen Kreisbewegung den Vorzug gibt und damit die Astronomie von der Physik abgrenzt, die sich mit dem an sich Vergänglichen, der irdischen Materie, beschäftigt, die als charakteristisches Merkmal die geradlinige Bewegung hat, kehrt Galilei dieses Verhältnis bewußt um. Unter Berufung auf Plato gibt er der geradlinigen Bewegung die Priorität vor der kreisförmigen. Im Zusammenhang mit der Konstruktion der „krummen" Linie der Wurfparabel spricht Galilei diesen Gedanken in folgender Weise aus: „Hier ist am Platz darauf hinzuweisen, wie schön der Gedanke des Autors übereinstimmt mit der Methode des Plato, die gleichförmigen Bewegungen beim Umlauf der himmlischen Körper zu bestimmen; er hatte von ungefähr erkannt, daß ein Körper von der Ruhe bis zu einer gewissen Geschwindigkeit, in welcher er beharren sollte, nicht gelangen könne, ohne alle die geringeren Geschwindigkeitswerte vorher anzunehmen, er meinte, Gott habe nach der Schöpfung der himmlischen Körper, um ihnen diejenigen Geschwindigkeiten zu erteilen, mit welchen sie gleichförmig in kreisförmigen Bahnen sich ewig fortbewegen sollten, von der Ruhe aus durch gewisse Strecken natürlich beschleunigt, sie geradlinig fortschreiten lassen, ähnlich wie wir die Körper von der Ruhe aus sich beschleunigt fortbewegen sehen. Er fügt noch hinzu, daß, nachdem der ihm wohlgefällige Geschwindigkeitswert erlangt war, er die geradlinige in eine kreisförmige Bewegung umwandelte; diese allein sei geeignet, gleichförmig fortzubestehen, da die Umläufe statthaben ohne Entfernung oder Annäherung an ein gewisses Ende oder Ziel." 4 2 Mit diesen Gedanken eines einheitlichen Ursprungs aller Bewegungsarten beseitigt Galilei einerseits jene totale Trennung zwischen Himmel und Erde, die er schon durch die Fernrohrbeobachtungen des Mondes aufgehoben hat. Denn dieser himmlische Körper erwies sich bereits dadurch unleugbar als eine zweite Art von Erde, mit einer „rauhen und unebenen 41 42
Ebenda, S. 141 f. Ebenda, S. 231 f.
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Oberfläche und, ebenso wie das Antlitz der Erde selbst, mit ungeheuren Schwellungen, Mulden und Krümmungen überall direkt bedeckt" 4 3 . Andererseits fällt Galilei aber durch die Wiedereinführung der gleichförmigen konstanten Kreisbewegung der Himmelskörper weit hinter die Ergebnisse der Astronomia N o v a Keplers zurück, die er einfach ignoriert. Während jedoch die gleichförmige Kreisbewegung der Ptolemäischen Astronomie in der sogenannten ersten Bewegung, der (scheinbaren) täglichen Umdrehung der Fixsternsphäre, bei den Zirkumpolarsternen ein sinnlich wahrnehmbares und exakt beobachtbares Äquivalent besitzt, ist dies bei der gleidiförmigen geradlinigen Bewegung Galileis nicht der Fall. Diese Art der Bewegung ist eine theoretische Konstruktion, die in der wirklichen Erfahrung nicht auftritt. Audi im Übergang von der gleichmäßigen Bewegung zur beschleunigten Bewegung sieht sich Galilei grundsätzlich nicht an die Erfahrung gebunden. Im Rahmen einer axiomatisch-deduktiven Theorie der Bewegung ist es „durchaus gestattet, irgend eine Art der Bewegung beliebig zu ersinnen und die damit zusammenhängenden Ereignisse zu betrachten; wie z. B. jemand, der Schraubenlinien oder Conchoide aus gewissen Bewegungen entstanden gedacht hat, die in der N a t u r gar nicht vorkommen mögen, doch aus seinen Voraussetzungen die Haupteigenschaften wird erschließen können" 4 4 . Allein die Zielsetzung der erfahrungswissenschaftlichen Theorie, beobachtbare Erscheinungen erklären und voraussagen zu können, führt zu dem praktisch bestimmten Entschluß „die Definition der beschleunigten Bewegung zusammenfallen zu lassen mit dem Wesen einer natürlich beschleunigten Bewegung, die in der N a t u r bei frei fallenden Körpern vorkommt". Wie Newton geht auch Galilei von der Voraussetzung aus, daß die N a t u r in allen ihren Verrichtungen „die allerersten, einfachsten und leichtesten Hilfsmittel zu verwenden pflegt". Wie das Schwimmen und Fliegen in der einfachsten und leichtesten Weise durch jene Mittel zustande kommt, die die Fische und Vögel mit natürlichem Instinkt gebrauchen, so ist auch die Bewegung eines aus der Ruhelage von bedeutender H ö h e herabfallenden Steines, der nach und nach neue Zuwüchse an Geschwindigkeit erlangt, die denkbar einfachste Form einer beschleunigten Bewegung. 43 44
3*
G.Galilei, Sidereus Nuncius, Opere, Mailand 1810, Bd. 4, S. 309. Galilei, Unterredungen, S. 146 f.
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Denn es gibt keinen einfacheren Zuwachs an Geschwindigkeit als denjenigen, der immer in gleicher Weise hinzutritt. Das ergibt sich für Galilei rein rational aus „der Verwandtschaft der Begriffe der Zeit und der Bewegung", die in den Grundaxiomen der gleichförmigen gleichmäßigen Bewegung explizit durch die Einführung des Begriffes der „Geschwindigkeit" (velocitas) formuliert worden ist. Eine gleichmäßige Vermehrung der Geschwindigkeit entspricht daher einer Vermehrung der gleichen Zeitintervalle. Daraus folgt die Definition: „Gleichförmig oder einförmig beschleunigte Bewegung nenne ich diejenige, die von Anfang an in gleichen Zeiten gleiche Geschwindigkeitszuwüchse erteilt." 45 Um aber zu einem genauen Maß dieser Beschleunigung zu kommen, muß eine erste zusätzliche Voraussetzung angenommen werden, die bereits auf die experimentelle Realisierung der Fallbewegung auf verschieden geneigten Ebenen vorausgreift: „Die Geschwindigkeitswerte, welche ein und derselbe Körper bei verschiedenen Neigungen einer Ebene erlangt, sind einander gleich, wenn die Höhen dieser Ebenen einander gleich sind. Der Autor nennt ,Höhe einer geneigten Ebene' das Lot, welches vom höchsten Punkte der Ebene auf ein und dieselbe horizontale Ebene gefällt werden kann, welche durch die untersten Punkte der Ebene gelegt wird. Wenn also BA parallel dem Horizont, über welchem die geneigten Ebenen CA, CD sich erheben, so wird das Lot CB, senkrecht zur Horizontalen BA, die Höhe beider Ebenen CA, CD genannt. Er nimmt an, daß der längs CA, CD sich bewegende Körper, wenn er in A und D anlangt, gleiche Geschwindigkeit habe, weil sie gleiche Höhe CB haben. Und zwar ist die Geschwindigkeit dieselbe, wie der Körper sie bei freiem Falle von C aus in Β erlangt hätte." 46 (Vgl. Abb. 5) Nachdem auf diese Art und Weise durch ein geometrisches Modell, das in dem ebenfalls geometrischen Zweisphärenmodell des terrestrischen Beobachters in der Astronomie seine Parallele
45
Ebenda, S. 148.
" Ebenda, S. 155.
Das Experiment als aktive Forschungsmethode
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hat, die Grundbegriffe der empirischen Beobachtungsspradie, wie „Lot", „Horizontale" und „Höhe", eindeutig definiert sind, werden die freilich nie total erreichbaren idealisierten Bedingungen aufgezählt, unter denen diese Voraussetzung ihre Gültigkeit hat: „Die Ebenen müssen durchaus fest und glatt sein, und der Körper muß von vollkommenster Rundung sein, kurz Körper und Ebene müssen frei von jeder Rauhigkeit sein."47 Unterstützt wird die Wahrscheinlichkeit der ersten Voraussetzung durch eine zweite Voraussetzung, die „über die Wahrscheinlichkeit hinaus" die Argumente so vermehrt, daß sie fast als ein zwingender Beweis anerkannt werden können. Dieses zweite Postulat, das auf die experimentelle Realisierung der Pendelversudie ausgerichtet ist, behauptet, daß bei einem einfachen Fadenpendel die Kugel stets zu der gleichen Höhe zurückkehrt, von der aus sie fallengelassen ist (siehe Abb. 6). „Bringt man den Faden AB mit der Kugel nach AC, und läßt man die Kugel los, so wird dieselbe fallend den Bogen CBD beschreiben, indem sie so schnell den Punkt Β durcheilt, daß sie um den Bogen BD ansteigt fast bis zur Horizontalen CD, indem sie um ein sehr kleines Stück zurückbleibt, da in Folge des Widerstandes der Luft und des Fadens sie an der präzisen Wiederkehr gehindert wird. Hieraus können wir sicher schließen, daß die im Punkte Β erlangte Geschwindigkeit der Kugel beim Hinabfallen durch den Bogen CB genüge, um den Anstieg um einen gleidi großen Bogen BD zu bewirken zu gleidier Höhe."« An diesem Verhältnis ändert sich auch dann nichts, wenn durch Einsdilagen von Nägeln an einer in den Punkten E und F unmittelbar hinter dem Faden befindlichen Wand die Kugel ge-
A λ
Abb. 6 47
Ebenda.
48
Ebenda, S. 156.
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1. Galileis Gesetze der Fall- und Wurfbewegung
zwungen wird, beim Aufsteigen die kürzeren Bögen B G und BI zu durchlaufen. Immer erreicht die Kugel den Horizont C D . Wenn der hemmende Nagel jedoch so tief steht, daß der Rest des Fadens nicht mehr ausreicht, um diesen Horizont zu erreichen, wird der Faden sich überschlagend den Nagel umwickeln. Dieser Versuch mit dem Fadenpendel ist ein Äquivalent zu dem empirisch nicht realisierbaren Versuch des Abund Aufsteigens eines Körpers längs schiefer Ebenen. Denn hier ist das unüberwindbare Hindernis, daß bei ebenen Flächen sich im Endpunkt Β Winkel bilden, so daß eine längs der einen schiefen Ebene, der Sehne CB, herabfallende Kugel durch den Anprall an der aufsteigenden Ebene, der Sehne BD, einen Teil des Impulses verliert. Mit diesen „Voraussetzungen" oder „Postulaten" werden jedoch nur zugleich mit der Aufstellung der allgemeinen Definition der gleichförmig beschleunigten Bewegung von vornherein die Bedingungen festgelegt, unter welchen Experimente möglich sind, die die Folgerungen aus den Hypothesen bestätigen. Das Fallgesetz selbst, das sogenannte Quadratgesetz mit seinem Korollar, daß die Wege in aufeinanderfolgenden gleichen Zeiten sich verhalten wie die aufeinanderfolgenden ungeraden Zahlen, stellt aber Galilei unabhängig von den Experimenten auf rein deduktivem Weg, das heißt durch „strenge Schlußfolgerungen" aus den Bewegungsaxiomen der gleichförmigen Bewegung und als Folge der Definition der gleichförmig beschleunigten Bewegung, auf. Im Rahmen des nachträglich geordneten axiomatisch-deduktiven Systems benötigt er dazu lediglich zwei diskursive Schritte. Der erste Schritt führt zu einem Theorem, das in seiner Struktur bereits durch die von Duhem so genannte „Regel von Oresme" bekannt war. Ob Galilei diese Regel bzw. die daran anknüpfende Tradition der Pariser Terministen bekannt war, ist eine historische Prioritätsfrage, die in der wissenschaftstheoretischen Betrachtungsweise, in der es auf die Struktur der Entwicklung ankommt, wenig von Bedeutung ist. Wie bereits Mach ausdrücklich im Sinne seiner evolutionistischen Wissenschaftstheorie betonte, fällt „die Erwerbung der elementarsten Kenntnisse sicherlich nicht dem Individuum allein anheim, sondern wird durch die Entwicklung der Art verbreitet" 49 . Das erste Theorem in Galileis Lehre von der gleichförmig beschleunigten Bewegung lautet: „Die Zeit, in welcher * · Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung, S. 1.
Das Experiment als aktive Forschungsmethode
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irgend eine Strecke von einem Körper von der Ruhelage aus mittelst einer gleichförmig beschleunigten Bewegung zurückgelegt wird, ist gleich der Zeit, in welcher dieselbe Strecke von demselben Körper zurückgelegt würde mittelst einer gleichförmigen Bewegung, deren Geschwindigkeit gleich wäre dem halben Betrage des höchsten und letzten Geschwindigkeitswertes bei jener ersten gleichförmig beschleunigten Bewegung." 50 Den Beweis für dieses Theorem, das heißt die Demonstration seiner Ableitbarkeit aus den Definitionen der Grundbegriffe und der Axiome, liefert Galilei mit einer rein geometrisch graphischen Darstellung, mit der schon Nicole d'Oresme die mathematischen „Strukturen der Qualitäten" darzustellen versucht hat 51 . In Galileis geometrischer Demonstration werden nun sowohl die Fallstrecken als auch die Fallzeiten und Geschwindigkeiten durch geradlinige Strecken graphisch dargestellt. Die Figur (Abb. 7), auf die Galilei seinen Beweis gründet, ist daher, anders als die geometrischen Modelle wirklicher Bewegungen auf schiefen Ebenen oder an Pendeln, als Darstellung reiner geometrischer Proportionalitätsverhältnisse anzusehen: „Es stelle AB die Zeit dar, in welcher der Körper aus der Ruhelage C bei gleichförmig beschleunigter Bewegung die
Abb. 7 50 51
Galilei, Unterredungen, S. 158. Vgl. Dijksterhuis, Die Mechanisierung des Weltbildes, S. 217 ff.
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1. Galileis Gesetze der Fall- und Wurfbewegung
Strecke CD zurücklegt; man verzeidine die während der Zeit AB in einzelnen Zeitteilchen allmählich vermehrten Geschwindigkeitsbeträge, zuletzt EB (senkrecht auf AB): man ziehe AE sowie mehrere zu EB parallele äquidistante Linien, so werden diese die wachsenden Geschwindigkeitswerte darstellen. Man halbiere EB in F, ziehe die Parallelen FG zu BA und GA zu FB. Das Parallelogramm AGFB wird dem Dreieck AEB gleich sein, da die Seite GF die Linie AE halbiert im Punkte I: denn wenn die Parallelen im Dreieck AEB bis nach GIF verlängert werden, so wird die Summe aller Parallelen, die im Viereck enthalten sind, gleich denen im Dreieck AEB sein; denn was in IEF liegt, ist gleich dem in GIA Enthaltenen; während das Trapez AIFB beiden gemeinsam ist. Da ferner einem jeden Zeitteilchen innerhalb AB eine Linie entspricht, und alle Punkte von AB, von denen aus in AEB Parallelen gezogen wurden, die wachsenden Geschwindigkeitswerte darstellen, während dieselben Parallelen innerhalb des Parallelogramms ebensoviel Werte gleichförmiger Geschwindigkeit abbilden: so ist es klar, daß die sämtlichen Geschwindigkeitsmomente bei der beschleunigten Bewegung dargestellt sind in den wachsenden Parallellinien von AEB, und bei der gleichförmigen Bewegung in denjenigen des Parallelogramms GB: denn was an Bewegungsmomenten in der ersten Zeit der Bewegung fehlt (das heißt die Werte von AGI), wird ersetzt durch die Parallelen in IEF. Folglich werden zwei Körper gleiche Strecken in ein und derselben Zeit zurücklegen, wenn der eine aus der Ruhe gleidiförmig beschleunigt sidi bewegt, der andere mit gleichförmiger Geschwindigkeit gleich dem halben Betrage des bei beschleunigter Bewegung erreichten Maximalwertes, w. z. b. w." 52 In genauer Entsprechung zum ersten Theorem erfolgt dann die Formulierung und der Beweis des zweiten Theorems, welches das allgemeine Gesetz des freien Falls darstellt: „Wenn ein Körper von der Ruhelage aus gleichförmig beschleunigt fällt, so verhalten sich die in gewissen Zeiten zurückgelegten Strecken wie die Quadrate der Zeiten. Man stelle den Verlauf der Zeit von einem Augenblick A an dar durch die Linie AB, in welcher zwei Teilchen AD, AE gedacht werden mögen; sei ferner H I die Strecke, die der Körper aus der Ruhelage H zurücklegt mit gleichförmiger Beschleunigung; sei ferner H L zurückgelegt im ersten Zeitteilchen AD, dagegen H M in der Zeit AE. Ich * Galilei, Unterredungen, S. 158 f.
Das Experiment als aktive Forschungsmethode
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behaupte, M H verhalte sidi zur Strecke H L , wie die Quadrate der Zeiten E A und A D . Man verzeichne A C unter irgend einem Winkel geneigt gegen A B ; aus den Punkten D , E ziehe man Parallelen D O , E P , und sei D O die Endgeschwindigkeit (maximus gradus velocitatis) im Augenblick D ; desgleichen P E die Endgeschwindigkeit im Augenblick E am Ende der Zeit A E . D a oben bewiesen worden ist, daß die zurückgelegten Strecken bei gleichförmig beschleunigter Bewegung und bei gleichförmiger Bewegung mit halber Endgeschwindigkeit gleich sind, A
¥ Κ M Γ. G
C BJ
Abb. 8 so ist es klar, daß die Strecken M H , L H ebenso groß sind, wie sie bei gleichförmiger Bewegung mit Geschwindigkeiten V2 P E und V2 O D in Zeiten E A , D A zurückgelegt worden wären. Wenn man nun zeigen könnte, daß die Strecken M H , L H sich verhalten wie die Quadrate von E A , D A , so ist der Satz bewiesen. Aber im vierten Satze des ersten Buches w a r d gezeigt, daß bei gleichförmiger Bewegung die Strecken ein zusammengesetztes Verhältnis haben aus dem Verhältnis der Geschwindigkeiten und dem Verhältnis der Zeiten: hier aber verhalten sich die Geschwindigkeiten wie die Zeiten (denn wie V2 P E zu V2 O D , oder wie P E zu O D , so verhält sich A E zu A D ) , folglich verhalten sich die Strecken wie die Quadrate der Zeiten, w . z. b. w . " 5 8 (Vgl. Abb. 8.) Zum Unterschied von der Art, wie Kepler den Prozeß der Entdeckung der Planetengesetze schildert, verdeckt zwar die axio5S
Ebenda, S. 159 f.
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matisdi-deduktive Systematisierung die eigentliche Struktur der Auffindung des Fallgesetzes bei Galilei. Eine genaue Rekonstruktion des Entwicklungsganges Galileis, wie sie ja bereits von E. Wohlwill 54 auf Grund nachgelassener Schriften und Briefe begonnen worden ist, würde nicht nur die bereits von Mach erkannte Vorgeschichte der Entdeckung dieses Fallgesetzes bestätigen, sondern auch die Irrwege und Fehler zeigen, die Galilei im Prozeß der Entwicklung ebenso wie Kepler durchlaufen mußte. So hat bereits Dijksterhuis auf die „unmöglichsten logischen Wendungen" hingewiesen, die Galilei vollführen mußte, um „aus unhaltbaren Prämissen eine richtige Erkenntnis abzuleiten" 55 . Denn aus einem Fragment vom Jahre 1604 (Ed. naz. VIII 373—374) und einem gleichzeitigen Brief geht eindeutig hervor, daß Galilei ursprünglich nicht von der Proportionalität von (instantaner) Geschwindigkeit und verstrichener Zeitteilchen ausgegangen ist, sondern von der Proportionalität von Geschwindigkeit und zurückgelegtem Weg, die er als Axiom zur Ableitung des Quadratgesetzes benutzt hat. Der naheliegendste Weg ist daher nicht immer der einfachste. Erst die deduktive Systematisierung konnte in diesem Falle die letzte Klärung bringen. In den dialogischen Partien seiner „Discorsi" konnte aber Galilei auch dieses Entwicklungsstadium eines falschen Ausgangspunktes explizit darstellen. Er legt ihn bezeichnenderweise Sagredo, dem gebildeten Laien in den Mund, der unvoreingenommen mit „ausgezeichnetem Scharfsinn" die vermittelnde Rolle im Gespräch zwischen dem Aristoteliker Simplicio und dem Vertreter der Nuova scienza Salviati einnimmt: „Einförmig beschleunigte Bewegung ist eine solche, bei welcher die Geschwindigkeit proportional der zurückgelegten Strecke wächst." 56 Wenn Galilei dann Salviati in der Gegenargumentation sagen läßt: „Es ist mir recht tröstlich, in diesem Irrtum einen solchen Genossen gehabt zu haben; überdies muß ich Euch sagen, daß Eure Überlegung so wahrscheinlich zu sein scheint, daß selbst unser Autor eine Zeitlang, wie er mir selbst gesagt hat, in demselben Irrtum befangen war", so hat er damit deutlich ausgedrückt, daß er selbst es war, der diese falsche Hypothese vertreten hatte, bis 54
55
E. Wohlwill, Galilei und sein Kampf für die Copernicanische Lehre, Hamburg - Leipzig 1909—1926. Dijksterhuis, Die Mechanisierung des Weltbildes, S. 378. Galilei, Unterredungen, S. 153.
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ihm die Korrektur durch eine neue Definition der gleichförmig beschleunigten Bewegung gelungen ist. Die Dialogform der „Discorsi", in der die prozeßlogisdie Komponente, die Struktur der organisierten, das heißt geplanten korrigierenden Veränderung erhalten bleibt, bietet daher im Rahmen der wissenschaftstheoretischen Rekonstruktion des Entstehungsprozesses der Fall- und Wurfgesetze einen vollwertigen Ersatz für die historisch-deskriptive Dokumentation der biographischen Entwicklungsgeschichte, die in diesem Fall nur eine zusätzliche Stützung bedeutet. Die Struktur der Gewinnung und Sicherung der Fallgesetze zeigt wiederum deutlich die prozeßlogisdie Dimension der Galileischen Methodenlehre in ihrer Vollendung. „Metodo risolutivo" und „metodo compositivo" bilden so gesehen nicht eine simple Trennung von empirisch-induktiven und theoretisch-deduktiven Aussagen, sondern erzeugen einen Prozeß der ständigen Veränderung. Die empirische Analyse der risolutiven Methode, die auf Einzelfälle und deren Variationen gerichtet ist, liefert auch keineswegs induktiv die Axiome einer Theorie, sondern stellt nur schrittweise Bestandteile der Theorie in hypothetischen Verallgemeinerungen bereit. Die endgültige Formulierung dieser Einsicht und die Entscheidung über die hierarchische Ableitungsstruktur einer Theorie fällt der kompositiven Methode zu, in der die empirischen Verallgemeinerungen so miteinander verknüpft werden, daß sie „ohne Zurückgreifen auf die Erfahrung" auf Grund der logisdien Struktur allein zu neuen konstruktiven Gesetzmäßigkeiten führen. Diese sind jedoch als abstrakte Entwürfe zu betrachten, „die auf solche Weise in Abstraktionsbeweisen (in astratto dimostrate) im konkreten sidi ändern werden und in einem solchen Maße falsch werden, daß weder die geradlinige Bewegung gleichförmig ist, noch die Beschleunigung der natürlichen in dem vorausgesetzten Verhältnis vor sich gehen wird, nodi die Linie des Geschosses eine Parabel ist" 57 . In diesen Grenzen möglicher Genauigkeit sieht Galilei die bestätigende Funktion jenes berühmten Fallrinnenexperiments, das er Salviati mit folgenden Worten schildern läßt: „Auf einem Lineale, oder sagen wir auf einem Holzbrette von 12 Ellen Länge, bei einer halben Elle Breite und drei Zoll Didse, war auf dieser letzten schmalen Seite eine Rinne von 57
G. Galilei, Opere, Mailand 1811, Bd. 9, S. 16.
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etwas mehr als einem Zoll Breite eingegraben. Dieselbe w a r sehr gerade gezogen, u n d u m die Fläche recht glatt zu haben, w a r inwendig ein sehr glattes u n d reines Pergament aufgeklebt; in dieser R i n n e ließ man eine sehr harte, völlig runde u n d glattpolierte Messingkugel laufen. N a c h Aufstellung des Brettes w u r d e dasselbe einerseits gehoben, bald eine, b a l d zwei Ellen hoch; d a n n ließ m a n die Kugel d u r d i den K a n a l fallen u n d verzeichnete in sogleich zu beschreibender Weise die Fallzeit f ü r die ganze Strecke: häufig wiederholten w i r den einzelnen Versuch, zur genaueren E r m i t t l u n g der Zeit, u n d f a n den gar keine Unterschiede, auch nicht einmal v o n einem Zehnteil eines Pulsschlages. D a r a u f ließen wir die Kugel nur durch ein Viertel der Strecke laufen, u n d f a n d e n stets genau die halbe Fallzeit gegen f r ü h e r . D a n n wählten wir andere Strecken, u n d verglidien die gemessene Fallzeit mit der zuletzt erhaltenen u n d mit denen von 2 /s oder 3J* oder irgend anderen Bruchteilen; bei w o h l hundertfacher Wiederholung f a n d e n wir stets, d a ß die Strecken sidi verhielten wie die Q u a d r a t e der Zeiten: u n d dieses z w a r f ü r jedwede Neigung der Ebene, das heißt des Kanals, in dem die Kugel lief. Hierbei f a n d e n wir außerdem, d a ß auch die bei verschiedenen Neigungen beobachteten Fallzeiten sich genau so zu einander verhielten, wie weiter unten unser A u t o r dasselbe andeutet u n d beweist. Z u r Ausmessung der Zeit stellten wir einen Eimer voll Wasser auf, in dessen Boden ein enger K a n a l angebracht w a r , durch den ein feiner Wasserstrahl sidi ergoß, der mit einem kleinen Bedier aufgefangen wurde, w ä h r e n d einer jeden beobachteten Fallzeit: das dieser A r t aufgesammelte Wasser w u r d e auf einer sehr genauen Waage gewogen; aus den Differenzen der Wägungen erhielten wir die Verhältnisse der Gewichte u n d die Verhältnisse der Zeiten, u n d z w a r mit solcher Genauigkeit, d a ß die zahlreichen Beobachtungen niemals merklich (di u n notabile momento) von einander abwichen." 6 8 Die rein kinematische Betrachtungsweise, die Galilei seiner axiomatischen Theorie der Bewegung z u g r u n d e legt, macht es auch erklärlich, d a ß die Formulierung des sogenannten Trägheitsgesetzes nicht in der F o r m eines Axioms erfolgte, sondern in einem Sdiolium, das heißt in einem belehrenden Zusatz, der nicht notwendig z u m System selbst gehört. D a m i t löst sidi wissenschaftstheoretisch a u d i die alte historische Streitfrage, o b 58
Ebenda, S. 162 f.
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Galilei das Trägheitsgesetz gekannt hat oder nicht. Im Rahmen seiner kinematischen Theorie konnte das Trägheitsgesetz nicht als Axiom auftreten, obwohl Galilei vom „Trägheitszustand" eines materiellen Körpers schon genaue Vorstellungen entwickelt: „Indeß ist zu beachten, daß der Geschwindigkeitswert, den der Körper aufweist, in ihm selbst unzerstörbar enthalten ist (impresso), während äußere Ursachen der Beschleunigung oder Verzögerung hinzukommen, was man nur auf horizontalen Ebenen bemerkt, denn bei absteigenden nimmt man Beschleunigung wahr, bei aufsteigenden Verzögerung. Hieraus folgt, daß die Bewegung in der Horizontalen eine unaufhörliche sei: denn wenn sie sich stets gleich bleibt, wird sie nicht geschwächt oder aufgehoben, geschweige denn vermehrt." 5 · Nodi deutlicher ist die Formulierung des italienischen Kommentars, die Salviati am sechsten Tag gibt: „Wenn aber die Ebene nicht geneigt, sondern horizontal wäre, so würde ein darauf befindlicher Körper alles tun, was uns beliebt, das heißt stellen wir ihn in Ruhe hin, so wird er in Ruhe verharren, geben wir ihm in irgend einer Richtung einen Impuls, so wird er in derselben Richtung sich bewegen und seine Geschwindigkeit bewahren, da^er dieselbe weder vermehren noch vermindern könnte . . ." eo Eine Ergänzung dieser Überlegungen, die alle auf die Bewegung schwerer Körper auf der Horizontalen bezogen sind, ist in der Bemerkung Galileis im Dialog über die beiden Weltsysteme zu sehen, daß eine schwerelose Flintenkugel geradlinig in der Richtung des Laufes fortfliegen würde 6 1 . Überhaupt bilden die Betrachtungen, die Galilei in diesem Dialog über die Überlagerung von Erdbewegung und Fallbewegungen aufstellt, eine wesentliche Vorstufe zur Erkenntnis des Superpositionsoder Unabhängigkeitsprinzips, das besagt, daß verschiedene Bewegungsimpulse nicht zu einem Konflikt der Bewegungen führen, in dem schließlich eine Bewegung dominiert, sondern daß die beobachtete Bewegung nichts anderes ist als die Resultante der verschiedenen Bewegungen, die voneinander unabhängig ablaufen. Dadurch versuchte Galilei zu beweisen, daß es unmöglich ist, die Erdrotation auf der Erde selbst zu beobachten. " Ebenda, S. 194. Ebenda, S. 326. " Vgl. Galilei, Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme, S. 184.
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Der allgemeine Satz von der Relativität der Bewegung, den Galilei dazu aufstellt, besagt, „daß eine Bewegung, die allen Körpern eines gewissen Systems gemeinsam ist, auf das gegenseitige Verhalten dieser Körper ohne jeden Einfluß bleibt und also durch Beobachtungen in diesem System nie nachgewiesen werden könnte" 62 . Er ist in dieser Form falsch und wurde deswegen auch später durch das viel eingeschränktere Prinzip ersetzt, daß Bewegungserscheinungen in einem System weiterhin in derselben Weise verlaufen, wenn das System als ganzes einer gleichförmigen geradlinigen Translation unterworfen wird, sie ändern sich aber, wenn die Translation beschleunigt oder gekrümmt verläuft. Obwohl das Galileische Relativitätsprinzip in seiner allgemeinsten Form unrichtig ist, hat es ebensowohl in der Aufklärung der Unbeobachtbarkeit der Erdbewegung als auch in der terrestrischen Mechanik bei der Formulierung der Gesetzmäßigkeit der Wurfgeschoßbahnen die entscheidende Rolle gespielt. Der Wahrheitswert dieses Prinzips besteht in der Erkenntnis der Superposition, das heißt im Zusammengesetztsein zweier voneinander unabhängig bleibenden Bewegungen, die auf diese Weise geometrisch dargestellt werden können. Galilei ist aber in der Darstellung der Wurfbewegungen an jene zwei Möglichkeiten gesetzmäßiger Bewegung gebunden, die in den beiden ersten Teilen nachgewiesen worden sind. So leitet er den Abschnitt „De motu proiectorum" mit folgenden Worten ein: „Wir haben bisher die gleichförmige Bewegung und die natürlich beschleunigte, längs geneigten Ebenen, behandelt. Im Nachfolgenden wage ich es, einige Erscheinungen und einiges Wissenswerte mit sicheren Beweisen vorzuführen über Körper mit zusammengesetzter Bewegung, einer gleichförmigen nämlich und einer natürlich beschleunigten; denn solcher Art ist die Wurfbewegung und so läßt sie sich erzeugt denken. Wenn ein Körper ohne allen Widerstand sich horizontal bewegt, so ist aus allem Vorhergehenden, ausführlich Erörterten bekannt, daß diese Bewegung eine gleichförmige sei und unaufhörlich fortbestehe auf einer unendlichen Ebene: ist letztere hingegen begrenzt und ist der Körper schwer, so wird derselbe, am Ende der Horizontalen angelangt, sich weiter bewegen, und zu seiner gleichförmigen unzerstörbaren Bewegung gesellt sich die durch die Schwere erzeugte, so daß eine zusammengesetzte Be*2 Vgl. Dijksterhuis, Die Mechanisierung des Weltbildes, S. 395.
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wegung entsteht, die ich Wurfbewegung (projectio) nenne und die aus der gleichförmig horizontalen und aus der gleichförmig beschleunigten zusammengesetzt ist." 63 Die Entdeckung der Parabelform der Wurfgeschoßbahn resultiert an dieser Stelle des von Galilei durchlaufenen Argumentationsprozesses aus den gegebenen Voraussetzungen scheinbar mühelos und automatisch als erstes Theorem: „Ein gleichförmig horizontaler und zugleich gleichförmig beschleunigter Bewegung unterworfener Körper beschreibt eine Halbparabel." 64 Trotzdem kann die Entdeckung der Ellipsenform der Planetenbahn durch Kepler zu Galileis Vorgangsweise in Parallele gesetzt werden. Hier wie dort war eine sukzessive Annäherung an die zuletzt erkannte geometrische Grundstruktur nötig, in der die einzelnen Schritte als Voraussetzung der endgültigen Lösung enthalten sind. Wenn Descartes, der Begründer der analytischen Geometrie, die „Discorsi" sowohl in ihrem literarischen als auch geometrischen Stil als abschweifend, umständlich und schwerfällig zugleich ablehnt 65 , so hat doch andererseits niemand klarer als der Schöpfer der analytischen Mechanik Lagrange erkannt, daß es im Grunde genommen keine andere Möglichkeit für das Verständnis der Elementarsätze gibt, als sie in der Weise durchzudenken, wie sie Galilei entwickelt hat. Auf analytischem Weg, in die Sprache der Analysis übersetzt und von den euklidischen Fesseln befreit, sind diese Gesetze weder zu erreichen noch zu begreifen 66 . Galilei stützt auch hier seine Demonstration gemäß der kompositiven Methode auf die konstruktiv-synthetische und damit auch anschauliche Verfahrensweise der Euklidischen Geometrie und der Kegelschnittheorie des Apollonius. „Denn die [deduktive, analytische] Logik lehrt uns nur zu erkennen, ob bereits angestellte Untersuchungen urteilskräftig seien, aber sie bestimmt nicht den Gang derselben" und „lehrt nicht die Beweise zu finden"67. Nachdem Galilei an die Gesetze der elementaren Geometrie erinnert und die mathematischen Eigenschaften der Parabel beschrieben hat, liefert er für das aufgestellte Theorem folgenden Beweis: „Man 63
Galilei, Unterredungen, S. 217 f. Ebenda, S. 218. *5 Vgl. R. Descartes, Brief an Mersenne vom 11. Oktober 1638. Le opere di G. Galilei, Bd. 17, S. 360. M Vgl. L. Carnot, Réflexions sur la métaphysique du calcul infinitésimal, Paris 1921, S. 61; Olsdiki, Galilei und seine Zeit, S. 433. " Galilei, Unterredungen, S. 114. 64
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denke sich eine Horizontale oder eine horizontale Ebene AB, längs welcher ein Körper sich gleichförmig bewege. Am Ende derselben fehlt die Stütze, und der Körper in Folge seiner Schwere unterliegt einer Bewegung längs der Senkrechten BN. Man denke sich AB nach E hin fortgesetzt, und teile gewisse gleiche Strecken BC, CD, DE ab. Von den Punkten B, C, D, E ziehe man Linien parallel BN in gleichen Abständen. In der ersten von C aus nehme man eine beliebige Strecke CI, in der folgenden das vierfache DF, dann das neunfache EH, u. s. f. Stücke, die den Quadraten entsprechen. Wenn der Körper von Β gleichförmig nach C gelangte, so denken wir uns das durch den Fall bedingte Stück CI angefügt; der Körper wird in der Zeit BC im Punkte I sich befinden. Weiter würde in der Zeit DB, gleich 2 BC, die Fallstrecke gleich 4 CI sein, denn in der vorigen Abhandlung ist bewiesen, daß die bei gleichförmig beschleunigter Bewegung zurückgelegten Strecken sich wie die Quadrate der Zeiten verhalten. Ähnlich wird E H in der Zeit BE durchlaufen, gleich 9 CI, da EH, DF, CI sich verhalten wie die Quadrate der Linien EB, DB, CB. Zieht man von I, F, Η Gerade IO, FG, H L parallel EB, so werden HL, FG, IO je den Strecken EB, DB, CB gleich sein, so wie auch BO, BG, BL den Strecken CI, DF, EH. Nun verhalten sich die Quadrate von H L und FG wie die Strecken LB, BG, und die Quadrate von FG, IO wie GB, BO. Folglich liegen die Punkte I, F, Η in einer Halbparabel."« 8 (Vgl. Abb. 9.) Die Neuigkeit dieser Betrachtungsweise besteht für Galilei vor allem darin, daß sie sich auf das Superpositionsprinzip £
X»
Abb. 9 " Ebenda, S. 221 f.
C
Β
A
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stützt, auf die „Annahme nämlich, daß die Transversalbewegung sich gleichförmig erhalte und daß eben so gleichzeitig die natürlich beschleunigte Bewegung sich behaupte, proportional den Quadraten der Zeiten, und daß solche Bewegungen sich zwar mengen, aber nicht stören, ändern und hindern, so daß sdiließlidi bei fortgesetzter Bewegung die Wurflinie nicht entarte" e e . Diese Annahme bringt jedoch insofern Schwierigkeiten mit sich, als man die senkrecht auf der Horizontalen stehende Achse der Parabel bis zum Mittelpunkt der Erde fortgesetzt denken kann. Dies hat zur Folge, daß theoretisch kein geworfener Körper ohne Abweichung von der Parabel das gemeinsame Zentrum aller schweren Körper erreichen könnte. Die Beseitigung dieses, wie Galilei selbst gesteht, „wohlbegründeten" Einwandes ist von entscheidender Bedeutung für die Weiterentwicklung seiner terrestrischen Mechanik und ihrer Verknüpfung mit der Keplerschen Himmelsmechanik durch Newton. Denn Galilei erklärt, daß sein Gesetz von der Wurfparabel als abstraktes Gesetz in der Wirklichkeit nur dann gültig ist, wenn die Strecken der Wurfbewegungen „sehr klein sind im Vergleich zu der bedeutenden Entfernung vom Mittelpunkt der Erdkugel". Dann ist die Abweichung von der parabolischen Form so gering, daß sie vernachlässigt werden kann. Wollte man so verschwindend kleine Größen im Versuch mit gewöhnlichen Wurfapparaten berücksichtigen, dann müßte man auch die Architekten tadeln, welche mit ihrem Senklot die höchsten Türme zwischen parallelen Linien zu errichten meinen, während sie doch in Wirklichkeit nach oben auseinanderstrebende und nach dem Mittelpunkt der Erde zu sich vereinigende Linien auf einem sehr kleinen Bogen der Erdkrümmung sind. Große Abweichungen von der Parabel sind nach Galilei nur beim Wurf der Geschosse zu erwarten, und zwar bei denen der Artillerie. „Die Wurfweite wird höchstens vier Meilen betragen, während wir ungefähr ebensoviel Tausend von Meilen vom Erdzentrum entfernt sind; und wenn jene auf der Oberfläche der Erde abgemessen werden, so wird die parabolische Linie nur wenig verändert sein, aber in der Tat sich so umwandeln, daß sie durch das Zentrum der Erde hindurchginge." 70 Nachdem Galilei die parabolische Bahn der Wurfbewegung bewiesen hat, wendet er sich in den nächsten Theoremen der Ge" Ebenda, S. 222. 4
Oeser, Band 2
70
Ebenda, S. 224.
1. Galileis Gesetze der Fall- und Wurfbewegung
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setzmäßigkeit der Geschwindigkeit zu, und zwar über den notwendigen Umweg der Bestimmung der Geschwindigkeitsmomente bei der Zusammensetzung von zwei gleichförmigen Bewegungen, horizontal und vertikal, die der Form nach keine Parabel, sondern eine gerade Diagonale (vgl. Abb. 10) ergeben: „Wenn ein Körper nach zwei Richtungen gleichförmig bewegt wird, und zwar nach einer horizontalen und einer vertikalen, so ist die aus beiden zusammengesetzte Bewegung ,in der Potenz' (potentia) gleich jenen beiden Momenten." 71
Die Geschwindigkeitsberechnungen der parabolischen Bahnen der Wurfgeschosse sind jedoch bedeutend schwieriger, da sie ähnlich wie bei den Berechnungen der Geschwindigkeiten der Planeten eine Reihe mathematischer Probleme hervorrufen, mit denen der schwerfällige geometrische Apparat Galileis zum Teil iiberfordert wird. Galilei geht es aber nur um die „Anfangsgründe einer Errichtung einer sehr weiten, außerordentlich wichtigen Wissenschaft", von deren Fortsetzbarkeit er völlig überzeugt war, wenn er von den „tieferen Geheimnissen" spricht, in die „einzudringen Geistern vorbehalten bleibt, die ihm überlegen sind" 72 . Newton, den man in diesem Zusammenhang als den „überlegenen Geist" ansehen kann, der mit der Axiomatisierung der klassischen Mechanik das Ziel erreicht hat, das Galilei vorgeschwebt war, stützt sich auch ausdrücklich auf die Leistung seines Vorläufers. Die Einordnung der Galileischen Gesetze in das eigene System, die Newton selbst vornimmt, zeigt aber deutlich, daß in der weiteren Entwicklung einer Theorie die bereits erworbenen Gesetzmäßigkeiten nicht unverändert in diese eingehen. Auch richtet sich Newton in der Axiomatisierung der universalen rationalen Mechanik, die sowohl eine Lehre von den Bewegungen als auch von den Kräften ist, also nicht mehr nur als 71
Ebenda, S. 228.
72
Ebenda, S. 140 f.
Das Experiment als aktive Forschungsmethode
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Kinematik, sondern auch als Dynamik zu verstehen ist, nicht nach Galileis Darstellung. Der dynamische Gesichtspunkt erfordert vielmehr eine entscheidende Umkonstruierung. An der Spitze der Bewegungsaxiome, Axiomata sive leges motus, steht jetzt das Trägheitsgesetz : „Jeder Körper beharrt in seinem Zustande der Ruhe oder der gleichförmigen geradlinigen Bewegung, wenn er nicht durch einwirkende Kräfte gezwungen wird, seinen Zustand zu ändern." An zweiter Stelle folgt der Satz von der Veränderung der Bewegung: „Die Änderung der Bewegung ist der Einwirkung der bewegenden Kraft proportional und geschieht nach der Riditung derjenigen geraden Linie, nach welcher jene Kraft wirkt." An diese beiden Axiome schließen die ersten zwei Korollarien vom Kräfteparallelogramm und seiner Zerlegung an: „Ein Körper beschreibt in derselben Zeit durch Verbindung zweier Kräfte die Diagonale eines Parallélogrammes, in welcher er, vermöge der einzelnen Kräfte die Seiten beschrieben haben würde. (Abb. 11.)
Abb. 11
Hieraus ergibt sich die Zusammensetzung der geradlinig wirkenden Kräfte AD, aus irgend welchen zwei schiefwirkenden AB und BD und umgekehrt die Zerlegung einer geradlinigen Kraft AD in die beliebigen schiefen AB und BD. Diese Zusammensetzung und Zerlegung wird in der Mechanik vollständig bestätigt." 73 Die Feststellung Newtons, daß Galilei „durch die zwei ersten Axiome und die zwei ersten Korollarien" 74 die Gesetze der Fall- und Wurfbewegungen gefunden haben soll, ist ebenso wie die weitere Behauptung, daß unter Hinzufügung des dritten Gesetzes von der Wechselwirkung Huygens die Stoßgesetze 73
74
4»
I. Newton, Mathematische Prinzipien der Naturlehre, hrsg. v. J. Ph. Wolfers, Berlin 1872, S. 33. Ebenda, S. 39.
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1. Galileis Gesetze der Fall- und Wurfbewegung
gefunden haben soll, von den Historikern, insbesondere von Dijksterhuis, einer scharfen Kritik unterzogen worden: „Beide Behauptungen sind lange auf Newtons Autorität hin für wahr gehalten worden, obwohl man nur flüchtig die ursprünglichen Werke der zitierten Autoren hätte anzusehen brauchen, um sich von ihrer Unrichtigkeit zu überzeugen." 75 Diese Kritik verkennt jedoch die Tatsache, daß Newton in dem Scholium, in dem er diese Einordnung seiner Vorläufer vornimmt, selbstverständlich nicht als deskriptiver Historiker spricht, sondern aus der Sicht seiner eigenen Theorie, von der aus er nachträglich Galileis Leistungen als Annäherungen an diese betrachten kann. Genauso wie bei Galilei verhält es sich mit der Einordnung der Keplergesetze in das System der universalen Mechanik. Sie werden nicht historisch beschrieben als eigene Leistungen eines Vorläufers, sondern historisch verwertet und entwertet, das heißt aufgenommen in ein neues System, das das alte überflüssig madit, weil dessen Wahrheitswert darin enthalten ist. 75
Dijksterhuis, Die Mechanisierung des Weltbildes, S. 532.
Die Integration von Teiltheorien
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2. Newtons Gravitationsgesetz Die Integration von Teiltheorien Newtons Mechanik gilt als das klassische Beispiel für das „integrative Wachstum" der Wissenschaft. Das Gravitationsgesetz verbindet Keplers Himmelsmedianik und Galileis terrestrische Mechanik zu einer einheitlichen Grundlagentheorie, die Newton zu Recht medianica universalis nennen konnte. In den älteren historischen Darstellungen wurde Newtons Theorie als eine Erweiterung oder Verallgemeinerung der Galileischen Theorie in der Weise angesehen, daß sie dann notwendig mit der Keplerschen Theorie zusammenfallen mußte. Repräsentativ für diese Auffassung ist Machs Darstellung: „Hat man den Galilei-Huygensschen Standpunkt gewonnen und sucht denselben konsequent festzuhalten, so erscheint eine krummlinige Bewegung eines Körpers nur durch das Vorhandensein einer fortwährenden ablenkenden Beschleunigung verständlich. Man sieht sich also veranlaßt, für die Planetenbewegung eine solche Beschleunigung, welche stets nach der konkaven Seite der Bahn gerichtet ist, zu suchen. In der Tat erklärt sich das erwähnte Gesetz der Flächenräume durch die Annahme einer stets gegen die Sonne gerichteten Beschleunigung des Planeten in der einfachsten Weise... Ist man so zur Annahme einer Zentralbeschleunigung gelangt, so führt das dritte Gesetz auf die Art derselben . . . Sobald die Annahme einer dem Quadrat der Entfernung umgekehrt proportionierten Zentralbeschleunigung einmal gewonnen ist, ist der Nachweis, daß dieselbe auch die Bewegung in Kegelschnitten, speziell in Ellipsen, erklärt, nur mehr eine rein mathematische Leistung."1 Der erste, der sich gegen diese Auffassung gerichtet hat, scheint P. Duhem gewesen zu sein, der in seinem 1905 erschienenen Buch „La theorie physique: son objet, sa structure" schreibt: „Das Prinzip der allgemeinen Gravitation kann daher keineswegs durch Generalisation und Induktion aus den Beobachtungstatsachen, die Kepler formuliert hatte, abgeleitet werden, es widerspricht vielmehr in aller Form diesen Gesetzen. Wenn die Theorie von Newton richtig ist, sind die Keplerschen Gesetze notwendigerweise falsch."2 Dieser Auffassung ist Popper in verschärfter Form gefolgt, indem er 1
Madi, Die Mechanik in ihrer Entwicklung, S. 179 ff. * P. Duhem, Ziel und Struktur der physikalischen Theorien, Leipzig 1908, S. 257.
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2. Newtons Gravitationsgesetz
die These Duhems vom logisdien Widerspruch zwischen Keplers und Newtons Theorie auch auf Galilei erweitert: „Es ist bekannt, daß Newtons Dynamik eine Synthese der irdischen Physik Galileis und der Himmelsphysik Keplers gelang. Es wird oft gesagt, daß von Galileis und Keplers Gesetzen auf Newtons Dynamik geschlossen werden kann, und es ist sogar behauptet worden, daß sie sich genau von diesen deduzieren lasse. Aber dies ist nicht so; von einem logisdien Gesichtspunkt aus widerspricht Newtons Theorie, strenggenommen, der Theorie Galileis wie auch der Keplers (obwohl diese beiden Theorien natürlich als Annäherungen erhalten werden können, sobald wir mit Newtons Theorie arbeiten). Es ist daher unmöglich, daß Newtons Theorie von den beiden anderen durch deduktive oder auch durch induktive Schlüsse abgeleitet werden kann. Denn weder deduktive noch induktive Schlüsse können von widerspruchsfreien Prämissen zu Schlußfolgerungen führen, die diesen Prämissen formal widersprechen." 3 Allerdings muß Popper auch zugeben, daß unter einer besonderen Bedingung eine volle Übereinstimmung zwischen den Keplerschen Gesetzen und Newtons Gravitationstheorie herrscht: Wenn nämlich „die Massen der Planeten alle gleich oder, wenn ungleich, dann unendlich klein sind, verglichen mit der Sonne". Gerade aber auf diese Idealisierung einer abstrakten „Punktemechanik 0 stützt sich jeder mathematische Beweis der Ableitbarkeit der Keplerschen Gesetze aus dem Newtonschen Gesetz. Wenngleich also damit klar ist, daß die Argumente Poppers nicht geeignet sind, einen grundsätzlichen Widerspruch zwischen Keplers und Newtons Theorie zu konstruieren, bleibt doch die prinzipielle Frage nach dem logischen Verhältnis der integrativen Theorie zu ihren Vorläufern offen. Diese wiederholt sich in jeder Phase integrativen Wachstums der Wissenschaft, wie zum Beispiel auch im Übergang von der klassischen Mechanik zur Relativitätstheorie. Die statische Aussagenlogik mit ihrem Grundkonzept der totalen oder partiellen logischen Implikation, das heißt als deduktive oder induktive Logik, ist nicht geeignet, dieses Problem adäquat zu lösen. Abgesehen davon, daß weder Keplers noch Galileis Theorie formal und inhaltlich vollendet waren, kann keine erfahrungswissenschaftliche Theorie, auch nicht die Newtonsche Gravitationstheorie, als ein logisch geschlossenes Auss
K. Popper, Objektive Erkenntnis, Hamburg 1973, S. 221.
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sagensystem angesehen werden, das in statischer Weise mit einer anderen Theorie verglichen werden kann. Eine erfahrungswissenschaftlidie Theorie enthält vielmehr ex definitione die Möglichkeit und Fähigkeit der Erweiterung und somit der Veränderung. Sie ist daher als ein System zu betrachten, das sowohl dem Einfluß äußerer, empirisch beobachtbarer Ereignisse als auch der Umkonstruktion innerer, struktureller Bedingungen offenbleibt. Das logische Verhältnis einer Theorie zu ihren geschichtlich-zeitlichen Vorläufern läßt sidi daher audi in diesem Fall nur durch die Analyse und Rekonstruktion jener Prozesse erfassen, die den dynamischen Übergang als eine rational organisierte Veränderung begreiflich madien. Dadurch bleibt zwar Poppers Hauptthese erhalten, daß wir erst, nachdem wir im Besitz der neuen Theorie sind, herausfinden können, ob und in welchem Sinne die älteren Theorien Annäherungen an diese genannt werden können; zusätzlich aber wird auch die logische Struktur des Veränderungsprozesses erkennbar. Denn die Bedingungen, die durch die Vorläufertheorien gesetzt werden, leiten diesen Prozeß, obwohl sie in der neuen Theorie umkonstruiert werden. Zur neuen Theorie führt daher weder ein zwangsweiser Weg, noch aber ist es die Intuition oder absolute Gedankenfreiheit des einzelnen, welche diesen Schritt vollzieht. Vielmehr ist der Rahmen, in dem sich die Entdeckung des Neuen abspielt, bereits vorgezeichnet. Newton hat den methodologischen Status seiner „universalen Mechanik" als einer integrativen Theorie selbst am deutlichsten durch die bekannten vier Regulae philosophandi gekennzeichnet: „1. Regel. An Ursachen zur Erklärung natürlicher Dinge nidit mehr zuzulassen, als wahr sind und zur Erklärung jener Erscheinungen ausreichen. 2. Regel. Man muß daher, so weit es angeht, gleichartigen Wirkungen dieselben Ursachen zuschreiben. 3. Regel. Diejenigen Eigenschaften der Körper, welche weder verstärkt nodi vermindert werden können und welche allen Körpern zukommen, an denen man Versuche anstellen kann, muß man für Eigenschaften aller Körper halten. 4. Regel. In der Experimentalphysik muß man die, aus den Erscheinungen durdi Induktion geschlossenen, Sätze, wenn nicht entgegengesetzte Voraussetzungen vorhanden sind, entweder genau oder sehr nahe für wahr halten, bis andere Erschei-
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2. Newtons Gravitationsgesetz
nungen eintreten, durch welche sie entweder größere Genauigkeit erlangen, oder Ausnahmen unterworfen werden." 4 Die ersten drei Regeln beziehen sidi in immer schärferen Differenzierungen auf den Begriff der „Einfachheit", der damit als das wesentliche Entscheidungskriterium für oder gegen eine erfahrungswissenschaftliche Theorie angesehen wird. Die vierte Regel dagegen stellt ein methodologisches Postulat dar, das die Bedingungen für die Beibehaltung oder Abänderung einer Theorie betrifft. Bereits von den ältesten Kommentatoren Newtons wurde die erste Regel mit dem bekannten und vieldiskutierten Satz Newtons „Hypotheses non fingo" im Scholium Generale in Verbindung gebracht, der oft als ein empirisches Verdikt über die Konstruktion jeder Art von Hypothesen angesehen wird. Roger Cotes, der Herausgeber der 2. Auflage der Prinzipien, hat diese Auffassung, die mit Newtons eigenem Vorgehen in Konflikt käme, in folgender Weise abzuschwächen versucht: „Hypothesen werden ersonnen [„comminiscor" statt „fingo"], jedoch werden sie nur als Fragen, über deren Wahrheit geurteilt werden soll, in die Physik [philosophia experimentalis] aufgenommen." 5 Damit ist der „vorläufige" Charakter der Hypothese als Entwicklungsform der wissenschaftlichen Erkenntnis gekennzeichnet, wie er bei Newton jedoch direkt grundsätzlich nur in den in Frageform abgefaßten Anhängen seiner systematischen Werke auftritt. In Verbindung mit der ersten der Regulae philosophandi läßt sich aber nun genauer eine Unterscheidung zwischen einer „legitimen" und einer „erdichteten" Hypothese treffen: Legitime Hypothesen dürfen zur Erklärung der Phänomene nicht mehr als nötig hinzufügen. Begründet wird dieses methodologische Postulat der Redundanzverminderung in einem erklärenden Zusatz mit dem klassischen Grundprinzip der antiken Naturauffassung: „Die Natur nämlich ist einfach und schwelgt nicht in überflüssigen Ursachen der Dinge." Im Rahmen einer einfachen Theorie, die im Sinne der zweiten Regel „gleichartigen Wirkungen dieselben Ursachen zuschreibt", verlieren die Hypothesen ihren vorläufigen Charakter. Daher konnte auch Kepler seine Planetentheorie gegenüber Ptolemäus als eine „Astronomie ohne Hypothesen" ansehen. Einfacher war seine Theorie nicht deswegen, weil 4 5
Newton, Mathematische Prinzipien, S. 380 f. I. Newton, Philosophiae naturalis principia mathematica, ed. Le Seur - Jaquier, Genf 1740, Bd. 1, S. XVI.
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sie in ihrer endgültigen Form einen weniger komplizierten mathematischen Apparat benutzen konnte als die Exzenter, Epizykel und Ausgleichskreise der Ptolemäischen Astronomie, sondern weil sie eine Erscheinung als gesetzmäßig, das heißt notwendig erklären konnte, die bei Ptolemäus nur als ein erstaunlicher Zufall im Endresultat einer Theorie auftreten konnte: „So machte Ptolemäus seine Vorstellung der geometrisdien Behandlung und der Berechnung zugänglich, das Staunen aber hat er damit nicht beseitigt. Denn noch sucht man vergeblich nach einer Ursache, die alle Planetenepizykel mit der Sonne verknüpft, so daß jene immer beim Zusammentreffen ihres Mittelpunktes mit der Sonne ihre Periode vollendet."® Newton hat daher auch die Keplerschen Gesetze als empirisch begründet angesehen 7 . D a ß Kepler selbst die zweite Regel Newtons als methodologisches Postulat seiner eigenen physikalischen Ursachenforschung vorweggenommen hat, beweist folgender Satz aus der Astronomia N o v a : „Ein ganz geläufiges Axiom der gesamten Naturphilosophie besagt, daß von Erscheinungen, die gleichzeitig und in derselben Weise auftreten, und in allem dieselben Ausmaße annehmen, eine die Ursache der anderen oder beide Wirkungen einer gemeinsamen Ursache sind." 8 Mit der dritten Regel, die das Prinzip der Vereinfachung, das heißt Redundanzverminderung oder Informationsverdichtung, auf die physikalischen Eigenschaften materieller Körper ausdehnt, kommt Newton zur Charakterisierung der integrativen Leistung seiner eigenen Theorie. Diese bezieht sich vor allem auf die Eigenschaften der Trägheit (vis inertia) und der Schwere (gravitas). Während ihm die Verallgemeinerung der Trägheit als eine Eigenschaft aller Körper unproblematisch scheint, stellt er jedoch in bezug auf die Schwere ausdrücklich fest: „Ich behaupte aber nicht, daß die Schwere den Körpern wesentlich (essentialis) zukomme. Unter einer eigentümlichen Kraft (vis insita) verstehe ich lediglich die Kraft der Trägheit, die unveränderlich ist. Die Schwere dagegen nimmt mit der Entfernung
• J. Kepler, Neue Astronomie, übers, u. eingel. v. M. Caspar, München-Berlin, 1929, S. 83. 7 H. W. Turnbull (Hrsg.), The Correspondence of Isaac Newton, Cambridge 1959 ff., Bd. 4, S. 1. Vgl. C. A. Wilson, From Kepler's Lavs, So-called, to Universal Gravitation: Empirical Factors, in: Archive for History of Exact Sciences, Bd. 6 (1969/70), S. 89 ff. 8 Kepler, Neue Astronomie, S. 220.
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2. Newtons Gravitationsgesetz
von der Erde ab." e Wenn Newton trotzdem die Schwere allen Körpern zuschreibt, dann beruft er sich auf Beobachtung und Experiment, welche für die Existenz dieser Eigenschaft stärkere Beweise liefern als zum Beispiel für die Undurdidringlichkeit (impenetrabilitas), über die keine empirischen Untersuchungen vorhanden waren: „Sind endlich alle Körper in der Umgebung der Erde gegen diese schwer, und zwar im Verhältnis der Menge der Materie in jedem; ist der Mond gegen die Erde nach Verhältnis seiner Masse, und umgekehrt unser Meer gegen den Mond schwer; hat man ferner durch Versuche und astronomische Beobachtungen erkannt, daß alle Planeten wechselseitig gegeneinander und die Kometen gegen die Sonne schwer sind; so muß man nach dieser Regel behaupten, daß alle Körper gegeneinander schwer seien."10 Die vierte Regel wurde besonders wegen der kurzen Zusatzerklärung: „Dies muß geschehen, damit nicht das Argument der Induktion durch Hypothesen aufgehoben werde" als das empiristische Manifest einer „rein induktiven", von jeder theoretischen Spekulation freien Erfahrungswissenschaft angesehen und sogar der Galileisdien Methodenlehre entgegengesetzt. Newton bedeutet dann methodisch gesehen einen Rückschritt hinter Galileis Einsicht von der Apriorität des theoretischen Entwurfs 11 . Wie aber R. Cotes bereits erkannt hat, ist die Berufung Newtons auf die Induktion nur im Zusammenhang einer doppelten Methode, der analytischen und synthetischen, zu sehen. Newtons eigene Darstellung dieser Doppelmethode im Anhang zur Optik zeigt, daß seine Auffassung keine Entgegensetzung, sondern nur eine mehr empiristisch betonte Variante des Galileisdien metodo risolutivo und metodo compositivo darstellt: „Die analytische Methode aber besteht darin, daß man aus Experimenten und Beobachtungen durch Induktion allgemeine Schlüsse zieht und dann keine Einwendungen zuläßt, wenn sie nicht auf Experimente oder andere gewisse Wahrheiten sich stützen. Zwar gibt auch die Induktion keine allgemeinen Schlüsse, doch ist sie der beste Weg, welchen die Natur der
' I. Newton, Philosophiae naturalis principia mathematica, hrsg. ν. Th. Le Seur & F. Jaquier, Bd. 3, Teil 1, S. 4. 10 Newton, Mathematische Prinzipien, S. 381. 11 Vgl. J. Mittelstraß, Die Rettung der Phänomene, Berlin 1962, S. 262 ff.
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Dinge zuläßt, und wird um so sicherer, je allgemeiner sie ist. Ergeben Experimente Ausnahmen von den Induktionsschlüssen, so kann man die letzteren noch immer als Gesetze aussprechen, nur mit ausdrücklicher Bezeichnung der Ausnahmen. Auf solchem Wege wird die Analysis von dem Zusammengesetzten zum Einfachen, von der Wirkung zur Ursache, von der Bewegung zur Kraft, welche sie hervorbringt, fortschreiten. Die Synthesis besteht dann in dem Annehmen der entdeckten Ursachen als Prinzipien der Dinge und dem Ableiten aller Erscheinungen aus diesen Prinzipien." 12 H a t Galilei mit der empirischen Analyse des metodo risolutivo die heuristische Funktion der Induktion und mit den geometrischen Beweisen der kompositiven Methode die konstruktive Seite des synthetischen Verfahrens gekennzeichnet und Newton mit seinem Begriff der Induktion das integrative Wachstum einer wissenschaftlichen Theorie darzustellen versucht, das nicht in einer simplen Generalisierung, sondern in einer Zurück führung bereits gesicherter Gesetze auf eine gemeinsame Grundlage besteht, so betont schließlich Huygens in der Vorrede zu seinem Traité de la lumière vom Jahre 1690 die nachträgliche Sicherung der Prinzipien oder Grundaxiome durch die Entsprechung ihrer Schlußfolgerungen mit der Erfahrung: „Man wird in diesem Werke Beweise finden, welche allerdings eine so große Gewißheit wie diejenige der Geometrie nicht gewähren, ja in dieser Beziehung sich sogar sehr davon unterscheiden, weil hier die Prinzipien sich erst durch die Schlüsse bewahrheiten, welche man daraus zieht, während die Geometer ihre Sätze aus unanfechtbaren Grundsätzen beweisen. Die Natur der gehandelten Gegenstände bedingt dies. Doch ist es dabei gleichwohl möglich, bis zu einem Wahrscheinlichkeitsgrade zu gelangen, der sehr oft einem strengen Beweise nichts nachgibt. Dies ist nämlich dann der Fall, wenn die Folgerungen, welche man unter Voraussetzung dieser Prinzipien gezogen hat, vollständig mit den Erscheinungen im Einklang sind, welche man aus der Erfahrung kennt; besonders dann, wenn deren Zahl groß ist, und mehr nodi, wenn man neue Erscheinungen sich ausdenken und voraussehen kann, welche aus der gemachten Annahme folgen, und findet, daß dabei der Erfolg unserer Erwar12
Optice. Auetore Isaaco Newton, Latine redd. S. Clarke, Lausanne Genf 1740, S. 329. Vgl. F. Rosenberger, Newton und seine physikalischen Prinzipien, Leipzig 1895, S. 326.
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2. Newtons Gravitationsgesetz
tung entspricht." 13 Faßt man diese drei unabhängig voneinander formulierten methodologischen Auffassungen zusammen, so zeigt sich, daß sie sich zu einer einheitlichen Grundvorstellung ergänzen, auf der die klassische Mechanik methodisch aufgebaut ist. Dieses methodologische Konzept ist bestimmt von der dynamischen Entgegensetzung zweier Grundoperationen, der „Auflösung" und „Zusammensetzung", die sich ständig abwechseln. Der empirisdien, induktiven Analyse folgt die konstruktive Synthese, diese Synthese wird formal wiederum „aufgelöst" durch die Deduktion, die im Zusammenhang mit bestimmten empirischen Bedingungen eine Folgerungsmenge von Einzelaussagen ergibt, die wiederum auf die Erfahrung zurückgeführt werden müssen. Wenngleich nach dem Methodenideal der klassischen Mechanik diese Reduktion der abgeleiteten, das heißt die nach mathematischen Theorien berechneten Resultate auf die durch Beobachtung gewonnenen Daten nie vollständig sein kann, ergibt sich doch daraus ein „Wahrscheinlichkeitsbeweis", der mit größtmöglicher Genauigkeit die Theorie bestätigt. Für die Grenzen dieser Genauigkeit gibt es aber kein Maß. Nach Newtons vierter Regel kann die Genauigkeit immer verbessert werden. Bis dahin muß aber die bereits gewonnene Genauigkeit genügen, und das Gesetz, das die Erscheinungen auf diese Weise allgemein beschreibt, muß zumindest sehr nahe (quamproxime) für wahr gehalten werden. Entsprechend dieser vierten Regel geht Newton also von den Erscheinungen aus, welche die Keplerschen Gesetze als „sehr nahe wahr" bestätigen. Diese Bewertung stimmt mit Keplers eigenem Aussprudi überein, der seine Gesetze als „wahrheitsähnlich" (verisimilis) im Sinne objektiver Wahrscheinlichkeit und deshalb als akzeptabel im Sinne subjektiver Wahrscheinlichkeit (probabilis) angesehen hatte 14 . Anders als bei Kepler tritt aber bei Newton das Ellipsengesetz völlig in den Hintergrund. Während die dynamischen Bewegungsgesetze, der Flächensatz und das dritte Gesetz, direkt durch neue, Kepler noch nicht zugängliche Beobachtungsdaten bestätigt werden, bleibt der Ellipsensatz eine Hypothese, die nur unter Vernachlässigung bestimmter Werte gültig ist. Die astronomischen Erscheinungen, 15
14
Chr. Huygens, Abhandlung über das Licht, hrsg. v. E. Lommel, Leipzig 1890, S. 4. Vgl. I. Schneider, Wahrscheinlichkeit und Zufall bei Kepler, in: Phil. Nat., Bd. 16 (1976), S. 40 ff.
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von denen Newton ausgeht, sind zwar schon zum Teil von Galilei entdeckt worden. Seine Beobachtungen waren jedoch nicht so genau, daß Newton aus ihnen die Gültigkeit der Keplersdien Gesetze hätte nachweisen können. Für die Verifizierung des dritten Keplerschen Gesetzes war vor allem die Kenntnis der genauen Distanzen der Satelliten von ihren Zentralkörpern nötig. Dazu reichte eine bloß qualitative Vergrößerung, wie sie mit dem Galileischen Fernrohr erreicht wurde, nicht aus; auch dann nicht, als die Brennweiten extrem erhöht wurden. Erst nach der Erfindung und Anwendung des Mikrometers, eines in dem Fernrohr eingebauten Meßinstrumentes, konnten jene genauen Daten geliefert werden, die auf der Ebene der metrisch-quantitativen BegriflFsbildung zur Verifikation oder Falsifikation der Keplerschen Theorie geeignet waren. Das Ergebnis dieser vor allem durch Flamsteed und Cassini durchgeführten Beobachtungen, die genaue Bestimmung der Distanzen der Jupiter- und Saturnsatelliten von ihren Zentren, ausgedrückt in Halbmessern des Jupiterkörpers bzw. des Saturnringes und verglichen mit den Umlaufzeiten, ergibt die von Kepler geforderte „ratio sesquiplicata". Ebenso bestätigte sich das zweite Keplersche Gesetz. Sowohl die Jupiter· als auch die Saturnsatelliten beschreiben mit den nach dem Mittelpunkt ihrer Zentralkörper gezogenen Radien den Zeiten proportionale Flächenräume. Die Ellipsenform der Satellitenbahnen hält aber Newton für nicht erwiesen. Von den Jupitersatelliten sagt er vielmehr ausdrücklich, daß die Beobachtungen zeigen, daß die Bahnen nicht sehr von Kreisen abweichen, die um den Jupiter konzentrisch sind15. Die Welt des Jupiters und die Welt des Saturns sind für Newten gewissermaßen kleine, aber im ganzen von der Erde aus beobachtbare Abbilder des Sonnensystems. Alles, was für die Systeme gilt, läßt sich dann durch Analogie auf das Sonnensystem selbst übertragen. So bemüht er sich audi in einem dritten Punkt, beobachtbare Erscheinungen aufzuweisen, die erkennen lassen, daß „die fünf Planeten Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn mit ihren Bahnen die Sonne einschließen". Wieder ist es ein optisches Phänomen, das bereits Galilei entdeckt hatte und das später durch genauere und wiederholte Beobachtungen erweitert, besser gestützt und abgesichert worden ist: „Daß Merkur und Venus sich um die Sonne bewegen, sieht 14
Vgl. Newton, Mathematische Prinzipien, S. 381.
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2. Newtons Gravitationsgesetz
man an ihren mondförmigen Phasen. Mit vollem Scheine leuchtend befinden sie sich jenseits, mit halbem leuchtend in der Gegend der Sonne, und wenn sie sichelförmig erscheinen, diesseits derselben, wo sie bisweilen wie dunkle Flecke vor der Sonnenscheibe vorübergehen." 16 In der Genfer Ausgabe der Principia 17 werden diese Sätze Newtons durch eine Illustration (Abb. 12) veranschaulicht. A
G
Abb. 12
Vervollständigt wird dieser optische Erscheinungskomplex durch die Lichtgestalten der äußeren Planeten: „Ferner hat man aus dem vollen Lichte des Mars in der Nähe der Konjunktion der Sonne und aus dem höckrigen Ansehen in der Nähe der Quadraturen als gewiß erkannt, daß er um die Sonne läuft. Vom Jupiter und Saturn wird dasselbe aus ihrem stets vollen Lichte erwiesen; daß sie nämlich nur durch das von der Sonne geliehene Licht glänzen, erhellt aus dem auf sie geworfenen Schatten der Trabanten." 18 16 17
18
Ebenda, S. 383. Newton, Philosophiae naturalis principia mathematica, Bd. 3, Teil 1, S. 15. Newton, Mathematische Prinzipien, S. 383.
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Nachdem die strukturelle Gleichwertigkeit des Jupiter- und Saturnsystems mit dem ganzen Sonnensystem erwiesen ist, kann Newton in einem vierten Punkt zur Demonstration der Gültigkeit des 3. Keplersdien Gesetzes für die Planetenumlaufbahnen übergehen. Dazu genügen aber schon die Beobachtungen der Planetenbewegung durch Tydio Brahe und Berechnungen der mittleren Abstände der Planeten von Kepler. Für die oberen Planeten führt Newton noch ein zusätzliches Verfahren zur Messung der Sonnenentfernung von sehr großer Genauigkeit an: „In Bezug auf die Abstände der oberen Planeten von der Sonne wird aller Streit durch diese Verfinsterungen der Jupitertrabanten gehoben. Durch diese Verfinsterungen wird nämlich die Lage des Schattens bestimmt, welche der Jupiter wirft, und man erhält auf diese Weise eine heliozentrische Länge. Aus der gegenseitigen Vergleichung der heliozentrischen und geozentrischen Länge des Jupiters leitet man seinen Abstand her." 19 Ebenso sieht Newton uneingeschränkt das 2. Keplersche Gesetz durch die astronomischen Beobachtungen bestätigt. Gleichzeitig ist die Gültigkeit dieses Gesetzes ein zusätzliches Argument für die heliozentrische Planetentheorie: „Die Planeten beschreiben, mit den nach der Erde gezogenen Radien, keine den Zeiten proportionalen Flächen, wohl aber durchlaufen sie, an den nach der Sonne gezogenen Radien, Flächen, welche den Zeiten proportional sind." 20 Als sechsten Punkt im Katalog der empirisch beobachtbaren Phänomene, welche die Keplerschen Gesetze bestätigten, führt Newton schließlich die Mondbewegung an. Aus der Vergleichung der scheinbaren Bewegung des Mondes mit seinem scheinbaren Durchmesser ist ersichtlich, daß er entsprechend dem 2. Keplersdien Gesetz mit den nach der Erde gezogenen Radien eine der Zeit proportionale Fläche beschreibt. Damit ist für Newton die empirische Grundlage der Keplersdien Gesetze gesichert und ihrer Einordnung in die allgemeine Theorie der Bewegungen und Kräfte steht nichts mehr im Wege. Wie schon ausgeführt, ist die rationale Mechanik Newtons bereits eine Modifizierung der Galileischen Kinematik, die in ihrer Axiomatisierung eine reine Bewegungslehre war, ohne Berücksichtigung der die Bewegung verursachenden Kräfte. " Ebenda, S. 384. 20 Ebenda.
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2. Newtons Gravitationsgesetz
Deshalb enthalten auch die Axiome der Newtonsdien Theorie bereits den Begriff der Kraft. Wenngleich die Definition des Kraftbegriffs in seinen grundlegenden Versionen als vis inertia (Trägheitskraft), die in der Materie selbst haust, und als vis impressa (auf den Körper einwirkende Kraft), die den Zustand der Ruhe oder Bewegung verändert, eine keineswegs unproblematische Umdeutung traditioneller Vorstellungen bedeutet 21 , erreicht er doch speziell mit dem Begriff der vis centripeta, der Zentripetalkraft, eine allgemeine Bestimmung, die alle bisherigen Vorstellungen einer Kraft vereinigen, die auf ein Zentrum bezogen sind. Hierher gehören die Schwere, die magnetische Kraft, die Kraft, welche die Planeten beständig von der geradlinigen Bewegung abzieht und sie zu einer Bewegung auf einer krummen Linie zwingt, und schließlich gehört auch hierzu die Kraft der Hand, die einen mit einer Schleuder gedrehten Stein festhält. Die allgemeine Definition dieser Zentripetalkraft lautet: „Die Zentripetalkraft bewirkt, daß ein Körper gegen irgend einen Punkt als Zentrum gezogen oder getrieben wird oder auf irgend eine Weise dahin zu gelangen strebt." Quantitativ ist diese Zentripetalkraft durch drei Maßzahlen charakterisiert, die Newton absolute (quantitas absoluta), beschleunigende (quantitas accelerata) und bewegende Größe (quantitas motrix) nennt 22 . Mit der gesetzmäßigen Bestimmung der Zentripetalkräfte beginnt Newton die Aufstellung seiner Theoreme. Es ist charakteristisch für die logische Entwicklungsstruktur einer integrativen Theorie, daß Newton bei der Beweisführung nicht die Fluxionsmethode, das heißt seine Methode der Infinitesimalrechnung, sondern das klassische Mittel der geometrischen Darstellung verwendet, das auch Kepler und Galilei benützt haben. Die rein geometrische Methode, mit der er die Differential- und Integralrechnung, aus deren systematischer Vereinigung schließlich die allgemeine Analysis des Unendlichen hervorging, umgeht, bezeichnet er als die „Methode der ersten und letzten Verhältnisse". Sie besteht in einer geometrischen Darstellung der Verhältnisse von gegebenen endlichen Größen, wenn diese von unendlicher Kleinheit an zu wachsen beginnen oder bis zu unendlicher Kleinheit abnehmen, wo-
Ά a
Vgl. M. Jammer, Concepts of Force, Cambridge, Mass., 1957. Vgl. Newton, Philosophiae naturalis principia mathematica, Bd. 1, Teil 1, S. 5, 8 ff.
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mit Newton genau das Problem erfaßt hat, das bereits die Galileische Kinematik enthielt: die mathematische Charakterisierung der Geschwindigkeit am Anfang und Ende einer Bewegung und somit auch die strukturelle Beschreibung der Veränderung der Geschwindigkeit überhaupt. Die Grundgedanken der neuen Infinitesimalmethode hat aber N e w t o n auch hier bereits deutlich zu machen versucht: „Wenn ich ferner in der Folge Größen als aus kleinen Teilen bestehend betrachten, oder statt gerader unendlich kleine krumme Linien annehmen sollte; so wünsche ich, daß man darunter nicht unteilbare, sondern verschwindend kleine teilbare, nicht Summen und Verhältnisse bestimmter Teile, sondern die Grenzen der Summen und Verhältnisse verstehen und daß man den Kern solcher Beweise immer auf die Methode der hervorgehenden Lehnsätze zurückführen möge. Man kann den Einwurf machen, daß es kein letztes Verhältnis verschwindender Größen gebe, indem dasselbe vor dem Verschwinden nicht das letzte sei, nach dem Verschwinden aber überhaupt kein Verhältnis mehr stattfinde. Aus demselben Grunde könnte man aber auch behaupten, daß ein nach einem bestimmten Orte strebender Körper keine letzte Geschwindigkeit habe; diese sei, bevor er den bestimmten Ort erreicht hat, nicht die letzte, nachdem er ihn erreicht hat, existiere sie gar nicht mehr. Die Antwort ist leicht. Unter der letzten Geschwindigkeit versteht man diejenige, mit welcher der Körper sich weder bewegt, ehe er den letzten Ort erreicht und die Bewegung aufhört, noch die nadiher stattfindende, sondern in dem Augenblick, w o er den Ort erreicht, ist es die letzte Geschwindigkeit selbst, mit welcher der Körper den Ort berührt und mit welcher die Bewegung endigt. Auf gleiche Weise hat man unter dem letzten Verhältnis verschwindender Größen dasjenige zu verstehen, mit welchem sie verschwinden, nicht aber das vor oder nach dem Verschwinden stattfindende. Eben so ist das erste Verhältnis entstehender Größen dasjenige, mit welchem sie entstehen; die erste und die letzte Summe diejenige, mit welcher sie anfangen oder aufhören zu sein (entweder größer oder kleiner zu werden). Es existiert eine Grenze, welche die Geschwindigkeit am Ende der Bewegung erreichen, nicht aber überschreiten kann; dies ist die letzte Geschwindigkeit. Dasselbe gilt von der Grenze aller anfangenden und aufhörenden Größen und Proportionen. D a diese Grenze fest und bestimmt ist, so ist es eine wahrhaft geometrische Aufgabe, sie aufzusuchen. Alles Geometrische wird aber mit Fug und Recht bei 5
Oeser, Band 2
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2. Newtons Gravitationsgesetz
andern geometrischen Bestimmungen und Beweisen in Anwendung gebracht." 2 3 D a ß Newton diese geometrische Methode nur als Ersatz für die Infinitesimalrechnung angesehen hat, zeigen jedoch folgende Worte: „Die Beweise werden nämlich kürzer durch die Methode der unteilbaren Größen. D a aber die Methode des Unteilbaren etwas anstößig (durior) ist und daher für weniger geometrisch gehalten wird, so zog idi es vor, die Beweise der folgenden Sätze auf die letzten Summen und Verhältnisse verschwindender und auf die ersten werdender Größen zu begründen, und deshalb habe ich die Beweise jener Grenzen mit möglichster Kürze vorausgeschickt. Durch sie wird dasselbe geleistet, was man durch die Methode des Unteilbaren erlangt, und wir werden um so sicherer uns der bewiesenen Prinzipien bedienen können." 2 4 Die geometrische Methode der ersten und letzten Verhältnisse stellt daher einerseits einen Rüdegriff auf die klassisch-traditionelle Argumentationsstruktur der „alten Geometrie" dar, wäre aber andererseits ohne Kenntnis der neuen Infinitesimalmethode gar nicht aufgestellt worden. Sie ist daher selbst eine typische Übergangslösung, in der das Alte bewußt beibehalten wird, um das Neue verständlich zu machen. Bei der Bestimmung der Zentripetalkräfte ergibt sich dann das anschauliche Bild einer in Einzelabschnitte zerlegten Bewegung, die, der geometrischen Proportionsanalyse zugänglich, die Gesetzmäßigkeit der Veränderung der Bewegung demonstriert. Die beiden Lehrsätze, die mit H i l f e dieser geometrischen Figur als ableitbar aus den Bewegungsaxiomen bewiesen werden, lauten: „ l . W e n n Körper sich in Bahnen bewegen, deren Radien stets nach dem unbeweglichen Mittelpunkt der K r ä f t e gerichtet sind, so liegen die von ihnen beschriebenen Flächen in festen Ebenen und sind den Zeiten proportional. 2. Jeder Körper, welcher sich in irgend einer Kurve bewegt, deren Radien nach einem entweder ruhenden oder gleichförmig und geradlinig fortschreitenden Punkte gerichtet sind und um denselben der Zeit proportionale Räume beschreibt, wird durch eine, nach jenem Punkte gerichtete, Zentripetalkraft angetrieben." 2 5 23 24 25
Newton, Mathematische Prinzipien, S. 53 f. Ebenda, S. 53. Ebenda, S. 55, 57.
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Mit den beiden darauffolgenden Theoremen hat N e w t o n bereits die Grundlage einer allgemeinen Dynamik geschaffen, auf die sich jede Art der Bewegung, ob sie von terrestrischer Art ist wie die Fall- und Wurfbewegung oder sich auf die Bewegung der Himmelskörper bezieht, zurückführen läßt. Diese beiden Theoreme formuliert Newton folgendermaßen: „Jeder Körper, welcher mit einem nach dem Mittelpunkte eines andern irgendwie sich bewegenden Körpers gezogenen Radius um jenen Punkt Flächen beschreibt, welche der Zeit proportional sind, wird durch eine Kraft angetrieben, die aus der nach dem andern Körper gerichteten Zentripetalkraft, und der ganzen beschleunigenden, den andern antreibenden K r a f t zusammengesetzt ist. Die Zentripetalkräfte solcher Körper, welche verschiedene Kreise mit gleichförmiger Bewegung beschreiben, sind nach den Mittelpunkten dieser Kreise gerichtet und verhalten sich zueinander direkt wie die Q u a d r a t e gleichförmig beschriebener Bogen und indirekt wie die Radien." 2 6 In der weiteren Anwendung dieser Theoreme zeigt sich wiederum, daß die Bestimmung der Bahnform, auf der die Bewegung geschieht, keine Schwierigkeiten bringt. Denn diese ist, ob sie nun einen Kreis, eine Ellipse oder Hyperbel darstellt, nur als eine Folge der Wirkung der Zentripetalkraft unter verschiedenen Bedingungen anzusehen. Durch Variation dieser Bedingungen, zum Beispiel der Entfernung des Mittelpunktes, von dem aus die K r a f t wirkt, wird jeweils die Gestalt der Bahn abgewandelt. So ergibt sich das Galileische Gesetz von der Wurfbewegung dadurch, daß man eine Ellipse durch Entfernung ihres Mittelpunktes ins Unendliche in eine Parabel verwandelt. Bewegt sich der Körper auf einer solchen parabolischen Bahn, dann wird die nach dem unendlich entfernten Mittelpunkt gerichtete K r a f t konstant 2 7 . Dieselbe Vorgangsweise wendet N e w t o n dann bei der Einordnung der Keplerschen Gesetze in die allgemeine Mechanik der Zentripetalkräfte an. Entscheidend ist jedoch, daß, bevor dieser Schritt im dritten Buch der Principia durchgeführt wird, die Veränderung und Umkonstruktion der Galileischen Kinematik bereits geschehen ist, durch die das von Galilei nur nebenbei angedeutete Trägheitsgesetz an die Spitze des Axiomensystems rückt. Der Ausgangspunkt des Integrationsprozesses von terrestrischer und coelestiM 27
5*
Ebenda, S. 58 f. Vgl. ebenda, S. 69.
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scher Mechanik bildet daher schon längst nicht mehr die Galileisdie Kinematik, sondern bereits deren dynamische Modifikation durch Newton. Wie Newton die Gültigkeit der Keplersdien Gesetze an drei verschiedenen Beobachtungsbereichen, Jupiter- und Saturnsatelliten, Planeten und Erdmond, getrennt nachweist, so geht er auch bei der Einordnung dieser „aus den Erscheinungen durch Induktion geschlossenen Sätze" in die allgemeine Theorie von den Bewegungen und Kräften, der rationalen Mechanik, getrennt vor, um erst in einem zweiten Schritt entsprechend den drei Integrationsregeln das allgemeine Gravitationsgesetz zu formulieren. Es ergeben sich daher zunächst drei Theoreme, die als Sonderfälle der Theoreme über die Zentripetalkräfte zu betrachten sind: „Theorem I: Die Kräfte, durdi welche die Trabanten des Jupiters beständig von der geradlinigen Bewegung abgezogen und in ihren Bahnen erhalten werden, sind nach dem Mittelpunkte des Jupiters gerichtet und den Quadraten ihrer Abstände von demselben Punkte umgekehrt proportional. Theorem II: Die Kräfte, durch welche die Planeten beständig von der geradlinigen Bewegung abgezogen und in ihren Bahnen erhalten werden, sind nadi der Sonne gerichtet und den Quadraten ihrer Abstände von derselben umgekehrt proportional. Theorem III: Die Kraft, welche den Mond in seiner Bahn erhält, ist nach der Erde gerichtet und dem Quadrat des Abstandes seiner ö r t e r vom Zentrum der Erde umgekehrt proportional." 2 » Der entscheidende Schritt zur Formulierung des Gravitationsgesetzes wird aber im vierten Theorem vollzogen. Er bedeutet die Gleichsetzung der Zentripetalkraft mit der Gravitation: Theorem IV: „Der Mond ist gegen die Erde schwer, er wird durch die Schwere von der geradlinigen Bewegung abgezogen und in seiner Bahn gehalten." Diese Gleichsetzung begründet Newton ausdrücklich mit der ersten und zweiten der Regulae philosophandi, die besagen, daß an Ursachen zur Erklärung natürlicher Sachverhalte nicht mehr zuzulassen sind als ausreichen und daß gleichartige Wirkungen denselben Ursachen zuzuschreiben sind. Die Gleichartigkeit der Wirkungen gilt es aber erst zu beweisen. Sowohl 28
Ebenda, S. 385.
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in den Principia gleich am Beginn bei der Erläuterung der Zentripetalkraft als auch in dem später verfaßten mehr populär gehaltenen Werk „De Mundi Systemate" geht er von einem plausiblen Gedankenexperiment aus, das er durch die Figur Abb. 13 illustriert.
Abb. 13
Der Text dazu lautet: „Daß durch die Zentripetalkräfte die Planeten in ihren Bahnen erhalten werden können, ersieht man aus den Bewegungen der Projektile. Ein geworfener Stein wird, indem ihn seine Schwere antreibt, vom geradlinigen Wege abgebogen und fällt, indem er in der Luft eine krumme Linie beschreibt, zuletzt auf die Erde. Wird er mit größerer Geschwindigkeit geworfen, so geht er weiter fort und durch weitere Vergrößerungen derselben könnte es geschehen, daß er einen Bogen von 1,2, 5, 10, 100, 1000 Meilen beschriebe, oder daß er endlich über die Grenzen der Erde hinausginge, und nicht mehr zurückfiele. Es bezeichne AFB die Oberfläche der Erde, C ihren Mittelpunkt und VD, VE, VF krumme Linien, welche ein, von der Spitze V eines sehr hohen Berges, längs einer horizontalen Linie und mit nach und nach vergrößerter Geschwindigkeit geworfener Körper beschreibt. Damit der Widerstand der Luft, durch welche die Bewegung der Himmelskörper kaum verzögert wird, nicht in Rechnung komme, wollen wir uns dieselbe ganz fortgenommen oder wenigstens ihren Widerstand als nicht vorhanden denken. Auf dieselbe Weise, wie der mit der kleinsten Geschwindigkeit geworfene Körper den kleinsten Bogen VD, mit der größeren den größeren Bogen VE beschreibt, mit der noch größeren Geschwindigkeit bis F und weiter bis G gelangt; wird derselbe endlich, wenn die Geschwindigkeit stets vergrößert wird, über den ganzen Um-
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fang der Erde fortgehen und zu dem Berge, von welchem er geworfen worden ist, zurückkehren. Da nun die Fläche, welche der Körper mit dem nach dem Mittelpunkte gezogenen Radiusvektor beschreibt (nach Princip. Math., Buch I, Prop. I), der Zeit proportional ist; so wird die Geschwindigkeit, bei der Rückkehr zum Berge nicht kleiner als beim Ausgange sein. Ist aber die Geschwindigkeit unverändert geblieben, so kann er sich öfters nach demselben Gesetze herumbewegen. Denken wir uns nun Körper, welche aus höheren Punkten längs horizontaler Linien fortgeworfen werden, und zwar aus Punkten, welche 5, 10, 100, 1000 oder mehr Meilen und eben so viel Erdhalbmesser hoch liegen; so werden sie nach ihrer verschiedenen Geschwindigkeit und nach der, in den einzelnen Punkten stattfindenden, Kraft der Schwere Erdbogen beschreiben, die entweder kon- oder exzentrisch sind, und in diesen Bahnen werden die Körper fortfahren, nach der Weise der Planeten die Himmel zu durchwandern." 29 Um aber eine empirische Verifikation des Theorems von der Gleichheit der Zentripetalkraft und Schwere des Mondes zu bekommen, war eine hinreichend genaue Kenntnis des Abstandes Mond—Erde und der Umlaufzeit des Mondes nötig. Die mittlere Entfernung des Mondes von der Erde setzt Newton entsprechend den Angaben des Ptolemäus, Copernicus, Huygens und anderer mit 60 Erdhalbmessern an. Die siderische Umlaufzeit ist nach übereinstimmenden Angaben der Astronomen 27 Tage, 7 Stunden, 43 Minuten. Daraus ergibt sich, daß in jeder Minute V39343 der ganzen Umlaufbahn durchlaufen wird. Der Umfang der Erde beträgt nach den Newton bekannten Gradmessungen der Franzosen Picard und Cassini 123249600 Pariser Fuß, daraus läßt sich der Umfang der Mondbahn mit 73949760000 Pariser Fuß berechnen, dividiert durch 39343 ergibt den kleinen Bogen, den der Mond in einer Minute durchläuft, in Pariser Fuß ausgedrückt = 187964. Daraus läßt sich weiter nach Cor. 9, Prop. IV der Sinus versus LD mit 15Vi2 Pariser Fuß berechnen (vgl. Abb. 14). Die Strecke LD stellt aber jenen Fallraum des Mondes dar, den er in einer Minute zurücklegen würde, wenn er aller Bewegung beraubt auf die Erde herabstürzte. Da aber diese Kraft bei der Annäherung zur Erde im Verhältnis des Abstandes zunimmt, so wird sie an der Erdoberfläche um das 60 X 60fache so groß sein wie am 24
Ebenda, S. 514 f.; Newton, Opuscula, Bd. 2, S. 6.
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Mond. Ein mit dieser Kraft in unseren Breitengraden fallender Körper würde demnach in einer Minute einen Weg von 60 X 60 X 15 Vi2 Fuß zurücklegen oder, was dasselbe ist, in einer Sekunde 15 V12 Fuß oder genauer 15 Fuß 1 Zoll und 1 4/e Linien der Pariser Maßeinheiten. Nach Galileis Gesetz und den Pendelversuchen von Huygens fallen aber tatsächlich die schweren Körper auf der Erde in einer Sekunde 15 Fuß 1 Zoll 1 V» Linien. Diese Übereinstimmung der Zentripetalkraft, durch die der Mond in seiner Bahn gehalten wird und durch die er, wäre die Zentrifugalkraft aufgehoben, auf die Erde herabfallen würde, mit der Schwerkraft ist für Newton der endgültige Beweis für die Identität dieser Kräfte. Nach der ersten und zweiten Regel sind daher die Zentripetalkraft des Mondes und die Schwerkraft gleichzusetzen, denn sonst müßte man behaupten, daß sich diese beiden Kräfte addieren und ein der Erde sich nähernder Körper mit doppelter Geschwindigkeit herabstürzt. Das heißt, er müßte in einer Sekunde 30 Ve Fuß zurücklegen. Das aber widerspricht der Erfahrung 3 0 .
Abb. 14 Zur näheren Erläuterung führt Newton noch ein Gedankenexperiment an, das das erste Gedankenexperiment von der Vergrößerung der Schußweite der Projektile umkehrt, indem er von einem hypothetischen kleinen Erdmond ausgeht, der si
Vgl. Newton, Philosophiae naturalis principia mathematica, Bd. 3, Teil 1, S. 28 f.
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seine Umlaufbahn so nahe der Erde hat, daß er fast die Gipfel der höchsten Berge berührt: „Wenn mehrere Monde um die Erde liefen, wie dies beim Jupiter und Saturn der Fall ist, so würden ihre Umlaufzeiten, indem man durch Induktion schließt, das von Kepler entdeckte Gesetz der Planeten befolgen, und es würden sich daher ihre Zentripetalkräfte umgekehrt wie die Quadrate ihrer Abstände vom Mittelpunkte der Erde verhalten. Wäre der Abstand des untersten von ihnen kleiner, und berührte er selbst beinahe die Gipfel der höchsten Berge; so würde seine Zentripetalkraft, wodurch er in der Bahn erhalten wird, sehr nahe der Schwere der auf jenen Gipfeln befindlichen Körper gleich sein. Wenn derselbe kleine Mond aller Kraft beraubt wäre, die ihn in seiner Bahn vordringen läßt, also beim Fehlen der Zentrifugalkraft, welche ihn in seiner Bahn in Bewegung erhält, so müßte die Zentripetalkraft bewirken, daß er zur Erde herabstürzte, und zwar mit derselben Geschwindigkeit, mit der schwere Körper auf jenen Gipfeln fallen, weil nämlich ihre Kräfte einander gleich sind. Wäre jene Kraft, vermöge welcher der kleine Mond herabstürzt, von der Schwere verschieden und wäre er außerdem gegen die Erde schwer, wie es die Körper auf jenen Bergen sind; so würde er vermöge beider vereinter Kräfte doppelt so schnell herabstürzen. D a nun beide Kräfte, sowohl die der schweren Körper als die der Monde, gegen die Erde gerichtet, und da sie beide einander gleich und ähnlich sind; so werden sie (nach 1. und 2. Regel) auch dieselbe Ursache haben. Jene Kraft, welche den Mond in seiner Bahn erhält, wird daher dieselbe sein, welche wir Schwere zu nennen pflegen, und zwar hauptsächlich deshalb, weil der kleine Mond entweder auf den Spitzen der Berge von aller Schwere frei sein, oder doppelt so geschwind als schwere Körper fallen würde." 3 1 Nachdem Newton durch zwei sich gegenseitig stützende Gedankenexperimente und eine empirische Verifikation, die selbstverständlich keine absolute sein kann, aber sich in den Grenzen jener Genauigkeit der Übereinstimmung hält, die Newton „sehr nahe für wahr" ansieht, den zentralen Grundgedanken der Gravitation am Beispiel des Erdmondes gesichert hat, fungieren nun die Regulae philosophandi als Ausdehnungsregeln zur Erweiterung des harten, empirisch abgesicherten 31
Ebenda, S. 30. Die Obersetzung von Wolfers, Newton, Mathematische Prinzipien, S. 387, ist an dieser Stelle nicht korrekt.
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Strukturkerns seiner Theorie: „Bis jetzt haben wir jene Kraft, welche die Himmelskörper in ihren Bahnen erhält, Zentripetalkraft genannt. Daß sie mit der Schwere identisch sei, ist ausgemacht, und wir wollen sie daher künftig Schwere nennen. Die Ursache jener Zentripetalkraft, welche den Mond in seiner Bahn erhält, kann nämlich nach der 1., 2. und 4. Regel auf alle Planeten ausgedehnt werden." 32 Dadurch ergeben sich folgende Theoreme: „Theorem V: Die Jupitertrabanten gravitieren gegen den Jupiter, die Saturntrabanten gegen den Saturn, die Planeten gegen die Sonne und werden durch die Kraft ihrer Sdiwere stets von der geradlinigen Bewegung abgezogen und in krummlinigen Bahnen erhalten. Theorem VI: Alle Körper sind gegen die einzelnen Planeten schwer, und die Gewichte der ersteren gegen jeden Planeten sind in gleidien Abständen vom Mittelpunkt des letzteren der Menge der in den einzelnen Körpern befindlichen Materie proportional." 33 Theorem VII enthält schließlich die allgemeine Formulierung des Gravitationsgesetzes: „Gravitatem in corpora universa fieri, eamque proportionalem esse quantitate materiae in singulis. [Die Schwere kommt allen Körpern zu und ist der in jedem einzelnen enthaltenen Menge der Materie proportional.]" 34 Zu einer vollständigen Definition wird dieser Satz durdi die folgenden, bereits bewiesenen Erläuterungen: „Wir haben schon vorher bewiesen, daß alle Planeten wechselseitig gegen einander schwer seien; daß die Sdiwere gegen einen von ihnen, welchen man besonders betrachtet, sich umgekehrt wie das Quadrat des Abstandes von seinem Schwerpunkte verhalte und daß folglich (nadi dem ersten Buche, Prop. L X I X und dessen Zusätzen) die Sdiwere in allen Planeten der Menge ihrer Materie proportional sei. Ferner sind alle Teile eines Planeten A gegen irgend einen andern Planeten Β schwer, und es verhält sich die Schwere eines beliebigen Teiles zu der des Ganzen, wie die Materie des ersteren zu der des letzteren. Endlich ist (nach dem 3. Gesetze der Bewegung) die Wirkung der Gegenwirkung gleich. Seinerseits wird daher auch der Planet Β gegen alle Teile von A schwer sein, und es wird seine Sdiwere gegen 32 33 34
Newton, Mathematische Prinzipien, S. 388. Ebenda, S. 388 f. Newton, Philosophiae naturalis principia mathematica, Bd. 3, Teil 1, S. 43.
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einen beliebigen Teil sich zu seiner Schwere gegen den ganzen Planeten verhalten, wie die Materie dieses Teiles zur Materie des ganzen. W. z. b. w . " 3 5 Newton verwendet in der Formulierung des Gravitationsgesetzes nicht den Begriff der Masse, sondern den der quantitas materiae, den er als Synonym mit „massa" versteht und am Beginn der Principia folgendermaßen definiert: „Die Quantität der Materie ist das Maß (mensura) derselben, das durch das Produkt von Dichte und Rauminhalt dargestellt wird." Und als Einleitung fügt er hinzu: „Eine doppelt so dichte Luft im doppelten Räume ist von vierfacher Größe; dasselbe gilt von Schnee und Staub, welche durch Flüssigwerden oder Druck verdichtet werden. Dasselbe findet auch bei allen Körpern statt, die durch irgend welche Ursachen auf verschiedene Weise verdichtet werden." 3 6 Mach hat diese Definition der Masse als Scheindefinition verworfen: „Der Massenbegriff wird dadurch nicht klarer, daß man die Masse als das Produkt des Volumens und der Dichte darstellt, da die Dichte selbst nur die Masse der Volumeneinheit vorstellt." 3 7 Will man Newtons Definition nicht als Trug- oder Zirkelschluß ansehen, dann muß man folgern, daß für Newton der Begriff der Dichte primär war und vor den Begriff der Masse gestellt werden muß. Dieser Auffassung folgen die meisten Autoren der Newton-Literatur, sowohl im 19. Jahrhundert, wie W. Thomson, P. G. Tout und F. Rosenberger, als auch im 20. Jahrhundert, wie L. Bloch, I. B. Cohen, E. A. Burtt und M. Jammer 3 8 . Der Begriff der Dichte, der Newton auch durch Boyles Kompressionsexperimente nahegelegt worden ist, ist demnach als eine der fundamentalen Grundgrößen der damaligen Physik neben Länge und Dauer zu betraditen. Deshalb kann H . Crew mit Recht sagen: „In einem solchen System ist es sowohl naturwissenschaftlich wie logisch zulässig, Masse durch Dichte zu definieren." 39 Historisch wird diese Auffassung bestätigt durch den Kommentar der Genfer Ausgabe. Le Seur und Jaquier unterscheiden scharf zwischen den Begriffen „quantitas materiae" oder „massa" auf der einen Seite und „Volumen" 35 36 37 38
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Newton, Mathematische Prinzipien, S. 392. Ebenda, S. 21. Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung, S. 188. Vgl. M. Jammer, Der Begriff der Masse in der Physik, Darmstadt 1964, S. 73 G. H . Crew, The Rise of Modern Physics, Baltimore 1828, S. 124.
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oder „moles" auf der anderen Seite. Der Begriff der quantitas materiae wird atomistisch als die „Summe aller materiellen Partikel verstanden, aus denen der Körper zusammengesetzt ist. Nur dann, wenn es keine Lücke zwischen den Partikeln gäbe, wäre Masse und Volumen gleich." 40 Der Newtonsche Begriff der quantitas materiae ist demnach als eine entwicklungsgeschichtliche Vorstufe des modernen Massebegriffs anzusehen. In der Geschichte der erfahrungswissenschaftlichen Begriffsbildung lassen sich also, wie bereits M. Jammer am Beispiel des Massebegriffs gezeigt hat, mehrere Entwicklungsstufen unterscheiden: 1. Die Konzeption: das ist der eigentliche Prozeß der Formung. 2. Die Systematisierung: das ist die Einverleibung des neugeformten Begriffs in den Aufbau des wissenschaftlichen Systems. 3. Die Formalisierung: das ist die formale Definition des Begriffs innerhalb des Gefüges der deduktiven wissenschaftlichen Darstellung 41 . Diese Entwicklungsstufen der Begriffsbildung entsprechen aufs genaueste den Phasen des in der Einleitung propagierten Entwicklungsmodells des wissenschaftlichen Systems: Heuristische Auffindung der Begriffshypothesen, konstruktiv-begründeter Aufbau einer Theorie und deduktive Stabilisierung. Die erste Stufe, die Konzeption des Massebegriffs, wurde durch Kepler abgeschlossen, der in seinem „Abriß der Copernicanischen Astronomie" Trägheit und Masse durch folgende Definition miteinander verbindet: „Trägheit (inertia) ist ein eigentümliches Merkmal der Materie. Sie ist um so stärker, je größer die Fülle (copia) der Materie in einem engen Raum zusammengezogen ist." 4 2 Newton hat die erste Systematisierung des Massebegriffs durchgeführt, während die deduktive Formalisierung der analytischen Mechanik vorbehalten blieb. Sie wurde zum ersten Mal durch Euler geleistet, der in seiner Darstellung der Mechanik 43 die neue Idee hatte, die Quantitäten der Materie oder Massen durch bewegende Kräfte zu bestimmen. Womit er bereits die 40
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Newton, Philosophiae naturalis principia mathematica, Bd. 1, Teil 1, S. 1. Vgl. Jammer, Der Begriff der Masse in der Physik, S. 61. J . Kepler, Opera Omnia, hrsg. v. C. Frisch, Frankfurt a. M. - Erlangen 1896, Bd. 6, S. 174 f. L. Euler, Medianica sive motus scientiae analytice expósita, St. Petersburg 1736.
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Forderung erfüllt hat, die Ma