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German Pages 360 [362] Year 2008
Chris Buskes Evolutionär denken
CHRIS BUSKES
Evolutionär denken Darwins Einfluss auf unser Weltbild Aus dem Niederländischen von Christiane Kuby und Herbert Post
Die niederländische Originalausgabe erschien 2006 (4. Auflage 2008) bei Uitgeverij Nieuwezijds, Amsterdam unter dem Titel Evolutionair denken. De invloed van Darwin op ons wereldbeeld © 2006, 2008 by Chris Buskes Die Übersetzung erscheint mit freundlicher Unterstützung des Nederlands Literair Produktie- en Vertalingenfonds.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © der deutschen Ausgabe 2008 by Primus Verlag, Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Einbandgestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt Einbandmotiv: „Forêt tropicale avec singes et serpent“ (Tropischer Wald mit Affen und Schlange), Henri Rousseau, 1910. John Hay Whitney Collection, Inv.Nr. 1982.76.7, Washington Foto: picture-alliance / akg-images Gestaltung und Satz: Satzpunkt Ursula Ewert GmbH, Bayreuth Printed in Germany www.primusverlag.de ISBN 978-3-89678-383-7
Inhalt
Vorwort
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Einleitung Ein neuer Denkansatz 11 * Implikationen der Evolutionstheorie 12 * Versprechen und Gefahren 13 * Ziel und Aufbau dieses Buches 14
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Auf den Spuren der Evolution Das antike und das mittelalterliche Weltbild 16 * Die wissenschaftliche Revolution 18 * Naturtheologie 20 * Lamarck und Spencer 21 * Die Galapagos-Finken 23 * Das Puzzle nimmt Gestalt an 25 * Der Kampf um das Dasein 29 * Veröffentlichung der Entstehung der Arten 31 * Weismann und Mendel 32 * Die moderne Synthese 35
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Sexuelle Selektion Die Doppelhelix 38 * Der evolutionäre Algorithmus 40 * Der Riesenhirsch und der Pfau 42 * Wettkampf der Männchen 44 * Wahl der Weibchen 46 * Nature versus Nurture 47 * Steinzeitlicher Geist 48 * Sexuelle Selektion, Ehebruch und Emotionen 51 * Sexuelle Selektion und Kultur 53
38
3
Artbildung Mysterium der Mysterien 55 * Die Tiere des Kaisers 56 * Das biologische Artkonzept 59 * Ein Artenschwarm im Viktoriasee 61 * Isolationsmechanismen in sympatrischen Populationen 63 * Probleme des biologischen Artkonzepts 64 * Hoffnungsvolle Monster 66
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Die Entstehung des Menschen Entwicklungen in der Paläanthropologie 70 * Primaten und Hominiden 71 * Die ersten Menschenartigen 73 * Die Morgenröte des Menschen 79 * Das Rätsel der Neandertaler 83 * Ein zweiter Exodus aus Afrika 85 * Trends in der menschlichen Evolution 89
70
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Soziobiologie und Evolutionspsychologie Kontroverse über die Natur des Menschen 94 * Die neue Synthese 97 * Das Rätsel der sozialen Insekten 99 * Verwandtenselektion und Parasitismus 102 * Die Evolution der Wechselseitigkeit 104 * Das Paradox des freien Willens 107 * Kultur an der Leine 109 * Genese einer Wissenschaft 111
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INHALT
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Evolution und Anthropologie 113 Von fremden Ländern und Völkern 113 * Die Universalität der Emotionen 114 * Viktorianische Vorurteile 116 * Das Standardmodell der Sozialwissenschaften 117 * Kulturrelativismus 119 * Aufwachsen auf Samoa 121 * Mutter der Welt 124 * Freemans Angriff 125 * Kollidierende Paradigmen 128
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Evolution und Sprache 131 Sprache macht den Menschen 131 * Empirismus und Nativismus 133 * Die Sprache als Exaptation 134 * Der Sprachinstinkt 136 * Die Einzigartigkeit der menschlichen Sprache 138 * Auf der Suche nach dem Sprachursprung 142 * Die Funktion der Sprache 146
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Evolution und Bewusstsein 148 Körper und Geist 148 * Cartesianischer Dualismus 150 * Monismus, Physikalismus und Funktionalismus 152 * Schlaue Maschinen 155 * Wie ist es, eine Fledermaus zu sein? 158 * Ein Angriff auf den gesunden Menschenverstand 159 * Zombies und die Funktion des Bewusstseins 162 * Das mehrschichtige Bewusstsein 164 * Fallstricke in der Erforschung des tierischen Bewusstseins 167
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Die Evolution der Kultur 170 Ein neues Medium der Evolution 170 * Die Geburt der „Memetik“ 170 * Universaler Darwinismus 172 * Kultur als Auswirkung der Gene 174 * Der Aufstand der Meme 176 * Im Bann der Memplexe 178 * Meine Meme sind schuld! 180 * Ist kulturelle Evolution lamarckistisch? 182 * Eine Genealogie der Meme 183 * Was ist ein Mem? 185 * Ist die Memetik eine Wissenschaft? 186
10 Evolutionäre Epistemologie 188 Neue Perspektiven 188 * Die Suche nach Gewissheit 188 * Naturalismus 190 * Über Nestflüchter und angeborenes Wissen 192 * Hinter den Kulissen der kognitiven Nische 193 * Evolution ist Wissenserwerb 195 * Darwinmaschinen 199 * Evolution der Wissenschaft 201 * Die zielgerichtete Wissenschaft 203 * Der naturalistische Fehlschluss 205 11 Evolution und Religion 207 Kaplan des Teufels 207 * Amerikanische Zustände 209 * Worin irrt Intelligent Design? 212 * Wer hat Angst vor der Makroevolution? 214 * Zufall und Stupid Design 216 * Der Streit der Magisteria 219 * Höhere Metaphysik 223 * Auf der Suche nach dem Gottesmodul 225 12 Evolution und Moral Die Grundlagen der Moral 228 * Der Gesellschaftsvertrag 229 * Die Spieltheorie 230 * Das Gefangenendilemma 232 * Das Affendilemma
228
INHALT
234 * Wechselseitiger Altruismus 235 * Der Triumph von Tit-for-Tat 237 * Ist Tit-for-Tat eine evolutionär stabile Strategie? 239 * Winke für Staatsmänner 241 * Moral der Empfindungen 243 * Sind wir von Natur aus gut? 244 13 Evolution und Ästhetik 247 Ästhetische Obsessionen 247 * Gefiederte Künstler 248 * Was will die Pfauenhenne? 251 * Ästhetischer Realismus 253 * Platon als Mittelweg 254 * Der Ursprung der Kunst 255 * Schönheitssinn als Adaptation 258 * Schönheit und Symmetrie 260 * Weibliche Rundungen und ungewaschene T-Shirts 262 * Aussichten einer evolutionären Ästhetik 264 14 Darwinistische Medizin 268 Memento mori 268 * Evolutionäre Kompromisse 270 * Heterozygoter Vorteil 271 * Ein ewiges Wettrüsten 273 * Adaptive Abwehrstrategien 276 * Der Vormarsch der Zivilisationskrankheiten 279 * Schreckensszenarien 282 15 Sozialdarwinismus und Eugenik 285 Gefahren des evolutionären Denkens 285 * Herbert Spencer und die Evolutionsgesetze 286 * Die Wurzeln des Sozialdarwinismus 288 * Die Kontroverse über Rassen 290 * Die Glockenkurve 293 * Die Zukunft der Zivilisation 297 * „Rassenhygiene“ im Polderland 300 * Regeln für den Menschenpark 301 16 Evolution und Fortschritt Progressive Evolution? 305 * Die große Kette der Wesen 308 * Fortschrittskriterien 310 * Evolution und Eskalation 315 * Der Modus des Lebens 317 * Evolution und Konvergenz 321 * Die Zukunft des Lebens 324
305
Nachwort
326
Literatur zu Kapitelthemen
329
Literatur allgemein
334
Bildnachweis
346
Personen- und Sachregister
347
7
Für Petra Für alles
Vorwort Dieses Buch handelt von Charles Darwins geistigem Erbe, seiner Evolutionstheorie, die zu den überzeugendsten und einflussreichsten Konzepten zählt, die jemals formuliert wurden. Jeder sollte sie daher zur Kenntnis nehmen, und sei es nur, um in den kontroversen Debatten, die Darwins Theorie noch immer auslöst, einen Standpunkt beziehen zu können. Dieses Buch ist als umfassende und leicht zugängliche Übersicht gedacht, die den Leser mit den vielen Aspekten des evolutionären Denkens nicht nur innerhalb der Biologie, sondern auch in zahlreichen anderen Disziplinen vertraut machen soll. Die Evolutionstheorie verdient unsere Aufmerksamkeit nicht nur, weil sie von überraschender Einfachheit und großer Erklärungskraft ist, sondern vor allem deswegen, weil sie weitreichende wissenschaftliche, philosophische und weltanschauliche Folgen hat, die uns alle angehen. Die Idee zu diesem Buch entstand, als ich 2002 im Rahmen des interdisziplinären Honours-Programms der Radboud Universität Nijmegen ein Seminar zum Thema Darwins Erbe übernahm. Mein Dank gilt denn auch dem Rector magnificus Professor Dr. Kees Blom, der mir die Gelegenheit bot, an diesem ehrgeizigen Programm teilzunehmen, sowie dem Koordinator Henk Willems und seinen Mitarbeitern für die vorzügliche Organisation. Herzlich bedanken möchte ich mich ebenfalls bei Raymond Corbey, Tijs Goldschmidt und Esteban Rivas für ihre anregenden Gastvorlesungen. Sie haben das Niveau der Seminare beträchtlich gehoben. Doch Dank gebührt vor allem den Teilnehmern des Kurses Darwins Erbe, die meinen Geist/mein Denken in den vergangenen Jahren geschärft und meine Wissenslücken geschlossen haben. Mein Dank geht weiterhin an meine Kollegen Monica Meijsing und Pouwel Slurink, die sich der Mühe unterzogen, das Manuskript zu lesen und mit wertvollen Anmerkungen zu versehen. Das Schreiben eines Buches ist eine einsame und monomane Tätigkeit. Nur die Tatsache, dass ich mich von den mir Lieben unterstützt wusste, machte die vielen Stunden am Computer erträglich. Dieses Buch ist derjenigen gewidmet, ohne die die folgenden Seiten nicht geschrieben worden wären.
Wenn ich einen Preis für die beste Einzelidee aller Zeiten vergeben sollte, würde ich ihn Darwin verleihen, noch vor Newton und Einstein und allen anderen. Daniel Dennett
Einleitung Ein neuer Denkansatz Was die Bibel für das erste Jahrtausend unserer Zeitrechnung gewesen sei, so meinen manche, sei für das zweite Charles Darwins Meisterwerk Über die Entstehung der Arten im Thier- und Pflanzenreich durch natürliche Züchtung (1859, die erste deutsche Ausgabe erschien unter dem genannten Titel im Jahr 1860). Wie dem auch sei, Tatsache ist, dass Darwin eine Umwälzung des Denkens in Gang setzte, die in der Geschichte der Wissenschaften ohne Beispiel ist. Mehr noch als Kopernikus, Galilei, Newton und Einstein hat Darwin das Bild, das wir von uns selbst und von der Welt haben, von Grund auf und unumkehrbar verändert. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Evolutionstheorie ein Meilenstein ist – sie gehört zu den größten intellektuellen Leistungen in der Geschichte der Menschheit. Kennzeichnend für derartige wissenschaftliche Revolutionen ist es, dass sie zuvor isolierte Forschungsgebiete zusammenführen, dass sie zahlreiche neue Fragen aufwerfen und nicht zuletzt die Welt in ein neues, schärferes Licht tauchen. All dies trifft auch – und in zunehmendem Maße – auf die Evolutionstheorie zu. Denn Darwins bahnbrechende Entdeckung hat einen völlig neuen Denkansatz begründet, dessen zahlreiche Implikationen wir gerade erst zu verstehen beginnen. Die wichtigste ist vielleicht die, dass wir die Evolution des Lebens und die Entstehung des Menschen ohne Bezug auf das Übernatürliche erklären können. Darwin stellte das seinerzeit herrschende Weltbild auf den Kopf. Mehr als zweitausend Jahre lang war man der festen Überzeugung, ein höheres Wesen habe alles Leben auf der Erde erschaffen. Ließen Bau und Komplexität der Gliedmaßen, der Sinnesorgane oder des Nervensystems nicht einzig den Schluss zu, dass ein Schöpfer am Werk gewesen war, ein göttlicher Handwerker? Dieser Auffassung liegt das sogenannte Design-Argument (argument from design) zugrunde: Jedes komplexe Ding setzt einen intelligenten Designer voraus. Nun hat dieses Argument auf den ersten Blick durchaus einiges für sich. Komplexe und funktionale Dinge entstehen ja oft nicht mir nichts, dir nichts oder ohne Zweck und Ziel. Artefakte wie Uhren, Computer oder Jumbojets wurden von Ingenieuren, Designern und anderen schlauen Köpfen erdacht und hergestellt. Sie verraten Intelligenz. Um wieviel mehr müsste dies für lebende Organismen gelten, da das erstbeste Insekt um vieles komplexer ist als der modernste Computer oder der Spaceshuttle. Kurz, wenn man die Funktionalität und Komplexität der Lebewesen studiert, kann man sich schwerlich des Eindrucks erwehren, jemand habe all
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EINLEITUNG
dies zielbewusst entworfen. Es gab daher auch lange keinen Grund, die Schöpfung anzuweifeln. Über zwei Jahrtausende lang sah man überall einen göttlichen Ingenieur am Werk. Erst Darwin hat uns eine wissenschaftliche Erklärung für die wunderliche Vielfalt und Zweckmäßigkeit des Lebens gegeben. Nicht aus dem „Höheren“ ist das Leben hervorgegangen, sondern aus dem „Niederen“: Alle Organismen unseres Planeten stammen von organischen Molekülen und primitiven Einzellern ab, die vor ca. vier Milliarden Jahren im Ozean entstanden. Auf genetischer Ebene sind die verschiedenartigsten Organismen eng miteinander verwandt. Kontrollgene, die beim Menschen die Embryonalentwicklung steuern, finden sich etwa auch bei allen anderen Wirbeltieren und sogar bei Insekten. In genetischer Hinsicht unterscheidet sich der Mensch nur geringfügig von seinen engen Verwandten, dem Schimpansen und dem Bonobo. Der wissenschaftliche Beweis für den gemeinsamen Ursprung und die Evolution des Lebens ist überwältigend. Der blinde Mechanismus, den Darwin entdeckte, die natürliche Selektion, ist offensichtlich in der Lage, das intelligente Design zu simulieren. Die Umwälzung, die Darwins Gedanke bedeutete, ist ein treffendes Beispiel für das, was der amerikanische Wissenschaftstheoretiker Thomas Kuhn einen „Paradigmenwechsel“ nannte. Kuhn zufolge hat es im Lauf der Geschichte immer wieder wissenschaftliche Revolutionen gegeben, die das eine Paradigma oder Weltbild durch ein anderes ersetzten. Ein klassisches Beispiel ist die Kopernikanische Wende vom geozentrischen hin zum heliozentrischen Weltbild. Zur Bestürzung seiner Zeitgenossen behauptete Kopernikus, nicht die Erde, sondern die Sonne stehe im Mittelpunkt des Universums. Nach einem Paradigmenwechsel, so Kuhn, finden sich Forscher in einer anderen Welt wieder: Die Tatsachen erscheinen plötzlich in einem völlig anderen Licht. Mit wissenschaftlichen Revolutionen verändern sich nicht nur die Theorien, sondern auch das allgemeine Weltbild und die wissenschaftliche Praxis. Dies gilt auch für Darwins Evolutionstheorie. Implikationen der Evolutionstheorie Der amerikanische Philosoph Daniel Dennett spricht im Zusammenhang mit Darwins Evolutionstheorie von einer Universalsäure, die sich praktisch durch jeden traditionellen Begriff fresse und eine revolutionierte Weltsicht hinterlasse. Diese Metapher ist keineswegs negativ gemeint. Im Gegenteil. Dennett meint zu Recht, dass die Evolutionstheorie uns dazu zwingt, viele tief verwurzelte Überzeugungen neu zu überdenken. Es gibt heute kaum noch ein Wissenschaftsgebiet, in das die Darwin’sche „Säure“ nicht eingedrungen ist. Nach hundertfünzig Jahren sickern die Erkenntnisse der Evolutionstheorie in alle anderen Wissenschaftszweige ein. Niemand könne sich, so Dennett, der korrodierenden Wirkung von Darwins „gefährlicher“ Theorie entziehen. Sogar der Vatikan hat vor
VERSPRECHEN UND GEFAHREN
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einiger Zeit einen Kniefall gemacht. 1996 erklärte Papst Johannes Paul II., die Evolutionstheorie könne nicht länger als spekulative Hypothese beiseite geschoben werden. Seitdem akzeptiert die katholische Kirche die Möglichkeit, dass der menschliche Körper aus früheren Lebensformen hervorgegangen sei, beharrt jedoch darauf, dass die Seele unmittelbar von Gott komme. Die Erklärung des Vatikans kam nur wenige Jahre nach der päpstlichen Rehabilitierung Galileis im Jahr 1992. Offenbar wollte man ähnliche Schnitzer in Zukunft vermeiden. Wie gesagt, droht die Evolutionstheorie unsere tief verwurzelten Vorstellungen davon, wer wir sind und woher wir kommen, radikal infrage zu stellen. Darwins Entdeckung untergräbt den besonderen Status des Menschen. Wir wurden nicht nach Gottes Ebenbild geschaffen, sondern wir sind das Resultat eines blinden und algorithmischen Prozesses natürlicher Selektion. Diese Ansicht stößt bei manchen auf Ablehnung, wird doch das Sakrale vom Thron gestoßen und ein Mysterium entzaubert. Ist der Mensch nicht mehr als ein etwas klügerer Affe? Zudem scheint die Evolutionstheorie auch mit einigen fundamentalen Überzeugungen innerhalb der Geisteswissenschaften zu kollidieren. Werden wir durch unsere Natur oder unsere Kultur bestimmt? Steuern die Gene unser Verhalten oder besitzen wir einen freien Willen? Und welche Bedeutung hat die Evolutionstheorie eigentlich für die Religion? Manche namhaften Wissenschaftler sind der Auffassung, nach Darwin könne man nicht mehr an Gott glauben. Versprechen und Gefahren Im Unterschied zur modernen Physik und anderen Wissenschaftszweigen hat die Evolutionstheorie unmittelbare und weitreichende Konsequenzen für eine ganze Reihe von philosophischen und weltanschaulichen Fragen. Manche traditionellen Begriffe erhalten unter evolutionärem Gesichtspunkt einen gänzlich neuen Stellenwert, etwa die Identität des Menschen (wer sind wir und woher kommen wir?), der Ursprung der Moral (werden wir von selbstsüchtigen Genen gesteuert oder ist unbedingter Altruismus möglich?) oder die Entstehung des menschlichen Geistes (welche Funkion hat unser Bewusstsein, können Tiere auch denken?). Das große Versprechen des evolutionären Paradigmas besteht darin, dass wir mit seiner Hilfe besser verstehen lernen sollen, was der Mensch ist und woher er kommt. Die Evolutionstheorie schlägt somit eine Brücke zwischen Wissenschaftsgebieten, die bisher getrennt waren. In den Sozialwissenschaften wächst die Einsicht, dass eine Kenntnis der modernen Evolutionsbiologie für ein vollständiges Bild des Menschen und der Gesellschaft unentbehrlich ist. So entstanden die Soziobiologie und die Evolutionspsychologie. Vor einigen Jahrzehnten wäre eine solche gegenseitige Befruchtung noch undenkbar gewesen. Aber die Evolutionstheorie birgt auch Gefahren in sich. Sie bietet sich Wissenschaftlern und Phantasten dazu an, sie ideologisch zu missbrauchen. Man denke etwa an den Sozialdarwinismus und die Eugenik oder „Rassenhygiene“.
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EINLEITUNG
Unter Berufung auf Darwin argumentierte man, man müsse den hilfsbedürftigen Mitmenschen seinem Schicksal überlassen, da dies den Gesetzen der Natur entspreche. Die Evolutionstheorie kann als „wissenschaftliche“ Rechtfertigung für Ungleichheit, Armut und Krieg dienen. Anhänger der Eugenik (ein von einem Vetter Charles Darwins geprägter Begriff, der „gute Abstammung“ bedeutet) gingen noch weiter. Um die menschliche Spezies zu „verbessern“, wurden Menschen mit angeblich „schlechten“ Genen zwangssterilisiert oder ermordet, damit künftige Generationen von solchen „Aberrationen“ verschont blieben. Und heute ist der Eingriff in die Evolution mittels genetischer Manipulation aktueller denn je. Mit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms besitzen wir quasi den Bauplan unserer selbst. Die Versuchung, an der menschlichen Evolution herumzubasteln, ist groß, und es verwundert daher nicht, dass viele Menschen diese Entwicklung mit großer Skepsis beobachten. Eine andere Gefahr besteht darin, dass wir in unserer Euphorie irgendeiner Form des biologischen Determinismus verfallen, dem Gedanken, der Mensch werde ganz und gar von seiner biologischen Natur, von seinen Genen bestimmt. Die Frage, was das menschliche Verhalten am stärksten beeinflusst – Natur oder Kultur – wurde im Lauf der Zeit mal so, mal so beantwortet. In den Sozialwissenschaften herrschte lange das Dogma des kulturellen Determinismus, die Auffassung nämlich, der Mensch sei gänzlich das Produkt seiner Kultur, seines Milieus und seiner Erziehung. Dies wird nun mehr und mehr relativiert. Gegenwärtig wird das Bild des Menschen stärker von den Natur- und Biowissenschaften geprägt. Manche übereifrigen Evolutionstheoretiker sind sogar der Ansicht, man könne alle menschlichen Eigenschaften auf ein paar simple evolutionäre Prinzipien zurückführen. Letztendlich drehe sich alles um die Differenzierung der Gene. Unter diesem Aspekt ist Kultur nichts anderes als eine „biologische Anpassung“, die uns befähigt, unsere Gene weiterzugeben. Ein solcher Reduktionismus ist natürlich unzulänglich und daher nicht wünschenswert. Unsere Kultur ist mindestens so wichtig und bestimmend wie unsere Natur. Doch die Frage bleibt, in welcher Wechselwirkung miteinander diese beiden Einflüsse stehen. Ziel und Aufbau dieses Buches Darwin hat uns ein Erbe hinterlassen, das es sorgfältig zu verwalten gilt. Die oben angesprochenen Fragen sind für uns alle von großer Bedeutung. Kein vernünftiger Mensch kann das Darwin’sche Paradigma ignorieren, denn die Perspektiven und Gefahren des evolutionären Denkens gehen uns alle an. Dieses Buch wendet sich denn auch an all diejenigen, die sich mit der Evolutionstheorie und ihren Implikationen vertraut machen wollen. In der Vergangenheit war die Diskussion oft von Missverständnissen und Vorurteilen entstellt. Ein fundiertes und ausgewogenes Urteil über die zahlreichen kontroversen Fragen ist erst mög-
ZIEL UND AUFBAU DIESES BUCHES
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lich, wenn man zwischen Sinn und Unsinn, Fakt und Fiktion zu unterscheiden vermag. Ob mir das gelungen ist, überlasse ich dem Urteil des Lesers. Die Lektüre dieses Buches setzt keine Spezialkenntnisse voraus. Wissenschaftlicher Jargon wird möglichst vermieden, Fachausdrücke werden ausführlich erläutert. Der Leser selbst soll zum Nachdenken angeregt werden. Wenn das gelingt, hat das Buch sein Ziel erreicht. Einige Worte zur Struktur: Das Buch besteht aus sechzehn Kapiteln. In den ersten vier, die den Einleitungsteil bilden, steht die Evolutionstheorie im Mittelpunkt. Darwins Entdeckung wird in einem breiten historischen Kontext präsentiert, verschiedene Aspekte der modernen Evolutionsbiologie, wie die natürliche und sexuelle Selektion, die Entstehung der Arten und die Evolution des Menschen, kommen zur Sprache. Die übrigen Kapitel widmen sich der Frage, was die Evolutionstheorie für andere Wissenschaftsgebiete bedeutet oder bedeuten kann. Kann man tatsächlich von gegenseitiger Befruchtung reden? Wir lernen unter anderem die Soziobiologie und die evolutionäre Psychologie kennen. Die Entstehung von Sprache, Kultur, Kunst und Religion wird aus evolutionärem Blickwinkel betrachtet. Wir gehen näher auf die Frage ein, ob die Evolutionstheorie ein neues Licht auf Moral, Religion und Ästhetik werfen kann. Auch die Gefahren des Sozialdarwinismus und der Eugenik werden behandelt. Abschließend wird die Frage erörtert, ob die Evolution sich in eine bestimmte Richtung bewegt, ob sie gleichbedeutend mit Fortschritt ist oder nicht. Zu jedem Kapitel findet sich weiterführende Literatur im Anhang, zudem gibt es ein übergreifendes Literaturverzeichnis.
1 Auf den Spuren der Evolution Das antike und das mittelalterliche Weltbild Die moderne Evolutionsbiologie ist in mancher Hinsicht der krönende Abschluss der wissenschaftlichen Revolution, die im 15. und 16. Jahrhundert mit Forschern wie Kopernikus und Galilei ihren Anfang nahm. Sie fand zuerst in der Astronomie, der Physik und der Mechanik statt, Disziplinen, die sich mit der Erforschung der Himmelskörper und den Eigenschaften unbelebter Materie befassen. Man entdeckte, dass die Bewegungen der Himmelskörper und anderer physikalischer Objekte natürlichen und quantitativ beschreibbaren Gesetzmäßigkeiten gehorchen. Im 19. Jahrhundert zeigte Darwin, dass auch die Entstehung und Entwicklung des Lebens das Resultat eines natürlichen, sich gesetzmäßig vollziehenden Prozesses ist. Um diese Leistung einordnen zu können, ist ein kurzer Abriss der abendländischen Wissenschaft sinnvoll. Im 3. und 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung waren die beiden größten Denker des klassischen Altertums, Platon und Aristoteles, der Ansicht, dass die Erde unbeweglich im Mittelpunkt des Universums ruht und die Himmelskörper sie umkreisen (geozentrisches Weltbild). Das Universum war in zwei hierarchisch gegliederte, völlig verschiedene Sphären unterteilt, das Irdische und das Himmlische. Die Erde gehörte dem Bereich unterhalb der Sphäre des Mondes an und war durch Unvollkommenheit und Vergänglichkeit kennzeichnet. Plato zufolge sind alle irdischen Dinge nur schwache Abbilder ewiger Ideen oder Formen. In der sublunaren Sphäre besteht alles aus den vier Elementen Erde, Wasser, Luft und Feuer. Jedem dieser Elemente ist ein natürlicher Ort zugewiesen, zu dem sie hinstreben. Die Erde befindet sich im Weltzentrum an ihrem natürlichen Ort. Deshalb fällt ein Stein zu Boden, seinem Ruhepunkt entgegen. Nach Aristoteles strebt alles zu seiner letztendlichen Bestimmung. Der natürliche Ort des Elements Wasser ist die Erdoberfläche, Luft und Feuer haben das Bestreben, sich zu ihren natürlichen Orten im oberen Teil der Atmosphäre hinzubewegen. Das ist der Grund dafür, dass Flammen emporsteigen. Jenseits der Bahn des Mondes beginnen die Himmelssphären der Sterne und Planeten (Wandelsterne), in denen völlig andere Gesetze herrschen. Dort ist alles vollkommen und unveränderlich. Die Himmelskörper bewegen sich in gleichförmigen, ewigen Kreisbahnen um die Erde. Sie bestehen aus dem Element Äther, auch die fünfte Substanz oder Quintessenz genannt. Die äußerste Sphäre der Fixsterne wird nach Aristoteles von einem „ersten“ oder „unbewegten Beweger“ in Gang gesetzt. Diese göttliche Instanz ist zugleich ihre eigene Ursache. Platon
DAS ANTIKE UND DAS MITTELALTERLICHE WELTBILD
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spricht in diesem Zusammenhang von einem Demiurgen oder göttlichen Baumeister, der die Erde und den gesamten Kosmos gestaltete. Nicht nur im Universum, sondern auch auf der Erde selbst lässt sich den griechischen Philosophen zufolge eine hierarchische Ordnung, eine Rangordnung von unten nach oben erkennen. Auf der untersten Stufe befindet sich die unbelebte Materie, die nächsthöhere Stufe nehmen die Pflanzen ein, dann folgen die Tiere und schließlich der Mensch. In dieser sogenannten Scala naturae, der großen Stufenleiter oder Kette des Seins, wird der Wirklichkeit eine natürliche und unveränderliche Ordnung zugewiesen. Im Hellenismus wurde die geozentrische Kosmologie des Aristoteles von dem Astronomen Ptolemaios aus Alexandria (2. Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung) weiter verfeinert. Er führte unter anderem sogenannte „Epizykel“ oder Hilfskreise ein, um die Bewegungen der Planeten zu erklären. Das antike, aristotelische Weltbild war an Teleologie (griechisch telos = Ziel) oder Zweckbestimmung ausgerichtet. Alles strebt der Verwirklichung des ihm eigenen Zweckes oder Zieles zu. Zwar unterschied Aristoteles mehrere Arten von Ursachen (darunter die Wirkursache, ein noch heute gültiges Konzept), aber die Final- oder Zweckursache war seines Erachtens die wichtigste. Teleologie erklärt nicht nur, warum Steine fallen und Feuer emporsteigt, sondern auch, wie sich etwas aus einem Keim entwickelt. Teleologie erklärt, warum ein Kind erwachsen wird, eine Raupe sich in einen Schmetterling verwandelt und eine Buchecker zu einer Buche heranwächst und so weiter. Diese Beispiele zeigen, dass die Zweckursache sich besonders dafür eignet, die Veränderungen in der lebenden Natur zu erklären. Unser heutiges Konzept der biologischen „Funktion“ spiegelt noch immer diese zweckgerichtete Interpretation der Natur wider. So sagen wir zum Beispiel, das Herz habe die Funktion (den Zweck), das Blut durch den Körper zu pumpen, oder die Tarnfarbe der Tiere habe die Funktion (den Zweck), Raub- und Beutetiere zu täuschen. Funktionale Eigenschaften dienen einem Zweck, sie sollen einen gewünschten Zustand herbeiführen oder erhalten. Doch heute würde ein Biologe sagen, dass nicht eine immanente Form das bewegende Prinzip ist, sondern ein genetisches Programm, das sich im Lauf der Evolution herausgebildet hat. Aristoteles war nicht nur ein großer Philosoph, sondern auch ein bedeutender Biologe, der zahlreiche wichtige Entdeckungen gemacht hat. Seine Überzeugung, dass auch die unbelebte Natur auf ein Ziel oder eine Bestimmung zustrebt, wird jedoch heute nicht mehr unterschrieben. In der Spätantike christianisierte der Kirchenvater Augustinus (4. Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung) Platons Demiurgen und Aristoteles’ unbewegten Beweger. Das Weltbild der Antike und die Scala naturae wurden so der Theologie einverleibt. Die Erde und alle ihre Geschöpfe sind demnach von Gott erschaffen. Die lebende Natur verkörpert die Vollkommenheit der Schöpfung, denn alle Pflanzen- und Tierarten besitzen eine bestimmte Essenz. Die biologi-
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AUF DEN SPUREN DER EVOLUTION
schen Arten wurden daher für ewig und unverändlich gehalten, da Gott keine halbe Arbeit verrichte. Die einzelnen Organismen kommen und gehen, doch die Gattung ändert sich nie. Während des Mittelalters blieb das klassische, hierarchisch geordnete Weltbild größtenteils intakt. Gott hat den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen und ihm die Erde anvertraut. Im Mittelalter findet auch das Design-Argument erstmals ausdrücklich Erwähnung. Die Ordnung im Universum und namentlich die funktionale Zweckmäßigkeit und Komplexität der lebenden Natur lassen auf einen intelligenten Planer oder Baumeister schließen, wie man beispielsweise an Bau und Funktion eines Sinnesorgans wie dem Auge sehen kann. Im 13. Jahrhundert reiht der Theologe und Philosoph Thomas von Aquin das Design-Argument unter die Gottesbeweise ein. Alles in der Welt ist zielgerichtet und auf Zweckmäßigkeit angelegt, das lässt nur den Schluss zu, dass Gott existiert und die Welt so eingerichtet hat. Charakteristisch für das sogenannte scholastische Denken des Mittelalters ist die Rolle, die Dogma und Autorität spielen. Die Aussagen der Bibel oder des Aristoteles bedürfen keiner experimentellen Überprüfung. In den Fällen, wo Philosophie und Bibel einander widersprechen, hat Letztere immer Recht. Im Mittelalter galt Aristoteles als grundlegende Autorität in naturkundlichen Fragen. Bedauerlich war nur, dass er ein „Heide“ war. Die wissenschaftliche Revolution Ab dem 15. Jahrhundert breitete sich der Einfluss der Renaissance in ganz Europa aus. Neben dem erneuten Interesse an der Antike entwickelte sich allmählich ein kritisches Denken, das mit der scholastischen Tradition brach. Statt sich auf dogmatische Lehrmeinungen zu verlassen, begann man, selbst die Welt zu untersuchen. Im 16. Jahrhundert verkündete der polnische Astronom Nikolaus Kopernikus, nicht die Erde, sondern die Sonne stehe im Mittelpunkt des Universums (heliozentrisches Weltbild). Übrigens lag dieser Erkenntnis teils eine theologische Überzeugung zugrunde. Kopernikus meinte, der Sonne, als Repräsentantin des Allmächtigen, gebühre die Ehre, im Zentrum der Schöpfung zu stehen. Das neue Weltbild ließ sich jedoch nicht mit der auf Aristoteles fußenden Lehre des Christentums in Einklang bringen. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts versuchte der italienische Mathematiker und Pysiker Galileo Galilei, das kopernikanische Weltsystem durch theoretische Argumentation und Experimente zu untermauern. Er führte an, dass die alltägliche Erfahrung auf eine still stehende Erde, aber auch auf eine Erde hinweisen könne, die sich um die Sonne und um die eigene Achse dreht. Dadurch sollte Galilei schon bald mit der Kirche in Konflikt geraten. Wie Aristoteles, Ptolemaios und Kopernikus hielt auch Galilei an der Vorstellung fest, dass die Bewegung der Himmelskörper gleichförmig auf Kreisbahnen verlaufe. Ihm zufolge war diese Bewegung der natürliche Zustand aller Körper. Auch ein fallender
DIE WISSENSCHAFTLICHE REVOLUTION
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Stein beschreibt nach Galilei in Wirklichkeit das Segment einer Kreisbahn, da diese sich mit der Erde bewegt. Galilei war somit der Erste, der behauptete, irdische und himmlische Mechanik seien identisch (die Mechanik ist ein Zweig der Physik, der die Bewegungen von Körpern studiert), wodurch die alte hierarchische Unterscheidung zwischen den Sphären unterhalb und oberhalb des Mondes ihre Gültigkeit verlor. Doch mit der kopernikanischen Theorie ließen sich die Stellungen der Planeten immer noch nicht genau voraussagen. Dies sollte sich erst ändern, als der deutsche Astronom Johannes Kepler nachwies, dass die Planeten keinen Kreis, sondern eine Ellipse beschreiben. Galilei zeigte, dass sich auch eine Autorität wie Aristoteles irren kann. Dieser hatte behauptet, schwere Körper fielen schneller als leichte. Galilei machte die Gegenprobe. Man erzählte, er habe zwei Kugeln gleichzeitig vom Turm von Pisa fallen lassen, eine aus Holz, die andere aus Metall. Zur Bestürzung der anwesenden Gelehrten erreichten beide Kugeln nahezu gleichzeitig den Boden. Zudem benutzte Galilei das von niederländischen Linsenschleifern erfundene Teleskop, um das kopernikanische Weltbild weiter zu untermauern. Unter anderem entdeckte er Berge und Krater auf dem Mond, Flecken auf der Oberfläche der Sonne und die vier größten Monde des Jupiter. Alle diese Beobachtungen standen wiederum in Widerspruch zu Aristoteles und der christlichen Lehre. Die Konfrontation konnte daher nicht ausbleiben. 1633 wurde Galilei von der Inquisition mit einem Publikationsverbot belegt und zu lebenslänglichem Hausarrest verurteilt. Außerdem musste er seine Auffassungen öffentlich widerrrufen. Einer apokryphen Überlieferung zufolge soll Galilei nach der Verurteilung eppur si muove! gerufen haben: „und sie (die Erde) bewegt sich doch!“ Dennoch erging es Galilei immer noch besser als seinem Zeitgenossen und Mitstreiter Giordano Bruno, der wie er dem kopernikanischen Weltbild anhing und im Jahr 1600 auf dem Campo dei Fiori in Rom lebendig verbrannt wurde. Doch die Kirche sollte ihre Autorität mehr und mehr einbüßen. Die moderne Wissenschaft war nicht mehr aufzuhalten. Charakteristisch für die wissenschaftliche Revolution des 16. und 17. Jahrhunderts ist die quantitative, mathematische Methode. Mit der mathematischen Sprache ließen sich die Bewegungen im Universum und auf der Erde beschreiben. Das Universum war ein kompliziertes, mechanisches Uhrwerk, das natürlichen Gesetzmäßigkeiten gehorchte. Aristoteles’ Zweckursache galt zumindest in der Astronomie und der Mechanik nicht länger als wissenschaftliches Prinzip. Fortan postulierte man physikalische Wirkursachen: Ein Stein fällt nicht, weil das seine Bestimmung ist, sondern weil von außen eine Kraft auf ihn ausgeübt wird. Im 17. Jahrhundert wies der englische Mathematiker und Physiker Isaac Newton nach, dass sich die elliptischen Planetenbahnen anhand seiner drei Bewegungsgesetze und der überall wirkenden Schwerkraft erklären ließen. Nicht die Kreisbewegung war das Grundprinzip der Dynamik, sondern die gleichförmige geradlinige Bewegung. Newtons erstes Axiom stellt fest, dass ein sich bewe-
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gender Körper in der linearen Bewegung fortfährt, solange er nicht durch einwirkende Kräfte gezwungen wird, seinen Zustand zu ändern. Das Gravitationsgesetz besagt, dass jeder Körper im Universum auf jeden anderen Körper eine Kraft entlang der Verbindungslinie ihrer Zentren ausübt. Die Stärke dieser Kraft ist direkt proportional zu dem Produkt der beiden Massen und umgekehrt proportional zum Quadrat der Entfernung zwischen ihnen. Die Planeten werden durch die Anziehungskraft der Sonne in ihre elliptischen Bahnen gezwungen. Die hierarchische Unterscheidung zwischen den Sphären unterhalb und oberhalb des Mondes gehörte nunmehr endgültig der Vergangenheit an. Alle Bewegungen auf der Erde und im Himmel gehorchten den Newton’schen Gesetzen. Naturtheologie Die wissenschaftliche Revolution vollzog sich hauptsächlich in den Wissenschaftszweigen, die die unbelebte Natur erforschten, wie Astronomie und Mechanik. Man konnte nunmehr die Natur und Bewegung der Gestirne verstehen, ohne göttliche Kräfte anzunehmen. Anders verhielt es sich mit der organischen Welt. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein gingen Philosophen und Wissenschaftler davon aus, die Komplexität und Funktionalität der Lebewesen verrate die Hand eines göttlichen Schöpfers. So behielt das Design-Argument unverändert seine Gültigkeit. Einer seiner populärsten Verfechter war der anglikanische Geistliche und Gelehrte William Paley. In seinem 1802 erschienenen Buch Natural theology: or evidence of the existence and attributes of the deity collected from the appearences of nature legte er dar, dass wir die Existenz Gottes von der Beobachtung der Natur ableiten können. Man nennt diese Strömung daher auch Naturtheologie. Angenommen, argumentiert Paley, man stößt auf einem Feld mit dem Fuß gegen einen Stein. Man wird sich dann nicht die Frage stellen, wie der Stein dorthin kam und wie er entstanden ist. Anders verhält es sich, wenn man auf dem Feld eine Taschenuhr findet. Denn eine Uhr setzt jemanden voraus, der sie hergestellt hat. Jeder Entwurf setzt einen Entwerfer voraus. Wie viel mehr gelte dies, meint Paley, für die Lebewesen, denen wir auf dem Feld begegnen. Noch der einfachste Organismus sei um ein Vielfaches komplexer als eine noch so kunstvoll gestaltete Uhr. Nur ein intelligenter Schöpfer könne die vielfältigen Lebewesen entworfen haben, sie könnten nicht durch Zufall entstanden sein. Paley und andere Vertreter der Naturtheologie führen gern als Beispiel das Auge an, dessen wunderbare Konstruktion nur den Schluss zulasse, dass ihr ein Plan zugrunde liegt. Wie alle Wirbeltiere besitzt der Mensch kameraähnliche Augen mit allem, was dazugehört: Linse (Hornhaut), Blende (Pupille), Auslöser (Augenlid) und lichtempfindliches Material (Netzhaut). Aber es gibt auch andere Entwürfe. Insekten beispielsweise haben Facettenaugen, die in ihrer Komplexität dem Linsenauge in nichts nachstehen. Paley war der Ansicht, solche hochkomplexen Organe wie das Auge könnten nicht mir nichts, dir nichts ent-
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standen sein. Noch heute wird das Beispiel des Auges von Gegnern der Evolutionstheorie gern ins Feld geführt, um die Unhaltbarkeit der Darwin’schen Theorie zu demonstrieren. Sie betonen immer wieder den Zufallscharakter der Evolution, der die Entstehung komplexer Gebilde ausschließe. (Als „komplex“ bezeichnet man ein organisiertes, funktionstüchtiges „System“, das aus mehreren, genau aufeinander abgestimmten Komponenten besteht.) Das Gestaltungsargument taucht in verschiedenen Abwandlungen auf. Angenommen, ein Tornado fegt über eine Deponie mit Flugzeugteilen. Wie groß ist die Chance, dass er einen flugfähigen Jumbojet zusammensetzt? Oder: Ein Affe sitzt an einer Schreibmaschine und hämmert auf die Tasten. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass er ein Theaterstück von Shakespeare zustande bringt? Und so weiter. Als Darwin 1827 sein Medizinstudium in Edinburgh abbrach, um von 1828 bis 1831 in Cambridge Theologie und alte Sprachen zu studieren, befasste er sich intensiv mit William Paleys Naturtheologie. Er kannte seine Bücher fast auswendig. Er konnte nicht ahnen, dass er einmal derjenige sein würde, der das DesignArgument umstoßen sollte. Denn ein komplexer Entwurf ist nicht notwendigerweise von einem intelligenten Planer abhängig. Wir werden sehen, dass Komplexität auch durch einen blinden, nicht zielgerichteten natürlichen Prozess entstehen kann. Lamarck und Spencer In Darwins Studienzeit lag die Idee der Evolution geradezu in der Luft. Es waren sogar schon mehrere, wenn auch unzulängliche Evolutionstheorien in Umlauf. 1794 hatte Charles Darwins Großvater Erasmus Darwin in seiner medizinischen Abhandlung Zoonomia or the laws of organic life die kühne Behauptung aufgestellt, alle Lebewesen stammten von einer „lebendigen Faser“ ab (a single living filament). Auch der französische Naturforscher Jean-Baptiste de Lamarck stellte im 18. Jahrhundert eine Evolutionstheorie auf, der zufolge das organische Leben durch eine „innere Kraft“, eine Tendenz zur Höherentwicklung, angetrieben wird. Er postulierte das Prinzip des Gebrauchs und Nichtgebrauchs und die Vererbung erworbener Eigenschaften. Ein umweltbedingt stärkerer oder schwächerer Gebrauch könne einen bestimmten Körperteil verändern. Ein Schmied etwa, der sein Leben lang am Amboss steht, entwickelt kräftige Bizepse. Umgekehrt wird ein Körperteil, der nicht oder kaum benutzt wird, allmählich verkümmern. Astronauten, die sich monatelang in einer Raumstation aufhalten, verlieren einen beträchtlichen Teil ihrer Muskelmasse und ihres Knochengewebes, weil sie sich in der Schwerelosigkeit kaum anzustrengen brauchen. Wenn nun solche zu Lebzeiten erworbenen (oder verlorenen) Merkmale erblich sind – wie Lamarck postulierte – wird der Schmied seine muskulösen Arme an seine Kinder vererben. Von einem gerade aus dem Weltall zurückgekehrten Astronauten gezeugte Kinder dagegen werden eher schmächtig zur Welt kommen. Auf diese Weise, so dachte Lamarck,
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war die Giraffe zu ihrem langen Hals gekommen. Generationen von Giraffen hätten sich immer ein wenig höher gestreckt, um an die saftigsten Akazienblätter zu gelangen. Die Lamarck’sche Evolution verläuft schnell und effektiv: Jede neue Generation erntet die Früchte der vorhergehenden. Darwin kannte Lamarcks Theorie und sollte sich später mehrmals auf sie berufen. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, einige Jahre nach Darwins Tod, sollte sich die Unhaltbarkeit von Lamarcks Vererbungstheorie erweisen. Ein anderer, der schon vor Darwin über Evolution publizierte, war der englische Philosoph und Soziologe Herbert Spencer. Wie Darwin ließ auch Spencer sich von Lamarck inspirieren. Dessen Evolutionstheorie bot eine Erklärung für schnelle, progressive Veränderungen. Bei Spencer ist die Evolution anfangs eher ein allgemeines, metaphysisches Prinzip als eine wissenschaftliche Hypothese. Nicht nur in der lebenden Natur, sondern im ganzen Universum sei eine Entwicklung vom Homogenen zum Heterogenen feststellbar, vom Einfachen zum Vielfältigen. Alles tendiere zu immer größerer Komplexität. Evolution impliziert nach Spencer zudem Fortschritt. Progressive Entwicklung sei eine natürliche Gesetzmäßigkeit. Mit dieser Auffassung stand Spencer übrigens nicht allein. Der Fortschrittsglaube war tief im Denken des 19. Jahrhunderts verankert. Nachdem Spencer Darwins Evolutionstheorie kennengelernt hatte, wurden seine Ideen erheblich konkreter. Bekannt ist Spencer vor allem als Vater des Sozialdarwinismus, der Darwins Theorie auf die Gesellschaft anwandte: Wir dürfen unseren armen und schwachen Mitmenschen nicht helfen, denn dies würde das natürliche Gleichgewicht stören. Spencer verdanken wir auch den noch heute gängigen Slogan survival of the fittest. Das Prinzip, dass diejenigen überleben, die sich am besten anpassen, galt seiner Meinung nach nicht nur für Pflanzen und Tiere, sondern auch für die menschliche Gesellschaft. Der harte Wettbewerb eliminiert Individuen, Wirtschaftsunternehmen und Organisationen, die sich nicht genügend an die Gesellschaft oder die Zeitläufte anpassen. Genau betrachtet, war der Sozialdarwinismus wenig mehr als der Versuch, dem wirtschaftlichen Laissez faire des 19. Jahrhunderts ein wissenschaftliches Mäntelchen umzuhängen (im 15. Kapitel kommen wir hierauf ausführlich zurück). Spencers allumfassende Ideen über Evolution waren wie gesagt im Kern lamarckistisch. Auch in seinem Sozial-„Darwinismus“ steht Lamarcks Vorstellung von der Vererbung erworbener Eigenschaften im Mittelpunkt. Individuen, die sich in einer Welt voller Konkurrenten am besten anpassen, geben ihre erworbenen Eigenschaften an ihren Nachwuchs weiter. Lamarcks und Spencers Theorien konnten jedoch die Veränderungen in der organischen Natur nicht erklären. Lamarcks Gedanke einer inneren Kraft und Spencers Glauben an metaphysische Gesetzmäßigkeiten waren keine überprüfbaren Hypothesen. Darwin war der erste, der den lange gesuchten Mechanismus hinter der Evolution entdeckte und sich dabei auf überzeugendes wissenschaftliches Beweismaterial stützte.
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Die Galapagos-Finken Im September 1831 erhielt der 22-jährige Darwin, der gerade sein Theologiestudium in Cambridge abgeschlossen hatte, überraschend die Einladung, sich als unbesoldeter Naturforscher einer Weltreise mit dem Vermessungsschiff HMS Beagle anzuschließen. Dem Studium der Natur galt Darwins eigentliches Interesse. Schon als Junge sammelte er Insekten, Muscheln und Vogeleier. Während seines Studiums in Edinburgh und Cambridge besuchte er in seiner Freizeit Vorlesungen über Geologie, Botanik und Zoologie. In Cambridge freundete er sich mit dem Botanikprofessor John Henslow an, mit dem er mehrfach an Feldexkursionen teilgenommen hatte. Henslow empfahl ihn Robert Fitzroy, dem Kapitän der Beagle. Der erst 27-jährige, streng gläubige Fitzroy war anfangs nicht von Darwins Eignung überzeugt. Als Anhänger der damals beliebten Physiognomik hatte er Zweifel, ob jemand mit einer so großen Nase, wie sie Darwin hatte, genug Energie und Willenskraft für die Reise besaß. Schließlich und endlich ließ er sich überreden. Die Beagle, ein bescheidener Dreimaster, stach am 27. Dezember 1831 zu einer fünfjährigen Weltreise von Plymouth aus in See. Sie hatte den Auftrag, für die englische Admiralität die Küsten von Südamerika zu kartieren. In seiner Autobiographie sollte der alte Darwin später schreiben, diese Reise sei das „weitaus wichtigste Ereignis“ seines Lebens gewesen. Während die Kartographen ihre Arbeit machten, ging Darwin an Land und studierte die Flora und Fauna. Die denkwürdigsten Erkundungen fanden im Zeitraum zwischen dem 15. September und dem 20. Oktober 1835 statt, als die Beagle bei den Galapagos-Inseln vor Anker lag, einem tausend Kilometer westlich vor Ecuador in Äquatornähe im Pazifik gelegenen vulkanischen Archipel, deren ursprüngliche Pflanzen- und Tierwelt – unter anderem Riesenschildkröten (galápago ist das spanische Wort für Schildkröte) und Meeresleguane – bei Darwin einen unauslöschlichen Eindruck hinterließ. Auf seinen Erkundungen war Darwin durchaus nicht abgeneigt, für seine Sammlung interessante Tiere abzuschießen – er war ein begeisterter Jäger – oder mit seinem geologischen Hammer zu erschlagen. Dieses Schicksal ereilte auch viele Vögel der Inselgruppe, die Darwin für die lange Rückreise nach England präparierte. Anfangs vermutete er, er habe auf den Inseln unter anderem Drosseln, Amseln und Zaunkönige gefangen, erst nach seiner Rückkehr nach England stellte sich heraus, dass er sich geirrt hatte. John Gould, der Ornithologe der Londoner Zoological Society, entdeckte, dass es sich fast ausschließlich um Finkenarten handelte. Leider hatte Darwin die Vögel nicht nach Inseln klassifiziert, sondern alle auf einen Haufen geworfen. Gould brachte Ordnung in das Chaos. Die Galapagos-Finken sowie unzählige andere Exemplare lebender und fossiler Organismen, die Darwin auf seiner Reise gesammelt hatte, sollten ihren letzten Ruheplatz im Londoner Natural History Museum finden. Dort werden die Präpa-
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Abb. 1.1.: Einige von John Gould gezeichnete Darwinfinken. Jede Art besitzt einen an die Nahrung wie Samen oder Insekten angepassten Schnabel.
rate heute in Gläsern, Vitrinen und Schubladen, weit entfernt vom großen Publikum, wie Kronjuwelen gehütet. Die Bedeutung der Finken lag in der Tatsache, dass sie Darwin einen Hinweis gaben auf die Veränderlichkeit der Arten. Die Tiere und Pflanzen auf den Galapagos-Inseln waren nämlich in mancherlei Hinsicht einzigartig. Viele Arten kamen nirgendwo sonst auf der Welt vor, manche sogar nur auf einer einzigen Insel des Archipels. Am deutlichsten zeigte sich das bei den Finken. Auch sie waren von Insel zu Insel verschieden. Vor allem Form und Größe der Schnäbel variierte stark. Auf einer Insel waren sie lang und spitz, auf einer anderen kurz und dick. Darwin erkannte, dass diese Unterschiede mit dem spezifischen Nahrungsangebot auf den einzelnen Inseln zu tun haben mussten, von denen manche an die hundert Kilometer voneinander entfernt sind. Die Finken hatten sich nach und nach an die jeweiligen Umweltbedingungen angepasst, und durch die geographische Trennung waren im Lauf der Zeit verschiedene Arten entstanden. Die Vögel mit einem langen, spitzen Schnabel waren spezialisierte Insektenfresser und Nektartrinker, während sich diejenigen mit einem kurzen, dicken Schnabel auf das Knacken von Nüssen und Samen verlegt hatten (Abb. 1.1). Es gab auch spechtartige Finken, die ihren starken Schnabel als Schlagbohrer einsetzten, wieder andere stocherten mithilfe eines Kaktusstachels nach Larven im morschen Holz. Spätere Forscher entdeckten sogar einen „Vampirfinken“, der mit seinem spitzen Schnabel die Haut anderer Tiere aufpickt und ihr Blut trinkt.
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Heute unterscheidet man insgesamt dreizehn als „Darwinfinken“ bezeichnete Arten. Ihre Vielfalt zeigt, dass neue Arten relativ schnell entstehen können. Genetische Untersuchungen ergaben, dass die Arten nah miteinander verwandt und also auf dem Archipel evolviert sind, möglicherweise in einem Zeitraum von nur wenigen zehntausend Jahren. Irgendwann einmal muss ein Sturm oder eine kräftige Brise einige Individuen vom Festland zum Archipel getragen haben. Auf den Inseln entwickelten sie sich zu verschiedenen Arten, jede mit eigener Nahrungsvorliebe und einem speziell dafür ausgerüsteten Schnabel. Evolutionsbiologen nennen ein solches Phänomen „adaptive Radiation“, die Aufspaltung einer Stammart in neue Arten durch geographische Trennung und Besetzung neuer ökologischer Nischen. Auf seiner Reise mit der Beagle waren Darwin die Implikationen seiner Entdeckungen noch nicht bewusst, erst später sollten die Finken ein wichtiger Trumpf bei der Verteidigung seiner Evolutionstheorie werden. Das Puzzle nimmt Gestalt an Am 2. Oktober 1836 kehrte die Beagle nach England zurück. Ein Jahr später machte sich Darwin in London daran, seine Vermutungen über die „Transmutation“, wie er es nannte, die Entwicklung der Arten zu untermauern. Es war ihm durchaus bewusst, dass er das konservative, gottesfürchtige viktorianische Publikum nur mit einer Fülle von Beweismaterial würde überzeugen können. Er sichtete die Funde, die er von seiner Reise mit der Beagle mitgebracht hatte und sammelte Belege aus den unterschiedlichsten Bereichen. Das erste Puzzlestück fand Darwin in der Geologie, der Wissenschaft von der Entstehung und Entwicklung der Erde. Es ist wichtig, hierauf etwas näher einzugehen. Noch bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Geologie von biblischen Auffassungen über die Erdgeschichte beherrscht. Viele Wissenschaftler glaubten, sie könnte nicht älter als einige Jahrtausende sein, eine Auffassung, die mit dem Alten Testament übereinstimmte. Die beliebteste Theorie innerhalb der Geologie war die Lehre vom Katastrophismus, die Vorstellung, dass die Beschaffenheit der Erdoberfläche mit ihren Bergen, Tälern und Ozeanen von Naturkatastrophen wie der Sintflut herrühre. Gott hatte die Erde immer wieder durcheinander geschüttelt und ihre heutige Gestalt gegeben. Ein angesehener Vertreter dieser Sichtweise war der französische Zoologe Georges de Cuvier. Auch der junge Darwin, der sich während seines Studiums in Cambridge mit dem Geologen Adam Sedgwick, einem Anhänger des Katastrophismus, anfreundete, folgte eine Zeit lang dieser Theorie. Bereits im 18. Jahrhundert jedoch hatte der schottische Geologe James Hutton eine alternative Theorie vorgelegt, und zwar den Uniformitarianismus oder Aktualismus. Die Erde war unendlich alt, die Erscheinungen an ihrer Oberfläche waren das Resultat allmählicher, natürlicher und auch in der Gegenwart noch wirksamer Prozesse, wie Erosion, Sedimentbildung und Vulkanismus. Huttons
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Ideen wurden erst im 19. Jahrhundert durch den englischen Geologen Charles Lyell, mit dem sich Darwin später anfreundete, allgemein bekannt. Als Darwin 1831 mit der Beagle in See stach, kannte er Lyell noch nicht persönlich, doch Henslow hatte ihm Lyells Principles of geology empfohlen, deren erster Teil im Jahr zuvor erschienen war. Auf der langen Seereise war dieses Buch neben Miltons Paradise Lost Darwins Lieblingslektüre. Von Lyell lernte Darwin, dass es nicht die Annahme göttlicher Interventionen bedurfte, um die Gestaltung der Erdoberfläche zu erklären. Die Erde war nicht Jahrtausende alt, wie die Bibel verkündete, sondern Jahrmillionen, alt genug also, um einen Evolutionsprozess zu ermöglichen. Da sich durch die geologischen Kräfte die Erdoberfläche ständig verändert, müssen sich die Lebewesen an die jeweiligen Umweltbedingungen anpassen. Nach dem Erscheinen der Entstehung der Arten bereitete der englische Physiker Lord Kelvin Darwin mit seiner Auffassung von der kurzen Geschichte der Erde Kopfzerbrechen. Wäre die Erde tatsächlich viele Millionen Jahre alt, so argumentiere Kelvin, dann müsste sie sich inzwischen zu einem Steinklumpen abgekühlt haben. Die Aktivität der Vulkane beweise jedoch das Gegenteil. Kelvin konnte nicht wissen, was wir heute wissen, dass nämlich die natürliche Radioaktivität im Erdinnern den Abkühlungsprozess beträchtlich verlangsamt. Obwohl Lyell die Veränderlichkeit der Arten nie akzeptieren wollte, ebnete sein Aktualismus der Evolutionstheorie den Weg. Wie zuvor in der Astronomie und der Physik gingen die Entwicklungen in der Geologie denen in der Biologie voraus. Das zweite Puzzlestück zur Untermauerung seines Transmutationsgedankens entnahm Darwin der Embryologie, der Wissenschaft von der Entwicklung der Organismen von der Befruchtung bis zur Geburt. Embryos verschiedener Tierarten sind sich nämlich im Frühstadium der Entwicklung auffällig ähnlich. Wirbeltiere wie Reptilien, Vögel und Säugetiere sind dann sogar kaum voneinander zu unterscheiden. Dies wies nach Darwins Ansicht darauf hin, dass sie von einem gemeinsamen Vorfahren abstammen. Embryos entwickeln sich oft nach demselben Bauplan, und von diesem Ursprung aus ist die Evolution in verschiedene Richtungen fortgeschritten, indem sie praktisch immer wieder das gleiche Thema variierte. Biologen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts meinten daher, die embryonale Phase sei eine Art beschleunigte Wiederholung der Evolution insgesamt. Der Biologe Ernst Haeckel, der Fürsprecher des Darwinismus in Deutschland, fasste den Gedanken in die Formel zusammen: Die Ontogenie ist die Wiederholung der Phylogenie. (Ontogenie ist die Entwicklung des individuellen Organismus ab der Befruchtung, Phylogenie die Entwicklung einer Art oder von Stämmen wie Wirbeltiere, Gliederfüßer und dergleichen.) Der menschliche Embryo durchlaufe noch einmal den Evolutionsprozess seiner Vorfahren, meinte Haeckel. So bilde er, wie der anderer Wirbeltiere, in einem bestimmten Stadium seiner Entwicklung etwa Kiemenbögen wie die Fische oder einen Schwanz wie
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viele Affen aus. Um sich zum Menschen zu entwickeln, muss der Embryo also erst Fisch werden, anschließend Amphibie und Reptil und dann Affe. Haeckel sprach in diesem Zusammenhang von einem „biogenetischen Gesetz“. Heute wird die Rekapitulationstheorie als zu vereinfachend beurteilt. Die embryonale Phase ist keine exakte Wiederholung früherer Entwicklungsstadien. Für Darwin waren die Erkenntnisse der Embyronologie jedoch wichtige Belege für seine Abstammungstheorie. Darwins drittes Beweisstück für die Evolution kam aus der vergleichenden Anatomie, der Wissenschaft von den Unterschieden und Übereinstimmungen im Bau von Organismen. Die Struktur bestimmter Teile und Organe in verschiedenartigen Organismen ist trotz oberflächlicher Unterschiede oft gleich. Die Flügel der Fledermaus, der Grabfuß des Maulwurfs, die Brustflosse des Walfisches und die Hand des Menschen sind nach dem selben Modell gebaut, sie weisen trotz ihrer unterschiedlichen Funktionen und Ausmaße auffällige Ähnlichkeiten auf. Ihnen allen liegt das gleiche pentadaktyle (fünffingrige) Schema zugrunde. Für Darwin war diese anatomische Übereinstimmung ein erneuter Beweis für den gemeinsamen Ursprung der Arten. Im Laufe der Evolution hatte die Grundstruktur unterschiedliche, auf die spezifische Umwelt der Tiere abgestimmte Funktionen und Ausprägungen erhalten. Evolutionsbiologen nennen die Vordergliedmaßen der Fledermaus, des Maulwurfs, des Walfischs und des Menschen „homolog“, das heißt, sie haben zwar verschiedene Funktionen, sind jedoch nach dem gleichen Schema gebaut und stammen von einem gemeinsamen Vorfahren ab. Umgekehrt sind Eigenschaften „analog“, wenn sie die gleiche Funktion erfüllen, sich aber unabhängig voneinander entwickelt haben. Die Flossen und Schwimmfüße von Meeressäugetieren ähneln beispielsweise den Flossen von Fischen, gehen aber nicht auf einen gemeinsamen Ursprung zurück, sind also nicht homolog, sondern analoge Adaptationen an den gleichen aquatischen Lebensraum. Vögel- und Insektenflügel sind ein weiteres Beispiel für analoge Strukturen. Diese sind das Resultat konvergenter Evolution, der Tatsache, dass die Evolution manchmal auf verschiedenen Wegen zur gleichen Lösung kommt. Der Anatomie entlehnte Darwin noch ein viertes Beweisstück für die Evolution: rudimentäre Strukturen. Körperteile oder Organe also, die ihre Funktion nach und nach verloren haben, wie der Steiß und der Blinddarm. Weitere Beispiele sind etwa die verkümmerten Hinterbeine bei Walfischen und Schlangen, die rudimentären Augen von Tieren, die in Höhlen leben und so weiter. Die unvollständige Rückbildung solcher Körperteile steht eher im Widerspruch zu der Annahme eines Schöpfergotts, denn warum sollte er seine Kreaturen mit allerlei nutzlosen und überflüssigen Teilen ausstatten? Ein Betrieb, der völlig zwecklose Schalter und kaputte Birnen in seine Apparate einbaut, könnte sich nicht lang halten. Darwin hatte eine einfache Erklärung für die Anwesenheit rudimentärer Körperteile: Abstammung mit Modifikationen. Im Laufe der Evolution passten
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manche Tiere und Pflanzen sich an eine andere Umgebung an, und das führte zur allmählichen Zurückbildung unnötig gewordener Organe. Es sind Überreste, die die Evolution noch nicht ganz eliminiert hat. Das fünfte Beweisstück entstammte der Paläontologie, die Darwin den vielleicht direktesten und greifbarsten Hinweis auf die Evolution bot. Während seiner Reise auf der Beagle hatte er nicht nur Pflanzen, Tiere und Mineralien gesammelt, sondern auch eine Fülle von Fossilien. In Argentinien etwa stieß er auf Knochen und Schädel des ausgestorbenen Riesenfaultiers (Megatherium), eines Säugetiers von der Größe des indischen Elefanten. Andere Versteinerungen waren schwieriger zu identifizieren. Erst nach seiner Rückkehr nach London wurden sie von dem brillanten Anatomen Richard Owen klassifiziert, der später aus Neid einer von Darwins erbittertsten Gegnern wurde. Owen wies nach, dass die Fossilien wie das Riesenfaultier Überreste längst ausgestorbener gigantischer Nagetiere und Ameisenbären waren. Fossilien stellten die Wissenschaft lange vor ein großes Rätsel. Woher kamen diese oft so absonderlichen Wesen, und wo waren sie geblieben? Noch bis ins 19. Jahrhundert mutmaßte manch einer, diese prähistorischen Tiere seien der Sintflut zum Opfer gefallen, was jedoch angesichts des nachweislich hohen Alters der Versteinerungen von vielen Millionen und nicht Tausenden von Jahren kaum aufrechtzuerhalten war. Für Darwin waren sie Zeugnisse der Entwicklungslinien der Organismen. Auch die Übergangsformen und fehlenden Bindeglieder (missing links) müssten sich in den Erdschichten finden lassen, die die Entwicklung von Tiergruppen verdeutlichten. Eine der berühmtesten Zwischenformen, der Archaeopteryx, wurde 1861 in Bayern entdeckt. Archaeopteryx, der vor hundertfünfzig Millionen Jahren lebte und etwa die Größe einer Elster hatte, besaß sowohl Merkmale eines Reptils (Zähne und einen aus einundzwanzig Wirbeln bestehenden Schwanz) als auch die eines Vogels (charakteristisches Gabelbein, Federn und Flügel). Darwin sah im Archaeopterix das fehlende Glied zwischen Dinosauriern und Vögeln. Übrigens verdanken wir beide Namen, „Archaeopteryx“ („alter Flügel“) und „Dinosaurus“ („furchtbare Echse“), Richard Owen. Das sechste und letzte Beweisstück, das Darwin zur Unterstützung seiner Theorie heranzog, kam aus der Biogeographie, der Wissenschaft von der geographischen Verbreitung der Pflanzen- und Tierarten. Schon bei oberflächlicher Betrachtung fällt auf, dass diese Verbreitung nicht homogen ist. Manche Tierarten sind an eine bestimmte Region oder einen bestimmten Kontinent gebunden. So sind die meisten Beuteltiere im australischen Raum beheimatet, und manche der seltsamen Lebewesen, die Darwin auf den Galapagos-Inseln antraf, sind nur dort zu finden. Wenn Gott die Pflanzen und Tiere der Erde erschaffen hätte, würde man erwarten, dass Organismen unter vergleichbaren natürlichen Bedingungen einander ähneln. Das ist aber häufig nicht der Fall. Auf seiner Reise mit der Beagle erkundete Darwin im Winter 1832 die Kapverdischen Inseln vor der
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Westküste Afrikas. Das vulkanische Archipel war sowohl in geologischer wie in geographischer Hinsicht fast identisch mit den Galapagos-Inseln. Nicht jedoch die Flora und Fauna. Die Pflanzen und Tiere auf den Kapverdischen Inseln ähnelten vor allem ihren Verwandten in Afrika, während die auf den GalapagosInseln große Ähnlichkeit mit ihren südamerikanischen Artgenossen aufwiesen. Die Schlussfolgerung lag nahe, dass die Inselbewohner und ihre Verwandten auf dem Festland auf einen verhältnismäßig „jungen“ gemeinsamen Vorfahren zurückgingen. Die ungleichmäßige Verbreitung von Tieren und Pflanzen auf der Erde war nach Darwins Ansicht nur im Licht des Evolutionsgedankens verständlich. Sie war das Resultat einer geographischen Isolation und einer anschließenden getrennten Entwicklung. Der Kampf um das Dasein Die Veränderlichkeit der Arten stand für Darwin nun außer Zweifel, was aber war die treibende Kraft der Evolution? Eine Zeitlang teilte er Lamarcks Ansicht, Arten entwickelten sich durch ein „inneres Streben“ nach Vollkommenheit, doch diese Erklärung befriedigte ihn nicht. Aus seinen Notizbüchern aus dem Jahr 1837 geht hervor, dass er sich für die Variation unter domestizierten Tieren und kultivierten Pflanzen zu interessieren begann. Tierzüchtern war es gelungen, durch Zuchtwahl eine unerhörte Vielfalt an Hunde-und Taubenrassen zu erreichen. Das Gleiche galt für agrarische Gewächse, wie die verschiedenen Arten der Getreide- und Kohlfamilie bewiesen. Diese Rassen waren durch künstliche Selektion aus einer Art „Urtypus“ hervorgegangen. Über Jahrhunderte, ja Jahrtausende hatten Züchter die jeweils erwünschten Eigenschaften bestimmter Tiere und Pflanzen selektiert. Das Ergebnis war ein verblüffender Reichtum an Pflanzenund Tierrassen. Darwin grübelte über die Frage nach, wie dieses Selektionsprinzip auf Organismen in ihrem natürlichen Lebensraum angewandt werden könnte. Wer oder was bewirkte die Selektion in nicht vom Menschen kontrollierten Populationen? Und vor allem: Wie entstanden neue Arten? Auf die Lösung des Rätsels stieß Darwin mehr oder weniger zufällig, als er im September 1838, ein Jahr nachdem er mit seinen geheimen Forschungen angefangen hatte, zur Entspannung den Essay on the principle of Population (Essay über das Bevölkerungsgesetz) des britischen Ökonomen Thomas Malthus las. In diesem 1798 erschienenen Werk zeigt Malthus, dass die Bevölkerung nie im gleichen Tempo zunimmt wie der zur Verfügung stehende Lebensraum und das Nahrungsangebot. Populationen haben die Neigung, viel schneller zu wachsen, als sie ernährt werden können. Das Resultat ist nach Malthus’ Ansicht ein unvermeidlicher Kampf ums Dasein (struggle for existence), wobei Kriege, Epidemien und Hungersnöte das Ihre dazu beitragen, die Bevölkerung wieder auf einen angemessenen Umfang zu reduzieren. Nun fügten sich die einzelnen Teile des Puzzles zu einem Gesamtbild zusammen. Natürliche Selektion war die treibende
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Kraft des Evolutionsprozesses. Darwin hatte beobachtet, dass die Individuen einer Population in der Regel kleine Unterschiede aufweisen, beispielsweise in der Farbe, Größe, Fruchtbarkeit, Resistenz gegen Krankheiten und so weiter. In dieser Variabilität nun sah Darwin die Triebkraft der Evolution. Eine vorteilhafte Variation wird durch natürliche Selektion in dem Sinne belohnt, dass ihr Besitzer bessere Überlebens- und Reproduktionschancen hat und sie an seine Nachkommen weitergibt. Ungünstige Variationen werden durch natürliche Selektion „bestraft“, da ihre Träger früher sterben oder im Schnitt weniger Nachkommen hervorbringen. Das bedeutet, dass eine Population sich allmählich ändern kann. Da die Träger vorteilhafter Eigenschaften oder Merkmale durchschnittlich mehr Nachkommen produzieren, werden sich diese nach und nach in der Population ausbreiten. Erbliche Variation und natürliche Selektion machen Populationen auf diese Weise zu flexiblen Einheiten, die sich verändernden Umweltbedingungen anpassen können. Es sei hier noch einmal daran erinnert, dass diese Sichtweise Darwins einen radikalen Bruch mit dem Essentialismus bedeutete, demzufolge die Natur aus unveränderlichen Essenzen oder platonischen Formen besteht. Von der Antike bis ins 19. Jahrhundert war diese Vorstellung unter Naturforschern weitverbreitet. Darwin bereitete dieser Tradition ein Ende. Nicht Gleichförmigkeit ist ihm zufolge die Regel, sondern Variabilität: Individuen, die zur selben Art gehören, sind niemals gleich. Und was noch wichtiger ist: Arten sind nicht statisch, sondern veränderlich. Man sollte erwarten, dass sich Darwin seiner Sache nun sicher war. Mit dem von ihm zusammengetragenen Material, das aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln den Artenwandel belegte, und mit dem Prinzip der natürlichen Selektion als evolutionärem Mechanismus müsste er die Öffentlichkeit und die wissenschaftliche Gemeinschaft überzeugen können. Das Gegenteil war jedoch der Fall. Darwin war sich seiner Sache keinesfalls sicher und zögerte die Veröffentlichung seiner kontroversen Ideen immer wieder hinaus. Hinzu kam, dass sich sein Gesundheitszustand verschlechterte und ihn immer öfter zwang, Pausen einzulegen. Am 29. Januar 1839 heiratete er seine Kusine Emma Wedgwood. Im gleichen Jahr wurde er in die Royal Society, die britische Wissenschaftsakademie, aufgenommen und veröffentlichte er sein erstes Buch, Journal of researches, das Tagebuch seiner Beobachtungen während seiner Weltumseglung. 1842 zog die Familie aus dem lauten London in ein ruhiges Landhaus in der Ortschaft Down unweit von Sevenoaks in der Grafschaft Kent. Inzwischen waren zwei Kinder zur Welt gekommen. In Down sollten noch acht weitere hinzukommen, von denen eines bei der Geburt starb. Sein ganzes weiteres Leben verließ der kränkelnde Darwin das Haus kaum noch. Doch obwohl er das Leben eines halben Invaliden führte, setzte er seine Arbeit unverdrossen fort. Die Jahre vergingen, und Darwins Manuskript nahm beständig an Umfang zu. Das Werk, das den Titel Natural Selection tragen sollte, bestand inzwischen aus
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mehreren handgeschriebenen Teilen. Darwin feilte unermüdlich an seinen Argumenten und ergänzte das Beweismaterial um neue Details, Betrachtungen und Überlegungen. Doch ein tragisches Ereignis überschattete das Jahr 1851: Am 23. April starb Darwins Lieblingstochter Anne Elizabeth (Annie) mit zehn Jahren an einer Infektionskrankheit. Darwin sollte sich nie ganz von diesem Schlag erholen, der Tod seiner Tochter ließ ihn endgültig den Glauben an Gott verlieren. Im selben Jahr, in dem Annie starb, lernte Darwin den Arzt und Philosophen Thomas Henry Huxley kennen, der einer seiner treusten Freunde werden sollte. Darwins Gesundheitszustand verschlechterte sich zusehends. Er litt unter Ekzemen, Darmkrämpfen, Schwächeanfällen, Kopfschmerzen, Herzklopfen und Übelkeit. Wie seine kränkelnden Zeitgenossen Charles Dickens und Alfred Tennyson suchte er Linderung bei der damals sehr beliebten Hydropathie, einer Kur, die hauptsächlich aus Kaltwasserbädern bestand. Es wurde im Lauf der Zeit viel über Darwins mysteriöses Krankheitsbild spekuliert. Hatte er sich etwa in Argentinien eine Infektionskrankheit zugezogen? Allerdings hatten sich die Symptome auch schon kurz vor der Reise manifestiert. Die Beschwerden waren wohl eher psychosomatischer Natur, ausgelöst durch den ständigen Druck, der mit seiner Arbeit zusammenhing. Veröffentlichung der Entstehung der Arten Als der Geologe Charles Lyell, mittlerweile ein enger Freund, Darwin im April 1856 in Down besuchte, gab ihm dieser das Manuskript seiner langjährigen Forschungen zu lesen. Lyell war tief beeindruckt und versuchte, Darwin von der Notwendigkeit einer Publikation zu überzeugen. Vergeblich. Erst im Juni 1858, gut zwanzig Jahre nach Anfang der Arbeit, sollte sich plötzlich ein Weg aus der Sackgasse zeigen. Der englische Naturforscher Alfred Russel Wallace, der sich auf einer Forschungsreise im malayischen Archipel befand, sandte Darwin das Manuskript einer Abhandlung zu. Während eines Fieberanfalls, schrieb er, habe er die Lösung des Problems des Artenwandels gefunden. Zu Darwins Bestürzung war Wallace zu genau dem gleichen Schluss gekommen wie er, nämlich dass natürliche Selektion die treibende Kraft der Evolution sei. Darwin konnte nun nicht mehr umhin, mit seinen Ideen an die Öffentlichkeit zu treten, wollte er nicht das Prioritätsrecht verlieren. Durch Vermittlung Lyells und des Botanikers Joseph Hooker kam es 1858 zu einer gemeinsamen Veröffentlichung in der Zeitschrift der Londoner Linnean Society unter dem Titel „On the tendency of species to form varieties; and on the perpetuation of varieties and species by natural selection“. Sie enthielt Wallaces Abhandlung und Auszüge aus Darwins unveröffentlichtem Werk. Die Publikation erregte wenig Aufsehen. Um das Erscheinen seines Buchs zu beschleunigen, beschloss Darwin, den inzwischen kolossalen Umfang des Manuskripts kräftig zu reduzieren. Die „Zusammenfassung“ erschien im November 1859 unter dem Titel On the origin of species by means of natural selection, or the preservation of fa-
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voured races in the struggle for life (Über die Entstehung der Arten im Thier- und Pflanzenreich durch natürliche Züchtung oder Erhaltung der vervollkommneten Rassen im Kampfe ums Daseyn). Die erste Auflage von 1250 Exemplaren war innerhalb eines Tages ausverkauft, weitere Auflagen folgten rasch hintereinander. Darwins Angst vor negativen Reaktionen erwies sich größtenteils als unbegründet. Die wissenschaftliche Welt schlug sich mehr oder weniger auf seine Seite. Es gab zwar auch Gegenstimmen, vor allem von kirchlicher Seite, doch sie konnten die Verbreitung von Darwins Ideen nicht aufhalten. Diesen Sieg hatte Darwin übrigens zu einem großen Teil Thomas Henry Huxley zu verdanken, der nicht müde wurde, seine Theorie in der Öffentlichkeit zu verteidigen, was ihm den Titel „Darwins Bulldogge“ einbrachte. Berühmtheit erlangte seine Debatte mit Samuel Wilberforce, Bischof von Oxford, einem glatten Populisten und begnadeten Redner, mit dem er im Sommer 1860 die Klingen kreuzte. Es gelang dem Bischof sehr bald – es gibt verschiedene Versionen des Vorfalls –, das Publikum auf seine Seite zu ziehen. Nachdem er Darwins Ideen ausgiebig durchgehechelt hatte, stellte er zur Erheiterung des Publikums Huxley die sarkastische Frage, ob er großväterlicher- oder großmütterlicherseits vom Affen abstamme. Huxley ließ sich nicht aus der Fassung bringen und antwortete, er würde sich weniger schämen, einen Affen zum Vorfahren zu haben, als ein Mensch zu sein, der seine rhetorische Begabung dazu missbrauche, die Wahrheit zu vertuschen. Der Saal geriet jetzt erst recht in Aufruhr, und nach guter viktorianischer Sitte fielen einige Damen in Ohnmacht. Huxley ist es zu verdanken, dass der Darwinismus schon bald den Status einer etablierten wissenschaftlichen Theorie erlangte. Kein ernsthafter Naturforscher kam mehr um die Evolutionstheorie herum. Weismann und Mendel In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wuchs die Einsicht, dass Darwin ein bedeutender wissenschaftlicher Durchbruch gelungen war. Die Entstehung der Arten wurde in viele Sprachen übersetzt, Darwins Ruhm verbreitete sich rasch. Trotz seiner schwachen Gesundheit widmete sich Darwin intensiv der Verbreitung seiner Ideen. 1871 veröffentlichte er Die Abstammung des Menschen (The descent of men). Darin legte er dar, dass auch der Mensch das Produkt einer evolutionären Entwicklung sei. Mensch und Affe stammten von einem gemeinsamen Vorfahren ab, und das bedeutete, dass Homo sapiens nicht länger den Sonderstatus einnahm, den ihm die Kreationisten zuschrieben. Das viktorianische Publikum allerdings war von diesem Gedanken nicht besonders angetan und machte seiner Entrüstung in Karikaturen Luft (Abb. 1.2). Darwins Evolutionstheorie wies allerdings noch eine auffällige Lücke auf. Darwin und seine Anhänger zerbrachen sich den Kopf darüber, auf welchem Weg Körpermerkmale von Generation auf Generation weitergegeben werden. Es
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Abb. 1.2: Darwin als Affe
war deutlich, dass Variation die Voraussetzung der Evolution war. Aber welche Variationen erreichten die nächste Generation und welche nicht? Und würde eine günstige Eigenschaft nicht nach und nach durch Vermischung schwächer werden? Man wusste zwar, dass neue Organismen aus der Verschmelzung einer Samen- und einer Eizelle entstehen. Aber bisher konnte niemand sagen, welche Information bei der Befruchtung weitergegeben wird. Was Darwin fehlte, war eine einleuchtende Vererbungstheorie. In den letzten zehn Jahren seines Lebens griff Darwin auf Lamarcks Vorstellung zurück, erworbene Eigenschaften seien erblich. Er entwickelte zur Erklärung eine eigene Theorie, die Pangenesis-Theorie. Die Geschlechtszellen empfangen demnach ständig Informationen über das, was im Körper vor sich geht. Alle Körperteile produzieren winzige Körperchen (Gemmulen) und senden sie über die Blutbahn zu den Samen- oder Eizellen, sodass die Erbinformation immer up to date bleibt. Diese Hypothese erklärte gleichzeitig auch das Lamarck’sche Prinzip vom Gebrauch und Nichtgebrauch. Wie intensiv etwa ein Organ von einem Lebewesen gebraucht wurde, teilten die Gamellen den Keimzellen mit. Auf diese Weise erbten Nachkommen die im Lauf des Lebens erworbenen – oder verlorenen – Eigenschaften ihrer Eltern. Unter anderem durch Darwins Einsatz erlebte der Lamarckismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine Renaissance.
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Diese Neubelebung fand jedoch ein abruptes Ende, als der deutsche Biologe August Weismann nachwies, dass Lamarcks Vererbungs- und Darwins Pangenesis-Theorie nicht stimmen konnten. In einem etwas grausamen, aber nützlichen Experiment schnitt er Mäusen mehrere Generationen hindurch die Schwänze ab, um festzustellen, ob ihre Kinder schwanzlos zur Welt kommen. Das war nicht der Fall, jede Mäusegeneration wurde mit gleich langem Schwanz geboren. Weismann folgerte, dass im Laufe des Lebens erworbene Eigenschaften – in diesem Fall eine Verletzung – nicht erblich sind. (Er hätte sich die Mühe sparen können, wenn er sein Augenmerk auf jüdische oder muslimische Jungen gerichtet hätte, die seit Jahrhunderten beschnitten werden und deren Söhne immer mit intakter Vorhaut zur Welt kommen.) Weismann entwickelte daraufhin seine Keimplasma-Theorie. Er zog eine scharfe Trennungslinie zwischen den Körperzellen (somatischen Zellen) und den Geschlechtszellen (Keimzellen). Das Erbmaterial, das in den Geschlechtszellen, dem Keimplasma, enthalten ist, kann durch Veränderungen in den Körperzellen nicht beeinflusst werden. Das Keimplasma bildet von Generation auf Generation eine eigene ununterbrochene Linie, völlig unabhängig davon, was mit dem Körper geschieht. Es führen kausale Stränge vom Erbgut zum Körper, doch nicht umgekehrt. Im 20. Jahrhundert sollte Weismanns entscheidende Erkenntnis zum sogenannten „zentralen Dogma“ der Molekularbiologie ausgebaut werden: Die Information, die in somatischen Proteinen enthalten ist, ist nicht auf die Nukleinsäuren der DNA übertragbar. So weit war man aber zu Weismanns Zeit noch nicht. Lamarcks Vererbungstheorie jedenfalls konnte nicht erklären, durch welchen Mechanismus Varianten entstehen. Die Suche ging weiter. Als Darwin am 16. April 1882 starb, tappte man bezüglich dieses Problems noch immer im Dunkeln. Kaum jemand wusste, dass die Vererbungstheorie, nach der man so eifrig suchte, schon fünfzehn Jahre zuvor von einem tschechischen Mönch, dem Botaniker Gregor Mendel, formuliert worden war. In den Sechzigerjahren des 19. Jahrhunderts hatte er die Gesetzmäßigkeiten der Vererbung untersucht und seine Beobachtungen in einem Artikel unter dem Titel „Versuche über Pflanzen-Hybriden“ veröffentlicht. Seine bahnbrechenden Erkenntnisse hatten jedoch keine Beachtung gefunden. Durch Kreuzungsversuche an Erbsen entdeckte Mendel, dass Eigenschaften nach bestimmten Regeln vererbt werden. Das Erbgut besteht aus diskreten, von einander abgegrenzten Einheiten, den Genen. Sie vermischen sich nicht, man könnte sagen, dass sie „an-“ oder „ausgeschaltet“ werden. Mendel zeigte, dass bestimmte Merkmale, beispielsweise die gelbe oder grüne Farbe der Erbsen, über Generationen verborgen bleiben können, um irgendwann in einer Generation wieder aufzutauchen. Die Expression eines „Gens“ kann ausgeschaltet werden, nicht das „Gen“ selber. Die äußere Erscheinung eines Organismus (der Phänotyp) sagt demnach längst nicht alles über den ihm zugrunde liegenden genetischen Bauplan (den Genotyp) aus. Durch geschlechtliche Fortpflanzung werden die Erbfaktoren zwar ständig
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durcheinander gewürfelt, aber nicht vermischt: Der Partikelcharakter der Gene bleibt erhalten. Gene, die zum Ausdruck kommen (zum Beispiel in der Farbe Gelb) nannte Mendel „dominant“, diejenigen, die unterdrückt werden (zum Beispiel die Farbe Grün) „rezessiv“. Mendel konnte sehr genau vorhersagen, in welchem Verhältnis Merkmale auftreten bzw. nicht auftreten. Außerdem kam er den spontanen Veränderungen im Bauplan von Organismen, den sogenannten Mutationen, auf die Spur. Durch sie entstehen manchmal völlig neue phänotypische Varianten. Wenn die Mutation in den Geschlechtszellen auftritt, ist sie erblich. Im Jahr 1900, achtzehn Jahre nach Darwins Tod, wurde Mendels Arbeit wiederentdeckt. Man setzte nun alles daran, seine Erkenntnisse mit Darwins Theorie der natürlichen Selektion in Einklang zu bringen. Keine leichte Aufgabe, denn schon bald bildeten sich zwei rivalisierende Lager, die Mendelisten und die Darwinisten. Die Mendelisten meinten, gelegentliche Mutationen seien die Triebfeder der Evolution, sie verlaufe in Sprüngen. Durch eine Makromutation, eine große Veränderung, könne sogar mit einem Schlag eine neue Art entstehen. Den Mendelisten zufolge war das Prinzip der natürlichen Selektion eigentlich überflüssig. Die Darwinisten (manchmal auch als Biometriker angedeutet) waren dagegen davon überzeugt, dass kontinuierliche Variation Grundlage der Evolution sei. Darwin hatte ja festgestellt, dass Organismen, die zur selben Art gehören, immer kleine Unterschiede aufweisen. Und nur die natürliche Selektion könne diese kleinen, vorteilhaften Variationen aussieben. Der tiefe Graben, der zwischen den Mendelisten und den Darwinisten entstand, sollte erst Anfang des 20. Jahrhunderts überwunden werden. Die moderne Synthese In den Zwanziger- und Dreißigerjahren meldete sich eine neue Generation zu Wort, die die Annäherung der beiden Lager ernsthaft in Angriff nahm. Neue experimentelle und theoretische Forschungen sollten die Animosität in den Hintergrund drängen und die Reihen wieder schließen. Die Zusammenführung des Darwin’schen und des Mendel’schen Modells ist größtenteils zwei aufeinander folgenden Dreigespannen zu verdanken. Ihr Einsatz führte schließlich zur Entstehung der modernen Evolutionsbiologie, auch als Neodarwinismus oder „moderne Synthese“ bezeichnet. In den Zwanzigerjahren bestand das erste Dreigespann aus dem britischen Mathematiker und Biologen Ronald A. Fisher, dem britischen Genetiker John B. Haldane und dem amerikanischen Biologen Sewall Wright. Ihr größtes Verdienst war, dass sie die Evolutionsbiologie mathematisch untermauerten, wozu bereits Mendel den Anstoß gegeben hatte. So entstand eine neue Disziplin innerhalb der Biologie: die Populationsgenetik. Hauptsächlich Haldane und Fisher waren für diese mathematische Wendung in der Evolutionsbiologie verantwortlich. Fisher zeigte unter anderem durch mathematische
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Analysen, dass sich ein Gen, das einen kleinen Vorteil bietet, sehr schnell durch natürliche Selektion in einer Population ausbreiten kann. Auch der Spezialfall der natürlichen Selektion, nämlich die sexuelle Selektion, kann einen eskalierenden Prozess in Gang setzen. Nach Ansicht Fishers und Haldanes ist Evolution eigentlich nichts anderes als Veränderung in der genetischen Ausstattung einer Population. Wrights Beitrag bestand unter anderem darin, dass er die evolutive Bedeutung kleiner Populationen entdeckte. Die Zusammensetzung des Genbestands einer kleinen Population kann sich durch Zufallsschwankungen viel schneller ändern als die einer großen Population. Wright nannte diese zufällige Änderung „Gendrift“. Gendrift, auch Sewell-Wright-Effekt genannt, spielt bei der Entstehung neuer Arten eine wichtige Rolle. Durch Haldane, Fisher und Wright emanzipierte sich die Evolutionsbiologie. Wie Physiker und Astronomen konnten Biologen künftig die exakte Sprache der Mathematik handhaben. In den Dreißigerjahren wurde die Synthese der Darwin’schen und der Mendel’schen Erkenntnisse von einem Dreigespann vollendet, das aus dem amerikanisch-russischen Genetiker Theodosius Dobzhansky, dem amerikanischdeutschen Zoologen Ernst Mayr und dem amerikanischen Paläontologen George S. Simpson bestand. Der in Kiew ausgebildete Dobzhansky machte nach seiner Emigration in Amerika bahnbrechende genetische Forschungen über die Taufliege (Drosophila). Sein 1937 veröffentlichtes Buch Genetics and the origin of species verkörpert vielleicht mehr als jedes andere Werk die Verschmelzung von Darwins und Mendels Theorien. Dobzhansky wies unter anderem nach, dass es in jeder Population ein unermessliches Reservoir an Variationen gibt und natürliche Selektion daher ein ununterbrochener Prozess ist. Variation sei die Regel, nicht die Ausnahme, meinte er ganz im Sinne Darwins. Neue biologische Merkmale entstehen nicht nur durch gelegentliche Mutationen, sondern vor allem durch Rekombination (Umgruppierung) genetischer Faktoren als Folge sexueller Fortpflanzung. Dobzhansky war, gemeinsam mit Mayr, auch der geistige Vater des biologischen Artkonzepts (Biological Species Concept oder BSC): Arten entstehen vorwiegend durch genetische Isolation. Mayr legte dar, dass einige wenige Pioniere wie die Galapagos-Finken an der Wiege einer neuen Art stehen können. Im dritten Kapitel gehen wir darauf näher ein. Der Paläontologe Simpson schließlich konzentrierte sich auf die Langzeitwirkung der Evolution. Der Fossilienbestand weise keinen abrupten Übergang von einer Art zur anderen auf. Das Tempo der Evolution könne fluktuieren, doch im Allgemeinen verlaufe sie graduell. Obwohl diese Ansicht von manchen seiner Kollegen bestritten wurde, stimmte sie doch mit dem überein, was Darwin zeitlebens behauptet hatte. Ironischerweise stand die Evolutionsbiologie durch die Anstrengungen einer ganzen Reihe von Wissenschaftlern den ursprünglichen Ideen Darwins nun viel näher als in der Periode davor. Die synthetische Theorie der Evolution wurde 1942 symbolträchtig abgeschlossen mit dem Buch Evolution, the modern synthesis des englischen Biologen
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Julian Huxley, Thomas Huxleys Enkel und Bruder des Schriftstellers Aldous. Es bildete sowohl den Abschluss einer bewegten Zeit wie die Ankündigung eines Neuanfangs. Die moderne Synthese, der Neodarwinismus, bedeutete in gewissem Sinn die Vollendung der wissenschaftlichen Revolution, die im 16. Jahrhundert eingesetzt hatte. Übernatürliche Ursachen wurden allmählich durch natürliche ersetzt, die von der Wissenschaft erforscht werden konnten. Das Weltbild wurde mechanisiert: Im Prinzip gibt es keine Phänomene, die sich der wissenschaftlichen Analyse völlig entziehen. Seit Darwin wissen wir, dass dies auch für die lebende Natur gilt. Um die Entwicklung des Lebens auf unserem Planeten zu erklären, brauchen wir weder einen Schöpfergott noch geheimnisvolle Ursachen in Anspruch zu nehmen. Dadurch hat sich unsere Vorstellung von uns selbst und von unserem Platz im Universum grundlegend geändert. Hundertfünfzig Jahre nach der Veröffentlichung der Entstehung der Arten sind die vielen Implikationen des neuen Weltbilds noch lange nicht absehbar. Es steht jedoch außer Zweifel, dass die Begründung des evolutionären Paradigmas ein unauslöschliches, unumkehrbares Ereignis in der Geschichte der Wissenschaft darstellt.
2 Sexuelle Selektion Die Doppelhelix Mit der Synthese der Evolutionsforschung Ende der Dreißigerjahre war die Entwicklung keineswegs abgeschlossen. Im Gegenteil, die Evolutionsbiologie sollte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einer der wichtigsten Pfeiler der modernen Naturwissenschaften werden. Darwin ist aktueller denn je. Von großer Bedeutung waren ohne Frage die Entdeckungen der Molekularbiologie, die Erforschung der materiellen Grundlage des Lebens. Auch dies stellte einen Bruch mit der Vergangenheit dar. Noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war mancher Wissenschaftler und Philosoph Anhänger des sogenannten Vitalismus, demzufolge sich die lebende Natur wesentlich von der unbelebten unterscheidet. Grundlage allen Lebens sei eine mysteriöse, unstoffliche „Lebenskraft“. Die Molekularbiologie zeigte, dass eine solche Annahme überflüssig war. Das Leben ist materiell erklärbar, es sind keine mysteriösen, unstofflichen Substanzen oder Prozesse nötig, um das Wesen des Lebens zu erklären. 1953 entdeckten der Engländer Francis Crick und der Amerikaner James Watson die Molekülstruktur der DNA, die Doppelhelix (Abb. 2.1). 1962 erhielten beide für diese Leistung den Nobelpreis. Alles Leben auf der Erde ist aufgebaut aus zwei Zucker-Phosphat-Strängen, die, um eine gemeinsame Achse gewunden, eine Doppelspirale bilden. Die Bausteine der Stränge bestehen aus vier organischen Basen, nämlich Adenin (A), Cytosin (C), Guanin (G) und Thymin (T). Sie sind komplementär, Adenin und Thymin bzw. Guanin und Cytosin bilden ein Paar. Über Wasserstoffbrücken zwischen den Basenpaaren sind die Stränge miteinander verbunden. Durch die Reihenfolge der Basen in der DNA wird die Erbinformation, der Bauplan der Organismen, festgelegt. Die Entdeckung der Doppelhelix wies aufs Neue auf einen gemeinsamen Ursprung des Lebens auf unserem Planeten hin. Alle Organismen bestehen aus den gleichen elementaren Bausteinen. Die Molekularbiologie ermöglichte es überdies, Vermutungen über die stammesgeschichtliche Entwicklung zu überprüfen. Die evolutionäre Geschichte lässt sich mithilfe der sogenannten „molekularen Uhr“ rekonstruieren. Die Geschwindigkeit, mit der zufällige Mutationen auftreten, ist oft sehr konstant, dies gilt vor allem für Mutationen in der Mitochondrien-DNA. (Mitochondrien dienen der Atmung und dem Stoffwechsel der Zelle; diese Organellen kommen in allen tierischen und pflanzlichen Zellen vor. Die Mitochondrien-DNA wird ausschließlich über die Mutter vererbt, im Gegensatz zur DNA des Zellkerns, der von beiden Eltern stammt.) Die Regelmäßigkeit, mit
DIE DOPPELHELIX
C
A
Zucker-PhosphatStrangg
A G
T
A
A
T
G T
T
G
T
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C
C
C A
Basen
G
Wasserstoffbrücke
Schematische Darstellung der DNA-Struktur. A = Adenin, T = Thymin, C = Cytosin, G = Guanin Abb. 2.1: Die Doppelhelix
der Mutationen in den Zellorganellen auftreten, erlaubt es, den genetischen Weg zurückzuverfolgen und den ungefähren Zeitpunkt zu bestimmen, an dem Arten sich aufspalteten. Je kleiner die Unterschiede zwischen den Organellen-DNA zweier Spezies, desto rezenter haben sich ihre Abstammungslinien getrennt. Zwischen Menschen und Schimpansen beträgt der genetische Unterschied beispielsweise nur einige Prozent, zwischen Menschen und Taufliegen beträchtlich mehr. Falls die molekulare Uhr auch in der Vergangenheit mit konstanter Geschwindigkeit lief, was wahrscheinlich ist, dann lässt sich berechnen, dass der gemeinsame Vorfahr von Mensch und Schimpanse vor etwa sechs Millionen Jahren gelebt haben muss. Die Entwicklungslinien, die zum Menschen und zur Taufliege führen sollten, verzweigten sich hingegen schon vor etlichen Hundert Millionen Jahren. Vor dem Zeitalter der Molekularbiologie und der modernen Genetik waren Biologen zur Bestimmung des Verwandtschaftsverhältnisses der Organismen auf die Untersuchung morphologischer Merkmale angewiesen. Doch körperliche Merkmale sagen nicht alles. Die morphologischen Unterschiede zwischen einer dänischen Dogge und einem Dackel sind augenfällig, doch eine DNA-Analyse zeigt, dass sie beide zur selben Art, Canis familiaris, gehören und ihre geringen genetischen Unterschiede auf künstliche Selektion in moderner Zeit zurückzuführen sind. Die molekulare Struktur ist ein relativ zuverlässiges Instrument, um Hypothesen über die Verwandtschaft und die Entwicklungsgeschichte der Arten zu überprüfen. Übrigens hat die Molekularbiologie auch deutlich gemacht, dass die Genetik viel komplizierter ist, als die erste Generation der Neodarwinisten vermutete. So verhält es sich beispielsweise nicht so, dass die phänotypischen Merkmale eines Organismus durch einzelne Gene isoliert kodiert werden. Ein einzelnes Gen korreliert selten mit einem bestimmten Körpermerkmal. Vielmehr haben wir es mit
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einer Hierarchie von Genen und Genkomplexen und mit vielfältigen Wechselwirkungen zu tun. Auf der anderen Seite kann ein einzelnes Gen mehrere voneinander unabhängige phänotypische Merkmale beeinflussen. Man spricht dann von „Pleiotropie“. Der zugrunde liegende genetische Bauplan ist somit nicht allein ausschlaggebend für die äußere Gestalt eines Organismus. Umweltfaktoren spielen sicherlich eine ebenso große Rolle. Zwei genetisch identische Organismen können sich je nach den äußeren Bedingungen ganz unterschiedlich entwickeln. Der Phänotyp eines Lebewesens hat eine gewisse Variationsbreite, eine Tatsache, die Biologen mit dem Begriff „phänotypische Plastizität“ andeuten. Der evolutionäre Algorithmus Die biologische Evolution ist ein Prozess, bei dem drei Elemente eine entscheidende Rolle spielen, nämlich Variation, Selektion und Reproduktion. Zufällige Variation ist Vorbedingung und Triebkraft der Evolution. Die Mitglieder einer Population unterscheiden sich voneinander in vielerlei Hinsicht. Manche Eigenschaften verschaffen ihrem Besitzer einen Überlebensvorteil und fördern seine biologische Fitness, die Chance, Nachkommen hervorzubringen. Andere Eigenschaften sind nachteilig in dem Sinn, dass sie das Überleben und die Fortpflanzung erschweren. Die Variation in einer Population ist die Folge von Mutation und genetischer Rekombination, der Neuanordnung der Gene durch sexuelle Fortpflanzung. Ist eine Variation erblich, kann dies die genetische Zusammensetzung einer Population verändern. Die in einer Population auftretende Variation ist immer zufällig (im Englischen als random bezeichnet), das heißt, sie antizipiert nicht den Selektionsdruck, der auf eine Population ausgeübt wird. Wenn diese aus irgendeinem Grund nicht länger an ihre Umwelt angepasst ist, kann sie nur „abwarten“, bis sich eine günstige Variation einstellt. Variation ist also nicht, wie Lamarck meinte, zielgerichtet. Ein Organismus kann sich noch so sehr anstrengen, er hat keinerlei Einfluss darauf, ob er die Gene erhält, die ihm helfen könnten, Schwierigkeiten zu bewältigen. Natürliche Selektion ist das zweite Element des Evolutionsmechanismus. Wir können sie mit Recht als den Motor, die treibende Kraft der Evolution bezeichnen. Die natürliche Selektion wählt quasi die Eigenschaften aus, die das Überleben begünstigen, und ist somit per definitionem nicht zufällig. Denn die Unterschiede im Fortpflanzungserfolg hängen nicht vom Zufall ab. Durchschnittlich werden diejenigen Individuen, die mit den Bedingungen ihrer Umwelt am besten zurechtkommen, die meisten Nachkommen haben. Die natürliche Selektion ist ein Sieb, das die vorteilhaften Variationen von den ungünstigen trennt. Reproduktion schließlich ist das dritte und letzte Element des Evolutionsmechanismus. Sie ist der Schlüssel der Evolution, da sie in gewissem Sinn die Tür zur Unsterblichkeit öffnet. Die Organismen, die sich fortpflanzen, geben ihre genetische Information an ihre Nachkommen weiter. Die Gene sind dadurch
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potenziell unsterblich. Die Tatsache, dass Organismen sich selbst reproduzieren können, bedeutet zugleich, dass sich durch den evolutionären Auswahlprozess vorteilhafte Merkmale im Laufe der Generationen anhäufen. Gene, die eine günstige Mutation tragen, werden durchschnittlich öfter kopiert als Gene, die negative Auswirkungen haben. Merkmale, die die biologische Fitness steigern, verbreiten sich in der Population und werden verstärkt, nachteilige Merkmale schwächen sich ab und werden aussortiert. Die Population als Ganze wird auf diese Weise zu einer flexiblen Einheit, die allmählich ihren Genbestand verändern und sich wechselnden Umweltbedingungen anpassen kann. Zusammen bilden die drei Elemente einen evolutionären Algorithmus aus Variation, Selektion und Reproduktion, einen VSR-Algorithmus. Ein Algorithmus ist ein einfaches Verfahren, das zu einer bestimmten Art Resultat führt, sobald es einmal begonnen hat. Das Ergebnis des evolutionären VSR-Algorithmus ist Angepasstheit. Wenn der kumulative Auswahlprozess der Evolution nur lange genug dauert, bringt er die erstaunlichsten Adaptationen hervor. Nehmen wir als Beispiel die Entwicklung des Auges, ein von Kreationisten und anderen Evolutionsgegnern häufig ins Feld geführtes Argument. Ein so hochkomplexes Organ könne niemals durch Zufall entstanden sein, lautet das Argument. Übersehen wird, dass die Entstehung der Variation zwar zufallsbedingt ist, nicht aber der Prozess der natürlichen Selektion. Fügt man dem auch noch das dritte Element – Reproduktion – hinzu, entsteht ein vollwertiger VSR-Algorithmus: Nur die Kombination aus Variation, Selektion und Reproduktion führt zu dem Mechanismus, der wie „intelligentes Design“ anmutet. Das Auge ist mehrere Male bei ganz unterschiedlichen biologischen Arten entstanden, unter anderem bei Wirbeltieren, Insekten und Weichtieren. Höchstwahrscheinlich war der Anfang eine einfache lichtempfindliche Zelle oder ein Lichtrezeptor. Im Lauf von vielen Millionen Jahren wurde jede Verbesserung des Entwurfs, wie unscheinbar auch immer, bewahrt und weitergegeben, denn schon ein Prozent mehr Sicht ist hilfreich in einer Welt voller Gefahren. Schließlich entstanden über viele Zwischenstufen die komplizierten Facettenaugen der Insekten und die Linsenaugen der Wirbeltiere. Kurzum, man kann die Evolution komplexer Organe erst begreifen, wenn man alle drei Elemente des Evolutionsmechanismus beachtet. Um auf das im ersten Kapitel angeführte Beispiel des Affen am Computer zurückzukommen – die Wahrscheinlichkeit, dass er durch beliebiges Anschlagen der Tasten ein Theaterstück von Shakespeare zustande bringt, ist in der Tat unendlich klein. Fügt man der Textverarbeitung jedoch einen Algorithmus mit kumulativer Auswahl hinzu, der aus dem Zufallstext des Affen die richtigen Buchstaben, Leer- und Satzzeichen etwa von Macbeth in der richtigen Reifenfolge aussortiert, kann es der Affe weit bringen. Um das Funktionieren der natürlichen Selektion zu illustrieren, wird in fast jedem modernen Lehrbuch über Evolutionsbiologie das Beispiel des Birkenspanners (Biston betularia) herangezogen. Dieser kleine, unauffällige Schmetterling ist
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in ganz Europa heimisch. Besonders in England wurde er erforscht. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die Birkenspanner überwiegend hell gefärbt; auf den von Flechten bewachsenen Stämmen der Birken waren sie für ihre Feinde kaum zu erkennen. Die Tarnfarbe war das Resultat der natürlichen Selektion. Mit der durch die Industrialisierung zunehmenden Luftverschmutzung nahm der Flechtenbewuchs jedoch ab, die Stämme färbten sich dunkel. Die Folge war, dass die hellen Schmetterlinge nicht mehr geschützt waren und ein gefundenes Fressen für Vögel wurden. Zur allgemeinen Verwunderung breitete sich nun ab Mitte des 19. Jahrhunderts die dunklere Variante des Birkenspanners immer mehr aus – der Nachteil seiner Färbung hatte sich in einen Überlebensvorteil verwandelt – und verdrängte die helle Form fast völlig, ein Phänomen, das in der Biologie als Industriemelanismus bezeichnet wird. In den letzten Jahrzehnten ist mit der Abnahme der Luftverschmutzung eine Umkehrung des Verhältnisses zu beobachten. Möglicherweise kehrt die Population langsam wieder zu den hell gefärbten Individuen zurück. Der Riesenhirsch und der Pfau Man würde meinen, dass alle Eigenschaften der Organismen durch den Evolutionsprozess geformt wurden und somit funktional sind. Doch dies ist nicht der Fall. Lebewesen besitzen zahlreiche Merkmale, die keinerlei Funktion besitzen. Oft handelt es sich um Nebenprodukte anderer funktionaler Eigenschaften. Beispiele sind der Blinddarm oder die Brustwarzen des Mannes. Männer haben Brustwarzen, weil der Embryo in der frühen Phase die weibliche Grundform besitzt, erst in einem späteren Stadium werden die geschlechtsspezifischen Merkmale ausgebildet. Oft ist es evident, welche Funktion ein Merkmal hat: Herz, Lunge, das Auge oder die Färbung des Birkenspanners sind durch natürliche Selektion erworbene Anpassungen. Das Herz hat die Funktion, Blut in den Körperkreislauf zu pumpen, die Lunge versorgt das Blut mit Sauerstoff, das Sehorgan ermöglicht den Lebewesen, Informationen über die Außenwelt zu sammeln, und die Färbung des Birkenspanners dient der Tarnung. Manchmal allerdings ist die Funktion eines Merkmals nicht ohne Weiteres ersichtlich. So rätseln die Fachleute noch immer über den Zweck der Streifen der Zebras. Eine der Erklärungen lautet, sie seien wie die des Tigers eine wirksame Tarnung in hohem Gras oder im Unterholz – eine nicht sehr überzeugende Hypothese, da Zebras mit Vorliebe in der offenen Savanne grasen. Das Fellmuster scheint eher ein Lockmittel zu sein: Seht her, hier stehe ich in meinem schmucken Pyjama! Zebras wären möglicherweise mit einem uni hellbraunen Fell besser dran. Wir wissen also nicht immer mit Sicherheit, welche Eigenschaften durch natürliche Selektion geformt wurden und welche nicht. Fest steht dagegen, dass eine adaptive und damit funktionale Eigenschaft das Ergebnis der natürlichen Selektion ist. Doch nicht jede Eigenschaft ist eine Adaptation.
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Abb. 2.2: Der Riesenhirsch (Megaloceros) hatte eine Schulterhöhe von mehr als zwei Metern und ein Geweih mit einer Spannweite von bis zu vier Metern.
Außer den Merkmalen, die (möglicherweise) keine Funktion besitzen, gibt es auch solche, die dem Prinzip der natürlichen Selektion regelrecht zu widersprechen scheinen. Paradebeispiele in den Lehrbüchern sind der Riesenhirsch und der Pfau. Der Riesenhirsch, Megaloceros giganteus, lebte in der letzten Eiszeit in ganz Europa und Nordasien und starb vor etwa zehntausend Jahren aus. Sein wirklich kolossales Geweih erreichte eine Spannweite von bis zu vier Metern und wog bis zu sechzig Kilo! Bis vor Kurzem ging man davon aus, das Geweih müsse seinem Träger mehr Nachteile als Vorteile verschafft und sein Aussterben beschleunigt haben. Allerdings stellt sich dann die Frage, warum ein so hinderliches Ornament überhaupt hatte entstehen können. Lange Zeit galt das Geweih des Riesenhirsches als ein Beispiel der sogenannten Orthogenese, einer Theorie, nach der sich die Evolution in eine vorbestimmte Richtung bewegt und durch eine unbekannte Kraft angetrieben wird. Dem Riesenhirsch wohnte sozusagen ein Streben innen, ein immer größeres Geweih zu entwickeln, bis er schließlich unter seiner Last zusammenbrach. Die Vorstellung der Orthogenese gilt heute als veraltet und wird von fast niemandem mehr vertreten.
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Setzt man jedoch das Geweih des Riesenhirsches in Relation zu seiner Körpergröße, so zeigt sich, dass es durchaus mit den Abmessungen des Schädels und des Körpers korreliert. Megaloceros hatte ein Schulterhöhe von mehr als zwei Metern (Abb. 2.2). Sollte das Geweih also doch durch natürliche Selektion entstanden sein? Doch was konnte seine Größe erklären, die mehr Nach- als Vorteile haben musste? Der Hirsch war viel auffälliger für seine Feinde und konnte ihnen kaum entkommen. Zudem musste er das riesige Geweih, wie alle heutigen Hirsche, jedes Jahr abwerfen und im Sommer wieder aufbauen, was eine große Menge an Nahrung und Energie erforderte. Wozu also der ganze Aufwand, wenn sich die Weibchen auch ohne Geweih ganz gut durchs Leben schlagen? Die gleichen Fragen kann man sich auch bei dem zweiten klassischen Beispiel für ein Merkmal stellen, das im Widerspruch zur natürlichen Selektion zu stehen scheint: die prächtigen Schwanzfedern des Pfauenmännchens (Pavo cristatus). Mit seinem glänzenden tiefblauen Gefieder und dem kecken Krönchen auf dem Kopf scheint er alles daran zu setzen aufzufallen. Erst recht nicht zu übersehen ist er, wenn er sein Rad schlägt und seinen bunten Fächer mit Dutzenden irisierenden Augen aufschlägt. Welche Funktion kann ein so ausgeprägtes Körpermerkmal haben, das seinen Besitzer in seiner Bewegungsfreiheit einschränkt – Pfaue können besonders schlecht fliegen – und alle Blicke der Raubtiere auf sich lenkt (die Ursprungsheimat des Pfaus sind die Wälder Südasiens)? Wenn es nach der natürlichen Selektion ginge, müsste er wie die Hennen unauffällig und gut getarnt sein. Warum hat sich ein solches Merkmal entwickelt? Oder allgemeiner gefragt: Warum gibt es so große Unterschiede zwischen den Geschlechtern? Wettkampf der Männchen Bei vielen Tierarten unterscheiden sich Männchen und Weibchen in ihrem Erscheinungsbild. Man spricht in diesem Zusammenhang von „Geschlechtsdimorphismus“: Die Geschlechter haben verschiedene Formen. In seinem 1871 erschienenen Werk Die Abstammung des Menschen und die Auslese in bezug auf das Geschlecht unterschied Darwin zwischen primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen. Zu den primären Merkmalen zählte Darwin nicht nur die Geschlechtsorgane, sondern etwa auch den Beutel der Beutelsäuger und die Milchdrüsen der Säugetiere. Die primären Unterschiede zwischen den Geschlechtern haben alle unmittelbar mit der Fortpflanzung zu tun. Darwin interessierte sich jedoch mehr für die sekundären Geschlechtsmerkmale. Er vermutete, dass deren unterschiedliche Ausprägung bei Männchen und Weibchen indirekt zum Fortpflanzungserfolg beitragen. Dies gilt auch für das Geweih der Hirsche und für den Pfauenschwanz. Andere Beispiele sind die stark vergrößerte Schere der männlichen Winkerkrabben, der bizarre Oberkiefer des Hirschkäfers und das bunte Gefieder männlicher Paradiesvögel.
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Auch bei Primaten (Affen, Menschenaffen und Menschen) kommt Geschlechtsdimorphismus in Bezug auf die sekundären Merkmale häufig vor. Ein gutes Beispiel sind die dominanten Männchen der Mandrille, einer in Westafrika heimischen Pavianart. Ihre Gesichter leuchten in allen Farben des Regenbogens, während die Gesichter der Weibchen ganz unauffälig sind. Manchmal unterscheiden sich die Geschlechter nicht so sehr in der Färbung oder Gestalt, sondern in Größe und Gewicht. So ist bei den Gorillas der Alphamann, das „Silberrückenmännchen“, viel größer als die Weibchen und dreimal so schwer. Auch bei Meeressäugetieren wie dem Walross und der Elefantenrobbe erreicht das Weibchen nur die Hälfte der Länge, aber noch nicht einmal ein Drittel des Gewichts des Männchens. Geschlechtsdimorphismus kann sich auch im Verhalten der Tiere äußern, wie dem Gesang und der Balz vieler männlicher Vögel oder ihren (ritualisierten) Kämpfen. Auf dem Vogelzug fliegen die Männchen den Weibchen voraus oder bauen kunstvolle Nester usw. Diese sekundären Geschlechtsmerkmale haben, wie gesagt, keinen direkten Überlebenswert, schließlich kommen die Weibchen ohne sie auch ganz gut zurecht. Weshalb also haben sich diese auffälligen Unterschiede zwischen den Geschlechtern entwickelt? Im zweiten Teil der Abstammung des Menschen, der sich mit diesem rätselhaften Phänomen befasst, deutete Darwin die sekundären Geschlechtsmerkmale als Resultat einer gesonderten evolutionären Kraft neben der natürlichen Selektion: die sexuelle Selektion. Er verstand darunter „den Vorteil, den bestimmte Individuen gegenüber anderen des gleichen Geschlechts und der gleichen Spezies ausschließlich im Hinblick auf die Fortpflanzung besitzen“ (2. Teil, 8. Kapitel). Darwin stieß mit seiner Theorie der sexuellen Selektion auf wenig Verständnis, es sollte bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts dauern, bis man erkannte, dass er Recht hatte und seiner Zeit weit voraus gewesen war. Konkurrenz ist ein wichtiger Teil des Evolutionsprozesses. Dabei geht es nicht nur um Nahrung, Behausungen oder Reviere, sondern auch um die Mitglieder des anderen Geschlechts. Der Kampf zwischen Männchen um Paarungspartner ist die elementarste Form der sexuellen Selektion. Bei vielen Arten gelingt es nur wenigen Männchen, sich fortzupflanzen. Am heftigsten ist die Konkurrenz (male contest) bei den polygamen Arten, bei denen sich die Männchen mit möglichst vielen Weibchen zu paaren suchen, sie führt zu einem ausgeprägten Dimorphismus zwischen den Geschlechtern. Durch den Selektionsdruck wurden die Männchen nicht nur immer größer und schwerer, sondern entwickelten auch ein ganzes Arsenal an Waffen, von Geweihen und Hörnern bis zu Stoßzähnen und Scheren. Um auf das Beispiel des Hirsches zurückzukommen: Das größte Männchen mit dem imposantesten Geweih wird sich den größten Harem zulegen, alle Hirschkühe befruchten und seine vorteilhaften Eigenschaften an seine männlichen Nachkommen weitergeben. Allerdings dauert seine Dominanz in der Regel nur ein Jahr, das fortwährende Kopulieren und der Kampf mit seinen Rivalen schwächen ihn derart, dass er oft buchstäblich vor Erschöpfung stirbt. In evolu-
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tionärer Hinsicht war er jedoch ausgesprochen erfolgreich, seine Gene haben sich reichlich im Genpool ausgebreitet, und damit hat er seine Aufgabe erfüllt. Im nächsten Jahr wird wieder ein neuer Kampf um die Hirschkühe entbrennen und ein neuer Platzhirsch das Rudel anführen. Doch auch die Weibchen, die dem Treiben von der Seitenlinie aus zuschauen, kommen nicht zu kurz. Sie können jedes Jahr sicher sein, dass sie vom stärksten Männchen mit den besten Genen befruchtet werden. Bei monogamen Arten ist der Dimorphismus zwischen den Geschlechtern im Allgemeinen sehr viel geringer, da die Männchen weniger um die Gunst der Weibchen kämpfen müssen. Zu ihnen gehören viele Mitglieder der Krähenfamilie oder anderer Vogelarten wie der Albatross, aber auch den Menschen kann man zur monogamen Art zählen. Was Größe und Gewicht betrifft, unterscheiden sich daher Männer nicht sehr von Frauen. Doch wie wir noch sehen werden, spielt auch beim Menschen die sexuelle Selektion eine Rolle. Wahl der Weibchen Wir haben nun eine Erklärung dafür, dass bei vielen Tierarten die Männchen größer als die Weibchen und für den Wettkampf mit ihren Rivalen bestens gerüstet sind, doch das Rätsel des Pfauenrads ist damit noch nicht gelöst. Denn die Pfauenmännchen bekriegen einander kaum. Es muss noch etwas anderes eine Rolle spielen. Darwin führte als Erklärung eine zweite Form der sexuellen Selektion an: die Weibchenwahl (female choice). Das Weibchen wählt sich denjenigen zum Geschlechtspartner, der den größten Eindruck auf sie macht. Es findet zwar noch immer ein Wettbewerb zwischen den Männchen statt, aber er wird nicht mehr mit Waffen ausgetragen, sondern mit prächtigen Farben, spektakulären Balztänzen und süßem Gezwitscher. Es sind die Weibchen, die schließlich dem Schaulaufen ein Ende bereiten und sich für einen Partner entscheiden. Der weibliche Geschmack hat noch merkwürdigere und extremere Körper- und Verhaltensmerkmale hervorgebracht als die erste Form der sexuellen Selektion, denn die Eigenschaften der Männchen und die Vorlieben der Weibchen verstärken einander. Die Söhne erben die Merkmale des Vaters und die Töchter die Präferenz der Mutter. Auf diese Weise können die fantastischsten Ornamente entstehen, wie das Federkleid und der Schwanz des Pfauenmännchens. Was als bescheidener Modegag beginnt, kann durch den Selektionszyklus immer eigenwilligere Formen annehmen. Schon in den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts berechnete der Mathematiker und Genetiker R.A. Fisher, dass die geringfügige, zufällige Vergrößerung eines Merkmals wie die Länge der Schwanzfedern sich rasend schnell in einer Population ausbreiten kann. Die Eskalation wird erst dann gestoppt, wenn die Nachteile eines Ornaments die Vorteile überwiegen. Übrigens meinte Darwin, dass sich die Pfauenhenne von ästhetischen Erwägungen leiten lasse. In Die Abstammung des Menschen schreibt er (1. Teil, 2. Kapi-
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tel): „Wenn man sieht, wie männliche Vögel mit Vorbedacht ihr Gefieder und dessen prächtige Farben vor dem Weibchen entfalten [...] kann man unmöglich zweifeln, dass die Weibchen die Schönheit ihrer männlichen Genossen bewundern.“ Diese Sichtweise hat einiges für sich. Nicht nur Pfauen, sondern auch andere Vogelarten scheinen tatsächlich einen raffinierten Geschmack zu besitzen. Die männlichen Laubenvögel Australiens und Neuguineas können es, was das Aussehen betrifft, nicht mit dem Pfau aufnehmen, stattdessen fertigen sie Installationen, die den Kunstwerken eines Yves Klein in nichts nachstehen. Die Hennen begutachten die Kreationen wie wahre Kunstkenner. Moderne Biologen halten allerdings die Annahme eines Kunstsinns bei Tieren für wenig überzeugend. Die Pfauenhenne wählt den Hahn mit dem prächtigsten Gefieder und den meisten Augenflecken nicht wegen seiner Schönheit, sondern wegen seiner „guten“ Gene. Wer in der Lage ist, mit einer so lästigen Verzierung herumzustolzieren, wird gesund sein und nicht unter Parasiten leiden. Das Pfauenrad ist ein FitnessIndikator. Die Henne lässt sich also nicht von ästhetischen Überlegungen leiten, sondern von ihrem Instinkt. Auf den Zusammenhang zwischen Evolution und Ästhetik kommen wir im dreizehnten Kapitel ausführlicher zurück. Darwin war seiner Zeit voraus, doch in einem irrte er: Die sexuelle Selektion ist nicht, wie er meinte, eine gesonderte evolutionäre Kraft, sondern ein Spezialfall der natürlichen Selektion. Auch die Mitglieder derselben Art sind Teil der Lebenswelt einer Population. Es sind daher allmähliche Anpassungen an diese „Umwelt“ zu erwarten. Organismen passen sich im Lauf der Evolution nicht nur an das Gelände, das Klima, an ihre Beutetiere oder ihre Fressfeinde an, sondern auch an die männlichen und weiblichen Artgenossen. Wie verhält es sich nun mit dem Menschen? Hat die sexuelle Selektion auch bei seiner Entwicklung eine Rolle gespielt? Nature versus Nurture Die Frage, ob menschliches Verhalten und menschliche Psyche durch die Evolution geformt wurden, war lange Zeit sehr umstritten. Bis vor Kurzem war diese Annahme in den Sozialwissenschaften, wie der Psychologie, der Anthropologie und der Soziologie, mit einem regelrechten Tabu belegt. Nach gängiger Lehrmeinung wird der Mensch weitgehend durch Erziehung, soziales Milieu und Kultur geformt und spielen biologische und evolutionäre Einflüsse keine nennenswerte Rolle. Der moderne Mensch habe sich von seinen biologischen Wurzeln gelöst. Wir kommen als unbeschriebene Blätter zur Welt, auf denen dann Erziehung und Kultur ihre Spuren hinterlassen. Die These, auch biologische Faktoren könnten eine Rolle spielen, galt als Spiel mit dem Feuer und klang verdächtig nach einem biologischen Determinismus, demzufolge der Mensch gänzlich durch seine biologische Ausstattung bestimmt wird. Teilweise war diese Abwehrhaltung eine Reaktion auf die Verbrechen derer, die sich auf die Eugenik und die Rassentheorien des 20. Jahr-
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hunderts berufen hatten. Nach dem Zweiten Weltkrieg verfielen die Sozialwissenschaften daher in das andere Extrem und vertraten einen reinen Kulturdeterminismus: Menschliches Verhalten ist „formbar“ und die Gesellschaft ist „machbar“. Wenn wir unsere Kinder nur gut erziehen und ausbilden, kann die Gesellschaft im Prinzip jede gewünschte Form annehmen. Die Sozialwissenschaften versicherten sich so ihrer Autonomie, indem sie biologische Erklärungsmodelle für menschliches Verhalten von vornherein ausschlossen. Als daher der amerikanische Biologe Edward O. Wilson 1975 diese Sichtweise für zu eng befand und sich für das Studium des menschlichen Sozialverhaltens auf genetischer und evolutionsbiologischer Grundlage aussprach, war die Ablehnung einhellig. Für viele war Wilson ein Sexist und Rassist, der die Biologie missbrauchte, um die Ungleichheit zwischen den Menschen zu rechtfertigen. Sein Plädoyer für eine Soziobiologie, eine Synthese aus sozialer und biologischer Wissenschaft, fiel nicht auf fruchtbaren Boden. Erst in den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts kam es zu einem Umdenken, man sah ein, dass das „sozialwissenschaftliche Standardmodell“ einseitig die Umwelteinflüsse (Erziehung, Bildung) betonte. Beide Aspekte, die Erbanlagen und die Umwelt, müssen in die Erforschung menschlichen Verhaltens einbezogen werden. Natur und Kultur sind untrennbar miteinander verbunden. Im fünften Kapitel gehen wir ausführlicher auf die Erkenntnisse der Soziobiologie und der Evolutionspsychologie ein. An dieser Stelle lüften wir nur einen Zipfel des Schleiers und werfen einen Blick auf die Rolle, die die sexuelle Selektion für die Entwicklung des Menschen spielt. Steinzeitlicher Geist Die Menschen kann man, wie gesagt, zu den tendenziell monogamen Säugetieren zählen. Da es zwischen den Männern (zumindest im zivilisierten „Normalfall“) nicht zum offenen physischen Kampf um das Vorrecht kommt, möglichst viele Frauen zu befruchten, ist der Sexualdimorphismus beim Menschen relativ schwach ausgeprägt. Männer sind durchschnittlich höchstens dreißig Prozent schwerer und knapp zehn Prozent größer als Frauen. Wie die Pfauenhähne buhlen sie auf subtilere Weise um die Gunst der Frauen, und daher spielt die zweite Form der sexuellen Selektion, die Damenwahl, eine wichtige Rolle. Die sexuelle Selektion wirkt sich im Verhalten und in den Vorlieben von Männern und Frauen aus. Man muss dabei bedenken, dass die Entwicklung des Menschen sich zu mehr als neunzig Prozent auf der afrikanischen Savanne abspielte, als unsere Vorfahren noch Jäger und Sammler waren. Während dieser langen Periode wurden bestimmte reproduktive Strategien von der Evolution belohnt, während andere allmählich verschwanden. Dieses evolutionäre Erbteil tragen wir noch heute mit uns. Nach Ansicht der Evolutionsbiologen besitzen wir einen steinzeitlichen Geist. Es ist erst wenige Jahrtausende her, dass wir Städte bewohnen und in komplexen
STEINZEITLICHER GEIST
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Gesellschaften leben, und diese Zeitspanne ist viel zu kurz, als dass sich Verhalten, Emotionen und sexuelle Vorlieben in evolutionärer Hinsicht tief greifend verändern könnten. Mit unserem Kopf stecken wir noch in der Prähistorie. Dass wir heute Verhütungsmittel haben und Sexualität nur um ihrer selbst willen erleben können, ändert daran nicht viel. Angeborenes Verhalten und angeborene Präferenzen lassen sich nicht einfach ablegen. Männer und Frauen haben sehr unterschiedliche reproduktive Strategien und damit zusammenhängende Vorlieben. Sie sind zum Teil genetisch bedingt und haben nach Ansicht der Evolutionspsychologen auch zu mentalen Unterschieden zwischen den Geschlechtern geführt. Hinsichtlich der Partnerwahl gibt es stereotype, kulturübergreifende Vorlieben von Männern und Frauen. Männer präferieren junge, attraktive Frauen, während Frauen im Allgemeinen mehr Wert auf den sozialen Status und die Bereitschaft des Mannes legen, in die Beziehung zu investieren. Aus evolutionärer Sicht ist dies nicht schwer zu erklären. Von der Pubertät bis zur Menopause haben Frauen nur einen begrenzten Vorrat von drei- bis vierhundert Eizellen, während Männer bis ins hohe Alter aus dem Vollen schöpfen können. Eizellen sind zudem viel größer als Samenzellen, es erfordert mehr Energie, sie zu produzieren. Verglichen mit Spermien sind Eizellen also relativ selten und kostbar. Frauen können nur einmal im Jahr gebären, während Männer im Prinzip täglich mehrere Kinder zeugen können. Überdies wird bei Säugetieren wie dem Menschen der Embryo innerhalb des weiblichen Körpers getragen und sind die Neugeborenen noch geraume Zeit von der Muttermilch abhängig. Man kann somit von einer deutlichen Asymmetrie sprechen. Die Fortpflanzung ist für Frauen viel einschneidender als für Männer, sie investieren viel Zeit und Energie in ihre Nachkommen. Männer investieren wesentlich weniger, ihr Beitrag kann sich im Prinzip sogar auf den Koitus beschränken. Aufgrund dieser physiologischen Unterschiede lassen sich einige Voraussagen machen: Frauen sind in ihren sexuelle Beziehungen selektiver und vorsichtiger als Männer, da die Konsequenzen für sie viel einschneidender sind. Nach Ansicht von Evolutionspsychologen und Soziobiologen ist diese Einstellung nicht kulturell bedingt, sondern angeboren. Generell gilt die Regel: Das Geschlecht, das am meisten investiert, ist auch am wählerischsten. Wenn wie bei den Seepferdchen und einigen Froscharten das Männchen die Brutpflege übernimmt, ist es auch wählerischer bei der Wahl seines Sexualpartners. Diese Erkenntnisse verdanken wir dem amerikanischen Soziobiologen Robert Trivers, der die Auswirkung der sexuellen Selektion auf die Partnerwahl und das „elterliche Investment“ mit mathematischer Genauigkeit darzulegen suchte. Fortpflanzung ist in gewisser Hinsicht eine Transaktion, die sowohl für den Mann wie die Frau mit Gewinn und Verlust verbunden ist. Unter evolutionärem Aspekt besteht ein Konflikt zwischen den Geschlechtern bezüglich des Elternaufwands. Da sich beide mit möglichst geringen Kosten fortpflanzen wollen,
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befinden sie sich in einem Dilemma. Welche Strategie sollen sie anwenden? Die Antwort fällt für Männer und Frauen unterschiedlich aus. Bei Säugetieren wie dem Menschen investiert die Frau aus nahe liegenden Gründen immer mehr als der Mann. Die Kinder werden relativ früh geboren und sind extrem lange abhängig. Entwicklungsgeschichtlich ist dies unter anderem darauf zurückzuführen, dass das Hirnvolumen unserer Vorfahren explosiv zunahm, von 500 Kubikzentimetern bei den ersten Hominiden bis 1500 beim modernen Menschen. Da der Geburtskanal der Frau nicht entsprechend mitwachsen konnte, kamen Kinder immer früher zur Welt. Mit der Zunahme der Gehirngröße ging auch ein immer längerer Lernprozess einher. Für Frauen galt es daher, einen zuverlässigen Partner zu finden, der für sicheres Unterkommen und für ständige Nahrung sorgen konnte. Diese Präferenz führte zu einem Selektionsdruck auf Männer, die bereit waren, einen Teil des elterlichen Investments auf sich zu nehmen. Für sie zahlte es sich aus, denn sie hatten bessere Chancen sich fortzupflanzen als ihre flatterhafteren Geschlechtsgenossen. Im Unterschied zu anderen Primaten sehen wir beim Menschen denn auch einen großen Beitrag des Mannes bei der Aufzucht der Nachkommen. Entgegen der landläufigen Meinung sind Männer also nicht genetisch programmiert, sich mit möglichst vielen Frauen zu paaren. Männer sind im Allgemeinen gute Väter, die viel für ihre Kinder übrighaben, was man von männlichen Schimpansen und Bonobos nicht behaupten kann. Beim Menschen ist die hohe Investition des Mannes das Resultat der sexuellen Selektion, der weiblichen Präferenz. Frauen sind nicht nur an seinem genetischen Beitrag interessiert, sondern auch an seiner zukünftigen Unterstützung beim Aufziehen der Kinder. Die hohe Investition des Mannes bringt es mit sich, dass sich die sexuelle Selektion in zwei Richtungen auswirkt: Männer konkurrieren untereinander um die seltenen weiblichen Eizellen, und Frauen untereinander um die seltenen Männer, die bereit sind, Ressourcen in die Kinder zu investieren. Beim Menschen besteht daher sowohl Wettbewerb zwischen Männern wie zwischen Frauen. Bestätigt werden diese Mutmaßungen über die Auswirkung der sexuellen Selektion, wie bereits erwähnt, durch empirische Untersuchungen. So scheinen Frauen in verschiedenen Kulturen im Allgemeinen mehr Wert auf den gesellschaftlichen Status ihres Partners und seine Bereitschaft zur Investition zu legen als auf seine Attraktivität oder Jugendlichkeit. Bei Männern verhält es sich genau umgekehrt, sie bevorzugen jüngere Frauen mit vielversprechenden Rundungen, eine Vorliebe, die aus evolutionärer Sicht verständlich ist, denn junge Frauen sind mit ziemlicher Sicherheit fruchtbar. Der Status einer Frau gilt als weniger wichtig. Eine männliche Vorliebe für ältere Frauen wäre unter evolutionärem Gesichtspunkt eine Sackgasse, während für Frauen das Alter des Partners keine so große Rolle zu spielen braucht, da Männer sehr viel länger zeugungsfähig sind. Neuere Untersuchungen weisen allerdings darauf hin, dass die Partnerpräferenz von Frauen vielleicht doch etwas komplizierter ist. Sie scheint sich nämlich
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während des Zyklus zu ändern. Außerhalb der fruchtbaren Perioden bevorzugen Frauen sanftmütige männliche Partner, die viel in eine Beziehung investieren, doch in der Zeit des Eisprungs empfinden sie den Macho mit breiten Schultern und kräftigem Kinn als anziehender. Eine clevere Frau profitiert so vom Besten aus zwei Welten. Für die „guten Gene“ wählt sie den attraktiven Macho und lässt den Softie für die Kinder aufkommen. Diese Taktik verfolgen auch die Weibchen anderer Tierarten, etwa Meisen. Auch dem Mann stehen übrigens mehrere Möglichkeiten offen. Wenn er schlau ist, wird er sich als Typ ausgeben, auf den man bauen kann, und sich nach der Kopulation aus dem Staub machen. Es gibt genügend Männer, die mit mehreren Frauen Kinder gezeugt haben und andere Männer dafür aufkommen lassen. Nach vorsichtigen Schätzungen sind zehn Prozent der Väter zu Unrecht davon überzeugt, sie zögen ihren eigenen Nachwuchs auf. Nach Ansicht mancher Soziobiologen hat im Verlauf der menschlichen Evolution ein evolutionäres „Wettrüsten“ zwischen Mann und Frau stattgefunden. Männer verstanden sich immer besser darauf, Frauen vorzuspiegeln, sie seien rechtschaffene Gesellen, während Frauen immer gewiefter wurden im Entlarven dieser Betrüger. So ergibt sich die paradoxale Situation, dass von Untreue also nur bei Lebensgemeinschaften die Rede sein kann, bei denen sich beide Partner um den Nachwuchs kümmern. Bei Männchen anderer Arten, die wenig in die Nachkommen investieren, hat sie im Grunde keinerlei Bedeutung. Sexuelle Selektion, Ehebruch und Emotionen Sexuelle Selektion hat beim Menschen auch zu physiologischen Anpassungen geführt. Um sich einer dauerhaften emotionalen Bindung zu vergewissern, sind Frauen ständig sexuell anziehend für ihre männlichen Partner geworden. Bei den übrigen Primaten sind die Weibchen nur während einer kurzen Periode sexuell begehrenswert. In der fruchtbaren Periode schwillt ihr Gesäß beispielsweise an und leuchtet grell rot. Es signalisiert den männlichen Schimpansen, Bonobos und Pavianen ihre Paarungsbereitschaft. Bei den Menschen ist die weibliche Ovulation verborgen, die sexuelle Aktivität ist nicht auf eine kurze Zeit begrenzt. So soll verhindert werden, dass Männer sich anderen Frauen zuwenden. Der Mann hat verglichen mit anderen Primaten nach dem Gorilla den kleinsten Spermienvorrat. Das relativ geringe Samenreservoir scheint auf eine monogame Lebensweise abgestimmt, zu der regelmäßiges Kopulieren gehört. Bei den polygamen Menschenaffen reagieren die Weibchen nur während der Brunst, dem sogenannten Östrus, auf die sexuelle Annäherung der Männchen. Da die Männchen sich dann oft mehrere Male mit verschiedenen Weibchen paaren, entsteht eine Spermienkonkurrenz: Das Männchen mit dem größten Vorrat hat gegenüber seinen Nebenbuhlern einen Vorteil. Es ergibt sich eine Art Selektionsdruck zugunsten eines größeren Ejakulats. Die Hoden von Schimpansen und Bonobos
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sind denn auch viel größer als die der männlichen Vertreter der Gattung Homo sapiens. Bei den Menschen haben Frauen noch ein weiteres auffälliges Merkmal, nämlich permanente Brüste. Während bei den Weibchen der übrigen Primaten die Brüste nur zur Laktationszeit anschwellen, verdanken sich die weiblichen Brüste beim Menschen nicht der Aktivität von Milchdrüsen, sondern der Ablagerung von Fett- und Bindegewebe. Sie signalisieren wiederum dauernde Fruchtbarkeit. Permanente Brüste könnten darüber hinaus ein schlauer Trick sein, eine Schwangerschaft zu verbergen. Wüsste ein Mann, dass eine Frau schwanger ist, könnte er sein Interesse an ihr verlieren. In seinem etwas überholten Buch Der nackte Affe wagte sich der englische Zoologe Desmond Morris 1967 an eine andere Erklärung: Als der Mensch im Lauf seiner Evolution aufrecht zu gehen begann, wurde der bei Primaten übliche Coitus a tergo während der Paarung allmählich durch die Missionarsstellung verdrängt, bei der die Partner einander das Gesicht zuwenden. Und da nun das in der Affenwelt als starkes sexuelles Signal empfundene hochgereckte Hinterteil nicht mehr sichtbar war, entwickelten sich sozusagen als Ersatz dafür die vorgewölbten Brüste! Die unterschiedlichen Fortpflanzungsstrategien bei Männern und Frauen haben nach Ansicht der Evolutionspsychologen auch zu mentalen Unterschieden geführt. Männer und Frauen haben nicht die gleichen Emotionen, vor allem was Liebe und Sexualität betrifft. Nehmen wir zum Beispiel die Eifersucht. Männer und Frauen werden aus unterschiedlichen Gründen eifersüchtig, da sie verschiedene Interessen verfolgen. Die natürliche Angst des Mannes ist es, dass er nicht in den eigenen Nachwuchs investiert, sondern in den eines Anderen, dass er es mit einem Kuckuckskind zu tun hat. (In mehreren europäischen Sprachen hat der Kuckuck mit seinem parasitären Brutverhalten seinen Namen dem betrogenen Ehemann gegeben. Im Englischen etwa heißt ein solcher cuckold.) Die Schreckensvision des Mannes ist, seine Partnerin könnte heimlich mit einem anderen Mann Sex haben und infolgedessen würde er unfreiwillig in fremde Gene investieren. Die Schreckensvision der Frau dagegen ist, der Partner könnte sich emotional an eine andere Frau binden und der versprochenen Investition nicht mehr nachkommen. Er reagiert heftig auf Anzeichen sexueller Untreue, sie auf Anzeichen emotionaler Untreue. In verschiedenen Kulturen scheinen Frauen bereit, den Männern ihre sexuellen Eskapaden zu verzeihen, solange sie nur weiter für die Familie sorgen und die emotionale Bindung intakt bleibt. Solange der Mann nicht mit seiner – oft jüngeren – Geliebten durchbrennt, drückt die Frau schon mal ein Auge zu. Der Ehebruch der Frau hingegen gilt in allen Kulturen als verwerflich, da er die evolutionäre Aufgabe des Mannes sabotiert, seine Gene zu verbreiten. Eine Frau weiß zumindest, dass jedes Kind, das sie zur Welt bringt, immer fünfzig Prozent ihrer Gene besitzt.
SEXUELLE SELEKTION UND KULTUR
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Sexuelle Selektion und Kultur Die amerikanische Musikzeitschrift Rolling Stone veröffentlichte vor einiger Zeit eine Liste der hundert besten Rockgitarristen aller Zeiten. Nach Ansicht ihrer Leser führte Jimi Hendrix die Top 100 an, zu denen bemerkenswerterweise nur zwei Frauen gehörten, nämlich Joni Mitchell (72) und Joan Jett (87). Zwei Frauen unter achtundneunzig Männern – ein recht großes Ungleichgewicht. Ähnlich, wenn auch weniger extrem, verhält es sich in der klassischen Musik und im Jazz. Frauen tragen ihren Teil bei, doch selten in vorderster Linie (von Sängerinnen einmal abgesehen). Große Komponisten, Künstler und Wissenschaftler sind fast alle männlich. Zum Teil ist dieses Phänomen sicher kulturell bedingt. Frauen werden weniger ermutigt, sich auf diesen Gebieten auszuzeichnen als Männer oder bekommen einfach nicht die Gelegenheit, sich zu beweisen. Dies trifft auf jeden Fall auf die Vergangenheit zu. Doch diese kulturelle Erklärung bedarf einer Ergänzung. Männer scheinen sich nämlich im Allgemeinen mehr ins Zeug zu legen, sie sind ehrgeiziger und geltungssüchtiger, sie wollen Karriere machen und mit ihrem Status angeben, so wie der Pfau mit seinen Schwanzfedern. Sie stellen ihre Potenz zur Schau, indem sie teure Autos fahren und sich mit Reichtum umgeben. Männer sind wie besessen von ihrer gesellschaftlichen Stellung, denn Ansehen, Reichtum und Macht gelten in allen Kulturen als erstrebenswert. Nach Ansicht des amerikanischen Evolutionspsychologen Geoffrey Miller ist diese „Prunksucht“ des Mannes das Resultat der sexuellen Selektion. Sie brachte keine physiologischen Ornamente wie die Pfauenschleppe oder den Gesang der Amsel hervor, sondern zerebrale Ornamente wie Kunst, Technik und Wissenschaft. Männer versuchen, einander und dem anderen Geschlecht mit ihren Leistungen und ihrer Kenntnis zu imponieren. Kunst und Kultur sind Miller zufolge ein sexuelles Lockmittel. Unser großes Gehirn und seine damit zusammenhängenden Fähigkeiten verdanken wir der sexuellen Selektion. Millers Hypothese ist gewagt, aber interessant. Nach der gängigen Auffassung war die natürliche Selektion für die explosive Zunahme der Gehirngröße verantwortlich. Als unsere Vorfahren aufrecht zu gehen, Steinwerkzeuge herzustellen und zu sprechen begannen, begünstigte ein starker Selektionsdruck das Wachstum des Gehirns. Das Problem bei dieser Theorie ist allerdings, dass niemand genau sagen kann, was diesen Prozess in Gang gesetzt hat. Denn man kann sich hinsichtlich des menschlichen Gehirns die gleiche Frage stellen wie bei den Schwanzfedern des Pfaus: Welchen Nutzen hat ein so merkwürdiges Ornament? Denn viele Millionen Jahre kamen unsere Vorfahren auch ohne ein überdimensioniertes Gehirn ganz gut zurecht, so wie unsere nächsten Verwandten, die Menschenaffen. Die Erklärung, natürliche Selektion sei für die Zunahme des Gehirnvolumens beim Menschen verantwortlich, ist also zumindest ergänzungsbedürftig. Millers alternative Theorie vermeidet diese Schwierigkeit, da sexuelle Selektion und besonders die weibliche Präferenz, wie wir sahen, die Evolution auf die
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SEXUELLE SELEKTION
Spitze treiben kann. Ein zufällig entstandenes, unscheinbares Merkmal kann sich immer mehr vergrößern. Dies ist nach Ansicht Millers auch mit dem Gehirn passiert. Weibliche Exemplare unserer Vorfahren bevorzugten diejenigen Partner, die sich durch Intelligenz und Kreativität auszeichneten. Wie die Pfauenfedern wurde ein kreativer Geist ein Indikator für gute Gene. Durch die weibliche Präferenz beschleunigte sich diese Entwicklung, und sie ist auch heute noch nicht abgeschlossen. Millers Hypothese wird von der Hirnforschung gestützt. Im Unterschied zu den anderen Primaten ist beim Menschen das Großhirn in zwei Hälften unterteilt, die unterschiedliche Funktionen haben. Die linke Gehirnhälfte hat unter anderem verbale Aufgaben, die rechte die der räumlichen Orientierung. Die Trennung der beiden Hemisphären ist am auffälligsten beim Mann. Dies erklärt vielleicht auch, warum Männer in vieler Hinsicht brillieren, aber auch, warum bestimmte psychische Erkrankungen, wie Schizophrenie, bei ihnen viel häufiger vorkommen als bei Frauen. Die Erforschung der möglichen Auswirkungen der sexuellen Selektion steckt noch in den Kinderschuhen. Einiges weist jedoch darauf hin, dass die sexuelle Selektion womöglich die Physiologie, das Verhalten und die Psyche von Mann und Frau geformt hat. Im nächsten Kapitel werden wir sehen, dass sie auch bei einem der wichtigsten evolutionären Ereignisse eine Rolle spielte, bei der Entstehung neuer Arten.
3 Artbildung Mysterium der Mysterien Wie wir im ersten Kapitel sahen, wurde das Rätsel des Artenwandels von Darwin und Wallace bearbeitet. Pflanzen- und Tierarten bestehen aus Populationen von Organismen. In einer Population herrscht fast immer eine Variationsbreite, das heißt, die Individuen unterscheiden sich voneinander, und diese Unterschiede sind oft erblich. Vorteilhafte Variationen werden durch die natürliche Selektion „belohnt“ und nachteilige „bestraft“. Der Prozess ist demzufolge kumulativ: Eigenschaften und Merkmale, die Überlebensvorteile verschaffen, werden über viele Generationen weiterentwickelt und verfeinert, nachteilige Eigenschaften und Merkmale werden allmählich aussortiert. Hierdurch verändert sich der Genbestand der Population. Unter dem Selektionsdruck entwickelt sie sich in eine bestimmte Richtung, wodurch die Individuen angeblich besser an eine (sich verändernde) Umgebung angepasst sind. Als Beispiel könnte man wieder die Birkenspanner aus dem vorigen Kapitel anführen. Arten können sich also langsam verändern. Doch wie und wann entsteht eine neue Art? Und welcher Mechanismus ermöglicht die Artbildung? Lange Zeit war dies ein großes Rätsel. 1836 nannte der britische Physiker und Philosoph John Herschel die Entstehung neuer Pflanzen- und Tierarten das „Mysterium der Mysterien“. Er hatte sich offenbar also schon vor Darwin von der Idee abgewandt, Arten seien unveränderlich. Doch noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts herrschte allgemein die Auffassung, Gott habe die Pflanzen und Tiere auf der Erde geschaffen, und die Arten seien seit diesem Schöpfungsakt konstant und unverändert geblieben. Die Individuen einer Art können sich zwar voneinander unterscheiden, doch Gattungen und Arten sind von Gott geschaffene Einheiten mit bestimmten unveränderlichen Wesensmerkmalen, die auch jedem einzelnen Organismus der betreffenden Art eigen sind. Zweifel an dieser Vorstellung begannen sich erst zu regen, als immer mehr Fossilien von Pflanzen und Tieren zutage kamen, die völlig anders waren als diejenigen, die die Erde bevölkerten. Offenbar hatte es einmal Lebewesen gegeben, die nun ausgestorben waren. Manche Naturforscher erklärten dies mit katastrophalen Ereignissen wie der Sintflut – die vor einigen Jahrtausenden stattgefunden habe –, doch dem widersprach eben, dass die Versteinerungen viele Millionen Jahre alt waren. Man möchte meinen, dass Darwin dieser ganzen Verwirrung ein Ende bereitete. Doch obwohl schon der Titel seines Hauptwerks versprach, die Entstehung
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ARTBILDUNG
der Arten zu erklären, gelang ihm dies gerade nicht. Er beschrieb zwar ausführlich den Prozess des Artenwandels durch natürliche Selektion (phyletische Evolution), doch auf die Frage, wie und warum eine neue Art entsteht, musste er die Antwort schuldig bleiben. Darwins Vermutung, auf den Galapagos-Inseln hätten sich durch geographische Trennung neue Finkenarten entwickelt, war richtig, doch er verfügte noch nicht über die modernen genetischen Methoden, mit denen man eine solche Verbreitungsgeschichte untersuchen kann. Erst mit der Populationsgenetik und der Synthese der Evolutionsforschung in den Dreißiger- und Vierzigerjahren des vorigen Jahrhunderts konnte diese Frage geklärt werden. Primär verantwortlich für Artbildung oder Speziation (vom lateinischen Wort species = Art) ist demnach die reproduktive Isolation, wodurch Populationen sich unabhängig voneinander weiterentwickeln. Die Unterschiede können zu einem bestimmten Zeitpunkt so groß werden, dass man von zwei verschiedenen Arten sprechen kann. Bevor wir näher auf die Einzelheiten der Artbildung eingehen, müssen wir uns jedoch erst die Frage stellen, was eine Art eigentlich ist oder allgemeiner, wie die Natur geordnet ist. Sobald man sich nämlich mit Biologie und Evolution beschäftigt, stellt sich die grundsätzliche Frage, wie man die Natur einteilen soll. Was gehört zusammen und was nicht? Mit der Klassifizierung der Lebewesen beschäftigt sich die Taxonomie (griechisch taxis = Ordnung) oder die biologische Systematik. Die Tiere des Kaisers In einem kurzen Essay aus dem Jahr 1952 erwähnt der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges eine taxonomische Ordnung, die er einer alten chinesischen Enzyklopädie mit dem Titel Himmlischer Warenschatz wohltätiger Erkenntnisse zuschreibt: Auf ihren weit zurückliegenden Blättern steht geschrieben, dass die Tiere sich wie folgt gruppieren: (a) Tiere, die dem Kaiser gehören, (b) einbalsamierte Tiere, (c) gezähmte, (d) Milchschweine, (e) Sirenen, (f) Fabeltiere, (g) streunende Hunde, (h) die in diese Einteilung aufgenommene, (i) die sich wie toll gebärden, (j) die unzählbar sind, (k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, (l) und so weiter, (m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, (n) die von weitem wie Fliegen aussehen.
Mit seinem bekannten Sinn für das Absurde trifft Borges hier dennoch einen wichtigen Punkt. Die Ordnung und Struktur der Welt hängt zum großen Teil von unseren Konzepten und Kategorien ab. Wir ordnen die Dinge mittels der Sprache, und die Sprache lässt uns einen weiten Spielraum. Die Cheyenne-Indianer Nordamerikas zum Beispiel kennen den Gattungsbegriff vovetas, der Verschiedenes bedeuten kann: Geier oder ganz allgemein Raubvogel, aber auch Libelle, und sogar Tornado oder Wirbelwind. Was verbindet diese so verschiedenen Entitäten? Geier, Libellen und Tornados gehören für die Cheyenne zusammen,
DIE TIERE DES KAISERS
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weil sie sich wie Spiralen in der Luft fortbewegen. Die Cheyenne ordnen die Dinge in der Welt also aufgrund ihrer Fortbewegungsweise. Theoretisch sind unendlich viele Klassifikationen möglich. Man kann Tiere zum Beispiel nur in zwei Gruppen einteilen, in solche, die fliegen und in solche, die nicht fliegen. Zur ersten Gruppe gehörten dann Krähen, Fledermäuse oder Wespen, zur zweiten Schildkröten, Elefanten und Regenwürmer. Man könnte sie auch nach Farbe, Größe oder Kuschelfaktor ordnen. Eine solche Einteilung ist natürlich sehr beliebig und subjektiv. Eine Klassifizierung der Lebewesen müsste zumindest ihr Verwandtschaftsverhältnis berücksichtigen. Aber auch das ist nicht ganz unproblematisch. Manche Lebewesen, die sich sehr ähneln, haben nichts miteinander gemeinsam. So bestehen zwischen dem Wolf und dem im 20. Jahrhundert ausgestorbenen Beutelwolf Tasmaniens verblüffende Übereinstimmungen, obwohl sich ihre Entwicklungslinien schon vor mehr als hundert Millionen Jahren getrennt haben. Der Wolf ist ein Plazenta-Säugetier, während der Beutelwolf zu den Marsupialia gehört. Andererseits können zwei im Aussehen sehr unterschiedliche Lebewesen – zum Beispiel Dänische Dogge und Dackel – zur selben Art gehören, nämlich zu Canis familiaris, das heißt, sie können sich kreuzen und – mit einer gewissen Akrobatik – gesunde und fruchtbare Nachkommen hervorbringen. Kurzum, die Klassifizierung der Lebewesen ist nicht so einfach, wie sie auf den ersten Blick scheinen mag. Heute lässt sich mithilfe molekularbiologischer Analysen die Verwandtschaft der Organismen leichter klären. Doch das heißt nicht, dass die Taxonomie eine moderne Forschungsdisziplin ist. Im Gegenteil, das Studium der Ordnung der Natur geht mindestens bis auf Aristoteles zurück, der die ihm bekannten Tierarten nach morphologischen und anatomischen Merkmalen ordnete. Der griechische Philosoph war sich bewusst, dass jede Systematisierung bestimmte Kriterien voraussetzt. So unterschied er etwa zwischen eierlegenden und lebendgebärenden Arten, was ihn zu der richtigen Erkenntnis führte, dass Delfine nicht zu den Fischen gehören. Doch die wichtigsten Fortschritte auf dem Gebiet der Taxonomie sollten noch zweitausend Jahre auf sich warten lassen. Erst im 18. Jahrhundert machte die biologische Systematik einen großen Schritt vorwärts. Der schwedische Naturforscher Carl von Linné brachte Ordnung in das Chaos, indem er zuallererst eine hierarchische Gliederung aufstellte. Er führte konsequent die binominale (zweinamige) lateinische Bezeichnung durch, die auch heute noch gebräuchlich ist. Jedem Lebewesen wird ein Gattungsname, zum Beispiel Homo, und ein Artname zugewiesen, zum Beispiel sapiens. Organismen, die zur selben Gattung bzw. zum selben Geschlecht (Genus) gehören, haben den selben generischen Namen. (Beide Namen werden kursiv geschrieben, der Gattungsname groß, der Artname klein.) Die Gattung Homo umfasst etwa neben Homo sapiens die Arten H. erectus und H. habilis (wenn die Bezeichnung eindeutig ist, kann der Gattungsname auch abgekürzt werden).
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ARTBILDUNG
Mensch
Taufliege
Eiche
Animalia
Animalia
Plantae
Stamm
Wirbeltiere
Gliederfüßer
Gefäßpflanzen
Klasse
Säugetiere
Insekten
Bedecktsamer
Ordnung
Primaten
Zweiflügler
Buchenartige
Familie
Hominidae
Drosophilidae
Fagaceae
Gattung
Homo
Drosophila
Quercus
Art
sapiens
melanogaster
robur
Reich
Abb. 3.1: Die Taxonomie des Menschen, der Taufliege und der Eiche
Linné kannte außer der Art und der Gattung noch weitere übergeordnete Kategorien im hierachischen System wie Ordnung, Klasse und Reich. Arten sind einer Gattung untergeordnet, Gattungen einer Ordnung, Ordnungen einer Klasse und Klassen schließlich einem Reich. Linné unterschied wie schon Aristoteles nur zwischen zwei Reichen, nämlich Pflanzen (Plantae) und Tieren (Animalia). Spätere Forscher, wie der deutsche Biologe Ernst Haeckel, fügten im Laufe der Zeit noch drei weitere hinzu: Fungi (Schimmelpilze, Hefen, Pilze), Protista (einzellige Eukaryoten) und Monera (Prokaryoten). Die beiden letzten Kategorien stammen aus dem 20. Jahrhundert, als man entdeckte, dass es einen fundamentalen Unterschied gibt zwischen einzelligen Organismen mit Zellkern (Nukleus) oder Eukaryoten (griechisch eu = gut; karyon = Kern) und solchen ohne Zellkern oder Prokaryoten („vor dem Kern“). Zu den Prokaryoten gehören unter anderem die Bakterien und die Cyanobakterien (Blaualgen), die frühesten Lebensformen auf der Erde. In Linnés Hierarchie gibt es noch weitere Kategorien, etwa Familie und Stamm. Demzufolge kann jedes Reich in verschiedene Stämme, Klassen, Ordnungen, Familien, Gattungen und Arten unterteilt werden. Abbildung 3.1 zeigt als Beispiel die Taxonomie dreier Arten. Die hierarchische Klassifizierung der Lebewesen, die Linné einführte und die in den vergangenen zweihundert Jahren verfeinert wurde, ist noch heute international gebräuchlich. Und noch immer finden interessante Entwicklungen statt. So wurde dem „Reich“ eine weitere Rangstufe vorangestellt, die man als Domäne bezeichnet. Nach Auffassung mancher Biologen kann man alle Lebewesen drei Domänen zuordnen: Archeabacteria („alte“ prokaryotische Bakterien), Eubacteria („moderne“ prokaryotische Bakterien) und die Eukaryota (alle eukaryotischen Organismen, das heißt Schleimpilze, Pilze, Pflanzen und Tiere, einschließlich des Menschen). Diese neue Einteilung beruht zum großen Teil auf molekularbiologischen Untersuchungen. Auf der Ebene der Zelle sind nämlich
DAS BIOLOGISCHE ARTKONZEPT
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die Unterschiede zwischen den Archeabacteria und den Eubacteria größer als zwischen diesen beiden und den Eukaryota. Das biologische Artkonzept Nicht nur für die Biologie überhaupt, sondern auch für die Taxonomie war die Darwin’sche Theorie von großer Bedeutung, sie stellte das von Linné entwickelte hierarchische Ordnungssystem in einen evolutionären Zusammenhang. Die Verwandtschaft zwischen Organismen beruht auf der Abstammung. Alle Lebewesen sind im Grunde miteinander verwandt. Menschen, Taufliegen und Eichen haben gemeinsame Vorfahren. Geht man in der Zeit nur weit genug zurück, so kommen die verschiedenen Entwicklungslinien wieder zusammen. Den Grad der Verwandtschaft bestimmt die verstrichene Zeit und die Zahl der Verzweigungen, die stattgefunden haben. Zugleich brachte Darwins Entdeckung es mit sich, dass die Scala naturae, die hierarchische Schöpfung, einen dynamischen Charakter erhielt. Arten sind nicht ewig und unveränderlich, sondern vergänglich und wandelbar. Statt nach der Essenz, der allgemeinen Form einer Art zu suchen, müssen wir die Dynamik von Populationen studieren. Diese bestimmt letztlich auch, welchen Weg eine Art einschlagen kann, und damit kehren wir wieder zur Anfangsfrage zurück: Wie entstehen neue Arten? Die heutige Auffassung über die Artbildung geht hauptsächlich auf den deutsch-amerikanischen Biologen und Ornithologen Ernst Mayr zurück, einen der Architekten der Synthetischen Evolutionstheorie. Mayr, der am 3. Februar 2005 im Alter von hundert Jahren starb, war viele Jahrzehnte Professor für Zoologie an der Harvard University. Auch nach seiner Emeritierung fuhr Mayr noch täglich zu seiner ehemaligen Wirkungsstätte, wo er ein Arbeitszimmer hatte. Als er neunundneunzig wurde, fand seine Familie, es sei genug und nahm ihm den Autoschlüssel ab. Ein Jahr später war er tot. Von Mayr stammt das sogenannte Biologische Artkonzept (Biological Species Concept oder BSC), das definiert, was eine Art ist: Eine Art ist eine Gruppe natürlicher Populationen, die sich untereinander kreuzen können und von anderen derartigen Gruppen reproduktiv isoliert sind.
Mit „sich kreuzenden Populationen“ meint Mayr, dass die Individuen, aus denen eine Art besteht, untereinander Gene austauschen können, tatsächlich oder potenziell. Es muss theoretisch ein Genfluss zwischen den Populationen stattfinden können. Individuen, die zur selben Art gehören, können unter natürlichen Bedingungen fruchtbare Nachkommen hervorbringen, Individuen, die zu verschiedenen Arten gehören, können dies nicht. Wenn der Genfluss unterbrochen wird, entwickeln sich die Populationen unabhängig voneinander weiter, und auf diese Weise kann eine neue Art entstehen. Mayr zufolge ist die reproduktive Isolation der Motor der Artbildung.
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Die Individuen einer Art verbindet zwar ein gemeinsamer Genbestand (Genpool), doch sie sind nicht alle gleich. Innerhalb jeder Art ist die Variation an Merkmalen und Eigenschaften groß, sie sorgt für eine morphologische Differenzierung zwischen Populationen. Man spricht dann von Unterarten oder Rassen. Die menschliche Spezies etwa, Homo sapiens, könnte man in Europide, Negride, Mongolide und Australide unterteilen. Es handelt sich jedoch um ein und dieselbe Art, da die Teilpopulationen (potenziell) ihre Gene austauschen können. Die Unterschiede zwischen den Unterarten des Menschen hängen zum Teil mit dem großen geographischen Verbreitungsgebiet zusammen. Menschen, die in der Nähe des Äquators leben, haben in der Regel ein anderes Aussehen als diejenigen in nördlicheren Gefilden. Am auffälligsten ist die unterschiedliche Hautfarbe: je intensiver die Sonneneinstrahlung, desto dunkler. Doch auch im Körperbau sind Unterschiede feststellbar. In der Evolutionsbiologie spricht man etwa von der Bergmann’schen Regel: Bei warmblütigen Wirbeltieren (und also auch beim Menschen) sind die Individuen einer Art in kühleren Gebieten durchschnittlich größer als die in wärmeren Lebensräumen. Ein größeres Körpervolumen hält die Wärme besser fest. Hiermit im Zusammenhang steht auch die Allen’sche Regel, nach der exponierte Körperteile wie Ohren oder Schwanz bei Säugetieren kalter Zonen kleiner sind als bei ihren Artverwandten in warmen Gebieten. In einem kalten Klima würden lange Ohren oder ein langer Schwanz leichter erfrieren. Übrigens ist die genetische Variabilität des modernen Menschen verglichen mit unseren Verwandten, den Menschenaffen, erstaunlich gering. Die Unterschiede in Hautfarbe oder Körperbau sind nur oberflächlich und erst vor relativ kurzer Zeit entstanden. Wie lässt sich erklären, dass das Erbmaterial des Menschen eine so hohe genetische Homogenität aufweist? Es wurde in den letzten Jahren viel darüber spekuliert, und eine mögliche Erklärung wäre, dass unsere Art durch einen genetischen Flaschenhals (bottleneck) gedrückt wurde. Vor etwa hunderttausend Jahren hat demnach eine Katastrophe unsere Vorfahren drastisch dezimiert. Nach Schätzungen, die von der heutigen Verteilung der unterschiedlichen Genvarianten ausgehen, bestand die menschliche Spezies auf dem Höhepunkt der Krise (vor etwa achtzigtausend Jahren) aus nicht viel mehr als einigen tausend Individuen. Die Bevölkerung eines Dorfs! Es hätte nicht viel gefehlt, und wir wären gänzlich vom Erdboden verschwunden. Jedenfalls hat die Menschheit dadurch viel von ihrer ursprünglichen genetischen Vielfalt verloren: Wir stammen alle von einer kleinen Gruppe Überlebender ab. Die Ursache für die Dezimierung wird kontrovers diskutiert. Vielleicht war es eine Pandemie oder die Super-Eruption eines Vulkans im indonesischen Archipel mit weltweit verheerenden Folgen, für die es in diesem Zeitraum Hinweise gibt. Das Letztere würde allerdings nicht erklären, warum andere Arten, wie die Menschenaffen, offenbar nicht betroffen waren, da ihre genetische Vielfalt viel größer als die des Menschen ist.
EIN ARTENSCHWARM IM VIKTORIASEE
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Wie dem auch sei, im Lauf der Evolution können Teilpopulationen und Rassen aus verschiedenen Gründen isoliert werden, wodurch der Genfluss mit der Stammpopulation vermindert oder ganz unterbrochen wird. Eine dieser reproduktiven Barrieren wurde bereits kurz erwähnt: die geographische Trennung. Eine Population kann durch geographische Hindernisse, etwa einen Gebirgszug, einen Fluss oder einen Meeresarm, in zwei Gruppen gespalten werden. Die Finken auf dem Galapagos-Archipel sind hierfür ein gutes Beispiel. Einige Vögel wurden durch einen Sturm vom südamerikanischen Kontinent zu den Inseln getragen. Da der Genaustausch mit der Stammpopulation nicht mehr möglich war, entwickelten sie sich isoliert weiter. Im Verlauf einiger Jahrtausende entstanden so neue Finkenarten. Mayr bezeichnet diesen Vorgang als geographische oder allopatrische Artbildung (griechisch allos = anders; patra = Vaterland). Die Population hat sich in einer anderen Heimat niedergelassen und spaltet sich dort in verschiedene neue Arten auf. Nach Auffassung Mayrs ist die allopatrische Speziation die Regel. Eine nicht unbedeutende Rolle bei der geographischen Artbildung spielt das Phänomen der Gendrift. Als Gendrift bezeichnet man die zufällige Veränderung der Genfrequenzen in einer Population. Die wenigen Finken, die die GalapagosInseln erreichten, stellten höchstwahrscheinlich keinen repräsentativen Durchschnitt der Ausgangspopulation dar. Bestimmten genetischen Variationen oder rezessiven (zurücktretenden) Merkmalen, die sich in der großen Stammpopulation nicht durchsetzen konnten, bietet sich nun in der kleineren Tochterpopulation eine Chance. Es ist einfach eine Frage der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Angenommen, in einer großen Kiste befinden sich Tausende von Murmeln in zehn verschiedenen Farben, die die Variation in der Stammpopulation darstellen. Greift man wahllos fünf Murmeln heraus, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass nur zwei oder drei Farben vertreten sind. Die fünf Murmeln sind nicht repräsentativ für die Gesamtpopulation. Im statistisch günstigsten Fall hält man Murmeln mit fünf verschiedenen Farben in der Hand. Gendrift kann also den Genbestand einer kleinen, isolierten Population einschneidend verändern. Mayr spricht in diesem Zusammenhang vom „Gründer-Effekt“. Gründer sind Individuen, die geographisch und genetisch isoliert wurden und so die Pioniere einer neuen Art werden. Im Prinzip reicht schon ein einziges befruchtetes Weibchen, um diesen Prozess in Gang zu setzen. Ein Artenschwarm im Viktoriasee Die allopatrische Speziation durch geographische Isolation ist jedoch nicht die einzige Form der Artbildung. Neue Arten können auch innerhalb desselben Lebensraumes entstehen. Man spricht dann von sympatrischer Artbildung (griechisch sym = dasselbe; patra = Vaterland). Der Genaustausch zwischen Stammund Teilpopulation kann unter dem Einfluss natürlicher und sexueller Selektion
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unterbunden werden. Ein Beispiel ist die Artaufspaltung der Cichliden – die jedem Aquariumliebhaber wohlbekannten Buntbarsche – in den afrikanischen Seen. Sie ist mit der der Darwinfinken vergleichbar, jedoch viel umfangreicher. Allein im Viktoriasee sind in einem Zeitraum von zwölftausend Jahren mehr als fünfhundert neue Arten entstanden. Man spricht daher zu Recht von einem Artenschwarm. Nach der gängigen Auffassung stellt die Artenvielfalt der Buntbarsche ein Paradebeispiel für die allopatrische Speziation dar: Einige Arten seien über Flüsse in den See gelangt, und die Fluktuation des Wasserspiegels habe der allopatrischen Speziation Vorschub geleistet. Durch das allmähliche Absinken des Wassers bildeten sich viele Buchten und Becken, in denen kleine Populationen genetisch isoliert wurden. Bei einem anschließenden Anstieg des Wasserspiegels, tausende Jahre später, seien die Unterschiede zwischen den Populationen bereits so groß gewesen, dass kein Genfluss mehr stattfand. Wenn sich ein solcher Prozess Dutzende Male wiederhole, könne es zur Bildung eines Artenschwarms kommen. Diese Erklärung wird jedoch zunehmend infrage gestellt. Die Auffächerung der Cichliden in neue Arten ist wahrscheinlich eher auf sympatrische Artbildung zurückzuführen. Wie aus genetischen Untersuchungen hervorgeht, sind die Arten sehr eng miteinander verwandt und alle im Viktoriasee entstanden. Auch die Theorie des flukturierenden Wasserspiegels ist aufgrund geologischer Daten nicht haltbar. Zum einen ist der See für zahlreiche Schwankungen des Wasserspiegels über längere Zeiträume nicht alt genug – eine halbe Million Jahre –, zum anderen ist er, was noch gravierender ist, mehrere Male gänzlich ausgetrocknet, zuletzt vor nur etwa dreizehntausend Jahren. Die vielen Hundert Arten von Buntbarschen müssen sich also innerhalb dieses Zeitraums und auf sympatrische Weise entwickelt haben, dass heißt innerhalb ein und desselben Ökosystems. Wie ist dies möglich? Eine Erklärung ist die adaptive Radiation. Durch Nahrungskonkurrenz wurden die Fische gezwungen, verschiedene ökologische Nischen des Sees zu erkunden. Allmählich passten sich die Populationen durch die natürliche Selektion an ihre neue Umgebung an. So gibt es etwa Arten, die sich auf das Abweiden von Algen spezialisiert haben, andere zermalmen Schnecken oder ernähren sich von Insekten oder fressen die Jungen anderer Fischarten. Auch sexuelle Selektion durch die Weibchenwahl spielte möglicherweise eine wichtige Rolle. Bei einem Männchen kann sich zum Beispiel durch eine Mutation oder zufällige Neuordnung seiner Gene ein anderes Farb- oder Fleckenmuster gebildet haben, oder er zeigt ein auffällig anderes Balzverhalten. Wenn sich Weibchen von diesen Merkmalen angezogen fühlen, werden sowohl die Merkmale des Männchen als auch die Vorliebe des Weibchens an ihre Nachkommen weitergegeben. Ist dieser Prozess einmal in Gang gesetzt, können sich die Merkmale rasch verstärken. Der Genfluss zur Ursprungspopulation wird unterbrochen, und innerhalb relativ kurzer Zeit kann eine neue Art entstehen. Vieles
ISOLATIONSMECHANISMEN IN SYMPATRISCHEN POPULATIONEN
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spricht dafür, dass die sympatrische Artbildung durch sexuelle Selektion angetrieben wird. Die Freude an der Erfolgsstory der Cichliden im Viktoriasee blieb allerdings nicht lange ungetrübt. In den Fünfzigerjahren des vorigen Jahrhunderts wurden zur Unterstützung des örtlichen Fischfangs Nilbarsche in den See eingeführt, nicht endemische Raubfische, die bis zu anderthalb Meter lang und fünfundsiebzig Kilogramm schwer werden. Die Folgen waren katastrophal, die Neuankömmlinge vermehrten sich auf Kosten der endemischen Fauna und richteten vor allem unter den Cichliden ein wahres Blutbad an. Nach einigen Jahrzehnten brach das Ökosystem völlig zusammen. Das ist umso bedauerlicher, als man im Viktoriasee Darwins Evolutionstheorie wie in einem Zeitraffer verfolgen kann. Der niederländische Biologe Tijs Goldschmidt hat dies in seinem Buch Darwins Traumsee eingehend beschrieben. Das Drama zeigt einmal mehr, wie anfällig Ökosysteme sind und wie sehr menschliches Eingreifen die Biodiversität gefährden kann. Isolationsmechanismen in sympatrischen Populationen Evolutionsbiologen alten Schlags, wie Mayr selbst, meinten, allopatrische Artbildung, Speziation durch geographische Isolation, sei der wichtigste Mechanismus, der zur Entstehung neuer Arten führe. Sympatrische Artbildung, Speziation innerhalb eines Habitats, komme viel seltener vor. Viele Biologen sehen das heute anders. Sympatrische Artbildung kommt wahrscheinlich genauso oft vor, wenn nicht sogar öfter als allopatrische. Sie verläuft allerdings komplizierter, da die Unterbrechung des Genflusses nicht auf bloßer geographischer Trennung beruht. Welche Isolationsmechanismen und reproduktiven Barrieren spielen bei der sympatrischen Speziation eine Rolle? Wie ist es möglich, dass Unterarten, zwischen denen eine fruchtbare Kreuzung möglich ist, innerhalb einer Stammpopulation isoliert bleiben? In seinem 1963 erschienenen Buch Animal species and evolution beschreibt Mayr verschiedene Mechanismen, die eine genetische Isolation sympatrischer Populationen begünstigen. Er unterscheidet zwei Kategorien reproduktiver Schranken, nämlich: (1) Isolationsmechanismen, die eine mögliche Paarung oder Bestäubung verhindern (premating isolation) und (2) Isolationsmechanismen, die nach der Paarung oder Bestäubung wirksam werden (postmating isolation). Zu den Mechanismen vor der Paarung gehören jahreszeitliche oder umweltbedingte Isolation, wodurch die Geschlechtspartner am Zusammentreffen gehindert werden, weil sie in verschiedenen Monaten fruchtbar sind oder weil sie verschiedene ökologische Nischen innerhalb der Stammpopulation besetzen; Unverträglichkeit im Verhalten, wodurch zwei eng verwandte, fortpflanzungsfähige Unterarten zwar im selben Gebiet vorkommen, die Paarung jedoch durch unterschiedliches Sexual- oder Balzverhalten verhindert wird. Bei den Cichliden im Viktoriasee hat
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die sexuelle Selektion solche Unterschiede herausgebildet, was schließlich zu neuen Arten geführt hat. Die Isolationsmechanismen nach der erfolgreichen Paarung oder Bestäubung betreffen zwei oder mehr Populationen, die sich reproduktiv schon so weit auseinander entwickelt haben, dass sie keine lebensfähigen oder fruchtbaren Nachkommen mehr hervorbringen können. Dies kann zum Beispiel eintreten, wenn zwar Samenübertragung stattfindet, aber die Eizelle nicht befruchtet wird (es bildet sich keine Zygote). Oder die Eizelle wird befruchtet, doch die Zygote, die sich entwickelt, ist vermindert lebensfähig. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass sich zwar ein lebensfähiger Hybride entwickelt (ein Individuum, dessen Eltern sich in mehreren genetischen Merkmalen unterscheidet), er sich aber nicht fortpflanzen kann, zum Beispiel, weil er steril ist, das heißt, er kann keine normalen Gameten (Ei- oder Samenzellen) bilden. Die bekanntesten Beispiele steriler, doch ansonsten sehr vitaler Hybriden sind der Maulesel (Kreuzung von Pferdehengst und Eselstute) und das Maultier (Kreuzung von Eselhengst und Pferdestute). Mayr selbst wollte, wie gesagt, wenig von sympatrischer Artbildung wissen. Seiner Ansicht nach ist die allopatrische Speziation der wichtigste Artbildungsmechanismus. Als Nestor der modernen Evolutionsbiologie beeinflusste Mayr Generationen von Forschern auf seinem Gebiet. Die sympatrische Artbildung spielte daher lange Zeit eine untergeordnete Rolle. Heute setzt allmählich ein Umdenken ein. Das Beispiel der Cichliden in den ostafrikanischen Seen zeigt, dass Artbildung innerhalb eines Habitats nicht so außergewöhnlich ist, wie man lange Zeit annahm. Probleme des biologischen Artkonzepts So weit scheint die Theoriebildung hinsichtlich der Frage, was Arten sind und wie neue Arten entstehen, verhältnismäßig wenig Probleme zu bereiten. Doch Pflanzen und Tiere verhalten sich nicht immer so, wie die Hand- und Lehrbücher es uns glauben machen wollen. Die Natur lässt sich nicht in die Zwangsjacke unserer Konzepte und Kategorien stecken. Im Grunde sind noch viele Fragen ungelöst. Auch Mayrs Artbegriff ist nicht unproblematisch. Sehen wir ihn uns noch einmal an. Eine Art ist eine Gruppe natürlicher Populationen, die sich untereinander kreuzen können und von anderen derartigen Gruppen reproduktiv isoliert sind.
Am augenfälligsten ist, dass Mayrs Definition sich nur auf Organismen bezieht, die sich geschlechtlich fortpflanzen. Ein reger oder eingeschränkter genetischer Austausch bestimmt ja, ob Populationen zur selben oder zu einer anderen Art gehören, und dieser Austausch findet nur bei sich sexuell fortpflanzenden Arten statt. Es gibt jedoch zahllose asexuelle Pflanzen und Tiere, die sich etwa durch
PROBLEME DES BIOLOGISCHEN ARTKONZEPTS
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Klonierung vermehren. Wenn wir Mayrs Definition strikt anwenden, gehören diese Organismen also nicht zu irgendeiner Art. Dies ist natürlich ein Manko, denn sich asexuell reproduzierende Lebewesen stellen ebenso eigenständige Gruppen dar wie sich geschlechtlich fortpflanzende Organismen. Ein Beispiel für einen asexuellen Organismus, dem man auf Schritt und Tritt in Gärten, Parks und auf Wiesen begegnet, ist Leontodon taraxacum, besser bekannt als Löwenzahn oder Pusteblume. Ihr Blütenstaub ist unfruchtbar, dafür aber bildet sie (diploide) Eizellen, aus denen eine neue Pflanze heranwachsen kann, ohne dass diese Eizellen befruchtet werden müssen. Sie stellt faktisch lauter Klone her. Man bezeichnet diesen Vorgang als Parthenogenese, Jungfernzeugung (griechisch parthenos = Jungfrau; genesis = Zeugung). Wahrscheinlich hat sich die Pusteblume aus Vorgängerpflanzen entwickelt, die sich ganz brav an die Spielregeln hielten. Daher bilden Organismen, die sich ungeschlechtlich fortpflanzen, deutlich unterscheidbare Gruppen. Doch wie unterscheidbar sie auch sein mögen, nach Mayrs Definition ist die Pusteblume keine Art. Parthenogenese findet übrigens auch bei Tieren statt, etwa bei Stabheuschrecken und Blattläusen. Ein zweites Problem des biologischen Artkonzepts besteht darin, dass Hybridisation viel häufiger vorkommt, als die Handbücher suggerieren. Und diese Hybriden sind oft sowohl lebensfähig als auch fruchtbar. Man müsste deswegen eigentlich die beiden Arten, zu denen die Eltern des Bastards gehören, nicht als zwei verschiedene (Unter-)Arten betrachten, sondern als eine einzige. Namentlich in der frühen Phase der Speziation können fruchtbare Hybriden regelmäßig auftauchen. Besonders Pflanzen kümmern sich wenig um reproduktive Barrieren. Auch die dreizehn Finkenarten der Galapagos-Inseln demonstrieren diesen Sachverhalt. Sie passen nur mit Mühe in den Rahmen des BSC, denn genaugenommen sind es gar keine verschiedenen Arten, da Hybridisation vorkommt und die Nachkommen fruchtbar sind. Der genetische Abstand ist noch zu klein, um von vollwertigen Arten sprechen zu können. Der Prozess der Speziation ist noch in vollem Gang. Das dritte und letzte Problem hinsichtlich des biologischen Artkonzepts hängt mit dem vorigen zusammen. Die reproduktive Isolation, die nötig ist, um von einer Art sprechen zu können, vollzieht sich graduell. Evolution ist nun einmal ein allmählicher Prozess. Es lässt sich daher kein genauer Punkt festmachen, an dem auseinander strebende Populationen das Niveau einer neuen Art erreichen. Ob man die Darwinfinken als verschiedene Arten betrachtet, ist eine Ermessensfrage und hängt davon ab, welche Maßstäbe man anlegt. Verlangen wir totale reproduktive Isolation oder darf ab und zu auch ein lebenslustiger, fruchtbarer Bastard auftauchen? Betrachten wir Arten in ihrer ganzen Entwicklungsgeschichte oder in einer „erstarrten“ Momentaufnahme? Um die zeitliche Dimension der Evolution hervorzuheben, führte der Paläontologe G.G. Simpson, ein anderer Architekt der Synthetischen Evolutionstheorie, Mitte des vorigen
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Jahrhunderts das Evolutionäre Artkonzept (Evolutionary Species Concept oder ESC) ein, das in einer aktuellen Version wie folgt lautet: Eine evolutionäre Art ist eine Linie von Vorfahren-Nachkommen-Populationen, welche ihre Identität gegen andere derartige Linien aufrechterhält und welche eigene evolutionäre Tendenzen sowie ein eigenes historisches Schicksal hat.
Mayrs BSC bezieht sich auf eine „horizontale“ Momentaufnahme der Speziation, Simpsons ESC berücksichtigt dagegen auch die „vertikale“, zeitliche Dimension der Evolution. Was Organismen zu einer Art macht, ist in erster Linie ihre gemeinsame Abstammung: Sie gehören zur selben genealogischen Linie, aus der sie hervorgegangen sind. Wir Menschen lieben es begreiflicherweise, die Dinge zu ordnen, einzuteilen und zu klassifizieren, doch die Natur lässt sich nicht immer in unsere Schablonen pressen. Die Schwierigkeiten, vor die uns die Definition des Artbegriffs stellt, gilt in der einen oder anderen Form auch für die höheren Taxa wie Gattung, Familie, Ordnung oder Reich. Einige Biologen möchten zum Beispiel nicht nur den modernen Menschen und seine direkten Vorfahren, sondern auch die Menschenaffen, das heißt Schimpansen, Bonobos, Gorillas und Orang-Utans, in die Gattung Homo einordnen. Die Frage dabei ist wiederum, welche Kriterien man verwendet: Geht es uns vor allem um größere, allgemeine Zusammenhänge oder mehr ums Detail? Doch wenn man auch die Natur auf verschiedene Weise einteilen kann, so ist deswegen nicht jede Klassifikation gleich überzeugend und brauchbar. Seit Aristoteles, Linné und Darwin hat die biologische Systematik große Fortschritte gemacht, dank der modernen technischen und biochemischen Analysemöglichkeiten können wir die vielen Facetten des Lebens auf unserem Planeten immer genauer untersuchen. Mayrs biologisches Artkonzept und seine Theorien über die Speziation sind noch immer sehr wertvoll, nur werden Biologen sich heute nicht mehr so strikt an sie halten. Hoffnungsvolle Monster Evolution ist ein gradueller, kontinuierlicher Prozess. Darwin selbst hat dies immer wieder betont, eine seiner Lieblingsmaximen war Linnés Diktum natura non facit saltus, die Natur macht keine Sprünge. Speziation vollzieht sich als allmählicher Übergang von einer Art zur anderen. Dennoch gibt es immer wieder Wissenschaftler, die die Ansicht vertreten, die Evolution schreite durch größere, qualitative Sprünge voran. Man nennt diese Theorie daher Saltationismus. Dem Saltationismus steht der Gradualismus gegenüber, den Darwin zeitlebens vertrat. T. H. Huxley kritisierte seinen Freund in diesem Punkt, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass die Vielfalt des Lebens durch kleine Schritte entstanden sein sollte.
HOFFNUNGSVOLLE MONSTER
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Abb. 3.2: Beispiel einer Makromutation. Diese lebende Kröte wurde in einem Garten in Kanada gefunden. Sie hat ihre Augen nicht auf dem Kopf, sondern im Maul.
Ein anderer Forscher, der für eine sprunghaft verlaufende Evolution eintrat, war der brillante Biologe und Genetiker Richard Goldschmidt, der 1935 wegen seiner jüdischen Abstammung Nazi-Deutschland verließ und in die USA emigrierte. Dort wurde er im selben Jahr zum Professor für Genetik an die Universität von Kalifornien in Berkeley berufen. Goldschmidt stellte die These auf, dass Arten nicht durch einen graduellen Prozess reproduktiver Isolation entstehen, sondern plötzlich, durch sogenannte Makromutationen. Bei solchen „Großmutationen“ kommt es oft zu abnormalen Geschöpfen, etwa Lebewesen mit zwei Köpfen oder fünf Füßen. Goldschmidt prägte für sie den Begriff hopeful monsters, nahm aber an, dass Makromutationen nicht immer schädlich zu sein brauchen und ihren Trägern bei plötzlich veränderten Umweltbedingungen große Überlebensvorteile verschaffen können. Sie und ihre Nachkommen würden dann am Anfang einer neuen Entwicklungslinie stehen. Ernst Mayr übrigens war davon not amused, er bezeichnete Goldschmidts Kreaturen als hopeless monsters. Denn wie könne ein solcher Organismus überleben und sich fortpflanzen? Wie so oft gab Mayrs Autorität den Ausschlag. Heute findet Goldschmidts These so gut wie keinen Fürsprecher mehr. Dennoch war Goldschmidt in gewissem Sinn seiner Zeit weit voraus, denn er postulierte, dass vor allem Mutationen in elementaren „Kontrollgenen“ für eine grundlegende Änderung des Körperbauplans der Organismen verantwortlich
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seien. Diese hypothetischen Gene, die die Entwicklung des Embryos steuern, wurden erst in den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts entdeckt. Heute werden sie als „Homeobox-Gene“ und „Hox-Gene“ bezeichnet. Ihnen kommt bei der Embryonalentwicklung eine Schlüsselrolle zu. Zuerst unterteilen sie den Embryo in verschiedene Segmente, wie Kopf, Rumpf und Körperende. Anschließend produzieren sie Signalproteine, die die Zellen im wachsenden Embryo über ihre Position im Körper informieren. Dies bestimmt, zu welchem Gewebetyp und zu welcher Form sich die Zellen entwickeln. Die Kontrollgene legen somit fest, ob eine Zelle im Gehirn oder in der Leber heranwächst oder ob ein Gewebe sich zu einem Kopf, einem Schwanz oder zu einem Hinterbein entwickelt. Homeobox-Gene und Hox-Gene sind uralt, sie sind schon sehr früh in der Entwicklungsgeschichte der Tiere entstanden und finden sich in allen Wirbeltieren (Säugern, Vögeln, Fischen, Reptilien und Amphibien), aber auch bei Insekten – wiederum ein sehr überzeugender Beweis für die Darwin’schen Evolutionsprozesse und die gemeinsame Abstammung der Lebewesen. Am erstaunlichsten ist, dass die Kontrollgene austauschbar sind. So können etwa die Hox-Gene, die beim menschlichen Embryo für die Entwicklung der Augen sorgen, auch bei Mäuseembryos und Fliegenlarven eingeführt werden. Bei der Fliegenlarve übernehmen sie dann die Ausbildung perfekter Facettenaugen. An Insekten wie der Taufliege wurde im letzten Jahrzehnt viel mit Hox-Genen experimentiert. Wie sich zeigte, unterteilen sie den Körper der Fliege in acht Segmente. Künstlich herbeigeführte kleine Mutationen in den Genen führen im Embryo und im ausgewachsenen Exemplar zu großen Veränderungen. Ein Insekt entwickelt etwa zwei Flügelpaare oder Füße am Kopf. Eine unscheinbare natürliche Mutation im Hox-Gen könnte auf diese Weise zu einer Makromutation im Embryo und im Phänotyp führen. Doch Goldschmidts Modell der Makroevolution hat nie Anklang gefunden. Fast alle Biologen vertreten heute wie Darwin und Mayr den gradualistischen Standpunkt. Vermutlich zu Recht, denn in der Evolution entstehen selten oder nie ganz neue biologische Arten durch plötzliche Sprünge. Je mehr Fossilien gefunden werden, desto klarer wird, dass der Evolutionsprozess in sehr kleinen Schritten abläuft. Natürlich tauchen hin und wieder Makromutationen und „Monstren“ auf, doch sie sind fast immer weniger erfolgreich als ihre „gesunden“ Artgenossen. Sie sind selten lebensfähig oder vermehren sich nicht. Denn Organismen sind im Allgemeinen durch die Feinabstimmung der natürlichen Selektion annähernd optimal an ihre Umgebung angepasst, jede größere Veränderung würde diese Balance sofort zerstören. Radikale Neuerungen sind in der Regel Verschlechterungen. Hoffnungsvolle Monster sind daher fast immer zum Scheitern verurteilt. Eine abgeschwächte Version von Goldschmidts Saltationismus ist die Theorie des punctuated equilibrium, des unterbrochenen Gleichgewichts, die Anfang der Siebzigerjahre des vorigen Jahrhunderts von dem Paläontologen Niles Eldredge und dem Evolutionsbiologen Stephen Jay Gould aufgestellt wurde. Sie vertraten
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die Ansicht, dass die fossile Überlieferung den allmählichen Übergang von einer Art zur anderen nicht unterstütze. Überall seien Lücken und sprunghafte Veränderungen zu beobachten. Darwins Vorstellung einer graduellen Evolution sei daher als Erklärung unzureichend. Die Artbildung, so Eldredge und Gould, geht sprunghaft vor sich, lange Perioden der Stasis – in denen so gut wie nichts geschieht – werden durch kurze Phasen unterbrochen, in denen sich innerhalb weniger Generationen große evolutive Veränderungen vollziehen. Die Frage, welcher Mechanismus diese plötzliche Artbildung antreibt, konnten Eldredge und Gould allerdings nicht beantworten. Vielleicht spielt das Massenaussterben eine wichtige Rolle, insofern es überlebenden Organismen neue ökologische Nischen eröffnet. Auch die Theorie von Eldredge und Gould ist eines langsamen Todes gestorben. Die vermeintlichen großen Lücken in der fossilen Abfolge, die auf eine sprunghafte Entwicklung hinweisen, werden heute anders gedeutet. Es kommt uns zwar so vor, als wären Arten bisweilen plötzlich und übergangslos aufgetaucht, doch dies ist eine Art optische Täuschung. Unsere paläontologischen Kenntnisse sind einfach noch zu unvollständig. Wenn uns alle Fossilien in allen Erdschichten zur Verfügung stünden, würde wahrscheinlich der Eindruck einer saltatorischen Entwicklung verschwinden und wir würden eine vollkommene, ununterbrochene Artenreihe erkennen können. Die meisten heutigen Evolutionsbiologen sind, wie gesagt, Gradualisten. Doch sie geben, wie schon Darwin, zu, dass Evolution nicht immer im gleichen Tempo fortschreitet. Manche Organismen entwickeln sich sowieso schneller als andere, da sie unterschiedliche Generationszeiten haben. Bakterien evolvieren viel rascher als Elefanten oder Menschen, ihre Generationszeit ist um ein Vielfaches kürzer. Die Evolution kann sich aber auch beschleunigen, weil eine Population relativ klein ist, wodurch manche Variationen eine größere Chance haben, sich durchzusetzen, als in einer großen Population. Gendrift und FlaschenhalsEffekt spielen dann eine Rolle. Kurzum, Gradualismus schließt nicht aus, dass evolutionäre Prozesse mit unterschiedlicher Geschwindigkeit ablaufen. Doch faktisch müsste man immer (fossile) Zwischenformen finden können, die den allmählichen Übergang von einer Art zur anderen belegen.
4 Die Entstehung des Menschen Entwicklungen in der Paläanthropologie Im vorigen Kapitel sahen wir, dass man die lebende Natur im Prinzip auf unterschiedliche Weise einteilen kann. Welche Ordnung wir wählen, hängt zum Teil davon ab, welche Absichten wir verfolgen, welche Konzepte wir haben und welche Maßstäbe wir anlegen. Nun könnte der Eindruck entstehen, taxonomische Einteilungen seien notwendigerweise immer willkürlich. Das ist jedoch nicht der Fall. Unsere Kenntnisse vom Ursprung und der Entwicklung des Lebens auf der Erde haben in den vergangenen hundert Jahren spektakulär zugenommen. Wir verstehen immer besser, wie sich das Leben verzweigte und wie die heutige Artenvielfalt zustande kam. Heutige Taxonomien beruhen nicht mehr auf äußeren, morphologischen Merkmalen der Organismen, sondern auf ihrer phylogenetischen Verwandtschaft. Organismen, die aus dem selben evolutionären Zweig hervorgegangen sind, sind miteinander verwandt und gehören zusammen, wie sehr sich ihre äußeren Erscheinungsformen auch unterscheiden. Umgekehrt gehören Organismen, die trotz oberflächlicher Ähnlichkeit nicht aus demselben evolutionären Zweig hervorgingen, taxonomisch gesehen nicht zur selben Gruppe. Die spektakuläre Wissenszunahme gilt auch für die Wissenschaft, die sich mit dem Ursprung und der Evolution des Menschen beschäftigt, die Paläanthropologie (griechisch palaios = alt; anthropos = Mensch). Vor einem Jahrhundert noch waren Ursprung und Entwicklung des Menschen gänzlich undurchsichtig. In einem Zeitraum von wenigen Generationen haben wir jedoch faszinierende Einsichten in den evolutionären Stammbaum des Menschen gewonnen. Wir verdanken sie vor allem der beharrlichen Arbeit von Forschern, die nach fossilen Überresten suchen und Hypothesen über die Evolution des Menschen aufstellen. Man kann die Rekonstruktion der Entwicklung des Menschen mit einem Puzzlespiel vergleichen, bei dem sich die vielen wichtigen Fossilfunde von frühen Menschenartigen in den vergangenen Jahrzehnten allmählich zu einem Bild fügen, das allerdings immer noch lückenhaft ist. Ein wichtiger Aspekt ist, dass wir das Alter dieser Fossilien heute recht genau bestimmen können, unter anderem durch die Analyse der geologischen Erdschichten, in denen die Funde gemacht wurden, und durch moderne Datierungsmethoden. Eine von ihnen ist die sogenannte Kohlenstoffdatierung (Radiokarbon- oder C-14-Methode). Kohlenstoff ist ein natürliches Element, das in allen organischen Verbindungen vorkommt und aus den Isotopen C-12 und C-14 besteht. Da C-14 mit bekannter
PRIMATEN UND HOMINIDEN
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Geschwindigkeit zu Stickstoff zerfällt, lässt sich durch Messung der jetzigen Menge annähernd das Alter einer organischen Substanz bestimmen. Diese Datierung eignet sich jedoch nicht für Objekte, die älter als fünfzigtausend Jahre sind, da das Isotop sich dann gänzlich aufgelöst hat. Bei älteren Funden nutzt man daher ein Element, das eine längere Halbwertzeit hat. Das radioaktive Kalium-14-Isotop, ein häufiges Element der Erdkruste, zerfällt über viele Jahrmillionen zum Edelgas Argon. Man kann daher Fossilien datieren, indem man die Menge des Gases im Gestein und in den Ablagerungen misst, in denen sie gefunden wurden. Bei beiden Methoden muss man mit einer Fehlerquote von fünf bis zehn Prozent rechnen. In jüngster Zeit wurden noch verfeinertere Methoden entwickelt, mit denen das Alter eines Objekts auf verschiedene Weise bestimmt werden kann, wodurch der Unsicherheitsfaktor weiter sinkt. In der Anfangszeit der Paläanthropologie mussten Forscher ohne diese praktischen Hilfsmittel auskommen, sie waren denn auch manchmal leicht an der Nase herumzuführen, wie folgender berühmte Fall zeigt. 1912 wurden in der Nähe des englischen Ortes Piltdown Common in Sussex in einer Kiesgrube mehrere gut erhaltene Schädel- und Kieferreste eines ausgestorbenen Menschenartigen gefunden. Die Nachricht vom „Piltdownmenschen“ ging um die ganze Welt. Die Fossilien hatten genau die Eigenschaften, die man damals vom Vorläufer des modernen Menschen erwartete, nämlich einen großen Schädel mit entsprechendem Gehirnvolumen und einen affenartigen Kiefer und kräftige Eckzähne. Erst nach dem Tod der „Entdecker“ stellte ein Zahntechniker 1953 fest, dass es sich um eine geschickte Fälschung handelte. Der Piltdownmensch bestand aus dem künstlich verwitterten Schädelknochen eines modernen Menschen und dem Kiefer eines Orang-Utan. Alle, auch die Wissenschaftler, waren darauf hereingefallen. Seitdem sind die Forscher vorsichtiger geworden. Denn der Betrug bestätigte das Vorurteil, Paläanthropologen hätten allerlei vorgefasste Ideen über unsere fernen Vorfahren. Primaten und Hominiden Der heutige Mensch, seine ausgestorbenen Vorfahren und die heutigen Menschenaffen, Affen und Halbaffen gehören zur Ordnung der Primaten. Der Begriff „Primat“ wurde von Carl von Linné eingeführt und bedeutet wörtlich „Rangerster“. Charakteristische Merkmale der Primaten sind unter anderem ein relativ großes Gehirn, fünffingrige Hände mit gegenüberstehenden (opponierbaren) Daumen und/oder Zehen (Greifhände und -füße), flache Nägel statt Klauen, nach vorn gerichtete Augen und eine relativ lange Schwangerschaft. Primaten haben in der Regel jeweils nur ein Junges, das lange von der elterlichen Sorge abhängig bleibt. Von den hundertachtzig heute noch lebenden Primatenarten sind weitaus die meisten Baumbewohner. Die Greifhände und -füße sowie das räumliche Sehvermögen sind eindeutige Anpassungen an eine baumreiche Um-
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DIE ENTSTEHUNG DES MENSCHEN
gebung. Um sich von Ast zu Ast schwingen zu können, muss man Abstände gut einschätzen und sich gut festhalten können. Primaten stammen von kleinen insektenfressenden Baumbewohnern ab, die überwiegend nachtaktiv waren. Die frühesten lebten wahrscheinlich im späten Paläozän vor ungefähr sechzig Millionen Jahren. Um etwa die gleiche Zeit, vor ungefähr fünfundsechzig Millionen Jahren, verschwanden die Dinosaurier von der Bildfläche, wahrscheinlich infolge des Einschlags eines gewaltigen Meteoriten in der Nähe der heutigen Halbinsel Yukatán in Mexiko. Dies eröffnete den Primaten und anderen Säugetieren ungeahnte Chancen. Die ökologischen Nischen, die die Dinosaurier hinterließen, wurden von den Säugetieren eingenommen, die die Katastrophe überlebt hatten. Ein solches Phänomen benennen Biologen mit dem Begriff „adaptive Radiation“. Das relativ große Gehirn der Primaten entwickelte sich möglicherweise, um seinen Trägern die geschmeidige und koordinierte Fortbewegung in den Bäumen, das Fangen von Insekten und die Flucht vor Raubtieren zu erleichtern. Zudem weist vieles darauf hin, dass auch ein engeres Gruppenleben das Wachstum des Gehirns beschleunigte. Übrigens haben fast alle Primaten ein dichtes Fell. Die einzige Ausnahme bildet der Mensch; daher bezeichnete der Zoologe Desmond Morris unsere Art als „nackten Affen“. Die Ordnung der Primaten kann man in verschiedene Familien, Gattungen und Arten unterteilen. Heutige Menschen und die ausgestorbenen Affenmenschen beispielsweise gehören zur Familie der Hominiden (Menschenartigen). Innerhalb der Familie der Hominiden unterscheidet man zwei Gattungen: die ausgestorbene Gattung des Australopithecus (wörtlich: „südlicher Affe“) und die Gattung Homo. Beide werden wiederum in verschiedene Arten unterteilt (Abb. 4.1). Manchmal werden die Australopithecinen etwas anders eingeteilt, nämlich in die Gattungen Australopithecus und Paranthropus („Nebenmensch“). Der Name Paranthropus ist dann für den „robusten“ Zweig der Hominiden reserviert, und Familie der Hominiden (Menschenartige) Zwei Gattungen: Australopithecus und Homo Australopithecus
Homo
A. anamensis A. afarensis A. africanus A. aethiopicus A. robustus A. boisei
H. habilis H. rudolfensis H. ergaster H. erectus H. heidelbergensis H. neanderthalensis H. sapiens
Abb. 4.1: Die zwei Gattungen der Familie der Hominiden
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zwar für A. aethiopicus, A. robustus und A. boisei. Die „grazilen“ (schlanken, leicht gebauten) Formen A. africanus und A. afarensis rechnet man in dem Fall zu den „echten“ Australopithecinen. In diesem Kapitel gehen wir von der gängigen Einteilung in eine einzige Gattung, Australopithecus, aus, innerhalb der wir eine grazile und eine robuste Form unterscheiden. Die ersten Menschenartigen Die Australopithecinen sind ausgestorben. Wir kennen sie nur durch meist sehr fragmentarische fossile Reste, die alle in Afrika gefunden wurden. Die Australopithecinen lebten vor ungefähr viereinhalb bis anderthalb Millionen Jahren. Die ersten Überreste eines Australopithecus wurden 1924 von dem Paläanthropologen Raymond Dart in Südafrika entdeckt. Es handelte sich um einen Kinderschädel,
Abb. 4.2: Schädel des Taung-Kindes. Dieser Vertreter der Art A. africanus lebte vor etwa 2,3 Millionen Jahren im südlichen Afrika.
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bekannt als das Taung-Kind (Taung liegt bei Kimberley in Südafrika). Untersuchungen ergaben ein Alter von über zwei Millionen Jahren. An dem Schädel fällt auf, dass er sowohl affenartige als auch menschenartige Merkmale hat. So ist das Gehirnvolumen dieses Hominiden noch ziemlich klein und mit dem heutiger Menschenaffen vergleichbar, während das flache Gesicht und das Gebiss eher an moderne Menschen erinnern. Dieser neu entdeckten Art gab Dart den Namen Australopithecus africanus (Abb. 4.2). In den Vierzigerjahren des vorigen Jahrhunderts kamen weitere Überreste ans Licht. Diese Funde waren wichtige Hinweise darauf, dass die Wiege der Menschheit in Afrika gestanden hat und nicht in Asien, wie der Niederländer Eugène Dubois und andere Paläanthropologen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts meinten. Inzwischen waren in Süd- und Ostafrika Fossilien einer weiteren Australopithecus-Art gefunden worden, die auf zwei Millionen Jahre datiert wurden und damit ebenso alt wie die Funde von A. africanus waren, jedoch ganz andere Merkmale aufwiesen. Der viel kräftigere Körperbau dieser neuen Art trug ihr den Namen Australopithecus robustus ein. Auffallend sind die dicke Schädelwand, die riesigen Kiefer und Backenzähne, prononcierte Brauenwülste und Backenknochen und ein knochiger Kamm, der von vorn nach hinten über die Schädeldecke verläuft. Die robusten Australopithecinen müssen enorme Kiefer besessen haben, wobei der Scheitelkamm als zusätzliche Verankerung der Kiefermuskulatur diente. Der robusteste dieser frühen Hominiden ist der Australopithecus boisei, der 1959 von dem Paläanthropologen-Ehepaar Mary und Louis Leakey in der OlduvaiSchlucht in Tansania gefunden wurde. Wegen seines enormen Kiefers und der Backenzähne, deren Kaufläche die Größe einer Euromünze hatte, wird A. boisei auch der „Nussknackermensch“ genannt (Abb. 4.3). Die Australopithecinen waren trotz ihrer furchteinflößenden Erscheinung vorwiegend Vegetarier. Wie die heutigen Gorillas ernährten sie sich von großen Mengen Blättern und Baumrinde (die Abnutzung der Backenzähne entspricht der bei heutigen pflanzenfressenden Primaten). Möglicherweise knackten sie mit ihrem gewaltigen Gebiss auch harte Nüsse. Der Artname „boisei“ geht auf den Londoner Geschäftsmann Charles Boise zurück, der mehrere Expeditionen der Leakeys finanzierte. Der Fund der grazilen und der robusten Australopithecinen (zu denen auch A. aethiopicus gehört) bewies, dass vor zwei Millionen Jahren mindestens vier verschiedene Hominidenarten in Afrika nebeneinander lebten, einschließlich der Vertreter der Gattung Homo waren es vielleicht sogar ein halbes Dutzend, wie spätere Entdeckungen nahelegten. Den wohl berühmtesten Australopithecus verdanken wir dem amerikanischen Paläanthropologen Donald Johanson. 1974 stieß sein Team während einer Expedition in Hadar in Äthiopien auf das fossile Skelett einer bisher unbekannten Hominidenart, das sich fast zur Hälfte erhalten hatte, für paläontologische Begriffe etwas sehr Außergewöhnliches. Nie zuvor hatte man so viele fossile Über-
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Abb. 4.3: Schädel der Hominidenart A. boisei („Nussknackermensch“). Das Fossil wurde in Tansania gefunden und ist knapp zwei Millionen Jahre alt.
reste gefunden, die von einem einzigen frühen Hominiden stammten. Zudem stellte sich heraus, dass es sich um den bis dato ältesten Vertreter der Australopithecinen handelte, er war über drei Millionen Jahre alt. Johanson gab der neuen Spezies nach dem Fundort im Afar-Dreieck den Namen Australopithecus afarensis. Becken und Gebiss wiesen das Skelett als das einer erwachsenen, knapp einen Meter großen Frau aus (Abb. 4.4). Da das Team in seiner Euphorie am Abend des Fundes im Zeltlager stundenlang den Beatlesong Lucy in the sky with diamonds hörte, gab es ihr den Namen „Lucy“. Erstaunlich war, dass der Aufbau des Hüftgelenks und seine Lage zum Oberschenkelknochen darauf hinwiesen, dass Lucy aufrecht gegangen sein musste. Das war insofern bemerkenswert, als A. afarensis (wie die anderen Australopithecinen) nur ein Gehirnvolumen von kaum 500 Kubikzentimetern besaß, so viel wie ein moderner Schimpanse. Hiermit wurde eine der wichtigsten Hypothesen über die menschliche Evolution auf den Kopf gestellt, denn bisher hatte man angenommen, bei den frühesten Hominiden sei die Zunahme der Gehirngröße
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Abb. 4.4: A. afarensis („Lucy“). Das von Donald Johanson in Hadar (Äthiopien) entdeckte Fossil ist 3,2 Millionen Jahre alt.
der Fortbewegung auf zwei Beinen (Bipedie) vorausgegangen. Lucy bewies genau das Gegenteil. Die verhältnismäßig langen Arme von A. afarensis wiesen zudem darauf hin, dass die Vertreter dieser Art noch gute Kletterer waren. Der aufrechte Gang der Australopithecinen wurde 1978 durch einen sensationellen Fund in Laetoli in Tansania bestätigt. Mary Leakeys Team stieß auf eine siebzig Meter lange Spur von Fußabdrücken, die in versteinerter Vulkanasche konserviert worden waren (Abb. 4.5). Die Art der Verteilung des Gewichts über Ferse und Zehen ließ keinen Zweifel daran, dass die Spuren nur von aufrecht gehenden Hominiden stammen konnten (wahrscheinlich von Vertretern der
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Abb. 4.5: Einer der Fußabdrücke bei Laetoli (Tansania). Die versteinerte Spur wurde 1978 von Mary Leakey entdeckt und ist dreieinhalb Millionen Jahre alt.
Spezies A. afarensis). Heutige Menschenaffen hinterlassen ganz andere Fußabdrücke, abgesehen davon, dass sie sich im „Knöchelgang“, auf Händen und Füßen, fortbewegen. Die Vulkanasche wurde auf dreieinhalb Millionen Jahre datiert, auf eine Zeit, in der in Afrika noch keine Vertreter der Spezies Homo, sondern ausschließlich Australopithecinen lebten. Neben typisch menschlichen Merkmalen, wie Bipedie, einem flachen Gesicht und relativ kleinen (Eck-)Zähnen, weist Lucy noch affenähnliche Merkmale auf, wie ein kleines Gehirn. Man
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kam daher zu dem Schluss, dass nicht das Hirnvolumen, sondern der aufrechte Gang Wesensmerkmal der frühen Hominiden ist. A. afarensis war für einige Jahrzehnte der älteste bekannte Vertreter der Gattung Australopithecus. In den Neunzigerjahren wurden jedoch am Turkanasee in Kenia noch ältere Überreste gefunden. Die neue Art bekam den Namen Australopithecus anamensis, nach dem Turkana-Wort für See, anam. A. anamensis verlegt das Alter der Hominidenfamilie noch weiter zurück, nämlich um vier Millionen Jahre. Die Entdeckung ist einem Team unter Leitung von Meave Leakey zu verdanken, Ehefrau von Richard Leakey, dem Sohn des berühmten Paläanthropologen-Ehepaars, der selbst auch bedeutende Funde in Afrika machte. Die Australopithecinen müssen sehr erfolgreiche Hominiden gewesen sein. Die sechs verschiedenen Unterarten lebten vor ungefähr vier bis anderthalb Millionen Jahren in einem Gebiet, das sich vom heutigen Äthiopien bis zum Kap der Guten Hoffnung erstreckt. Die robusten Vertreter der Gattung bildeten nach einiger Zeit einen eigenen evolutionären Zweig, der sich vor ungefähr anderthalb Millionen Jahren erschöpfte. Möglicherweise hatte das mit dem Auftauchen eines neuen, noch erfolgreicheren Hominiden zu tun: der erste der Gattung Homo angehörende Mensch. Die meisten Paläanthropologen sind der Ansicht, die grazilen Arten A. afarensis und A. africanus seien die Vorfahren dieses neuen Hominiden gewesen. Und doch ist es ein Irrtum zu denken, Australopithecus sei der gemeinsame Vorfahre der heutigen Menschen und unserer nächsten noch lebenden Verwandten, der Schimpansen und Bonobos. DNA-Untersuchungen und paläontologische Analysen belegen, dass die Verzweigung schon viel früher, nämlich vor etwa sechs bis acht Millionen Jahren stattfand. Aus dieser Periode fehlen jedoch fossile Zeugnisse fast völlig. Daher spricht man von dem sogenannten fossil gap, der Fossilienlücke. Der noch unentdeckte gemeinsame Vorfahre von Menschenaffen und Menschen hat aber schon einmal einen Namen bekommen, nämlich Pan prior, was soviel bedeutet wie „früherer Schimpanse“. Der 2002 entdeckte Sahelanthropus tchadensis („Sahelmensch aus Tschad“) schlägt vielleicht eine Brücke zu dieser Frühzeit. Der fragmentarische Schädel aus Zentralafrika ist sechs bis sieben Millionen Jahre alt und erhielt den Spitznamen „Toumaï“, „Hoffnung auf Leben“. Es ist noch nicht ganz deutlich, ob Toumaï zum Zweig der Hominiden oder zu dem der Affenartigen gehört. Die meisten Paläanthropologen neigen zur ersten Hypothese. Toumaï hat ein flaches, menschenartiges Gesicht mit relativ kleinen Eckzähnen, auch der Zahnschmelz weist mehr Übereinstimmung mit dem des Menschen als mit dem des Schimpansen auf. Manches spricht sogar dafür, dass S. tchadensis aufrecht ging, ein Merkmal der Hominiden. Auch das tiefliegende Hinterhauptloch (foramen magnum), das den Rückenwirbel mit dem Schädel verbindet, sowie neuere Funde fossiler Überreste weisen in diese Richtung. S. tchadensis hatte ein relativ geringes Gehirnvolumen von knapp 350 Kubikzentimetern. Diese Tatsache besagt aller-
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dings nicht sehr viel, da auch alle anderen frühen Hominiden ein kleines Gehirn hatten. Toumaï ist demnach möglicherweise der älteste bekannte Hominide, der kurz nach der Abspaltung der Hominiden von den Affenartigen lebte. Aber aus dieser Zeit sind, wie gesagt, sehr wenige Fossilien bekannt. Sehr viel besser ist es um die Periode vor viereinhalb bis vier Millionen Jahren bestellt, vor allem, was A. anamensis und A. afarensis betrifft. Und auch die verschiedenen Arten der Gattung Homo sind gut dokumentiert. Doch trotz dieses relativen Reichtums an wichtigen Funden ist der Verlauf der Evolution der Hominiden noch voller ungelöster Rätsel. Die Morgenröte des Menschen Die Frage, die daher berechtigt erscheint, lautet: Wann und warum rechnet man einen Hominiden zur Gattung Homo? Diese Frage ist nicht immer eindeutig zu beantworten. Die für den Menschen typischen Merkmale wie Verhalten, Sprache und Sozialleben hinterlassen kaum Spuren. Doch es gibt eine Ausnahme: die Kulturfähigkeit. Der erste Hominide, der aus Steinen Werkzeuge herstellte, ist H. habilis, der früheste Vertreter der Gattung Homo. H. habilis ist etwa zwei bis zweieinhalb Millionen Jahre alt, und auch die ersten Steinwerkzeuge stammen aus dieser Zeit. Die Bezeichnung habilis (fähig, geschickt) wurde von Raymond Dart vorgeschlagen. Die ersten Überreste wurden Ende der Fünfzigerjahre des vorigen Jahrhunderts von den Leakeys in der Olduvai-Schlucht in Tansania ausgegraben. Das Gebiet um diese Schlucht ist buchstäblich mit Resten primitiver Steinwerkzeuge übersät. Die Fossilfunde von Hominiden in der gleichen Gegend sind etwa zwei Millionen Jahre alt. Sie unterscheiden sich in verschiedener Hinsicht deutlich von den Australopithecinen. Vor allem hat sich ihr Gehirn von 500 auf 750 Kubikzentimeter vergrößert. Nah verwandt mit H. habilis ist der ebenfalls von den Leakeys entdeckte H. rudolfensis. Es ist jedoch nicht ganz gesichert, ob es sich wirklich um zwei verschiedene Arten handelt. Manchmal spricht man von dem „kleinen“ und dem „großen“ H. habilis; H. rudolfensis wird dann zu Letzterem gerechnet. Beide Formen wurden in Koobi Fora in Kenia gefunden. Möglicherweise ist H. habilis das fehlende Glied zwischen den (grazilen) Australopithecinen und den späteren Vertretern der Gattung Homo, einschließlich des modernen Menschen. Es gibt übrigens noch mehr ins Auge stechende Unterschiede zwischen H. habilis und den Australopithecinen. Zumal im Vergleich zu den robusten Exemplaren ist H. habilis sehr schlank gebaut. Der Scheitelkamm und die auffälligen Jochbeine sind ganz verschwunden, Zähne und Kiefer sind kleiner, was auf eine andere Ernährung schließen lässt (Abb. 4.6). Auffällig bei H. habilis ist auch der geringe Unterschied zwischen den Geschlechtern. Bei den Australopithecinen war der Geschlechtsdimorphismus noch ausgeprägt: Die Männer waren viel kräftiger gebaut und wogen mindestens
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Abb. 4.6: Ein Schädel des H. habilis. Das Fossil wurde in Koobi Fora (Kenia) gefunden und ist knapp zwei Millionen Jahre alt. Im Vergleich zu den Australopithecinen hat H. habilis sichtbar menschliche Züge.
doppelt so viel wie die Frauen, was auf ein andersartiges Gruppenleben hindeutet. Wie manche heutigen Menschenaffen lebten die Australopithecinen in Gruppen mit einem oder mehreren dominanten Männern, die den Harem leiteten. Sexuelle Selektion, insbesondere Konkurrenz zwischen den Männern, führt dann zu größeren Geschlechtsunterschieden. Man braucht nur an das kolossale
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Silberrückenmännchen bei den Gorillas zu denken. H. habilis war wahrscheinlich eher monogam, sodass sexuelle Selektion eine viel geringere Rolle spielte und es nicht zu offenen Kämpfen um die Vorherrschaft zwischen den Männern kam. Doch wirkliche Gewissheit über diese Hypothese haben wir nicht, da auch H. habilis mehrere Varietäten kennt. Manche Schädel ähneln eher denen der Australopithecinen, während andere eindeutig der neuen Gattung Homo angehören. Vielleicht lebten vor zwei Millionen Jahren schon mehrere Arten der Gattung Homo in Ostafrika. Vor ungefähr 1,8 Millionen taucht in Ostafrika wieder eine neue Menschenart auf, Homo erectus. Der Name „aufrecht gehender Mensch“ stammt aus dem 19. Jahrhundert und illustriert die Voreingenommenheit der Paläontologen der damaligen Zeit: Man war davon überzeugt, nur „echte“ Menschen seien zum aufrechten Gang fähig. Die Entdeckung von Lucy und den Fußspuren in Laetoli änderte diese Sichtweise. Schon mindestens zwei Millionen Jahre früher hatten sich die Australopithecinen den aufrechten Gang beigebracht. Die frühesten Exemplare des H. erectus wurden östlich und westlich des Turkanasees in Kenia bzw. in Koobi Fora und Nariokotome gefunden. Diesen Hominiden nennt man bisweilen auch den afrikanischen H. erectus oder H. ergaster (der Name ergaster bedeutet „Handwerker“ und verweist auf die Zunahme des Gebrauchs von Steinwerkzeugen). Das Gebiss des H. erectus deutet, wie das des H. habilis, auf eine veränderte Ernährung hin. Im Unterschied zu den pflanzenfressenden Australopithecinen ernährte sich H. erectus vor allem von Fleisch und Aas. Im Vergleich zu H. habilis hat das Gehirnvolumen des H. erectus weiter zugenommen, es beträgt nun 800 bis 900 Kubikzentimeter. Die Art war kräftig gebaut und mit durchschnittlich 170 Zentimetern etwa so groß wie der heutige Mensch (Abb. 4.7). Auch die Steinwerkzeuge, die H. erectus herstellte, sind feiner gearbeitet als die seiner Vorgänger (Acheuléen-Kultur). Aller Wahrscheinlichkeit nach wurden auch Materialien wie Holz und Bambus verwendet, von denen sich jedoch verständlicherweise nichts erhalten hat. H. erectus bewohnte Höhlen und war, wie man aus den dort gefundenen Aschenschichten schließen kann, wahrscheinlich der erste Mensch, der das Feuer beherrschte. H. erectus war eine sehr erfolgreiche Spezies, nicht nur in Afrika, wo er mindestens eine Million Jahre lebte, sondern auch in anderen Teilen der Erde. Er war die erste Menschenart, die Afrika verließ, ein Ereignis, das man als Out of Africa I bezeichnet (es sollte noch ein zweiter Exodus folgen). Vor etwa anderthalb bis einer Million Jahren verbreitete sich dieser Hominide über den Nahen Osten, Asien und Europa. Schon 1891 entdeckte der niederländische Arzt und Paläontologe Eugène Dubois auf Java fossile Überreste, die man heute H. erectus zuordnet. An einer Biegung des Flusses Solo war Dubois auf eine Schädeldecke (cranium), einen Zahn und einen Schenkelknochen (femur) gestoßen. Er gab dem Fund den Namen Pi-
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Abb. 4.7: Schädel des H. ergaster, auch afrikanischer Homo erectus genannt. Er wurde in Koobi Fora (Kenia) gefunden und ist gut anderthalb Millionen Jahre alt.
thecanthropus erectus (aufgerichteter Affenmensch), später sollte er als der „Javamensch“ bekannt werden. Die weltberühmten Fossilien sind – hinter kugelfestem Glas – noch heute im Leidener Naturmuseum zu besichtigen. Der damals sensationelle Fund überzeugte Dubois und andere Forscher wie Alfred R. Wallace davon, dass der Ursprung des Menschen in Asien liegen müsse. Wie wir gesehen haben, war diese Annahme falsch, denn die Vorfahren des Javamenschen kamen wie die des in China gefundenen „Pekingmenschen“ (einer anderen Variante des H. erectus) aus Afrika. Im Jahr 2004 berichtete ein indonesisch-australisches Forschungsteam von einem sensationellen Fund auf der indonesischen Insel Flores: Man hatte fossile Überreste einer neuen Menschenart entdeckt, des Floresmenschen oder Homo floresiensis. Es handelte sich um eine Zwergausgabe des H. erectus, Individuen von nur einem Meter Größe (aus diesem Grund auch „Hobbits“ genannt) und mit
DAS RÄTSEL DER NEANDERTALER
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einem relativ kleinen Gehirnvolumen von etwa 380 Kubikzentimetern. Das Erstaunlichste aber war das geringe Alter der Fossilien. Das jüngste Exemplar ist „nur“ 13 000 Jahre alt. Damals lebten also noch Vertreter des H. erectus auf dem indonesischen Archipel! Das ist insofern erstaunlich, als man allgemein davon ausgeht, dass der moderne Mensch, H. sapiens, schon seit fünfundzwanzig- bis dreißigtausend Jahren der einzige Vertreter der Gattung Homo ist. Doch das war noch nicht alles. Unter den heutigen Bewohnern der Insel Flores zirkulieren alte Volkserzählungen über „kleine behaarte Waldmenschen“ (Ebu gogo), die vornübergebeugt gingen und eine seltsame, murmelnde Sprache sprachen. Könnte dies eine Beschreibung des Floresmenschen sein? Die Erzählungen sind wahrscheinlich nicht älter als einige Jahrtausende, vielleicht sogar nur ein paar Jahrhunderte, und das würde bedeuten, dass H. floresiensis in noch jüngerer Vergangenheit auf der Insel vorkam. Ja, vielleicht leben heute noch Floresmenschen in der dicht bewaldeten Bergregion der Insel! Desmond Morris fragte sich daher, wie wir uns verhalten sollen, wenn wir einem solchen „Hobbit“ begegnen: Sollen wir ihn die Schule schicken oder in den Zoo? Die sensationelle Entdeckung des H. floresiensis zeigt, dass Homo erectus in all seinen verschiedenen Varietäten ein äußerst erfolgreicher Hominide war, der nach paläontologischen Maßstäben erst vor kurzem von der Bildfläche verschwand. Das Rätsel der Neandertaler Vor ungefähr fünfhunderttausend Jahren kam es, wiederum in Afrika, zu einer neuen Entwicklung. Fossilfunde aus dieser Periode legen eine nochmalige Aufspaltung innerhalb der Hominidenlinie nahe: Homo heidelbergensis betrat die Bühne. Wie H. erectus ist dieser Hominide über die Alte Welt ausgeschwärmt, sodass beide Arten ungefähr das gleiche Verbreitungsgebiet hatten. Der Name geht auf einen 1856 in der Nähe von Heidelberg gefundenen Unterkiefer zurück. Dieser Hominide ist etwas weniger robust gebaut als H. erectus, sein Gehirnvolumen betrug jetzt 1100 bis 1300 Kubikzentimeter. Manche Paläontologen sehen in ihm eine spätere Form des H. erectus, andere hingegen meinen, es handle sich um eine frühe, „archaische“ Form des heutigen Menschen (Homo sapiens). In dieser Hinsicht bleibt des Bild der menschlichen Evolution weiterhin diffus. Wahrscheinlich waren Angehörige der afrikanischen Population des H. heidelbergensis die direkten Vorfahren des heutigen Menschen und die Angehörigen der europäischen Population die Vorfahren eines anderen illustren Hominiden: des Neandertalers. Leben und Untergang des Homo neanderthalensis – der Name geht auf den Fund eines Schädeldachs im Neandertal bei Düsseldorf zurück – spielte sich in Europa, dem Nahen Osten und Kleinasien ab. In Afrika finden sich keine Zeugnisse dieser Spezies. Sie lebte vor ungefähr zweihundertfünfzig- bis dreißigtausend Jahren. Wenn der Neandertaler auch höchstwahrscheinlich nicht unser direkter
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Abb. 4.8: Schädel des H. neanderthalensis. Das Fossil wurde in La Ferrassie (Frankreich) gefunden und ist ungefähr fünfzigtausend Jahre alt.
Vorfahre ist, so ähnelt er doch schon in mancher Hinsicht dem modernen Menschen. Ein gut gekleideter, rasierter und frisierter Neandertalermann würde an der Börse heute kaum auffallen. Die Neandertaler hatten nicht nur ein ungewöhnlich großes Gehirnvolumen von bis zu 1750 Kubikzentimetern – der heutige Mensch kommt durchschnittlich auf 1500 Kubikzentimeter –, sondern sie waren auch robust gebaut (Abb. 4.8). Wahrscheinlich eine Anpassung an die rauen Bedingungen der Eiszeit. Sie machten mit Steinen, Hiebwaffen und kur-
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zen Wurfspießen Jagd auf Höhlenbären, Auerochsen und Mammute. Ihr gedrungener, kompakter Körperbau diente als Schutz gegen die Kälte, wie dies noch heute bei den Eskimos festzustellen ist. Viele der Fossilfunde weisen verheilte Brüche auf, ein Zeichen dafür, dass die Individuen einander pflegten. Die meisten Wissenschaftler gehen davon aus, dass sie ihre Toten bestatteten und ihnen einfache Geschenke wie Schmuck oder Blumen mit ins Grab gaben, was möglicherweise auf eine Jenseitsvorstellung hindeutet. Auch häufen sich die Beweise dafür, dass der Neandertaler wie der Jetztmensch über ein reiches Repertoire an Lauten verfügte. Sein Kehlkopf hat die gleiche Form und befindet sich an der gleichen Stelle wie bei H. sapiens. Der Archäologe Steven Mithen vertritt in seinem Buch The singing Neanderthal die Ansicht, dieser Hominide habe über eine Art Singsprache verfügt. Es ist jedoch nicht sicher, ob er auch die kognitiven Fähigkeiten besaß, die nötig sind, um eine im modernen Sinn grammatische Sprache hervorzubringen. Sicher ist aber, dass er anfänglich sehr erfolgreich war; er verbreitete sich von Europa aus über den Nahen Osten und Kleinasien. Seine Steinwerkzeuge der Moustérien-Kultur – benannt nach der Fundstelle Le Moustier in Frankreich – sind etwas verfeinerter als die des H. erectus, jedoch wenig innovativ. Zehntausende Jahre lang wurden genau die gleichen Werkzeuge und Techniken benutzt. Die Neandertaler sind, wie schon erwähnt, wahrscheinlich aus den europäischen Populationen des H. heidelbergensis oder des H. erectus hervorgegangen. Aber vor etwa fünfundzwanzig- bis dreißigtausend Jahren verschwanden sie urplötzlich. Über den Grund ihres Aussterbens wird heftig diskutiert. War die neue Menschenart schuld, die sich die Alte Welt anzueignen begann, unsere eigene Spezies Homo sapiens? Hat sie den Neandertaler ausgerottet? Oder mit tödlichen Krankheiten angesteckt? Dafür gibt es vorerst keine Indizien. Wahrscheinlicher ist, dass H. sapiens die Neandertaler allmählich verdrängte. Vielleicht kam es zu kriegerischen Auseinandersetzungen um die gleichen Territorien und Nahrungsquellen, aus denen H. sapiens durch sein größeres Anpassungsvermögen als Sieger hervorging. Vielleicht war die Geburtenrate bei den Neandertalern niedriger als bei H. sapiens. Manche Forscher, unter ihnen der amerikanische Paläoanthropologe Milford Wolpoff, sind der Auffassung, dass die Neandertaler keineswegs ausstarben, sondern sich mit unserer Spezies vermischten, was bedeuten würde, dass ihre Gene im Jetztmenschen fortleben. Diese Ansicht ist jedoch strittig, da DNA-Analysen darauf hinweisen, dass die genetischen Unterschiede zwischen den Neandertalern und den heutigen Europäern zu groß sind, als dass sie sich nennenswert biologisch vermischt hätten. Ein zweiter Exodus aus Afrika Auch die Frage, woher Homo sapiens stammt, ist nicht definitiv beantwortet. Anhänger der sogenannten Out-of-Africa-Theorie und der multiregionalen Hypo-
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Abb. 4.9: Schädel des H. sapiens. Dieses Fossil eines Cro-Magnon-Menschen wurde in Les Eyzies (Frankreich) entdeckt und ist ungefähr dreißigtausend Jahre alt. Cro Magnon bedeutet im lokalen Dialekt „großer, steiler Fels“, ein Hinweis auf das Kalksteinmassiv, das sich über dem Dorf Les Eyzies in der Dordogne erhebt.
these stehen sich hier gegenüber. Unstrittig ist, dass der moderne Mensch vor ungefähr dreißigtausend Jahren in Europa schon weit verbreitet war. Sein Erscheinen ging mit einer größeren Verfeinerung der Werkzeuge einher. Es fand eine geradezu explosive Zunahme an Kreativität statt, ein wahrhaft kultureller Urknall. Im Unterschied zu seinen Vorgängern fertigte Homo sapiens Schmuck an und Höhlenmalereien wie die von Lascaux und Chauvet in Südfrankreich und von Altamira in Nordspanien. Sie gehören der Aurignacien-Kultur an, benannt nach dem reichen Fundort Aurignac in Frankreich. Der europäische H. sapiens ist auch als Cro-Magnon-Mensch bekannt, wiederum nach einem Fundort in Frank-
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reich. Das Gehirnvolumen dieses modernen Menschen betrug etwa 1500 Kubikzentimeter (Abb. 4.9). Nach Ansicht der meisten Forscher stand die Wiege von Homo sapiens nicht in Europa, sondern in Afrika. Er entwickelte sich vor etwa zweihunderttausend Jahren aus der afrikanischen Population des H. heidelbergensis. Der wichtigste Vertreter der Out-of-Africa-Theorie ist der britische Paläanthropologe Chris Stringer vom Natural History Museum in London. Nach H. erectus war H. sapiens die zweite Menschenart – wenn man den Exodus des H. heidelbergensis nicht mitzählt –, die sich von Afrika aus über die Alte Welt verbreitete und die H. erectus-Populationen, die sie dort antraf, verdrängte (Out of Africa II). Über den Nahen Osten, Europa, Asien und Australien erreichte sie vor ungefähr zwanzigtausend Jahren über eine größtenteils ausgetrocknete Beringstraße Amerika. DNA-Analysen weisen ebenfalls in diese Richtung. Die Mitochondrien-DNA von Afrikanern ist viel variationsreicher als die der Europäer und Asiaten. Die afrikanischen Menschenpopulationen sind also die älteren: Bei ihnen fanden die meisten Mutationen statt. Die Annahme, der moderne Mensch stamme aus Afrika, wird auch gelegentlich die Schwarze-Eva-Hypothese genannt: Sie lebte vor ungefähr hundertfünfzigtausend Jahren in Afrika und war die Urmutter aller heutigen Menschen. Es gibt jedoch auch Paläoanthropologen, die wie der schon erwähnte Wolpoff von diesem Szenario nichts wissen wollen und auf das multiregionale Modell schwören. Diese Theorie besagt, dass der moderne Mensch in verschiedenen Teilen der Erde aus örtlichen H. erectus-Populationen hervorging. H. sapiens stamme nicht aus Afrika, sondern hätte sich auf verschiedenen Kontinenten entwickelt. Wenn diese Hypothese stimmt, hat sich der Auszug aus Afrika nur ein einziges Mal ereignet, als H. erectus vor etwa einer Million Jahren seine Heimat verließ. Die Verfechter dieses Modells sind jedoch in der Minderheit. Sie müssen die Frage beantworten, warum sich alle heutigen Menschen genetisch so sehr ähneln. Der menschliche Genpool ist auffallend einheitlich, und das weist auf einen gemeinsamen, zeitlich nicht weit zurückliegenden Ursprung hin. Wenn der Mensch auf verschiedenen Kontinenten aus den dort lebenden H. erectus-Populationen hervorgegangen wäre, müssten die genetischen Unterschiede viel größer sein. Doch für diese Anomalie haben die Anhänger des multiregionalen Modells eine Erklärung: Die frühmenschlichen Bewohner Afrikas, Asiens und Europas hätten regelmäßig Kontakt miteinander gehabt und nicht nur neue Erfindungen und Ideen ausgetauscht, sondern auch ihre Gene. Dieses Szenario ist jedoch sehr zweifelhaft. Wie sollten Populationen in verschiedenen Erdteilen vor hunderttausend Jahren ihre Gene ausgetauscht haben? Das multiregionale Modell ist daher nicht sehr überzeugend. Sogar der erste Exodus des H. erectus aus Afrika wird von manchen infrage gestellt. So meinte der Leidener Archäologe Wil Roebroeks, H. erectus sei möglicherweise nicht in Afrika, sondern in Asien entstanden. In einem Artikel der Zeitschrift Nature legte Roebroeks zusammen mit seinem englischen Kollegen Robin
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H. sapiens 0 H. neanderthalensis
H. heidelbergensis
H. erectus
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H. ergaster ? Zahl der zurückliegenden Jahre (in Millionen)
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2 H. rudolfensis
H. habilis
A. robustus
A. africanus
A. boisei
A. aethiopicus
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4
A. afarensis
Abb. 4.10: Stammesgeschichte der menschlichen Evolution. Die Linien geben die möglichen Abstammungsbeziehungen zwischen den verschiedenen Menschenartigen wieder. Man beachte auch den Artenreichtum in der Periode vor zweieinhalb und anderthalb Milllionen Jahren. A. anamensis, der vermutliche Vorfahre des A. afarensis, ist in dieser Übersicht nicht aufgenommen.
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Dennell dar, die bisherige Auffassung von der menschlichen Evolution müsse vielleicht völlig revidiert werden. In Asien werden nämlich immer ältere Fossilien von H. erectus gefunden, manche stammen aus dem gleichen Zeitraum (vor 1,7 Millionen Jahren) wie die ältesten Fossilien in Afrika. Bleibt nur abzuwarten, bis in Asien noch ältere Funde von H. erectus als die in Afrika ans Licht kommen. Dies würde darauf hindeuten, dass die Wiege dieser Spezies doch in Asien gestanden hat. Roebroeks hält es für durchaus möglich, dass Australopithecinen- oder Homo habilis-Populationen Afrika schon vor zweieinhalb Millionen Jahren verließen und nach Asien zogen. Aus solchen Populationen hätte sich dann H. erectus entwickelt. Obwohl noch längst nicht alle Fragen der menschlichen Entwicklungsgeschichte geklärt sind, haben die vergangenen Jahrzehnte doch Licht in das Dunkel gebracht. Das Bild, das sich dabei ergibt, ist jedoch nicht das eines übersichtlichen Stammbaums, sondern eher mit einem bizarren Gestrüpp vergleichbar (Abb. 4.10). Als wäre die Genealogie des Menschen nicht schon komplex genug – Uneinigkeit und Neid unter Paläanthropologen sind geradezu legendär. Die fossilen Überreste der Hominiden werden höchst unterschiedlich interpretiert. Da es dabei auch ums Prestige (und um Forschungsgelder) geht, geht es bei den professionellen Fossilienjägern nicht immer zimperlich zu. Abgesehen davon ist die Frage berechtigt, ob es sich bei manchen Funden tatsächlich um eigene Arten handelt. Vielleicht sind es nur Unterarten oder Rassen. Manche Skeptiker sind der Ansicht, die Auswirkungen der sexuellen Selektion könnten uns in die Irre führen. Die „verschiedenen“ Arten seien in Wirklichkeit Beispiele für sexuellen Dimorphismus. Körperbau und Schädelform seien bei Männern und Frauen dermaßen verschieden, dass wir sie irrtümlicherweise für getrennte Arten hielten. Wie andere Wissenschaften ist auch die Paläanthropologie von einem Problem betroffen, das Wissenschaftsphilosophen das Problem der „Unterbestimmtheit von Theorien durch die Daten“ nennen: Die empirischen Fakten (fossile Überreste, Datierungen, DNA-Analysen und so weiter) lassen sich mit verschiedenen, oft inkompatiblen Modellen erklären. In der Paläoanthropologie ist der Spielraum dermaßen groß, dass ihre Theorien oft auch von außerwissenschaftlichen Faktoren beeinflusst werden. So kann es passieren, dass der Neandertaler im einen Jahrzehnt als grunzender Höhlenbewohner beschrieben wird, um im darauffolgenden plötzlich als edler Wilder zu gelten. Trends in der menschlichen Evolution Trotz aller Wissenslücken lassen sich doch einige Trends in der Evolution des Menschen ausmachen. Zwei Dinge fallen besonders auf. Zum einen die Tatsache, dass unsere Vorfahren irgendwann aufrecht zu gehen begannen (Bipedie), zum anderen, dass Masse und Volumen des Gehirns explosiv zunahmen (von
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knapp 500 Kubikzentimetern bei den Australopithecinen auf über 1500 Kubikzentimeter bei H. neanderthalensis und H. sapiens). Das ist mehr als eine Verdreifachung. Und obwohl der aufrechte Gang dem Wachstum des Gehirns vorausging, sind beide Veränderungen wahrscheinlich ohne einander nicht denkbar. Betrachten wir zuerst das Phänomen der Bipedie. Vor ungefähr fünfzehn Millionen Jahren, lange bevor die Hominiden die Bühne betraten, war Afrika von dichtem Regenwald bedeckt. Durch eine Klimaänderung, die mit kühleren Temperaturen und größerer Trockenheit einherging, begann sich der Urwald zu lichten. Der Prozess setzte sich fort, bis vor ungefähr zehn Millionen Jahren, im späten Miozän, die Savannenlandschaft entstand. Selektionsdruck durch die veränderte Umwelt habe die Australopithecinen dazu gezwungen, die Bäume zu verlassen und die Grasebene zu erkunden, lautet die sogenannte Savannentheorie. Es wurde auch an die Möglichkeit gedacht, dass übriggebliebene, isolierte Waldstücke als Evolutionsinseln fungierten. Vergleichbar mit den Galapagos-Finken hätten sich Hominidenpopulationen so getrennt voneinander in verschiedene Richtungen entwickelt. Der aufrechte Gang kann nützlich sein, wenn man als kleiner Primat durch hohes Gras läuft (Lucy war kaum einen Meter groß). Man hat einen besseren Überblick und kann Raubtiere rechtzeitig erkennen. Zudem ist nur ein kleiner Teil des Körpers der Sonne ausgesetzt – in Äquatorialafrika sicher von Vorteil. Und die Temperatur der Luft ist anderthalb Meter über dem Boden schon viel niedriger. In Kombination mit der nackten Haut mit ihren vielen Schweißdrüsen bildet Bipedie so ein probates Mittel gegen Überhitzung. Ein Team amerikanischer Anthropologen und Genetiker kam vor einiger Zeit aufgrund einer DNAAnalyse zu dem Schluss, dass die Hominiden schon mindestens 1,2 Millionen Jahre ohne dichte Körperbehaarung sind. Das Fell verschwand also nicht, weil wir Kleider zu tragen begannen, was erst viel später geschah. Die Savannentheorie wurde durch den Fund von Toumaï (Sahelanthropus tschadensis) wieder infrage gestellt, da dieser den Ursprung der Hominiden zeitlich viel weiter zurückverlegt. Demnach müssen die Hominiden schon im Regenwald auf zwei Beinen gegangen sein. Eine Lösung dieses Problems bietet möglicherweise die Hypothese, die Hominiden hätten irgendwann vor zehn bis fünf Millionen Jahren ein Zwischenstadium durchgemacht: das Zeitalter des Wasseraffen. Die Evolution des Menschen spielte sich zu einem Großteil am Ufer oder in der Nähe der großen Seen Ostafrikas ab. Hier hätten die Hominiden ein (semi)aquatisches Dasein geführt, wobei Bipedie sich zuerst beim Durchwaten des Wassers als praktisch erwiesen haben dürfte. In einem späteren Stadium habe sich der Wasseraffe dann zu einem perfekten Schwimmer und Taucher entwickelt. Seine Nahrung habe nicht aus Fleisch, sondern aus Fisch und Schalentieren bestanden. Schon in den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts meinte die britische Biologin Alister Hardy, der Mensch müsse eine aquatische Vergangenheit gehabt haben. Er besitze nämlich eine Reihe von Merkmalen, die sich sonst nur bei Mee-
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ressäugetieren fänden, wie die unbehaarte Haut, die subkutane Speckschicht und der auffällige Tauchreflex, der den Herzschlag verlangsamt und den Sauerstoffverbrauch verringert (was anderen Primaten weniger gut gelingt). Auffällig sei auch, dass unsere Nasenlöcher nach unten gerichtet sind – auch dies eine Ausnahme bei Primaten –, wodurch uns beim Schwimmen weniger schnell Wasser in die Nase eindringt. Die Ideen der etwas exzentrischen Hardy wurden damals allerdings nur belächelt. In den Siebzigerjahren unternahm die Wissenschaftsjournalistin Elaine Morgan den Versuch, die Theorie des Wasseraffen zu rehabilitieren. Ihr Buch The aquatic ape / Kinder des Ozeans fand zwar bei einem breiten Publikum Anklang, jedoch nicht bei der Zunft der Paläanthropologen. Der Mensch als Schnorcheltier war keine sonderlich berauschende Vorstellung. Da war die Savannentheorie, die Vorstellung vom strammen Vorfahren, der jagend durch die Savanne zieht, viel überzeugender. Neuerlich regt sich jedoch wieder Interesse für die Wasseraffentheorie. Wie dem auch sei, der aufrechte Gang ist natürlich nicht plötzlich, sondern allmählich (schrittweise sozusagen) entstanden. Er erfordert nicht unbeträchtliche anatomische Anpassungen. Es muss am Anfang recht anstrengend gewesen sein, eine so merkwürdige Haltung einzunehmen. Warum beharrten die Primaten nur darauf? Weil neben den schon erwähnten Gründen noch ein großer Vorteil damit verbunden war: Die Hände wurden zum Tragen von Gegenständen frei. Wenn man Dinge (Nahrung) tragen kann, kann man auch einen Überschuss mit „nach Hause“ nehmen, den man gegen anderes eintauschen kann, etwa gegen Sex oder gegen Nahrung, die man sich nicht selbst beschaffen kann. So begannen die Individuen allmählich zu kooperieren, es entstand ein komplexeres Sozialleben, das immer mehr Intelligenz erforderte. Und an diesem Punkt greifen der aufrechte Gang und die Zunahme des Hirnvolumens, besonders der Großhirnrinde, ineinander. Der britische Evolutionspsychologe Robin Dunbar hat nachgewiesen, dass bei Primaten die Gruppengröße mit der Gehirngröße korreliert. Je komplexer das soziale Zusammenleben, desto größer das Gehirn. So gut wie alle Affen und Menschenaffen leben in sozialen Gruppen, in denen es von lebenswichtiger Bedeutung ist, den eigenen Status und den anderer sorgfältig im Auge zu behalten (der solitäre Orang-Utan bildet die einzige Ausnahme). Dagegen ließe sich einwenden, die aufrecht gehenden Australopithecinen seien Millionen Jahre mit einem kleinen, affenartigen Gehirn von knapp 500 Kubikzentimetern ausgekommen. Sollte es sich bei der Zunahme des Hirnvolumens um eine Anomalie handeln? Dass die Australopithecinen wie die Orang-Utans solitär lebten, ist ziemlich unwahrscheinlich. Möglicherweise hat sexuelle Selektion in der Evolution des Menschen eine Rolle gespielt. Geoffrey Miller vertrat wie gesagt die Ansicht, sexuelle Selektion sei der Grund für diese sprunghafte Entwicklung gewesen. Während der Evolution seien die zur Schau getragenen Kenntnisse und Fertigkeiten belohnt worden, und das habe die rasante Vergrößerung des Hirnvolumens zur Folge gehabt.
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Besonders auffällig wird dies bei der Entstehung der Gattung Homo vor zweieinhalb Millionen Jahren. Die ersten Steinwerkzeuge markieren den Anfang der Kultur. Kultur erfordert Gehirnaktivität. Um Wissen und Fertigkeiten weitergeben zu können, muss man sie erst selbst erworben haben. Zudem deutet das Gebiss des H. habilis und des H. erectus auf veränderte Ernährung hin. Sie waren keine Vegetarier mehr, sondern aßen reichlich Aas und Wild. Im Vergleich zu pflanzlicher Nahrung enthält Fleisch hochwertigere Nährstoffe wie tierische Fette und Proteine. Die meisten Paläanthropologen meinen, diese veränderte Ernährung habe die Voraussetzung für die Zunahme der Gehirngröße geschaffen. Die britischen Anthropologen Leslie Aiello und Peter Wheeler nehmen an, der Übergang zu fleischlicher Nahrung habe zu einem gut-brain swap geführt: Die zusätzliche Energie für ein größeres Gehirn konnte der Körper nur auf Kosten eines anderen Organs bereitstellen, nämlich des Darmtraktes. Darmgewebe wurde durch Hirngewebe ersetzt. In dem Maße, wie mehr Fleisch gegessen wurde, wurde weniger Darmgewebe benötigt, da Karnivoren im Gegensatz zu Herbivoren keinen langen, komplizierten Verdauungskanal benötigen. Die Energie, die dadurch anderweitig verfügbar war, wurde in ein immer größer werdendes Gehirn investiert. So trug die veränderte Ernährung zum weltweiten Erfolg der Gattung Homo bei. Karnivoren sind auch weniger von der örtlichen Vegetation und den Jahreszeiten abhängig. Ein geübter Jäger findet immer Fleisch, wenn es sein muss, sogar das seiner eigenen Artgenossen. Die Entstehung sozialen Lebens in Gruppen wurde noch von anderen Faktoren gefördert. So weist der relativ kleine Unterschied zwischen den Geschlechtern bei Homo auf zunehmende Monogamie hin. Menschenbabys brauchen in den ersten Jahren sehr viel Pflege und Zuwendung. Daher profitierten Frauen von hingebungsvollen Partnern, die sie regelmäßig mit kalorienreicher Nahrung (Fleisch) versorgten. Immer öfter mag der biologische Vater diese Aufgabe übernommen haben, gemeinsam mit anderen Verwandten oder dem ganzen Clan. Sie investierten schließlich in ihre eigenen Gene. Eine wachsende Gemeinschaft ist außerdem von effizienter Kommunikation abhängig, die durch rudimentäre Sprache oder Symbole ermöglicht wird. Die Übertragung von kulturellen Kompetenzen wird so immer größer, und somit der Besitz eines großen Gehirns immer wichtiger. Die Hirnrinde wuchs dermaßen schnell, dass Menschenkinder immer früher zur Welt kommen mussten. Andernfalls hätte der Schädel nicht mehr durch den Geburtskanal gepasst. Der Biologe Midas Dekkers vergleicht das Menschenbaby gar mit einer Raupe, die noch die Metamorphose zum Schmetterling vor sich hat. Das ist natürlich eine Übertreibung, trifft aber den Kern der Sache. Im Vergleich zu einen Schimpansenkind ist das Menschenbaby extrem hilfsbedürftig. Wir sehen also, dass Bipedie, Fleischgenuss, Monogamie, das Entstehen von Kultur und die Zunahme des Gehirnvolumens eng miteinander verflochten sind. Diese Trends haben sich gegenseitig beeinflusst und verstärkt, wodurch der mo-
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derne Mensch der „aus der Art geschlagene“ Außenseiter unter den Primaten geworden ist. Wie die Evolution der Hominiden im Einzelnen auch verlaufen sein mag, sicher ist, dass in Afrika lange Zeit verschiedene Menschenartige nebeneinander existierten. Vor etwa zweieinhalb- bis anderthalb Millionen Jahren gab es drei Arten Australopithecinen (A. africanus, A. robustus und A. boisei) und mindestens zwei bis möglicherweise sogar vier echte Menschenarten (H. habilis, H. rudolfensis, H. ergaster und H. erectus). Afrika kannte demnach mindestens eine Million Jahre lang eine große Vielfalt nebeneinander existierender Hominidenarten. Diese Auffassung wird auch – mit einem Augenzwinkern – als Theorie der Star WarsBar bezeichnet. Kein Star Wars-Film ohne eine Szene, in der die Helden eine intergalaktische Bar besuchen, in der allerlei sonderbare Außerirdische fröhlich zusammen an der Theke sitzen. Ob die afrikanischen Hominiden ebenso brüderlich mit einander umgingen, ist zweifelhaft. Gewiss ist, dass seitdem eine große Verarmung stattgefunden hat. Heute ist H. sapiens der letzte noch lebende Vertreter einer einst vielgestaltigen Hominidenfamilie.
5 Soziobiologie und Evolutionspsychologie Kontroverse über die Natur des Menschen Die menschliche Kultur hat sich in den vergangenen Jahrtausenden so rasch entwickelt, dass unser Gehirn keine Zeit hatte, sich den veränderten Umständen anzupassen. Die biologische Evolution konnte mit der kulturellen einfach nicht Schritt halten. Die menschliche Psyche stammt quasi noch aus der Steinzeit: Wir sind mit einem Intellekt ausgestattet, der eigentlich für umherstreifende Jägerund Sammlerhorden gedacht ist. So jedenfalls lautet eine der Thesen der Soziobiologie und der Evolutionspsychologie, zwei Disziplinen, die sich nach Jahren der Ablehnung auf dem Vormarsch befinden. Wenn wir Edward O. Wilson und anderen Vertretern dieser Wissenschaftszweige Glauben schenken dürfen, stehen die Sozialwissenschaften am Vorabend einer regelrechten konzeptuellen Revolution. Wilson, den Begründer der Soziobiologie, haben wir im zweiten Kapitel schon kurz kennengelernt. Soziobiologie ist die interdisziplinäre Wissenschaft, die die biologische Grundlage des Sozialverhaltens von Tieren und Menschen systematisch erforscht. Wilson wollte ursprünglich Ornithologe werden, er verlor jedoch als Kind durch einen Unfall beim Angeln das Sehvermögen auf dem rechten Auge. Später ließ auch noch sein Hörvermögen nach, was das Studium der Vögel sehr erschwert hätte. Daraufhin wandte sich Wilson Tieren zu, die sich aus nächster Nähe beobachten ließen: den Insekten. Er wurde Entomologe (Insektenforscher) und war jahrzehntelang Professor der Biologie an der Universität von Harvard. 1997 trat er in den Ruhestand. Er gilt als der bedeutendste Ameisenforscher der Welt, manche haben ihn sogar einen neuen Darwin genannt. Für sein vier Kilo schweres Standardwerk The Ants / Die Ameisen erhielt er 1991 den PulitzerPreis, den er bereits 1979 für On Human Nature / Biologie als Schicksal bekommen hatte. Dieses Werk war eigentlich die Fortsetzung seines Opus Magnum Sociobiology, the new Synthesis aus dem Jahr 1975. Das Buch erregte bei seinem Erscheinen großes Aufsehen. Wilson wurde als reaktionär und als Rassist beschimpft. Vor allem Sozialwissenschaftler und Intellektuelle marxistischer Provenienz hielten seine Ideen für verachtenswert. In einem Leserbrief an die New York Times warfen einige Kollegen ihm sogar NaziSympathien vor. Wilson, so der Vorwurf, vertrete einen streng genetischen Determinismus, etwas, was der progressiven Vorstellung vom entwicklungsfähigen Menschen und einer veränderbaren Gesellschaft diametral entgegengesetzt war.
KONTROVERSE ÜBER DIE NATUR DES MENSCHEN
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Die Positionen von Marx und Darwin sind unvereinbar. Nach Marx ist der Mensch durch seine Umwelt bestimmt, das heißt vor allem: durch die politischen und ökonomischen Herrschaftsverhältnisse. Nach Darwin ist der Mensch in hohem Maße durch seine Veranlagung bestimmt, durch angeborene Instinkte und Triebe. In der Zeit, in der Wilsons Buch erschien, tendierte die Nature-Nurture-Kontroverse – Anlage oder Umwelt – noch stark Richtung Nurture. Unter den Sozialwissenschaftlern herrscht die (aufklärerische) Ansicht vor, Menschen und Gesellschaften seien wandelbar. Hatte sich der Mensch nicht über seine biologischen Wurzeln erhoben? Was den Menschen zum Menschen macht, sind Kultur, Erziehung und soziales Milieu. Wilsons Auffassungen fielen auf unfruchtbaren Boden. Die Zeit war noch nicht reif für den Gedanken, auch der Mensch werde zu einem großen Teil durch sein evolutionäres Erbe bestimmt. Es lassen sich verschiedene Gründe anführen, warum die Soziobiologie auf so vehemente Ablehnung stieß (und stößt). Zum einen betrachtete man sie als autonome Disziplin. Wilsons Gegner räumten zwar sofort ein, tierisches Verhalten könne durchaus biologisch bestimmt sein. Doch Menschen seien eben keine gewöhnlichen Tiere. Sie besäßen ein Bewusstsein ihrer selbst, sie seien fähig zur Reflexion und lebten in sozialen und kulturellen Verbänden, deren Komplexität im Tierreich ohne Beispiel sei. Außerdem könne die große Vielfalt der Kulturen niemals auf einer biologischen Grundlage beruhen. Der Mensch schaffe somit eine soziale Wirklichkeit, die niemals unter biologischem Einfluss entstehen könne. Daher könne die soziale Wirklichkeit auch nicht durch die Naturwissenschaften (insonderheit die Biologie) erforscht werden, sondern ausschließlich durch die Sozialwissenschaften. Die Einzigartigkeit des Menschen garantiert somit seinen autonomen Status. Ein zweiter Grund für das Misstrauen gegen die Soziobiologie bestand darin, dass viele Sozialwissenschaftler an den Fortschritt der Gesellschaft glaubten. Menschliches Verhalten wird durch Erziehung und Kultur bestimmt, und das heißt, dass die Gesellschaft und ihre Mitglieder in hohem Maße beeinflussbar sind. Asoziales Verhalten lässt sich beispielsweise auf eine unglückliche Kindheit, ein rückständiges Milieu oder mangelnde Bildung zurückführen. Wenn man also die Voraussetzungen für eine gute Erziehung und Bildung schafft, wird asoziales Verhalten womöglich weniger oder sogar überhaupt nicht mehr auftreten und die Gesellschaft insgesamt eine bessere werden. Der biologische Determinismus stand im Widerspruch zu einem solchen Fortschrittsglauben. Wissenschaftler, die die These vertraten, asoziales Verhalten sei möglicherweise auch auf erbliche Faktoren zurückzuführen, mussten in den Siebzigerjahre mit massiver Ablehnung rechnen. Das illustriert die „Affäre Buikhuisen“. Der Leidener Kriminologe Wouter Buikhuisen hatte die (freilich nicht neue) Ansicht vertreten, bei kriminellem Verhalten könnten biologische und erbliche Faktoren eine Rolle spielen. Buikhuisen wurde auf der Stelle von der linken Intelligenz attackiert: „Kriminell“ sei eine soziale Kategorie und keine
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biologische. Kriminalität existiere nur in einem menschlichen Kontext, Tiere seien nicht kriminell. Dass kriminelles Verhalten seine Ursache (außer in einer falschen Erziehung oder einem nachteiligen sozialen Umfeld) auch im Gehirn des Betreffenden haben könnte, hielten die Kritiker für problematisch. Doch sogenannte Charaktermerkmale wie Aggressivität, mangelnde Empathie oder Suchtneigung – Merkmale, die vielfach mit asozialem und kriminellem Verhalten einhergehen – haben oft eine neurophysiologische Ursache. Überdies können sie erblich sein. Es gibt natürlich kein „Verbrecher-Gen“, aber es gibt vielleicht Gene, die asozialem und kriminellem Verhalten Vorschub leisten. Wilsons Soziobiologie war mit dem optimistischen ‚Gleichheitsdenken‘ der Sechziger- und Siebzigerjahre unvereinbar. Man nahm an, dass alle Menschen im Prinzip über gleiches Potenzial verfügen. Anders gesagt: Der Mensch ist bei seiner Geburt eine tabula rasa, ein unbeschriebenes Blatt. Kinder sind ganz und gar ‚biegsame‘ Geschöpfe, die durch Erziehung und Unterricht geformt werden. Unterschiede zwischen den Menschen, etwa hinsichtlich ihrer Intelligenz, sind dementsprechend Folge der Unterschiede in Kultur, Erziehung und Milieu. Wer dagegen postulierte, Menschen seien von Natur aus verschieden oder Intelligenz sei erblich bedingt, wurde als reaktionär abgestempelt. Denn wer biologische und erbliche Einflüsse als Erklärung heranzog, rechtfertigte pseudowissenschaftlich die Unterschiede zwischen Mann und Frau, arm und reich, weiß und schwarz. So entstand eine Karikatur der Soziobiologie. Ihre Vertreter wurden reduziert auf steile Thesen: Männer sind von der Evolution vorprogrammiert, Ehebruch zu begehen und zu vergewaltigen, während Frauen sich von Natur aus mit einer untergeordneten, sorgenden Rolle abfinden. Xenophobie, Rassenhass und Gewalt sind in der menschlichen Natur begründet etc. Was die Gegner der Soziobiologie nicht sehen wollten, war, dass Wilson keine Rechtfertigung, sondern nur eine Erklärung für menschliches Verhalten suchte. Angesichts der Frontstellung gegen Wilson und andere Forscher hielt sich die Soziobiologie eine Zeitlang bedeckt. Man arbeitete weiter, doch die Forschungsresultate gelangten selten an die Öffentlichkeit. Mitte der Achtzigerjahre trat eine Wende ein. Biologische und erbliche Einflüsse auf das Sozialverhalten des Menschen waren wieder diskutierbar. In der Zwischenzeit war der Name „Soziobiologie“ mehr oder weniger außer Gebrauch gekommen. Die Forscher nannten sich jetzt „Evolutionspsychologen“. Die evolutionäre Psychologie verfolgt im Großen und Ganzen die gleichen Ziele wie die Soziobiologie. Der menschliche Geist und das menschliche Verhalten werden als Produkt einer universellen und im Lauf der Evolution entstandenen ‚menschlichen Natur‘ betrachtet. Im Unterschied zur Soziobiologie befasst sich die Evolutionspsychologie nicht nur mit dem Verhalten selbst, sondern auch mit den Prozessen im Gehirn. Die Evolutionspsychologie profitiert dabei von den Erkenntnissen der Kognitionswissenschaften in den letzten Jahrzehnten.
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Der allmähliche Umschwung, der sich in den Achtzigerjahren zugunsten der Soziobiologie vollzog, hat sich fortgesetzt. Das hat zweifellos mit dem Wissenszuwachs in Molekularbiologie und Genetik zu tun. Seit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms – der Blaupause des menschlichen Erbguts – hat sich unser Wissen über die DNA rasant erweitert. Erblichkeit, so die These infolge dieser Forschungen, spielt eine viel größere Rolle als bisher angenommen. Das Gleichheitsdenken geriet ins Wanken, das Tabu war gebrochen. Dieses Umdenken bedeutet jedoch keineswegs die Feststellung eines genetischen Determinismus. Forscher, die mit der Soziobiologie und der Evolutionspsychologie sympathisieren, bestreiten nicht, dass Erziehung, Milieu und kultureller Kontext für das Verhalten eine signifikante Rolle spielen. Sowohl Natur (Veranlagung) als auch Kultur (Umwelt) sind für die Entwicklung und das Verhalten des Menschen von Bedeutung. Viele von Wilsons Kritikern mussten übrigens einräumen, dass sie sich nicht die Mühe gemacht hatten, sein Buch zu lesen. Hätten sie es getan, dann hätten sie feststellen können, dass Wilson keinem streng genetischen Determinismus das Wort redet. Auch er betont nämlich die Wechselwirkung zwischen biologischen und kulturellen Einflüssen. Der menschliche Geist und das menschliche Verhalten sind das Resultat eines koevolutionären Prozesses, in dem Natur und Kultur in enger Wechselwirkung stehen. Die neue Synthese Die Soziobiologie fiel in den Siebzigerjahren nicht vom Himmel. Sie war eine Erweiterung der modernen Evolutionsbiologie. Daher der Untertitel von Wilsons Buch: The New Synthesis. Nach der „modernen Synthese“, der Vereinigung von Darwins Theorie der natürlichen Selektion mit Mendels Vererbungslehre, war es nun Zeit für eine neue Synthese: die zwischen der Biologie und den Sozialwissenschaften. Erste Ansätze finden sich übrigens bereits bei Darwin. Auch Darwin betrachtete menschliches und tierisches Verhalten aus evolutionärem Blickwinkel. Denn die Verhaltensforschung, die Ethologie, erfordert die gleiche Vorgehensweise wie die Erforschung physiologischer Merkmale. Verhalten, etwa die Balz von Vögeln, ist demnach genauso wie ein Finkenschnabel oder eine Tarnfarbe durch natürliche Selektion entstanden. In den 1960er-Jahren erzielten Ethologen wie die Österreicher Konrad Lorenz und Karl von Frisch oder der Niederländer Nikolaas Tinbergen auf diesem Gebiet große Erfolge. Die Ethologie beschränkte sich jedoch vor allem auf das Verhalten von Tieren. Das Werk von Desmond Morris war diesbezüglich eine Ausnahme, aber seine Beobachtungen waren relativ oberflächlich und entbehrten einer soliden theoretischen Untermauerung. Außerdem gab es nach der „modernen Synthese“ in den Dreißigerjahren noch lange Zeit Missverständnisse hinsichtlich der Evolutionsbiologie. Eines der hartnäckigsten Missverständnisse war der Gedanke, alles Verhalten sei im Prinzip darauf gerichtet, die Art zu erhalten. Lorenz
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meinte etwa, der Mensch sei das einzige Lebewesen, das sich nicht an dieses Gesetz halte. Nur er trachte schließlich seinen Artgenossen systematisch nach dem Leben. Tiere täten so etwas nicht. Bei den Tieren sei die Aggression ritualisiert, das Töten von Artgenossen komme nur selten vor. Lorenz zufolge kann man beim Menschen daher von einer Fehlfunktion sprechen, einer Störung oder Dysfunktion. Lorenz hatte insofern recht, als die moderne Technologie dem Menschen einen Streich spielt. Aggression kann sehr rasch entgleisen, da wir über die Mittel verfügen, effizient und im großen Stil an die Sache heranzugehen. Doch das bedeutet nicht, dass Menschen sich wesentlich von Tieren unterscheiden. Auch Tiere sind gegenüber ihren Artgenossen nicht zimperlich. Der Ausgangspunkt, die Evolution ziele auf den Erhalt der Art, war falsch. Das Missverständnis entsprang einer allzu rosigen Sicht der Evolution: Mutter Natur sorgt dafür, dass alles im Gleichgewicht bleibt. Dieses romantische Bild sprach viele an, da es die Evolution weniger grausam erscheinen ließ. Denn die Evolution bringt ja in der Tat nicht immer egoistische Individuen hervor, und das Prinzip des Stärkeren braucht nicht automatisch in einen gnadenlosen Konkurrenzkampf zu entarten. Tiere arbeiten oft vorbildlich zusammen. Wölfe und Löwen jagen in Gruppen, was die Erfolgschancen erheblich verbessert, und Beutetiere suchen Schutz in der Herde, um sich die Wölfe und Löwen vom Leib zu halten und so weiter. Biologen betrachteten dies als ein arterhaltendes Sozialverhalten. Man hätte es besser wissen können: Die Evolution verfolgt kein Ziel, sie hat keine Absichten. Also auch nicht hinsichtlich der Arterhaltung. Was man lange Zeit nicht wahrhaben wollte, war, dass Tiere auch ein Verhalten an den Tag legen, das dem vermeintlichen biologischen Gebot „Du sollst keinen Artgenossen töten“ regelrecht zuwiderläuft. Bei vielen in Gruppen lebenden Säugetieren wie Wölfen, Löwen und Schimpansen kommt zum Beispiel Infantizid, Kindstötung, regelmäßig vor. Wenn ein jüngeres und kräftigeres Männchen der neue Anführer (Alpha-Tier) wird, versucht es sofort, alle Jungtiere seines Vorgängers zu töten. Das ist nicht günstig für die Art, doch günstig für den neuen Rudelführer. Er ist nämlich nicht an der Art interessiert, sondern an seiner eigenen Nachkommenschaft. Wenn die Weibchen ihre Jungen verlieren, werden sie wieder fruchtbar und das Männchen kann seine eigenen Nachkommen zeugen. Dies ist keine bewusste Entscheidung des Alpha-Tiers, sein Verhalten ist durch die natürliche Selektion programmiert. Infantizid ist bei manchen Tierarten eine erfolgreiche evolutionäre Strategie. Die Gene, die dieses Verhalten bestimmen, verbreiten sich mehr als die für altruistisches Verhalten. Gewiss kann es hin und wieder durch eine Verhaltensmutation ein Alpha-Tier geben, das mit der ‚herzlosen‘ Tradition bricht. Seine Gene werden jedoch innerhalb weniger Generationen durch die Gene verdrängt, die wieder das Eigeninteresse favorisieren. Langfristig zählt allein die Erfolgsquote: Die Gene, die die meisten Kopien ihrer selbst herstellen, gewinnen in einer Population die Oberhand. Ein Alpha-Tier tut daher gut daran, die selbstsüchtige Strategie zu verfolgen, denn in evolutionärer Hinsicht ist es bis
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auf einige wenige Ausnahmen sehr unvernünftig, in die Gene eines anderen zu investieren. In der Wissenschaft setzte sich allmählich die Erkenntnis durch, dass Evolution keineswegs auf die Erhaltung der Art oder der Gruppe gerichtet ist. Individuen sind im Kern egoistisch, ihr Verhalten wird letztendlich gelenkt durch Eigennutz. Evolutionsbiologen wie der Engländer William Hamilton und der Amerikaner George C. Williams gingen noch einen Schritt weiter. Wenn wir konsequent sind, so meinten sie, dann müssten wir eigentlich sagen, dass die Evolution auch nicht der Erhaltung oder dem Interesse des Individuums dient. Worum es wirklich gehe, das sei die Erhaltung und Verbreitung des Erbguts, der Gene. Der genetische Bauplan eines Individuums kann kodiert weitergegeben werden, das Individuum selbst nicht. Individuelle Organismen seien schlichtweg nicht dauerhaft genug, um eine Rolle in der Evolution zu spielen. Individuen sterben, Gene nicht. Gene sind im Prinzip unsterblich: Manche Gene, die wir in uns tragen, sind Hunderte von Millionen Jahre alt. Wir teilen sie mit Mäusen, Fliegen und Plattwürmern. In der Evolution zählt letztlich nur, welche Gene sich durchsetzen und welche nicht. Natürliche Selektion spielt sich daher nicht auf der Ebene der Art oder der Gruppe ab und nicht einmal auf der des individuellen Organismus. Natürliche Selektion spielt sich auf der Ebene des Gens ab. Die Theorie der Genselektion wurde in den Siebzigerjahren durch das Buch Das egoistische Gen des englischen Zoologen Richard Dawkins, eines Schülers von Tinbergen, einem großen Publikum zugänglich gemacht. Dawkins Stil und Metaphorik machten das Buch zu einem Bestseller. Für Dawkins sind individuelle Organismen nichts anderes als Vehikel oder ‚Einwegverpackung‘ ihrer Gene. Im Lauf der Evolution haben sich die Gene immer komplexere Überlebensmaschinen geschaffen. Sie haben sich tief im Inneren der Organismen verschanzt. Die Vehikel sind von ihren Genen so instruiert, dass sie alles daran setzen, neue Vehikel hervorzubringen. Die DNA wandert so stets von einer Hülle zur nächsten. Gene benutzen Organismen dieser Lesart zufolge als Transportmittel. Ein Organismus ist für die Gene eigentlich nichts anderes als ein Mittel, um mehr Gene zu produzieren: Gene sind „egoistisch“, sie wollen nur eins, nämlich möglichst viele Kopien ihrer selbst herstellen. Dass es in der Evolution letztlich um die Verbreitung des Erbguts, der Gene, gehe, ist auch der Ausgangspunkt der Soziobiologie und der Evolutionspsychologie. Das Rätsel der sozialen Insekten Der Soziobiologie liegt die berechtigte Frage zugrunde, warum Menschen und auch Tiere zusammenarbeiten und einander helfen, obwohl doch eine darwinistische Welt auf den ersten Blick Selbstsucht zu belohnen scheint. Organismen streben danach, möglichst viel eigenes Erbmaterial in den Genpool der nächsten Generation zu schleusen. Wenn deswegen Artgenossen das Feld räumen oder
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sogar ins Gras beißen müssen – dann soll das so sein. Das Gebot „Du sollst für Nachkommen sorgen“ scheint viel stärker zu sein als das Gebot „Du sollst keine Artgenossen töten“. Und doch stimmt manches, was wir in der Natur und bei uns selbst beobachten, mit dieser Sichtweise nicht überein. Tiere und Menschen handeln oft, als seien sie nicht auf den eigenen Vorteil bedacht. Die rätselhaftesten Beispiele solch selbstlosen Verhaltens finden sich bei einer der großen Ordnungen der Insekten, den Hautflüglern (Hymenoptera). Zu ihnen gehören unter anderem die sogenannten „sozialen Insekten“ wie Wespen, Bienen und Ameisen. Sie leben in großen Gemeinschaften mit strikter Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen Kasten (Wächter, Arbeiterinnen, Pflegerinnen). Eines der augenfälligsten Merkmale staatenbildender Insekten ist das verblüffende Maß an Zusammenarbeit und Altruismus. In der (Sozio-)Biologie versteht man unter „Altruismus“ in der Regel das Verhalten eines Individuums, das die eigene „Fitness“ (die eigene Chance, sich fortzupflanzen und zu überleben) aufopfert zugunsten der Fitness von Artgenossen. Solchem Verhalten liegen jedoch bei Weitem nicht immer bewusste Motive zugrunde, denn die Aufopferung kann, wie das Verhalten des Alpha-Männchens, das die Jungtiere seines Rivalen tötet, durch natürliche Selektion programmiert sein. Bei den sozialen Insekten kommt extremer Altruismus vor: Die Arbeiterinnen in einem Ameisen- oder Bienenstaat sind nämlich unfruchtbar, sie können sich nicht fortpflanzen. Ihr ganzes Leben lang kümmern sie sich um die Larven der eierlegenden Königin. Wie kann ein solch aufopferndes Verhalten entstehen und vor allem, wie kann es sich in einer darwinistischen Welt, in der Selbstsucht vorherrscht, behaupten? Denn wir haben ja gerade festgestellt, dass die Evolution egoistische Individuen begünstigt. Organismen, die sich für andere Organismen aufopfern, können gelegentlich auftauchen, doch die Gene, die für die Uneigennützigkeit verantwortlich sind, können sich niemals verbreiten, da der selbstlose Organismus nicht – oder zu wenig – dazu kommt, sich fortzupflanzen. Im Fall der sozialen Insekten sind die altruistischen Individuen sogar fortpflanzungsunfähig. Wie kann sich die Selbstaufopferung dann trotzdem in jeder neuen Generation behaupten? Das Verhalten der sozialen Insekten scheint in völligem Widerspruch zu dem Gebot „Du sollst für Nachkommen sorgen“ zu stehen. Schon Darwin grübelte in seiner Entstehung der Arten über dieses Problem und fand keine rechte Lösung, da er die Gesetze der Erblichkeit noch nicht kannte. Im Jahr 1964 veröffentliche Hamilton einen bahnbrechenden Artikel mit dem Titel The genetical evolution of social behaviour, in dem er dem Rätsel mit mathematischer Präzision auf den Grund ging. Wir kommen der Lösung näher, so Hamilton, wenn wir uns nicht auf die individuellen Organismen konzentrieren, sondern uns eine Stufe tiefer begeben, auf die Ebene der Gene. Wir müssen uns die Frage stellen: Wie können sich Gene verbreiten, die für das altruistische Verhalten verantwortlich sind? Im Lauf der Evolution wurden verschiedene Möglichkeiten
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ausprobiert, Gene weiterzugeben. So stellen Organismen, die sich ungeschlechtlich fortpflanzen, einfach Klone ihrer selbst her. Bei den sich geschlechtlich fortpflanzenden Organismen ist die Sache etwas komplizierter. Sie haben im Prinzip zwei Möglichkeiten. Sie können ihre Gene weitergeben, indem sie einen Partner suchen und zusammen für Nachkommen sorgen, sie können aber auch einem eng verwandten Artgenossen, etwa einem Bruder oder einer Schwester, bei der Reproduktion helfen. Der Altruist verzichtet dabei zwar auf eigene Nachkommen, es werden jedoch indirekt Kopien seiner Gene weitergegeben, da Blutsverwandte Träger der gleichen Gene sind. Zwei Kinder eines Bruders oder einer Schwester wiegen ein eigenes Kind auf. Hamiltons Einsicht ist eine der wichtigsten Erkenntnisse der modernen Evolutionbiologie. Sie bietet unter anderem einen Erklärungsansatz, warum sich Tiere und auch Menschen mehr um ihre nächsten Verwandten kümmern als um Fremde. In der modernen Evolutionsbiologie wird dieser Mechanismus als kin selection, als Verwandtenselektion, bezeichnet (der Begriff stammt von dem englischen Evolutionsbiologen John Maynard Smith). Der springende Punkt bei dieser Form der Selektion ist, dass der Organismus, indem er die biologische Fitness (den Fortpflanzungserfolg) naher Verwandter erhöht, indirekt die Weitergabe seiner eigenen Gene gewährleistet. Verwandtenselektion steht daher in enger Beziehung zu dem Begriff inclusive fitness oder Gesamt-Fitness. Man versteht darunter den Erfolg eines Lebewesens, die eigenen Gene in der nächsten Generation zu verteilen, unabhängig davon, ob dies durch eigene Nachkommen geschieht oder indirekt über Verwandte. Mit anderen Worten, bei der Gesamt-Fitness betrachtet man nicht nur den reproduktiven Erfolg des Individuums selbst, sondern auch den seiner Verwandten sowie den Beitrag, den das Individuum hierzu liefert. Das evolutionäre Gebot lautet demnach also nicht „Du sollst für Nachkommen sorgen“, sondern vielmehr „Du sollst deine Gesamt-Fitness maximieren“. Genetische Verwandtschaft ist recht einfach zu bestimmen. Ein Organismus, der aus geschlechtlicher Fortpflanzung hervorgegangen ist, bekommt die Hälfte seiner Gene von der Mutter und die andere Hälfte vom Vater. Mit den Eltern ist er also zu 50 Prozent verwandt oder 1/2. Im Durchschnitt besteht der gleiche Verwandtschaftsgrad zwischen Bruder und Schwester (mit Ausnahme von eineiigen Zwillingen, bei ihnen beträgt die Verwandtschaft 100 Prozent oder 1). Nach dem gleichen Prinzip ist die Verwandtschaft des Individuums zu seinen Großeltern und Enkeln bzw. zu Onkeln und Tanten 1/4. Die Verwandtschaft zwischen zwei Cousins oder Cousinen ersten Grades ist 1/8. In genetischer Hinsicht ist ein Cousin ersten Grades gleichwertig mit einem Urenkel und so weiter. Altruismus gegenüber Verwandten kann daher evolutionär gedeihen, weil er die GesamtFitness, den totalen Fortpflanzungserfolg der Gene, erhöht. Bei Säugetieren und Vögeln, die in Sozialverbänden leben, beobachten wir zum Beispiel, dass ein Individuum Alarm schlägt, sobald ein Feind auftaucht. Auf den ersten Blick scheint dies unvernünftig, weil das Individuum auf sich aufmerksam macht und sich
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dem Risiko aussetzt, als erstes dem Raubtier oder Raubvogel zum Opfer zu fallen. Warum bringt es sich selbst in Gefahr? Warum gibt es immer wieder solche Altruisten? Hamiltons Antwort lautet: Weil das altruistische Gen erhalten bleibt, wenn durch die Aufopferung das Leben naher Verwandter gerettet wird. Wenn der „Wächter“ dadurch, dass er sich aufopfert, mehr als zwei Geschwister rettet, kann man sogar von Gewinn sprechen. Er hat die Chance erhöht, dass das Gen erhalten bleibt. Auch bei den staatenbildenden Insekten beruht der Altruismus auf Verwandtenselektion. Hamiltons Modell verdeutlicht, warum es sich evolutionär lohnt, eine unfruchtbare Hautflüglerin zu sein. Statt selbst für Nachkommenschaft zu sorgen, ziehen die Arbeiterinnen ihre Schwestern auf. Die männlichen Bienen, die Drohnen, sind nämlich aus unbefruchteten Eiern entstanden und besitzen daher nur einen Chromosomensatz statt der üblichen zwei. Sie sind haploid statt diploid. Dies hat zur Folge, dass Schwestern mehr Gene miteinander gemeinsam haben als mit Müttern oder Brüdern. Die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Schwestern die gleichen Gene des Vaters besitzen, beträgt 1 (der Vater ist ja haploid). Die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Schwestern die gleichen Gene der Mutter besitzen ist somit (1 x 1/2) + (1/2 x 1/2) = 3/4. Aufgrund des haploiden Vaters ist die Verwandtschaft zwischen Schwestern 3/4 statt 1/2 wie bei den meisten anderen Tieren. Die Arbeiterinnen sind daher untereinander verwandter als mit hypothetischen eigenen Nachkommen! Die weiblichen Hautflügler erhöhen ihre Gesamt-Fitness also nicht, indem sie sich selbst fortpflanzen, sondern indem sie ihre Mutter (die Königin) als eine effiziente Schwesternfabrik betrachten. Anders gesagt: Für die Arbeiterinnen ist es sozusagen lohnender, wenn ihre Mutter immer wieder neue Schwestern produziert, als wenn sie selbst Nachkommen in die Welt setzen. Hamiltons Modell bietet somit eine evolutionstheoretisch anschlussfähige Erklärung für das Phänomen einer stabilen Kaste unfruchtbarer weiblicher Insekten. Die Arbeiterinnen verbreiten Kopien ihrer eigenen Gene über ihre Mutter. Das komplexe Sozialsystem behauptet sich, weil die neuen Schwestern auch das Gen besitzen, das für das kooperative und altruistische Verhalten verantwortlich ist. Verwandtenselektion und Parasitismus Aus dem Prinzip der Verwandtenselektion geht hervor, dass Altruismus eigentlich auf „genetischem Egoismus“ beruht. Das scheinbar selbstlose Verhalten ist im Grunde darauf gerichtet, Kopien der eigenen Gene weiterzugeben. Wir beobachten diesen Mechanismus täglich um uns herum, etwa bei dem Phänomen der elterlichen Fürsorge. Eltern, die ihre Kinder umsorgen und beschützen, investieren faktisch in die eigenen Gene. Die Gene, die für diese Bereitschaft zur Investition in den Nachwuchs verantwortlich sind, werden sich rascher über die Population verbreiten als die Gene von Eltern, die es nicht so genau nehmen. Auch
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hier beruht der Altruismus, die elterliche Fürsorge, auf Verwandtenselektion. Oder in der Fachsprache: Der Altruismus auf phänotypischer Ebene ist egoistisch auf genotypischer Ebene. Das heißt, der Altruismus, den das Lebewesen an den Tag legt, ist auf genetischer Ebene egoistisch. Altruismus hängt oft eng mit dem Verwandtschaftsgrad zusammen. So belegen Statistiken, dass für Stiefkinder das Risiko größer ist, von einem Stiefelternteil misshandelt zu werden, als für Kinder mit zwei leiblichen Eltern. Die Frage, die sich aufdrängt, lautet: Wie wissen Individuen, wer ihre Verwandten sind? Sie kennen die genauen Verwandtschaftsverhältnisse doch nicht immer. Dies mag so sein, aber es ist auch nicht nötig. Die Individuen brauchen sich ihres Verhaltens oder der ihm zugrunde liegenden genetischen Faktoren überhaupt nicht bewusst zu sein. Die Arbeitsbiene kümmert sich um die Larven der Königin nicht, weil sie weiß, dass sie ihre Gene auf diese Weise indirekt verbreitet. Nein, die Biene wurde so durch die Evolution programmiert. Es ist daher durchaus möglich, dass Individuen ihren Altruismus gelegentlich irrtümlich auf NichtVerwandte richten. Doch dies ist ein statistisches Risiko, das im Allgemeinen keinen großen Schaden anrichten kann. Wenn es nicht zu oft vorkommt oder in zu großem Umfang, bleibt das soziale System intakt. Im Übrigen sind viele Tiere sehr wohl in der Lage, ihre Verwandten zu erkennen, etwa mittels chemischer Stoffe (Pheromone), Gerüchen oder einem eingeprägten Begrüßungssignal. Zudem können sich Tiere, die wie die sozialen Insekten in mehr oder weniger geschlossenen, schwer zugänglichen Gruppen leben, kaum „irren“, da alle Mitglieder der Gruppe miteinander verwandt sind. Das will jedoch nicht heißen, dass Verwandtenselektion nicht anfällig ist für Parasitismus. Ein schönes Beispiel ist der Kuckuck, der sehr schlau das Phänomen der elterlichen Sorge missbraucht. Der Vogel ist das, was Spieltheoretiker einen free rider, einen Trittbrettfahrer, nennen: ein Individuum, das vom sozialen System innerhalb einer Gruppe profitiert, selbst jedoch keinen Beitrag leistet. Das Weibchen des Kuckucks legt ihr Ei in das Nest anderer Vögel, die es als ihr eigenes Kind großziehen. Ein solcher Parasitismus darf jedoch nicht zu scharfe Formen annehmen, da er sich sonst selbst beseitigt. Wenn die Schnorrer überhand nehmen, werden nur noch Eier in fremde Nester gelegt und gibt es niemanden mehr, der sie ausbrütet! Nach einer vorübergehenden explosiven Zunahme an Schmarotzern wird die Population also rasch wieder abnehmen. Aber derartig extreme Schwankungen sind in der Natur selten. Die Evolution hat sich eine „Lösung“ ausgedacht. Sie sucht nach einem stabilen Verhältnis von Altruisten zu Schmarotzern (etwa einem Anteil von fünf Prozent Profiteuren), nach einem Gleichgewicht zwischen beiden Populationen. In der Evolutionsbiologie spricht man von einer evolutionär stabilen Strategie oder ESS (der Begriff stammt wiederum von Maynard Smith). In einer idealen Welt bräuchte es im Prinzip keine Rolle zu spielen, wer welche Eier ausbrütet. Solange jeder Vogel sich um irgendwelche Eier kümmert, ist es
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gleichgültig, ob es sich um die eigenen oder die eines Artgenossen handelt, um eigene oder fremde Gene. Das Interesse der Gruppe – und die Erhaltung der Art – hätten dann Vorrang vor dem Interesse des Individuums. Das Phänomen des Parasiten verdeutlicht jedoch, warum diese ideale Welt eine Utopie bleibt. Sobald ein Trittbrettfahrer auftaucht, der zwar Eier legt, sich aber weigert, seine soziale Pflicht zu erfüllen, wird sich das Gen für Parasitismus blitzschnell in der Population verbreiten. Das System williger Babysitter bricht zusammen, denn es ist keine evolutionär stabile Strategie. Die Hilfsbereitschaft wird von Schmarotzern rücksichtslos ausgenutzt. Vorbehaltlose Altruisten bekommen nicht die Gelegenheit, das soziale System wiederherzustellen, weil sie sofort ausgebeutet werden. Altruismus kann daher nur funktionieren, wenn er sich auf Verwandte richtet. Es ist dann gesichert, dass sich die Gene für soziales Verhalten in der Population behaupten. Aus Hamiltons Modell geht, wie gesagt, hervor, dass unter sozialen Tieren – einschließlich des Menschen – der Grad des Altruismus und der Kooperation in der Regel mit dem Verwandtschaftsgrad korreliert. Es hat daher den Anschein, als könne es wirklichen, vorbehaltlosen Altruismus nicht geben. Nur der Altruismus, der genetisch „egoistisch“, der auf Blutsverwandte gerichtet ist, hätte also eine evolutionäre Überlebenschance. Die Evolution der Wechselseitigkeit Es gibt jedoch noch eine andere Strategie, die Kooperation und Aufopferung begünstigt, ohne dass die beteiligten Individuen genetisch miteinander verwandt zu sein brauchen. Das etwas pessimistische Fazit des vorigen Abschnitts war vielleicht voreilig. Denn wir beobachten schließlich bei Tieren und Menschen sehr oft soziales und kooperatives Verhalten, das sich nicht auf Nachkommen oder Familienmitglieder bezieht. Wie kann solches Verhalten gedeihen? Der Biologe Robert Trivers suchte 1971 eine Antwort auf diese Frage zu geben. Sein Modell hat, wie das von Hamilton, eine mathematische und spieltheoretische Grundlage. Gene, so sein Gedanke, können mit den verschiedenen emotionalen Reaktionen „experimentieren“, mit denen sie ihre Träger ausstatten. Die Evolution bringt keine reinen Altruisten bzw. reinen Schmarotzer hervor, sondern Geschöpfe mit einer ganzen Skala an Verhaltensvarianten, wodurch verschiedene Strategien angewendet werden können. Die entscheidende Frage ist, ob es eine bestimmte Strategie gibt, die erfolgreicher ist als die einer Gruppe reiner Profiteure und die anschließend auch nicht mehr von solchen Profiteuren unterlaufen werden kann. Trivers zeigt, dass es eine solche Strategie gibt und dass sie denkbar einfach ist, nämlich die des wechselseitigen Altruismus, nach dem Titfor-Tat-Prinzip oder auf Deutsch „Kratz mir meinen Rücken, dann kratze ich deinen“. Seine Erklärung für Altruismus gegenüber Nicht-Verwandten lautet, dass beide Seiten Nutzen aus der Kooperation ziehen müssen. Mit anderen Worten, das Sozialverhalten muss auf Gegenseitigkeit beruhen.
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Zusammenarbeit aufgrund von wechelseitigem oder reziprokem Altruismus darf nicht mit anderen Formen der Kooperation wie Symbiose und Mutualismus verwechselt werden. Letztere sind in evolutionärer Hinsicht viel älter und finden sich auf verschiedenen biologischen Ebenen, sogar bei Pflanzen und Mikroorganismen. Der Symbiose und dem Mutualismus liegen (wie bei der Verwandtenselektion) in der Regel keine bewussten Motive zugrunde, da die Kooperation gänzlich genetisch programmiert ist. Oft handelt es sich um das Zusammenleben völlig verschiedener Arten. Flechten zum Beispiel sind eine symbiotische Lebensgemeinschaft von Grünalgen und Pilzen. Ein anderes Beispiel ist die wechselseitige Abhängigkeit von blütentragenden Pflanzen und Insekten. Reziproken Altruismus hingegen treffen wir vor allem bei höheren Tieren an, die über ein gewisses Maß an Gedächtnis und Bewusstsein verfügen. Hier kann man sehr wohl von individueller Wiedererkennung und bewussten Absichten sprechen. Die Kooperation richtet sich zudem in der Regel nur auf Mitglieder der eigenen Art oder Gruppe. Wechselseitiger Altruismus bedeutet, dass ein Individuum für einen anderen Zeit und Energie opfert, weil es mit einer Gegenleistung rechnet. Zwischen den Individuen der Gruppe kommt es ständig zu sozialen Transaktionen. Doch da diese nicht immer gleichzeitig stattfinden, besteht wiederum das Risiko von Trittbrettfahrern, die ohne Gegenleistung vom Altruismus der anderen profitieren wollen. Wie lässt sich dieses Problem lösen? Betrachten wir einen hypothetischen Fall. Angenommen, eine Gruppe Affen ist von Flöhen befallen, die eine gefährliche Krankheit übertragen. Jeder Affe kann sich selbst von ihnen befreien, nur nicht von denen, die mitten auf seinem Rücken sitzen. Die Lösung dieses Problems liegt auf der Hand, nämlich ein einfacher Freundschaftsdienst: Wenn du mir hilfst, helfe ich dir. Die Schmarotzer liegen jedoch wieder auf der Lauer: Affen, die sich ausführlich flöhen lassen und dann das Weite suchen. Doch in diesem Fall bleiben sie nicht unentdeckt. Ein Affe, der mehrmals getäuscht wurde, fällt irgendwann nicht mehr darauf herein. Die Betrüger werden so allmählich aus der Gruppe ausgeschlossen, worauf sie an den Flöhen zugrunde gehen. Wechselseitiger Altruismus kann also nur gedeihen, wenn die „Schuld“ irgendwann beglichen wird. Die Individuen müssen einander erkennen können, und Betrug muss bestraft werden. Ein Affe, der getäuscht wurde, muss den Betrüger beim nächsten Mal abblitzen lassen. Es ist daher viel vernünftiger, sich nur mit Artgenossen einzulassen, die sich als kooperativ erwiesen haben. Die letzte Begegnung ist somit bestimmend für die zu verfolgende Strategie. Bei allen höheren, sozialen Tieren (einschließlich der Primaten) zeigt sich, dass diese Verhaltensregel häufig eingehalten wird, und auch die Spieltheorie bestätigt ihre Wirksamkeit. In Computersimulationen stellt sich diese Tit-for-Tat-Strategie immer wieder als sehr erfolgreich heraus. Wir werden im zwölften Kapitel ausführlich darauf zu sprechen kommen. Bedeutet dies nun, dass auch wechselseitiger Altruismus letztlich auf genetischem Egoismus beruht? Sind wir in letzter Instanz, wie manche Pessimisten
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verkünden, nur auf unseren eigenen Vorteil aus? Die Meinungen darüber gehen auseinander. Auf den ersten Blick scheinen die Pessimisten recht zu haben, denn wir können gegenseitigen Altruismus (wie die Verwandtenselektion) ja als Mittel der Genvermehrung begreifen. Wie können Gene, die für wechselseitigen Altruismus verantwortlich sind, entstehen und unter evolutionärem Aspekt gedeihen? Die Antwort auf diese Frage lautet: Eine Kooperationsstrategie kann hinsichtlich des Überlebens und der Reproduktion erfolgreicher sein als eine Strategie, bei der die Organismen auf Kooperation verzichten. Es nützt Genen manchmal einfach, wenn ihre Träger miteinander kooperieren. Zusammenarbeit ist dann die beste Strategie, den „genetischen Egoismus“ zu maximieren. Wenn die Kooperationsstrategie erfolgreich ist, verteilen sich die Gene, die für dieses Verhalten verantwortlich sind, in der Population, und die Kooperation wird sich evolutionär behaupten. Auch reziproker Altruismus ist also genetisch selbstsüchtig: Es muss für die Gene der betreffenden Organismen schließlich Vorteile haben, sonst werden sie zusammen mit dem Verhalten, das sie herbeiführen, durch den Prozess der natürlichen Selektion beseitigt. Reiner Altruismus erscheint somit wiederum unmöglich. Gegen diese pessimistische Ansicht lässt sich jedoch Folgendes einwenden. Es stimmt wahrscheinlich, dass sich reiner Altruismus, evolutionär betrachtet, nicht behaupten kann. In einer darwinistischen Welt müssen Gene irgendwie Nutzen ziehen aus dem Verhalten, das ihre Träger an den Tag legen. Doch dies bedeutet nicht, dass natürliche Selektion nichts Selbstloses hervorbringen kann. Jemand, der nach seinen Wünschen handelt, ist nicht notwendigerweise egoistisch. Und umgekehrt ist jemand nicht nur dann altruistisch, wenn er sich ganz für andere aufopfert und radikal gegen die eigenen Interessen handelt. Die Interessen verschiedener Individuen können sich nämlich überschneiden. Kehren wir zu unserer Affenkolonie zurück. Einem Artgenossen einen Dienst zu erweisen, kann kühle Berechnung sein, aber auch aufrichtiger Wunsch. Die Affen haben die Fähigkeit, Abmachungen zu treffen, die mehrere Parteien zufrieden stellen. Gene können dergleichen nicht, denn Gene können nicht vorausschauen. Wechselseitiger Altruismus ist also nicht direkt genetisch programmiert. Die Bereitschaft zur Zusammenarbeit wird indirekt durch Emotionen bewerkstelligt. Wenn wir einem Bekannten zum Geburtstag etwas schenken, notieren wir uns in der Regel nicht den Preis des Geschenks, damit wir an unserem eigenen Geburtstag überprüfen können, ob die betreffende Person uns auch ausreichend „zurückzahlt“. Nein, wir freuen uns einfach, wenn der Bekannte an unseren Geburtstag denkt, oder wir sind enttäuscht, wenn er ihn vergessen hat. Diese Titfor-Tat-Gefühle sind das Resultat natürlicher Selektion, aber deswegen nicht weniger aufrichtig. Auch Altruismus, der auf Verwandtenselektion beruht, ist so gesehen kein Scheinaltruismus. Verwandtenselektion beruht nicht auf kühlen Berechnungen, sondern auf Gefühlen. Die Liebe und Aufopferungsbereitschaft von Eltern ge-
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genüber ihren Kindern ist echt. Die Zuneigung, die wir unseren Familienangehörigen entgegenbringen, ist keine Täuschung, sondern wirklich. Emotionen sind also nicht bloße „Tricks“ der Gene, um sich zu vermehren. Wir sind keine Marionetten unserer DNA. Eltern können sich ihr ganzes Leben lang um ihr schwerbehindertes Kind kümmern, das nie in der Lage sein wird, selbst Kinder zu bekommen. Verwandtschaft ist auch nicht die Voraussetzung für Zuneigung, es gibt viele Stiefeltern, die ihr Stiefkind von ganzem Herzen lieben. Dass Gene „egoistisch“ sind, bedeutet nicht, dass es ein Gen für Egoismus gibt oder dass wir alle Egoisten sind. „Das egoistische Gen“ ist eine Metapher, denn Gene haben keine Absichten, sie „wollen“ nichts. Das Paradox des freien Willens Die soziobiologische Erklärung für altruistisches Verhalten rührt hier an ein altes philosophisches Problem, das des freien Willens. Sind wir prinzipiell frei in unseren Handlungen oder ist unser Verhalten zum größten Teil determiniert? Kritiker der Soziobiologie wie Hilary Rose und Steven Rose halten den genzentrischen Ansatz für viel zu reduktionistisch, er leugne unsere einzigartige menschliche Erfahrungswelt. Der „biologische Determinismus“, den die Soziobiologie propagiere, sei unvereinbar mit unserem freien Willen. Diese Kritik zielt jedoch ins Leere, denn zum einen predigt die Soziobiologie keinen Determinismus und zum anderen schließen angeborene Anlagen und freier Wille einander nicht aus. Die Evolution ist oft erfinderischer, als man denkt. Man kann die Tierwelt pauschal in Lebewesen mit sogenannten „offenen“ und „geschlossenen“ Verhaltensprogrammen einteilen (die Terminologie stammt von Ernst Mayr). Beide Programme sind genetisch bedingt und steuern die Entwicklung und das Verhalten der Tiere. Die geschlossenen Programme sind die ältesten. Wir finden sie vor allem bei Wirbellosen und Gliederfüßern wie den Insekten. Die geschlossenen Programme sind fest im Genom des Lebewesens verankert, das Verhaltensrepertoire ist daher sehr beschränkt und instinktiv. Die offenen Programme hingegen erlauben dem Lebewesen, aus Erfahrungen zu lernen. Ihm stehen mehrere Möglichkeiten offen, es passt sich in seinem Verhalten ständig an die Bedingungen der Umwelt an. Das offene Verhaltensprogramm ist eine relativ neue Erfindung der Evolution. Wir begegnen ihm vor allem bei Wirbeltieren wie Vögeln und Säugetieren. Organismen wie Insekten kommen gut mit einem eingeschränkten und instinktmäßigen Verhaltensrepertoire zurecht, doch bei höheren Tiere, deren aufeinander bezogenes Verhalten viel komplexer ist, reicht diese Strategie nicht mehr aus. Ein solcher Organismus kann nie so programmiert werden, dass er allen denkbaren (und vor allem auch undenkbaren) Situationen die Stirn bieten kann. Es ist daher viel effizienter, wenn er mit einem autonomen Orientierungs- und Entscheidungszentrum (Sinnesorgane, Nervensystem, einem großen Gehirn und
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Gefühlen) ausgestattet ist, sodass er selbst abwägen und Entscheidungen treffen kann. In unbekannten, komplexen Situationen wird ein „roboterartiges“ Tier rasch den Kürzeren ziehen gegen ein anpassungsfähiges, das sich mehr oder weniger selbst zu helfen weiß. Aus dem gleichen Grund hat man auch die Rover, die zum Mars geschickt wurden, nicht starr programmiert, sondern mit künstlicher Intelligenz ausgestattet, damit sie selbst Entscheidungen treffen können. Denn da ein Funksignal von der Erde bis zum Mars mindestens ein halbe Stunde unterwegs ist, kann das Fahrzeug auch nicht im eigentlichen Sinne ferngesteuert werden. Natürlich wurde sein „autonomes Entscheidungszentrum“ von Wissenschaftlern der NASA programmiert, aber statt alles bis ins Detail festzulegen, hat man allgemeine Richtlinien vorgegeben, die das Fahrzeug in die Lage versetzen, aufgrund relevanter Informationen und innerhalb bestimmter Parameter selbst bestimmte Manöver auszuführen. So kann auch unser Wille sich über das genetische Programm erheben. Dem amerikanischen Evolutionpsychologen Steven Pinker zufolge ist der menschliche Geist ein System aus vielen angeborenen Bestandteilen. Die Evolution hat uns mit mentalen Modulen ausgestattet, die uns nicht nur befähigen, äußere Reize über die Sinnesorgane aufzunehmen und im Gehirn zu verarbeiten und Sprache hervorzubringen, sondern auch, Probleme zu lösen, der Phantasie freien Lauf zu lassen, Gesichter zu erkennen, neue Konzepte zu entwickeln und Ähnliches mehr. In diesen kognitiven Modulen haust unsere allgemeine Intelligenz. Andere Module sind für die emotionalen Prozesse verantwortlich, wie Angst und Freude, Familiensinn, soziale Interaktion und Freundschaft. Unter diesem Aspekt sollten wir auch unsere Tit-for-Tat-Gefühle betrachten: Kooperation zu stimulieren und Betrug zu entdecken suchen. Namentlich für Letzteres haben wir ein feines Gespür. Die Evolutionspsychologen Leda Cosmides und John Tooby meinen, wir besäßen einen speziellen Mechanismus, der uns Schmarotzer und andere Bösewichter erkennen lässt, die unsere Bereitschaft zur Kooperation ausnutzen wollen. Die Hypothese, der menschliche Geist besitze eine modulare Struktur, wurde 1983 von dem amerikanischen Philosophen und Kognitionswissenschaftler Jerry Fodor lanciert. Die Evolutionspsychologie hat diese (immer noch ein wenig spekulative) Hypothese begeistert aufgegriffen. Zur Verdeutlichung wird oft der Vergleich mit dem Schweizer Messer herangezogen. Das ingeniöse Werkzeug hat nicht nur ausklappbare Klingen, sondern auch einen Schraubenzieher, eine Schere, eine Säge, eine Pinzette und anderes mehr. Die neuesten Modelle gibt es inzwischen sogar mit digitalem Höhenmesser und USB-Speicher oder MP3Player. Jedes dieser Module erfüllt eine spezielle Aufgabe. Genauso funktioniert nach Meinung der Evolutionpsychologen auch unser Gehirn, nur dass es kein Schweizer Fabrikant entworfen hat, sondern der kumulative Prozess der natürlichen Selektion. Die Evolution hat unser Gehirn so entworfen, dass wir uns den immer wieder neuen Herausforderungen stellen können. Unsere mentale Archi-
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tektur, meint Pinker, bestehe aus so vielen verschiedenen Modulen, dass kein einziger angeborener Instinkt den Ton angibt. Ja, da die Modulen einander beeinflussen und unterschiedlich „justiert“ werden können, ist jeder (gesunde) Mensch in hohem Maße autonom. Dies ist das Paradox: Wir sind frei, nicht weil wir keine angeborenen Instinkte haben, sondern weil wir so viele haben! Oder um Jean-Paul Sartres Ausspruch abzuwandeln: Die Evolution hat uns zur Freiheit verurteilt. Die genetische Beinflussung unseres Verhaltens bedeutet daher weder, dass wir völlig determiniert sind, noch, dass der freie Wille eine Illusion ist. Die menschliche Natur ist durch die Evolution äußerst flexibel gestaltet worden, sodass sie sich zum Teil über ihr genetisches Programm erheben kann. Wir können uns gegen die Impulse unserer DNA auflehnen. Pinker zum Beispiel ist bewusst kinderlos. Kultur an der Leine Wir haben bereits festgestellt, dass der Mensch ein aus der Art geschlagener Primat ist. Homo sapiens unterscheidet sich von seinen nächsten Verwandten nicht nur hinsichtlich bestimmter physiologischer Merkmale, sondern auch durch den Besitz einer komplexen Kultur. Der Deutlichkeit halber sei darauf hingewiesen, dass dies nicht bedeutet, dass Tiere keine Kultur haben, denn auch Menschenaffen zum Beispiel sind in der Lage, Wissen und Fertigkeiten auf nichtgenetischem Weg an die nächste Generation weiterzugeben. Die menschliche Kultur hat jedoch dermaßen grundlegende Veränderungen bewirkt, sie ist so komplex, dass sie ein Eigenleben angenommen hat. Die kulturelle Evolution scheint die biologische überflügelt zu haben. Soziobiologen und Evolutionspsychologen interpretieren diese Sachlage jedoch differenzierter. Ihnen zufolge sind die beiden Formen der Evolution eng miteinander verflochten. So hat Wilson den Begriff der „Ko-Evolution“ geprägt, um die enge Wechselbeziehung zwischen Genen und Kultur zu veranschaulichen. Die menschliche Kultur habe eine neue Umwelt geschaffen, in der bestimmte Gene die Gelegenheit bekommen zu gedeihen. Von dem Moment an, in dem unser Vorfahre H. habilis vor über zwei Millionen Jahren Faustkeile und andere Artefakte herzustellen begann und kollektive Jagdtechniken ausprobierte, richtete sich der Selektionsprozess auf neue Eigenschaften wie Erfindungsgabe, Kommunikation, soziale Intelligenz und Lernfähigkeit. Die Kultur öffnete eine neue ökologische Nische, in der sich solche Eigenschaften als äußerst adaptiv erwiesen. Nicht umsonst nahm das Schädelvolumen von jenem Zeitpunkt an sprunghaft zu, von 750 Kubizentimeter bei H. habilis bis durchschnittlich 1500 Kubikzentimeter beim modernen Menschen. Wilson spricht in diesem Zusammenhang von einem autokatalytischen Prozess: Die KoEvolution von Kultur und Genen habe sich selbst angekurbelt, um schließlich, vor etwa vierzigtausend Jahren, immer mehr Fahrt aufzunehmen. Es wurde eine
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Schwelle überschritten, und es kam zu einem kulturellen „Big Bang“. Je mehr die Kultur an Bedeutung gewann, desto mehr trat der Einfluss der biologischen Evolution in den Hintergrund. Auch Wilson meint, die menschliche Kultur habe sich zum Teil von ihren biologischen Einflüssen befreit. Der Spielraum der Kultur sei jedoch nicht unbegrenzt, er bleibe von den Beschränkungen der menschlichen Natur abhängig. Nach Wilsons berühmtem – und berüchtigtem – Ausspruch führen die Gene die Kultur an der Leine. Die Kultur kann sich nie ganz von den biologischen Einflüssen befreien. Eine Kultur, die sich gegen die menschliche Natur richtet, indem sie zum Beispiel Kinderlosigkeit propagiert oder zu kollektivem Selbstmord anspornt, wird durch einen Ruck an der Leine zur Ordnung gerufen, sonst wäre sie dem Tode geweiht. Die universale menschliche Natur setzt somit einer möglichen kulturellen Vielfalt Grenzen. Die Evolutionspsychologie vertritt damit eine Position, die der des kulturellen Determinismus diametral entgegengesetzt ist. Hält dieser die menschliche Kultur für unendlich anpassungsfähig und variabel, so ist jene der Ansicht, dass Menschen in verschiedenen Kulturen die gleichen psychischen Prädispositionen teilen, von der Vorliebe für bestimmte Landschaftstypen und Gesichter bis zum Ekel vor Schlangen und Fäkalien. Mit Pinker meint Wilson, diese angeborenen Prädispositionen hätten eine genetische Basis und ließen sich verstehen, indem man die biologische Geschichte des Menschen rekonstruiere. Wir unterliegen erblich bestimmten Vorlieben, „epigenetischen Regeln“, die das Bett bilden, in dem sich Kulturen entwickeln. Manche dieser Impulse sind sehr stark, wie etwa die Abneigung gegen Inzest, andere sind schwächer. So lieben es kleine Kinder, Gesichter zu betrachten. Insgesamt sind die angeborenen Impulse immer noch verantwortlich für Freude und Leid. Im zweiten Kapitel haben wir zum Beispiel gesehen, dass die Evolution auch die menschliche Sexualität gestaltet hat. Die verschiedenen Reproduktionsstrategien von Mann und Frau haben nicht nur unsere Physiologie, sondern auch unsere Psyche geprägt. Männer sind im Allgemeinen empfänglicher für visuelle, sexuelle Signale weiblicher Jugendlichkeit und Fruchtbarkeit, während Frauen mehr auf den sozialen Status eines Partners achten und seine Bereitschaft, in die Zukunft zu investieren. Dies bedeutet jedoch nicht, dass alle Module, die in der Vergangenheit adaptives Verhalten hervorbrachten, dies auch heute noch tun. In unseren modernen Schädeln haust, wie gesagt, ein Geist aus der Prähistorie. Unser Gehirn ist das Resultat natürlicher Selektion, und es braucht nun einmal Zeit, ein Modul oder einen Apparat von einer gewissen Komplexität auszubilden. Die Umwelt, in der unsere Vorfahren (und ihr Gehirn) sich entwickelten, war völlig anders als unsere heutige urbane Lebenswelt. Unsere Spezies bestand zu mehr als neunzig Prozent ihrer Geschichte aus kleinen Gruppen von Jägern und Sammlern. Wir sind daher viel geschickter im Umgang mit solch kleinen Gruppen als mit großen Menschenmassen. Wir haben noch immer einen Hang zum Tribalismus, einem Stammesgefühl, das unter anderem bei Fußballspielen und ethnischen odere religi-
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ösen Konflikten in den Vordergrund tritt. Wir haben eine instinktive Angst vor Schlangen, obwohl eine Aversion gegen marode, freiliegende Elektrokabel nützlicher wäre. Eine Vorliebe für süßes, kalorienreiches Essen war für unsere Vorfahren eine funktionelle, vorteilhafte Eigenschaft, da es in ihrem Lebensraum reifes Obst gab und jederzeit Nahrungsknappheit drohte. In unserer heutigen FastFood-Kultur, in der überall fette, zuckerhaltige Nahrung erhältlich ist, führt dieser Impuls zu Dickleibigkeit und – im schlimmsten Fall – zum Tod. Genese einer Wissenschaft Die Rehabilitation der Soziobiologie hat die Kontroverse über die menschliche Natur nicht beendet. Über die Frage, wer wir sind und wie wir so geworden sind, wie wir sind, wird noch immer leidenschaftlich gestritten. Doch die Emotionen schlagen längst nicht mehr so hoch wie zu der Zeit, da Wilson die Soziobiologie zum ersten Mal einführte. Über den wissenschaftlichen Wert und die Verdienste der Soziobiologie gehen die Ansichten jedoch immer noch weit auseinander. Ihre Anhänger halten sie für ein vielversprechendes und gut fundiertes Forschungsprogramm, das eine Fülle neuer Einsichten verspricht. Durch die Soziobiologie würden die Sozialwissenschaften endlich erwachsen, da diese auf eine solide, naturwissenschaftliche Grundlage gestellt würden. In seinem weniger bekannten Buch Consilience (auf Deutsch: Die Einheit des Wissens) aus dem Jahr 1998 argumentierte Wilson, dass ein großes Ideal der Aufklärung zum Greifen nahe sei, nämlich die Einheit des Wissens. (Unter Consilience versteht man die Übereinstimmung von Theorien, die aus unterschiedlichen Fakten induktiv abgeleitet wurden.) Wilson nimmt in seinem Buch kein Blatt vor den Mund. Er erwartet nicht nur eine baldige Synthese von Natur- und Sozialwissenschaften, sondern langfristig auch eine Reduktion: Die Naturwissenschaften würden sich die Sozialwissenschaften allmählich einverleiben. Psychologie, Soziologie und Anthropologie würden zurückgeführt auf Kognitions- und Neurowissenschaft, Soziobiologie und Evolutionspsychologie. Man kann sich fragen, ob Wilson hier nicht zu weit geht. Der Reduktionismus ist ein altes und respektables Ideal, doch er hat womöglich mit prinzipiellen Problemen zu kämpfen. Die Komplexität lebender Organismen kann vielleicht nie mit den Begriffen der ihnen zugrunde liegenden, universalen physikalischen Gesetze und Prinzipien erfasst werden, da die höheren Ebenen der Realität ihre eigenen Gesetze und Prinzipien haben. Dennoch kann die Soziobiologie sicher Brücken zwischen den heute noch zum großen Teil getrennten Wissensgebieten schlagen, ohne deren Eigenständigkeit infrage zu stellen. Die Kritiker der Soziobiologie und der Evolutionspsychologie sind da ganz anderer Ansicht. Für sie ist jede Annäherung von Übel. Der relative Erfolg dieser Disziplinen sei nichts anderes als eine Modeerscheinung, die dank des heutigen neokonservativen Klimas florieren könne. Bei Licht besehen, hätten wir es mit
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einer Ansammlung antiquierter Vorurteile zu tun, der man ein neues, pseudowissenschafliches Mäntelchen umgehängt habe. Die Erklärungen der Soziobiologen und Evolutionspsychologen für menschliches Verhalten seien schlicht Erklärungen im Nachhinein, die nicht zu verifizieren seien. Der bekannte Evolutionsbiologe Stephan Jay Gould, Wilsons Kollege in Harvard, aber auch einer seiner schärfsten Widersacher, nannte solche allzu einfachen Auslegungen spöttisch just so stories, „nur so Geschichten“, nach dem gleichnamigen Kinderbuch von Rudyard Kipling mit Kurzgeschichten wie „Wie das Kamel zu seinem Höcker kam“ oder „Wie der Leopard zu seinen Flecken kam“. Soziobiologen und Evolutionspsychologen, so Gould, gingen genauso vor, sie saugten sich ein evolutionäres Szenario aus den Fingern und präsentierten es als „Erklärung“ für bestimmte menschliche Verhaltensweisen. Diese Kontroverse über den wissenschaftlichen Status der Soziobiologie und Evolutionspsychologie wird gewiss noch weitergehen. Es ist daher zu früh, heute schon ein definitives Urteil zu fällen. Jungen Forschungsprogrammen muss man Zeit gönnen, erwachsen zu werden oder an ihren eigenen Ansprüchen zu scheitern. Wilson hat sich übrigens nach seiner Emeritierung nicht auf seinen Lorbeeren ausgeruht. Er hat sich als Kämpfer für die Erhaltung der Biodiversität profiliert. Das Ausmaß, in dem Homo sapiens die Artenvielfalt unseres Planeten beeinträchtigt, droht in ein regelrechtes Massensterben zu münden. Auch hier sind uns gewisse eingefleischte Impulse im Wege. Wir scheinen kaum in der Lage zu sein, die globalen Folgen unseres Handelns abzusehen. Unsere Sorge gilt den Nächsten, dem Dorf oder dem Viertel, alles andere wird schnell abstrakt. Wir neigen außerdem dazu, nur eine, höchstens zwei Generationen vorauszudenken. Was danach geschieht, scheint uns nicht zu kümmern. Die Abholzung der letzten Regenwälder, die Dezimierung des Fischbestands sind warnende Beispiele für eine solch kurzsichtige Mentalität. Wir sind wie jemand, der friert und beschließt, aus Rembrandts Nachtwache Brennholz zu machen. Wenn jeder letztlich nur seine eigenen Interessen und die seiner Verwandten vertritt und wir nur zur Zusammenarbeit bereit sind, wenn sie uns nutzt, gerät das Allgemeinwohl und schließlich auch die Biosphäre unseres Planeten in Gefahr. Wilson sieht hier eine Aufgabe für Erziehung und Kultur, die unseren kurzsichtigen Egoismus zügeln können. Die Kultur kann unsere impulsiven Neigungen korrigieren, was einmal mehr zeigt, wie dehnbar das Gängelband-Prinzip ist. Wir müssten zu unterscheiden lernen, so Wilson, welche Impulse in unserer heutigen Gesellschaft die besten seien. Wenn diese epigenetischen Regeln kultiviert würden, könnten sie dem modernen Menschen mehr Sicherheit und Zufriedenheit bringen. Und mit etwas Glück bedeute dies auch den Erhalt unserer Lebensumwelt.
6 Evolution und Anthropologie Von fremden Ländern und Völkern Wir haben im vorigen Kapitel gesehen, dass Soziobiologie und Evolutionspsychologie von einer universalen menschlichen Natur ausgehen. Menschen in verschiedenen Epochen und Kulturen hätten also im Prinzip die gleichen kognitiven und emotionalen Prädispositionen. Trotz aller kulturellen Vielfalt kämen bestimmte Grundmuster menschlichen Verhaltens in allen Gesellschaften vor, etwa die zentrale Stellung von Familie und Stamm, die Sorge für Verwandte, auf Gegenseitigkeit beruhender Altruismus, und nicht zuletzt auch Grundgefühle wie Angst, Freude, Wut oder Schmerz. Nach Ansicht der Soziobiologen und Evolutionspsychologen sind diese Muster größtenteils biologisch geprägt. Demnach liefert die Biologie die rohe „Form“ menschlichen Verhaltens, und die Kultur stattet diese „Form“ mit einem spezifischen „Inhalt“ aus. Dabei liegt die Kultur immer an einer mehr oder minder langen „genetischen Leine“. Der Gedanke, es gebe so etwas wie eine universale menschliche Natur, ist keineswegs neu. Schon 1748 schrieb der englische Philosoph David Hume in seiner Untersuchung in Betreff des menschlichen Verstandes (An enquiry concerning human understanding, VIII, I): Man gesteht allgemein zu, dass eine große Regelmäßigkeit im menschlichen Handeln bei allen Völkern und zu allen Zeiten besteht und dass die menschliche Natur in ihren Gesetzen und Vorgängen sich gleich bleibt. Die gleichen Beweggründe führen zu denselben Handlungen; die nämlichen Wirkungen folgen den nämlichen Ursachen. Die Ehrsucht, der Geiz, die Selbstliebe, die Eitelkeit, die Feindschaft, der Edelmut, der öffentliche Geist; all diese Leidenschaften haben in verschiedenen Mischungen und Austeilungen unter den Menschen von Beginn der Welt und noch heute die Quelle aller Handlungen und Unternehmen unter den Menschen gebildet. [...] Die Menschen sind in allen Zeiten und Orten so sehr dieselben, dass die Geschichte uns hierin nichts Neues oder Fremdes bietet.
Hume warnt vor Leuten, die uns über ferne Völker und fremde Kulturen einen Bären aufbinden wollen. Angenommen, schreibt er, ein Reisender, der gerade aus einem fernen Land zurückgekehrt ist, erzählt uns von Menschen, „die ganz verschieden von allen uns bekannten wären“. Sie seien völlig frei von Habgier, Ehrgeiz und Rachsucht und würden keinen größeren Genuss als Freundschaft, Großzügigkeit und Gemeinschaftssinn kennen. Wir würden, meint Hume, sofort die Unwahrheit dieser Geschichten erkennen und den Erzähler für einen
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Lügner erklären, und zwar genauso, als wenn er Geschichten über Kentauren und Drachen oder Wunder und übernatürliche Erscheinungen in seinen Bericht eingeflochten hätte. Die Universalität der Emotionen Ein gutes Jahrhundert, nachdem Hume seine Untersuchung veröffentlicht hatte, machte sich auch Darwin daran, die Universalität der menschlichen Natur zu beweisen. Sein Projekt unterschied sich jedoch in einer wichtigen Hinsicht von dem Humes: Er konnte seine Untersuchung in einen evolutionären Rahmen stellen. Die Evolutionstheorie sollte nicht nur die Biologie, sondern auch die Humanwissenschaften in ihren Grundfesten erschüttern. Das Ergebnis seiner Forschung legte Darwin in zwei Büchern vor, die kurz nacheinander erschienen: Die Abstammung des Menschen (The descent of man) 1871 und Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren (The expression of the emotions in man and animals) 1872. Sein Hauptwerk war dreizehn Jahre zuvor erschienen, es hatte seine Ideen rasch über ganz Europa und Amerika verbreitet und ihn weltberühmt gemacht. In der Entstehung der Arten hatte Darwin der Evolution des Menschen keine oder nur geringe Beachtung geschenkt. Dieses Versäumnis machte er nun mehr als wett. Namentlich in seinem Buch über den Ausdruck der Gemütsbewegungen stellt Darwin fest, dass Menschen in unterschiedlichen Kulturen über das gleiche Repertoire an Basisemotionen verfügen, wie Angst, Zorn, Abscheu, Traurigkeit und Freude. Sie und die mit ihnen einhergehende Mimik seien nicht angelernt, sondern angeboren. Gefühlsäußerungen seien das Resultat einer gemeinsamen biologischen Evolution, und das machte sie universal. Darwin stützte sich auch auf empirisches Material. Er sammelte Fotos von menschlichen Gesichtsausdrücken aus verschiedenen Kulturen und legte sie Freunden und Bekannten vor. Er wollte wissen, ob die Betrachter hinsichtlich der Gemütsbewegung, die auf ihnen zum Ausdruck kam, übereinstimmten. Einige der Fotos nahm Darwin in sein Buch auf, sodass wir uns heute noch an seinem Experiment beteiligen können. Der amerikanische Psychologe Paul Ekman, der 1998 eine Neuedition von Darwins Studie mit ausführlichen Kommentaren und einem Nachwort versah, kam zu dem Schluss, Darwin sei seiner Zeit weit voraus gewesen. Nachdem bis weit ins 20. Jahrhundert die Bedeutung des Werks kontrovers diskutiert worden sei und eher Ablehnung überwogen habe, falle heute die Einschätzung positiver aus, auch in den Sozialwissenschaften. Ekman, ein international anerkannter Spezialist auf dem Gebiet der Gesichtsmimik, war selbst anfangs skeptisch gewesen. Doch seine Untersuchungen von Gesichtsausdrücken bei Personen aus verschiedenen Kulturen wie eine Feldstudie über isolierte Steinzeitvölker überzeugten ihn davon, dass Darwin recht hatte mit seiner Behauptung, menschliche Basisemotionen seien angeboren und universal. In Neuguinea ließ Ekman von
DIE UNIVERSALITÄT DER EMOTIONEN
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B
C
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Abb. 6.1: Gesichtsausdrücke. Reaktionen auf folgende Situationen: A = Dein Freund ist gekommen, und du bist froh. B = Dein Kind ist gestorben. C = Du bist wütend und drauf und dran zuzuschlagen. D = Du siehst ein totes Schwein, das schon lange dagelegen hat.
einem Dolmetscher kleine Geschichten vorlesen und forderte Papua-Männer auf zu zeigen, was für ein Gesicht sie machen würden, wenn sie die Person in einer der Geschichten wären. Dabei machte er Fotos und Filmaufnahmen von ihnen. Abbildung 6.1 zeigt einige dieser Posen. Nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten spielte Ekman die Videobänder seinen Studenten vor. Wenn Mimik universal sei, so seine These, müssten sie die verschiedenen Gesichtsausdrücke mühelos bestimmten Emotionen zuordnen können. Und genau das war der Fall.
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EVOLUTION UND ANTHROPOLOGIE
Aus der Universalität der Emotionen und ihrer Ausdrucksformen folgerte Darwin zweierlei. Erstens, dass Emotionen und die mit ihnen korrespondierende Mimik sowie die Bewegungen der Gesichtsmuskeln nicht dem Menschen vorbehalten sind. Der Mensch ist kein einzigartiges, von Gott erschaffenes Geschöpf, sondern ein durch graduelle Evolution entstandener Primat. Die Beobachtung, dass die Ausdrucksformen bei nichtmenschlichen Primaten und beim Menschen einander ähneln, nahm Darwin als Indiz für die Kontinuität der Arten. Diese Kontinuität der Artenentwicklung bildete einen Eckpfeiler seiner Evolutionstheorie. In der Evolution gibt es Darwin zufolge keine Sprünge, nur fließende Übergänge. Dass Ausdruckformen bestimmter Gemütsbewegungen vergleichsweise universal sind, deutete Darwin als weiteren Beleg dafür, dass die verschiedenen Menschenrassen einen gemeinsamen Ursprung haben. Damit kehrte sich Darwin gegen die Überzeugung vieler seiner Zeitgenossen – unter ihnen der einflussreiche amerikanisch-schweizerische Paläontologe Jean Louis Rodolphe Agassiz –, denen zufolge die verschiedenen Menschenrassen eine getrennte evolutionäre Entwicklung durchlaufen hätten. Viktorianische Vorurteile In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wütete in der Anthropologie ein Streit zwischen den sogenannten Monogenisten und Polygenisten, der in gewisser Weise mit der heutigen Debatte zwischen den Anhängern der Out-of-Africa-Theorie und denen des multiregionalen Modells zu vergleichen ist. Während die Monogenisten, zu denen sich auch Darwin zählte, die Ansicht vertraten, alle Menschenrassen hätten einen gemeinsamen Ursprung, meinten die Polygenisten wie Agassiz, die Menschenrassen hätten sich entweder unabhängig voneinander entwickelt oder verkörperten Zwischenstufen. Die „niederen“ Rassen seien „erstarrte Überreste“ der progressiven Entwicklung vom Affen zum Menschen. Im vierten Kapitel haben wir gesehen, wie wenig überzeugend Polygenese und das multiregoniale Modell sind. Die meisten Paläanthropologen gehen heute davon aus, dass der Ursprung des modernen Menschen in Afrika zu suchen ist. Vor ungefähr hunderttausend Jahren begann Homo sapiens, sich über die ganze Welt zu verbreiten, was bedeutet, dass unsere Art sowohl in evolutionärer wie in genetischer Hinsicht relativ jung und homogen ist. Die Unterschiede, die es zwischen den Menschenrassen gibt, sind oberflächlicher Art (etwa die Hautfarbe) und jüngeren Datums. Die Tatsache, dass Darwin von einem gemeinsamen Ursprung aller Menschen ausging, bedeutet übrigens nicht, dass er auch der Meinung war, alle Menschenrassen seien gleichwertig. Wie viele seiner Zeitgenossen war er davon überzeugt, die weiße, europäische Rasse (und insbesondere ihre männliche Hälfte) verkörpere den vorläufigen Höhepunkt der Evolution. Neger und Papuas waren in Darwins Augen minderwertige, „wilde“, unzivilisierte Menschenrassen. In Hagiographien wird Darwin oft als Mann von Welt ohne rassistische oder sexistische Vor-
DAS STANDARDMODELL DER SOZIALWISSENSCHAFTEN
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urteile dargestellt. Dieses Bild ist falsch. In der Abstammung des Menschen finden sich mehrere Stellen, die an Darwins Einstellung zu Frauen und Rassen keinen Zweifel lassen. Wie die „Wilden“ verkörpern Frauen in seinen Augen eine „niedrigere Stufe der Zivilisation“. Unter Darwins Einfluss wurde das evolutionäre Erklärungsmodell in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr populär. Das Resultat war jedoch nicht gerade wissenschaftlich zu nennen. Da man die Evolution als übergreifenden Prozess betrachtete und die Mechanismen der Vererbung noch nicht kannte, machte man keinen Unterschied zwischen den Einflüssen von Nature und Nurture, von Veranlagung und Erziehung. Das hatte zur Folge, dass man allerlei viktorianische Vorurteile hinsichtlich Rasse, Geschlecht und sozialer Herkunft bestätigt fand. Man sah nicht nur bestimmte Menschenrassen als minderwertig an, auch Armut und gesellschaftlicher Erfolg wurden an biologische Ursachen gekoppelt. So meinte der einflussreiche Soziologe Herbert Spencer, Darwins Erklärungsmodell, das er mit dem Slogan Survival of the Fittest zusammenfasste, sei nicht nur auf die Evolution von Organismen, sondern auch auf menschliche Gesellschaften anwendbar. Der Sozialdarwinismus, der aus dieser Vermischung biologischer und gesellschaftlicher Anschauungen hervorging, verkündete, man dürfe nicht in den natürlichen, evolutionären Prozess eingreifen, etwa indem man Hilfsbedürftige unterstütze. Das Prinzip der natürlichen Auslese bestimme nun einmal das Überleben der Stärkeren auf Kosten der Schwächeren. Auf dem Gedankengut des Sozialdarwinismus gründet auch die Eugenik, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufkam. Ihre Fürsprecher glaubten die menschliche Rasse durch die Einführung von Zwangssterilisationen und das Verbot rassisch gemischter Eheschließungen „verbessern“ zu können. Den Begriff Eugenik („gute Abstammung“) hatte Darwins Neffe Francis Galton geprägt, der nach Lektüre der Entstehung der Arten zu der Einsicht gelangt war, man müsse der Evolution unter die Arme greifen, indem man gewissen Personen, etwa Schwachbegabten, Kriminellen oder Leuten aus den untersten Schichten das Recht auf Fortpflanzung versage. Die Ablehnung solcher „biologischen Lösungen“ gesellschaftlicher Probleme war jedoch groß. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam es außerdem zu Entwicklungen, die zum Bruch mit der vorangegangenen Periode führen sollten. Immer mehr Sozialwissenschaftler wandten sich gegen die Vorstellung, es könnte so etwas wie eine universale menschliche Natur geben. Darwins originäre Ideen über die kulturübergreifenden Emotionen und ihren mimischen Ausdruck gerieten mehr als fünfzig Jahre lang in Vergessenheit. Das Standardmodell der Sozialwissenschaften Die neue Sichtweise, die sich in den Sozialwissenschaften durchsetzte, ist teils als Reaktion auf Sozialdarwinismus und Eugenik zu verstehen, die sich in manchen Kreisen weiterhin großer Beliebtheit erfreuten. Ein zweiter Grund für den Arg-
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wohn gegen jegliche Form von „Biologismus“ war der Aufstieg des Behaviorismus und des Kulturdeterminismus. Der amerikanische Psychologe John B. Watson, der Begründer des Behaviorismus, vertrat die Ansicht, tierisches wie menschliches Verhalten werde gänzlich von einem Lernprozess bestimmt. Jedes Verhalten könne durch Konditionierung, das heißt durch Belohnung und Bestrafung, gesteuert und korrigiert werden. Statt die Existenz einer Seele in der menschlichen Maschine zu postulieren, sollten Wissenschaftler sich lieber auf die Erforschung beobachtbaren Verhaltens verlegen. Durch eine sorgfältige Analyse der Einflussfaktoren auf das Verhalten müsse es auf die Dauer möglich sein, genau vorherzusagen, welche Reaktion auf welchen Reiz folge. Der Behaviorismus sollte großen Einfluss auf die Sozialwissenschaften und insbesondere auf die Psychologie des 20. Jahrhunderts ausüben. Erst nach 1950 verlor die Strömung zunehmend an Bedeutung. Auch auf die Erforschung des Tierverhaltens hatte der Behaviorismus einen so starken Einfluss, dass es in der Ethologie lange Zeit tabu war, von Emotionen bei Tieren zu sprechen. Darwin habe sich der Sünde des Anthropomorphismus schuldig gemacht, er habe den Tieren menschliche Gefühle und Gedanken zugeschrieben. Den Behavioristen zufolge sind Körpersprache und Mimik der Tiere ausschließlich kommunikative Signale, sie haben nur den Zweck, elementare Botschaften zu übermitteln. Der Gedanke, auch Tiere könnten zu Gefühlsregungen fähig sein, wurde als nicht überprüfbar und daher als unwissenschaftlich abgelehnt. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewann die Emotionalität bei Tieren unter Ethologen immer mehr an Akzeptanz, etwas, was zweifellos zur öffentlichen Diskussion über Tierrechte und Bioindustrie beigetragen hat. Die behavioristische Vorstellung, Verhalten sei äußerst flexibel, ebnete dem Kulturdeterminismus den Weg, demzufolge das Verhalten des Menschen nahezu ausschließlich von Umweltbedingungen geprägt wird. Die „menschliche Natur“ sei nichts anderes als eine „Verfestigung“ bestimmter kultureller Gewohnheiten in Zeit und Raum. Sobald die Kultur, die Erziehung oder das Milieu sich änderten, ändere sich auch das Verhalten. Bei der Geburt sei der Mensch ein unbeschriebenes Blatt, eine tabula rasa. Dieses Menschenbild gilt als das „Standardmodell der Sozialwissenschaften“. Biologische und evolutionäre Faktoren wurden als unerheblich betrachtet, da es nichts Angeborenes gebe. Erblichkeit spiele keinerlei Rolle. Individuelle Unterschiede wie kognitive Fähigkeiten seien einzig und allein auf Unterschiede im Milieu zurückzuführen. Nach dem Zweiten Weltkrieg erstarrte das Standardmodell zu einem Dogma. Wer es infrage stellte, musste mit scharfer Verurteilung rechnen. Hatten die Nazionalsozialisten nicht demonstriert, wohin „Sozialbiologie“ und Rassenwahn führen können? Aus Gründen der politischen Korrektheit galt es lange Zeit als verpönt, auch nur anzudeuten, das menschliche Sozialverhalten könnte auch durch biologische und erbliche Faktoren geprägt sein. Eltern mit psychotischen
KULTURRELATIVISMUS
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oder autistischen Kindern bekamen zu hören, das Leid ihres Nachwuchses sei einer falschen Erziehung oder mangelnder Zuneigung zuzuschreiben. Neben der behavioristischen Psychologie war die kulturelle Anthropologie die vehementeste Verfechterin des Standardmodells und der Tabula-rasa-Doktrin. Im vergangenen Jahrhundert wurden Generationen von Anthropologen mit der Vorstellung ausgebildet, die menschliche Natur sei eine Erfindung. Die vermeintlich universalen Eigenschaften und Verhaltensmerkmale seien in Wirklichkeit soziale Konstrukte, die je nach Zeit und Ort verschieden sind. Das galt selbstverständlich auch für die menschlichen Emotionen, von denen man annahm, sie seien kulturgebunden und bildeten sich in einem individuellen Lernprozess heraus. Sowohl die Emotionen als auch ihr Ausdruck seien daher von Kultur zu Kultur verschieden, denn nicht die Biologie, sondern die Kultur präge unser Verhalten. Anthropologen berichteten von exotischen Völkern, deren Verhalten und Emotionen sich gänzlich von denen durchschnittlicher Europäer unterschieden, und ihre Forschungsergebnisse dienten anschließend wieder als Beweis für die Wahrheit des Kulturdeterminismus. Darwin war weiter weg denn je. Das Werk der amerikanischen Anthropologin Margaret Mead, insbesondere aus den Zwanziger- und Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts, gilt als Höhepunkt des Kulturdeterminismus. 1928 erschien ihr Buch Coming of age in Samoa (Kindheit und Jugend in Samoa), die Zusammenfassung ihrer ethnographischen Studien weiblicher Adoleszenz auf Samoa. Wenige Bücher haben einen so großen Einfluss auf das Denken in den Sozialwissenschaften des 20. Jahrhunderts ausgeübt wie dieses. In der Anthropologie ist das in viele Sprachen übersetzte Werk ein Klassiker. Meads klarer, flüssiger Stil sprach überdies ein breites Publikum an. Viele Durchschnittsamerikaner kamen durch die Lektüre dieses Buches zum ersten Mal mit der Anthropologie in Berührung. Mead wurde zur Ikone ihres Wissenschaftszweigs. Sie hatte den Beweis erbracht, dass die Idee einer universalen menschlichen Natur ein Hirngespinst war. Da man einmütig davon ausging, dass Meads Beobachtungen korrekt waren, sah man lange Zeit keinen Anlass zu weiterführenden, kritischen Forschungen. Erst 1983 veröffentlichte der neuseeländische Anthropologe Derek Freeman eine Studie, die Meads wissenschaftliche Leistung infrage stellte. Leider haben Freemans Ausführungen die Form einer Abrechnung: Mead sollte und würde als Pseudowissenschaftlerin und Scharlatanin entlarvt werden. Um die Heftigkeit seiner Kritik verstehen zu können, müssen wir uns etwas eingehender mit Meads Hintergrund und ihrer Feldforschung auf Samoa befassen. Kulturrelativismus Margaret Mead wurde am 16. Dezember 1901 als Tochter eines Ökonomen und einer Soziologin in Philadelphia geboren. Anfänglich wollte sie Dichterin werden, doch weil sie selbst fand, sie habe zu wenig Talent, beschloss sie, sich der
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Wissenschaft zuzuwenden. Sie studierte Psychologie und machte ihre Magisterarbeit in Ethnologie bei ihrem Lehrer Franz Boas an der Columbia University in New York. Der aus Deutschland stammende Anthropologe Boas war dort 1899 zum Professor ernannt worden. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sollten seine Ideen die amerikanische Anthropologie weitgehend prägen. Als entschiedener Gegner der Eugenik war Boas gegen jegliche Forschung nach den Einflüssen der Biologie auf das menschliche Verhalten. Er ist der Begründer des Kulturrelativismus innerhalb der Anthropologie, demzufolge Kulturen gleichwertig sind und Begriffe wie „Zivilisation“ und „Barbarismus“ nur unfundierte, westliche Vorurteile widerspiegeln. Dabei darf man den Kulturrelativismus nicht mit dem Kulturdeterminismus verwechseln, für den Kultur die wichtigste bzw. einzige Determinante des menschlichen Verhaltens ist. Beide Auffassungen treten oft gemeinsam auf, wie bei Boas und Mead, sind aber nicht identisch. Boas’ Kulturrelativismus steht in krassem Gegensatz zum Ethnozentrismus Darwins und seiner viktorianischen Zeitgenossen, der die Überlegenheit der weißen Rasse und der europäischen Kultur betonte. Für den Kulturrelativisten gibt es keine höheren oder niedrigeren Kulturen, und das heißt, Anthropologen müssen bei der Erforschung fremder Völker so objektiv wie möglich verfahren. Jede Kultur und die Geschichte jeder Gesellschaft ist einzigartig, eine fremde Kultur kann daher nur von innen heraus begriffen werden. Die Suche nach universalen Gesetzmäßigkeiten oder biologischen Konstanten hielt Boas nicht nur für gefährlich, sondern auch für falsch, da diese das Produkt einer bestimmten Kultur seien, in diesem Fall der europäischen. Daher war es in seinen Augen verfehlt, sich auf die Universalität der menschlichen Natur zu berufen. Vor solchen Irrwegen müsse die Anthropologie gerade geschützt werden, und Boas glaubte, seine talentierte Schülerin könne hierbei eine Rolle spielen. Die junge, ehrgeizige Mead – sie war dreiundzwanzig – fuhr im August 1925 per Schiff von San Francisco nach Amerikanisch-Samoa im südlichen Pazifik. Nach ihrer Ankunft blieb sie zunächst sechs Wochen in der Hauptstadt Pago Pago auf Tutuila, wo sich auch ein Marinestützpunkt befand, und versuchte, die Landessprache zu lernen. Ihre Kritiker äußerten später Zweifel an ihrer Beherrschung des Samoanischen. Ihr Aufenthalt in Pago Pago sei viel zu kurz gewesen, zudem galt Mead nicht gerade als Sprachgenie. Wie dem auch sei, nach sechs Wochen glaubte Mead, ausreichend gerüstet zu sein, und am 9. November landete sie auf Ta’u, einer der ebenfalls zu Amerikanisch-Samoa gehörenden Manu’a-Inseln (Abb. 6.2), die sie für ihre Studie des Verhaltens und der Entwicklung heranwachsender Mädchen ausgewählt hatte. Ihre Feldforschung sollte den Beweis erbringen, dass menschliches Verhalten kulturbestimmt ist. Mead wohnte jedoch nicht bei Einheimischen, sondern in der Familie des bei der amerikanischen Marine angestellten Apothekers Edward Holt. Es war der einzige weiße Haushalt der Insel. In ihren Briefen an Boas schreibt Mead, die Holts verschafften ihr die unverzichtbare „neutrale Aktionsbasis“ für ihre ethnographi-
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W E S TS A M O A SÜDPAZIFIK
AMERIKANISCH-SAMOA
Abb. 6.2: Die Samoa-Inseln. Margaret Meads Feldforschung fand auf der Insel Ta’u im Manu’a-Archipel (rechts unten) statt.
schen Erkundungen. Nebenbei hatte dies den Vorteil, dass ihr die einheimische Küche erspart blieb und sie nicht auf dem Fußboden zu schlafen brauchte. Meads Studie richtete sich auf heranwachsende Mädchen im Alter von vierzehn bis zwanzig Jahren. Aus verschiedenen Dörfern der Insel suchte sie fünfundzwanzig Mädchen aus, mit denen sie ausführliche Interviews führte. Diese arbeitete sie zusammen mit ihren eigenen Beobachtungen zu einem Forschungsbericht aus. Das Projekt dauerte mehrere Monate, von November 1925 bis März 1926. Dabei musste sie die Arbeit auch einmal für längere Zeit unterbrechen, nachdem ein Orkan die Insel am Neujahrstag 1926 getroffen hatte und die Bewohner wochenlang mit dem Wiederaufbau ihrer Dörfer beschäftigt waren. Im Frühling 1926 kehrte Mead nach neunmonatiger Abwesenheit mit einem Umweg über Europa nach Amerika zurück. In New York arbeitete sie ein Jahr lang am Manuskript ihres Buches, das 1928 veröffentlicht wurde. In seinem Vorwort schreibt Boas, Meads gewissenhafte Forschungen bestätigten die Vermutung, vieles von dem, was wir auf die menschliche Natur zurückführten, sei nicht mehr als eine Reaktion auf die Hindernisse, die unsere Zivilisation uns in den Weg lege. Aufwachsen auf Samoa Die wichtigste Beobachtung in Kindheit und Jugend in Samoa ist, dass sich die dortigen Mädchen nicht mit den gleichen pubertären Problemen wie ihre Altersgenossinnen in der westlichen Welt herumzuschlagen brauchen. All die typischen
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Symptome wie Unsicherheit, Aufsässigkeit oder heftige Stimmungsschwankungen kämen bei ihnen nicht vor. Ihre Pubertät verlaufe gänzlich ohne seelische Krisen. Mead folgert daraus, dass die Pubertätskrise keine biologische, in allen Kulturen vorkommende Konstante sei. Die Mädchen von Samoa bewiesen das Gegenteil. Mead nennt eine Reihe von Gründen für dieses unbeschwerte Heranwachsen. Zum einen sei die samoanische Gesellschaft von einer allgemeinen Zwanglosigkeit (general casualness) geprägt. Die Samoaner gehören nach Ansicht Meads zu den freundlichsten, friedfertigsten und am wenigsten streitsüchtigen Völkern der Erde. Da die Familienbande locker sind, binden sich Samoaner nicht so stark an eine einzige Person. Kinder wachsen von klein auf in der Gemeinschaft auf, die enge Elternbindung fehlt. Samoanische Kinder, so stellt Mead fest, suchen sich ihr eigenes Zuhause aus. Der starke Gemeinschaftssinn bewirke zudem, dass Samoaner kaum gewalttätige Konflikte kennen. Das Kollektiv und das friedliche Zusammenleben verhindern auch extreme Emotionen. Aggression sei eine Ausnahme. Während andere Gesellschaften unter der Gewalttätigkeit (männlicher) Halbwüchsiger zu leiden hätten, herrsche auf Samoa überwiegend Ruhe und Frieden. Kriege, Selbstmorde und Vergewaltigungen seien so gut wie unbekannt. Auch der für die westliche Gesellschaft so charakteristische Konkurrenzkampf sei den Samoanern fremd, ja, es gelte geradezu als Untugend, sich vor anderen auszeichnen zu wollen. Ein zweiter Grund, warum das Heranwachsen in Samoa so unproblematisch ist, liegt Mead zufolge im entspannten Umgang mit Sex. Sex sei der Lieblingszeitvertreib der dortigen Jugend. Dabei gehe es weniger um die Persönlichkeit des jeweiligen Partners als vielmehr um ihre oder seine sexuelle Technik und Virtuosität. Eine einzige Kopulation pro Nacht gelte geradezu als Zeichen von Senilität. Mead entwirft das Bild von einer paradiesischen, tropischen Bounty-Insel, auf der sowohl Jungen wie Mädchen nach Herzenslust mit Sex experimentieren dürfen. Im Gegensatz zur westlichen Welt kenne das heidnische Samoa keine moralischen Vorschriften in Bezug auf Sexualität. Auch die beengende emotionale Bindung an den jeweiligen Liebespartner fehle, die Beziehungen seien überwiegend flüchtig und der sexuelle Kontakt spielerisch. Da die Mädchen keinen festen Liebespartner haben, seien sie auch selten eifersüchtig. Die Samoaner sind zwar leidenschaftlich, stellt Mead fest, doch es entstehe keine „romantische“ Abhängigkeit, die so charakteristisch für den Westen sei. Ehebruch wird nicht als schwerwiegend erlebt, da die Liebe sorglos und frei ist, und ein Liebhaber einfach gegen den anderen eingetauscht wird. Der Begriff „Sünde“ ist den Jugendlichen fremd, auch vor Intimität mit dem eigenen Geschlecht herrscht keine Scheu, und gemeinsames Masturbieren ist nicht ungewöhnlich. Die Erwachsenen geben zu all dem ihren Segen, ja sie ermutigen die Mädchen dazu, ihre erwachende Sexualität in vollen Zügen zu genießen. Die Mädchen möchten daher nichts lieber, als die Adoleszenz hinauszuzögern, um möglichst viele Erfahrungen zu machen.
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Nur die sogenannte taupou, die zeremonielle Dorfjungfrau, die für den Stammeshäuptling bestimmt sei, müsse sich ihre Jungfräulichkeit bewahren. Kurzum, die Tatsache, dass samoanische Jugendliche so sorglos und unbeschwert durchs Leben gehen, hat Mead zufolge soziokulturelle Gründe. Denn im Unterschied zum Westen werden Wünsche und Sehnsüchte auf Samoa von der Gemeinschaft nicht unterdrückt. Westliche Jugendliche kennen diesen „primitiven“ Luxus nicht, da sie sich an allerlei strikte Regeln halten und oft widersprüchliche Erwartungen erfüllen müssen. Die frustrierten Jugendlichen werden in das Schema einer Gesellschaft gezwungen, in der eine Doppelmoral herrscht. Nicht die menschliche Natur, sondern die sexuell repressive westliche Kultur ist schuld am Stress der Teenager. Denn anders als ihre amerikanischen Altersgenossinnen leiden samoanische Mädchen nicht unter Neurosen oder Depressionen. Frigidität bei Frauen komme in Samoa genauso wenig vor wie Impotenz bei Männern. Meads offenherzige Schilderung der sexuellen Freizügigkeit in Samoa, die auch Homosexualität und Masturbation einschließt, erklärt teilweise den großen Erfolg ihres Buches. In den Zwanziger- und Dreißigerjahren war eine solche Offenheit selten. Die Illustration auf dem Schutzumschlag der Originalausgabe, die eine barbusige Inselschönheit mit ihrem Geliebten bei Vollmond am Strand zeigt, hat sicherlich auch zu den hohen Verkaufszahlen beigetragen. Zudem gehörte Mead zu den ersten Wissenschaftlern, die sich mit der GenderThematik befassten, mit der Frage, inwieweit männliche und weibliche Verhaltensmuster festliegen oder das Produkt sozialer Umstände sind. Die Genderproblematik, die Unterscheidung zwischen sozialem und biologischem Geschlecht, sollte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, besonders in feministischen Kreisen, wachsenden Einfluss gewinnen. Berühmt ist der Ausspruch Simone de Beauvoirs, einer anderen Feministin der ersten Stunde: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu gemacht.“ In der Tradition von Mead stritten Genderforscher jeglichen Zusammenhang zwischen Geschlechterrollen und Biologie oder Evolution ab. Die vermeintlich angeborenen Unterschiede im Sozialverhalten der Geschlechter seien, wenn es sie denn überhaupt gäbe, so minimal, dass man sie guten Gewissens ignorieren könne. In ihrer 2005 erschienenen Abhandlung Darwin für Damen hat die belgische Philosophin Griet Vandermassen die Dogmen und Defizite des sozial-konstruktivistischen Ansatzes ausführlich dargelegt. Die Autorin, die sich als „darwinistische Feministin“ bezeichnet, meint, die Genderforschung sei zu ideologisch gefärbt und daher kaum mehr wissenschaftlich zu nennen. Wenn sie ernst genommen werden wolle, müsse sie bei den biologischen Wissenschaften Anschluss suchen. Man komme nicht umhin, die menschliche Natur und die Geschlechter auch aus darwinistischer Perspektive zu betrachten.
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Mutter der Welt Mit Kindheit und Jugend in Samoa schien Mead den biologischen Determinismus widerlegt zu haben. Denn ein einziges Gegenbeispiel (negative instance) genügte ja, die Theorie von der universalen menschlichen Natur zu entkräften, und genau das hatte Mead offenbar getan. Sie hatte das Buch geschrieben, auf das alle gewartet hatten. Mead hatte gezeigt, dass „die Rhythmen der Kultur zwingender sind als die physiologischen Rhythmen“. Das Verhalten westlicher Jugendlicher ist nicht die zwangsläufige Folge einer biologischen Lebensphase, die jeder Mensch durchmacht. Die Identitätskrise westlicher Heranwachsender hat einen kulturellen Grund – an Samoa ließ sich zeigen, dass es auch anders ging. Nicht die Natur, sondern die Gesellschaft prägt unser Verhalten. Samao war ein Beispiel dafür, wie man es besser machen konnte, denn offenbar ließ sich menschliches Verhalten durch den Einfluss der Kultur in jede gewünschte Form bringen. Die Gesellschaft konnte so umgeformt werden, dass alle unangenehmen Aspekte aus ihr getilgt würden. Meads Buch trägt nicht umsonst den Untertitel „Eine psychologische Studie primitiver Jugend für die westliche Zivilisation“. Auch die behavioristische Schule Watsons schloss sich in den Dreißigerjahren dem an. Wie Boas und Mead ging sie vom Gedanken der Tabularasa und des Kulturdeterminismus aus: Das menschliche Verhalten ist flexibel und veränderbar. Eine soziale Renaissance hing in der Luft, eine neue Zeit der Aufklärung hinsichtlich sozialer und sexueller Mores. Viele linke Intellektuelle schwärmten für die Sowjetunion, wo dieser Prozess angeblich bereits in Gang gesetzt worden war. Der Kommunismus sei ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum samoanischen Ideal: einer von Scheinheiligkeit und bürgerlichen Konventionen befreiten Gesellschaft. Meads Schlussfolgerungen übten großen Einfluss nicht nur auf die Anthropologie aus, sondern auch auf die Psychologie, die Soziologie und die Pädagogik. Ihr Werk wurde weltweit zur Pflichtlektüre für Studenten der Sozialwissenschaften. Kindheit und Jugend in Samoa gehörte fortan zum Kanon der modernen Anthropologie und errang den Status eines wissenschaftlichen Klassikers. Mead war eine Berühmtheit geworden und sollte es ihr Leben lang bleiben. Die Feldforschung kombinierte sie mit einer glänzenden akademischen Karriere. Sie war lange Zeit Kuratorin der ethnologischen Abteilung des American Museum of Natural History am Central Park in New York. Von 1954 bis 1978 hatte sie einen Lehrstuhl für Anthropologie an der Columbia University inne, und 1976 wurde sie Vorsitzende der American Association of the Advancement of Science. Im Lauf der Jahre erhielt sie unzählige wissenschaftliche Auszeichnungen und nicht weniger als achtundzwanzig Ehrendoktorate. Kollegen bezeichneten sie als Magna mater der amerikanischen Anthropologie. Sie war der Guru des progressiven Amerika. Bei jedem gesellschaftlichen Problem wurde sie zu Rate gezogen. Feminismus, Abtreibung, Rassendiskriminierung – kein noch so heikles Thema,
FREEMANS ANGRIFF
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zu dem Mead nicht eine ausgesprochen fortschrittliche Meinung hatte. 1969 zierte sie als „Mutter der Welt“ den Titel des Time Magazine. Trotz ihrer kleinen Gestalt – sie war kaum 1,60 Meter groß – stand sie überall im Mittelpunkt. Der Mythos schien unantastbar. Erst Mitte der Fünfzigerjahre wurde auf Samoa weiterführende Feldforschung betrieben. Im Rahmen einer Arbeit über den Manu’a-Archipel interviewte der amerikanische Anthropologe Lowell D. Holmes 1954 mehrere Frauen, die auch an Meads Untersuchung teilgenommen hatten, und stieß dabei auf einige Widersprüche. Während Mead eine überwiegend heidnische Insel beschrieben hatte, stellte Holmes fest, dass die Samoaner gläubige Christen waren. Seit sie 1840 von den Engländern zum Protestantismus bekehrt worden waren, spielte der um einige exotische Eigenheiten ergänzte Glaube im Leben der Inselbewohner eine beträchtliche Rolle. In Kindheit und Jugend in Samoa erwähnt Mead die Anwesenheit der protestantischen Kirche und der Missionare zwar, doch sie hält ihren Einfluss auf die Bevölkerung für gering. Weiter stellte Holmes fest, dass Wettbewerb und Konkurrenz wichtige Impulse im Leben der Samoaner sind, während Mead gerade ihre relative Irrelevanz hervorgehoben hatte. Es fiel Holmes außerdem auf, dass das Heranwachsen auf Samoa nicht immer ein Zuckerschlecken war. Gewalt unter Jugendlichen war keineswegs selten, und auch psychische Probleme kamen häufig vor. Dennoch war dies für Holmes kein Grund, Meads Beobachtungen in Zweifel zu ziehen. Er meinte, die von ihm festgestellten Diskrepanzen seien auf die inzwischen veränderte samoanische Gesellschaft zurückzuführen. In seiner Studie klingt zwar vorsichtige Kritik an Meads Arbeit an, sie bezieht sich jedoch vor allem auf Details wie die genaue Interpretation von bestimmten samoanischen Gebräuchen. Auch in späteren Veröffentlichungen blieb Holmes dabei, dass Meads Forschung im Kern sound, gediegen sei. Auch die amerikanische Anthropologin Eleanor Gerber, die Anfang der Siebzigerjahre fünfzehn Monate auf Samoa lebte, stellte fest, dass ihre Beobachtungen sich von denen Margaret Meads unterschieden. So erwies sich die Sexualmoral der Inselbewohner als puritanischer, als Mead sie beschrieben hatte. Einige Samoaner, die Meads Buch gelesen hatten, vertrauten Gerber etwas belustigt an, von dem ganzen „Sexgetue“ stimme rein gar nichts. Wie Holmes führte Gerber die Diskrepanzen aber vor allem auf die kulturellen Veränderungen in den dazwischenliegenden fünzig Jahren zurück, die Samoaner waren offenbar erheblich prüder geworden. Die Ikone Mead blieb vorerst unangetastet, doch die samoanische Idylle zeigte erste Risse. Freemans Angriff Margaret Mead starb am 15. November 1978 in New York an Krebs. Fünf Jahre danach, 1983, erschien die erste echte Kritik an ihrem Werk von dem neuseeländischen Anthropologen Derek Freeman: Margaret Mead and Samoa, the making and
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unmaking of an anthropological myth. Freeman hatte in den Vierziger- und Sechzigerjahren selbst Feldforschung auf Upola betrieben, einer der größeren Inseln West-Samoas. In seinem Buch, das dem Wissenschaftsphilosophen Karl Popper gewidmet ist, lässt Freeman kein gutes Haar an Meads Samoa-Buch. Jede ihrer Beobachtungen und jede Schlussfolgerung wird von ihm widerlegt. Seine Kritik ist so scharf und das Bild, das er von Mead zeichnet, so ernüchternd, dass manche Freemans Motive anzweifelten. Sein Buch hat überdies den Ton einer persönlichen Abrechnung: Mead, jahrzehntelang als weise „Mutter der Erde“ verehrt, musste von ihrem Sockel gestoßen werden. Freemans Angriff ist frontal und gnadenlos. Außer den Widersprüchen, auf die schon Holmes und Gerber aufmerksam gemacht hatten, führt er eine Fülle an Fakten an, die Meads laxes Verhältnis zur Wahrheit belegen sollen. Von sexueller Promiskuität bei Mädchen könne keine Rede sein, auf Jungfräulichkeit werde größter Wert gelegt, und Sex vor der Ehe sei tabu. Die taupou oder Dorfjungfrau habe die Aufgabe, den Mädchen als gutes Beispiel voranzugehen. Dieser Jungfräulichkeitskult stimme nicht mit dem unbekümmerten Liebesleben überein, das Mead in ihrem Buch beschreibt. Auch sonst kommt Freeman zu entgegengesetzten Schlussfolgerungen. Meads Beobachtung, die Samoaner kennten kaum Beziehungsprobleme, entkräftet er mit der Feststellung, Frigidität führe auf Samoa häufig zu Spannungen innerhalb der Ehe, und Ehebruch sei der wichtigste Scheidungsgrund. Während Mead behauptet, unfreiwillige sexuelle Handlungen gehörten auf Samoa zur Ausnahme, führt Freeman eine Regierungsuntersuchung an, aus der hervorgeht, dass Vergewaltigung zu den fünf häufigsten Straftaten des Archipels gehört. Mead betont in ihrem Buch die schwache emotionale Bindung zwischen Eltern und Kindern, Freeman stellt fest, dass es in Samoa wie überall auf der Welt eine enge Mutter-Kind-Beziehung gebe. Und wo Mead die Zwanglosigkeit und Friedfertigkeit der Samoaner hervorhebt, berichtet Freeman von grausamen Stammesfehden, bei denen ganze Dörfer ausgerottet würden. Auch mit dem zentralen Anliegen von Kindheit und Jugend in Samoa macht Freeman kurzen Prozess. Das Leben der heranwachsenden Mädchen (und Jungen) sei alles andere als sorglos – wie Mead behauptete. Samoanische Jugendliche seien genauso unsicher und rebellisch wie ihre westlichen Altersgenossen. Freeman belegt mit Statistiken, dass die Kriminalitätsrate unter Jugendlichen in Samoa genauso hoch ist wie unter Jugendlichen in Chicago. Seine Schlussfolgerung lautet daher auch, dass die Pubertätskrise ein universelles Phänomen sei – samoanische Backfische litten unter den gleichen Hormonen wie amerikanische oder europäische. Die Pubertät sei zuallererst ein biologischer Übergang, der Beginn einer neuen Lebensphase, der mit neuen Bedürfnissen und Unsicherheiten einhergeht. Anthropologen wie Mead, die davon ausgingen, solche biologischen Einflüsse auf menschliches Verhalten gebe es nicht, würden zwangsläufig Unwahrheiten verkünden.
FREEMANS ANGRIFF
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Freemans Ansicht nach war Mead bei ihren Forschungen in hohem Maße voreingenommen, da sie Kultur für die wichtigste Determinante menschlichen Verhaltens hielt. Sie sah, was sie sehen wollte. Weil sie dem Kulturdeterminismus anhing, präsentierte sie ein systematisch verzeichnetes Bild der samoanischen Kultur. Ihre Darstellung kam zudem dem westlichen Publikum entgegen, das nach erotisch angehauchten Berichten über exotische Orte lechzte, wo edle Wilde unter Palmen die freie Liebe betreiben. Freeman ist davon überzeugt, dass die samoanischen Mädchen Margaret Mead Lügenmärchen auftischten. Samoaner würden nämlich Fremden gern das erzählen, was sie hören wollten, wie er aus eigener Erfahrung wisse. Wäre Mead biologisch und ethologisch besser geschult gewesen, hätte sie schnell erkannt, dass auf Samoa die gleichen Muster vorkommen wie überall auf der Welt. Freeman kann sich, zugegeben, stilistisch nicht mit Mead messen, und er schüttet des Öfteren das Kind mit dem Bade aus. Es gibt kaum eine Aussage Meads, die er nicht widerlegt. Er führt eine Überfülle an Beispielen an, um zu beweisen, dass Mead den interviewten Mädchen aufgesessen ist. Und doch ist er nicht der kurzsichtige biologische Determinist, für den manche Kritiker und Mead-Anhänger ihn halten. Wie Edward O. Wilson und Steven Pinker meint Freeman, dass wir bei der Erforschung des menschlichen Verhaltens sowohl die Kultur als auch die Biologie berücksichtigen müssen. Auf Betreiben von Boas habe Mead dies versäumt, und das habe sich verheerend auf die Forschung ausgewirkt: Durch den enormen Einfluss ihres Buches seien ganze Generationen junger Sozialwissenschaftler auf den Holzweg geführt worden, denen so weisgemacht wurde, die Anthropologie sei eine autonome Disziplin, die mit der Biologie nichts zu tun habe. Im November 1987 besuchte Freeman Samoa noch einmal, diesmal in Gesellschaft eines australischen Dokumentarfilmers. Auf der Insel Ta’u kamen sie zufällig mit einer sechsundachtzigjährigen Frau namens Fa’apua’a Fa’amu in Kontakt. Sie war eines der von Mead interviewten Mädchen gewesen. Obwohl sie damals bereits vierundzwanzig Jahre alt war, war sie viel mit Mead umgegangen und eine ihrer wichtigsten Informantinnen gewesen. 1962 war sie mit ihrem Ehemann nach Hawaii gezogen, nach dessen Tod 1986 auf ihre Heimatinsel zurückgekehrt. Die noch sehr rüstige Frau meldete Freeman, sie habe ihm etwas Wichtiges mitzuteilen. Sie bestand darauf, dass alles gefilmt wurde (ihr Bericht ist nachzulesen in Freemans 1999 veröffentlichtem Buch The fateful hoaxing of Margaret Mead). Vor der Kamera erklärte Fa’apua’a Fa’amu, sie habe Mead seinerzeit über ihr Liebesleben und die sexuellen Abenteuer der anderen Mädchen einen Bären aufgebunden. Es sei als Witz gemeint gewesen, doch Mead hätte alles für bare Münze genommen.
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Kollidierende Paradigmen In den Jahrzehnten nach der Veröffentlichung von Freemans Buch kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Lagern. Die Mead-Anhänger beschuldigten Freeman, er verdrehe die Tatsachen und bediene sich zweifelhafter wissenschaftlicher Methoden. Er sei von vornherein von Meads „Schuld“ überzeugt gewesen und habe alles daran gesetzt, Beweise zu finden. Er sei zudem einer direkten Konfrontation mit Mead aus dem Weg gegangen, sonst hätte er sein Buch nicht erst nach ihrem Tod veröffentlicht. Nicht Mead, sondern Freeman habe sich von den Samoanern an der Nase herumführen lassen. Freemans Anhänger dagegen meinten, die junge Mead sei denkbar ungeeignet für ihre Feldforschung auf Samoa gewesen, sie habe die Sprache nicht beherrscht und sei von vorgefertigten Urteilen ausgegangen. Die Tatsache, dass Freeman mit der Veröffentlichung seines Buches bis 1983 gewartet habe, sei völlig verständlich, denn erst dann sei die Zeit für eine Revision ihres Werks reif gewesen. In den Jahren davor sei eine Diskussion über den Einfluss der Biologie auf menschliches Verhalten schlichtweg nicht möglich gewesen. Hätte Freeman sein Buch früher publiziert, wäre ihm die gleiche Häme zuteil geworden wie Edward O. Wilson. Die Wahrheit liegt wohl, wie so oft, in der Mitte. Man kann sich ganz allgemein die Frage stellen, wie sich die großen Unterschiede der Forschungsergebnisse von Mead und Freeman erklären lassen. Für den niederländischen Anthropologen Peter Kloos spielen verschiedene Aspekte eine Rolle. Wie schon Gerber vor ihm weist er darauf hin, dass zwischen den Feldforschungen Meads und Freeman mehrere Jahrzehnte liegen. Es könnte durchaus sein, dass sich die Kultur der Samoaner seit Meads Aufenthalt auf der Insel stark gewandelt hatte. Die Samoaner könnten tatsächlich prüder geworden sein und westliche Normen und Verhaltensweisen übernommen haben. Es sei auch denkbar, so Kloos, dass es keine einheitliche samoanische Kultur gibt. Mead hielt sich 1925 auf dem amerikanischen Teil Samoas auf, während Freeman in den Vierziger- und Sechzigerjahren auf West-Samoa forschte, das damals zu Neuseeland gehörte. Die samoanische Kultur sei wahrscheinlich sehr viel weniger homogen, als Freeman uns weismachen will. Hinzu komme, dass Mead sich auf junge Mädchen konzentrierte, während Freeman fast ausschließlich ältere Stammeshäuptlinge interviewte. Last but not least könne ein soziokulturelles System auch innere Widersprüche aufweisen, die soziale Wirklichkeit eigne sich oft für mehrere Interpretationen. Jungfräulichkeitskult und Promiskuität der samoanischen Mädchen könnten durchaus zwei Seiten derselben Medaille sein. Die von Kloos angeführten Gründe sind an sich zwar einleuchtend und erklären auch zum Teil die unterschiedlichen Forschungsergebnisse, doch den kriegerischen Ton, den Freeman anschlägt, und die heftigen Reaktionen, die sein Buch auslöste, erklären sie nicht. Offenbar steckt mehr dahinter. Es hat den Anschein, als ob sich innerhalb der Anthropologie – und der Humanwissenschaften im
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Allgemeinen – ein Konflikt zwischen verschiedenen Paradigmen abspielt. Unter Paradigma versteht man seit der Definition des amerikanischen Wissenschaftstheoretikers Thomas Samuel Kuhn einen theoretischen Rahmen, innerhalb dessen Wissenschaft betrieben wird. Ein Paradigma ist mit einem Weltbild zu vergleichen: Es bestimmt, welche Tatsachen und Probleme relevant sind, nach welchen Lösungen man suchen muss, und wie diese in etwa auszusehen haben. Das Paradigma bestimmt somit, wie wir die Wirklichkeit erforschen. Meads Feldforschung geschah im Rahmen des Kulturdeterminismus; Freeman dagegen suchte Beispiele, die in den Rahmen der Soziobiologie passten, auch wenn er sie nirgends beim Namen nennt. Daher ist es kein Wunder, dass die Forschungsergebnisse der beiden einander in allen Punkten widersprechen. Wir haben es mit zwei kollidierenden Paradigmen zu tun. Kuhn zufolge sind verschiedene Paradigmen „inkommensurabel“, das heißt, die Denkweisen sind unvereinbar und können im Grunde nicht sinnvoll miteinander verglichen werden. Wir werden mit unterschiedlichen Auffassungen der Wirklichkeit konfrontiert. Kuhn zufolge ist es unmöglich, sich auf objektive Fakten zu berufen, da es keine theorieneutrale Beobachtungssprache gibt, die als Schiedsrichter fungieren könnte. Was eine Tatsache ist und was nicht, wird nämlich vom Paradigma bestimmt. Daher meint Kuhn, die Anhänger verschiedener Paradigmen können einander nicht verstehen, weil sie ständig aneinander vorbeireden. Im vorliegenden Fall trifft dies jedoch nicht ganz zu, denn heute, gut zwanzig Jahre nach der Veröffentlichung von Freemans Buch, lässt sich eine vorsichtige Annäherung zwischen den rivalisierenden Lagern beobachten. Allmählich haben Sozialwissenschaftler begriffen, dass sich biologische Einflüsse auf menschliches Verhalten nicht leugnen lassen. In dieser Beziehung hat Freeman die Rolle eines Vorreiters gespielt. Ohne seinen Beitrag hätte sich das Standardmodell der Kulturanthropologie, das Dogma vom unbeschriebenen Blatt und vom grenzenlos anpassungsfähigen Menschen, viel länger gehalten. Anthropologen wie Boas und Mead erkannten nicht, dass eine allen gemeinsame Menschlichkeit die Bedingung jeglicher anthropologischen Forschung ist. Eine fremde Kultur lässt sich vielleicht nur dann verstehen, wenn es eine universale menschliche Natur gibt, wenn die unterschiedlichen Gesellschaften einen gemeinsamen Kern besitzen. Paul Ekman, der Spezialist auf dem Gebiet der Gesichtsmimik, den wir am Anfang dieses Kapitels kennenlernten, hat Mead gekannt und mit ihr über die Frage korrespondiert, ob Menschen einen gemeinsamen Kern angeborener Verhaltensweisen und Emotionen haben. Mead bestritt dies, obwohl sie privatim einräumte, die Biologie spiele sicher eine gewisse Rolle. So war sie der Ansicht, dass die biologische Grundlage der Aggression bei beiden Geschlechtern, sowohl bei den Menschen wie auch bei anderen Säugetieren, beträchtlich differiere. Was die Universalität der emotionalen Ausdrucksformen betraf, blieb Mead jedoch sehr skeptisch. Wie bereits erwähnt, teilte der geschulte Behaviorist und strenge
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Skinner-Adept Ekman anfangs ihre Vorbehalte. Im Lauf seiner Forschungstätigkeit kam er jedoch zu der Erkenntnis, dass die Formen des Gefühlsaudrucks, das spezifische Zusammenspiel von Muskelbewegungen, festgelegt sind. Sie ermöglichten ein Verständnis, das Generationen und Kulturen übergreift, sowohl zwischen Fremden wie zwischen Menschen, die miteinander vertraut sind. Darwin hätte ihm zugestimmt.
7 Evolution und Sprache Sprache macht den Menschen Der Mensch ist ein plappernder Primat. Wie ist dieses wunderliche Phänomen entstanden? Und macht der Besitz von Sprache uns einzigartig oder verfügen Tiere auch über rudimentäre Kommunikationsformen? Diese alten Fragen sind heute aktueller denn je. Ursprung und Entwicklung der Sprache ist ein Hot Topic unter Linguisten, Neurowissenschaftlern, Evolutionsbiologen, Psychologen und Paläoanthropologen. Die Zahl interdisziplinärer Workshops, die über dieses Thema abgehalten werden, nimmt sprunghaft zu. Die Forschung nach dem Ursprung der Sprache hat durch die Zusammenarbeit verschiedener Wissenschaftszweige einen rasanten Aufschwung genommen. Darüber hinaus erbrachte der evolutionäre Ansatz eine Vielzahl neuer Gesichtspunkte. Vor 1960 waren die meisten Linguisten der Ansicht, Sprache habe nichts mit Biologie oder Evolution zu tun. Sie sei vielmehr ein kulturelles Artefakt, eine praktische Sache, die unsere Vorfahren erfunden hätten – wie das Fahrrad oder den Häuserbau. Diese Auffassung hat sich als unhaltbar erwiesen. Doch trotz erheblicher Fortschritte in den letzten Jahrzehnten ist der Ursprung der Sprache noch immer ein ungelöstes Rätsel. Über den Ursprung der menschlichen Sprache hat man im Lauf der Jahrhunderte eine ganze Reihe von Hypothesen aufgestellt. Manche meinten, Sprache sei durch das Ausstoßen unwillkürlicher Laute bei gemeinsamer schwerer Körperarbeit entstanden, etwa wenn unsere Vorfahren ein Stück Mammut zum Lager schleppen mussten. Es erklang dann ein kollektives „Hauruck!“ Das tun wir ja noch immer automatisch, wenn wir mit anderen etwas Schweres heben müssen. Nach einer anderen Theorie ging die Sprache aus der Nachahmung von Tierlauten hervor. So schrieb Darwin in Die Abstammung des Menschen: „Dürfte nicht irgend ein ungewöhnlich gescheites, affenähnliches Tier darauf verfallen sein, das Heulen eines Raubtiers nachzuahmen, um dadurch seinen Mitaffen die Natur der zu erwartenden Gefahr anzudeuten? Und dies würde ein erster Schritt zur Bildung einer Sprache gewesen sein.“ Wieder andere sahen den Ursprung der Sprache in stark gefühlsbetonten Ausrufen wie „Uh!“, „Ah!“ und „Au!“ Sie seien immer zahlreicher geworden und hätten so die Entstehung der Sprache in Gang gesetzt. Auch biblische Erklärungen waren eine Zeit lang in Mode. Mancher Sprachforscher wies auf das 1. Buch Mose (2.19) hin, aus dem hervorgehe, dass Adam der erste Sprachbenutzer gewesen sei, da er den Tieren und Pflanzen einen Namen gegeben habe: „Denn wie der
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Mensch jedes Tier nennen würde, so sollte es heißen.“ In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten die Hypothesen derart überhand genommen, dass die Pariser Société de Linguistique 1866 in ihren Statuten verbot, Theorien zur Entstehung der Sprache anzunehmen. Zu diesem Thema sei nichts Sinnvolles zu sagen. Die Sprachfähigkeit steht immer ganz oben auf der Liste der Eigenschaften, die angeblich die Einzigartigkeit des Menschen ausmachen. Diejenigen, die diese Einzigartigkeit betonen, weisen auch auf andere Spezifika hin, wie Religion, Kultur, Kunst, rationales Denken und Kochen von Nahrung, doch vor allem auf den Besitz einer vollwertigen Sprache. Ja, alle anderen menschlichen Errungenschaften seien von eben diesem Unterschied abgeleitet. Für diesen Standpunkt spricht einiges. Denn von dem Moment an, da unsere fernen Vorfahren der Sprache mächtig waren, erfuhr die Entwicklung des Menschen einen zusätzlichen Schub. Mit der Übermittlung wichtiger Informationen auf nichtgenetischem Weg (das heißt über Laute, Symbole und Gebärden) entstanden rudimentäre Formen der Kultur, der Kunst und der Technik. Das mächtige Instrument der Sprache ermöglichte es dem Menschen, das Animalische zu überwinden und sich die Erde untertan zu machen. Nicht die menschliche Natur, sondern die menschliche Kultur prägt seitdem den Fortschritt der Menschheit. Doch wie wir in den vorigen Kapiteln gesehen haben, ist das menschliche Verhalten nicht unbegrenzt flexibel. Menschen in allen Zeiten und Kulturen haben womöglich einen Kern von Verhaltensweisen und Emotionen gemeinsam, ohne die wechselseitiges Verstehen und Kommunikation nicht möglich wären. Wir begreifen das Glück und das Leid der Samoaner, so wie uns die Emotionen und das Verhalten der Protagonisten in Homers Epen oder in Shakespeares Theaterstücken nicht eigenartig oder unerklärlich erscheinen. Der Kanon der Weltliteratur gewährt uns somit einen lehrreichen, wenn auch nicht immer angenehmen Einblick in die Gemütsbewegungen des Homo sapiens. Der Mensch ist sowohl das Produkt seiner Natur wie seiner Kultur: Nur wenn wir beiden Anteilen gerecht werden, lernen wir uns selbst besser begreifen. Die Tatsache, dass gewisse Grundemotionen kulturübergreifend sind, bedeutet nämlich nicht, dass sie auch die gleiche Ursache oder den gleichen Anlass haben. Abscheu zum Beispiel empfinden Menschen in allen Kulturen, doch warum sich einer ekelt, kann verschiedene Gründe haben. Uns dreht sich bei der Vorstellung, daumenlange, lebende Insektenlarven verspeisen zu müssen, der Magen um, während das sich windende Häppchen bei vielen Naturvölkern als Delikatesse gilt. Diese wiederum werden wahrscheinlich einem Rollmops oder einem Bommerlunder nicht viel abgewinnen können. Kultur ist eben mindestens so wichtig wie Natur. Die Verknüpfung von Natur und Kultur finden wir nicht nur bei Emotionen, sondern auch bei dem Phänomen der Sprache. Die Sprache stellt ein kompliziertes Wechselspiel zwischen nature und nurture, zwischen angeborenen und erlernten Aspekten dar. Diese Erkenntnis ist relativ neu. Man ging, wie gesagt, bis zu
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den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts davon aus, dass die Sprache ein rein kulturelles Phänomen sei und unabhängig von der Biologie erforscht werden könne. Ein Umdenken bewirkten die Untersuchungen des Neuropsychologen Eric Lenneberg und des Sprachwissenschaftlers Noam Chomsky, die zeigten, dass die Fähigkeit, Sprache zu erwerben, in unserer Natur verankert ist. Das Phänomen Sprache müsse daher genauso erforscht werden wie jeder andere Aspekt unserer Anatomie. Sprache sei, wie der aufrechte Gang oder die Sexualität, menschliches Verhalten, das sich, ein angemessenes Lernumfeld vorausgesetzt, von Natur aus entwickelt. Anders gesagt, das Sprachvermögen ist angeboren. Empirismus und Nativismus In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts standen Psychologie und Sprachwissenschaft im Zeichen des Behaviorismus. Wie schon erwähnt, ging diese streng empiristisch ausgerichtete Strömung davon aus, dass der Mensch als unbeschriebenes Blatt zur Welt kommt. Erst die Umwelteinflüsse machten den Menschen zu dem, was er später ist, wie er sich verhält. Durch Konditionierung, das heißt durch Belohnung und Strafe, könne das Verhalten zudem in jede gewünschte Form geknetet werden. Dem Behaviorismus zufolge bestand die einzige wissenschaftlich vertretbare Methode darin, objektiv wahrnehmbares Verhalten zu erforschen. Aussagen über mentale Zustände, etwa einen „Geist“ in der tierischen oder menschlichen Maschinerie, seien gänzlich fehl am Platz, da nicht überprüfbar. Auch das Erlernen der Sprache wurde in das behavioristische Erklärungskorsett gezwängt. Der Behaviorist B. F. Skinner meinte, wir erlernten die Sprache genauso wie jede andere Fertigkeit: Kleine Kinder werden gelobt, wenn sie korrekte Sätze nachsprechen, und getadelt, wenn sie Fehler machen. Ironischerweise sollte der Behaviorismus unter anderem an dieser Behauptung zugrunde gehen. Das behavioristische Modell bewährte sich ausgezeichnet, solange es darum ging, das Verhalten von Tieren zu verstehen und zu manipulieren. Hunden und Ratten kann man tatsächlich mittels positiver und negativer Reize die verschiedensten Kunststücke beibringen. Doch bei der Menschensprache versagt dieser Ansatz. Denn Kinder im Alter von etwa drei Jahren fangen an, Sprachkonstruktionen hervorzubringen, die sie nie zuvor gehört haben. Man denke an Wortschöpfungen wie „Balankel“ (Bademantel) oder „Popapier“. Dieser Erfindungsreichtum lässt sich nicht durch bloße Imitation oder Konditionierung erklären. Hinzu kommt, dass Kinder mühelos und spielerisch Grammatikregeln anwenden, die sie nie gelernt haben. Linguisten und Psychologen nennen dies die „Unzulänglichkeit des Stimulus“ (poverty of the stimulus): Der Stimulus, das heißt das Sprachangebot, ist viel zu beschränkt, als dass er die Kreativität und den raschen Spracherwerb von Kindern erklären könnte. Somit erwies sich der Gedanke, Eltern oder Erzieher lieferten die sprachlichen Vorbilder und Kinder lernten durch Lob und Tadel, Sprache richtig zu imitieren, alles in allem als unhaltbar.
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Durch die Kritik von Lenneberg, Chomsky und anderen ging der Einfluss des Behaviorismus in den Fünfzigerjahren zurück. Der Empirismus der Behavioristen machte dem Nativismus Platz, der Ansicht, eine bestimmte Kenntnis sei angeboren. Wir müssten bestimmte angeborene Fähigkeiten voraussetzen, anders sei der Spracherwerb von Kindern nicht zu erklären. Wir hätten alle von Geburt an eine Art Sprachmodul im Kopf, das nur noch durch die Außenwelt aktiviert zu werden braucht. Die elementarsten Sprachregeln seien angeboren: Man nennt sie die universale Grammatik. Damit ist nicht die Fähigkeit gemeint, eine bestimmte Sprache zu erlernen, sondern die, sich jede beliebige Sprache anzueignen. Die universale Grammatik ist die Grundform unserer Sprache. Ein außerirdischer Besucher unseres Planeten, meinte Chomsky, würde zu dem Schluss kommen, dass wir alle dieselbe Sprache sprechen. Er würde hinter den verschiedenen Lauten das gleiche Grundmuster erkennen. Alle Sprachen sind nach den gleichen Regeln aufgebaut und bestehen aus den gleichen Grundelementen. Elemente, die zum Beispiel in allen Sprachen (einschließlich der Gebärdensprache) vorkommen, sind Substantive und Verben, und allen Sprachen ist außerdem eine auffällige Vorliebe für eine bestimmte Gliederung dieser Elemente eigen. Unsere „Kenntnis“ dieser universalen Grundregeln können wir jedoch nicht in Worte fassen, denn es handelt sich um eine sogenanntes tacit knowledge, ein implizites Wissen, das nicht bis in unser Bewusstsein vordringt. Die Kenntnis der Universalgrammatik ist, Chomsky zufolge, genetisch in uns verankert. Jeder Mensch ist im Besitz dieser biologischen Voraussetzung. Die Fähigkeit, jede beliebige Sprache zu lernen, ist also Teil unserer menschlichen Natur, während die Kultur ihrerseits bestimmt, welche spezifische Sprache man erwirbt, etwa Niederländisch, Deutsch, Chinesisch oder Swahili. Mit anderen Worten, die Grundstrukturen der Sprache liegen fest, doch die konkrete Implementierung ist davon abhängig, in welcher Kultur man aufwächst. Beim Erwerb von Sprache spielen also sowohl biologische wie kulturelle Faktoren eine Rolle. Bau und Arbeitsweise unseres Sprachorgans bestimmen beispielsweise, welche Laute wir hervorbringen können. Doch es hängt von der Erziehung und der Kultur ab, ob jemand raue Amsterdamer Kehllaute hervorbringt oder den nasalen Sprechgesang eines New Yorkers. Die Sprachvielfalt ist überwältigend: Vorsichtige Schätzungen gehen von mehr als fünftausend Sprachen, Subsprachen und Dialekten aus. Die Sprache als Exaptation Chomsky zufolge ist unser Sprachvermögen also eine Art angeborenes mentales „Organ“. Doch obwohl dieses genauso spezialisiert und funktionell sei wie die körperlichen Organe, das Auge etwa, dürften wir Sprache nicht als Ergebnis der Evolution auffassen. Das Sprachvermögen sei nicht das Produkt adaptiver Selektion. Darwins Theorie könne vielleicht die Entstehung des Auges erklären, doch
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in Bezug auf den Ursprung der Sprache versage sie. Sprache ist für Chomsky also kein Gegenstand der Evolutionsbiologie. Über ihre Entstehung wollte er nicht allzu viel spekulieren, wie er überhaupt der Ansicht ist, die Funktionsweise des menschlichen Geistes werde wohl für immer ein Mysterium bleiben. Hinsichtlich des Ursprungs der Sprache hat Chomsky dennoch einige Vorschläge gemacht. Das Sprachmodul könne in ferner Vorzeit plötzlich als zufälliges Nebenprodukt oder zufälliger Nebeneffekt des immer größer werdenden Gehirns entstanden sein. Wir haben die Sprache sozusagen gratis dazu bekommen. Chomskys Ansicht wurde zustimmend begrüßt von Stephen Jay Gould, der das Sprachvermögen ebenfalls nicht als Resultat natürlicher Selektion betrachtete. Das Sprachmodul sei zwar angeboren, es stelle jedoch keine Adaptation dar, es sei vielmehr das, was Gould eine „Exaptation“ nannte. Unter Exaptation versteht man die zweckentfremdete Nutzung einer bestehenden Struktur. Kreative Zweckentfremdung sei, Gould zufolge, ein allgemeines und häufig vorkommendes Prinzip. Auf manchen Märkten in Afrika könne man etwa Sandalen kaufen, die aus alten Autoreifen hergestellt wurden. Niemand würde jedoch behaupten, Michelin oder Good Year produzierten ihre Reifen zu diesem Zweck. Und wir hätten nicht deshalb eine Nase, um eine Brille zu tragen. Das gleiche gelte für unsere Sprache. Wie die Kunst, das Schachspiel und die Mathematik sei die Sprache einer der vielen Nebeneffekte unseres großen Gehirns. Wenn man einige Milliarden Gehirnzellen mit einander verbinde, müsse man nun einmal mit den verrücktesten Sachen rechnen. Kurzum, unser Sprachvermögen ist ein nützliches, doch zufälliges Nebenprodukt des menschliches Geistes. Gould ist der Ansicht, die Kraft der natürlichen Auslese und die Allgegenwärtigkeit von Adaptationen werde maßlos überschätzt. Es sei ein Irrtum zu glauben, alle oder die meisten Merkmale von Organismen seien durch natürliche Selektion entstanden und hätten somit eine biologische Funktion. Eine solche Annahme bringe nur just so stories hervor, spekulative evolutionäre Szenarien zur Erklärung bestimmter Eigenschaften. Die Auffassung, jedes Merkmal habe einen bestimmten Zweck, sei schlichtweg falsch. Unsere Knochen sind weiß. Hat diese Farbe eine Funktion? Nein, sie ist nur ein Nebeneffekt. Unsere Knochen bestehen aus Calcium, und Calcium ist nun einmal weiß, doch unsere Knochen würden genauso gut funktionieren, wenn Calcium schwarz oder blau wäre. Gemeinsam mit Richard Lewontin, seinem Kollegen an der Harvard University, veröffentlichte Gould 1979 einen Artikel, der seitdem nicht so sehr von Evolutionsbiologen als vor allem von Sozialwissenschaftlern zustimmend zitiert wird und in dem Gould und Lewontin manchen Evolutionsbiologen „panglossischen Optimismus“ vorwerfen. (In Voltaires Candide ist Dr. Pangloss der Erzoptimist, der in der besten aller Welten zu leben meint.) Dieser Optimismus äußere sich in der Annahme, Organismen seien optimal entworfen und ganz und gar durch natürliche Selektion entstanden. Dem widersprechen Gould und Lewontin, indem sie darauf hinweisen, dass viele Merkmale von Organismen schlicht
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Gewölbe Bogenzwickel
Bogen
Bogen
Abb. 7.1: Bogenzwickel in San Marco in Venedig
und einfach neutrale Nebenprodukte der Evolution seien. Sie veranschaulichen dies anhand der Bogenzwickel (spandrels) im Markus-Dom in Venedig. Bogenzwickel sind die dreieckigen Flächen zwischen den Säulen und dem Gewölbe. Da sie mit allerlei prächtigen Fresken ausgemalt sind, könnte ein Besucher meinen, sie seien von den Erbauern mit Absicht so konstruiert worden. Nichts ist weniger wahr. Bogenzwickel entstehen „von selber“, wenn man ein Gewölbe auf Rundbögen errichtet. Sie haben auch keine bautechnische Funktion, sie sind schlichtweg Nebenprodukte des Gesamtentwurfs (siehe Abb. 7.1). Gould zufolge gilt dies auch für die Sprache. Unser Sprachvermögen ist kein Kunststück adaptiver, zielgerichteter Evolution, sondern nur ein neutrales Nebenprodukt unserer mentalen Architektur. Der Sprachinstinkt Gegen die These, Sprache sei nur eine Art Bogenfüllung, regte sich bald Widerstand. Die Sprache, meinte etwa der Evolutionspsychologe Steven Pinker, sei viel zu komplex, um nur ein Nebenprodukt der Evolution zu sein. In seinem Buch The language instinct / Der Sprachinstinkt legt Pinker dar, dass unser Sprachvermö-
DER SPRACHINSTINKT
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gen die gleichen Merkmale aufweise wie andere Adaptationen: Es liege ihm eindeutig eine funktionelle Struktur zugrunde. Damit der Mensch Sprache hervorbringen und verarbeiten könne, seien eine Reihe sehr unterschiedlicher und eng aufeinander abgestimmter Anpassungen nötig, wie die Sprachzentren in unserem Gehirn, der Kehlkopf, die Stimmbänder und die vielen Muskeln des Mundes und der Zunge. Pinker zufolge ist es ausgeschlossen, dass sich all diese Elemente plötzlich und zufällig zu einer Einheit zusammengefügt hätten, wie Chomsky und Gould behaupten. Die Entstehung eines so komplexen und funktionellen Systems lasse sich nur durch die natürliche Selektion erklären. Man könne es mit der Entwicklung des Auges bei Wirbeltieren vergleichen. Das Linsenauge ist nicht auf einmal entstanden, sondern schrittweise durch einen Prozess der kumulativen Selektion. Visuelle Wahrnehmung begann irgendwann mit einer Schicht lichtempfindlicher Sinneszellen auf der Außenhaut, die sich später kugelförmig wölbte. Dann wurde die Öffnung von einer durchsichtigen Membran bedeckt, die das einfallende Licht auf einen bestimmten Punkt richten konnte. Jede Verbesserung ermöglichte dem Besitzer der Augen, die Umwelt besser wahrzunehmen. Für die Sprache, so Pinter, gelte das Gleiche. Unser Sprachvermögen sei in kleinen Schritten entstanden, weil es unseren fernen Vorfahren Nutzen gebracht haben muss. Für sie war eine rudimentäre, primitive Sprache offenbar vorteilhafter als gar keine, und jede kleine Verbesserung verschaffte ihnen wiederum einen Vorteil. Nehmen wir einige für die Sprachfähigkeit nötigen Voraussetzungen näher unter die Lupe. Der Kehlkopf ist der erweiterte Teil der Luftröhre, in dem sich die Stimmbänder befinden. Im Unterschied zu anderen Primaten ist er beim Menschen stromlinienförmig und nach unten ins Körperinnere verschoben. Seine Form und tiefe Position erlauben die Produktion einer großen Bandbreite an Lauten. Nachteil ist, dass wir im Gegensatz zu anderen Primaten beim Essen unsere Luftröhre nicht schließen und uns daher verschlucken können. Schon Darwin wies in der Entstehung der Arten auf die „sonderbare Tatsache“ hin, dass „jedes Teilchen von Speise und Trank, das wir zu uns nehmen, über die Mündung der Luftröhre weggleiten muss, mit einiger Gefahr, in die Lungen zu fallen“. Bis zur Einführung des sogenannten Heimlich-Manövers 1974 (wobei der Helfer hinter dem Patienten steht, ihn mit seinen Armen umfasst, und, indem er den Bauch ruckartig zusammendrückt, den Fremdkörper aus der Luftröhre entfernt) erstickten in den Vereinigten Staaten jährlich schätzungsweise siebentausend Menschen beim Essen. Warum hat die Evolution diesen gefährlichen Zustand zugelassen? Denn die anderen Primaten können ihre Luftröhre schließen, wenn sie essen und trinken. Pinker zufolge wog der Vorteil einer genauen Artikulation die damit einhergehende Gefahr des SichVerschluckens und Erstickens auf. Die eigenartige Position des Kehlkopfes wäre also keine zufällige Laune der Natur, sondern eine funktionelle Maßnahme der Evolution.
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Dies gilt laut Pinker auch für die Sprachzentren in unserem Gehirn. Der Mensch bringt nicht nur Laute hervor, er muss sie auch interpretieren können. In unserem Gehirn befinden sich zwei Zentren, die mit dieser speziellen Aufgabe betraut sind: das Broca-Areal und das Wernicke-Zentrum. Das Broca-Areal, benannt nach dem französischen Neurologen Paul Broca, ist zuständig für Klang und Artikulation – für die (motorische) Erzeugung von Sprache. Das WernickeAreal, benannt nach dem deutschen Neurologen Carl Wernicke, ist zuständig für die Verarbeitung, für das Verstehen von Sprache. Broca und Wernicke entdeckten, dass Patienten, die sich eine Verletzung in diesen Hirnregionen zugezogen hatten, an einer charakteristischen Sprachstörung litten. Eine solche erworbene Sprachstörung, etwa infolge eines Unfalls, eines Gehirnschlags oder aufgrund eines Gehirntumors, nennt man „Aphasie“. Patienten mit einer Broca-Aphasie sind nicht mehr in der Lage, fließend zu sprechen, obwohl das Sprachverständnis weitgehend erhalten bleibt. Dagegen können Patienten mit einer WernickeAphasie noch fließend sprechen, aber die Bedeutung der Worte, sowohl bei sich selbst wie bei anderen, nicht mehr verstehen. Im 20. Jahrhundert entdeckte man im Gehirn noch andere „Sprachgebiete“. Außerdem zeigte sich, dass das Broca-Areal aus verschiedenen Subsystemen besteht, zuständig für die Steuerung der Sprechmuskeln, die Wortfolge und die Assoziation zwischen Wörtern. Auch die Folgen eines Gehirntraumas erwiesen sich bei genauerer Betrachtung als nicht so eindeutig wie bisher angenommen. So kann eine Verletzung der gleichen Stelle bei verschiedenen Menschen zu unterschiedlichen Problemen führen, während unterschiedliche Verletzungen manchmal die gleichen Folgen haben können. In der Neurologie gelten die Aphasien von Broca und Wernicke jedoch immer noch als anerkannte Syndrome. Aber auch wenn wir die Arbeitsweise der Sprachzentren noch nicht in allen Einzelheiten kennen, so können wir doch, Pinker zufolge, konstatieren, dass ihnen ein Bauplan zugrunde liegt. Die diversen spezialisierten Sprachgebiete sind demzufolge keine Nebenprodukte des menschlichen Gehirns, sondern Adaptationen, die durch natürliche Selektion entstanden sind: Sie stellen einen integralen Bestandteil unseres Sprachinstinkts dar. Die Einzigartigkeit der menschlichen Sprache Fast alle Forscher sind sich darüber einig, dass die menschliche Sprache eine Ausnahmeerscheinung ist. Wir sind in der Lage, uns mit anderen über alles Mögliche zu unterhalten, über Gegenwärtiges, über Abwesendes und sogar über noch nicht Existierendes. Wir können uns ständig neue Wörter, Ideen und Bedeutungen ausdenken. Die menschliche Sprache ist semantisch „offen“, während die Sprache der Tiere semantisch „geschlossen“ ist. (Semantik befasst sich mit der Bedeutung von Wörtern und Lauten.) Die Kommunikation zwischen Tieren bezieht sich auf konkrete, gegenwärtige Angelegenheiten wie Nahrung, Gefahr
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und Territorium. Daher besteht ihr Informationsaustausch nur aus einem festen, beschränkten Repertoire an Nachrichten und Bedeutungen. Menschliche Sprache ist generativ, das heißt, wir können mit einer endlichen Zahl von Elementen (Lauten, Buchstaben) unendlich viele unterschiedliche Sätze erzeugen. Generativität – die Fähigkeit, etwas hervorzubringen – ist wahrscheinlich das wesentlichste Merkmal der menschlichen Sprache. Dank dieser Eigenschaft verfügen wir über unerschöpfliche Möglichkeiten der Mitteilung. Müssen wir daraus folgern, dass die menschliche Sprache einzigartig ist, dass man von einer unüberbrückbaren Kluft zwischen Mensch und Tier sprechen muss? Sprach- und Biowissenschaftler sind hier oft verschiedener Ansicht. Während die Linguisten mehr dazu neigen, die Einzigartigkeit der Sprache hervorzuheben, glauben viele Biologen nicht an wesentliche Unterschiede zwischen Mensch und Tier. Ihnen erscheint das Leben als ein Kontinuum, in dem es nur Übergangsformen gibt. Komplexe Eigenschaften entstehen immer über Zwischenstufen, denn die Evolution kann nicht zaubern. Auch für die Sprache gelte dies. Im Tierreich sehen wir verschiedene Formen und Abstufungen der Kommunikation, von denen man einige als „Protosprache“ bezeichnen könnte. Wir wollen uns daher mit den Kommunikationssystemen der Tiere etwas näher befassen. Die einfachste, aber möglicherweise auch wirksamste Form sozialer Kommunkation finden wir bei den Insekten. Viele Arten verständigen sich mittels chemischer Stoffe, Pheromone genannt, die sie aus dem Körper ausscheiden. Insekten können auf diese Weise das Verhalten ihrer Artgenossen beeinflussen. So gibt es zum Beispiel Pheromone zur Wegmarkierung oder als Alarmbotenstoff. Etwas komplizierter ist die Bienensprache, die ohne Pheromone auskommt. Wenn eine Biene eine Futterquelle entdeckt hat, kehrt sie zum Stock zurück und führt einen merkwürdigen Tanz auf. Karl von Frisch entdeckte 1945, dass dieser eine wichtige Nachricht enthält: Er teilt den anderen Bienen sowohl die Richtung (in Bezug auf die Sonne) als auch den Abstand der Nahrung zum Korb mit. Ist diese Kommunikationsform mit der menschlichen Sprache vergleichbar? In gewisser Hinsicht. Der Schwänzeltanz ist nicht nur wie unsere Sprache und Grammatik an bestimmte Regeln gebunden, sondern stellt auch ein Bezugssystem dar: Seine Elemente verweisen auf etwas, genauso wie unsere Wörter und Namen auf etwas verweisen. Doch es gibt natürlich auch einen wesentlichen Unterschied. Die Bienen kommunizieren nicht bewusst miteinander, ihre Sprache ist zum großen Teil genetisch programmiert, also ein Instinkt. Außerdem ist ihr „Sprachrepertoire“ sehr beschränkt, denn die Mitteilungen beziehen sich nur auf die Nahrung. Jean Aitchison, Professorin für Sprache und Kommunikation an der Universität von Oxford, wies in ihrem Buch The seeds of speech auf große Übereinstimmungen zwischen der menschliche Sprache und dem Gesang der Vögel hin. Wie wir unsere Muttersprache lernen, so lernen Vögel ihren Gesang, und dies geschieht
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bei Menschen wie Vögeln in einer „kritischen Phase“ der Kindheit. Das Phänomen der kritischen Sprachperiode wurde zum ersten Mal von Eric Lenneberg beschrieben. Er stellte die These auf, ein Mensch müsse vor seinem zwölften Lebensjahr mit Sprache in Kontakt kommen, nach der Pubertät sei die Fähigkeit, eine Sprache zu erlernen, bedeutend eingeschränkt. Ein anschauliches und trauriges Beispiel ist „Genie“, das Mädchen aus einem Vorort von Los Angeles, das fast vierzehn Jahre lang von ihrem Vater eingesperrt worden war. Bei ihrer Befreiung 1970 war Genie nicht nur stark unterernährt, sie konnte auch nicht sprechen. Obwohl das Mädchen über eine normale Intelligenz verfügte und schließlich sprechen lernte, blieb der Satzbau primitiv und ungrammatisch. Ähnliche, doch weniger zuverlässige Berichte gibt es von sogenannten Wolfskindern, Kindern, die isoliert aufwuchsen oder angeblich von Wölfen oder anderen Tieren großgezogen wurden und die in ihrem späteren Leben nie mehr richtig sprechen lernten. Das Phänomen der kritischen Phase spielt auch beim Vogelgesang eine Rolle. Wenn ein Singvogel während dieser Zeit nicht mit dem Gesang von Artgenossen in Berührung kommt, wird er es nie mehr richtig lernen. Er bringt nur „ungrammatische“ Bruchstücke hervor, vergleichbar mit Genies rudimentärer Ausdrucksweise. Es gibt noch eine andere bemerkenswerte Übereinstimmung zwischen Menschen und Vögeln: Auch der Gesang der Vögel kennt Dialekte. Amseln in England singen anders als in den Niederlanden, und die in Groningen wieder anders als die in Maastricht. Allerdings singen nur die Männchen, Weibchen sind im Allgemeinen sanglos, es sei denn, man verabreichte ihnen Testosteron. Verglichen mit der Menschensprache hat die Kommunikation zwischen Vögeln zudem wiederum nur eine beschränkte Funktion: Der Gesang soll Partner anlocken und Rivalen imponieren. Wie steht es nun mit unseren nahen Verwandten, den Affen? Die Primatologen Robert Seyfarth und Dorothy Cheney studierten die Kommunikation Grüner Meerkatzen, einer Affenart aus Ostafrika, und stellten fest, dass sie für verschiedene Gefahren unterschiedliche Alarmschreie kennen. Wenn ein Affe den Alarmruf für „Leopard“ ausstößt, flüchtet die ganze Gruppe sofort auf die Bäume, bei einem Raubvogelalarm verstecken sich die Affen im Unterholz und spähen nach oben, und bei einem Schlangenalarm richten sie sich auf und beobachten sorgfältig die Umgebung. Seyfarth und Cheney nahmen die Rufe auf Band auf und spielten diese mit versteckten Lautsprechern einer anderen Gruppe der gleichen Spezies vor. Die Affen reagierten entsprechend auf die Rufe, ohne den Raubfeind wirklich zu sehen. Die Fähigkeit, Laute hervorzubringen, ist angeboren, doch junge Affen müssen lernen, wann sie welche Rufe von sich geben müssen. Meerkatzen verwenden zusätzlich noch andere Rufe und Laute, die hauptsächlich dem sozialen Kontakt in der Gruppe dienen. Seyfarth und Cheney sind der Ansicht, dass wir es hier mit einer Protosprache zu tun haben, doch viele Sprachwissenschaftler bleiben skeptisch. Zwar könne man von einer semanti-
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schen Repräsentation sprechen – die Alarmrufe beziehen sich auf etwas –, doch bis zur Menschensprache sei es noch ein weiter Schritt. Und unsere nächsten lebenden Verwandten, die Menschenaffen? Wie die Meerkatzen kennen auch wild lebende Menschenaffen eine ganze Skala an Lauten, mit denen sie sich untereinander verständigen. Manche Forscher meinen sogar, dass sie darüber hinaus auch lernen könnten, mit uns zu kommunzieren. Doch da Menschenaffen aufgrund ihres Stimmapparats, vor allem aufgrund der Stellung des Kehlkopfes, keine menschlichen Laute hervorbringen können, hat man in den vergangenen Jahrzehnten versucht, Schimpansen und Bonobos eine Art Gebärden- oder Symbolsprache zu lehren. Solche Sprachen stehen im Prinzip den gesprochenen menschlichen Sprachen in nichts nach. Den ersten ernsthaften Versuch unternahm bereits in den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts das Ehepaar Allen und Beatrice Gardner, das ihrem Schimpansen Washoe die Grundbegriffe der amerikanischen Gebärdensprache beizubringen versuchte, also der Zeichensprache, in der in den USA taube Menschen miteinander kommunizieren. Ein ähnliches Experiment stellte der Primatologe Herbert Terrace mit seinem Schimpansen Nim Chimpsyky an (eine Anspielung auf Noam Chomsky). Ein weiteres bekanntes Beispiel ist Kanzi, ein Zwergschimpanse, der von der Primatologin Sue Savage-Rumbaugh Sprachunterricht erhielt. Kanzi verständigte sich mithilfe einer Tastatur, wobei die Tasten mit einem Symbol für Gegenstände und Wörter versehen waren. Nach jahrelanger Arbeit meldeten alle diese Forscher spektakuläre Erfolge: Ihre Zöglinge würden aus dem Stegreif Geschichten erzählen, Fragen stellen und sich sogar neue Ideen ausdenken! Als sich andere Wissenschaftler allerdings kritisch mit diesen Ansprüchen befassten, blieb wenig davon übrig. Menschenaffen begreifen Sprache schlichtweg nicht. Sie kommen über das Niveau eines zwei- bis zweieinhalbjährigen Kindes nicht hinaus. Von Grammatik und Generativität kann keine Rede sein. Das einzige, worauf Affen sich verstehen, ist Betteln um Futter. Eine typische Gebärdenfolge ist etwa: „Banane essen Banane gib gib.“ Ein „Satz“ aus mehr als drei verschiedenen Gebärden kommt kaum vor. Kurzum, es zeigte sich, dass die Forscher die Fähigkeiten der Affen maßlos überschätzt hatten und sahen, was sie gerne sehen wollten. Auch Terrace, der anfänglich sehr begeistert war, musste später seinen Irrtum einräumen. Seitdem bilden diejenigen, die an die Sprachfähigkeit der Affen glauben, eine Art Sekte, die jede Kritik an ihrer Forschung als bedeutungslos abtut. Die „Gläubigen“ meinen, man könne Menschenaffen Sprache beibringen, den „Ungläubigen“ zufolge, und sie sind gegenwärtig in der Mehrheit, sind Menschenaffen nicht zur Sprache fähig. Es hat den Anschein, als hätten diese Kritiker recht. Man hat im Lauf der Jahre auch mit anderen Tieren experimentiert, etwa mit Papageien, Delphinen und Hunden. Sie sind, wie sich gezeigt hat, in der Lage, eine ganze Reihe von Namen für verschiedene Objekte und Eigenschaften zu behalten. So kam ein deutsches Forschungsteam vor einigen Jahren zu dem
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Schluss, dass ein Collie mehr Wörter „begreift“ als ein Menschenaffe. Der Collie schien sein Herrchen wirklich zu verstehen. An und für sich ist es nicht so verwunderlich, dass gerade Hunde Affen in dieser Hinsicht überlegen sind. Mensch und Hund leben seit Jahrtausenden in einer engen Beziehung miteinander. Wir haben durch künstliche Selektion Hunde gezüchtet, die ihren Herrchen immer besser gehorchen. Trotzdem weist alles darauf hin, dass eine vollwertige Sprache nur dem Menschen vorbehalten ist. Nur Homo sapiens besitzt eine echte generative und grammatische Sprache. Aber ist dies nicht merkwürdig? Behauptet die Evolutionstheorie nicht, komplexe Eigenschaften könnten nur graduell, über Zwischenstufen, entstehen? Und zeugt es nicht von Arroganz, wenn wir erklären, dass wir in bestimmter Hinsicht einzigartig seien und dass es eine Kluft zwischen Mensch und Tier gebe? Pinker hält diesen Einwand für nicht stichhaltig. Die offensichtliche Einzigartigkeit der menschlichen Sprache sei kein Einwand gegen die Evolutionstheorie. Die Tatsache, dass wir als Einzige über Sprache verfügten, sei nämlich nicht merkwürdiger als die Tatsache, dass Elefanten als einzige Lebewesen einen Rüssel hätten. Doch niemand werde behaupten wollen, dass der Rüssel des Elefanten die Evolution infrage stellt. Es gebe nämlich Zwischenstufen des modernen Elefantenrüssels, unter anderem bei den Mastodonten und dem Proto-Elefant Amebelodon. Der springende Punkt sei, dass diese Tiere inzwischen ausgestorben sind. Ähnlich verhalte es sich, meint Pinker, mit der Sprache. Dass wir Menschen heute die einzigen Lebewesen mit einer vollwertigen Sprache sind, bedeute nicht, dass es keine Zwischenstufen gegeben habe. In der Vergangenheit hätten möglicherweise verschiedene Hominidenarten über eine rudimentäre Sprache verfügt, doch alle diese Zwischenstufen seien untergegangen. Es sei also nicht merkwürdig, dass wir als Einzige über Sprache verfügten, da wir die einzig übrig gebliebene Hominidenart seien. Dies erkläre wahrscheinlich auch, warum Menschenaffen Sprache fremd sei. Es sei nämlich sehr wohl möglich, dass das Sprachvermögen erst entstanden sei, nachdem die Hominiden sich von dem Zweig getrennt hätten, der zu den modernen Menschenaffen führen sollte. Mit anderen Worten, den Ursprung der Sprache müssen wir nicht bei den heutigen Primaten, sondern bei unseren hominiden Vorfahren suchen. Auf der Suche nach dem Sprachursprung Wichtige Fossilienfunde und die Zusammenarbeit verschiedener Wissenschaftszweige haben in den letzten Jahren eine ganze Reihe neuer Einsichten in den Ursprung der menschlichen Sprache zutage gebracht. Die interdisziplinäre Kooperation hat jedoch auch zu Differenzen geführt. Wie wir gesehen haben, sind Chomsky und Gould der Ansicht, Sprache sei möglicherweise plötzlich als ein nützlicher Nebeneffekt des großen menschlichen Gehirns entstanden. Gould vertrat überhaupt anstelle einer graduellen Evolution eine Evolution der Sprünge.
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Seine Theorie des punctuated equilibrium, des unterbrochenen Gleichgewichts, besagt, dass kurze Perioden rascher Entwicklung von langen Perioden relativen Stillstands abgelöst werden. Wir haben aber auch gesehen, dass sich gegen Chomskys und Goulds Ansicht immer mehr Widerstand regte. Die Entstehung der Sprache setzt eine ganze Reihe unterschiedlicher neurologischer und anatomischer Anpassungen voraus, wie Veränderungen im Gehirn, die Stellung des Kehlkopfs und die verschiedenen Muskeln des Mundes und der Zunge. Pinker und auch Aitchison halten es für unwahrscheinlich, dass sich alle diese Elemente auf einmal zu einem Ganzen gefügt hätten. Näher liege ein Weg der kleinen Schritte. Auch die Sprache habe sich graduell entwickelt. So gibt es Hinweise, dass die allmähliche Entwicklung der Sprache mit der stetigen Vergrößerung des Gehirns der Hominiden zusammenhängt. Das Hirnvolumen hat in den vergangenen vier Millionen Jahren von 500 Kubikzentimeter bei den Australopithecinen bis auf 1500 Kubikzentimeter beim modernen Menschen zugenommen. Theoretisch ist es daher denkbar, dass die frühesten Anfänge der Sprache bis zu den Australopithecinen zurückreichen. Zwar unterscheidet sich das Hirnvolumen dieser frühen Hominiden kaum von dem der heutigen Menschenaffen, aber sie weisen bereits deutlich menschliche Merkmale auf, wie Bipedie, den aufrechten Gang. Diese anatomische Novität, wodurch die Hände frei wurden, etwa für den Gebrauch von Werkzeugen oder zum Tragen von Lasten, könnte zur Entwicklung anderer menschlicher Eigenschaften wie der Sprache beigetragen haben. Dies sind jedoch nur Vermutungen. Fast alle Forscher sind der Ansicht, der Ursprung der Sprache müsse in unserer eigenen Abstammungslinie, in der Gattung Homo, gesucht werden. Im Gegensatz zu den Australopithecinen wiesen ihre Vertreter nämlich eine Eigenschaft auf, die oft in Zusammenhang mit dem Besitz der Sprache gebracht wird: Sie entwickelten rudimentäre Formen von Kultur und Technologie. H. habilis, der früheste Vertreter dieses Genus, ist daher vielleicht derjenige, bei dem die Entwicklung der Sprache begann. Diese Urmenschen, die vor etwa 2,5 Millionen Jahren lebten, stellten Steinwerkzeuge her und ergänzten ihre Nahrung mit Fleisch. Sie lebten in Gruppen und hatten Lager, zu denen sie von der Jagd zurückkehrten. All dies setzt eine gut abgestimmte Zusammenarbeit voraus und erlernte Techniken. Und Kommunikation mittels Lauten oder Gebärden war hierbei gewiss von Nutzen. Die Wahrscheinlichkeit der Sprachfähigkeit erhöht sich bei H. erectus, der vor einer Million Jahren von Afrika aus die Alte Welt besiedelte. Seine Werkzeuge waren raffinierter als die seiner Vorgänger, und außerdem machte er sich das Feuer nutzbar. Man kann sich schwer vorstellen, dass der weltweite Erfolg dieses Hominiden ohne Besitz der Sprache möglich gewesen wäre. Doch sind nicht alle Wissenschaftler dieser Ansicht. So meint etwa der Linguist Derek Bickerton, H. erectus habe höchstens eine Protosprache besessen, vergleichbar mit der heutiger Menschenaffen. Der Paläoanthropologe Alan Walker teilt diese Meinung. Er
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stieß 1984 auf das fast vollständig erhaltene Skelett von H. ergaster, einer Frühform von H. erectus. Dieses berühmte, 1,6 Millionen Jahre alte Fossil wurde nach seinem Fundort in Kenia der „Junge von Nariokotome“ genannt. Walker zufolge konnte dieser Urmensch nicht sprechen. Menschliche Sprache setze nämlich eine subtile Beherrschung der Atmung voraus, und die Analyse der Wirbelsäule des Jungen zeige, dass er diese Fähigkeit entbehrte. Im Gegensatz zum modernen Menschen hatte H. erectus einen relativ schmalen Kanal für das Rückenmark, das heißt, weniger Nervenstränge in der Brusthöhle, sodass er die Atmung nicht genau steuern konnte. Dass diese Urmenschen nicht über Sprache verfügten, belegen manchen Forschern zufolge auch die Abdrücke, die ihr Gehirn auf den Innenwölbungen fossiler Schädel hinterließ und die nicht auf das Vorhandensein von Sprachzentren hinweisen. Allerdings sind diese Abdrücke recht undeutlich. Der Psychologe Michael Corballis setzt dem entgegen, dass H. erectus (und auch H. habilis) möglicherweise eine hochentwickelte Gebärdensprache besaß. Die Vorstufe unserer Sprache, so Corballis, habe weniger aus Lauten bestanden als aus Gesten und Mimik. Erst später habe das gesprochene Wort diese manuelle Kommunikation überlagert. Es spricht sicher einiges für diese Theorie, da Gebärdensprachen genauso funktionell und vollwertig sind wie gesprochene. Wir reden schließlich auch immer noch mit den Händen. Wie dem auch sei, vor kurzem haben sich interessante Hinweise ergeben, die es wahrscheinlich machen, dass H. heidelbergensis, eine spätere Variante von H. erectus, über Sprache verfügte. Ein Team unter Leitung des Paläontologen Ignacio Martinez analysierte einige fossile 350 000 Jahre alte Schädel dieses Frühmenschen. Die akustischen Eigenschaften des Gehörgangs und des Mittelohrs wiesen darauf hin, dass das Gehör des H. heidelbergensis eine recht hohe Empfindlichkeit für Töne im Bereich von zwei bis vier Kilohertz hatte. Innerhalb dieser Frequenzen bewegt sich auch die menschliche Sprache. Und genau in diesem Bereich ist bei Schimpansen, den nächsten Verwandten des Menschen, das Hörvermögen eingeschränkt. Sollte H. heidelbergensis, der gemeinsame Vorfahre des Neandertalers und des modernen Menschen, tatsächlich über Sprache verfügt haben, wäre diese schon 500 000 Jahre alt, viel älter, als bisher angenommen. Denn bis vor Kurzem ging die Forschung davon aus, die Sprachfähigkeit sei vor 150 000 bis 50 000 Jahren entstanden, und zwar erst bei unserer eigenen Spezies, dem Homo sapiens. Muss diese Einschätzung nun revidiert werden? Höchstwahrscheinlich war nämlich auch der Neandertaler zu einer komplexen Sprache fähig. Diese frühe Menschenform wurde bisher oft als ein primitiver Höhlenbewohner qualifiziert, der nicht mehr als kehlige Laute auszustoßen vermochte. Der Fund eines fossilen Zungenbeins und Reste des Kehlkopfs – die sehr selten fossilieren – in Israel legen die Vermutung nahe, dass der Neandertaler zumindest die anatomische Voraussetzung für Sprache hatte. Der Neandertaler war wie H. erectus ein erfahrener Jäger und Sammler. Eine solche Lebensweise setzt genaue Kenntnis von Pflanzen und
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Tieren voraus. Sprachliche Kommunikation wäre sicher von Nutzen gewesen. Der Archäologe Steven Mithen hat kürzlich die These aufgestellt, das Sprachvermögen sowohl des Neandertalers als auch des H. sapiens habe möglicherweise seinen Ursprung in melodischem Summen. Die gesprochene Sprache sei aus einer früheren, primitiveren Singsprache hervorgegangen. Die frühesten Spuren menschlicher Sprache in Gestalt von Lauten oder Gesten sind also vielleicht schon eine halbe Million Jahre alt, doch eine vollwertige Sprache hat sich wahrscheinlich erst viel später herausgebildet. Die Forschung ist sich, wie gesagt, heute überwiegend darin einig, Sprache habe sich erst beim Homo sapiens vollständig entwickelt. Das heißt, die vollwertige, generative und grammatische Sprache ist nicht viel älter als 150 000 Jahre. Diese These bestätigen auch genetische Untersuchungen. Der Molekularbiologe Wolfgang Enard vom Max-Planck-Institut in Leipzig hat ein Gen entdeckt, das möglicherweise eng mit dem menschlichen Sprachvermögen zusammenhängt. Dieses sogenannte FOXP2-Gen findet sich zwar auch bei anderen Primaten, doch beim Menschen ist es mutiert, was offenbar die Evolution der menschlichen Sprache in Gang setzte. Enard zufolge muss die Gen-Mutation irgendwann in den letzten 200 000 Jahren stattgefunden haben. In populärwissenschaftlichen Büchern über die Evolution liest man hin und wieder, die moderne Sprache müsse vor etwa 30 000 bis 40 000 Jahren entstanden sein, und zwar gleichzeitig mit den Höhlenmalereien der Cro-Magnon-Kultur in Lascaux und Altamira. Die Sprache sei für diese geradezu explosionsartige Entwicklung von Kunst und Kultur verantwortlich gewesen. Man übersieht jedoch hierbei, dass sich die verschiedenen Populationen des Homo sapiens damals schon längst in weiten Teilen der Erde angesiedelt hatten und dass alle ihre Nachkommen über ein identisches Sprachvermögen verfügen. Mit anderen Worten, die moderne Sprache bestand schon lange, bevor Menschen in Europa Höhlenwände bemalten. Es ist also wahrscheinlich, dass sich die vollwertige Sprache mit dem modernen Menschen von Afrika aus über die Erde verbreitete. Das hieße, alle menschlichen Sprachen hätten einen gemeinsamen Ursprung, wofür, wie wir gesehen haben, vieles spricht. Alle Sprachen, wie verschieden sie auch auf den ersten Blick erscheinen mögen, haben bestimmte elementare Merkmale miteinander gemeinsam, wie den grammatischen Infinitiv, die Verwendung von Substantiven und Verben, die bejahende und verneinende Form und so weiter. Diese gemeinsame grammatische Struktur bringt sogenannte syntaktische Universalien mit sich, wie die Vorliebe für einen bestimmten Satzbau, eine bestimmte Wortfolge. Ein beliebiger Satz besteht aus den Elementen Subjekt (S), Verb (V), Objekt (O). Über 75 Prozent aller Sprachen verwenden den SVO- (wie im Deutschen „Hans isst einen Apfel“) oder SOV-Typ, der OSV-, OVS- und VOS-Typ kommt nur selten vor. Der gemeinsame Ursprung der Sprachen geht auch aus der Tatsache hervor, dass jedes Kind jede Sprache als Muttersprache lernen kann. Es gibt also keine
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Sprachen, die eine Ausnahme darstellen oder völlig unübersetzbar sind. Jede Sprache (auch eine Gebärdensprache) kann in eine andere Sprache übersetzt werden, wie schwierig die Übertragung bestimmter kulturbedingter Konzepte auch sein mag. Entgegen landläufiger Ansicht gibt es keine „schwierigen“ oder „einfachen“ Sprachen. Das Chinesische ist nicht schwieriger als das Englische. Schwierig ist es, eine zweite Sprache zu erlernen, die sich sehr von der Muttersprache unterscheidet. Die Funktion der Sprache Wir wissen also in etwa, wann die Sprache entstanden ist, doch die große Frage bleibt natürlich: Wie hat alles angefangen? Warum spricht der Mensch? Im vorigen Abschnitt wurden schon einige mögliche Erklärungen genannt. Der Besitz einer Sprache sei nützlich gewesen bei der koordinierten Zusammenarbeit und dem Austausch der Kenntnisse über die Umwelt. Wenn Pinker und Aitchison recht haben, dann ist Sprache eine komplexe Adaptation, die durch natürliche Selektion allmählich entstanden ist. Jeder Schritt in der Entwicklung der Sprache muss daher die Fähigkeit sich fortzupflanzen erhöht haben. Dies ist auch einleuchtend, denn den Jägern und Sammlern wird ein immer größer werdender Wortschatz zustatten gekommen sein. Durch den Besitz der Sprache konnten die Kenntnisse der Natur nicht nur immer genauer ausgedrückt, sondern auch an die nächste Generation weitergegeben werden. Kurzum, Sprache entstand zu dem primären Zweck, Informationen auszutauschen. Diese Theorie hat leider einen Haken: Wenn Sprache so verflixt vorteilhaft ist, wieso haben dann andere Tiere keine vollwertige Sprache entwickelt? Warum sind wir die einzigen plappernden Primaten? Der Evolutionspsychologe Robin Dunbar hat daher eine andere Erkärung für die Entstehung der Sprache vorgeschlagen. In der zwischenmenschlichen Kommunikation gehe es oft nicht so sehr um den Inhalt als vielmehr um die Form und die Absicht. Wir ergehen uns im Alltagsleben oft in Plattitüden, die nichts mit Wissensvermittlung zu tun haben. Wir reden übers Wetter, die Arbeitskollegen oder die Kinder. Dunbars These zufolge dient Sprache vor allem der sozialen Interaktion: Kommunikation ist ein soziales „Schmiermittel“. Fast alle höheren Primaten – der einzeln lebende Orang-Utan ist die Ausnahme, die die Regel bestätigt – leben in komplexen Sozialverbänden. Da es eine feste Rangordnung gibt, werden fortwährend Bündnisse geschlossen und Pläne ausgeheckt, um den Status aufrechtzuerhalten oder zu verbessern. Es ist daher lebenswichtig, die eigene Position und die der anderen immer gut im Auge zu behalten. All dies erfordert die nötige soziale Intelligenz und eine gewisse Gehirnkapazität, vor allem, wenn die Gruppe immer größer wird. Unter Primaten stellen wir denn auch einen auffälligen Zusammenhang fest zwischen der Gruppen- und der Hirngröße: Je größer die Gruppe, desto größer der Neocortex.
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Bei Affen und Menschenaffen wird der soziale Verkehr – sich streiten, schlichten, sich versöhnen – zum großen Teil durch die gegenseitige Fellpflege geregelt. Doch Dunbar zufolge funktioniert dies nur in relativ kleinen Gruppen. Besteht eine Gruppe aus mehr als hundertfünzig Mitgliedern, ist die Fellpflege nicht mehr sinnvoll. Dunbar berechnete, dass ein Individuum dann die Hälfte der Zeit mit dieser Tätigkeit verbringen würde. Es käme kaum noch dazu, nach Nahrung zu suchen. Hierin, so Dunbar, liegt der Schlüssel zur Entstehung der Sprache. Das Wachstum des Hominiden-Gehirns weise nämlich darauf hin, dass unsere Vorfahren in immer größeren Gruppen lebten und dass ein anderes Mittel gesucht werden mussten, um den sozialen Verkehr zu regulieren. Zu einem bestimmten Zeitpunkt war es effektiver, dem Anderen mittels Lauten und Wörtern seine Gesinnung mitzuteilen. Kurzum, unsere Vorfahren tauschten das Kraulen gegen Geplauder und Schmeichelei. Dunbar hat sich in Zügen, Cafés und Wartezimmern notiert, worüber die Menschen sich am liebsten unterhalten. Etwa drei Viertel aller menschlichen Kommunikation, stellte er fest, besteht aus Tratsch und Klatsch. Wir reden gern über Beziehungsprobleme, Fernsehsendungen und Sport, und wir versichern uns durch diesen Austausch von Gedanken und Gefühlen des gegenseitigen Vertrauens. Natürlich bestreitet Dunbar nicht, dass unsere Sprache auch noch zu anderem nütze ist. Dank unserer Sprache können wir Fertigkeiten an die nächste Generation weitergeben, sodass jeder von einer genialen Erfindung profitieren kann. Ohne Sprache gäbe es keine nennenswerte Kultur, keine Technologie, keine Wissenschaft. Weitergabe von Information ist ein wesentliches Kennzeichen unserer Gesellschaft geworden. Doch leider sind wir uns nicht immer sicher, ob eine Information richtig ist, Menschen können sich irren oder einfach lügen. Sprache ist daher auch geeignet, andere zu manipulieren. Wir können jemandem einen Bären aufbinden, um sein Verhalten zu beinflussen. Zwar sind auch manche Affen und Menschenaffen zum bewussten Betrug ihrer Artgenossen fähig, doch der Mensch übertrifft in dieser Hinsicht alle. Der Primatologe Andrew Whiten meint, die soziale Evolution habe bei unseren Vorfahren eine rasante Entwicklung genommen: Es sei zu einem Wettlauf zwischen Sprache und Bewusstsein gekommen. Da Menschen sich immer besser auf das Betrügen verstanden, bildete sich gleichzeitig unter dem Selektionsdruck auch die Fähigkeit heraus, Lügner zu entdecken und zu entlarven. Die Gedanken eines anderen „lesen“ zu können, wurde immer wichtiger. Dies gehört zu unserem evolutionären Erbe. Im Gegensatz zu Tieren verfügen Menschen (von Autisten abgesehen) über eine Theorie of mind, über ein Einfühlungsvermögen: Wir wissen, dass unsere Artgenossen ein Selbstbewusstsein haben und einen eigenen Blick auf die Welt. Weil wir uns in einen anderen hineinversetzen können, sind wir zu Mitleid fähig, aber auch zu Täuschung und Betrug. Der Mensch wurde dadurch nicht nur zum nobelsten, sondern auch zum hinterhältigsten aller Primaten.
8 Evolution und Bewusstsein Körper und Geist Homo sapiens ist ein mit Vernunft begabtes Wesen. Wir sind in der Lage, über uns selbst und die Welt nachzudenken und unsere Gedanken anderen Artgenossen mitzuteilen. Aufgrund der Verständigung untereinander wissen wir, dass andere einen eigenen Blick auf die Welt haben; wir können uns, wenn wir wollen, in andere hineinversetzen. Der menschliche Geist ist die kreativste und zugleich destruktivste Kraft, die die Evolution bisher hervorgebracht hat. Unser Denkvermögen hat nicht nur Kunst und Wissenschaft ins Leben gerufen, sondern auch zu kollektiven Wahnideen und Massenmord geführt. Beim modernen Menschen hat die Evolution das Stadium des Selbstbewusstseins erreicht: Wir sind die erste Lebewesen auf diesem Planeten, die sich ihres Ursprungs und ihrer Endlichkeit bewusst sind. Angesichts der Vergänglichkeit des Lebens haben Menschen in verschiedenen Kulturen von jeher geglaubt, dass ein Individuum aus mehr besteht als seinem vergänglichen Körper. Nach unserem Tod überdauert etwas, das unsterblich ist. Die alten Griechen sprachen in diesem Zusammenhang von psyche, was Seele oder Geist bedeutet – davon sind „Psyche“ und „Psychologie“ abgeleitet. Die Griechen meinten, allen Lebewesen einschließlich der niederen Tiere und Pflanzen wohne eine Seele inne. Für Platon sind Körper und Seele ihrem Wesen nach grundverschieden. Der Körper ist vergänglich, die Seele unsterblich. Nach dem Tod wandert die Seele in einen anderen Körper oder kehrt dorthin zurück, woher sie gekommen ist – in das immaterielle Reich unveränderlicher Formen und Ideen. Heute fassen Philosophen und Psychologen den Begriff Seele oder Geist etwas enger, sie sprechen von Bewusstsein und unterscheiden nicht länger zwischen dem Lebenden und dem Leblosen, wie die Griechen, sondern zwischen Lebewesen mit oder ohne Bewusstsein. Hier drängt sich sofort die Frage auf, ob ausschließlich der Mensch über Bewusstsein verfügt, oder ob dies auch auf manche Tierarten zutrifft. Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir zuerst den Begriff „Bewusstsein“ näher definieren. Er umfasst etwa die Erkenntnis seiner selbst (Selbstbewusstsein) und den Besitz einer Identität. Außerdem verweist er auf bestimmte geistige Aktivitäten, wie das Haben eines Gedankens, eines Wunsches oder einer Überzeugung, aber auch auf sogenannte „Qualia“, subjektive mentale Wahrnehmungen wie das Sehen von Farben, das Empfinden von Zahnschmerzen oder das Schmecken von Schokolade. Tiere besitzen möglicherweise nur diese letztere Form des Bewusstseins: Sie können zwar empfinden und
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Reize wahrnehmen, aber ein Bewusstsein ihrer selbst haben sie nicht, und sie können wahrscheinlich auch nicht denken, jedenfalls nicht auf eine mit dem Menschen vergleichbare Weise. In diesem Kapitel soll näher auf die Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen menschlichem und tierischem Bewusstsein eingegangen werden. Ein anderes Thema, dem wir uns zuwenden, ist das berühmte Leib-Seele-Problem, die Frage nach der Beziehung zwischen dem Physischen (dem Gehirn) und dem Mentalen (dem Bewusstsein). Geht der Geist – das Bewusstsein – aus der grauen Masse unseres Gehirns hervor oder ist er etwas ganz anderes? Und angenommen, das Bewusstsein habe tatsächlich ein materielles Substrat, bedeutet dies, dass Maschinen (Computer, Roboter) irgendwann auch fühlen und denken werden? Die philosophische Spezialdisziplin, die sich ausschließlich mit dieser Problematik beschäftigt, die Philosophie des Geistes (philosophy of mind), hat in den letzten fünfzig Jahren einen rasanten Aufschwung genommen. Das Bewusstsein, die Fähigkeit zu denken, zu erleben und zu fühlen, ist eine rätselhafte Sache. Manche Philosophen meinen, das Phänomen entziehe sich bis auf Weiteres der wissenschaftlichen Erkenntnis, ja, es könne vielleicht nie ergründet werden. Auch wenn wir irgendwann genau wüssten, wie das Gehirn funktioniert, bliebe immer noch eine Kluft zwischen den Prozessen im Gehirn und unseren inneren, geistigen Erfahrungen. Andere Forscher dagegen sind optimistischer, sie meinen, angesichts des enormen Aufschwungs der Hirnforschung könne die Kluft letztlich überbrückt und das Wesen und die Entstehung des Bewusstseins enträtselt werden. In letzter Zeit hat man sich diesem Problem auch aus evolutionärer Perspektive genähert, und vielleicht können daraus neue Einsichten entstehen. Denn um zu begreifen, was Bewusstsein ist und wie es funktioniert, müssen wir uns zuallererst fragen, warum die Evolution uns (und möglicherweise auch manche Tiere) mit dieser merkwürdigen ,Qualität‘ ausgestattet hat. Was ist die biologische Funktion des Bewusstseins? Von einem entwicklungsgeschichtlichen Gesichtspunkt aus betrachtet ist die Entstehung des Bewusstseins nämlich keineswegs rätselhaft. Der Besitz des Bewusstseins – in welcher Abstufung auch immer – hat bestimmte adaptive Vorteile, wie die Fähigkeit, adäquat auf Reize aus der Umwelt zu reagieren. Das Problem hierbei ist, dass wir damit bereits von der Funktionalität des Bewusstseins ausgehen. Auch ohne dieses ist es möglich, adäquat auf Reize zu reagieren, man denke nur an Pflanzen, die sich nach dem Sonnenlicht ausrichten oder an ein Thermostat, das Temperaturschwankungen korrigiert. Anders ausgedrückt: Wir müssen uns vor der Annahme hüten, jede Eigenschaft diene einem Zweck. Vielleicht ist das Bewusstsein – um mit Gould zu sprechen – nur eine Art Bogenfüllung, eine nicht-funktionelle Begleiterscheinung unseres Gehirns. Manche Philosophen sind tatsächlich dieser Auffassung. Für sie ist das Bewusstsein ein Epiphänomen, ein Nebeneffekt physiologischer Prozesse, ver-
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gleichbar mit dem Rauch einer Dampflokomotive. Der Körper ruft Bewusstseinsphänomene hervor, doch diese haben ihrerseits keinen kausalen Einfluss auf den Körper. Dass unser bewusster Wille den Körper lenke, ist für diese Philosophen daher nur Schein. Dem halten andere entgegen, dass die Hypothese, wir hätten keine Kontrolle über unsere Handlungen, so viele absurde Folgen nach sich zieht, dass man sie von vornherein als äußerst unwahrscheinlich ausschließen könne. Von einem biologischen Standpunkt aus ist es in der Tat wenig plausibel, dass das Bewusstsein nur ein Epiphänomen ohne kausale Wirkung ist. Ist unser Geist nicht viel zu wichtig, um nur ein Nebenprodukt der Evolution zu sein? Cartesianischer Dualismus Obwohl die Philosophie des Geistes in den letzten fünfzig Jahren einen Aufschwung erlebt hat, ist das Leib-Seele-Problem selbst sehr viel älter. Eine berühmte Lösung findet sich schon im 17. Jahrhundert bei René Descartes, der eine dualistische Position einnimmt: Leib und Seele seien zwei gänzlich verschiedene und voneinander getrennte Entitäten. Diese Anschauung ist heute als Cartesianischer Dualismus bekannt. Descartes’ Standpunkt entspringt seinem berühmten Gedankenexperiment des methodischen Zweifels, dem Versuch, die Philosophie auf eine neue Grundlage zu stellen. Um mit der mittelalterlichen Scholastik brechen zu können, die auf Dogmen und Traditionen beruhte, wollte Descartes untersuchen, was er nun eigentlich mit Sicherheit wisse. Auf den ersten Blick erscheint es nämlich möglich, an allem zu zweifeln. Erkenntnis, die auf sinnlichen Wahrnehmungen beruht, das Gedächtnis und das logische Denken sind fehlbar. Das Bild der äußeren Welt kann ein Täuschung sein, vergleichbar mit einem Traum oder einer Halluzination. Vielleicht werden wir von einem malin génie, einem bösem Dämon getäuscht, der diabolische Freude daran hat, uns allerlei Scheingewissheiten vorzugaukeln. Doch inmitten all dieser Unsicherheit stößt Descartes schließlich auf ein Faktum, das unbezweifelbar ist: der Zweifel selbst. Dass man alles bezweifeln kann, bedeutet, dass man denkt, und um denken zu können, muss man sein: pour penser il faut être. Die erste Gewissheit lautet also je pense, donc je suis oder ich denke, also bin ich (in der berühmten lateinischen Form: cogito ergo sum). Ein böser Dämon kann mir unmöglich weismachen, dass ich bin, denn wenn ich wirklich nicht existiere, kann man mir auch nichts weismachen! Ich kann also alles bezweifeln, außer, dass mein Geist existiert, und diese Gewissheit ist „dämonbeständig“. Nach Descartes unterscheidet sich das „Ich“, das Bewusstsein, wesentlich vom Körper. Ich bin zu allererst ein geistiges, denkendes Wesen, das im Prinzip unabhängig von der physischen, materiellen Welt existieren kann. Descartes’ dualistische Lösung des Problems lautet, dass die Wirklichkeit aus zwei völlig verschiedenen Dingen oder „Substanzen“ besteht, nämlich dem Geist und der Materie. Das Hauptmerkmal der geistigen Substanz ist, dass sie denken
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kann, und das Hauptmerkmal der materiellen Substanz ist, dass sie eine räumliche Ausdehnung hat. Nur beim Menschen kommen die zwei Substanzen zusammen, sind sie kausal miteinander verbunden. Wir sind gewissermaßen an ein Stück Materie gekettete Engel. Obwohl Descartes die Schnittstelle zwischen Leib und Seele in der Zirbeldrüse vermutete, hielt er die Wechselwirkung letztlich für unbegreiflich. Die Einheit von Leib und Seele sei ein Mysterium, das wir nur erleben könnten. Und Tiere, so Descartes, besäßen keinen Geist. Sie seien komplexe Maschinen ohne Bewusstsein und ohne Empfindungen. Descartes’ Theorie war bis in die Neuzeit populär und einflussreich, doch die meisten Philosophen stehen ihr heute kritisch gegenüber. Gegen den Cartesianischen Dualismus lassen sich nämlich grundsätzliche Einwände erheben. Auf zwei Einwände wollen wir hier näher eingehen. Da ist zum einen das Problem, das man das Repräsentationsproblem nennen kann. Mithilfe des methodischen Zweifels hat Descartes zwar die Existenz seines eigenen Bewusstseins nachgewiesen, doch wie verhält es sich mit der äußeren Welt? Ist das Bild der Wirklichkeit in meinem Bewusstsein eine verlässliche Wiedergabe? Existieren neben mir überhaupt noch andere Menschen oder sind sie nur Trugbilder? Und habe ich außer einem Geist auch noch einen stofflichen Körper? Diese Fragen lassen sich nicht beantworten, da wir nur zu unserem eigenen Bewusstsein einen direkten Zugang haben, nicht aber zur Welt selbst. Ob das Bild der Wirklichkeit in meinem Kopf verlässlich ist, kann daher nie bewiesen werden. Theoretisch ist es sogar möglich, dass außerhalb meines Bewusstseins nichts existiert! In der Philosophie bezeichnet man diesen seltenen erkenntnistheoretischen Standpunkt als Solipsismus (von lat. solus allein und ipse selbst). Descartes umgeht diese Klippe, indem er sich auf Gott beruft, was darauf hinweist, dass er sich noch nicht ganz vom scholastischen Denken gelöst hat. Es gibt einen Gott, er ist gütig und er wird mich nicht täuschen. Daher muss die Repräsentation der Welt in meinem Geist zuverlässig sein. Heutige Philosophen finden dieses Argument jedoch nicht länger überzeugend. Das zweite Problem betrifft die bereits erwähnte rätselhafte Wechselwirkung zwischen Geist und Materie. Wie kann etwas Unstoffliches (der Geist) auf etwas Stoffliches (den Körper) einwirken? Wie kann eine immaterielle Substanz Muskeln, Sehnen und Glieder in Bewegung setzen? Wenn der Geist den Körper lenkt, muss am Anfang jeder Kausalkette eine nichtphysische Ursache stehen. Dies würde bedeuten, dass sich der Mensch und sein Handeln physischen Ursachen und Gesetzen prinzipiell entziehen. Denn die geistige Substanz lässt sich nicht wissenschaftlich erforschen. Für viele Forscher war dies inakzeptabel: Der Dualismus warf mehr Fragen auf, als er beantwortete. Philosophen nach Descartes schlugen daher vor, den Geist aus der Maschine zu vertreiben.
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Monismus, Physikalismus und Funktionalismus Seit Descartes sind in der Erforschung der Strukturen und Funktionen des Gehirns große Fortschritte erzielt worden. Mentale und kognitive Fähigkeiten wie Wahrnehmung, Sprache und Gedächtnis ließen sich in verschiedenen Hirnregionen lokalisieren. Verletzungen des Gehirns können Funktionen beeinträchtigen oder ganz ausschalten. Bestimmte Medikamente, Psychopharmaka, können psychische Veränderungen bewirken und Depressionen und Ängste unterdrücken. Der Geist hat scheinbar eine materielle Grundlage: Das Bewusstsein entspringt neurophysiologischen Prozessen im Gehirn. Der Philosoph Jacobus Moleschott brachte im 19. Jahrhundert diese Anschauung prägnant auf den Punkt: „Ohne Phosphor kein Gedanke.“ Menschen seien, genauso wie Tiere, komplexe, stoffliche Maschinen. Der Geist müsse daher untrennbarer Teil des Leibes sein. Wenn wir dem Körper und dem Gehirn ihre letzten Geheimnisse entrissen hätten, wüssten wir auch, was Bewusstsein sei. Der Dualismus des Descartes wurde von einem Monismus abgelöst, der nur eine einzige Substanz anerkannte: die Materie. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominierte der Behaviorismus die wissenschaftliche Psychologie. Auch sie lehnt den Dualismus von Körper und Geist ab. John Watson, ihr Begründer, trat für eine streng empiristische Methode ein: Alle Wissenschaften, also auch die Psychologie, erforschen objektiv wahrnehmbare Dinge. Daher sei auch in der Psychologie jede Form der Introspektion, der Beobachtung und Analyse privater Bewusstseinsvorgänge, zu vermeiden. Introspektion sei per definitionem subjektiv und folglich als wissenschaftliche Methode ungeeignet. Jeder mentale Vorgang könne im Prinzip vollständig auf Verhalten zurückgeführt werden. Wenn jemand etwa den Wunsch verspürt, sich ein Fußballspiel der deutschen Nationalmannschaft anzusehen, wird er bestimmte Handlungen verrichten, er wird in den Terminkalender schauen und Eintrittskarten buchen. Mentale Vorgänge wie Gedanken, Wünsche oder Überzeugungen seien nichts anderes als Dispositionen für bestimmtes Verhalten. Der Behaviorismus setzte sich zum Ziel, objektiv wahrnehmbares Verhalten zu kontrollieren und vorherzusagen, und die wissenschaftlichen Experimente mit Tauben und Ratten zeigten, wie man als Psychologe vorzugehen hatte. Das Verhalten dieser Tiere kann nämlich in hohem Maße durch positive und negative Reize wie einen Leckerbissen oder einen Stromstoß kontrolliert und gelenkt werden. Watson und Skinner zufolge ist jedes Verhalten das Resultat von Konditionierung. Der Organismus wird als Black Box betrachtet, relevant sind nur die Input-Output-Relationen (Abb. 8.1): Es genügt, wenn wir vorhersagen können, welche Reaktion auf welchen Reiz folgt. Zu wissen, was sich eventuell in der Black Box abspielt, ist dann nicht mehr nötig. Dem Behaviorismus zufolge sind auch Menschen biologische Maschinen: Wir handeln nicht bewusst, sondern reagieren nur auf Reize. Jeglicher Bezug auf Gedanken, Wünsche und Überzeugungen kann somit unterbleiben, denn das Ver-
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Reiz (Input)
Black Box
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Reaktion (Output)
Abb. 8.1: Der Organismus als Black Box
halten sagt uns genug. (Diese Tabuisierung der Introspektion und die Ansicht, nur wahrnehmbares Verhalten dürfe Gegenstand der Forschung sein, wurde einmal sehr schön in einer Karikatur aufs Korn genommen, die ein BehavioristenPärchen im Bett zeigt: „Du fandest es fabelhaft“, sagt er zu ihr, „wie fand ich es?“) Nach einigen Jahrzehnten des Erfolgs und der Dominanz hatte der Behaviorismus mit immer größeren Schwierigkeiten zu kämpfen. Die Reiz-ReaktionsTheorie erwies sich als unzureichend, um menschliches Verhalten zu erklären. Das Verhalten eines Menschen ist nicht ausschließlich das Produkt seiner Erfahrungen, denn bestimmte Fähigkeiten, wie der Erwerb der Sprache, scheinen teilweise auf angeborenen Anlagen zu beruhen. Das Augenmerk der Forschung richtete sich mehr und mehr auf die Erforschung der Black Box selbst. In den Sechzigerjahren verdrängte der Kognitivismus den Behaviorismus. Diese neue Strömung in der Psychologie und Philosophie vertrat den Standpunkt, intelligentes Verhalten könne man nur erklären, indem man innere kognitive Prozesse mit einbeziehe. Statt ausschließlich wahrnehmbares Verhalten zu berücksichtigen, konzentrierte man sich wieder auf mentale Phänomene. Diese sollten allerdings mit streng wissenschaftlichen Methoden erforscht werden. Man betrachtete den menschlichen Geist als ein informationsverarbeitendes System, in Analogie zu den ersten Computern, und die Frage, die es zu beantworten galt, lautete: Wie verarbeitet und speichert das Gehirn Information? Man nahm dieses Computermodell sehr ernst, da sich die Analogie in beide Richtungen ausarbeiten ließ. Einerseits wurde das Gehirn als ein biologischer Computer aufgefasst, andererseits versuchte man, Computer zu entwerfen, die die Netzwerkstruktur des Gehirns simulierten. Dem lag der Gedanke zugrunde, wenn wir erst begriffen, wie es unserem Gehirn gelingt, Information zu verarbeiten und zu speichern, hätten wir damit auch den Schlüssel zum Verständnis des menschlichen Geistes. Zwar ist der Geist nur über Introspektion zugänglich – das Bewusstsein ist Privatsache –, doch dieses Problem kann Philosophen wie J. J. C. Smart und D. M. Armstrong zufolge durch die sogenannte Identitätstheorie umgangen werden. Die Identitätstheorie ist eine materialistische (und somit monistische) Theorie über die Natur des Bewusstseins. Mentale Phänomene wie das Schmerzempfinden, das Wünschen oder das Schmecken von Schokolade sind nichts anderes als bestimmte neurophysiologische Prozesse im Gehirn, das heißt – so sagen sie zumindest –, sie sind identisch mit ihnen. Die Dualisten, meinten die Identitätstheoretiker, hätten geistige Phänomene zu Recht als inner-
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lich bezeichnet, doch zu Unrecht als unstofflich. Die Behavioristen wiederum hätten recht mit der Annahme, der Geist habe ein materielles Substrat, doch sie begingen den Fehler, die Innerlichkeit mentaler Zustände zu leugnen. Man spricht die Identitätstheorie zum menschlichen Bewusstsein manchmal auch unter dem Begriff des „Physikalismus“ an. Der Physikalismus vertritt die Ansicht, alles im Universum bestehe im Grunde aus physischen Entitäten, wie Atomen, Molekülen und Zellen. Alles ist im Prinzip auf diese zurückzuführen, bzw. in seiner Existenz von ihnen abhängig. Die physischen Entitäten können naturwissenschaftlich erforscht werden, und auch der menschliche Geist stellt keine Ausnahme dar. Die Analogie mit dem Computer war dafür, wie gesagt, wegweisend. Ein Computer ist ja ein rein physikalisches System, das dennoch Information verarbeiten und speichern und intelligentes Verhalten an den Tag legen kann (man denke etwa an einen Schachcomputer). Offenbar lässt sich ein intelligentes System aus nicht-intelligenten Teilen zusammensetzen. Warum sollte dann der menschliche Geist etwas völlig anderes sein? Descartes irrte: Nicht nur Tiere, sondern auch Menschen sind Maschinen. Der Identitätstheorie war dennoch kein langes Leben beschieden, da man schon bald auf einen Denkfehler stieß. Wenn mentale Phänomene identisch sind mit bestimmten Prozessen im Gehirn, dann ist das Bewusstsein ausschließlich Lebewesen mit einer ähnlichen Anatomie wie der unseren vorbehalten. Ein solcher biologischer Chauvinismus erschien vielen als nicht wünschenswert. Wir Menschen haben zufällig eine biologische Hardware, die aus Milliarden vernetzter Gehirnzellen besteht, doch das braucht nicht zu bedeuten, dass nur unsere Hardware in der Lage ist, mentale Phänomene hervorzubringen. Warum sollte ein außerirdisches Wesen, dessen Gehirn sich völlig von unserem unterscheidet, nicht auch Bewusstsein besitzen? Und warum sollte ein Roboter mit einem Silicium-Gehirn nicht irgendwann einmal denken und fühlen können? So kam man zu dem Schluss, mentale Zustände könnten durchaus auf verschiedene Weise physisch realisiert werden. Die Computer-Analogie deutete eigentlich schon darauf hin. Es gab Programme, die sowohl auf Rechnern von IBM oder Macintosh liefen als auch auf den schwerfälligen Röhrencomputern der Fünfzigerjahre. Das Gleiche trifft auf das Bewusstsein zu. Theoretisch können Lebewesen mit einer ganz anderen Anatomie und Physiologie als der unseren existieren und trotzdem Schmerz empfinden, Wünsche hegen und den Geschmack von Schokolade wahrnehmen. Die Identitätstheorie hatte sich als zu starr erwiesen und wurde in den Sechzigerjahren vom Funktionalismus abgelöst, unter anderem durch die Arbeiten der Philosophen Hilary Putnam und Jerry Fodor. Der Funktionalismus postuliert, dass zwei Menschen mit den gleichen mentalen Zuständen physiologisch nichts miteinander gemein zu haben brauchen. Denn mentale Zustände sind auf verschiedene Weise realisierbar. Es spielt im Grunde keine Rolle, wie ein mentaler Zustand realisiert wird, solange seine Funktion gewährleistet ist. Da man men-
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tale Phänomene unter dem Gesichtspunkt ihrer Funktion betrachtete, war das materielle Substrat nicht mehr von Bedeutung. Das Gehirn des Menschen ist nur eine von vielen möglichen Quellen des Bewusstseins. Man kann es mit Geld vergleichen. Die gegenständliche Form kann verschieden sein (Scheine oder Münzen), ihre Funktion ist jedoch immer die gleiche: Sie alle dienen als Zahlungsmittel. Für das Bewusstsein gilt im Prinzip das Nämliche. Mentale Zustände können auf verschiedene Weise realisiert werden. Schlaue Maschinen Der funktionalistische Gedanke, mentale Zustände könnten auf verschiedene Weise hervorgerufen werden, ebnete in den Sechzigerjahren der Forschung über künstliche Intelligenz, dem Versuch, intelligente Maschinen zu bauen, den Weg. In den Jahrzehnten, die seitdem verstrichen sind, wurden einige Erfolge erzielt, insbesondere im Bereich spezieller Aufgabenstellungen, wie im Fall des bereits erwähnten Schachcomputers. Solche Maschinen sind inzwischen so weit entwickelt, dass sie dem Menschen überlegen sein können. Manchem Schachliebhaber hat sich das Jahr 1997 unauslöschlich ins Gedächtnis eingebrannt. Damals wurde der amtierende Schachweltmeister Garri Kasparow zum großen Entsetzen vieler vom IBM-Computer Deep Blue geschlagen: Das menschliche Gehirn konnte es mit der Maschine nicht aufnehmen. Der Schachcomputer ist jedoch nur eines von vielen Beispielen künstlicher Intelligenz. Es gibt heute Computer, die Sprache und Gesichter erkennen oder eine Diagnose stellen können. Die entscheidende Frage ist natürlich: Haben wir es hier mit echter Intelligenz zu tun, besitzen Maschinen tatsächlich mentale Fähigkeiten oder werden diese nur geschickt simuliert? Der britische Mathematiker und Computerpionier Alan Turing schlug 1950 einen einfachen Test vor, der diese Frage zu beantworten suchte. Der nach ihm benannte Turing-Test ersetzt die philosophische Frage „Können Maschinen denken?“ durch die praktischere: „Kann ein Mensch mittels schriftlicher Fragen eine Maschine von einem Menschen unterscheiden?“ Indem der Fragesteller Fragen eintippt und die Antworten studiert, muss er also herauszufinden versuchen, ob er es mit einem Menschen oder mit einem Computer zu tun hat. Jede Frage ist erlaubt, zum Beispiel : „Was ist dein Lieblingsfilm?“, „Welche Musik hörst du gerne?“ oder „Welche politischen Ansichten hast du?“ Wenn ein Computer den Test besteht und der Fragesteller überzeugt ist, es mit einem Menschen zu tun gehabt zu haben, müssen wir Turing zufolge davon ausgehen, dass der Computer Bewusstsein hat und wirklich denken kann. Denn zwischen Mensch und Maschine gebe es dann praktisch keinen Unterschied mehr. Natürlich muss ein derartiger Computer verdammt gut programmiert sein. Er muss Fangfragen beantworten können wie: „Bist du ein Mensch oder ein Computer?“ Der Computer ist vielleicht so programmiert, dass er entrüstet antwortet: „Hör mal, tu nicht so albern, natürlich bin ich ein Mensch!“ Turing prophe-
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zeite, dass um das Jahr 2000 die ersten Computer den Test bestehen würden. Tatsächlich gibt es heute Rechner, mit denen man sich stundenlang über Politik, Kochen oder Baseball unterhalten kann. Doch die Programme sind auf ein ganz bestimmtes Thema spezialisiert, an jeder anderen beliebigen Frage scheitern sie kläglich. Bislang hat keine Maschine den Turing-Test bestanden. Doch angenommen, dies gelingt in fünfundzwanzig oder fünzig Jahren. Turing zufolge müssten wir Computer dann als mentale Maschinen betrachten. Nicht jeder teilt Turings Optimismus. Der amerikanische Philosoph John Searle zum Beispiel ist davon überzeugt, dass Computer immer dumm bleiben werden. Ein Computer habe nämlich nicht die geringste Ahnung, womit er beschäftigt sei. Searle demonstrierte dies 1980 mit dem inzwischen berühmt gewordenen Gedankenexperiment des Chinesischen Zimmers. Angenommen, ich werde in ein Zimmer eingeschlossen. In dem Zimmer befinden sich Körbe und in ihnen Zettel mit chinesischen Schriftzeichen. Ich bin der chinesischen Sprache nicht mächtig. Außer den Körben gibt es noch ein Buch in meiner eigenen Sprache, in dem sich Regeln finden, welche Schriftzeichen zu welchen anderen Schriftzeichen gehören. Die Regeln beziehen sich nur auf die Form, nicht auf die Bedeutung. Chinesische Muttersprachler außerhalb des Zimmers reichen mir nun durch einen Türschlitz Zettel mit chinesischen Schriftzeichen, die ich im Buch nachschlage. Dort finde ich Anweisungen, wie ich mich zu verhalten habe. „Wenn man dir dieses oder jenes Schriftzeichen gibt, antwortest du mit diesem oder jenem in dieser oder jener Reihenfolge.“ Die Leute außerhalb des Zimmers können mir auf diese Weise Fragen stellen, etwa „Was ist dein Lieblingsgericht?“ Ich weiß natürlich nicht, was man mich fragt, ja, ich weiß nicht einmal, dass es sich überhaupt um eine Frage handelt. Aber indem ich mich genau an die Anweisungen im Buch halte, schicke ich die folgenden Schriftzeichen zurück: „Mein Lieblingsgericht ist Lasagne, aber Pinkel mag ich auch sehr gerne.“ Ich habe natürlich keinen Schimmer, was ich geantwortet habe, doch den Leuten außerhalb des Zimmers muss es so vorkommen, als verstünde ich Chinesisch! Ja, folgt man Turings Argumentation, so verstehe ich es tatsächlich. Es möge deutlich sein, so Searle, dass diese Schlussfolgerung absurd ist. Das Gedankenexperiment des chinesischen Zimmers ist eigentlich eine Metapher. Searle beschreibt, wie ein Computer funktioniert: Das Buch mit den Regeln entspricht einem Computerprogramm, die Körbe voller Schriftzeichen entsprechen dem Datenbestand. Die Metapher verdeutlicht Searle zufolge, dass Computer über keinerlei Begriffsvermögen verfügen. Wie intelligent sie auch erscheinen mögen, sie befolgen nur einfache Instruktionen, ohne sich irgend einer Sache bewusst zu sein. Technisch ausgedrückt: Der Computer ist eine rein syntaktische Maschine, eine Maschine, die einprogrammierten Regeln folgt. Er versteht jedoch nichts von Semantik, er „weiß“ nicht, was die chinesischen Schriftzeichen bedeuten. Einem Computer Verständnis oder Bewusstsein zuzuschreiben, sei daher Unsinn. Ein Computer wisse überhaupt nichts, so Searle.
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Der Philosoph Daniel Dennett nähert sich dem Thema aus einer anderen Perspektive. Ob Maschinen jemals werden denken können, sei mehr eine pragmatische Frage. Manchmal sei es einfach praktisch, der Maschine Wünsche und Überzeugungen zuzuschreiben. Kasparow habe dies wahrscheinlich getan, als er gegen Deep Blue spielte. Bei einer bestimmten Stellung wird er gedacht haben: „Deep Blue versucht mir mit einem Turmopfer eine Falle zu stellen; er glaubt, ich hätte es nicht gesehen.“ Einem Computer Wünsche anzudichten („er versucht, mir eine Falle zu stellen“) und Überzeugungen („er glaubt, ich hätte es nicht gesehen“), ist instrumentell nützlich. Wir tun einfach so, als ob der Computer rational sei oder denken könne, denn indem wir ihm Wünsche und Überzeugungen und rationales Handeln zuschreiben, können wir sein Verhalten einschätzen oder voraussagen. Dennett nennt diese Einstellung einer Maschine gegenüber intentional oder mental. Sie führt nicht immer zu genauen Ergebnissen, ist jedoch die am wenigsten umständliche. (Diese mentale Haltung nehmen wir oft schon gegenüber Maschinen ein, die viel dümmer sind als ein Computer. In einer wunderbaren Szene in der englischen Comedyserie Fawlty Towers / Das verrückte Hotel schlägt John Cleese auf sein Auto ein, weil es nicht anspringen will.) Dennett unterscheidet noch zwei weitere Möglichkeiten, uns Maschinen gegenüber zu verhalten: die funktionale und die physikalische Haltung. Bei der ersteren betrachten wir das Programm des Computers. Die in ihm festgelegten Anweisungen erlauben die Voraussage seines Verhaltens, da wir davon ausgehen können, dass er entsprechend seiner Funktion handelt. Ein Schachprogramm etwa hat die Funktion, Stellungen aufgrund von Parametern zu bewerten. Diese Einstellung einer Maschine gegenüber ist etwas umständlicher als die mentale, doch die Voraussage, was der Computer tun wird, ist um einiges genauer. Allerdings sind Überraschungen nie ganz auszuschließen, da fast jede Software Fehler enthält oder von einem Computervirus infiziert sein kann. Die dritte Haltung, die wir Maschinen gegenüber einnehmen können, die physikalische, führt zu den genauesten Voraussagen, ist aber zugleich auch die umständlichste. Wir betrachten jetzt die physikalischen Eigenschaften der Maschine und beschreiben minutiös jeden Draht, jeden Chip und jede Schaltung und wenden anschließend die Naturgesetze an. Voraussagen aufgrund dieser Betrachtungsweise sind zwar zu hundert Prozent genau, doch äußerst umständlich. Gegenüber Computern nehmen wir diese Haltung denn auch selten ein. Dennett meint nun, es sei eine Frage der Pragmatik, wie wir uns einem Computer oder einem anderen scheinbar intelligenten System gegenüber verhalten. Letztlich gehe es darum, welche Einstellung die nützlichste sei. Müssen wir schnell Voraussagen machen oder ist die Genauigkeit wichtiger? Im ersteren Fall entscheiden wir uns für die intentionale Einstellung, im letzteren für die funktionale oder physikalische. Die Frage, ob intelligente Maschinen tatsächlich Wünsche hegen oder Überzeugungen haben, ist nun bedeutungslos geworden. Die
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Idee eines „mentalen Systems“ ist nämlich ontologisch neutral. Wenn es nützt, einem System Wünsche und Überzeugungen zuzuschreiben, dann ist es ganz einfach in dem Moment ein mentales System. Wie ist es, eine Fledermaus zu sein? Viele Philosophen unterschreiben heute zumindest den Grundgedanken des Physikalismus: Der Geist hat eine materielle Basis im Gehirn. Zwar wissen wir noch nicht genau, nach welchen Regeln das Gehirn funktioniert, doch die Wissenschaft mache so große Fortschritte, dass in nicht allzu ferner Zukunft auch dieses Rätsel gelöst sein werde. Dieser Optimismus wird nicht von allen geteilt. Der amerikanische Philosoph Thomas Nagel etwa meint, der Zusammenhang zwischen Bewusstsein und Gehirn sei nicht die Lösung des Leib-Seele-Problems, sondern genau das, was es zu erklären gelte. Eine physikalische Erklärung des Bewusstseins hält er vorerst für unmöglich. Auf den ersten Blick, räumt Nagel ein, erscheine die wechselseitige Bedingtheit des Bewusstseins und der Prozesse im Gehirn einleuchtend. Es müsse etwas im Gehirn geschehen, damit mentale Phänomene auftreten könnten. In einigen Fällen kennen wir bereits den Zusammenhang. So können Menschen, die an einer Phobie oder an Depressionen leiden, mit Medikamenten behandelt werden. Allem Anschein nach haben also mentale Phänomene eine physische Ursache. Doch damit, so Nagel, sei eben noch längst nicht alles gesagt. Vorgänge im Bewusstsein seien nicht identisch mit Gehirnprozessen, sie besäßen noch etwas Zusätzliches, etwas, was von der Wissenschaft nicht untersucht werden könne. Nagels Argumentation ist überraschend einfach. So stellt er sich etwa die Frage, was geschieht, wenn wir in eine Schokalade beißen. Daran sei an und für sich nichts Geheimnisvolles: Die Schokolade schmilzt auf der Zunge und stimuliert die Geschmackspapillen. Diese Sensoren senden chemische und elektrische Impulse zum Gehirn, wo sie weitere physikalische Reaktionen erzeugen. Doch nun geschieht das Wunder: Wir erleben den Geschmack von Schokolade! Ist diese mentale Wahrnehmung nichts anderes als ein physikalisches Ereignis in unserem Gehirn? Nagel verneint dies. Würde ein Neurowissenschaftler unsere Schädeldecke entfernen, während wir ein Stück Schokolade essen, so würde er komplizierte physikalische Vorgänge entdecken, doch nicht den Geschmack von Schokolade! Wie sehr er auch sucht, mentale Wahrnehmungen wird er nicht finden. Das Gleiche gilt natürlich für alle Vorgänge im Bewusstsein. Im Gehirn findet man keine Gedanken, Wünsche, Überzeugungen, die Wahrnehmung von Farben oder den Geschmack von Schokolade. Nagels Schlussfolgerung lautet daher: Ein Wissenschaftler kann unser Gehirn untersuchen, doch nicht unser Bewusstsein. Dieses ist nur uns selbst zugänglich. Geistige Phänomene sind daher mehr als die Prozesse im Gehirn. Selbst wenn die Funktionsweise des Gehirns irgendwann keine Geheimnisse mehr für uns
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hätte, würde es immer noch eine tiefe Kluft zwischen dem subjektiven Bewusstsein und den objektiv wahrnehmbaren Vorgängen im Gehirn geben. Geistige Phänomene besitzen eine bestimmte Innerlichkeit, eine insideness: Zu unserem subjektiven Erleben haben nur wir selbst Zugang. Die Perspektive der ersten Person steht hier derjenigen der dritten Person gegenüber, die uns allen zugänglich ist. Von der Perspektive der dritten Person aus können wir das Gehirn eines anderen Menschen untersuchen, doch nicht sein Bewusstsein. Eine physikalistische, materielle Erklärung des Bewusstseins ist daher unmöglich. Nagel illustriert seine These am Beispiel der Fledermaus. Fledermäuse sind Säugetiere wie wir, doch mit einem so vollkommen anderen Wahrnehmungssystem ausgestattet, dass wir uns nur schwer vorstellen können, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Fledermäuse sehen fast nichts. Sie machen sich ein Bild von der Welt mittels Sonar (Echoortung), einem sehr wirkungsvollen System, das es ihnen ermöglicht, fliegende Insekten in der Luft zu fangen. Wenn wir uns vorzustellen versuchen, wie es ist, Form, Größe und Bewegung von Objekten zu hören statt zu sehen, steht uns der Verstand still. Es nütze nichts, so Nagel, sich ein Batman-Cape umzuhängen, flatternd hin und her zu rennen und hohe Pfeiftöne auszustoßen. Es helfe auch nicht, wenn man sich tagsüber auf dem Dachboden an den Füßen aufhängt – wir würden nie dahinterkommen, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Das Beispiel ist vergleichbar mit dem der Schokolade. Auch wenn wir irgendwann alles über das Gehirn der Fledermaus und ihre Physiologie wissen, so wissen wir doch immer noch nicht, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Die Innenperspektive bleibt uns verwehrt. Auch hier tut sich wieder die Kluft auf zwischen der physikalischen Welt, dem Gehirn, und der psychologischen, mentalen Welt des Bewusstseins. Nagel greift übrigens nicht zurück auf den cartesianischen Dualismus von Körper und Geist. Sein Standpunkt ist subtiler. Er vertritt den sogenannten Aspektdualismus, der sich in gewissem Sinn schon bei Spinoza findet. Woraus die Wirklichkeit in letzter Instanz besteht, sagt Nagel, wissen wir nicht. Doch wir kennen auf jeden Fall zwei Aspekte, nämlich den physikalischen und den psychischen. Keiner der beiden Aspekte lasse sich vorläufig auf den anderen zurückführen. Die heutige auf die physikalische Wirklichkeit gerichtete Naturwissenschaft spare das Geistige aus, sie könne daher niemals eine angemessene Beschreibung oder Erklärung des Bewusstseins geben. Vielleicht gelinge ihr dies in Zukunft, doch dann müsse sie sich von ihrer einseitigen Betrachtungsweise lösen. Nur eine radikale Umwälzung der Naturwissenschaften könne die Kluft zwischen Gehirn und Bewusstsein schließen. Ein Angriff auf den gesunden Menschenverstand Obwohl Nagels Argumentation bei vielen Philosophen Zustimmung findet, sprechen einige auch von einer unnötigen Mystifikation. Diese Optimisten mei-
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nen, die Neurowissenschaften könnten durchaus die Frage beantworten, was Bewusstsein sei. So wirft der kanadische Philosoph Paul Churchland Skeptikern wie Nagel geistige Unbeweglichkeit vor, einen konservativen Widerwillen gegen konzeptuelle Veränderung, weil sie im Grunde halsstarrig an dem veralteten Paradigma des psychologischen Alltagswissens (folk psychology) festhielten. Das ist nichts anderes als der gesunde Menschenverstand, den wir tagtäglich anwenden. Wir verlassen uns darauf schon seit Jahrtausenden, um unser eigenes Verhalten und das anderer zu begreifen und vorauszusagen. Churchland meint, es sei an der Zeit, sich dieses gestrigen Denkschemas zugunsten der Konzepte der Neurowissenschaften zu entledigen. Die Alltagspsychologie habe sich vielleicht im Alltag bewährt, doch mit Wissenschaft hätte sie nichts zu tun. Es sei daher auch nicht verwunderlich, wenn wir trotz aller Anstrengungen im Gehirn eines Menschen keinerlei Wünsche, Überzeugungen und Empfindungen entdecken könnten, denn die geistigen Zustände, so wie wir sie immer noch beschreiben, gebe es überhaupt nicht. Die Konzepte des psychologischen Alltagswissens verweisen auf nichts. Alle psychischen Phänomene (wie Glauben, Wünschen oder Fühlen) müssten daher in der Terminologie der Neurowissenschaft beschrieben werden. Churchland führt als Beispiel den Hexenglauben an. Die Menschen hätten im Mittelalter an Hexen geglaubt und sie für schlechte Ernten und den Ausbruch der Pest verantwortlich gemacht. Die Wissenschaft hätte mit diesen und ähnlichen Vorstellungen aufgeräumt, weil sie der Wirklichkeit nicht entsprechen. Hexen gibt es schließlich nicht! Das gleiche Los sei auch den Konzepten der folk psychology beschieden. Churchland vertritt eine Position, die als „eliminativer Materialismus“ bezeichnet wird. In naher Zukunft werde es den Neurowissenschaften gelingen, das Bewusstsein vollständig zu erklären. An die Stelle der Alltagspsychologie mit ihren Vorstellungen von „Wünschen“, „Glauben“ und „Fühlen“ trete dann die neurowissenschaftliche Terminologie. Und da das veraltete Denkschema des gesunden Menschenverstands nicht auf die Konzepte der Neurowissenschaft zurückführbar sei, müsse es restlos eliminiert werden. Denn es gebe keinerlei Korrespondenz zwischen den Konzepten der Alltagspsychologie und denen der Neurowissenschaft, und ohne Korrespondenz sei auch keine erfolgreiche Reduktion möglich. Churchland zufolge lassen sich in unserem Gehirn keine mentalen Zustände finden. Aus der Innenperspektive heraus erfahren wir vielleicht die Existenz von allerlei Wünschen und Überzeugungen, doch ist dies letztlich eine Illusion. In der Perspektive des objektiven Beobachters ist kein Platz mehr für mentale Begrifflichkeit. In Zukunft werden wir nicht mehr von Wünschen und Überzeugungen eines Menschen sprechen, sondern von neuronalen Netzwerkfunktionen und von Reizen über bestimmte Synapsen. Das Gehirn ist ein konnektionis-
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tisches System, ein komplexes, wechselseitig verknüpftes Netzwerk, das sich fortwährend den Signalen anpasst, die durch es hindurchströmen. Künstliche neuronale Netzwerke (Computer, die ein biologisches neuronales Netz nachbilden) bewiesen ja, dass sie lernfähig sind und Intelligenz simulieren können, etwa indem sie Sprache oder Gesichter erkennen. Es sei daher überhaupt nicht nötig, eine Zweiteilung von physikalischen und mentalen Vorgängen zu bemühen. Eine physikalische Theorie reichte vollkommen aus. Das alte mentalistische Paradigma wird also weichen müssen. Die Umkehr wird zuerst die Wissenschaft vollziehen, aber auch im Alltagsleben werden wir allmählich die neue, neurowissenschaftliche Terminologie übernehmen. Churchland zufolge bedeutet dies keinen Verlust sondern Gewinn, da die neurowissenschaftliche Beschreibung der sich im Gehirn abspielenden Vorgänge der mentalistischen Beschreibung, wie wir sie heute noch verwenden, überlegen sei. Mithilfe der neuen, neurowissenschaftlichen Konzepte würden wir uns selbst und andere besser als bisher begreifen. Durch die wachsende Kenntnis über die Prozesse im Gehirn ließen sich unsere inneren Zustände besser beschreiben als mit den Konzepten der Alltagspsychologie. Churchland verspricht sich auch großen Nutzen für die Menschheit: Wenn wir erst einmal wüssten, wie psychische Störungen entstehen und wie Gedächtnis, Intelligenz und Gefühle zustande kommen, könne viel menschliches Leid verhindert werden. Es sei tragisch, meint Churchland, dass Nagel und andere Skeptiker durch ihr starres Festhalten an veralteten Begriffen dieser Entwicklung im Wege stünden. Churchland vertritt die Auffassung, Philosophen wie Nagel mystifizierten das Geist-Körper-Problem unnötigerweise. Man habe schon öfter in der Vergangenheit irrigerweise Rätsel für unlösbar gehalten. Wie die Geschichte uns lehre, beruhe vieles, was wir für unergründliche Mysterien hielten, auf unserer Unkenntnis. Churchland führt hierfür einige Beispiele an: Im 19. Jahrhundert glaubte man, die physikalische Zusammensetzung der Sterne werde für immer unbegreiflich bleiben. Diese Mystifikation löste sich auf, als man die sogenannte Spektralanalyse entdeckte. Indem man das Licht in sein Spektrum zerlegte, konnte man die chemische Zusammensetzung von Himmelskörpern bestimmen. Ein anderes Beispiel ist die Lehre des Vitalismus. Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts vertrat mancher Philosoph die Auffassung, es bestehe eine tiefe, metaphysische Kluft zwischen Lebewesen und toter Materie. Grundlage alles Lebendigen sei eine mysteriöse, unstoffliche „Lebenskraft“, die die Wissenschaft niemals ergründen werde. Doch 1953 entdeckten James Watson und Francis Crick die materielle Grundlage alles Lebens, die Doppelhelix der DNA. Die Molekularbiologie zeigte dann, dass das, was wir „Leben“ nennen, nichts anderes ist als eine bestimmte Organisation von Materie. Eine immaterielle Lebenskraft zu postulieren, hatte sich als überflüssig erwiesen. Churchland meint, das Gleiche gelte auch für das Problem des Bewusstseins. Auch dieses sei kein unlösbares Rätsel. Wenn wir das neue, neurowissenschaft-
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liche Paradigma akzeptierten, werde sich zeigen, dass unser „Geist“ nichts anderes sei als ein an ein materielles Substrat gebundenes neuronales Netzwerk. Die Wissenschaft werde uns die Augen öffnen. Nagels Einwand, unsere Erlebnisse und andere psychische Zustände könnten nicht einfach bloß physikalische Zustände unseres Gehirns sein, weist er zurück. Die Innenperspektive – unser phänomenales Bewusstsein – sei zwar einzigartig und nur uns zugänglich, doch das bedeute nicht, dass das Bewusstsein etwas Immaterielles sei. Es bedeute nur, dass wir einen privilegierten Zugang zu unserem eigenen Bewusstsein hätten. Das Gefühl einer vollen Blase sei auch nur aus der Pespektive der ersten Person nachvollziehbar. Andere würden vielleicht merken, dass jemand nötig aufs Klo müsse, doch was für ein Gefühl es sei, eine volle Blase zu haben, wisse man nur selbst. Entziehe sich deswegen dieses Phänomen der wissenschaftlichen Erforschung? Nein, es ist schon längst in allen Einzelheiten wissenschaftlich beschrieben worden. Churchland folgert, die Perspektive der ersten Person sage nur etwas über das Wie der Erkenntnis aus, nicht über das Was. Es sei daher ganz und gar unnötig, die Wirklichkeit in zwei unterschiedliche Aspekte oder Substanzen aufzuteilen, in Geist und Materie. Und was Nagels Fledermaus betreffe, so seien ihre mentalen Wahrnehmungen einfach nur Prozesse im Gehirn. Sie besitze zwar einen exklusiven Zugang zu ihrem Bewusstsein, der dem Menschen immer verwehrt sein wird, doch sei dies kein Mysterium mit weitreichenden ontologischen Folgen. Die Fledermaus habe nun einmal ihr eigenes Gehirn, zu dem wir keinen Zugang hätten. Daher müssten wir das Bewusstsein der Fledermaus von außen, aus der Perspektive der dritten Person zu verstehen suchen. Zombies und die Funktion des Bewusstseins Ob sich Churchlands Prognose bewahrheitet, bleibt abzuwarten. Manche versprechen sich wie er sehr viel von dem rasanten Fortschritt der Hirnforschung. Doch ob die Neurowissenschaft tatsächlich das psychologische Alltagswissen verdrängen wird, ist zu bezweifeln. Denn die Tatsache, dass wir einander zu verstehen suchen, indem wir dem anderen Wünsche und Überzeugungen zuschreiben, ist keine wissenschaftliche „Theorie“, sondern ein tief verwurzelter „Instinkt“, der das soziale Miteinander erst ermöglicht. Dies bedeutet übrigens nicht, dass nur der Mensch über Bewusstsein verfügt. Davon ausgehend, dass die Evolution graduell verläuft, dürfen wir annehmen, dass das Bewusstsein schrittweise entstanden ist und sich möglicherweise – in rudimentärer Form – auch bei anderen Tierarten findet. Am Anfang dieses Kapitels wurde die These aufgestellt, dass eine evolutionstheoretische Perspektive unentbehrlich ist, wenn man sich dem Problem des Bewusstseins nähern will. Solange wir nicht wissen, wie sich das Bewusstsein entwickelt und welche biologische Funktion es hat, fehlt uns ein wichtiger Schlüssel zu seinem Verständnis. Eine evolutionäre Betrachtungsweise
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kann uns vielleicht erklären, warum die Evolution manche Organismen mit dieser wunderlichen Eigenschaft ausgestattet hat. Wie wir sahen, sprach Descartes Tieren Bewusstsein ab. Da sie keinen Geist besäßen, seien sie gefühllose Maschinen. Sie verspürten weder Schmerz noch Lust, und denken könnten sie schon gar nicht. Wir sehen das heute anders, was schon aus der Tatsache hervorgeht, dass wir Tieren bestimmte Rechte zubilligen und Tierquälerei unter Strafe gestellt haben. Man könnte geradezu den Stellenwert, den man dem Schutz der Tiere einräumt, als Prüfstein einer Kultur betrachten. Zweifellos entspringt diese veränderte Einstellung Tieren gegenüber zum Teil der Erkenntnis, dass alles Leben auf der Erde einen gemeinsamen Ursprung hat und dass es keinen grundlegenden Unterschied zwischen Mensch und Tier gibt. Auch in dieser Hinsicht sind wir Darwin verpflichtet. Dennoch könnte natürlich jemand die Ansicht vertreten, Descartes habe recht gehabt. Denn im Prinzip ist es durchaus möglich, dass Tiere gefühllose Automaten sind. Wenn ich einen Hund mit einem Stock schlage (dies ist ein Gedankenspiel), wird er aufheulen, sich krümmen und nach mir schnappen. Dieses Verhalten scheint auf Schmerzempfinden hinzuweisen, doch theoretisch könnte es auch ohne Bewusstsein hervorgerufen worden sein. Denn es ist schließlich relativ leicht, einen Roboter zu entwerfen, der sich, ausgestattet mit bestimmten Sensoren, mechanischen Gliedern und einem kleinen Lautsprecher, zusammenkrümmt und „au!“ schreit, wenn man mit einem Stock auf ihn einschlägt. Tiere (und auch Menschen) scheinen somit genauso funktionieren zu können, wie sie es tun, ohne dass auch nur ein Funken Bewusstsein im Spiel ist. Wir haben zwar Bewusstsein, kommen aber vielleicht auch ohne es aus. Philosophen sprechen in diesem Zusammenhang von „Zombies“, womit nicht die gruseligen Untoten von Horrorfilmen wie Die Nacht der lebenden Toten gemeint sind, sondern hypothetische Wesen, die uns in allem ähneln, nur kein Bewusstsein besitzen. Sie behaupten zwar von sich wie wir, bewusst zu agieren, tun dies aber in Wahrheit nicht. Ob ihre Existenz ohne Weiteres vorstellbar ist, ist unter Philosophen umstritten. Es hängt von der Frage ab, ob Bewusstsein zu etwas nütze ist. Man ist zunächst geneigt, mit ja zu antworten: Bewusstsein hat eine eindeutige Funktion, etwa zum Empfinden von Schmerz und Lust. Doch das Beispiel des Roboters, der „au!“ schreit, wenn man ihn schlägt, lässt uns wieder zweifeln. Auch in der neurologischen Literatur werden Fälle beschrieben, die zu belegen scheinen, dass ein Organismus auch ohne Bewusstsein auskommt. Man denke an das merkwürdige Leiden, das als „Blindsehen“ bezeichnet wird und das bei Menschen vorkommt, deren Sehvermögen aufgrund einer kortikalen Verletzung eingeschränkt ist. Wenn sie bei einem Test raten sollen, welche Abbildung man ihnen vorhält (etwa die eines Kreises, eines Vierecks oder eines Dreiecks), erzielen sie immer wieder eine höhere Trefferquote, als zu erwarten wäre. Offenbar ist zur visuellen Wahrnehmung nicht unbedingt Bewusstsein nötig. Die ganze Maschinerie funktioniert auch, ohne dass sich das Subjekt dessen bewusst
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ist! Mit anderen Worten, es erscheint zumindest vorstellbar, dass die Evolution Lebewesen hervorbringt, die genauso effizient funktionieren wie wir oder sogar besser, auch ohne subjektives, phänomenales Erleben. Der amerikanische Philosoph und Neurowissenschaftler Owen Flanagan schließt diese Möglichkeit in der Tat nicht aus. Theoretisch könnten höher entwickelte, intelligente Lebensformen auch ohne Bewusstsein auskommen, doch die Evolution habe nun einmal einen anderen Weg eingeschlagen. Der Besitz des Bewusstseins brachte evolutionären Vorteil. Flanagan bestreitet denn auch, dass der Geist nur ein Epiphänomen sei, eine bloße Begleiterscheinung, die keinen kausalen Einfluss ausübe und somit auch keine Funktion habe. Im Gegenteil, für alle existierenden höheren Lebensformen sei der Besitz des Bewusstseins geradezu eine Überlebensfrage. Es sei nicht nur für höhere kognitive Funktionen wie Selbstreflexion, Sprache und abstraktes Denken zuständig, sondern auch für elementarere wie das gefühlsmäßige Erleben und die Verarbeitung von Sinneseindrücken. Eine starke emotionale Veranlagung und eine Empfänglichkeit für angenehme oder schmerzhafte Reize erhöhe die biologische Fitness von Menschen und Tieren. Das Bewusstsein sei für die adäquate Interaktion zwischen Organismus und Umwelt unentbehrlich geworden. Kurzum, das Bewusstsein habe sich entwickelt, um die vier F’s zu erleichtern: Feeding, Fighting, Fleeing und Reproduction (Ernähren, Kämpfen, Flüchten und Fortpflanzung). Die mentalen Fähigkeiten der Menschen seien zwar höher entwickelt als die der Tiere, es seien Fähigkeiten, denen wir Kultur, Kunst und Wissenschaft verdanken, doch die Funktion des phänomenalen Grundbewusstseins sei für Mensch und Tier die gleiche, nämlich in eine erfolgreiche Interaktion mit Artgenossen und Umwelt zu treten. Descartes habe daher unrecht: Tiere sind keine gefühllosen Automaten. Das mehrschichtige Bewusstsein Im fünften Kapitel haben wir zwischen Tieren mit offenen und mit geschlossenen Verhaltensprogrammen unterschieden. Das Verhalten der Tiere mit einem geschlossenen Programm wie etwa das der Insekten, Mikroben und anderer „niederer“ Tierarten wird de facto genetisch reguliert und verläuft größtenteils instinktiv. Tiere mit einem offenen Programm hingegen, wie Säugetiere und Vögel, können aus positiven und negativen Erfahrungen lernen. Ein offenes und flexibles Verhaltensrepertoire ermöglicht es ihnen, komplexe soziale Beziehungen zu Artgenossen aufzunehmen und in der jeweils vorherrschenden Umwelt besser zu überleben. Das Verhalten wird nun nicht mehr genetisch gesteuert, sondern der Organismus ist gezwungen, selbst lebenswichtige Entscheidungen zu treffen. Nachdem die Evolution einmal diese Richtung eingeschlagen hatte, gab es kein Halten mehr. Das Bewusstsein erhielt schon bald eine zusätzliche Funktion. Es konnte nicht nur Reize aus der Außenwelt verarbeiten, sondern auch mög-
DAS MEHRSCHICHTIGE BEWUSSTSEIN
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Autobiographisches Selbst
Kernselbst
Proto-Selbst Abb. 8.2: Das mehrschichtige Bewusstsein nach Damasio
liche Handlungen im Denken durchspielen: Lernen durch Vorstellen, was passieren könnte, wenn ich dies oder jenes tue – ist viel effizienter als das Lernen durch Versuch und Irrtum. Nun kann das Lebewesen die Vorstellungen „sterben“ lassen, statt sich buchstäblich immer wieder selbst ins Ungewisse zu stürzen. In einem noch späteren Stadium der Evolution, möglicherweise schon mit dem Aufstieg der Primaten, kam es zu einer weiteren Neuerung: der Entstehung eines rudimentären Selbstbewusstseins. Aus ihm gingen Selbstreflektion, Empathie und wechselseitiger Altruismus hervor (aber auch List und Tücke). Diese Darstellung der Entwicklung des Bewusstseins ist in gewissem Sinn eine Simplifikation. Die meisten (niederen) Tierarten besitzen wahrscheinlich überhaupt kein Bewusstsein. Nur bei ganz wenigen Gattungen in der ungeheuren Vielfalt der Natur, etwa bei den Wirbeltieren und den Kopffüßern (zu denen der Krake und der Tintenfisch gehören), haben sich Organismen entwickelt, die über verschiedene Abstufungen von Bewusstsein verfügen. Auch muss man es sich wohl nicht so vorstellen, als habe dieser Prozess in Sprüngen stattgefunden und als seien immer wieder neue Funktionen hinzugefügt worden. Es war vielmehr ein mühsamer, gradueller Prozess. Alles spricht dafür – und das nur sollte obenstehende Skizze verdeutlichen –, dass das Bewusstsein aus Schichten besteht und in verschiedenen Abstufungen auch im Tierreich vorkommt. So unterscheidet der einflussreiche Neurologe Antonio Damasio drei Bewusstseinsstufen: das Proto-Selbst, das Kernselbst und das autobiographische Selbst (Abb. 8.2). Das Proto-Selbst ist in der Evolution am frühesten entstanden. Man kann eigentlich noch nicht von Bewusstsein sprechen, aber auf ihm beruhen alle höheren Ebenen. Das Proto-Selbst besteht Damasio zufolge aus den nicht-bewussten Gehirnprozessen, die kontinuierlich die Körperfunktionen regulieren. Diese Prozesse sorgen somit für die relative, lebensnotwendige Stabilität des Organismus. Anders gesagt, der Zustand des Körpers wird durch das Gehirn und Zentralnervensystem fortwährend kontrolliert und wenn nötig korrigiert. Wir könnten darum sagen, meint Damasio, dass die Kontrollfunktionen im Gehirn eine – allerdings unbewusste – Repräsentation des Körpers seien. (Vergleichbar mit den
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EVOLUTION UND BEWUSSTSEIN
Zeigern auf einem Armaturenbrett, die Geschwindigkeit, Temperatur oder den Benzinstand angeben und so den „Zustand“ des Autos „repräsentieren“.) Ein zweiter wichtiger Schritt in der Evolution des Bewusstseins war die Entstehung des Kernselbst bzw. des Kernbewusstseins. Nach Damasio verleiht dieses dem Organismus ein Gefühl des Selbst im Hier und Jetzt. Die Prozesse im Gehirn, die den Zustand des Körpers regulieren und repräsentieren, sind jetzt bewusst geworden. Dieses Bewusstsein ist jedoch primitiv: Es erstreckt sich nicht weiter als bis zum unmittelbaren Erleben. Der Organismus ist sich der verschiedenen Abstufungen von Empfindungen wie Schmerz und Lust bewusst. Der dritte Schritt in der Evolution ist die Entstehung von Organismen mit einem autobiographischen Selbst. Sie haben eine Identität, ein entwickeltes Selbstbewusstsein und ein Gedächtnis. Sie sind in der Lage zu reflektieren und erinnern sich wichtiger Ereignisse in ihrem Leben. (Damasios Darstellung des dreischichtigen Bewusstseins erinnert bisweilen an das Buch Drei Hirne im Kopf des Psychologen Piet Vroon. Dieser unterscheidet zwischen Reptiliengehirn, Säugetiergehirn und menschlichem Gehirn. Da sich der Mensch zu rasch entwickelt habe, liegen die drei Systeme regelmäßig im Streit miteinander und kommen allerlei primitive Gefühle und Verhaltensweisen an die Oberfläche.) Damasios empirisch gut fundierte Skizze des dreistufigen Bewusstseins macht deutlich, dass das Bewusstsein eine Eigenschaft ist, die allmählich entstand. Bewusstsein ist keine Lampe, die plötzlich angeknipst wurde, eher ein flackernder Funke, der immer heller zu leuchten begann und immer mehr Licht verbreitete. Die Mehrschichtigkeit des Bewusstseins hat daher auch Auswirkungen auf eine angemessene Definition des Begriffs. Im Duden etwa heißt es: „Vergegenwärtigung seelischer Vorgänge und Erfahrung ihrer Zugehörigkeit zum Ich.“ Damasio fände diese Definition des Bewusstseins vermutlich zu beschränkt, weil sie primitivere Formen ausschließt. Er bestreitet, dass das Bewusstsein ausschließlich in der Form von anderen kognitiven Funktionen wie Sprache und Gedächtnis begriffen werden könne. Dies gelte nämlich nur für das autobiographische Selbst, das Selbstbewusstsein. Aus neurologischen Untersuchungen gehe hervor, dass das primitivere Kernselbst auch ohne die erwähnten kognitiven Funktionen existieren könne. Bei Störungen des autobiographischen Bewusstseins könne das Kernselbst intakt bleiben, wie bei Patienten mit einer Gehirnschädigung oder Demenz. Im Gegensatz dazu führten Schädigungen auf der Ebene des Kernbewusstseins zu einer Zerstörung des gesamten Bewusstseinsgebäudes. An Damasios faszinierender Darlegung vermisst man nur eins: Auf die philosophische Problematik des Verhältnisses zwischen Gehirn und Bewusstsein geht er nicht ein. Das Körper-Geist-Problem, die Frage, wie es dem Gehirn gelingt, mentale Zustände und subjektives Erleben hervorzubringen, bleibt vorerst ungelöst. Vielleicht wird die Neurowissenschaft irgendwann einen Zipfel des Schleiers lüften. Doch sehr wahrscheinlich ist dies nicht. Das subjektive Erste-Person-Bewusstsein scheint sich prinzipiell einer physikalischen Erklärung zu entziehen.
FALLSTRICKE IN DER ERFORSCHUNG DES TIERISCHEN BEWUSSTSEINS
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Fallstricke in der Erforschung des tierischen Bewusstseins Es gibt also Abstufungen des Bewusstseins. Sie korrespondieren mit verschiedenen mentalen Funktionen, von der qualitativen Auswertung sinnlicher Reize (auf der unteren Ebene) bis zu Selbstreflexion und Einfühlungsvermögen (auf der oberen Ebene). Möglicherweise besitzt nicht nur der Mensch, sondern besitzen auch Tiere Bewusstsein. Die Schwierigkeit besteht darin, dies zu beweisen. Das will nicht heißen, dass Descartes doch noch recht haben könnte, sondern dass wir uns davor hüten müssen, unsere eigenen Gedanken und Gefühle auf Tiere zu übertragen. Der Anthropomorphismus, der Hang, den Menschen zum Maß aller Dinge zu erklären, ist einer der größten Fallstricke der Tierpsychologie, wie das folgende klassische Beispiel lehrt. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts erlangte in Berlin ein Pferd durch seine besonderen Fähigkeiten Weltberühmtheit. Der Hengst Hans konnte unter anderem Rechenaufgaben lösen und die Zeit angeben, indem er mit dem Huf auf den Boden klopfte. Wenn sein Besitzer, Wilhelm von Osten, ihn etwa fragte, wie viel zwölf minus sieben ist, klopfte er ohne zu zögern fünfmal mit dem Huf. Hans besaß seinem Besitzer zufolge sogar telepathische Fähigkeiten, denn er konnte auch eine Zahl raten, an die von Osten nur dachte. Betrug wurde ausgeschlossen, weil jeder aus dem Publikum dem Pferd Fragen stellen durfte. Der Hengst erhielt schon bald den Spitznamen „Kluger Hans“, und sein Ruf drang bis nach Amerika. 1906 untersuchte eine Kommission unter Leitung von Professor Stumpf, Direktor des Psychologischen Instituts in Berlin, die besonderen Gaben des Pferdes. Hans machte offenbar großen Eindruck, denn die Kommission konnte keinerlei Anzeichen von Betrug feststellen. Man einigte sich auf eine weitere Untersuchung, die ein Jahr später von dem Berliner Psychologen Oskar Pfungst durchgeführt wurde. Seine Studie ist ein Meilenstein in der Tierpsychologie, bedeutete jedoch auch den Untergang von Hans und seinem Lehrmeister. Pfungst entdeckte, dass Hans tatsächlich äußerst klug war, doch in anderer Hinsicht, als angenommen. Nach einer Reihe von Experimenten kam Pfungst schon bald einer Schwäche des Pferdes auf die Spur: Es war nämlich nicht in der Lage, eine richtige Antwort zu geben, wenn von Osten selbst das Ergebnis der Rechenaufgabe nicht wusste. Offenbar gab dieser dem Pferd (unbewusst?) bestimmte Signale. Doch wie? Pfungst setzte dem Pferd Scheuklappen auf, sodass es von Osten zwar hören, aber nicht sehen konnte. Und tatsächlich versagten nun seine Rechenkünste. Pfungst schloss, dass das Pferd nicht auf stimmliche, sondern auf visuelle Signale reagierte, und richtete seine Untersuchung nun auf Wilhelm von Osten selbst. Wie Pfungst schließlich herausfand, steuerte Osten durch subtile und kaum wahrnehmbare Nuancen in Körperhaltung und Mimik unbewusst das Verhalten des Pferdes. Hans hatte in seiner langen Trainingszeit gelernt, genau auf seinen Lehrmeister zu achten. Das unwillkürliche Hochziehen der Augenbrauen oder
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EVOLUTION UND BEWUSSTSEIN
ein unbewusstes Zittern der Nasenflügel reichte dem Pferd, um mit dem Hufklopfen aufzuhören. Pfungst demonstrierte vor Zuschauern seine Beobachtungen. Er stellte sich vor das Pferd und es gelang ihm, ihn jede Zahl klopfen zu lassen, indem er nur leicht den Kopf bewegte. Der kluge Hans war entlarvt. Das Pferd war kein Rechenkünstler, geschweige denn telepathisch begabt. Der Fall des „Klugen Hans“ erwies sich als simples Beispiel einer Konditionierung: Das Pferd hatte durch Belohnung (es bekam für jede „richtige Antwort“ eine Stück Mohrrübe) gelernt, die Körpersprache seines Herrn zu deuten. Von Osten war übrigens mit dem Ergebnis der Untersuchung nicht einverstanden, er war weiterhin von der Genialität seines Pferdes überzeugt. Er starb zwei Jahre später enttäuscht und verbittert. Der Fall des „Klugen Hans“ hatte zur Folge, dass man sich seitdem davor hütet, Tieren allzu voreilig mentale und kognitive Fähigkeiten zuzuschreiben. Was auf den ersten Blick intelligentes Verhalten zu sein scheint, kann bloße optische Täuschung sein. Gute Verhaltensforscher versuchen daher immer, den sogenannten „Kluger-Hans-Effekt“ zu vermeiden, etwa indem sie eine Sonnenbrille tragen oder dem Tier den Rücken zuwenden. Generationen von Ethologen sind im 20. Jahrhundert in die Schule des Behaviorismus gegangen. Die Übertragung menschlicher Eigenschaften auf Tiere muss unter allen Umständen vermieden werden, nur objektiv wahrnehmbares Verhalten darf Gegenstand der Forschung sein. Darüber, was sich im Kopf (Bewusstsein) eines Tieres abspielt, kann keine Aussage gemacht werden. Die erste Wissenschaftlerin, die gegen dieses Tabu verstieß, war Jane Goodall, die ab den Sechzigerjahren in Afrika das Verhalten wildlebender Schimpansen erforschte. Zum Entsetzen ihrer studierten Kollegen schreckte die Autodidaktin nicht davor zurück, den Menschenaffen Gefühle und Gedanken zuzuschreiben! Seitdem zeigt sich die Verhaltensbiologie in dieser Hinsicht aufgeschlossener. Auch der inzwischen weltberühmte niederländische Primatologe Frans de Waal hat zu dieser veränderten Einstellung beigetragen. Seine ethologischen Studien haben das tierische Bewusstsein in ein anderes Licht gerückt. Ihm zufolge haben Schimpansen und Bonobos ein Bewusstsein, das sich nicht prinzipiell von unserem unterscheidet. Die Menschenaffen besäßen ein reiches Gefühlsleben, seien fähig, zu folgern, vorauszudenken und mitzufühlen. Durch die Arbeiten de Waals sind Menschenaffen dem Menschen näher gerückt. In einer seiner letzten Veröffentlichungen hat de Waal auch eine Reihe von Fotos zusammengetragen, die er während seiner jahrzehntelangen Feldforschungen gemacht hat. Sie trägt den Titel: Mein Familienalbum. Ob Familie oder nicht, aus evolutionärem Blickwinkel ist es in der Tat höchst wahrscheinlich, dass manche Tierarten Bewusstsein besitzen. Die Beweislast liegt gegenwärtig mehr bei denjenigen, die dies abstreiten. Und auch der Vorwurf, die Bejahung tierischen Bewusstseins sei Ausdruck eines Anthropomorphismus, geht ins Leere. Denn das Problem des Bewusstseins stellt sich, wohlge-
FALLSTRICKE IN DER ERFORSCHUNG DES TIERISCHEN BEWUSSTSEINS
merkt, nicht nur in Bezug auf das Tierreich, sondern auch in Bezug auf unsere eigenen Artgenossen. Wir mögen zwar eine starke Vermutung haben, dass andere Menschen in etwa so denken und fühlen wie wir, doch sicher können wir uns dessen nie sein. Das Innerste unseres eigenen Geistes ist das einzige, worauf wir uns verlassen können. Vielleicht sind Sie und ich, verehrte Leser, von Zombies umringt.
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9 Die Evolution der Kultur Ein neues Medium der Evolution Unser Gehirn ist Träger und Mittler von Informationen. Sprache und Bewusstsein ermöglichen es, Gedanken und Ideen zu verbreiten, im Guten wie im Bösen. Durch das gesprochene und geschriebene Wort können wir unsere Mitmenschen beeinflussen und unsere Kenntnis an die nächste Generation weitergeben. Auch manche Tiere besitzen diese besondere Eigenschaft. Indem sie das Verhalten von Artgenossen beobachten und imitieren, lernen sie bestimmte Fertigkeiten, auf die sie von sich aus vielleicht nie gekommen wären. Das Besondere dieser Art der Informationsvermittlung ist, dass sie über ein nicht-genetisches Medium stattfindet. Zu der biologischen Evolution hat sich eine zweite gesellt: die der Kultur. Manche Theoretiker und Wissenschaftler sind der Ansicht, diese neue Form der Evolution unterliege den gleichen Prinzipien und Gesetzen wie die biologische. Nach Richard Dawkins, einem wichtigen Vertreter dieser Richtung, hat der Darwinismus ein viel größeres Anwendungsgebiet als bisher angenommen. Kulturwissenschaftler könnten eine Menge von der Evolutionsbiologie und der Genetik lernen. Ja, wenn wir uns diese Wissenschaftsgebiete zum Vorbild nähmen, würde das Phänomen der Kultur in ein ganz neues Licht gerückt. Vom evolutionären Standpunkt aus seien wir nämlich nichts als vergängliche Träger genetischer und kultureller Information. In diesem Kapitel gehen wir näher auf die Frage ein, ob sich Kultur nach Darwin’schen Prinzipien entwickelt. Kann man von einem neuen und vielversprechenden Forschungsprogramm sprechen oder wird das evolutionäre Paradigma als Deutungsmodell damit überstrapaziert? Die Geburt der „Memetik“ Dawkins zufolge ist eine Idee, genauso wie ein Gen, ein Replikator, der sich in einer Population ausbreitet. Ein Replikator ist eine Einheit, die in der Lage ist, Kopien von sich selbst herzustellen, wodurch die in ihm gespeicherte Information erhalten bleibt. Mehr als drei Milliarden Jahre lang waren Gene (die DNA) die einzigen Replikatoren auf unserem Planeten. Aber als Lebewesen mit Sprache und Bewusstsein auftauchten, entstand ein zweites Medium der Evolution. Für Ideen gilt das Gleiche wie für Gene: Ihr Erfolg hängt vom Grad der Fähigkeit ab, sich selbst zu kopieren. Wenn eine Idee überleben will, muss sie sich fortpflanzen. Eine Idee, der es nicht gelingt, in neue Gehirne einzudringen, stirbt einen frühen Tod.
DIE GEBURT DER „MEMETIK“
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Eine erfolgreiche Idee ist, wie ein erfolgreiches Gen, potenziell unsterblich. Ab dem Kindergarten ist es der Zweck des Unterrichts, jede neue Generation mit solchen tradierten Vorstellungen vertraut zu machen. Der Erfolg sagt jedoch nichts aus über deren Wert. Auch schlechte Ideen stellen Kopien ihrer selbst her. Man denke etwa an Verschwörungstheorien, die sich nach Daniel Dennett deshalb ausbreiten, weil sie die Antwort auf den Einwand, es gebe für sie keine Beweise, schon parat haben: „Natürlich nicht – so allumfassend ist die Verschwörung!“ Ein anderes treffendes Beispiel für einen erfolgreichen, doch keineswegs nützlichen Replikator ist der Kettenbrief, der eine Warnung für diejenigen enthält, die es wagen, die Kette zu brechen: „Wenn Sie diese Nachricht nicht an mehrere Personen weiterschicken, wird Ihnen sehr bald Schreckliches widerfahren.“ Eine angehängte (fingierte?) Liste von Leuten, die die Warnung in den Wind schlugen und kurz darauf das Zeitliche segneten, wird manchen vielleicht auf Nummer sicher gehen lassen. Kurz, aus evolutionärer Perspektive ist es unwichtig, ob eine Idee „gut“ oder „schlecht“ ist, entscheidend ist, wie gut sie sich kopiert. Dawkins hat in Analogie zum „Gen“ für die Einheit der kulturellen Evolution den Begriff „Mem“ geprägt. Gene sind die Replikatoren im biologischen Bereich, Meme die im kulturellen Bereich. Der Begriff – eine Ableitung vom griechischen Wort mimesis, Nachahmung – wurde vor nicht allzu langer Zeit in das Oxford English Dictionary aufgenommen, wo es, übersetzt, wie folgt definiert wurde: „Ein Element einer Kultur, das auf nichtgenetischem Weg weitergegeben wird, vor allem durch Imitation.“ Die Hinzufügung „vor allem durch Imitation“ ist eigentlich überflüssig und auch nicht ganz zutreffend. Imitation spielt sicher sowohl bei Tieren als auch bei Menschen eine Rolle, doch beim Menschen ist es hauptsächlich die Sprache, die die Verbreitung der Meme ermöglicht. Wie dem auch sei, ein Mem kann somit mehr sein als eine Idee oder ein Konzept. Grundsätzlich kommt jedes beliebige Element einer Kultur infrage: eine bestimmte Technik, ein Schlagwort, eine Kleidermode oder ein Gassenhauer. So wie Gene sich im Genpool vermehren, indem sie sich von Körper zu Körper bewegen, verbreiten sich Meme im Mempool, indem sie von Gehirn zu Gehirn springen. Ob die Vermehrung der Meme durch Imitation oder Sprache stattfindet, ist nicht wirklich wichtig. Die Weitergabe erfolgt jedenfalls auf nichtgenetischem Weg, ohne Vermittlung der umständlichen biologischen Fortpflanzung. Die Verbreitung der Meme ist denn auch, so Dawkins, nicht direkt mit der biologischen Evolution verknüpft. Wir dürften nicht erwarten, dass erfolgreiche Meme immer einen Überlebenswert besäßen oder eine andere biologische Funktion erfüllten. Die meisten Meme gedeihen einfach, weil sie sich, wie gesagt, selbst replizieren. Nachdem Dawkins 1976 seine These der Meme und der kulturellen Evolution vorgestellt hatte, blieb es eine Zeit lang still. Es entwickelte sich zwar eine Subkultur von Mem-Adepten, doch in wissenschaftlichen Kreisen ignorierte man die Idee, von einigen Ausnahmen abgesehen, wie im Werk des amerikanischen Bio-
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DIE EVOLUTION DER KULTUR
logen und Philosophen David Hull. Daniel Dennett erklärte dieses anfängliche Totschweigen der Mem-Theorie damit, dass Kulturwissenschaftler von vornherein Dawkins wegen seiner soziobiologischen Anschauungen kritisch gegenüberstanden. (Im fünften Kapitel sahen wir bereits, dass Sozial- und Humanwissenschaftler sich in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts gegen jegliche „Biologisierung“ ihres Fachgebiets wehrten.) Das änderte sich erst in den Neunzigerjahren mit den Publikationen von unter anderem Daniel Dennett, Susan Blackmore und Richard Brodie, in denen die „Memetik“ ausführlich diskutiert wurde. Seit 1997 erscheint im Internet die Zeitschrift Journal of Memetics: Evolutionary Models of Information Transmission, und in den letzten Jahren hat die Zahl der Veröffentlichungen zu diesem Thema stetig zugenommen. Die Meinungen über den wissenschaftlichen Status der Disziplin sind vorerst geteilt. Manche Kritiker halten die Mem-Theorie für einen Schlag ins Wasser, sie trage auf umständliche Weise vor, was wir schon längst wüssten. Die Analogie zwischen Genen und Memen sei zudem in mehrfacher Hinsicht irreführend und daher wenig Erfolg versprechend. Andere halten dem entgegen, dass es für ein abschließendes Urteil noch zu früh sei, man müsse der Memetik die Chance geben, sich zu beweisen. Universaler Darwinismus Von der Evolution der Kultur zu sprechen, ist natürlich eine Platitüde. „Evolution“ bedeutet Entwicklung oder Veränderung, und dafür ist nicht viel nötig. Interessanter wird es, wenn man wie die Memetiker die Auffassung vertritt, die Kultur unterliege Darwins Prinzip der Evolution. Die Art und Weise, wie Meme (die kulturellen Replikatoren) sich fortpflanzen und verbreiten, ist nicht nur ein Prozess, der in übertragenem Sinne in evolutionären Begriffen beschrieben werden kann, er ist eine Darwin’sche Evolution. Darwins Theorie basiert auf drei Grundprinzipien: – Variation (eine Fülle an verschiedenen Elementen) – Selektion (einige Elemente sind beständiger als andere) – Replikation (die Elemente sind in der Lage, sich selbst zu kopieren). Zusammen bilden diese drei Prinzipien einen Evolutionsalgorithmus, einen Mechanismus der kumulativen Selektion, der komplexe Eigenschaften hervorbringt. Der Selektionsprozess ist kumulativ, weil der Output jeder Selektionsrunde wieder als Input für die nächste dient. Während der aufeinanderfolgenden Zyklen erfahren die „Elemente“ fortwährend kleine Veränderungen, wodurch bestimmte Eigenschaften verstärkt bzw. abgeschwächt werden, je nach dem Selektionsdruck, dem die Elemente ausgesetzt sind. Die erste, ursprüngliche Form einer solchen Darwin’schen Evolution finden wir natürlich im biologischen Bereich. Die Mitglieder einer Population tragen
UNIVERSALER DARWINISMUS
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mit ihren Genen zum Genpool der Population bei. In diesem befindet sich die Gesamtheit der genetischen Varianten. Aufgrund der genetischen Variation unterscheiden sich die Individuen in der Population voneinander. Manche Gene kodieren beispielsweise für einen dicken Pelz und eine große Gestalt, während andere für einen dünnen Pelz und eine kleine Gestalt sorgen. In Bezug auf eine bestimmte Umgebung sind manche Eigenschaften vorteilhafter als andere. Genetische Variation führt daher zu unterschiedlicher Fitness, zu einem unterschiedlichen Fortpflanzungserfolg. Natürliche Selektion „belohnt“ bestimmte Eigenschaften und „bestraft“ andere. Die optimal an ihre Umgebung angepassten Organismen haben durchschnittlich die meisten Nachkommen. Und schließlich ist die Fitness vererblich: Auch die Nachkommen besitzen die Eigenschaften ihrer Eltern. Manche Replikatoren sind somit erfolgreicher als andere. Gene, die für günstige Eigenschaften kodieren, werden im Genpool vorherrschen, während andere Gene nach und nach aussortiert werden. Die obige Formel ist jedoch nicht notwendigerweise nur auf den biologischen Bereich anwendbar. Im Prinzip kann sich jedes dynamische System im Darwin’schen Sinne entwickeln, unter der Voraussetzung, dass die drei Bedingungen Variation, Selektion und Replikation erfüllt sind. Man spricht in diesem Zusammenhang von einem „universalen Darwinismus“: Der Evolutionsalgorithmus ist neutral hinsichtlich des Mediums und der sich in ihm entwickelnden Elemente. Auch Kultur kann somit von einem evolutionstheoretischen Standpunkt aus betrachtet werden. In dem Moment, als Lebewesen mit Bewusstsein und Sprache auf der Bildfläche erschienen, wurde eine neue, eigene Art der Evolution in Gang gesetzt. Seitdem befinden sich die neuen Replikatoren, die Meme, in einem fortwährenden Wettbewerb miteinander, um sich in möglichst viele Gehirne einzunisten. Nur den lebensfähigsten gelingt es, sich im Mempool zu behaupten. Ein Mem muss genauso wie ein Gen Kopien seiner selbst anzufertigen versuchen, sonst kann es nicht überleben. In den Mempool gelangen ebenfalls fortwährend neue Meme, und die bereits bestehenden Replikatoren verändern sich allmählich, womit die Bedingung der Variaton erfüllt ist. Den meisten neuen Memen ist allerdings kein langes Leben beschieden, sie sind nur eine Weile populär und verschwinden dann wieder. Das kulturelle Umfeld entscheidet über Erfolg oder Misserfolg. Analog zur natürlichen Auslese im biologischen Bereich findet auch hier ein Selektionsprozess statt. Meme, die sich ihrer kulturellen Umgebung am besten angepasst haben, werden durchschnittlich die meisten Kopien ihrer selbst herstellen. Die Meme einer flachen Erde oder der Hexerei waren einmal erfolgreiche Replikatoren, bis sie von anderen, erfolgreicheren verdrängt wurden. Replikatoren, die dem Zahn der Zeit widerstehen, wie die Idee des Rads, die Buchdruckerkunst oder Homers Ilias, sind relativ selten. Jedem dieser Meme stehen Tausende gegenüber, die sang- und klanglos untergegangen sind.
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DIE EVOLUTION DER KULTUR
Kultur als Auswirkung der Gene Bevor wir näher darauf eingehen, wie Meme sich verbreiten, müssen wir uns erst die Frage stellen, wie sich die biologische und die kulturelle Evolution zueinander verhalten. Gibt es möglicherweise eine Verbindung zwischen Genen und Memen? Die gängige soziobiologische Ansicht geht von der Vorrangstellung der biologischen Evolution aus: Letztlich dreht sich alles um die Verbreitung der Gene; Sprache und Kultur erhöhen unsere genetische Fitness, das Vermögen zur Fortpflanzung, und nur deshalb sind sie entstanden. Demgegenüber vertreten die Memetiker den Standpunkt, die Entwicklung der Kultur weise eine gänzlich eigene, von der biologischen Evolution unabhängige Dynamik auf. Die kulturelle Evolution habe einen eigenen Algorithmus mit eigenen Replikatoren und habe sich als evolutionärer Prozess verselbstständigt. Beide Theorien sind im Prinzip stark vereinfachend: der soziobiologische Ansatz, weil er Kultur auf die biologische Evolution zurückführt, der memetische, weil er Kultur zurückführt auf die Verbreitung von Memen. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass die Memetiker die beiden Formen der Evolution weitgehend losgelöst voneinander betrachten. Wenn diese Annahme zutrifft, muss es Meme geben, die sich um das Diktat der biologischen Evolution nicht scheren. Beide Sichtweisen lassen sich übrigens zum Teil auf Dawkins Werk zurückführen, denn auch die oben erwähnte soziobiologische Einordnung der Kultur findet sich bei ihm. So führte er in den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts die Vorstellung des erweiterten Phänotyps ein. Unter Phänotyp versteht man das Erscheinungsbild des individuellen Organismus, wie es durch Erbanlagen und Umwelteinflüsse geprägt wird. Biologen sprechen daneben noch vom Genotyp: dem genetischen Bauplan, der dem Phänotyp zugrunde liegt. Dawkins zufolge umfasst der Phänotyp mehr als nur den physischen Körper eines Organismus. Gene könnten sich auch außerhalb des Körpers des jeweiligen Organismus manifestieren. Man denke etwa an Biberdämme, Vogelnester und Spinnennetze. Diese Artefakte sind die erweiterten phänotypischen Auswirkungen der Biber-, Vogelund Spinnengene auf die Welt. Sie tragen in erheblichem Maße zur genetischen Fitness der Organismen bei. Auch das Verhalten von Lebewesen und seine Manifestationen müssten daher zum Phänotyp gerechnet werden. Kultur ist unter diesem Aspekt nichts anderes als ein erweiterter phänotypischer Effekt der menschlichen Gene. Sie muss auf irgendeine Weise die genetische Fitness erhöhen, sonst hätte sie sich nicht durchgesetzt. Der menschliche Geist, menschliches Verhalten, unsere Kunst und Kultur wären demnach letztlich biologische Phänomene. Das heißt nicht, dass kulturelle Eigenarten wie das Gehen auf Holzschuhen oder das Bauen von Mühlen genetisch bestimmt sind. Es bedeutet, dass das Vermögen, überhaupt Kultur zu entwickeln, in unseren
KULTUR ALS AUSWIRKUNG DER GENE
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Abb. 9.1: Kultur bei Menschenaffen. Ein erwachsener Schimpanse knackt mithilfe eines Steins die Nuss einer Ölpalme, während ein anderer ihm dabei zuschaut.
Genen verankert ist. Es erhöht unsere Fortpflanzungschancen. Kulturen haben somit einen gewissen Spielraum, sie können sich in verschiedene Richtungen entwickeln, doch dieser Spielraum ist nicht unbegrenzt, da die kulturelle Evolution eine Erweiterung der biologischen bleibt. Wilson sprach davon, dass die Gene die Kultur an der Leine halten. Eine Kultur kann sich daher nie ganz von ihren biologischen Wurzeln lösen. Wenn sie der menschlichen Natur zuwider läuft, wird sie mit einen Ruck an der Leine zur Ordnung gerufen oder untergehen. Die Vorstellung der Kultur als Erweiterung der biologischen Evolution wird durch die Verhaltensforschung untermauert. Auch bei bestimmten Tierarten finden sich Ansätze von Kultur, insofern als sie Informationen auf nichtgenetischem Wege austauschen. In seinem Buch Der Affe und der Sushimeister sieht der Primatologe Frans de Waal keinen grundlegenden Unterschied zwischen der menschlichen und der tierischen Kultur. Wildlebende Schimpansen sind in der Lage, Nüsse zu knacken und sich Termiten zu angeln. Dazu benutzen sie Werkzeuge, und das ist an und für sich schon eine kulturelle Leistung. Es setzt zudem Lernfähigkeit voraus. Junge Schimpansen müssen die Technik von ihren älteren Artgenossen abschauen und imitieren (Abb. 9.1). Es dauert oft Jahre, bis sie sich eine bestimmte Fertigkeit angeeignet haben, und manche lernen es nie. Die Kultur der Menschenaffen trägt zu ihrer biologischen Fitness bei: Die
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DIE EVOLUTION DER KULTUR
Techniken liefern ihnen wichtige Fette und Eiweißstoffe, die ihnen ansonsten fehlen würden. Ein anderes Beispiel einer (Proto-)Kultur bei Tieren ist der Vogelgesang. Singvögel haben eine angeborene Disposition für das Hervorbringen von Klängen, doch der Gesang selbst muss erlernt werden. Auch hier erfolgt die Weitergabe der Information auf nichtgenetische Weise. Voneinander getrennte Populationen entwickeln verschiedene Dialekte. Doch obwohl der Vogelgesang eine eindeutig kulturelle Komponente besitzt, steht er ganz im Dienst der biologischen Evolution, mit ihrem Gesang verteidigen die Vögel ihr Territorium und locken Weibchen an. Wenn manche Tiere also auch Meme besitzen, sind diese noch immer phänotypische Effekte der Gene. Alles spricht dafür, dass auch unsere Kultur auf diese Weise entstanden ist. Die ersten Hominiden, die Werkzeuge benutzten und Jagdtechniken entwickelten, erhöhten dadurch ihre genetische Fitness. Die gemeinsame Jagd und der Gebrauch von primitiven Waffen erschlossen neue und reiche Nahrungsquellen. Auch die frühesten Zeugnisse der Kunst müssen wahrscheinlich in diesem Zusammenhang gesehen werden. Die Höhlenmalereien, auf denen fast nur Tiere dargestellt sind, und die Frauenfigürchen waren wahrscheinlich in magische Riten einbezogen und sollten Jagdglück und Fruchtbarkeit beschwören. Sexualität und Nahrungssuche sind die zwei vorrangigsten biologischen Aktivitäten von Organismen. Doch während der Evolution des Menschen gab es irgendwann einen Umschlag, er befreite sich von seinen biologischen Wurzeln. Die kulturelle Evolution hat sich von der Leine gelöst und begonnen, ein eigenes Leben zu führen. Der Aufstand der Meme Kann sich die Kultur gegen die Imperative der biologischen Evolution wehren? Dawkins bejaht diese Frage. Der Mensch sei das einzige Lebewesen auf der Erde, das sich gegen die Tyrannei seiner Gene auflehnen könne. Wir tun dies etwa, wenn wir Empfängnisverhütung betreiben. Wir können uns bewusst für Kinderlosigkeit entscheiden oder dafür, Kinder zu adoptieren, statt sie selbst zu zeugen. Kultur, Wissenschaft und Technologie haben einen dermaßen rasanten Aufschwung genommen, dass sie kaum noch mit ihren biologischen Wurzeln verbunden sind. Die Meme haben sich sozusagen aufgelehnt und den Genen die Macht entrissen. Wir besitzen daher Eigenschaften, die sich allein unter dem Aspekt eines biologischen Vorteils nicht erklären lassen. So ist zum Beispiel unser überdimensioniertes Gehirn physiologisch gesehen äußerst nachteilig. Ein solch großes Gehirn zu versorgen, kostet sehr viel Energie, und bei der Geburt können allerlei unangenehme Komplikationen auftreten, da unser Kopf kaum noch durch den Geburtskanal passt. Warum hat sich dennoch ein solches Gehirn entwickelt?
DER AUFSTAND DER MEME
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Eine Beanwortung dieser Frage unternimmt nicht die Evolutionsbiologie, sondern die Memetik: Unser Gehirn stand ursprünglich im Dienst der biologischen Evolution, der Verbreitung von Genen, doch nach und nach übernahmen die Meme die Kontrolle. Sie übten nun einen Selektionsdruck aus, um immer bessere Organe zu ihrer eigenen Verbreitung zu entwickeln, nicht weil es für die Gene, sondern weil es für sie selbst vorteilhaft war. Die Rollen wurden vertauscht: Die Meme halten nun die Gene an der Leine. Meme haben nicht nur unsere Physiologie, sondern auch unser Verhalten beinflusst. Obwohl Gene und Meme sich oft gegenseitig ergänzen oder verstärken, geraten sie gelegentlich auch in Widerspruch zueinander. Manche Meme laufen geradezu der genetischen Fitness zuwider. Dawkins erwähnt als Beispiel das Zölibat-Mem, das sich in die Gehirne von katholischen Priestern und Nonnen eingenistet hat und ihre genetische Fitness auf null reduziert, zumindest wenn diese ihren Glaubensverpflichtungen nachkommen. Ein (hypothetisches) Gen für das Zölibat wäre zum Aussterben verurteilt, außer in dem seltenen Fall, in dem es wie bei den staatenbildenden Insekten die genetische Fitness eines Verwandten erhöht und sich so indirekt verbreitet. Das Mem für das Zölibat kann jedoch erfolgreich sein, solange es genügend Vertreter hat. Es muss eine gewisse Anziehungskraft ausüben und dafür sorgen, dass es in unveränderter Form auf neue Träger überspringt. Die Struktur des Mems muss während des Kopiervorgangs intakt bleiben, sonst kann man nicht von einem dauerhaften und erkennbaren Replikator sprechen. Ein anderes Beispiel für ein Verhalten, das die biologische Fitness beeinträchtigt, ist das Phänomen des Selbstmords. Gene für Selbsttötung sind im Prinzip lebensfähig, man denke etwa an Bienen, die das Nest gegen Angreifer verteidigen. Durch ihre Aufopferung retten sie das Leben ihrer nahen Verwandten und damit auch die Kopien ihrer eigenen Gene. Ein Selbstmord-Mem kann diesen komplizierten genetischen Weg überspringen, es pflanzt sich über die Sprache oder durch Nachahmung fort. Es kann sich etwa unter gesunden, jungen Menschen ausbreiten, weil sein Träger meint, er sei im Auftrag einer höhere Macht zum Märtyrertum berufen. Ein anderes Selbstmord-Mem instruiert seine Träger, eine Geheimsekte zu bilden und sich zwecks spiritueller Erlösung kollektiv das Leben zu nehmen. Aus Japan gibt es immer wieder Meldungen über Jugendliche, die über das Internet nach Gleichgesinnten suchen, um gemeinsam Selbstmord zu begehen. In all diesen Fällen ist es wichtig, dass der Träger des Mems eine Botschaft hinterlässt oder die öffentliche Berichterstattung über den Vorfall für die Verbreitung des Mems sorgt. Man kann in diesem Zusammenhang an die beiden Jugendlichen erinnern, die in der Columbine High School in Colorado unter Lehrern und Mitschülern ein Blutbad anrichteten, bevor sie sich selbst töteten. Es hieß, sie seien in den Bann sinistrer Rockbands („Shock-Rock“) geraten, die ihre Anhänger zu solchen Gewalttaten verführen. Wie dem auch sei, in den Ver-
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einigten Staaten hatte man jedenfalls nicht zu Unrecht Angst vor copycats, Nachahmungstätern. Der Eindruck, den diese Beispiele erwecken, nämlich dass Meme eine Art „Krankheitserreger“ sind, entspricht den Auffassungen von Memetikern wie Dawkins, Dennett und Blackmore. Meme manipulieren nicht nur das Verhalten ihrer Träger, sie verstehen es auch, immer wieder neue „anzustecken“. Offenbar bestimmen wir nicht selbst, welche Meme sich in unser Gehirn einnisten. Der Mensch hat zwar das Joch der biologischen Evolution abgeschüttelt, doch er hat es gegen ein anderes eingetauscht. Wir sind demnach folgsame Diener unserer Meme geworden. Im Bann der Memplexe Jeder kennt das Phänomen, dass man irgendwo eine Musik hört und einem die Melodie tagelang nicht mehr aus dem Kopf geht. Wenn es sich um ein Lied von Schubert oder eine Kantate von Bach handelt, kann es nichts schaden, doch Ohrwürmer wie La Paloma oder Hänschen klein können einem den letzten Nerv töten. Anscheinend haben wir nicht immer Einfluss darauf, was sich in unserem Kopf abspielt. Daniel Dennett vergleicht Meme daher mit „Körperfressern“: Sie dringen in unser Gehirn ein und manipulieren uns wie Parasiten ihre Wirte. Tagtäglich umlagern sie uns zu Hunderten und können es kaum erwarten, sich unseres anfälligen Gemüts zu bemächtigen. Das menschliche Gehirn hat jedoch nur ein beschränktes Fassungsvermögen, zudem gibt es viel mehr Meme als „Wirtspersonen“. Es kommt daher zu einem erbitterten Konkurrenzkampf zwischen den Memen. Zunächst sind wir geneigt zu glauben, dass wir selbst entscheiden, welche Meme in unserem Gehirn landen. Es gibt zwar eine ganze Reihe, die sich uns aufdrängen, wie Kettenbriefe, Reklame, Moden, Spams und Berieselungsmusik, doch dem stehen zahllose nützliche Meme gegenüber, die unser Leben komfortabler gemacht und die Gesellschaft verändert haben, wie der Kalender, das Alphabet oder der Satz des Pythagoras. Diese Meme scheinen zu unserer Bequemlichkeit auf der Welt zu sein. Wir überprüfen sie auf ihre Brauchbarkeit und geben sie an die nächste Generation weiter. Das in Bibliotheken und im Internet gesammelte Wissen ist das Ergebnis dieses Selektionsprozesses. Ohne diesen Ertrag gezielter Filterung gäbe es weder Kultur noch Technologie noch Wissenschaft. Memetiker meinen, diese Ansicht bedürfe einer Korrektur. Wir müssten die kulturelle Evolution aus der Perspektive des Mems betrachten. Es sei gewissermaßen ein Gestaltwandel, ein Bewusstseinswandel nötig, um den Wert dieser Perspektive zu erkennen. Wir müssten die Welt anders sehen lernen. Von einem vergleichbaren Umdenken war schon im fünften Kapitel im Zusammenhang mit der Theorie der Genselektion die Rede, nach der es bei der Evolution letztendlich
IM BANN DER MEMPLEXE
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um die Verbreitung der Gene gehe. Im Lauf der Evolution haben sich die Gene in manipulierbaren Trägern verschanzt, die wir Organismen nennen. Aus dieser Sicht sind Lebewesen nichts anderes als zeitweilige Hüllen für die Gene. Gene benutzen uns als Transportmittel. Sie haben die Organismen instruiert, immer neue Kopien ihrer selbst herzustellen. Unter diesem Aspekt ist der Organismus für die Gene nur ein Mittel, sich zu vermehren. Das Gleiche gilt für die Meme in der kulturellen Evolution. So wie wir die biologische Evolution aus dem Blickwinkel des Gens betrachten können, so können wir die kulturelle Evolution aus der Perspektive des Mems betrachten. Memetiker meinen, es sei ein Missverständnis zu denken, Meme seien um unseretwillen auf der Welt. Es verhalte sich genau umgekehrt: Wir existierten um ihretwillen. Sie benutzten uns als Vehikel, um sich auszubreiten. Meme seien keine Schöpfung des menschlichen Geistes, sondern der menschliche Geist sei eine Schöpfung der Meme. Meme hätten unseren Geist zusammengebaut, um immer mehr Meme weitergeben zu können. Sie vermehrten sich, weil es für sie selbst von Nutzen sei und bedienten sich dabei unseres Geistes. Darüber hätten wir selber kaum Kontrolle, denn so etwas wie ein autonomes Subjekt gebe es nicht. Unser „Ich“, unser Bewusstsein seien ja Schöpfungen der Meme. Wir seien ihre Sklaven geworden, Wirte, in denen sie sich aufhalten, fortbewegen und verbreiten. Meme seien wie Gene „egoistisch“: Sie „wollen“ nur eins, nämlich Kopien ihrer selbst herstellen, gleichgültig ob diese nun nützlich, neutral oder nachteilig für ihre Träger sind. Dawkins zufolge sind es vor allem große Gruppen von Memen, die uns „im Griff“ haben. Solchen Memkomplexen (in der Memetik auch kurz Memexe genannt) ist eigen, dass sie sich leichter reproduzieren als die einzelnen Teile, aus denen sie bestehen. Manche Meme haben sich, wie manche Gene, zusammengefügt und aneinander angepasst, was ihre memetische Fitness, ihre Chance, zu überdauern und sich zu vermehren, drastisch erhöht. Außerdem haben sie im Lauf ihrer Evolution die Umgebung, in der sie überleben müssen, zu ihrem eigenen Vorteil verändert. So schaffen sie sich selbst den Nährboden, auf dem sie gedeihen. Am Beispiel der Religion erläutert Dawkins, wie es solchen Memkomplexen immer wieder gelingt, neue Generationen von Menschen für sich zu gewinnen und sich so zu behaupten. Die Religion ist, Dawkins zufolge, ein gefährlicher geistiger Virus, der die intellektuelle Abwehrkraft seines Wirtes untergräbt. Glieder des zur Religion gehörigen Memkomplexes sind etwa „Gott“ und „Jenseits“. Diese Replikatoren sind deshalb so erfolgreich, weil sie den Menschen ein Ziel vorgaukeln, das ihrem Leben Sinn verleiht. Der Memplex wird sich noch besser fortpflanzen, wenn ihm ein Mem beigefügt ist, das eine Strafe im Fall der Abtrünnigkeit oder der Kritik in Aussicht stellt, etwa das Mem „Hölle“. Die Meme der höchsten Belohnung (Himmel) und der ewigen Verdammnis (Hölle) sichern sich ihren Fortbestand durch die starke psychologische Wirkung, die sie auf die
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Menschen ausüben. Ein noch höherer Reproduktionserfolg wird erzielt, wenn Meme wie „Offenbarung“, „blinder Glauben“ und „missionarischer Eifer“ hinzugefügt werden. Sie schalten das kritische Denkvermögen aus und stacheln die Menschen dazu an, neue Adepten zu gewinnen. Mancher Memkomplex enthält die Botschaft, dass Andersdenkende unwissend seien und die „Wahrheit“ noch nicht entdeckt hätten etc. Kurzum, der Memkomplex Religion besitzt die Struktur zur Selbstverbreitung in reinster Ausprägung: Die einzelnen Elemente verstärken sich gegenseitig und tragen zum Überleben der anderen bei. Die Meme der Religion schaffen sich einen idealen Nährboden für die weitere Replikation. Würden wir eine Liste aller möglichen „Kniffe“ aufstellen, mit denen ein Memkomplex seine Fortpflanzungschancen erhöht, würden wir sie mit größter Wahrscheinlichkeit in den verschiedenen Weltreligionen antreffen. Blackmore zufolge erklärt dies, warum manche kleinen Religionen weltumspannende Ausmaße angenommen haben und die meisten anderen ausgestorben seien. Den heftigen Konkurrenzkampf überlebten nur die besten Replikatoren. Was für die Religion gilt, gilt natürlich auch für andere Ideologien und Weltanschauungen. Ein Weltbild wählen wir nicht selbst aus – wir werden von ihm infiziert. Meine Meme sind schuld! Wie bereits erwähnt, findet die Memetik nicht gerade ungeteilten Beifall. Man kann zwar von einem gewissen Revival der Theorie sprechen, doch es bleibt abzuwarten, wie dauerhaft er ist. Manche Kritiker meinen, die vielen Widersprüchlichkeiten der Mem-Theorie disqualifiziere sie von vornherein. Es erübrige sich auch, auf eventuelle Erfolge zu warten, denn die werde es einfach nicht geben. Der erlesene Klub ihrer treuen Anhänger werde sich früher oder später von allein auflösen. Anderen erscheint es noch zu früh für ein so negatives Urteil, man müsse der Theorie die Gelegenheit geben, sich zu beweisen. Im Folgenden wollen wir uns mit einigen der Probleme der Mem-Theorie näher befassen. Der häufigste Einwand gegen die Mem-Theorie lautet, sie beraube uns unserer Rationalität und unseres freien Willens. Da wir quasi der Willkür geistiger Viren ausgeliefert seien, hätten wir die Fähigkeit verloren, uns selbst für Ideen, Überzeugungen und Werte zu entscheiden. Eine berechtigte Kritik: Denn der Mensch ist mehr als nur passiver Träger und Vermittlungsstelle für Meme. Die Tatsache, dass manche Überzeugungen auf nichtrationale Weise zustande kommen, impliziert keinen Verlust der Rationalität. Die Kultur besteht nicht nur aus Modelaunen. Greifen wir das Mem der Memetik selber heraus. Dass ihre Anhänger rationale Argumente für ihre Ansichten vorbringen, zeigt, dass sie an unseren Verstand appellieren und dass es ihnen nicht um einen Hype geht. In der Wissenschaft werden Theorien schließlich (im Idealfall zumindest) nicht deswegen akzeptiert, weil der Zeitgeist es vorschreibt, sondern weil eine Theorie sich an be-
MEINE MEME SIND SCHULD!
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stimmte wissenschaftliche Vorgaben hält, etwa Phänomene erklärt und vorhersagt. In diesen Fällen wählen wir die Meme aus, nicht umgekehrt. Offenbar sind wir frei in unserer Wahl, wir können nach einer rationalen Abwägung Entscheidungen treffen. Obwohl wir also in unserem Denken durchaus von Memen angesteckt und beinflusst werden, kommen wir zu Überzeugungen aufgrund reiflicher Überlegung. Genauso wenig wie wir willige Sklaven unserer Gene sind, sind wir Sklaven unserer Meme. Meme sind auf uns angewiesen, sie brauchen unseren Verstand, um überleben zu können. Ein memetischer Determinismus ist daher genauso unglaubhaft wie eine genetischer Determinismus. Die Evolution hat uns zur Freiheit verurteilt, wir müssen ständig Entscheidungen treffen und über unser Tun Rechenschaft ablegen. Man wird jemanden, der seine Meme für sein Verhalten verantwortlich macht, genauso wenig ernst nehmen, wie jemanden, der seinen Genen die Schuld in die Schuhe schiebt. Der Gedanke, wir seien nur die passiven Träger der Meme, ist zum Teil auf Dawkins suggestive Verwendung von Begriffen wie „Replikatoren“ und „Vehikel“ zurückzuführen. Ein Vehikel steuert sich nicht selbst, es sind andere, in diesem Fall die Replikatoren, die die Kontrolle ausüben. David Hull hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Vehikel, in denen Gene und Meme sich fortbewegen, keine ausschließlich passive Rolle spielen, sie seien vielmehr von entscheidender Bedeutung. Organismen und Gehirne seien keine bloßen Vehikel, sondern Interaktoren. Die Wechselbeziehung zwischen Organismen (und ihren Gehirnen) und ihrer Umgebung bestimmt, ob Replikatoren erfolgreich sind oder nicht. Diese sind nicht unmittelbar der Umgebung ausgesetzt, sie benötigen eine Zwischeninstanz, einen Vermittler, um sich selbst auszutesten. Im biologischen Bereich ist der Organismus der Prototyp eines solchen Interaktors. Der Erfolg eines Lebewesens bestimmt, ob seine Gene (die biologischen Replikatoren) weitergegeben werden oder nicht. Im kulturellen Bereich übenimmt das Gehirn die Vermittlerrolle. Ohne dieses Gehirn und die Person, zu der es gehört, sind die Meme (die kulturellen Replikatoren) machtlos. Ein potenziell unsterbliches Mem kann sich zwar in ein Gehirn einnisten, doch wenn es der betreffenden Person nicht gelingt, sich in ihrem sozialem Umfeld zu behaupten, wird das Mem nicht weitergegeben. Meme fliegen uns auch nicht einfach zu. Wissenschaftliche und technologische Meme beispielsweise sind das Resultat jahrelanger Forschung und Entwicklung. Wir selber haben solche Meme in mühevoller Arbeit gesammelt und zu einem Ganzen gefügt, um bestimmte Probleme zu lösen oder unser Wissen zu erweitern usw. Im Gegensatz zur biologischen Evolution ist die kulturelle also nicht bloß das Resultat eines blinden und ziellosen Prozesses: Der kulturellen Entwicklung liegen oft absichtsvolle und rationale Elemente zugrunde. Andererseits lassen sich Menschen nicht immer von der Vernunft leiten. Kritiker der Memetik können kaum abstreiten, dass manche Aspekte unserer Kultur tatsächlich in zunehmendem Maße von Memen dominiert werden, die sich wie Krankheits-
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erreger ausbreiten. Es ließen sich viele Beispiele anführen: Hypes in den Medien, Internetgerüchte und die Gurus in Wirtschaft, Politik und Kunst. Oder die tägliche Flut an Reklame, die aus uns willfährige Konsumenten machen will. Oft haben Meme sich ihr eigenes Sprachrohr geschaffen. Wir Menschen sind soziale, leicht beeinflussbare Geschöpfe, die stark zu Konformismus und Gruppenzwang neigen. Dies macht uns leider oft empfänglich für „irrationale“ Meme. Dennett hat übrigens eingeräumt, manche Memetiker – er selbst eingeschlossen – hätten sich vielleicht anfangs zu sehr hinreißen lassen. Doch die MemTheorie sei deshalb nicht widerlegt, im Gegenteil, sie liefere noch immer ein ausgezeichnetes Modell zum besseren Verständnis von uns selbst und unserer Kultur. Die Memetik stelle die menschliche Rationalität selbstverständlich nicht infrage, sondern behaupte nur, sie sei nicht als etwas Mysteriöses und Immaterielles vom Himmel gefallen. Unser freier Wille und unsere Rationalität seien das Ergebnis einer biologischen und kulturellen Evolution, ein komplexes Wechselspiel von Genen und Memen. Wir müssten lernen, uns selbst als das Resultat des Darwin’schen Algorithmus zu betrachten, als das kumulative Ergebnis der evolutionären Mechanismen Variation, Selektion und Replikation. Ist kulturelle Evolution lamarckistisch? Ein zweiter, oft gehörter Kritikpunkt gegen die Memetik lautet, die Analogie zwischen biologischer und kultureller Evolution sei schon deshalb fragwürdig, weil Letztere nicht Darwin’schen, sondern Lamarck’schen Prinzipien unterworfen sei. Das Wesen der Kultur ist es ja, dass sie aus erworbenen Inhalten besteht, die tradiert werden. Kulturelle Errungenschaften und Traditionen überdauern, weil wir das, was wir im Laufe des Lebens lernen, an unsere Kinder weitergeben können. Wie wir im ersten Kapitel sahen, vertrat Lamarck die Ansicht, erworbene Merkmale und Eigenschaften seien erblich. Die Lamarck’sche Evolution, bei der erworbene Merkmale und Eigenschaften direkt ins Erbgut eingehen und so auch der nächsten Generation zu Verfügung stehen, verläuft schnell und direkt, es ist kein umständlicher Selektionsprozess vonnöten, jede Generation baut auf den Leistungen der vorangegangenen auf. Die Giraffe, die sich ihr Leben lang gereckt hat, um die saftigsten Blätter der Akazie zu erreichen, wird ihren Nachkommen den ein klein wenig längeren Hals vererben, sodass diese mit einem Vorsprung zur Welt kommen. Dank der Anstrengungen der Eltern sind die Nachkömmlinge stets perfekt an ihre Umgebung angepasst. Lamarcks Auffassung wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch die Beobachtungen von Mendel und Weismann widerlegt. Erworbene Merkmale und Eigenschaften können nicht ins Erbgut gelangen. Geschlechtszellen werden nicht durch das beeinflusst, was mit einem Organismus während seines Lebens geschieht: Es führen kausale Stränge vom Genotyp zum Phänotyp, nicht aber um-
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gekehrt. Die biologische Evolution gehorcht nicht Lamarck’schen, sondern Darwin’schen und Mendel’schen Gesetzen: Zufallsbedingte (ungerichtete) erbliche Variationen werden nach ihrer Eignung in einem Selektionsprozess ausgefiltert und breiten sich in einer Population aus. Auf die kulturelle Evolution scheint aber das lamarckistische Erklärungsmodell sehr wohl anwendbar zu sein. Denn während des Lebens erworbene Errungenschaften können ja an die nächste Generation weitergegeben werden. Doch auch Kritiker der Memetik werden einräumen müssen, dass dies nicht wörtlich im lamarckistischen Sinn zu verstehen ist, sonst würden diese Errungenschaften im Erbgut kodiert und auf dem Weg der sexuellen Fortpflanzung in die nächste Generation gelangen. In der kulturellen Evolution geschieht die Übertragung nicht auf genetischem, sondern auf memetischem Weg, nicht über die DNA, sondern mittels des geschriebenen und gesprochenen Worts. Man könnte daher höchstens von einer lamarckistischen Evolution in übertragener Bedeutung sprechen. Doch auch diese metaphorische Interpretation ist nicht unproblematisch. Meme sind nämlich nicht die (metaphorischen) Entsprechungen der erworbenen phänotypischen Merkmale, sondern der Gene. Denn sowohl in der biologischen wie in der kulturellen Evolution wird nicht das Produkt selbst kopiert, sondern sein Bauplan. Es führt deshalb nach Ansicht der Memetiker nicht weiter, die kulturelle Evolution als „lamarckistisch“ zu bezeichnen. Dies stiftet nur Verwirrung. Hull und Blackmore zufolge kann man der kulturellen Evolution nur einen lamarckistischen Anstrich geben, wenn man ständig zwischen der wörtlichen und der metaphorischen Interpretation hin und her pendelt. Das Resultat sei aber nur eine Karikatur. Zwischen der biologischen und kulturellen Evolution gebe es eindeutige Unterschiede, doch es sei irreführend, diese „lamarckistisch“ zu nennen. Was Kritiker der Memetik oft meinen, wenn sie von lamarckistischen Eigenschaften der kulturellen Evolution sprechen, ist, dass kulturelle Veränderung zielgerichtet ist, dass ihr ein Plan zugrunde liegt. So gehen wir Menschen Probleme an, indem wir verschiedene Lösungsmöglichkeiten durchspielen. Kulturelle Variation scheint also im Gegensatz zur genetischen nicht dem Zufallsprinzip zu unterliegen. Biologische Evolution ist blind, während die kulturelle Evolution zukunftsgerichtet zu sein scheint. Dieser Einwand ist schwerer zu wiederlegen. Ist die kulturelle Evolution analog zur Darwin’schen das Resulat eines kumulativen Selektionsprozesses oder kommt sie auf lamarckistische Weise ohne Versuch und Irrtum zustande? Im nächsten Kapitel wird im Zusammenhang mit der Erkenntnistheorie näher auf diese Frage eingegangen. Eine Genealogie der Meme Ein weiterer mit dem vorigen eng zusammenhängender Kritikpunkt lautet, Meme könnten nicht nur den eigenen Nachkommen, sondern auch Nichtver-
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wandten überliefert werden. Man kann seine Ideen an seine eigenen Kindern, aber auch an einen Südafrikaner oder einen Japaner weitergeben. Im Unterschied zum biologischen Bereich erfolgt die Übertragung kultureller Informationen offensichtlich nicht nur „vertikal“, sondern auch „horizontal“. Es gibt keine deutlichen Abstammungslinien, kulturelle Information wird kreuz und quer gestreut, sodass die Replikationslinien ineinander übergehen, während die biologische Evolution ein Prozess konstanter Verästelung ist. Zweige, die sich einmal getrennt haben, kommen nie wieder zusammen. Der Einwand, zwischen den beiden Formen der Evolution bestünden in dieser Hinsicht große Unterschiede, ist insofern nicht ganz stichhaltig, als er die biologische Evolution allzu sehr vereinfacht. Auch in dieser gibt es eine „horizontale“ Informationsübertragung, man denke etwa an das Phänomen der Hybridisierung, wobei durch Kreuzung zwei getrennte Linien wieder zusammengeführt werden und Bastarde entstehen. Bekannt ist auch, dass Viren Erbgut-Stückchen von einer Spezies auf die andere übertragen können. Die biologische Evolution ist also längst nicht so übersichtlich, wie Kritiker meinen, und die kulturelle Evolution längst nicht so strukturlos. Denn trotz der horizontalen Informationsweitergabe finden sich im kulturellen Bereich sehr wohl deutlich erkennbare Replikationslinien in Form von kulturellen Traditionen, Religionen, wissenschaftlichen Disziplinen und so weiter. Man könnte jedoch einwenden, im kulturellen Bereich könne nicht die Rede sein von Erblichkeit im eigentlichen Wortsinn. Meme werden zwar an die nächste Generation weitergegeben, doch das geschieht durch Nachahmung oder durch das gesprochene oder geschriebene Wort, nicht wie im biologischen Bereich durch sexuelle Fortpflanzung. Dieser Unterschied ist evident, doch es gibt auch bemerkenswerte Übereinstimmungen. In beiden Fällen haben wir es mit Replikatoren zu tun, die sich mit unterschiedlichem Erfolg vermehren. Voraussetzung ist nur, dass möglichst genaue Kopien angefertigt werden, damit die in den Replikatoren gespeicherte Information über mehrere Generationen erhalten bleibt. Wie wir in diesem Kapitel bereits sahen, spielt weder die Form des Replikators noch das Medium eine Rolle. Der Darwin’sche Algorithmus ist neutral hinsichtlich des zugrunde liegenden Substrats. Im kulturellen Bereich wird die Voraussetzung der Replikation ohne Weiteres erfüllt. In jeder Universitätsbibliothek findet sich beispielsweise eine fast perfekte Kopie von Euklids Elemente oder Platons Politeia. Diese und andere Werke der Antike sind über verschiedene westliche und arabische Replikationslinien nahezu unverändert auf uns gekommen. So wie Gene bleiben Meme oft größtenteils intakt auf ihrer Reise durch die Generationen. Doch die Struktur der Meme kann sich natürlich bei der Weitergabe ändern, bestimmte Aspekte werden verworfen, andere werden hinzugefügt. In dieser Hinsicht unterscheiden Meme sich nicht von Genen, von denen manche über Millionen von Jahren unverändert bleiben, während sich andere durch unscheinbare Mutationen allmählich ändern.
WAS IST EIN MEM?
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David Hull zufolge gelten für die biologische wie die kulturelle Evolution die gleichen genealogischen Prinzipien. Sowohl biologische Arten wie kulturelle Traditionen können sich im Lauf der Zeit verändern. Arten und Traditionen bleiben jedoch erkennbare Entitäten, da sie Abstammungslinien (lineages) bilden. Ein Organismus gehört zu einer Spezies, nicht weil er bestimmte äußere Merkmale hat, sondern weil er das Glied in einer Fortpflanzungsreihe ist. Zwei Organismen können einander daher noch so ähnlich sein – wenn sie keine gemeinsame Abstammung haben, gehören sie nicht zur selben Spezies. Das gleiche trifft auf kulturelle Traditionen zu. Manche Ideen oder Rituale können inhaltlich oder strukturell fast identisch sein, doch wenn sie aus unterschiedlichen Abstammungslinien hervorgegangen sind, gehören sie nicht zur selben Tradition. Biologische Arten und kulturelle Traditionen sind Hull zufolge historische Entitäten, die ihre Identität behalten, auch wenn sie sich unablässig zu etwas Neuem entwickeln. Was ist ein Mem? Ein weiterer Kritikpunkt gegen die Memetik lautet, der Begriff Mem sei nicht eindeutig definiert. Die gängigen Umschreibungen („Element einer Kultur“ oder „kulturelle Grundeinheit“) seien viel zu ungenau, um von wissenschaftlichem Wert zu sein. Selbst wenn man das Mem als „kulturellen Replikator“ bezeichne, stelle sich wiederum die Frage, was denn genau kopiert werde. Nehmen wir ein Beispiel. Wir können das gesamte Werk Ludwig van Beethovens als ein einziges Mem betrachten oder nur seine Fünfte Symphonie oder nur deren ersten und bekanntesten Teil (Allegro con brio). Ja, wir können sogar nur die ersten Takte herausgreifen, denn das bekannte „Schicksalsmotiv“ in c-Moll „G-G-G-Es“ hat ein gewisses Eigenleben entwickelt; schon im Zweiten Weltkrieg verwendete es die BBC als Erkennungsmelodie für ihre deutschsprachigen Sendungen, heute dient es als Jingle für Werbespots und als Klingelton für das Handy. Die Memetik stehe damit, so ihre Kritiker, in auffälligem Kontrast zur Genetik, die deutlich definierte und erkennbare Einheiten erforsche. Im Gegensatz zu den Memen haben Gene eine feste Struktur. Ein Gen ist ein spezifisches Stück eines Chromosoms, es hat ein klar umrissenes materielles Substrat und ist auf direktem Weg zu manipulieren. Meme scheinen diese Eigenschaften nicht zu besitzen. Manche Autoren haben daher vorgeschlagen, sie als leicht einprägbare Artefakte zu bezeichnen, andere als neuronale Strukturen in unserem Gehirn oder als Verhaltensinstruktionen. Eine näherliegende Umschreibung könnte vielleicht lauten: die kleinste kulturelle Einheit, die sich selbst zuverlässig kopiert. Wenn auch diese Definition zugegebenermaßen noch recht vage ist, so spricht dies noch nicht grundsätzlich gegen die Memetik. Übersehen wird nämlich, dass es um die Genetik im Grunde nicht viel besser bestellt ist. Gene sind, wie die moderne Molekularbiologie gezeigt hat, viel komplexer, als anfänglich
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angenommen. Sie sind keine fein säuberlich abgegrenzten Stücke Chromosom mit je eigener Funktion, sondern Gruppen kopierbarer DNA-Moleküle, die in hochkomplexen, hierarchischen Beziehungen zueinander stehen. Biologen können daher nicht genau sagen, wo ein Gen oder ein Chromosom beginnt, wo es aufhört und was sich dazwischen befindet. Außerdem scheinen viele Gene keinerlei Funktion zu haben, wie die sogenannte Junk-DNA. Gene werden oft nur deshalb kopiert, weil sie gute Replikatoren sind. Ist die Memetik eine Wissenschaft? Die Memetik kann auf einige wichtige Fragen noch keine befriedigenden Anworten geben. Wir wissen noch nicht genau, was Meme sind und wie sie sich physisch manifestieren. Zugute halten muss man dieser Disziplin allerdings, dass sie noch in den Kinderschuhen steckt. Am Anfang jeder Wissenschaft steht die Spekulation. Der Wissenschaftstheoretiker Imre Lakatos meinte, der Wert einer Disziplin lasse sich erst berurteilen, nachdem sie sich über einen längeren Zeitraum entwickelt habe, man müsse ihr Zeit gönnen, erwachsen zu werden. Erst wenn ein Forschungsprogramm auch längerfristig keine theoretischen und praktischen Fortschritte mehr erziele, bestehe aller Grund, sie ad acta zu legen. Die Memetik wird sich also in den nächsten Jahren beweisen müssen. Die Mem-Theorie wirft auf alle Fälle ein neues und manchmal beunruhigendes Licht auf das Phänomen der Kultur. Sie macht uns beispielsweise darauf aufmerksam, dass manche kulturelle Tradition nicht vom Menschen am Leben erhalten wird, sondern von dieser selbst. Dennett zufolge muss die Frage denn auch nicht lauten, ob sich eine Evolutionstheorie der Kultur herausbilden wird, sondern welche Form sie annimmt. Auch einige empirische Fortschritte wurden mittlerweile erzielt. So haben Forscher etwa mithilfe der Einsichten der Memetik die Entwicklung des Gesangs in Finken-Populationen untersucht. Die verschiedenen Dialekte entstehen durch die Anhäufung kleiner Kopierfehler und durch die geographische Isolation der Populationen, die gleichen Mechanismen, die auch der Evolution neuer biologischer Arten zugrunde liegen. Derartige Untersuchungen können vielleicht als Modell dienen, unsere eigene Kultur besser zu verstehen. So hat David Hull die Mem-Theorie auf die Verbreitung und Akzeptanz wissenschaftlicher Ideen angewandt. Wissenschaftliche Disziplinen können sich in verschiedene Subdisziplinen verzweigen, die ihre eigene memetische Fitness zu steigern suchen, genauso wie biologische Populationen in verschiedene Subpopulationen auseinanderfallen können. Die Populationsmemetik hat möglicherweise eine Zukunft. Memetiker könnten Modelle entwerfen, die es ermöglichen vorherzusagen, wie ein Mem sich in einer Population verbreitet. Zukünftige Forscher dieses Wissenschaftszweigs könnten sicher einiges lernen von cleveren Reklame- und Marketingbüros, die es verstehen, einen Hype um einen Konsumartikel auszulösen.
IST DIE MEMETIK EINE WISSENSCHAFT?
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Ein anderes vielsprechendes Forschungsobjekt ist das Internet, das zu einer Art selbstständigem Organismus geworden ist. Meme verschiedenster Schattierungen haben hier freies Spiel. Blackmore sieht im weltweiten Netz eine Schöpfung egoistischer Meme zum Zwecke der Fortplanzung. So wie Gene Pflanzen, Tiere und Menschen hervorgebracht haben, haben Meme Bücher, Telefone und iPods geschaffen, um ihr Fortleben sicherzustellen. Das Internet ist vorerst ihre erfolgreichste Kreation – es ist der Memenverbreiter schlechthin. Es ist daher vorhersehbar, dass im Internet immer wieder Replikatoren auftauchen werden, die ganze Heerscharen mit „übernatürlichen“ Botschaften, mit der Ankündigung der baldigen Endzeit oder der Ankunft des Messias zu ködern verstehen. Die moderne Genetik und die Molekularbiogie zeigen, zu welch rasanten Fortschritten die Wissenschaft fähig ist. Wer hätte sich vor einem halben Jahrhundert träumen lassen, dass jemals von der Entschlüsselung des menschlichen Genoms, von Gentherapie und Genmanipulation die Rede sein würde? Im Vorwort zu Susan Blackmores Buch Die Macht der Meme konstatiert Dawkins, die neue Theorie habe ihren Watson und Crick noch nicht gefunden, geschweige denn ihren Mendel. Doch dies sei kein Grund, sich von diesem Forschungsprogramm zu verabschieden. Es bleibt eine offene Frage, ob sich das Mem der Memetik ausbreitet und weiter entwickelt.
10 Evolutionäre Epistemologie Neue Perspektiven Im vorigen Kapitel haben wir das Phänomen der Kultur unter evolutionären Gesichtspunkten betrachtet. Kultur ist als Medium der Evolution womöglich den gleichen Gesetzmäßigkeiten unterworfen, wie wir sie aus der Biosphäre kennen. In diesem Kapitel gehen wir auf einen bestimmten Aspekt der Kultur näher ein, nämlich auf die Entstehung und Entwicklung der Wissenschaft. Auch Erkenntnis und Wissenschaft lassen sich aus der Evolutionsperspektive betrachten. Was ist Erkenntnis und wie kommt sie zustande? Lässt sich die Entwicklung der Wissenschaft im Licht der Evolutionstheorie besser einordnen? Manche meinen sogar, die evolutionsbiologischen Konzepte zwingen uns dazu, das Phänomen der Erkenntnis völlig neu zu definieren. Unter diesem Gesichtspunkt sind menschliche Erkenntnis und Wissenschaft nämlich nur ein kleiner Teil eines viel breiteren Spektrums des Wissenserwerbs. Die Suche nach Gewissheit Um die erkenntnistheoretischen Implikationen des Darwinismus einschätzen zu können, ist ein kleiner Exkurs in die Geschichte der Philosophie notwendig. Die Frage, was Erkenntnis ist und wie wir etwas zuverlässig wissen können, hat die Menschen seit jeher beschäftigt. Die Disziplin, die sich innerhalb der Philosophie mit diesen Fragen auseinandersetzt, ist die Erkenntnistheorie oder Epistemologie (griechisch episteme = das Verstehen). In der Nachfolge von Descartes, dem Vater der modernen Philosophie, meinten viele Epistemologen, Aufgabe der Philosophie sei es, ein erkenntnistheoretisches Fundament zu schaffen, auf dem die Wissenschaft errichtet werden könne. Der Philosoph muss sich also auf die Suche nach ersten Prinzipien machen, absoluten Gewissheiten, die keiner weiteren Rechtfertigung mehr bedürfen, weil sie unbezweifelbar oder selbst evident sind. Die Geschichte der Epistemologie lässt sich grob in zwei Hauptströmungen unterteilen, die die Frage nach der Gewissheit unserer Erkenntnis unterschiedlich beantworten. Die erste Strömung, zu der auch Descartes gehört, ist der Rationalismus. Rationalisten zufolge ist es in erster Linie oder ausschließlich der Verstand, der zu verlässlicher Erkenntnis führt. Erste Ansätze des Rationalismus finden sich schon bei Platon. Es gibt ein Wissen, das nicht auf Erfahrung beruht, es ist uns eingeboren oder von Gott eingepflanzt. Dieses angeborene Wissen, das
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sich in Ideen und Begriffen manifestiert, ermöglicht es uns, die Seinsweise der Wirklichkeit zu erkennen. Mithilfe unseres Verstandes bzw. unserer Vernunft können wir zu den ersten Prinzipien vordringen, die die Grundlage allen Wissens sind. Ein anschauliches Beispiel dieser Methode, Descartes’ Gedankenexperiment, haben wir bereits im achten Kapitel besprochen. Die allererste Gewissheit, so Descartes, ist die Tatsache, dass man an allem zweifeln kann, außer an dem Zweifel selbst. Zweifel setzt das Denken voraus, und um denken zu können, muss man sein: cogito ergo sum. Dem Rationalismus steht der Empirismus gegenüber, der auf Aristoteles zurückgeht und demzufolge sichere Erkenntnis auf Sinneswahrnehmungen beruht. Gewissheiten sind nur auf dem Wege der empirischen Erfahrung möglich, angeborene Ideen oder eine Erkenntnis a priori gibt es nicht. Der menschliche Geist ist bei der Geburt leer wie ein unbeschriebenes Blatt, die Seele ist eine tabula rasa. Es gibt keine Erkennntis a priori, keine Erkenntnis, die der Erfahrung vorausgeht: Jede Erkenntnis ist a posteriori, das Ergebnis der Erfahrung. Für den Empiristen besteht das Fundament des Wissens daher aus elementaren Sinneseindrücken, unmittelbaren Erfahrungen, die unbezweifelbar sind. Nachdem beide Strömungen jahrhundertelang nebeneinander bestanden hatten, wurden sie im 18. Jahrhundert im Werk Immanuel Kants zusammengeführt. Erkennen ist für ihn Anschauung und Denken. Die Sinne liefern den rohen Stoff, der Verstand gibt ihm Form. Unser Verstand strukturiert die Wahrnehmung, wodurch wir die Welt auf eine bestimmte Weise erfahren. Nach Kant ist unser Denken, sofern es die Kategorien betrifft, a priori (vor aller Erfahrung). Grundstrukturen wie Zeit, Raum und Kausalität stammen von uns selbst. Es sind die Kategorien des Verstandes und die Anschauungsformen, die bestimmen, wie die Welt aussieht. Kants Vorgehensweise hat ihren Preis, denn wir können nur noch Aussagen machen über die Realität, wie sie uns erscheint. Die Frage, wie eine Sache an sich sei, können wir nicht mehr beantworten. Kants komplexe Erkenntnislehre war lange Zeit sehr einflussreich und hat ihre Spuren hinterlassen, auch in der heutigen Philosophie. Doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeigten die Erkenntnisse der modernen Physik, dass zur Erkenntnistheorie noch nicht das letzte Wort gesprochen war. Kants Einsichten waren in gewissem Sinne nicht mit der Relativitäts- und Quantentheorie zu vereinbaren. Ging Kant von einem dreidimensionalen, euklidischen Raum aus, postulierte die Relativitätstheorie eine gekrümmte Raum-Zeit mit mehr als drei Dimensionen. Und die Quantenmechanik, die Physik der Elementarteilchen, widersprach Kants These, die phänomenale Welt sei überall und immer kausal determiniert. Die Philosophen mussten sich nach neuen erkenntnistheoretischen Grundlagen umsehen. In den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts entstand eine neue Strömung der Erkenntnislehre, die unter dem Namen „logischer Positivismus“ bekannt wurde. Auch ihre Vertreter suchten wie die früheren Empiristen, alles Wis-
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sen (die Mathematik und die Logik ausgenommen) auf elementare Sinneswahrnehmungen oder Sinnesdaten zurückzuführen, die neutral, objektiv und allgemeingültig seien. Das Gebäude der Erkenntnis und der Wissenschaft ruhe auf den festen Fundamenten objektiver Tatsachen. Aussagen, die nicht auf solche Tatsachen zurückgeführt werden könnten, seien daher leer und bedeutungslos. Diese Auffassung gipfelte in dem Postulat der Nachprüfbarkeit: Eine (nichtlogische) Aussage ist nur dann kognitiv bedeutungsvoll, wenn wir sie prinzipiell verifizieren können. Anders gesagt: Urteile, von denen wir nicht sagen können, ob sie falsch oder richtig sind, gehören in das Reich der Metaphysik. Aussagen über die Welt hinter den Erscheinungen, über die Unsterblichkeit der Seele oder die Existenz eines höchsten Wesens sind daher nur sinnloses Gestammel und nicht ernst zu nehmen. Doch auch die Grundlagen des logischen Positivismus erwiesen sich als nicht ganz solide. Das Gebäude zeigte schon bald erste Risse, die immer größer wurden. So ließ sich etwa das Verifikationsprinzip nur schwer einhalten, es stellte viel zu hohe Ansprüche an die Wissenschaft. Die empirischen Konsequenzen einer Theorie sind nämlich nie hundertprozentig verifizierbar. Das zeigt sich zum Beispiel bei kategorischen Aussagen der Form „Alle As sind Bs“. Nehmen wir etwa die Hypothese, alle Raben seien schwarz. Um festzustellen, ob diese Aussage richtig oder falsch ist, müssten wir nicht nur alle heute lebenden Raben auf ihr Schwarzsein hin überprüfen, sondern auch alle vergangenen und alle zukünftigen, was selbstredend unmöglich ist. Bei der Verallgemeinerung einzelner Beobachtungen haben wir es mit dem sogenannten Induktionsproblem zu tun. Aufgrund einer endlichen Zahl beobachteter Fälle kann man nie mit absoluter Gewissheit auf alle Fälle schließen. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels werden wir sehen, wie der Philosoph Karl Popper diese Schwierigkeit auf listige Weise zu umgehen suchte. Die zweite Hürde, an der die logischen Positivisten scheiterten, war die Annahme objektiver, nackter Tatsachen. Beobachtung ist nicht neutral, sie ist nie theorielos. Was ein Wissenschaftler wahrnimmt, hängt zu einem großen Teil von seinen Erwartungen ab, seinen Kenntnissen und seinem Weltbild. Unsere Beobachtungen sind theoriegetränkt. Gezieltes Wahrnehmen, lehrte schon Kant, setzt immer einen theoretischen Rahmen voraus, ein Denkschema, innerhalb dessen die Beobachtungen stattfinden. Diese und andere Probleme rüttelten am Fundament des logischen Positivismus, der denn auch in den 1960er-Jahren an Einfluss verlor. Man musste wieder von vorn anfangen. Naturalismus Seit dem Niedergang des logischen Positivismus schien die objektive Welt ferner denn je. Mancher Philosoph ist der Ansicht, die Wirklichkeit sei letztlich eine soziale Konstruktion, da die mächtigsten und einflussreichsten Instanzen be-
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stimmen, was Tatsachen sind. Andere haben sich endgültig von der Epistemologie verabschiedet. In den vergangenen vier Jahrhunderten sei schmerzhaft deutlich geworden, dass ein festes Fundament der Erkenntnis nicht möglich sei. Die Suche nach Gewissheit sei gescheitert. So richtig diese Feststellung auch an und für sich sein mag, so müssen wir deswegen noch nicht einem Relativismus oder Postmodernismus huldigen. Philosophen fallen gern von einem Extrem ins andere und übersehen dabei leicht, dass es Zwischenpositionen gibt. Wenn wir auch unserer Erkenntnis keine feste Basis zu geben vermögen, so ist deshalb nicht alles Wissen wertlos. Immer mehr Erkentnistheoretiker schließen sich der Ansicht des amerikanischen Logikers Willard Van Orman Quine an, dass man die Epistemologie nicht ad acta legen, sondern transformieren sollte. Quine plädiert für eine naturalistische Epistemologie, das heißt eine Erkenntnislehre, die nicht der Wissenschaft vorausgeht, sondern integraler Bestandteil von ihr ist. Erkenntnistheoretische Fragen müssten im Dialog mit der Wissenschaft gelöst werden. Es bliebe uns gar nichts anderes übrig: Wir seien wie Schiffer, die ihr Schiff auf offener See reparieren müssen, weil ihnen kein Dock zur Verfügung steht. Quine zufolge ist das Fehlen einer festen Grundlage jedoch keine Katastrophe, wir könnten unsere Kenntnis Schritt für Schritt erweitern und absichern. Wir könnten aus unseren Fehlern und Erfolgen lernen. Absolute Gewissheit sei daher nicht der Ausgangspunkt, sondern höchstens ein – vielleicht nie erreichbares – Ideal der Wissenschaft. Statt den Skeptiker widerlegen zu wollen, was sowieso nie gelinge, sollten wir lieber untersuchen, wie Kenntnis tatsächlich zustande kommt. Die empirische Wissenschaft werde auf diese Weise ein Eckstein der naturalistischen Erkenntnistheorie: Philosophen sollten sich bei anderen Disziplinen umsehen, bei der Psychologie, der Kognitionswissenschaft und nicht zuletzt bei der Evolutionsbiologie. Für den Naturalismus sind der Mensch und das menschliche Bewusstsein Teil der physischen Natur. Wir haben uns in enger Korrespondenz mit der Welt entwickelt. Hinsichtlich der Zuverlässigkeit unseres Erkenntnisapparats meint Quine denn auch, wir könnten eine gewisse Ermutigung aus Darwin schöpfen. Organismen, deren kognitives Vermögen nicht an die Realität angepasst sei, hätten die löbliche Eigenschaft zu sterben, bevor sie sich fortpflanzen könnten. Die natürliche Auslese garantiere so eine gewisse Abstimmung zwischen erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt, eine Übereinstimmung, ohne die Leben unmöglich sei. Naturalisten brechen daher oft eine Lanze für eine evolutionäre Epistemologie, eine Erkenntnislehre, die sich dessen bewusst ist, dass wir das Resultat der Evolution sind. Sie geht davon aus, dass der menschliche und tierische Erkenntnisapparat entstanden ist, um eine wichtige Funktion zu erfüllen, nämlich lebensnotwendige Informationen über die Umgebung zu sammeln. Kognitive und perzeptive Systeme sind durch natürliche Selektion auf diejenigen Aspekte der objektiven Realität abgestimmt, die für den Organismus relevant sind.
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EVOLUTIONÄRE EPISTEMOLOGIE
Über Nestflüchter und angeborenes Wissen Der erste Wissenschaftler, der sich dem Phänomen der Erkenntnis aus evolutionärem Blickwinkel näherte, war der Verhaltensforscher Konrad Lorenz. Bereits 1941 legte er in dem Artikel „Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie“ die epistemologischen Implikationen der Evolutionstheorie dar. Die Evolutionsbiologie rückt die Lehrsätze sowohl des Rationalismus wie die des Empirismus in ein ganz neues Licht. Für den Empirismus ist, wie wir sahen, der menschliche Geist bei der Geburt ein unbeschriebenes Blatt, eine tabula rasa. Alle Kenntnis beruht auf Erfahrung, denn angeborenes Wissen gibt es nicht. Lorenz bezweifelt dies. Die Biologie habe gezeigt, dass Menschen und Tiere sehr wohl über angeborene Erkenntnisformen verfügen. Zwar nicht im Sinne der Rationalisten als Ideen und Konzepte a priori, sondern als Instinkte, Dispositionen und Lernmechanismen. Ohne dieses angeborene „Wissen“ wäre das Leben für einen Organismus fortwährend ein Sprung ins Ungewisse. Die lebenswichtige Information über die Welt ist im Erbgut jedes Lebewesens kodiert gespeichert. Wir können diese Form des angeborenen Wissens daher ontogenetisch a priori nennen, das heißt: angeborenes Wissen des Individuums. Lorenz hat selbst ein klassisches Beispiel für ein solch angeborenes Verhaltensmuster beschrieben: das Phänomen der Prägung bei Nestflüchtern. Er erhielt dafür 1973 gemeinsam mit Karl von Frisch und Nicolaas Tinbergen den Nobelpreis für Medizin. Nestflüchter sind, wie der Name schon sagt, Vögel, die sofort nach dem Schlüpfen das Nest verlassen, während Nesthocker, die nackt und blind zur Welt kommen und äußerst hilflos sind, noch längere Zeit an das Nest gebunden bleiben. Enten und Gänse sind typische Nestflüchter. Die flauschigen Küken, manchmal ein Dutzend oder mehr, rennen sofort los, sobald sie aus dem Ei gekrochen sind. Wenn sie nicht gleich zur Ordnung gerufen werden, nimmt es mit ihnen ein böses Ende. Die Evolution hat sich eine elegante Lösung ausgedacht. Junge Enten und Gänse gehorchen einer angeborenen Verhaltensanweisung: Folge, wenn du aus dem Ei geschlüpft bist, sofort dem ersten größeren, sich bewegenden Objekt, das dir begegnet. Innerhalb weniger Minuten wird so ein fast unlösliches Band zwischen Mutter und Jungtieren geknüpft. In der Regel wird das erste größere, sich bewegende Objekt tatsächlich die Mutterente oder -gans sein. Doch wenn die Erkennung in der kritischen, der sogenannten „sensiblen“ Phase aus irgendeinem Grund nicht gelingt, wird das Küken verwaist umherirren. Lorenz sah in diesem Mechanismus eine Form von Kenntnis a priori. A priori deshalb, weil er jeder Sinneswahrnehmung vorausgeht. Die Kenntnis ist jedoch nicht a priori festgelegt. So zeigte Lorenz, dass die Küken sich leicht irreführen lassen. Er brütete die Eier in einem Brutschrank aus und verhielt sich vor den Gänseküken wie ein großes, sich bewegendes Objekt. Da er zudem das artspezifische Schnattern der Mutter imitierte, folgten die Küken ihm von nun an auf
HINTER DEN KULISSEN DER KOGNITIVEN NISCHE
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Schritt und Tritt. In der natürlichen Umgebung wird die Verhaltensanweisung jedoch in den meisten Fällen funktionieren. Eine derartige Prägung und das daraus resultierende Verhalten haben sich im Lauf der Evolution durch natürliche Selektion herausdifferenziert. Aus evolutionstheoretischer Sicht ist das ontogenetische Apriori daher ein phylogenetisches Aposteriori. Das heißt, das angeborene Wissen im Individuum ist das Ergebnis der von seiner Gattung akkumulierten „Erfahrung“. Sowohl die Empiristen wie die Rationalisten haben sich also geirrt. Der Empirismus bestreitet zu Unrecht die Möglichkeit einer Kenntnis a priori, während der Rationalismus zu Unrecht angeborene Ideen und Konzepte postuliert. Wir besitzen zwar angeborenes Wissen, doch nicht in Form von Ideen oder Konzepten. Letztere müssen wir erst erlernen, sie entstehen a posteriori, als Resultat individueller Erfahrung. Angeborenes Wissen nimmt die Form von Verhaltensdispositionen und anderen physiologischen Anpassungen an, die uns das Überleben ermöglichen. Hinter den Kulissen der kognitiven Nische Im Licht der Evolutionsbiologie bedarf auch Kants Erkenntnislehre, Konrad Lorenz zufolge, einer Revision. Für Kant sind die Kategorien unseres Denkens Gegebenheiten, die a priori festliegen. Die phänomenale Welt, die Welt der Erscheinungen, richtet sich nach unserem Erkenntnisapparat, die objektive Realität an sich ist unerkennbar; die Strukturen der phänomenalen Welt (Raum, Zeit und Kausalität) stammen aus uns selbst, unser Erkenntnisapparat zwingt der Welt diese Eigenschaften auf. Dies gehe, meint Lorenz, viel zu weit. Aus evolutionstheoretischer Sicht gebe es keine grundsätzliche Kluft zwischen erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt. Es bestehe vielmehr eine enge Beziehung zwischen der Welt und den Organismen, die sich in ihr entwickelten. Gesetzmäßigkeiten existierten zudem nicht ausschließlich dank unserer Verstandesaktivität. Es sei vielmehr umgekehrt: Das Erkenntnisvermögen habe sich im Laufe der Evolution an die stabilen Strukturen der Welt angepasst. Organismen sind auf die Außenwelt abgestimmt: Diese hat die Lebewesen einschließlich ihres Erkenntnisapparates mitgestaltet. Greifen wir ein spezielles Beispiel heraus. Eine Eigenschaft des menschlichen Erkenntnisapparates ist es, überall Zusammenhänge zu sehen. Für den Empiristen David Hume war Kausalität das Resultat einer gewohnheitsmäßigen Verknüpfung von Ereignissen. Wir glauben, dass aufeinander folgende Ereignisse kausal miteinander verbunden sind, doch ist dies nicht aus der Erfahrung abzuleiten. Wenn auf das Ereignis A immer das Ereignis B folgt, neigen wir dazu, einen Kausalzusammenhang zwischen A und B anzunehmen, doch dieser Gedankensprung ist nicht berechtigt. In der Erfahrung ist nur eine zeitliche Aufeinanderfolge und kein ursächlicher Zusammenhang gegeben. Kant löste das Problem
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auf andere Weise: Das Denken in kausalen Zusammenhängen beruht auf einer im Subjekt liegenden Verstandesstruktur. Die Welt erscheint uns kausal geordnet, weil wir diese Ordnung auf sie projizieren. Wir sehen durch die Brille der Kausalität, ohne sie je absetzen zu können. Weder Hume noch Kant waren also der Auffassung, Kausalität sei eine Eigenschaft der Welt selbst. Lorenz ist anderer Ansicht. Warum sollten wir die Vorstellung der Kausalität besitzen, wenn dem nichts in der realen Welt entspricht? Wie könnte eine so komplexe Illusion entstehen und sich im Lauf der Evolution behaupten? Lorenz definiert Kausalität als einen Prozess, bei dem Energieweitergabe stattfindet. Nur diejenigen Ereignisse, die aufeinanderfolgen, wobei die Wirkung von der Ursache her in irgendeiner Form Energie bezieht, sind kausal miteinander verbunden. Zwischen Tag und Nacht besteht kein Kausalzusammenhang, wohl aber zwischen Blitz und Donner. Wenn eine Billardkugel eine andere anstößt, ist dies ein kausales Ereignis, doch nicht, wenn jemand jedesmal nach dem Fitnesstraining unter die Dusche geht. Statt eines kantischen Idealismus, demzufolge die Welt sich nach unserem Erkenntnisapparat richtet, bleibt uns nichts anderes übrig, als eine Form des Realismus zu akzeptieren: Die Realität an sich hat eine Struktur, und diese Struktur ist zumindest teilweise erkennbar. Die Welt existierte lange bevor menschliche oder tierische Erkenntnisorgane entstanden. Sie haben sich in dauernder Wechselwirkung mit der umgebenden Natur entwickelt, in verschiedener Ausgestaltung und Anpassung an den jeweiligen Lebensbereich. Denn Organismen sind empfänglich für diejenigen Aspekte der Realität, die für sie von Bedeutung sind. Eine Fliege erlebt die Welt anders als ein Fisch und dieser wiederum anders als ein Mensch. Doch es sind nur verschiedene Perspektiven auf ein und dieselbe Außenwelt. Unser Bild der Wirklichkeit ist daher zwar „gefärbt“ und beschränkt, aber nicht völlig willkürlich. Organismen benötigen zum Überleben zuverlässige Informationen. Deshalb hat die Evolution sie mit Sinnesorganen, Nervensystemen und Gehirnen ausgestattet. Würden diese nicht einigermaßen zuverlässig mit der Welt korrespondieren, hätten die Lebewesen keine Überlebenschancen. Doch die natürliche Selektion, die treibende Kraft der Evolution, garantiert keine Perfektion, keine absolute Zuverlässigkeit, wie das Beispiel der Gänseküken zeigte. Aber ein Erkenntnisapparat muss in einer Welt voller Gefahren bestimmte Mindestanforderungen erfüllen. Nach Lorenz müssen wir zudem konstatieren, dass Kant die Frage des Ursprungs der Erkenntnis ausklammert. Er gehe nicht über die Feststellung hinaus, Verstandeskategorien und Anschauungsformen seien konstitutiv, eine notwendige Voraussetzung aller Erfahrung und Erkenntnis. Doch kann man Kant daraus keinen Vorwurf machen. Im 18. Jahrhundert kam als Erklärung nur eine Berufung auf Gott in Frage, und eine Erkenntnislehre auf „etwas“ zu gründen, das sich prinzipiell der Erkenntnis entzieht, wäre äußert fragwürdig gewesen. Kant schwieg sich daher wohlweislich darüber aus. Erst mit dem Erscheinen von
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Darwins Entstehung der Arten im Jahr 1859, fünfundfünfzig Jahre nach Kants Tod, konnte die Frage beantwortet werden. Die Evolutionstheorie sucht das Zustandekommen von a priori gegebener Kenntnis zu erklären. Erkenntnisapparate sind nicht vom Himmel gefallen, sie ergeben sich vielmehr im Zuge der natürlichen Selektion. Als Vergleich zieht Lorenz eine Leica heran. Alle Einzelheiten der Kamera sind so aufeinander abgestimmt, dass sie Bilder von der Außenwelt machen kann. So wie die Linse, der Auslöser und die Blende der Leica sozusagen apriorisch seien und das Fotografieren ermöglichten, so befähigten die verschiedenen angeborenen Teile des Erkenntnisapparates den Organismus, Informationen über die Umgebung zu sammeln. Beide dienen einer Funktion. Der Unterschied ist nur, dass die Leica von Ingenieuren entworfen, während der Erkenntnisapparat von der natürlichen Selektion modelliert wurde. Vom Standpunkt der Evolutionsbiologie müssen wir feststellen, dass die Kant’schen Denk- und Wahrnehmungsformen ihren vermeintlich notwendigen und unveränderlichen Charakter verlieren. Die Verstandeskategorien und Anschauungsformen sind zwar insofern notwendig, als sie grundlegend für jede Erfahrung sind, doch nicht in dem Sinn, dass sie absolute Gültigkeit besitzen. Ebenso wenig sind sie unveränderlich, da sie Produkte der Evolution sind und ihr weiterhin unterworfen bleiben. Die apriorischen Kategorien von Raum, Zeit und Kausalität sind, Lorenz und anderen evolutionären Epistemologen zufolge, nur „Arbeitshypothesen“, die sich innerhalb einer bestimmten kognitiven Nische bewährt haben. Eine kognitive Nische (analog dem Konzept der ökologischen Nische) ist ein bestimmter Ausschnitt der objektiven Welt, der dem Erkenntnisapparat einer Spezies zugänglich ist. Außerhalb dieses vertrauten Bereichs verlieren die „Arbeitshypothesen“ sehr bald ihre Gültigkeit, etwa im Bereich der Quantenmechanik oder der Astrophysik. Dann müssen wir unsere vertrauten Auffassungen von Raum, Zeit, Kausalität, Masse, Geschwindigkeit und Gravitation revidieren. Auch wenn unsere Erkenntnis und unser Vorstellungsvermögen also in gewissem Sinn durch unsere biologische Grundausstattung bestimmt und beschränkt sind, so können wir die angeborene Verzeichnung unseres Erkenntnisapparates sehr wohl korrigieren und uns über sie hinwegsetzen. Der Mensch ist somit das erste Tier auf der Erde, das einen Blick hinter die Kulissen seiner kognitiven Nische werfen kann. Evolution ist Wissenserwerb Wie wir sahen, setzt die evolutionäre Epistemologie eine Form des Realismus voraus. Gäbe es in der Welt keine stabilen Gesetzmäßigkeiten, hätte sich ein Erkenntnisapparat gar nicht entwickeln können. Wir können jetzt noch einen Schritt weitergehen. Von einem evolutionären Standpunkt aus könnte man nämlich argumentieren, nicht nur Sinnesorgane und Gehirne, die Endprodukte eines langen Prozesses der allmählichen Evolution, stellten eine Art „Wissen“
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von der Welt her, sondern im Grunde alle Adaptationen. Eine Adaptation ist eine biologische Eigenschaft mit einer bestimmten Funktion (etwa Organe, Gliedmaßen, Körperbau, Verhalten etc.), die als Folge natürlicher Selektion entstanden ist. Anpassung ist eine Form von Wissen. Der Darwin’sche Algorithmus von Variation, Selektion und Replikation ist ein Prozess, der die Gesetzmäßigkeiten der Außenwelt abtastet und dabei Informationen sammelt und Erkenntnisse gewinnt. So könnte man sagen, dass die Stromlinienform von Haien, Delphinen, Pinguinen, Tintenfischen und dem ausgestorbenen Ichtyosaurus, gänzlich unabhängig voneinander, die Grundprinzipien der Hydrodynamik widerspiegeln. (Ein schönes Beispiel übrigens für die sogenannte konvergente Evolution, also dafür, dass die Natur auf verschiedenen Wegen zum gleichen Ergebnis kommt.) Ebenso spiegeln die Flügel des Albatros, der Fledermaus, der Libelle und des Pterodactylus Grundgesetze der Aerodynamik wider: Die verschiedenen Arten von Flügeln verkörpern sozusagen Kenntnis über die Dichte und Viskosität der untersten Luftschichten. Lebewesen brauchen also nicht unbedingt eine kognitive, verbale oder sinnliche Beziehung zur Außenwelt aufzunehmen, um zahlreiche Merkmale von dieser aufzuspüren und sich zunutze zu machen. Schon der Entwurf eines Organismus verrät Kenntnis der Welt. Die Physiologie des Eisbären zum Beispiel – das weiße Fell, die dicke Speckschicht, die breiten, als Schneeschuhe fungierenden Sohlen und der besondere Stoffwechsel – sagen viel über seinen arktischen Lebensraum aus. Sein Bauplan verkörpert sozusagen Wissen von der Welt. Die Gegebenheiten der realen Außenwelt erzwingen bestimmte Eigenschaften. Wir müssen daher vielleicht den Begriff „Kenntnis“ weiter fassen und ihn von anthropozentrischen Konnotationen wie Sprache, geistige Repräsentation und Wahrheit trennen. Aus evolutionärer Sicht ist Wissen das Resultat eines Selektionsprozesses, indem lebenswichtige Informationen über die Welt zusammenkommen und an die nächsten Generationen weitergegeben werden. Adaptive Evolution ist ein solcher Prozess, er benötigt weder Sprache noch geistige Repräsentation, noch Wahrheit. Auch Kenntnis in dieser weiter gefassten Bedeutung impliziert zwar eine bestimmte Form der Korrespondenz, doch nicht im Sinne einer semantischen Beziehung zwischen Wort und Welt, sondern im Sinne einer ökologischen Beziehung zwischen Lebewesen und Umgebung. Wir können nicht sagen, ob eine Adaptation wahr oder falsch ist, wohl, dass sie von einer spezifischen Umwelt geformt wurde und daher an sie angepasst ist. Ein nahe liegender Einwand gegen eine solche Sichtweise wäre, dass Erkenntnis ein erkennendes Subjekt voraussetzt, jemanden, der sich dieser Kenntnis bewusst ist. Ohne dieses Subjekt wäre der Begriff „Kenntnis“ inhaltslos. Genauso gut könnte man sagen, auch der rund gewaschene Kieselstein am Strand verkörpere ein „Wissen“ über die Brandung, oder die Bahnen der Planeten verrieten etwas „Wesentliches“ über die Schwerkraft der Sonne. Die kritische Behauptung, Erkenntnis benötige ein erkennendes Subjekt, erscheint plausibel. Allerdings
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sind die Beispiele des Kieselsteins und der Planetenbahnen nicht stichhaltig. Kenntnis in der hier gemeinten allgemeineren Bedeutung ist das Resultat des Darwin’schen Algorithmus von Variation, Selektion und Reproduktion. Nur er kann komplexe Adaptationen hervorbringen, die das Prädikat „Wissen“ verdienen. Bei den Kieselsteinen kann man vielleicht noch von Variation sprechen (sie sind alle verschieden geformt und von unterschiedlicher Dichte) und von Selektion (weichere Steine werden rascher zermahlen als härtere), doch von Reproduktion kann natürlich keine Rede sein. Kieselsteine können sich nicht fortpflanzen. Ohne Fortpflanzung ist keine kumulative Selektion möglich und ohne diese können keine funktionellen Adaptationen entstehen. Das Gleiche gilt für das Sonnensystem. Auch hier fehlt das dritte Ingrediens des Darwin’schen Rezepts. Planeten weisen zwar Variation auf (in Größe, Abstand zur Sonne und Umlaufzeit), und die Schwerkraft der Sonne ist eine Art Selektionsmechanismus, wodurch nur die Planeten „überleben“, deren Bahngeschwindigkeit und Abstand zur Sonne genau im Gleichgewicht sind. Ist dies nicht der Fall, wird der Himmelskörper früher oder später mit der Sonne kollidieren oder in der Tiefe des Alls verschwinden. Die heutige relative Stabilität ist also das Ergebnis eines elementaren Selektionsprozesses. Auch von einer Evolution des Sonnensystems kann man sprechen, doch nicht nach Darwin’schen Prinzipien. Himmelskörper können sich nämlich nicht fortpflanzen, und ohne den kumulativen Effekt von Variation, Selektion und Reproduktion gibt es keine komplexen Adaptationen. Ein weiterer Einwand gegen die Auffassung, Adaptationen seien eine Form von Wissen, lautet, Organismen seien nur an eine spezifische Umgebung angepasst, eine Umgebung, die sich zudem ständig ändert. Wenn man denn überhaupt von „Wissen“ sprechen könne, so sei dieses zwangsläufig flüchtig und lückenhaft. Auch diese Kritik ist nicht berechtigt. Lebewesen sind nämlich nicht nur an örtliche und bis zu einem gewissen Grad zeitlich begrenzte Gegebenheiten einer spezifischen Umgebung angepasst wie Klima, Bodenbeschaffenheit, Vegetation etc., sondern auch an globale, invariante Gegebenheiten, die überall auf unserem Planeten anzutreffen sind. Man denke etwa an die Schwerkraft der Erde, Elemente wie Luft und Wasser, den Wechsel der Jahreszeiten und das elektromagnetische Spektrum des Sonnenlichts. Wenn eine Umgebung sich aus irgendeinem Grund ändert, braucht der Prozess der Evolution daher nie ganz von vorn anzufangen. Elementare Adaptationen und Körperfunktionen wie Anatomie und Stoffwechsel sind in der Lage, Umweltveränderungen zu verkraften und funktionell zu bleiben. Der Darwin’sche Algorithmus wird wieder auf dem vorhandenen Wissen aufbauen, sodass aufs Neue eine subtile Abstimmung zwischen Lebewesen und Umgebung erreicht wird (man denke in diesem Zusammenhang an das Beispiel des Birkenspanners). Schließlich wäre noch ein letzter Einwand zu nennen, der gegen die These sprechen könnte, die biologische Evolution sei ein erkenntnisgewinnender Pro-
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zess: Der Evolutionist mache sich des sogenannten adaptationistischen Fehlschlusses (adaptationist fallacy) schuldig. Er gehe nämlich davon aus, alle Eigenschaften der Organismen seien Adaptationen (und somit funktional) und alle Organismen seien optimal entworfen. Wie wir im siebten Kapitel sahen, machen Stephen Jay Gould und Richard C. Lewontin auch Fachkollegen den Vorwurf, jedes Merkmal eines Organismus für eine durch natürliche Selektion entstandene Anpassung zu halten. Wie Dr. Pangloss in Voltaires Candide sähen sie überall nur die schönste Zweckmäßigkeit, statt zu begreifen, dass die Merkmale eines Lebewesens oft einfach zufällig entstandene Nebenprodukte der Evolution sind. Man muss jedoch konstatieren, dass Gould und Lewontin ihre Kritik übertreiben. Kein vernünftiger Biologe wird behaupten, alle Merkmale der Lebewesen hätten eine Funktion und jedes Lebewesen sei optimal an seine Umgebung angepasst. Gould und Lewontin greifen einen Standpunkt an, den niemand vertritt. Ihre Motive sind weniger wissenschaftlicher als vielmehr gesellschaftspolitischer Natur. Sie befürchten, ein allzu starrer Darwinismus mit seiner Betonung der natürlichen Auslese und der angeborenen Unterschiede zwischen Menschen könnte Wasser auf die Mühlen der politischen Rechten sein. Der „Hardcore“Darwinismus führt, Gould zufolge, nur zu pseudowissenschaftlichen Rechtfertigungen gesellschaftlicher Ungleichheit. (Man muss bedenken, dass der Sozialdarwinismus in den Vereinigten Staaten nie ganz an Einfluss verloren hat.) Nicht ohne Grund war Gould ein ausgesprochener Gegner von Wilsons Soziobiologie. Der Gould-Clan optiert daher eher für die Auffassung, Menschen seien durch Erziehung und Kultur formbar. Einig sind sich die Evolutionsbiologen, dass natürliche Auslese die einzige Erklärung für die Existenz von Adaptationen ist. Strittig ist, in welchem Ausmaß die Evolution adaptiv ist. Manche Merkmale von Organismen sind tatsächlich einfach neutrale Nebenprodukte der Evolution. Doch entscheidend ist und bleibt, dass ein funktionales Merkmal nur das Produkt der drei Grundprinzipien der Evolution sein kann. Viele führende Evolutionsbiologen wie Mayr, Williams und Dawkins verstehen Goulds und Lewontins Kritik denn auch nicht als Abschreckung, sondern vielmehr als Ansporn, die „adaptationistische Forschung“ zu intensivieren. Ohne dieses Forschungsprogramm wäre die Biologie nämlich nie „erwachsen“ geworden. In den letzten Jahrhunderten stand am Anfang jeden Durchbruchs auf diesem Fachgebiet die Frage: Was ist die Funktion dieser oder jener Eigenschaft? Ohne diese Frage wüssten wir heute immer noch nicht, welchem Zweck der Thymus, die Milz, die Hypophyse oder die Zirbeldrüse dienen. Es geht letztendlich darum, welche Definition von „Kenntnis“ wir bevorzugen. Gibt es triftige Gründe, adaptive Evolution als einen Prozess des Wissenserwerbs zu bezeichnen? Solche Gründe gibt es. Es gibt wohl niemanden, der beim Betrachten der einzigartigen Zweckmäßigkeit und Komplexität lebender Wesen nicht Staunen und Ehrfurcht empfindet. Man kann sich nicht des Eindrucks
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erwehren, es hier mit einem sehr ingeniösen und zweckmäßigen Entwurf zu tun zu haben. Nicht umsonst hat der Mensch jahrhundertelang in der lebenden Natur das Wirken eines intelligenten Schöpfers gesehen. Das Design-Argument galt lange Zeit als einer der wichtigsten Beweise für die Existenz Gottes, und noch heute wird es gegen die Evolutionstheorie ins Feld geführt. Die Evolution könne, so heißt es, nicht auf den Sachverstand und die Lenkung einer übernatürlichen Instanz verzichten. Alles sieht danach aus, dass sich die Vertreter des Intelligent Design auf dem Holzweg befinden. Doch bedeutet das dann etwa, dass wir die von der Evolution hervorgebrachten Strukturen nicht mehr als eine Form des Wissens betrachten dürfen? Von den Konstruktionen der Natur können menschliche Ingenieure nur träumen. Schon eine Mauerassel ist viele Male komplizierter als der Space Shuttle oder die neuesten Supercomputer. Eine einzige lebende Zelle hat die Komplexität einer Weltstadt. Kein Wunder, dass sich Wissenschaftler und Ingenieure durch die oft erstaunlichen Lösungen der Natur inspirieren lassen. Das von der Evolution im Laufe von dreieinhalb Milliarden Jahren gesammelte Wissen über die Biosphäre stellt eine schier unerschöpfliche Quelle für die Forschung dar. Wir verdanken Darwin die Erkenntnis, dass sich dieses Wissen durch einen natürlichen Prozess herausgebildet hat. Philosophen tun sich im Allgemeinen schwerer mit einer derart weiten Definition des Begriffs „Kenntnis“ als Biologen oder andere Naturwissenschaftler, die schon seit Jahren unbekümmert von Informationen sprechen, die im Erbgut gespeichert sind. Der Duden definiert Information als eine „über alles Wissenswerte in Kenntnis setzende, detaillierte Mitteilung“. Die Evolutionstheorie zeigt, dass eine solche Kenntnis auch das Ergebnis eines blinden algorithmischen Prozesses sein kann. Darwinmaschinen Der biologische „Wissenserwerb“ hat allerdings einen Nachteil: Er verläuft relativ langsam. Wie rasch Information gesammelt wird und in die DNA gelangt, hängt von der Generationszeit der Organismen ab. Wissen akkumuliert sich durch die Auslese zufälliger Veränderungen im genetischen Material. Die Information in der DNA lässt sich nicht auf Lamarck’sche Weise aktualisieren: Die natürliche Selektion ist abhängig von den Mutationen und der Rekombination von Genen während des Replikationsvorgangs. Auf manche Veränderungen in der Welt kann die Evolution daher nicht auf genetischer Ebene adäquat reagieren. Sie vollziehen sich einfach zu rasch. Falls solche hoch frequenten Veränderungen eine Bedrohung für Organismen darstellen, muss auf andere Weise für Ausgleich gesorgt werden. Die Evolution hat eine Lösung gefunden, indem sie Lebewesen mit Detektoren ausgestattet hat, von denen einige überraschenderweise einen eigenen evolutionären Algorithmus in sich tragen. Der Neurobiologe William Calvin hat sie daher zutreffend „Darwinmaschinen“ genannt.
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Beispiele sind die adaptive Immunabwehr der Wirbeltiere und das Gehirn der Säugetiere. Das Immunsystem und das Gehirn sind nicht nur das Ergebnis evolutionärer Mechanismen, sondern durchlaufen diese selbst permanent. Wiederum erweist sich der Algorithmus von Variation, Selektion und Replikation als eine auf viele Bereiche anwendbare Formel. Die moderne Immunologie hat gezeigt, dass das Abwehrsystem der Wirbeltiere (und somit auch das des Menschen) auf den gleichen Selektionsmechanismen beruht wie die genetische Evolution. Der Prozess läuft jedoch viel schneller ab, sodass er mit der Entwicklung möglicher Krankheitserreger Schritt halten kann. Bakterien und Viren vermehren sich viel schneller als Wirbeltiere, und je rascher die Fortpflanzung, desto rascher die Evolution. Innerhalb einer Menschengeneration können sich so viele neue Bakterien- und Virenstämme entwickeln. Wirbeltiere können mit diesem Tempo nicht Schritt halten, ihr Immunsystem hingegen wohl. Wird das Immunsystem von einem Krankheitserreger aktiviert, wird eine große Menge weißer Blutkörperchen produziert, sogenannte Lymphozyten, die ihrerseits Antikörper gegen die Eindringlinge einsetzen und den Körper gegen den nächsten Angriff resistent machen. Das System bekämpft neue Schädlinge mittels eines Selektionsmechanismus. Lymphozyten sind nämlich fast alle einzigartig, ein gesunder Körper kann mehr als zehn Milliarden verschiedener Typen beherbergen. Diese große Variabilität ist unter anderem Folge zufälliger genetischer Veränderungen während der Zellentwicklung. Sie sorgt dafür, dass zumindest eine Art von Lymphozyten einen spezifischen Antikörper produziert, der den Eindringling abwehren kann. Sobald ein solcher Lymphozyt aktiviert wird, stellt er zahllose Kopien seiner selbst her, was eine exponentielle Vermehrung des selektierten Zelltyps zur Folge hat. Ist die Ruhe wieder eingekehrt, zirkulieren einige der Klone weiterhin im Körper. Sie stellen das immunologische „Gedächtnis“ dar. Evolutionäre Mechanismen sind auch im Gehirn der Säugetiere wirksam. Wie das Immunsystem ist auch unser Gehirn eine Darwinmaschine. Die frühere Auffassung, die gesamte Struktur des Gehirns liege als Bauplan im Erbgut gespeichert, erwies sich als unhaltbar, als man seine Komplexität entdeckte. Der menschliche Neocortex besitzt schätzungsweise 1015 Synapsen. Synapsen sind die Verbindungsstellen zwischen den Neuronen, den Gehirnzellen. Das menschliche Genom hat zu wenig Speicherkapazität für all diese Informationen. Anstatt dass die Struktur des Gehirns im Erbgut festgelegt ist, ist das Gehirn genetisch so programmiert, dass es sehr viele neurale und synaptische Verbindungen hervorbringt. Dies geschieht bei Säugetieren hauptsächlich in den ersten Lebensjahren, doch manches weist darauf hin, dass die Überproduktion auch in fortgeschrittenem Alter andauert. Die Wechselbeziehung zwischen Individuum und Umwelt selektiert und verstärkt bestimmte neurale Verbindungen, während andere abgebaut werden. Die funktionale Abstimmung kommt also nicht durch die Hinzufügung neuer Neuronen und Verbindungen zustande, sondern durch
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ihre Überproduktion und anschließende Eliminierung. Es handelt sich um einen evolutionären Selektionsprozess, wobei die Reize aus der Außenwelt bestimmen, welche Synapsen erhalten bleiben. Darwinmaschinen wurden durch die kumulative Selektion von Genen zusammengebaut, doch sie haben nach und nach in sich selbst eigene und viel schnellere Selektionsprozesse in Gang gesetzt. An die Stelle der phylogenetischen Genselektion ist die viel schnellere ontogenetische Selektion von Lymphozyten getreten (im Immunsystem) und von synaptischen Verbindungen (im Gehirn der Säugetiere). Dank ihrer Geschwindigkeit und Flexibilität können sich Darwinmaschinen auf Veränderungen einstellen, die auf genetischer Ebene unentdeckt bleiben. Vor allem das Gehirn ist hierbei unentbehrlich. Im Lauf der Evolution haben manche Tiere hochkomplexe Gehirne entwickelt, die eine viel subtilere Interaktion mit der Umgebung ermöglichen. Das Verhaltensrepertoire dieser Tiere ist nicht mehr fest programmiert, sie können aus ihren Erfahrungen lernen. Die Entwicklung des Gehirns der Säugetiere hat schließlich Lebewesen hervorgebracht mit komplexen sozialen Strukturen, mit Bewusstsein, Sprache und Kultur. Evolution der Wissenschaft Wie wir im vorigen Kapitel sahen, ist womöglich auch die Entwicklung der Kultur darwinistischen Prinzipien unterworfen, nur sind ihre Einheiten nicht Gene, sondern Meme. Kultur ist keine Erweiterung der biologischen Evolution, ihre Entwicklung ist nicht direkt mit unserer genetischen Fitness verknüpft. Ob jemand Bach liebt oder die Beach Boys, ob einer lieber ein Nudelgericht isst oder einen Eintopf, spielt für den Reproduktionserfolg keine Rolle. Oder nehmen wir einen besonderen Aspekt der Kultur. Erhöhen Wissenschaft und Technologie unsere evolutionäre Fitness? In gewisser Hinsicht natürlich schon. Man braucht nur an die Medizin, unsere Wohnkultur und Lebensmittelversorgung zu denken. Doch ein beträchtlicher Teil der modernen Wissenschaft hat keinerlei Relevanz für eine vermehrte Fortpflanzung. In der menschlichen Urgeschichte hat es einen Zusammenhang zwischen erworbenem Wissen und genetischer Fitness, zwischen biologischer und kultureller Evolution, einmal gegeben. Er hat sich im Lauf der Jahrtausende immer mehr gelockert, Erkenntnisgewinn und Wissenschaft haben sich verselbstständigt. Auch die Wissenschaft ist wie die Kultur das Resultat einer memetischen Evolution, nur sind im Unterschied zu vielen kulturellen Memen wissenschaftliche Meme keine geistigen „Viren“. Die Forschergehirne sind keine passiven Träger egoistischer Ideen, ein Gelehrter ist kein bloßes Hilfsmittel einer Bibliothek, die sich vermehren möchte. Wissenschaft ist der Bereich unserer Kultur, in dem Meme, in Form von Theorien, für gewöhnlich gewissenhaft und wohl überlegt selektiert werden.
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Kurz vor seinem Tod veröffentlichte der berühmte Wissenschaftsphilosoph Karl Popper 1994 einen Essayband mit dem Titel Alles Leben ist Problemlösen. Im Lauf seiner langen Karriere betonte Popper immer wieder die biologische Komponente der Erkenntnis. Wissen entsteht, weil Organismen ständig Probleme lösen müssen, ob es sich nun um einen Einzeller wie eine Amöbe handelt oder eine Person namens Einstein. Überall wird die gleiche Strategie verfolgt: Wir bewältigen Probleme, indem wir immer aufs Neue mögliche Lösungen ausprobieren, und zwar nach dem Verfahren von Versuch und Irrtum, trial and error. Nachdem wir schlecht und recht eine Schwierigkeit überwunden haben, werden wir schon mit der nächsten konfrontiert. Der einzige Unterschied zwischen der Amöbe und Einstein ist, dass der Letztere nicht sich selbst, sondern nur seine Theorien aufs Spiel setzt. Die Methode von Versuch und Irrtum ist beim Menschen in den Bereich der Wissenschaft ausgelagert, in dem mögliche Antworten auf unsere Fragen experimentell geprüft werden. Sowohl im biologischen wie im wissenschaftlichen Bereich wächst das Wissen von der Welt in kleinen Schritten. In beiden Bereichen geht es um die Bewältigung von Problemen. Um ein wissenschaftliches Problem zu lösen, werden spekulative Hypothesen aufgestellt, die durch Experiment und Beobachtung geprüft werden. Hat eine Hypothese den Test bestanden, verdient sie vorläufig den Vorzug vor anderen und wird zu einer akzeptierten Theorie. Vorläufig, denn irgendwann wird sie vielleicht von einer besseren abgelöst werden. Das Prinzip des „survival of the fittest“ gilt auch für die Wissenschaft: In einem Selektionsprozess werden untaugliche Theorien aussortiert. Popper zufolge erzielt die Wissenschaft Fortschritte, indem sie sich auf die Suche nach der Unwahrheit macht. Statt des Verifikationsprinzips des logischen Positivismus plädiert Popper für das Prinzip der Falsifikation. Nur Theorien, die grundsätzlich widerlegbar sind, sind wissenschaftlich. Eine Theorie, die immer „recht behält“ und zu keiner möglichen Erfahrung im Widerspruch steht, ist dagegen pseudowissenschaftlich. Popper nennt als Beispiele die Astrologie, Freuds Psychoanalyse und die marxistische Geschichtsphilosophie, deren Vorhersagen so ungenau seien, dass sie fast immer bestätigt würden. Solche Theorien seien ohne Wert. Sie riskieren nicht Kopf und Kragen. Kurzum, eine Theorie muss sich an der Wirklichkeit stoßen, sonst ist sie nicht informativ. Wahrheit, meint Popper, sei für uns fehlbare Wesen nicht erreichbar, wir könnten nur nach der Unwahrheit suchen. Dieser „negative Weg zur Wahrheit“ ermöglicht es zugleich, das Induktionsproblem zu umgehen. Aufgrund einer endlichen Zahl beobachteter Fälle kann man nie mit absoluter Gewissheit auf alle Fälle schließen. Induktive Schlüsse entziehen sich den empirischen Beobachtungen und sind somit logisch unmöglich. Die Richtigkeit einer Aussage wie „Alle Raben sind schwarz“ ist, wie erwähnt, nicht überprüfbar, da wir nie alle Raben kontrollieren können. Wir können jedoch die Unwahrheit der Behauptung nachweisen. Ein einziger nicht-schwarzer Rabe würde genügen, um die Hypo-
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these zu widerlegen. Wir haben dann einen Schritt vorwärts getan, weil wir wieder eine unrichtige Annahme aussortiert haben. Poppers Wissenschaftstheorie wurde stark durch die Evolutionbiologie beeinflusst. Auch in der Wissenschaft sind die darwinistischen Grundprinzipien der Variation, Selektion und Reproduktion wirksam. Mit dem Lösen von Problemen wächst das Wissen. Dies gilt, wie gesagt, nicht nur für die biologische, sondern auch für die wissenschaftliche Evolution. In beiden wird faktisch die gleiche Strategie eingesetzt: Man probiert stets verschiedene (mögliche) Lösungen aus, selektiert diejenige, die funktioniert, und gibt sie an die nächste Generation weiter. In der Biosphäre führt dies zu immer verfeinerteren Anpassungen, im wissenschaftlichen Bereich zu immer verfeinerteren Theorien und Techniken. Im neunten Kapitel erwähnten wir jedoch auch schon einen ins Auge springenden Unterschied: Der wissenschaftlichen Evolution liegt Bewusstsein zugrunde. Die zielgerichtete Wissenschaft Niemand wird die gravierenden Unterschiede zwischen der biologischen und der wissenschaftlichen Evolution leugnen. Die Frage ist, ob diese größer sind als die Übereinstimmungen. Im vorigen Kapitel sind wir in diesem Zusammenhang bereits auf das dritte darwinistische Grundprinzip, die Replikation, näher eingegangen. Replikation impliziert zuverlässige Kopien. Im kulturell-wissenschaftlichen Bereich ist diese Bedingung erfüllt. Kulturelle Einheiten (Meme) werden wie die biologischen (Gene) kopiert, sodass kausale Abstammungslinien entstehen. Für beide Bereiche gelten denn auch die gleichen genealogischen Prinzipien. Doch wie verhält es sich mit den beiden anderen evolutionären Grundprinzipien? Inwieweit sind Variation und Selektion im biologischen Bereich mit Variation und Selektion im wissenschaftlichen Bereich vergleichbar? Beginnen wir mit dem ersten Element, der Variation. Für Kritiker der evolutionären Epistemologie ist die Analogie unhaltbar, da die wissenschaftliche Variation im Gegensatz zur biologischen zielgerichtet sei. Die genetische Variabilität im biologischen Bereich ist willkürlich, random, die Variationen antizipieren nicht den Selektionsdruck, der in einer Population herrscht. Die Population kann nur „abwarten“, bis eine zufällig günstige Variation von der natürlichen Selektion „belohnt“ wird. Wissenschaftliche Variationen werden hingegen zielbewusst entworfen: Die von Wissenschaftlern aufgestellten Hypothesen dienen dazu, Probleme zu lösen. Eine solche Zielstrebigkeit fehlt der biologischen Evolution, ihre Variationen sind nicht auf „Zwecke“ hin entstanden. Die Analogie scheint also tatsächlich unhaltbar zu sein, aber es gibt vielleicht eine andere Bedeutung von random, die sehr wohl auf beide Formen der Evolution anwendbar ist. Willkürlich sind die Variationen nämlich in beiden Bereichen in dem Sinne, dass ihr Erfolg nicht vorhersehbar ist. Die Tatsache, dass wissenschaftliche Variationen gezielt entworfen werden, ist noch keine Erfolgs-
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garantie. Sonst hätten wir längst ein Heilmittel gegen Krebs entwickelt oder die Kernfusion technisch in den Griff bekommen. Die Tatsache, dass Hypothesen bewusst aufgestellt werden, sagt daher nichts über ihre Wahrheit oder Zuverlässigkeit aus. Wissenschaftliche Variationen sind random, nicht vorhersehbar insofern, als sie erst auf ihre Eignung geprüft werden müssen, und wie in der Biosphäre erweisen sich die meisten Lösungsversuche als unbrauchbar. Wissenschaftliche Variation ist also zwar zielgerichtet, doch impliziert dies nicht automatisch einen Treffer. Und andererseits sind auch biologische Variationen nicht gänzlich ungerichtet, da die biologische Evolution nur mit bestehenden Strukturen und Bauplänen arbeiten kann. Art und Struktur des Genotyps und die Entwicklungsgeschichte der betreffenden Spezies beschränken das Repertoire möglicher genetischer Variationen. Etwas Vergleichbares finden wir auch im wissenschaftlichen Bereich: Auch das Repertoire an neuen Ideen, Theorien und Techniken wird eingeschränkt durch das gerade vorherrschende Weltbild und die Geschichte der betreffenden Disziplin. Von allen in den Wissenschaften aufgestellten Hypothesen hält nur ein sehr kleiner Teil der Kritik stand und dies auch nur vorläufig. Um die Spreu vom Weizen zu trennen, wendet man ein Ausscheidungsverfahren an, und damit wären wir beim zweiten der evolutionären Grundprinzipien, der Selektion. Wiederum könnte man argumentieren, dass die offensichtlichen Unterschiede zwischen den beiden Evolutionsformen in dieser Hinsicht eher gradueller als grundsätzlicher Art sind. Auf den ersten Blick scheint die Diskrepanz zwischen dem blinden und planlosen Prozess der natürlichen Selektion und der zielgerichteten und rationalen wissenschaftlichen Methodik groß. Aufgrund der intentionalen und rationalen Elemente ist Wissenschaft vielleicht effizienter als die biologische Evolution, doch haben wir es in beiden Fällen immer noch mit dem Resultat eines Selektionsprozesses zu tun. Der Unterschied ist, dass wir bewusst auswählen, während es in der Biosphäre keine bewusste Instanz gibt. Doch dies bedeutet längst nicht, dass sich Lösungen immer von selber anbieten. Wissenschaftlicher Fortschritt ist nicht das Resultat einer mysteriösen Hellsichtigkeit, sondern eines rückwirkenden Korrektionsmechanismus. David Hull zufolge ist die wissenschaftliche Forschung viel blinder als allgemein angenommen. Nur im Rückblick erscheine sie uns so effizient und zielgerichtet, weil wir über den Erfolgen die zahlreichen Fehlschläge und Sackgassen vergessen. Ein realistischeres Bild erhalte man nur, wenn man die ganze Wissenschaftsgeschichte überschaue. Die meisten Forschungsprogramme führten zu nichts und die Resultate, die veröffentlicht würden, hätten zum größten Teil keine besondere Auswirkung. Wissenschaftler haben ein allgemeines Ziel, doch ihre speziellen Zielsetzungen erweisen sich oft als illusorisch. Wenn wir all diese Misserfolge negieren, stellt sich Wissenschaft in der Tat als eine sehr effiziente und zielgerichtete Tätigkeit dar, doch die Realität ist etwas weniger schmeichelhaft. Gute Ideen ergeben sich nicht von selbst. Wissenschaft ist ein mühsamer
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und verschwenderischer Selektionsprozess: Jeder erfolgreichen Idee stehen hunderte gegenüber, die sang- und klanglos untergegangen sind. Der naturalistische Fehlschluss Ziehen wir Bilanz. Wie wir gesehen haben, gibt es eine interessante Parallele zwischen der biologischen Evolution und der Zunahme wissenschaftlicher Erkenntnisse. Die Analogie funktioniert in beiden Richtungen. Die biologische Evolution kann als ein Prozess des Wissenserwerbs aufgefasst werden, und umgekehrt ist die Zunahme wissenschaftlicher Erkenntnis evolutionären Prinzipien unterworfen. Erkenntnisgewinn ist, auch in seiner weiter gefassten Bedeutung, das Resultat kumulativer Selektion. Die Sache hat jedoch noch einen Haken. Traditionelle Epistemologen werden vielleicht einwenden, die Analogie zwischen Evolution und Wissenserwerb sei zwar interessant, doch nicht sehr fruchtbar. Die Erkenntnislehre befasse sich mit normativen Fragen, sie formuliere Normen und Kriterien, die eine Theorie erfüllen muss und nach denen Wissenschaft betrieben werden sollte. Spreche man von der Wissenschaft als einem Selektionsprozess, setze man bereits die Existenz bestimmter Kriterien voraus, ohne die man nicht wisse, was auszuwählen sei. Und diese Kriterien könnten nur Epistemologen und Wissenschaftsphilosophen formulieren. Es sei ein naturalistischer Fehlschluss, sie aus der empirischen Forschung wie der Evolutionsbiologie ableiten zu wollen. Für Naturalisten wie Quine ist die Erkenntnislehre Teil der Wissenschaft. Epitemologische Fragen können nur im Dialog mit ihr geklärt werden. Traditionelle Erkenntnistheoretiker weisen hier auf einen Trugschluss hin: Aus empirischen Aussagen könnten niemals Werturteile abgeleitet werden. Die empirische Wissenschaft könne deshalb nichts zur Erkenntnislehre beitragen, weil diese jener vorausgeht. Auch eine evolutionäre Epistemologie kann nur Tatsachen beschreiben, keine Normen formulieren. Von einem Trugschluss kann jedoch keine Rede sein, da es so etwas wie eine erste Philosophie, die aller Wissenschaft vorausgeht, nicht gibt. Wir können nicht a priori bestimmen, was gute Wissenschaft ist. Die Debatte über diese Frage ist noch längst nicht abgeschlossen, und auch Poppers Ansatz ist nicht die endgültige Lösung. Auch gegen seine Theorie der Falsifikation lassen sich zumindest zwei Einwände erheben. Zum einen kann auch Popper das Induktionsproblem nicht umgehen, da das Lernen aus Fehlern zwangsläufig Induktion voraussetzt. Und zum zweiten ist die Trennungslinie zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft längst nicht so scharf, wie Popper uns glauben machen will. Wir können also nicht vorn vornherein bestimmen, was gute Wissenschaft ist. Zur Lösung dieser Frage reicht logisches Denken allein nicht aus. Auch die empirischen Wissenschaften sind relevant, weil wir aus unseren Fehlern und Erfolgen lernen können. Die Epistemologie stellt somit Richtlinien für die Wissen-
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schaft auf, umgekehrt aber auch die Wissenschaft für die Epistemologie. Wissenschaftliche Einsichten können uns sogar dazu zwingen, unsere Erkenntnistheorie völlig neu zu überdenken. Eine solche Rückkoppelung auf methodologischer Ebene macht eine „tiefere“ Fundamentierung faktisch überflüssig. Denn die Wahl zwischen konkurrierenden Methoden unterscheidet sich nicht wesentlich von der Wahl zwischen konkurrierenden Theorien. Der Wert einer Methode muss sich, genauso wie der einer Theorie, empirisch erweisen. Empirische Wissenschaft ist also sehr wohl relevant für die Epistemologie. Wir können auf empirische Weise herausfinden, wie wir die Welt am besten erforschen können. Quine hat daher recht: Der Versuch, normative Fragen zu lösen, sollte nicht der Wissenschaft vorangehen, sondern zusammen mit ihr unternommen werden. Wir können sogar noch einen Schritt weitergehen. Eine evolutionäre Epistemologie vertritt die Ansicht, auch auf methodologischer Ebene könne von einem kumulativen Selektionsprozess gesprochen werden. Durch Versuch und Irrtum können wir verschiedene wissenschaftliche Methoden auf ihren Wert hin überprüfen und gegebenenfalls verbessern, einschließlich der dabei angewendeten Selektionskriterien. Auch in einer evolutionären Epistemologie gibt es also noch immer Normen, nur sind sie nicht länger ewig und unveränderlich, sondern ständiger Veränderung unterworfen.
11 Evolution und Religion Kaplan des Teufels Im September 1842 zog Darwin mit seiner Frau Emma und ihren beiden kleinen Kindern von London nach Down, einem Dorf in der Grafschaft Kent knapp fünfundzwanzig Kilometer südlich der Hauptstadt. Am Ortsrand hatte er für 2200 Pfund ein stattliches Landhaus mit großem Garten erworben. Während die Familie in den folgenden Jahren stetig wuchs, arbeitete Darwin weiter an seinem geheimen Projekt, der Ausarbeitung der Selektionstheorie. An eine Veröffentlichung war vorerst nicht zu denken, erst musste überzeugendes Beweismaterial zusammengetragen werden, zudem sah Darwin mit Schrecken dem Aufruhr entgegen, den seine Ideen in der Öffentlichkeit unweigerlich auslösen würden. Es war also besser, vorläufig in aller Stille seinen Studien nachzugehen. „Down House“ und die sanften, grünen Hügel von Kent boten die nötige Ruhe. Im Oktober 1846 begann Darwin mit einer vergleichenden Untersuchung der Seepocken, die zur Ordnung der Rankenfüßer (Cirripedia) gehören, eine Arbeit, die ihn acht Jahre lang beschäftigen sollte. Diese Tiergruppe war ein dankbares Forschungsobjekt, da wenig über sie bekannt war, außer dass es keine Weichtiere (Mollusca) sind wie Muscheln und Schnecken, sondern Schalentiere (Crustacea). Im Gegensatz zu Krebsen und Krabben, mit denen sie verwandt sind, können sich Seepocken nicht frei bewegen, sie setzen sich vielmehr auf Felsen oder sogar Schiffen fest oder auf großen Meerestieren wie Walfischen. Darwin legte im Lauf der Zeit eine riesige Sammlung an, aus allen Erdteilen schickte man ihm Exemplare, sogar den Bestand des Britischen Museums brachte er in seinen Besitz. Down House quoll über von Rankenfüßern. (In der Annahme, alle Erwachsenen sammelten und studierten diese Tiere, fragte einer seiner Söhne einen Nachbarsjungen: „Wo arbeitet denn dein Vater an seinen Seepocken?“) Die weite Verbreitung und Artenvielfalt der Cirripedia bekräftigte Darwin in seiner Überzeugung, dass die natürliche Selektion die treibende Kraft der Evolution war. Sogar innerhalb einer Art ist die Variabilität groß. Im Lauf der Evolution war offensichtlich der Bauplan dieser Organismen immer wieder abgewandelt worden, wodurch sie sich an neue Bedingungen anpassen konnten. Darwin wies in seiner eingehenden Untersuchung auch auf die Bedeutung der Embryonalentwicklung hin, denn er entdeckte, dass sich die erwachsenen Organismen zwar oft beträchtlich voneinander unterscheiden, ihre Larven jedoch eine große Ähnlichkeit aufweisen, was die Annahme fast unumgänglich machte, dass alle auf eine gemeinsame Urform zurückgehen. 1851 und 1854 veröffentlichte Dar-
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win schließlich zwei umfangreiche Monographien mit der Beschreibung und Klassifikation aller damals bekannten Rankenfüßer. Ein direkter Bezug zum Evolutionsgedanken findet sich in ihnen jedoch nicht. Das Projekt blieb also weiterhin geheim. Die relative Idylle in Down wurde durch einen Schicksalsschlag jäh beendet, von dem Darwin sich nie ganz erholen sollte. Im Jahr 1850 erkrankte seine neunjährige Tochter Annie (Anne Elisabeth) schwer. Annie kränkelte schon lange, doch bisher war die Situation nie alarmierend gewesen. Im März 1851 verschlechterte sich ihr Zustand jedoch so sehr, dass Darwin sie in den Kurort Great Malvern in Worcestershire brachte, wo er sich selbst einmal einer „Wassertherapie“ unterzogen hatte. Er hoffte, derselbe Arzt, Dr. James Gully – den manche allerdings für einen Quacksalber hielten –, könnte auch seiner Tochter helfen. Das Schicksal wollte es anders. Am Mittwoch, den 23. April 1851, starb Annie, gerade zehn Jahre alt geworden, in Malvern an den Folgen eines, wie Gully es nannte, „typhösen Fiebers“. Darwin hatte die letzten Tage ihres Lebens ununterbrochen an ihrem Bett gewacht, während die hochschwangere Emma in Down ängstlich auf Nachricht wartete. Eine Woche nach dem Tod seiner Tochter verfasste Darwin ein ergreifendes In memoriam, in dem er den „grausamen und bitteren Verlust“ seiner Lieblingstochter beklagte. Annies Tod zerstörte den letzten Rest seiner Religiosität. Schon in den vorangegangenen Jahrzehnten hatte er immer mehr an den Dogmen seiner anglikanischen Erziehung gezweifelt. Nun hatte er gänzlich den Glauben an einen guten und gerechten Gott verloren und sollte nie mehr Trost in der Religion suchen. Der Tod seiner Tochter war das sinnlose, grausame Faktum einer ziellosen Natur. Darwin ging freilich nicht mit seinem Agnostizismus hausieren, er mied das Thema, wo er nur konnte, vor allem aus Rücksicht gegenüber seiner Frau, die tiefgläubig war. Emma allerdings schreckte nicht davor zurück, nach seinem Tod diesbezügliche Stellen in seinen Schriften zu redigieren. So heißt es etwa in der ursprünglichen Fassung seiner Autobiographie: „Man darf ebenfalls nicht die Möglichkeit der ständigen Einflößung des Glaubens an Gott in die Gemüter der Kinder außer acht lassen, einer Einflößung, die eine außerordentlich starke und vielleicht erbliche Einwirkung auf deren Gehirn ausübt, das noch nicht vollständig entwickelt ist, sodass es für sie genauso schwer wäre, den Glauben an Gott aufzugeben, wie für einen Affen, seine instinktive Furcht und Abscheu einer Schlange gegenüber aufzugeben.“ Es grauste Emma vor dieser Stelle und sie ließ sie aus den späteren Ausgaben entfernen. Für sie war der Gedanke tröstlich, dass Annie im Himmel war und die Familie einmal im Jenseits wieder vereint sein würde. Darwin konnte daran nicht glauben, für ihn gab es keine Offenbarung, kein Jenseits und keine Erlösung. Religion war ganz und gar sinnlos. Darwin, der in Cambridge Theologie studiert hatte und nach dem Wunsch seines Vaters Landpfarrer hätte werden sollen, wurde nach dem Tod seiner Toch-
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ter ein „Kaplan des Teufels“. In einem Brief an seinen Freund, den Botaniker Joseph Hooker, verweist er 1856 halb im Scherz auf sich selbst: „Was für ein Buch könnte ein Kaplan des Teufels über das plumpe, verschwenderische, stümperhaft niedrige und entsetzlich grausame Wirken der Natur schreiben.“ Und vier Jahre später in einem Brief an den Botaniker Asa Gray: „Ich kann mich nicht dazu überreden, dass ein gütiger und allmächtiger Gott mit Absicht Ichneumonidae [Schlupfwespen] erschaffen haben würde mit dem ausdrücklichen Auftrag, sich im Körper lebender Raupen zu ernähren, oder dass eine Katze mit Mäusen spielen soll.“ Annies Tod öffnete Darwin die Augen für die grausame Wirklichkeit: Die Natur ist weder gut noch böse, sie ist – viel schlimmer noch – entsetzlich gleichgültig. In einer solchen Welt ist Gott erdrückend abwesend. Amerikanische Zustände Friedrich Nietzsche erklärte Gott für tot (und uns für seine Mörder), doch Darwin zeigte, dass es Gott nie gegeben hat. So könnte man das geistige Erbe beider Denker knapp zusammenfassen, wäre es nicht so, dass diese Behauptung vielleicht doch etwas voreilig ist. Darwin entzog zwar einem der wichtigsten Gottesbeweise, dem Design-Argument, den Boden, doch damit sind Evolutionsgedanke und Religion nicht völlig unvereinbar geworden. Sogar Papst Johannes Paul II. verkündete 1996, dass die Evolutionstheorie der Schöpfungslehre nicht widerspreche. Während Biologen wie Richard Dawkins meinen, es sei unmöglich, nach Darwin noch an Gott zu glauben, nehmen etwa Stephen Jay Gould und der Philosoph Michael Ruse einen Zwischenstandpunkt ein. Sie sind der Auffassung, Religion und Evolutionstheorie könnten gar nicht kollidieren, weil sie sich mit gänzlich unterschiedlichen Dingen befassten. Was lässt sich über diese verschiedenen Sichtweisen sagen? Die Debatte über die vermeintliche Unvereinbarkeit von Evolution und Religion war bis vor Kurzem eine rein amerikanische Angelegenheit, doch inzwischen ist sie auch nach Europa übergeschwappt, wie Äußerungen kirchlicher Amtsträger und prominenter Politiker in mehreren europäischen Ländern belegen. So sorgte in den Niederlanden die damalige Bildungsministerin Maria van der Hoeven Anfang 2005 für einen regelrechten Skandal. Sie hatte zu einem Dialog zwischen Wissenschaftlern und Vertretern des Intelligent Design (ID) aufgerufen, einer amerikanischen Strömung, die seit dem Ende des 20. Jahrhunderts gegen die moderne Evolutionsforschung mobil macht. Die Aufregung war groß: Im Haager Parlament erntete die Christdemokratin massiven Widerspruch, in Leserbriefen machte man sich über sie lustig („Bleib bei deinem Bibelkreis, Maria!“), und Akademiker sahen die Forschungsfreiheit in Gefahr. Niemand hatte solche amerikanischen Zustände in den Niederlanden erwartet. Die Emotionen schlugen deshalb so hoch, weil die Trennung von Kirche und Staat auf dem Spiel stand. Sehe man ID als ernsthafte wissenschaftliche Alternative an, sei
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es kein weiter Schritt mehr zu seiner Integration in den Schulunterricht. Sogar einige Professoren an der Freien Universität von Amsterdam, von jeher eine protestantische Hochburg, hatten den Appell der Ministerin in den falschen Hals bekommen und distanzierten sich in der Volkskrant öffentlich von der ID-Ideologie. Ein Biologiedozent an derselben Universität erhielt von muslimischen Studenten ein Referat, in dem die Evolutionstheorie als westliche Verirrung abgetan wurde. Das meiste Material stammte von einer fundamentalistischen Webseite. Ein pikantes Detail der ganzen Kontroverse war, dass die Ministerin sich gerade mit Blick auf diese Gruppe eingewanderter Niederländer zu ihrem Vorstoß hatte hinreißen lassen. Die „interkulturelle“ Diskussion über Evolution könnte den Muslimen vielleicht helfen, die Kluft zwischen Glauben und Wissenschaft zu schließen. Über das Sprungbrett des ID würden sie das Walhalla der Modernität eventuell leichter betreten. Religion ist auf dem Vormarsch, wenn sie denn je auf dem Rückzug gewesen ist. Auch in einem doch so aufgeklärten Land wie den Niederlanden ist die Säkularisierung zum Stillstand gekommen, sei es auch nur aufgrund des steten Zustroms gläubiger Immigranten. Eine Debatte über Evolution versus Schöpfung wäre bis vor Kurzem in den Niederlanden undenkbar gewesen. Die Evolutionstheorie wird in zunehmendem Maße als bedrohlich angesehen, weil sie die Dogmen des Glaubens infrage stellt. Doch auch holländische Wissenschaftler beteiligen sich an dem Angriff. So veröffentlichte Cees Dekker, Professor für molekulare Biophysik an der Technischen Universität in Delft, zusammen mit einigen Glaubensgenossen ein Buch, in dem der Neodarwinismus kritisiert und eine Lanze für ID gebrochen wird. Die Evolution, so Dekker, werde durch eine intelligente Instanz gelenkt, die biologische Komplexität könne einfach nicht durch Zufall entstanden sein. Da die ID-Ideologie aus den Vereinigten Staaten stammt, ist es angebracht, etwas ausführlicher auf die Hintergründe und die Geschichte der Kontroverse einzugehen. Die scheinbare Kollision zwischen Evolution und Schöpfung hat in den USA zu erhitzten Debatten und juristischen Auseinandersetzungen bis hin zum Supreme Court, dem obersten Gerichtshof, geführt. Vor allem den christlichen Fundamentalisten im Bible Belt, im Süden und Mittleren Westen der USA, war die Evolutionstheorie von jeher ein Dorn im Auge. Darwins Theorie unterminiere die christlichen Werte und verführe die Jugend zur Unsittlichkeit. Wenn Kinder lernten, dass sie nur Tiere seien, würden sie sich auch wie solche aufführen. Ohne Religion keine Moral. Doch es sind nicht nur Fundamentalisten, die sich mit der Evolutionstheorie schwer tun. Eine Umfrage des amerikanischen Meinungsforschungsinstituts Gallup kam zu einem verblüffenden Ergebnis. Die Befragten sollten sich zu Folgendem äußern: „Welche der folgenden Aussagen kommt Ihren eigenen Vorstellungen vom Ursprung und der Entwicklung des Menschen am nächsten?“
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A) Gott hat den Menschen in seiner heutigen Gestalt vor etwa 10 000 Jahren erschaffen. B) Der Mensch hat sich im Lauf von Millionen Jahren aus Lebensformen entwickelt. C) Der Mensch hat sich im Lauf von Millionen Jahren aus primitiveren Lebensformen entwickelt, doch Gott hat diesen Prozess gelenkt. Das Ergebnis sprach für sich. Sechsundvierzig bzw. vierzig Prozent der Befragten waren mit A und C einverstanden, während nur neun Prozent B zustimmten. Fünf Prozent hatten keine Meinung. Für Insider war dies keine wirkliche Überraschung, denn der Darwinismus hatte in den USA von jeher einen schweren Stand. Seit fast einem Jahrhundert streitet man sich darüber, ob die Evolutionstheorie an öffentlichen Schulen unterrichtet werden darf oder nicht. 1925 wurde John Scopes, ein Biologielehrer im US-Staat Tennessee, angeklagt, gegen das im gleichen Jahr erlassene Anti-Evolutionsgesetz verstoßen und Darwins Abstammungslehre unterrichtet zu haben. Er wurde schuldig gesprochen und zu einem Bußgeld von hundert Dollar verurteilt. Das Gerichtsverfahren gilt als einer der aufsehenerregendsten Prozesse in der Geschichte der USA. Der Volksmund sprach vom „Monkey Trial“, Affenprozess, was insofern auf einem Missverständnis beruht, als Darwin nicht behauptet hat, der Mensch stamme vom Affen ab, sondern Mensch und Affe hätten gemeinsame Vorfahren. Ein großer Erfolg war 1960 die Verfilmung Inherit the Wind / Wer den Wind sät mit Spencer Tracy und Frederic March in den Hauptrollen. Obwohl John Scopes wegen eines Formfehlers in zweiter Instanz freigesprochen wurde, stellte der Affenprozess einen wichtigen Präzedenzfall dar. Denn den meisten Amerikanern erschien die Evolutionstheorie als eine perfide Vorstellung, die mit Stumpf und Stil ausgerottet werden müsse. Nach dem Vorbild von Tennessee wurden in den Staaten Mississippi, Arkansas, Oklahoma und Florida Anti-Evolutionsgesetze erlassen. Die Evolutionstheorie wurde vom Lehrplan öffentlicher Schulen gestrichen und durch die Schöpfungsgeschichte des Buches Genesis ersetzt: Gott hat die Erde und alle Lebewesen vor etwa sechstausend Jahren erschaffen, der Mensch als Ebenbild Gottes ist die Krone der Schöpfung und Herr über die Tiere. Erst in den Sechzigerjahren begann sich das Blatt zu wenden. 1968 erklärte der Supreme Court Gesetze für verfassungswidrig, die die Evolutionstheorie an Schulen verboten. Die Jugend müsse Kenntnis von ihr nehmen dürfen. Die Richter hatten sich auch von der Angst leiten lassen, die amerikanische Wissenschaft und Technologie könnten gegenüber der russischen ins Hintertreffen geraten. Die damalige Sowjetunion hatte spektakuläre Erfolge in der Raumfahrt erzielt. Die christliche Lobby gab jedoch nicht klein bei und startete eine Gegenoffensive: Sie lancierte Creation Science, eine „wissenschaftliche Theorie“, die, wie der Name schon sagt, die Schöpfungsgeschichte der Bibel wortwörtlich auslegt und gleichberechtigt neben der Evolutionstheorie an Schulen unterrrichtet werden
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sollte, wohlgemerkt nicht in Fächern wie Sozial- oder Gemeinschaftskunde, sondern in der Biologiestunde. Schüler sollten selber entscheiden dürfen, welche Theorie sie für die überzeugendste hielten. Doch 1982 urteilte ein Gericht im US-Staat Arkansas, dass Creation Science keine Wissenschaft sei, sondern religiösen Zwecken diene. Kreationisten betrieben keine Forschung, sondern verkündeten eine nicht überprüfbare Ideologie. Der Kreationismus gehöre daher nicht in den Biologieunterricht. Da zudem einige Anhänger der Ideologie zu der Einsicht kamen, dass eine wortgetreue Auslegung der Schöpfungsgeschichte einige schwierige Probleme aufwirft, spaltete sich die Bewegung in zwei Lager: die Freisinnigen und die Orthodoxen. Während die Letzteren etwa weiterhin darauf beharrten, Gott habe alle Fossilien im Boden vergraben, um unseren Glauben auf die Probe zu stellen, gelangten Erstere zu der Erkenntnis, dass die Erde vielleicht doch älter als sechstausend Jahre sei und unmöglich alle Tierarten in die Arche Noah gepasst haben könnten. Ob es vielleicht doch eine Evolution gegeben hat? Seit den Neunzigerjahren hat sich, wie gesagt, die einflussreiche christliche Lobby in den Vereinigten Staaten in ein neues Gewand gehüllt. Die Anhänger des Intelligent Design propagieren nicht mehr wie die Kreationisten eine wörtliche Auslegung der Bibel; sie erkennen zwar die wissenschaftlichen Tatsachen an, doch sind sie der Meinung, die Evolutionstheorie erkläre nicht alles. Die heutigen Lebensformen seien zwar aus früheren hervorgegangen, doch nicht im Sinne der darwinistischen Theorie. Der Evolution liege kein blinder Selektionsprozess zugrunde, sondern eine intelligente Ursache. Die Evolution werde von einer göttlichen Hand gelenkt. ID ist somit eine abgespeckte Form von Creation Science, sozusagen Kreationismus light. Worin irrt Intelligent Design? ID ist auf ersten Blick eine verlockende Alternative für Gläubige, die gleichermaßen den gottlosen Darwinismus wie den einfältigen Kreationismus ablehnen, es vereint das Beste aus zwei Welten, es versöhnt Gott mit der Evolution. An dieser Synthese führe, so seine Vertreter, kein Weg vorbei, wenn man einmal eingesehen habe, wie untauglich das neodarwinistische Erklärungsmodell sei. 1996 veröffentlichte der Biochemiker Michael Behe Darwin’s Black Box / Darwins Black Box, in dem er eine wissenschaftliche Begründung für die Unzulänglichkeit der Evolutionstheorie zu liefern sucht. Behe gibt einige Beispiele von biologischen Phänomenen, die er für „nichtreduzierbar komplex“ hält, wie die Blutgerinnung, das Immunsystem und die Fäden von Bakterien (sogenannte Flagellen, die den Einzeller wie eine Art Propeller antreiben). Derart komplexe Systeme könnten sich seiner Ansicht nach niemals durch die von Darwin postulierte natürliche Selektion in kleinen Schritten entwickelt haben, denn die einzelnen Bausteine hätten nur in dieser ganz bestimmten Zusammensetzung ihre Funktion und seien
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somit von keinerlei evolutionärem Vorteil gewesen. Entferne man einen der Bestandteile, funktioniere das Ganze nicht mehr. Dem Zusammenspiel von Molekülen, Genen, Eiweißstoffen und Zellen in lebenden Organismen müsse ein intelligenter Bauplan zugrunde liegen. Behe bestreitet bis zu einem gewissen Grad evolutionäre Entwicklung in der Natur nicht, doch sie folge dem intelligenten Entwurf einer höheren Macht. Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass Anhänger des ID das uralte Design-Argument aus der Mottenkiste geholt haben, das schon William Paley Anfang des 19. Jahrhunderts vorbrachte: Die Zweckmäßigkeit der Lebewesen beweise die Existenz eines intelligenten Schöpfers. Als Paradebeispiel für eine nichtreduzierbare Komplexität diente den Anti-Evolutionsten das menschliche Auge. Bau und Funktion seien zu komplex, als dass sie durch zufällige Mutation, Auswahl und Anpassung entstanden sein könnten. Doch die moderne Biologie hat gezeigt, unter anderem mithilfe von Computersimulationen, dass sich das Auge sehr wohl in kleinen Schritten entwickelt hat. Auch die Zwischenstufen brachten den Lebewesen Vorteile, denn in einer Welt voller Gefahren ist jedes Prozent mehr Sehvermögen ein Geschenk. Entscheidend war jedoch die Entdeckung, dass so gut wie alle Übergangsformen des Auges heute noch bei verschiedenen Organismen zu finden sind, von Pigmentzellen und Photorezeptoren bei Wirbellosen bis hin zu den verschiedenen „vollwertigen“ Augen von Wirbeltieren, Gliederfüßern und Weichtieren. Seitdem das Beispiel des Auges als „irreduzible Komplexität“ nicht mehr überzeugt, führen Anti-Darwinisten wie Behe andere Beispiele an, die die Unzulänglichkeit der Evolutionstheorie belegen sollen. Michael Shermer, Direktor der Sceptics Society und Kolumnist für Scientific American, spricht in diesem Zusammenhang treffend vom „Gott der Lücken“. Die Strategie des ID besteht darin, die Wissenslücken der Biologie mit einem Gott, einer intelligenten Instanz oder einem übersinnlichen ordnenden Prinzip auszufüllen. Die Evolutionsgegner stehen jedoch vor dem Problem, dass immer mehr dieser Lücken geschlossen werden, sodass sie stets der Realität hinterherhinken. Schwerer wiegt, dass in erkenntnistheoretischer Hinsicht ein Appell an eine übersinnliche Instanz ganz und gar unergiebig ist, da die angebotene „Erklärung“ zu keiner einzigen neuen testbaren Hypothese führt. Stärker noch, die Erklärung wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Es ist ein typisches Merkmal der Pseudowissenschaft, Lücken mit Hilfshypothesen zu füllen, die sich der empirischen Überprüfung entziehen. ID ist Kreationismus im Schafspelz. Die Evolutionsgegner konnten dennoch im August 2004 einen wichtigen Erfolg für sich verbuchen: In der Zeitschrift Proceedings of the Biological Society of Washington erschien ein ID-Artikel, der erste in einer biologischen Fachzeitschrift überhaupt. Doch nicht die Veröffentlichung an sich war so wichtig, sondern vielmehr die Tatsache, dass der Artikel in einem Fachjournal mit peer review erschienen, also zuvor von unabhängigen Fachkollegen für gut befunden worden war.
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Damit hatte er die höheren Weihen der Wissenschaftswelt erhalten. In zukünftigen Gerichtsverhandlungen über das Lehrprogramm an öffentlichen Schulen konnte sich die ID-Bewegung hierauf berufen: ID ist anerkannte Wissenschaft. Als aufmerksame Leser der Zeitschrift Alarm schlugen und eine Welle der Entrüstung auslösten, griff der Vorstand von Proceedings ein und zog den Artikel zurück. Der verantwortliche Redakteur, so der Vorstandsvorsitzende Roy McDiarmid, habe einen „schwerwiegenden Beurteilungsfehler“ begangen. McDiarmid versprach, die redaktionellen Richtlinien zu verschärfen, die Zeitschrift werde dem ID keinen Platz mehr einräumen. Es stellt sich allerdings die Frage, ob diese Maßnahmen nicht kontraproduktiv wirken, die Anhänger des ID werden triumphierend auf den „dogmatischen Charakter“ des Neodarwinismus hinweisen, der Andersdenkende verketzere. Die darwinistische Theorie als säkulare ,Religion‘. In dem kontroversen Artikel äußert der Wissenschaftsphilosoph Stephen Meyer seine Zweifel an der Evolutionstheorie und führt als Beispiel die sogenannte Kambrische Explosion an, als sich vor etwa 530 Millionen Jahren innerhalb einer geologisch kurzen Zeitspanne von 20–50 Millionen Jahren das mehrzellige Leben in den Ozeanen schlagartig ausbreitete. Damals entstanden alle heute bekannten Baupläne des Tierreichs. In der Tat sind hinsichtlich dieses wichtigen Ereignisses in der Evolution noch viele Fragen ungeklärt. Doch es gibt auch eine Reihe von Anhaltspunkten. So lautet eine Erklärung, dass sich mehrzellige Lebewesen erst entwickeln konnten, nachdem Bakterien und Algen mithilfe der Photosynthese genügend freien Sauerstoff in die Weltmeere gepumpt hatten. Mehrzellige Organismen sind nämlich stark von diesem relativ seltenen Gas abhängig. Nach einer anderen Erklärung hat eine genetische Innovation die Entwicklung in Gang gesetzt, denn während des Kambriums entstanden die grundlegenden Kontrollgene (wie beispielsweise die Hox-Gene), die die Embryonalentwicklung von Organismen steuern. Kleine, zufällige Mutationen in solchen Genen führten zu gänzlich neuen Entwürfen. Darüber hinaus standen die ökologischen Nischen in den kambrischen Ozeanen in Hülle und Fülle zur Verfügung, sie mussten nur besetzt werden. Das Leben konnte sich in alle Richtungen verzweigen, da die Rollen noch nicht verteilt waren. Nach Auffassung heutiger Biologen und Paläontologen war eine Kombination all dieser Faktoren Auslöser der Kambrischen Explosion. Stephen Meyer kümmert dies nicht, die plötzliche Zunahme der Körperbaupläne ist seines Erachtens nur durch den Akt eines intelligenten Planers zu erklären. Wer hat Angst vor der Makrorevolution? Die Verteidiger des ID haben in den vergangenen Jahren auf mehrere solcher „Lücken“ in der Evolutionstheorie hingewiesen. So räumen sie etwa die Möglichkeit einer Mikroevolution ein, das heißt die allmähliche Veränderung der gene-
WER HAT ANGST VOR DER MAKROREVOLUTION?
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tischen Zusammensetzung einer Population, doch ähnlich wie Meyer behaupten sie, die Mechanismen der Makroevolution, die Entstehung ganz neuer taxonomischer Gruppen könne die Evolutionstheorie nicht erklären. Niemand habe je das Entstehen einer neuen Art mit eigenen Augen gesehen. So richtig diese Feststellung ist, so könnte man doch einwenden, dass auch noch nie jemand der Entstehung von Gebirgen beigewohnt hat. Müssen wir daraus schließen, dass sie nicht das Resultat allmählicher und natürlicher Prozesse ist, sondern das Werk eines höheren Wesens? Im 19. Jahrhundert standen sich in dieser Frage zwei Richtungen gegenüber, der Katastrophismus und der Uniformitarismus. Für die eine war die Erdoberfläche plötzlich und durch göttliches Eingreifen geformt worden, die andere vertrat das Konzept eines fortwährenden Prozesses, wie Darwins Freund Charles Lyell. Im Gegensatz zur ersteren hat sich die zweite als äußerst fruchtbares Forschungsprogramm erweisen. Die erste Generation der Kreationisten war insofern konsequent, als sie die Theorie der Plattentektonik und der Kontinentalverschiebung ablehnte. Heutige Vertreter des ID gehen nicht so weit, sie erkennen das Alter der Erde und die Kräfte der Gebirgsbildung an. Doch hinsichtlich der Entstehung der Arten ziehen sie wieder die bekannte Trumpfkarte aus dem Ärmel. Offenbar hat Gott einen Teilzeitjob. Anhänger des ID wollen nicht akzeptieren, dass kleine biologische Veränderungen langfristig große Folgen haben können. Makroevolution verläuft im Allgemeinen viel zu langsam, als dass sie von Menschen beobachtet werden könnte, und doch ist Evolution nicht unsichtbar. Wir haben bereits das Beispiel der Bakterien und Viren erwähnt, die Resistenz gegen Medikamente entwickeln. Solche Mikroorganismen vermehren sich sehr rasch und produzieren ständig neue Stämme, mit denen die Pharmaindustrie kaum Schritt halten kann. Die hohe Reproduktionsrate der Bakterien hat jedoch auch Vorteile. Den Biologen Richard Lenski, Professer an der Michigan State University, brachte sie auf die glänzende Idee, die Evolution in sein Labor zu holen. Er wurde der Begründer eines gänzlich neuen Untersuchungsprogramms, der experimentellen Evolutionsforschung. Lenski führt seit 1988 ein Langzeitexperiment mit verschiedenen Stämmen der Darmbakterie Escherichia coli durch, die er mit den nötigen Nährstoffen versorgt. Nur eine Energiequelle, nämlich Glukose, wird ihnen nur spärlich verabreicht. Heute, über 32 000 Generationen später, haben sich die Bakterien ausgezeichnet an die glukosearme Umgebung angepasst. Stärker noch, die Stämme verbessern sich in dieser Hinsicht noch immer. Es wurde zwar nicht die Entstehung einer neuer Art beobachtet, doch könnte dies in absehbarer Zeit durchaus gelingen. Bis heute jedenfalls hat Lenski noch kein intelligentes Design in seinen Reagenzgläsern angetroffen. Wir sind im Übrigen nicht auf Lenskis Labor angewiesen, denn Belege für Makroevolution sind reichlich vorhanden. Sie sind allerdings schwer mit der Idee
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vereinbar, jede neue Art werde zuerst von einem intelligenten Wesen auf dem Reißbrett entworfen. Die Evolution ist eher mit einem Bastler zu vergleichen, der ohne viel nachzudenken mit dem Material, das ihm zur Verfügung steht, herumexperimentiert. Manchmal stellt eine neue Kombination gegenüber früheren Versuchen eine Verbesserung dar. Diese wird sich dann im Lauf der Zeit durchsetzen. Zudem sind im Fossilbefund Übergangsformen dokumentiert. Die Evolution verläuft also graduell und variiert bestehende Themen. Viele Organismen weisen rudimentäre Organe auf, die ihre Funktion verloren und sich zurückgebildet haben. Auch dies widerspricht der Annahme eines intelligenten Konstrukteurs. Ein treffendes Beispiel stellt die Evolution der Wale dar. Diese Meeressäuger haben sich aus landlebenden Huftieren entwickelt, die in ihrer Gestalt einem Kojoten ähnelten und vor ca. sechzig Millionen Jahren lebten. Wie Fossilien belegen, besaßen die frühen Wale noch Hinterbeine, die immer kleiner wurden und schließlich fast ganz verschwanden (beim Grönlandwal finden sich noch Reste des Beckengürtels und der Beinknochen). Die Vordergliedmaßen der Urwale wurden dagegen zu Flossen umgestaltet, deren Knochen noch immer das fünffingrige Schema der Landsäugetiere erkennen lassen. An ihre Abstammung von Vierfüßern erinnert auch noch der Umstand, dass sich Wale und Delphine nicht wie Fische mit seitlichen, sondern mit vertikalen Schlägen des Rumpfes und der Schwanzflosse fortbewegen. Schließlich gibt es auch noch umfangreiches genetisches Material, das eine allmähliche Entstehung der Arten aus früheren Lebensformen nahe legt. Ein Beispiel ist die Entwicklung des Artenschwarms von Cichliden im Viktoriasee. Genetische Untersuchungen zeigten, dass die Hunderte von Arten in einem Zeitraum von nicht mehr als 12 000 Jahren entstanden waren. Kurzum, überall finden wir Beweise für Makroevolution, doch nichts weist darauf hin, dass sie durch einen intelligenten Planer vorangetrieben wurde. Zufall und Stupid Design Es wurde schon angedeutet, dass die ID-Anhänger wieder das alte Design-Argument gegen den Neodarwinismus ins Feld führen. Leider schrecken sie nicht davor zurück, zu dem Zweck eine Karikatur der Evolutionstheorie zu zeichnen. Ein in diesem Zusammenhang immer wieder vorgebrachter Einwand richtet sich auf die Bedeutung des Zufalls innerhalb der biologischen Prozesse. Niemals könnten zufällige Mutationen Augen, Flügel, das Immunsystem, die Blutgerinnung, die Flagellen und zahllose andere komplexe Strukturen hervorgebracht haben. Daher sei die Evolutionstheorie völlig unzureichend, denn, nochmals, jeder komplizierte Entwurf setze einen intelligenten Entwerfer voraus, wie eine Uhr eben auch einen Uhrmacher voraussetze. Uhren entstehen nicht von selbst, sie werden schon gar nicht durch zufällige, blinde Kräfte montiert. Genauso gut
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könnte man annehmen, ein Wirbelsturm, der über einen Schrottplatz fegt, sei in der Lage, einen flugfähigen Jumbo-Jet zusammenzusetzen. Oder man stellt die Frage, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein Affe, der am Computer auf die Tasten hämmert, „zufällig“ ein Theaterstück von Shakespeare zustande bringt? Es ist bedauerlich, dass die an sich keineswegs unsinnige Debatte über Evolution und Religion durch eine bewusst falsche Wiedergabe des Sachverhalts getrübt wird. Der reine Zufall kann tatsächlich keine komplexen Adaptationen wie Augen, Flügel und das Immunsystem hervorbringen. Doch Evolution ist nicht ausschließlich ein Prozess des Zufalls. Sie ist zwar blind und ungerichtet, doch nicht willkürlich. Adaptationen entstehen durch die evolutionären Mechanismen Variation, natürliche Selektion und Replikation. Die erste Komponente, die Variation, enthält tatsächlich ein starkes Zufallselement. Genetische Variation ist das Resultat zufälliger Veränderungen im Erbgut, das heißt von Mutation und genetischer Rekombination. Solche Variationen sind zufällig in dem Sinn, dass sie nicht dem Selektionsdruck vorgreifen, dem eine Population ausgesetzt ist. Die Population kann daher nur „abwarten“, bis sich eine günstige Variation zufällig einstellt. Das zweite evolutionäre Grundprinzip hingegen, die natürliche Selektion, ist per definitionem non-random, das heißt, nicht zufällig. Lebewesen mit günstigen Genkombinationen bringen durchschnittlich mehr Nachkommen hervor als solche mit ungünstigen. Es ist daher kein Zufall, dass die am besten an ihre Umgebung angepassten Organismen auch die größten Chancen haben, zu überleben und sich fortzupflanzen. Unterschiede im Fortpflanzungserfolg (Fitness) sind nicht willkürlich. Die Evolution ist keine Lotterie. Der dritte Mechanismus, die Replikation, sorgt dafür, dass die Evolution kumulativ fortschreitet, da der Output jeder Selektionsrunde wieder als Input für die nächste dient. Nur ein solcher additiver Filterungsprozess ist in der Lage, komplexe Adaptationen hervorzubringen. Im Laufe von tausenden Generationen sammeln sich günstige Genkombinationen an, wodurch die Evolution in eine Richtung geht. Hierbei spielen Umweltbedingungen eine wichtige Rolle. Durch die kumulative Selektion wird sich eine Population an diese Bedingungen anpassen, es findet eine dauernde Feinabstimmung zwischen Organismen und Außenwelt statt. Die Evolution verläuft also keinesfalls zufällig. Um auf das Beispiel des Affen am Computer zurückzukommen. Würde man dem Textverarbeitungsprogramm einen kumulativen Filterungsmechanismus hinzufügen, der die richtigen Buchstaben, Leerzeichen und Satzzeichen der Shakespear’schen Dramen herausfiltert (in der richtigen Reihenfolge), könnte der vor sich hin tippende Affe eine ganze Menge erreichen. Der evolutionäre Algorithmus ist lösungsorientiert. So zeigt etwa das Phänomen der „Konvergenz“, dass die Evolution auf verschiedenen Wegen zu den gleichen Lösungen kommen kann. Augen und Flügel haben sich unabhängig voneinander in völlig verschiedenen Tierarten herausgebildet. Die Zweckmäßigkeit und
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Zielgerichtetheit (Teleologie), die Vertreter des ID in der lebenden Natur wahrnehmen, sind nicht auf einen Schöpfergott zurückzuführen. Die Zweckmäßigkeit ist das Resultat kumulativer Selektion. Adaptationen haben eine Funktion, doch nicht im teleologischen Sinne als von außen in sie hineingelegt. In der Evolutionsbiologie spricht man heute von „Teleonomie“. Teleonomische Prozesse laufen zielgerichtet ab aufgrund eines vorgegebenen, genetischen Programms, das seinerseits Ergebnis eines langen kumulativen Selektionsprozesses ist. Da man, wie gesagt, die Evolution mit einem Bastler ohne vorgefassten Plan vergleichen kann, ist zu erwarten, dass man in der Natur auch auf schludrige Arbeit stößt. Wir erwähnten bereits die rudimentären Überbleibsel von Körperteilen, die ihre Funktion verloren und sich stark zurückgebildet haben. Auch sie machen die Annahme eines göttlichen Konstrukteurs wenig annehmlich. Eine Computerfirma, die noch immer Röhren und Transistoren in ihre Modelle einbaut und allerlei Lämpchen und Schalter, die keinerlei Zweck erfüllen, hätte auf dem Markt keine Chance. Doch in der Natur wimmelt es von solchen Konstruktionsfehlern. Evolutionsbiologen sprechen denn auch nicht von Intelligent Design, sondern von Stupid Design (SD). Ein anschauliches Beispiel ist das Auge. Das Sehorgan des Menschen und anderer Wirbeltiere ist zwar ein sehr ingeniöses Instrument, doch weist es einige merkwürdige Fehler auf. Die Nervenfasern der Stäbchen und Zapfen in der Netzhaut werden nämlich nicht direkt nach hinten zum Gehirn geleitet, sondern nach vorn in den Augapfel. Dort werden sie im Sehnerv gebündelt und gelangen erst dann durch eine Öffnung in der Netzhaut zum Gehirn. Der Nervenknoten mit seinen Blutgefäßen hält Licht zurück, und dort, wo der Sehnerv durch die Netzhaut geführt wird, ist das Auge sogar blind, dort befindet sich der sogenannte blinde Fleck. Die Netzhaut liegt in unseren Augen falsch herum! Zum Glück merken wir kaum etwas davon, da unser Gehirn die Bilder beider Augen kombiniert, sodass die blinden Flecken einander neutralisieren.
A
B
Linse
Linse Netzhaut
Netzhaut
Sehnerv
Sehnerv
Abb. 11.1: Das menschliche Auge, wie es hätte sein sollen, mit einer tintenfischähnlichen Konstruktion der Netzhaut (A) und das menschliche Auge, wie es tatsächlich konstruiert ist, mit Nerven und Blutgefäßen, die auf der Innenseite der Netzhaut liegen (B).
DER STREIT DER MAGISTERIA
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Doch schlauer wäre es gewesen, sich die Anpassungen zu ersparen und das Auge der Wirbeltiere von vornherein richtig zu konstruieren, wie das der Tintenfische (Abb. 11.1). Es ließe sich eine ganze Reihe solcher Beispiele für SD anführen. So sind Wirbelsäule und Becken des Menschen eigentlich nicht für den aufrechten Gang geschaffen. Der Entwurf hat sich bei Vierfüßern bewährt, beim Menschen führt er zu allerlei Rückenbeschwerden. Das weibliche Becken weist noch andere Mängel auf. Mit der Zunahme des Schädelvolumens im Lauf der Evolution mussten auch das Becken und der Geburtskanal breiter werden. Dieser Entwicklung waren allerdings Grenzen gesetzt, sollte das Gehen auf zwei Beinen nicht gänzlich unmöglich werden. Dies hat zur Folge, dass sich das Baby während des Geburtsvorgangs um neunzig Grad drehen muss, damit der Kopf nach unten zeigt. Die alles andere als ideale Konstruktion führt oft zu gefährlichen Komplikationen, die leicht zu vermeiden gewesen wären, wäre über den „Entwurf“ nachgedacht worden. Der Streit der Magisteria Alles in allem hat sich Intelligent Design als ziemlich untauglich erwiesen, Evolution und Religion miteinander zu versöhnen. Es gibt keine Hinweise auf eine intelligente Gestaltung. Es bringt uns daher nicht weiter, wenn wir die Lücken in der Evolutionstheorie mit übernatürlichen Erklärungen füllen, da sich daraus, wie gesagt, keine überprüfbaren Hypothesen ableiten lassen. Das Übernatürliche entzieht sich per definitionem der wissenschaftlichen Erforschung. Für den Evolutionsbiologen Richard Dawkins schließen Evolution und Religion einander denn auch aus. Man könne nicht sowohl das eine als auch das andere für wahr halten. Und da die Beweise für die Evolutionstheorie überwältigend seien und die Religion nur ein Glaubensartikel, werde letztere weichen müssen. Dem überzeugten Atheisten Dawkins ist jede Form der Religiosität ein Dorn im Auge. Es gebe gute und schlechte Gründe, an etwas zu glauben. Die guten Gründe beruhten auf der wissenschaftlichen Methode: Prognose, Prüfung und empirischer Beweis. Ihr verdankten wir die spektakuläre Zunahme unseres Wissens in den vergangenen Jahrhunderten, sie hätte uns von vielen Fesseln des Aberglaubens befreit. Schlechte Gründe, an etwas zu glauben, seien Tradition, Autorität und Offenbarung – charakteristische Merkmale der Religion. Sie sei, Dawkins zufolge, eine außer Kontrolle geratene Mär, die durch keine einzige empirische Tatsache untermauert werde. Trotzdem verstehe sie es, sich zu behaupten, denn Menschen glaubten nun einmal gern, was ihre Vorfahren schon seit Jahrhunderten geglaubt haben. Der Hinweis auf Dogmen und Autoritäten, denen die Wahrheit der Glaubenslehre offenbart worden sei, tue ein Übriges. Dawkins betrachtet Religion als ein gefährliches geistiges „Virus“, ein Mem, das immer wieder neue Generationen zu infizieren versteht. Den verschiedenen,
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zu einem ganzen Komplex gehörenden religiösen Memen geht es nur um eins: sich zu vermehren. Sie pflanzen sich fort, indem sie von Gehirn zu Gehirn springen und ihre Wirte dazu anspornen, neue Seelen zu fangen. Dies macht ein solches Memplex im Grunde unsterblich. Jede neue Generation ist ein williges Opfer seines hemmungslosen Fortpflanzungstriebs. Kinder sind nun einmal empfänglich für das, was die Erwachsenen ihnen erzählen, ob es nun unwahr, dumm oder schlichtweg schlecht ist. Jungen Kindern eine Religion einzuprägen, sei genau genommen eine Form der Gehirnwäsche. Es nütze nur den religiösen Memen. Gegen die Religion spreche auch, dass jede Glaubensrichtung für sich beanspruche, die einzig wahre zu sein. Menschen anderer Religionen gelten als unwissend oder ungläubig, was wiederum zu Konflikten und Gewalt führe. Keine Religion könne ihre Überlegenheit über eine andere beweisen, da ihre Überzeugungen nicht verifizierbar seien. Religion sei daher der natürliche Feind der Wissenschaft. In diesem Konflikt habe die Wissenschaft dank Kopernikus, Galilei und Darwin die Religion immer weiter zurückgedrängt, aber religiöser Obskurantismus bleibe gefährlich, solange Menschen Tradition, Autorität und Offenbarung höher einstuften als freie Forschung und empirischen Beweis. Kurzum, Religion sei eine regelrechte Beleidigung des gesunden Menschenverstands. Der 2002 verstorbene Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould, auch in wissenschaftlicher Hinsicht Dawkins Gegenpol, vertrat eine andere Meinung. Er war zwar Agnostiker, bezeugte in seinen Büchern und Essays jedoch Respekt vor der Religion. Er sang sogar in einem Kirchenchor, etwas, was man sich bei Dawkins wohl kaum vorstellen könnte. Nach Gould können Wissenschaft und Religion nicht miteinander in Konflikt geraten, weil sie sich auf völlig verschiedenen Ebenen bewegen. Wissenschaft erforscht empirische Tatsachen in der Welt der Natur, die Religion befasst sich mit dem Sinn des menschlichen Lebens und mit ethischen Fragen. Die Bibel lehrt uns, wie wir in den Himmel kommen, und nicht, wie er sich dreht. Wissenschaft und Religion könnten daher nicht über einander urteilen. Die Wissenschaft mische sich nicht in die Angelegenheiten der Religion, und die Religion nicht in die Angelegenheiten der Wissenschaft. Gould betrachtet Wissenschaft und Religion als zwei verschiedene „Magisteria“. Ein Magisterium ist ein Forschungs- und Lehrbereich, in dem ein bestimmter Diskurs geführt wird. Da Religion und Wissenschaft sich mit gänzlich verschiedenen Fragen beschäftigen, könne es keine Überschneidungen geben. Gould spricht von non-overlapping magisteria oder kurz NOMA. Dieses Konzept sei keine diplomatische Lösung, sondern eine prinzipielle Trennung der beiden Sphären. Beide geistigen Domänen seien legitim, doch keine solle sich mit dem Diskurs der anderen befassen. Auch der Philosoph Michael Ruse unterschreibt diese Auffassung. Religion und Wissenschaft widersprächen einander nicht, sie ergänzten und verstärkten einander vielmehr. Beide Bereiche könnten friedlich nebeneinander existieren. Ein Darwinist könne sicherlich ein Christ sein und umgekehrt.
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Goulds und Ruses versöhnliche Einstellung gegenüber der Religion ist auch insofern bemerkenswert, als beide Wissenschaftler in dem bereits erwähnten Prozess 1982 in Arkansas aufseiten der Kläger gegen den Kreationismus im Unterricht auftraten. Sowohl Gould wie Ruse bezeichneten damals Creation Science als Pseudowissenschaft, ein Urteil, dem sich das Gericht anschloss. Sie sollten also wissen, dass sich die moderne Wissenschaft im Allgemeinen und die Evolutionstheorie im Besonderen nicht mit einer wörtlichen Auslegung religiöser Lehrsätze versöhnen lässt. Man kann nicht gleichzeitig an die Schöpfungsgeschichte glauben und an die Evolution. Nicht umsonst ist die Evolutionstheorie in vielen Ländern aus religiösen Gründen mit einem Tabu belegt. Sie ist unvereinbar mit dem Theismus, mit der Vorstellung eines sich offenbarenden Schöpfergottes, der noch immer in das Weltgeschehen eingreift. Gould und Ruse klammern diese Inkompatibilität aus. Das NOMA-Prinzip, die Trennung der beiden Bereiche, kann nur in einer Welt funktionieren, in der tolerante Gläubige ihre eigene Glaubensüberzeugung cum grano salis nehmen. Leider ist die Realität eine andere. Religiöser Fanatismus führt zu Kreuzzügen, Inquisition und Terrorismus. Gould erkennt die Gefahren, doch er macht nicht die Religion dafür verantwortlich, sondern die weltliche Macht, die sie besitzt. Die Tatsache, dass Kreationisten und Anhänger des ID gegen das NOMA-Prinzip verstoßen, indem sie sich auf das Gebiet der Wissenschaft begeben, ist in seinen Augen keine religiöse, sondern eine politische Angelegenheit. Dawkins seinerseits ignoriert die Tatsache, dass sich die Evolutionstheorie durchaus mit dem Deismus verträgt, demzufolge Gott das Universum nur in Gang gesetzt hat und seitdem nicht mehr in den Lauf der Geschichte eingreift. Gegenüber der Religion sind übrigens viele verschiedene Einstellungen möglich. Nur extreme Positionen wie der Fundamentalismus und der Theismus sind mit der Evolutionstheorie unvereinbar, die gemäßigteren Richtungen sind im Allgemeinen nicht übermäßig wissenschaftsfeindlich. Man könnte auch auf die kulturellen Leistungen hinweisen, die sich der Religion verdanken, wie Michelangelos Fresken in der Sixtinischen Kapelle, die Kathedrale von Chartres oder Bachs Hohe Messe. Dawkins kühler, beißender Atheismus und die Heftigkeit seiner Religionskritik wirken auf viele abstoßend. Dylan Evans, Dozent für Computerwissenschaft an der Universität von Bristol, meinte in einem Beitrag für den Guardian, Dawkins habe wie kein anderer der Sache der Religion Vorschub geleistet, und plädierte daher für einen subtileren Atheismus, der Religion als eine Form der Kunst betrachte. Religion habe vitale Metaphern hervorgebracht, die die Sehnsucht des Menschen nach transzendenter Sinngebung stillten. Die ganze Inszenierung, Gott eingeschlossen, sei menschlichen Ursprungs, doch die Formgebung bisweilen großartig. Einige religiöse Weltanschauungen: – Fundamentalismus: Es gibt einen persönlichen Gott, der alles geschaffen hat. Alles, was geschieht, geschieht nach Gottes Willen. Die orthodoxeste und an-
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tiliberalste Form der Religion. Charakteristisch ist die feindselige Haltung gegenüber Andersdenkenden. Es wird nur ein einziges heiliges Buch anerkannt, dessen Vorschriften streng befolgt werden müssen. Theismus: Ähnelt dem Fundamentalismus, ist jedoch weniger dogmatisch und intolerant. Es gibt einen persönlichen Gott, der immer noch lenkend in die Schöpfung eingreift und sich etwa durch Wunder manifestiert. Gottes Existenz und seine Absichten offenbaren sich in heiligen Schriften. Andere Religionen werden zwar anerkannt, gelten jedoch als minderwertig. Es gibt monotheistische (nur ein einziger Gott) und polytheistische (mehrere Götter) Varianten wie den Hinduismus. Deismus: Es gibt einen Gott, doch seit der Schöpfung greift er nicht mehr in das Weltgeschehen ein. Er ist der Ingenieur, der die Mechanik des Universums in Gang gesetzt hat und nun die Naturgesetze walten lässt. Gott hat sich nicht in heiligen Schriften offenbart, diese sind Menschenwerk. Seine Absichten sind uns unbekannt. Entstand in der Aufklärung als Mittelweg zwischen Theismus und Atheismus. Pantheismus: Alles was ist, ist Gott, Gott ist identisch mit dem All. Ein berühmter Vertreter des Pantheismus war Spinoza. Außer Gott existiere keine andere Substanz. Spinoza nennt sie „Gott oder Natur“ (Deus sive natura). In Gott vereinen sich die schöpferische und die erschaffene Natur. Gott ist der Grund des Seins, ihr tiefstes Wesen. In der verwässerten Form des New Age neigt der Pantheismus zum Animismus, der der Natur und allen Dingen eine göttliche Seele zuschreibt. Etwasismus: Es gibt „etwas“ Höheres, das allem zugrunde liegt und im Staunen über das Sein erfahrbar ist. Erst kürzlich in der westlichen Welt unter den Vertretern der ersten Nachkriegsgeneration aufgekommen, die sich in den Sechziger- und Siebzigerjahren von der Kirche abwandten und heute, das Lebensende vor Augen, Spiritualität vermissen. Tendiert zu religiöser Verschwommenheit und zu Eklektizismus (von jeder Religion etwas). Der Begriff wurde von einem atheistischen Biologen geprägt. Humanismus: Die Frage, ob es einen Gott gibt oder nicht, ist irrelevant, denn der Sinn des Lebens liegt nicht außerhalb des Menschen, sondern in ihm. Eine überwiegend atheistische oder agnostische Orientierung, mit dem Deismus durchaus vereinbar. Man kann das Dasein auf verschiedene Weise erleben, doch man findet zu keiner Erkenntis einer höheren Wirklichkeit. Humanisten bestreiten nicht, dass Gott existieren könne, er sei nur nicht erfahrbar. Agnostizismus: Die Frage, ob es einen Gott gibt, ist nicht zu beantworten. Die menschliche Erkenntnis geht nicht über die wahrnehmbare Welt hinaus, daher lassen sich über die Existenz oder Nichtexistenz eines höheren Wesen prinzipiell keine Aussagen machen. Der Begriff Agnostizismus (latinisierte Form des griechischen agnostos = nicht erkennbar) wurde 1869 von Darwins „Bulldogge“ und bestem Freund Thomas H. Huxley geprägt.
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– Atheismus: Es gibt keinen Gott. Der Mensch hat ihn nach seinem eigenen Ebenbild geschaffen, er ist die Projektion der menschlichen Sehnsucht nach etwas Höherem. Schon dem griechischen Philosophen und Schriftsteller Xenophanes (selber Pantheist) fiel auf, dass die Äthiopier sich ihre Götter schwarz und stumpfnasig vorstellten, die Thraker dagegen blauäugig und rothaarig. Wenn Löwen Götter verehren würden, hätten ihre Götterbilder Löwengestalt. Höhere Metaphysik Ironischerweise beruht die moderne Evolutionstheorie auf dem Werk eines anglikanischen Geistlichen und eines Augustinermönchs: Darwin und Mendel. Vor Darwin war es schwierig, Atheist zu sein. Die Zweckmäßigkeit der Natur ließ sich nur mit der Annahme eines göttlichen Schöpfers erklären. Erst nach Darwin gab es eine wissenschaftliche Alternative: Evolution durch Variation, Selektion und Replikation. Darwin zeigte, dass die Zweckmäßigkeit der lebenden Natur das Ergebnis eines blinden algorithmischen Prozesses ist, die Entwicklung des Lebens nicht zielgerichtet abläuft und ihr kein Plan zugrunde liegt. Die Evolutionstheorie ist daher nicht kompatibel mit der Schöpfungsgeschichte und einer wörtlichen Auslegung religiöser Lehrsätze. Das Design-Argument ist nicht länger haltbar. Komplexe Strukturen setzen nicht notwendigerweise einen intelligenten Gestalter voraus. Von religiöser Seite hört man jedoch oft den Einwand, die Evolutionstheorie mache nur Aussagen über die Entwicklung des Lebens, seinen Ursprung könne sie nicht erklären. Habe dies nicht sogar Darwin selbst in seinem berühmten Schlusssatz der Entstehung der Arten anerkannt? Es liegt eine Größe in dieser Sicht des Lebens, dass es mit seinen verschiedenen Kräften ursprünglich [*] nur wenigen Formen oder gar nur einer einzigen eingehaucht wurde, und dass, während dieser Planet nach den Gesetzen der Schwerkraft seine Kreise zieht, aus einem so einfachen Anfange sich eine endlose Reihe der schönsten und wundervollsten Formen entwickelt hat und immer noch entwickelt.
An der Stelle des Sternchens hat Darwin selbst in der zweiten und allen späteren Auflagen by the creator, „vom Schöpfer“, hinzugefügt. Die drei Wörter sind jedoch nicht als Beleg für eine religiöse Umkehr aufzufassen, sondern als Zugeständnis an das Publikum, sie sind ein Sühneopfer, ein Kniefall vor dem religiösen Mitmenschen. Möglicherweise spielte auch Darwins Frau Emma hierbei eine Rolle. Wie dem auch sei, unstrittig ist, dass Darwin und seine Zeitgenossen über den Ursprung des Lebens völlig im Dunkeln tappten. Heute wissen wir mehr darüber. Die These, Gott habe der toten Materie Leben eingehaucht und die weitere Entwicklung sich selbst überlassen, wird von der modernen Molekularbiologie nicht bestätigt. Nach dem heutigen Wissensstand haben sich selbst replizierende Moleküle zu RNA entwickelt, dem Vorläufer der
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DNA, und die RNA-Moleküle wiederum zu den allerersten Protozellen. Selbstreplikation ist kein Mysterium, wir beobachten sie in primitiver Form schon bei Kristallen, und in Verbindung mit Variation führt sie automatisch zur kumulativen Selektion, was die Entstehung komplexerer und stabilerer Konfigurationen ermöglicht. Obwohl noch vieles nicht im Detail ergründet ist, gibt es vorläufig keinen Grund, eine übernatürliche Erklärung zu bemühen. Einen Deisten braucht das freilich nicht zu stören, er kann Gott noch weiter in die Vergangenheit zurückversetzen, bis zur Geburtsstunde des Sonnensystems oder des Universums. Er bedient sich dann des Gottesbeweises „aus der Bewegung“ (ex motu), der besagt, dass man, wenn man eine Kausalkette zurückverfolgt, schließlich zur ersten Ursache gelangt, aus der alles hervorgegangen ist, etwas, das seine Ursache in sich selbst hat. Aristoteles nannte dieses Weltprinzip den „unbewegten Beweger“. Heute sprechen Astrophysiker lieber vom Big Bang, vom Urknall, der vor etwa vierzehn Milliarden Jahren stattgefunden habe. Auf die Frage aber, was vor dem Urknall war oder was ihn ausgelöst hat, sei keine vernünftige Antwort möglich, da Materie, Raum und Zeit erst mit dem Urknall entstanden seien. Unser Deist wird dies als ein Armutszeugnis bezeichnen – wie kann ein sich immer rascher ausdehnendes Weltall aus dem Nichts entstanden sein? – und vielleicht wie schon Leibniz im 17. Jahrhundert die letzte oder erste metaphysische Frage stellen: „Warum gibt es überhaupt ETWAS und nicht NICHTS?“ Die Frage, warum es eher Etwas als Nichts gibt, hat Theologen und Philosophen in der Vergangenheit zur Formulierung des sogenannten kosmologischen Gottesbeweises geführt, des Gedankens, dass nur eine außerhalb unseres Universums liegende Kraft seine Existenz erklären könne. Die Welt könne nicht ex nihilo entstanden sein. Eine modernere Variante dieses Arguments ist das sogenannte anthropische Prinzip, das besagt, dass die physikalischen Naturkonstanten so genau aufeinander abgestimmt sind, dass sie die Entstehung des Universums, des Lebens und des menschlichen Bewusstseins ermöglicht haben. Solche Parameter sind etwa die Gravitation, die Masse und Ladung der Elementarteilchen und die Geschwindigkeit, mit der sich das Universum ausdehnt. Bei einer nur etwas anderen Feinabstimmung würde es uns und das Weltall, so wie wir es kennen, höchstwahrscheinlich nicht geben. Weist dies nicht doch auf einen Entwurf hin?, fragt der inzwischen leicht verzweifelte Deist. Nicht unbedingt. Aus den Naturkonstanten und der Existenz des Kosmos lässt sich nicht schließen, dass all das entworfen wurde oder notwendigerweise so und nicht anders aussieht. Aus dem einen folgt nicht das andere; aus der Tatsache, dass etwas existiert oder geschieht, folgt nicht, dass es nicht anders hätte sein können. Die Evolution des Kosmos und des Lebens hätte genauso gut anders verlaufen können, und dann würde es uns nicht geben. Die Tatsache, dass es uns gibt, weist darum nicht zwangsläufig auf höhere Zwecke, eine Vorbestimmung oder Notwendigkeit hin. Die Annahme eines Gottes wirft überdies wiederum mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Woher kommt Gott? Hat er sich
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selbst erschaffen oder ist er immer gewesen? Und wenn Gott ewig ist, ist er dann der Zeit enthoben oder vielmehr immerwährend? Der Gedanke, Gott sei die erste Ursache und der Auslöser des Urknalls, verlagert das Problem nur, denn wenn wir uns fragen, warum es ETWAS gibt und nicht NICHTS, gehört auch Gott zu dem ETWAS. Die Annahme eines Gottes wäre dann ein Zirkelschluss: Man nimmt das, was man beweisen will, als Voraussetzung für den Beweis. Schon Immanuel Kant widerlegte alle vermeintlichen Gottesbeweise. Kenntnis von Gott sei unmöglich, weil unsere Vernunft sich nicht über die Sinnenwelt erheben könne. Wenn es einen Gott gebe, dann befinde er sich in dem Reich jenseits der Erfahrung, die unserer Erkenntnis verschlossen sei. Da unsere Erkenntnis endlich und fehlbar ist, ist es sinnvoll, in der Wissenschaft und Philosophie keine unnötigen oder überflüssigen Postulate aufzustellen. Diese Maxime ist bekannt als „Ockhams Rasiermesser“, benannt nach dem im 14. Jahrhundert lebenden englischen Philosophen William of Ockham. Sie ist eine antimetaphysische „Waffe“, da sie vorschreibt, nicht mehr „Seiendes“ (Entitäten, Substanzen) anzunehmen, als logisch unbedingt notwendig. Ockhams Prinzip hält also zur Sparsamkeit an: Wenn zwei Theorien einen Sachverhalt gleich gut erklären, ist stets diejenige vorzuziehen, die den Sachverhalt am einfachsten erklärt, also diejenige, die von den wenigsten Annahmen ausgeht. Da die Annahme eines Gottes, der das Universum in Gang gesetzt hat, nicht nachprüfbar ist und daher unserem Wissen nichts hinzufügt, sollten wir sie rigoros abweisen. Hat sich der Glaube an etwas „Höheres“ damit definitiv als Hirngespinst erwiesen? Nein, dem desillusionierten Deisten kann geholfen werden. Man hat durchaus ernsthaft die These aufgestellt, die Säkularisierung habe sich in der westlichen Welt unter anderem auch deshalb so stark ausbreiten können, weil wir vor lauter Licht- und Luftverschmutzung den Sternenhimmel nicht mehr sehen. Ein ungehinderter Blick auf die Milchstraße wirkt Wunder. Er zeigt uns die Erhabenheit des Universums und die Nichtigkeit des Menschen. Angesichts eines sternenübersäten Nachthimmels stellen sich letzte Fragen wie von selbst. Der Deist kann unbesorgt sein, denn in den höheren Sphären der Metaphysik ist es jedem erlaubt zu glauben, was er will, solange er den Standpunkt der anderen respektiert und sich nicht in die Wissenschaft einmischt. Auf der Suche nach dem Gottesmodul Die Evolutionstheorie ist zwar mit einer deistischen Weltanschauung vereinbar, jedoch nicht mit einer theistischen, die religiöse Lehrsätze als verbindlich betrachtet. Schöpfung und Evolution schließen einander aus. Insofern muss man die Erklärung Papst Johannes Pauls II. 1996 zur Evolutionstheorie mit einer gewissen Skepsis betrachten. Nach der Lehrmeinung der katholischen Kirche kann der Körper des Menschen durch einen natürlichen Prozess aus früheren Lebensformen entstanden sein, doch die menschliche Seele ist unmittelbar von Gott
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geschaffen. Diese zwiespältige Ansicht wirft eine Reihe von Fragen auf. Etwa, was genau man unter Seele zu verstehen hat oder zu welchem Zeitpunkt sie in der Entwicklung dem Menschen eingepflanzt wurde. Da die Evolution graduell verläuft, gibt es keinen plötzlichen Sprung vom Affenmenschen zum Homo sapiens. Jede zeitliche Festlegung wäre rein willkürlich. Das Ockham’sche Prinzip rät zur ontologischen Sparsamkeit. Da uns das Postulat, Gott sei der Schöpfer der Seele, wissenschaftlich nicht weiterführt, sollte es außer Betracht gelassen werden. Der Versuch der katholischen Kirche, das Beste aus beiden Welten zu kombinieren, kann nur Verwirrung stiften. Wenn Gott nichts mit der Evolution zu tun gehabt hat, so hat aber vielleicht die Evolution zu Gott geführt. Denn in biologischer Hinsicht ist das Phänomen Religion keineswegs befremdlich. Alle in engen sozialen Verbänden lebenden Primaten benötigen Anführer, Individuen, die die Gruppe beschützen und die Rangordnung bestimmen. Der Mensch stellt in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar. Die Religion kommt diesem Bedürfnis nach Lenkung und Autorität entgegen. Sie fungiert als soziales Bindemittel, sie stärkt das Gefühl der Zusammengehörigkeit und der Solidarität innerhalb der Gruppe. Der Mensch ist außerdem das einzige Lebewesen auf diesem Planeten, das sich seiner Sterblichkeit bewusst ist. Das Jenseits, ein Leben nach dem Tod oder die Wiedergeburt sind tröstliche Vorstellungen. In allen Kulturkreisen begegnet uns der Glaube an eine metaphysische Ordnung, eine Dimension, in der der spirituelle Teil des Menschen überlebt. Religion gibt Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens und schenkt Geborgenheit in einem kalten und ziellosen Universum. Auch die vielen unbegreiflichen Vorgänge in der Natur konnten sich unsere Vorfahren mit einer übernatürlichen Kraft erklären. Hinter erschreckenden Naturphänomenen wie Blitz und Donner, Erdbeben oder Sonnenfinsternis sah man den Zorn der Götter. Manche Forscher meinen sogar, das Bedürfnis nach Spiritualität sei in unseren Genen angelegt. Religion ist nützlich. Gläubige scheinen länger zu leben, sind weniger depressiv, sind gesünder und haben durchschnittlich mehr Kinder als Ungläubige. Ein Religions-Gen wäre somit funktional und würde sich von selbst in einer Population ausbreiten. Es gibt zudem Hinweise darauf, dass religiöse Gefühle und Erlebnisse auf neuronale Vorgänge im Gehirn zurückzuführen sind. Die betreffende Hirnregion wird als God Spot, als „göttliches Zentrum“ oder „Gottesmodul“ bezeichnet. Bei Versuchspersonen in tiefer Meditation oder Gebet konnte eine erhöhte Aktivität im Schläfenlappen und im limbischen System festgestellt werden. Der Schläfenlappen steuert die Konzentration, während das limbische System der Verarbeitung von Emotionen und der Entstehung von Triebverhalten dient. Interessanterweise ging gleichzeitig die Durchblutung des oberen Scheitellappens drastisch zurück, in dem Bereich also, der unsere räumliche Orientierung und die Unterscheidung unseres Körpers von der übrigen Welt ermöglicht. Die Person fühlt sich eins mit dem Universum.
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Der Wissenschaftszweig, der Religiosität ausschließlich von ihrer neurobiologischen Grundlage her zu verstehen sucht, nennt sich Neurotheologie. Die Frage drängt sich auf, ob spirituelle Erfahrungen die beobachteten Aktivitäten im Gehirn auslösen oder ob sie von diesen hervorgerufen werden. Macht Gott den God Spot oder macht der God Spot Gott? Vielleicht sind beide ein und dasselbe. Gläubige werden sagen, Gott habe in unser Gehirn eine Art Antenne eingepflanzt, damit wir ihn klar und deutlich empfangen können. Interessanter und ergiebiger erscheint die Annahme, Religion sei das Resultat der Evolution durch natürliche Selektion, weil diese Hypothese zu einer ganzen Reihe neuer Fragen hinsichtlich des biologischen Ursprungs und der Funktion der Spiritualität führt. Es lässt sich jedoch auch nicht ausschließen, dass Religion überhaupt keine Funktion hat, zumindest nicht für uns. Wenn Dawkins, Blackmore und andere Memetiker recht haben, existiert Religion nur um ihrer selbst willen. Sie hat die Fähigkeit, immer wieder neue Kopien ihrer selbst herzustellen. In diesem Fall wären wir nur vorübergehende und manipulierbare Vehikel von im Prinzip unsterblichen Memen. Im Lauf der jüngsten Menschheitsgeschichte wurde das Phänomen der Religiosität verschieden gedeutet, etwa als Opium für das Volk (Marx), als kollektive Neurose (Freud) oder als soziales Bindemittel (Durkheim). Den meisten dieser und anderer moderner Deutungen ist gemeinsam, dass sie die Religion wegzuräsonieren suchen, was vielleicht dieser so typisch menschlichen Regung zu sehr Abbruch tut. Ehrfurcht vor dem Höheren und Unbegreiflichen und das Staunen über das Sein an sich ist wohl allen Menschen, Gläubigen wie Ungläubigen, eigen. Doch dieses Staunen braucht nicht unbedingt in Religiosität oder Spiritualtität zum Ausdruck zu kommen, es kann sich auch in der Kunst oder der Wissenschaft äußern. In einem seiner weniger bekannten Bücher, Der entzauberte Regenbogen, wendet Dawkins sich gegen die Auffassung, die moderne Wissenschaft entzaubere die Wirklichkeit. Sie habe diese ganz im Gegenteil bereichert und vertieft. Wissenschaft verstärke das Gefühl des Staunens. Am 1. Juli 2005 veröffentlichte die renommierte amerikanische Wissenschaftszeitschrift Science anlässlich ihres 125-jährigen Bestehens eine Sondernummer über große, noch ungeklärte Fragen der Wissenschaft (What don’t we know?), allerdings nur solche, von denen anzunehmen ist, dass sie in den nächsten 25 Jahren beantwortet werden könnten. Von den 125 Fragen erläuterte die Redaktion 25 näher. Die ersten drei lauten: „Woraus besteht das Universum?“, „Was ist die biologische Basis des Bewusstseins?“ und „Warum hat der Mensch so wenig Gene?“ Fast 60 Prozent der „Big Questions“ beziehen sich auf die (Evolutions-)Biologie. Es gibt in der Tat noch eine ganze Reihe von „Lücken“, die jedoch nicht auf eine prinzipielle Unzulänglichkeit der Wissenschaft hinweisen, sondern auf die Tatsache, dass sich diese Disziplin so rasch entwickelt hat: das Gebiet, das die Evolutionsbiologie sich erschließt, wird immer größer.
12 Evolution und Moral Die Grundlagen der Moral Von jeher haben die Menschen die Moral als etwas Höheres betrachtet, als etwas, das – um mit Dennett zu sprechen – an einem „Himmelshaken“ auf die Erde gelangte. Rechtgläubige Christen halten die Erkenntnis von Gut und Böse für eine Folge des Sündenfalls, wie er in der Genesis beschrieben steht. Im Garten Eden aß Eva, verführt von der Schlange, die verbotene Frucht vom Baum der Erkenntnis, und seitdem plagt den Menschen das Gewissen. Die Lehre von den moralischen Verpflichtungen, die Ethik, galt denn auch lange Zeit als eine rein theologische und philosophische Angelegenheit. Letztendlich beruhe die Moral auf einer übernatürlichen Grundlage, da unser sittliches Empfinden von Gott stamme. Dieser Auffassung zufolge ist Moralität dem Menschen, der Krone der Schöpfung, vorbehalten. Tiere kennen weder Gott noch seine Gebote. Diese Auffassung der Moral wird jedoch schon seit Längerem in Zweifel gezogen. Ethik habe keine absolute Grundlage und sei schon gar nicht übernatürlichen Ursprungs. Unsere Fähigkeit zu moralischem Handeln sei nicht gottgegeben, sondern vielmehr inhärenter Bestandteil unserer Natur. Das Moralempfinden komme nicht von „oben“, sondern von „unten“, es wurzele in einer durch die Evolution geformten angeborenen Veranlagung. So wie der Mensch ein angeborenes Sprachvermögen besitze, so verfüge er auch über ein natürliches „Moralvermögen“. Evolutionspsychologen und Soziobiologen sind der Ansicht, dass auch Entstehung und Entwicklung der Moral Gegenstand der Naturwissenschaften sein sollten. Edward O. Wilson, der Vater der Soziobiologie, ist gar überzeugt, die Erforschung der biologischen Wurzeln moralischen Verhaltens werde es uns ermöglichen, eine gerechtere und dauerhaftere Gesellschaftsordnung zu etablieren. Die Moralphilosophie werde Fortschritte erzielen, wenn man sie in einen naturwissenschaftlichen Zusammenhang stelle. Die Erkenntnisse der Evolutionsbiologie, der Primatologie und der Spieltheorie würden unser diesbezügliches Wissen vertiefen. Soziobiologen und Evolutionspsychologen glauben, dass ethische Systeme unter anderem aus der Notwendigkeit zur Konfliktbeherrschung und zur Kooperation hervorgegangen sind. Die Moral sei entstanden, um eine soziale Ordnung zu gewährleisten. Die Tatsache, dass Menschen ganz verschiedener Glaubensauffassungen häufig die gleichen moralischen Grundsätze befolgen, weise darauf hin, dass die Moral in unserer Natur verankert ist. Diebstahl, Vergewaltigung oder Mord würden nirgends toleriert, während Großzügigkeit, Uneigen-
DER GESELLSCHAFTSVERTRAG
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nützigkeit und Gemeinschaftssinn in fast allen Kulturen als Tugenden gelten. Die Moral sei daher vielleicht nicht so sehr das Produkt unserer Kultur und Zivilisation als vielmehr umgekehrt: Die Zivilisation sei das Resultat unserer in der Biologie wurzelnden Moral. Dem Primatologen Frans de Waal zufolge teilen wir das Moralempfinden mit anderen Säugetieren. Bei Menschenaffen wie Schimpansen und Bonobos lassen sich Gefühlsregungen wie Wut, Entrüstung, Scham oder Mitleid beobachten, die menschlichen Regungen sehr ähnlich sind. Manche Tiere besitzen offenbar eine Art Gewissen: Sie erkennen, dass es Regeln gibt, die man übertreten kann. De Waal und andere Forscher meinen, unsere Moral sei aus dem Bedürfnis nach Kooperation entstanden, einem Instinkt, den wir mit vielen anderen sozialen Tieren teilen. Zusammenarbeit beruht aus biologischer Perspektive, wie bereits im fünften Kapitel dargestellt, auf zwei Evolutionsmechanismen, der Verwandtenselektion und dem reziproken Altruismus. Der Gesellschaftsvertrag In früheren Jahrhunderten haben sich Philosophen immer wieder den Kopf darüber zerbrochen, wie es in einer egoistischen Welt ohne Obrigkeit zur Kooperation kommen kann. Eine berühmte Antwort auf diese Frage gab im 17. Jahrhundert der englische Philosoph Thomas Hobbes. Vor der Gründung des Staates, so Hobbes, lebten die Menschen in einem Naturzustand, in dem der „Krieg aller gegen alle“ herrschte. Durch den rücksichtslosen Wettbewerb zwischen den eigennützigen Individuen war das Leben „einsam, armselig, scheußlich, tierisch und kurz“. Das einzige Heilmittel gegen diese Anarchie sei die Übertragung der Macht auf einen Souverän. Dieser garantiere den Menschen Sicherheit, verlange dafür jedoch die Einhaltung von Regeln. Durch einen solchen Gesellschaftsvertrag zwischen Volk und Souverän verwandele sich der Naturzustand in eine civil society, in eine Gesellschaft, in der die Rechte der Bürger durch den Staat verteidigt werden. Die Bürger unterwerfen sich dem Souverän, der für Ordnung in der Gesellschaft sorgt. Andere Denker, wie der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau, gaben eine andere Antwort auf die Frage, wie eine Gesellschaftsordnung zustande kommt. Im Unterschied zu Hobbes postuliert Rousseau, dass die Menschen im Naturzustand tugendhaft seien. Er entwirft das Bild des edlen Wilden, der im Einklang mit der Natur und ihren Geschöpfen lebt. Bevor Eigentum und Staatsordnung eingeführt wurden, hätten die Menschen frei und ebenbürtig miteinander gelebt. Erst die gesellschaftliche und politische Ordnung habe den Menschen korrumpiert und die Harmonie zerstört. Mit anderen Worten, die Zivilisation macht den Menschen unfrei, ungleich und dekadent. Eine von Rousseaus bekanntesten Parolen lautet denn auch: Zurück zur Natur! Natürlich kann Rousseau Hobbes’ Vorschlag, einen Gesellschaftsvertrag mit einem Souverän oder einem Staat zu schließen, nicht billigen. Statt für einen Unterwerfungsvertrag plädiert er für einen Eini-
230
EVOLUTION UND MORAL
gungsvertrag. Der Mensch unterwirft sich nicht einem Souverän, sondern der Gemeinschaft, dem allgemeinen Willen, der volonté générale. Auf diese Weise erreicht er wieder Tugend und Harmonie des Naturzustandes. Eine Art Zwischenposition nimmt im 18. Jahrhundert der schottische Philosoph Adam Smith ein. Man könne die Gesellschaft zwar auf verschiedene Art und Weise einrichten, doch das „natürlichste“ System sei die freie Marktwirtschaft, in der die Bürger – unter Einhaltung bestimmter Gesellschaftsregeln – ihren eigenen Wohlstand zu vermehren trachten. Ein solches System, meint Smith, komme durch die zahlreichen Geschäfte zwischen den Bürgern sozusagen „spontan“ zustande. Der Wohlstand der Nationen, das Zusammenwirken der Menschen werde von „einer unsichtbaren Hand“ (invisible hand) gelenkt. Es entstehe sehr bald eine Arbeitsteilung, die zur wechselseitigen Abhängigkeit führe. Wir können nicht alle Bäcker, Metzger, Brauer und Schornsteinfeger zugleich sein. Die Gesellschaftsordnung wird nicht zielbewusst entworfen, sondern kommt von selbst zustande. Smith und andere klassische liberale Denker gehen von mündigen Bürgern aus, die auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind. Das kommt der Gesellschaft insgesamt zugute. Die Tatsache, dass Menschen einander helfen, wird im alltäglichen Leben eigentlich nie als Problem gesehen, sehr wohl aber in der Biologie. Die Frage stellt sich nämlich, wie sich Kooperation und Gemeinschaftssinn in einer durch Selbstsucht gekennzeichneten darwinistischen Welt behaupten können. Eigennütziges Verhalten lässt wenig Raum für Empathie, Aufopferung und Mitgefühl, ganz zu schweigen von einer höheren Moral. Smith meint, Kooperation und Ordnung seien möglich, ohne dass diese von einer Obrigkeit auferlegt würden. Doch wie kann die Selbstsucht Einzelner der Gesellschaft insgesamt zugute kommen? Warum werden gutwillige Individuen nicht systematisch ausgebeutet? Warum wird die Gesellschaft nicht von Profiteuren ins Wanken gebracht, die sich das kooperative System zunutze machen, ohne dafür eine Gegenleistung zu erbringen? Und welches Prinzip liegt unserer Bereitschaft zugrunde, miteinander zu kooperieren? Sollte Kooperation eine Strategie sein, die letztlich auch auf Eigennutz beruht? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir das Problem formalisieren. Dies geschieht in der Spieltheorie. Die Spieltheorie Die Spieltheorie wurde 1944 von dem Mathematiker John von Neumann und dem Wirtschaftswissenschaftler Oskar Morgenstern begründet. Die beiden hatten eine mathematische Theorie entwickelt, mit der sich ökonomische Prozesse erklären und verdeutlichen ließen. Doch schon bald zeigte sich, dass die Spieltheorie einen weit größeren Anwendungsbereich hatte, denn in den darauffolgenden Jahrzehnten setzte sie sich auch in anderen Disziplinen durch, wie etwa in der Polito-
DIE SPIELTHEORIE
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logie und der Evolutionsbiologie. Seitdem ist die Spieltheorie ein unverzichtbares Instrument für die Erforschung der Evolution der Kooperation. In der Spieltheorie wird ein Konflikt oder eine Interaktion zwischen zwei oder mehr Parteien als ein „Spiel“ aufgefasst, wobei die Teilnehmer eine bestimmte Taktik, eine Strategie verfolgen. Man denke an Konflikte im Verkehr, im Geschäftsleben oder in der Politik. Die Spieltheorie sucht zu analysieren, was geschieht, wenn sich alle Teilnehmer an einem solchen Spiel rational verhalten. „Rational“ bedeutet, dass jeder seinen Ertrag (payoff) zu maximieren versucht. Anders gesagt, in jedem Spiel versucht jeder, den maximalen Vorteil zu erzielen (wie wir sehen werden, sind auch Tiere an solchen Spielen beteiligt). Davon ausgehend, dass sich alle anderen Spieler ebenfalls rational verhalten, also nach maximalem Profit streben, entwickelt jeder Teilnehmer die für ihn beste Strategie. Manchmal konkurrieren Interessen miteinander, manchmal überschneiden sie sich. Was ist bei einer solchen Gemengelage unterschiedlicher Interessen die beste Strategie? Gibt es überhaupt eine solche? Und was ist das Resultat für das Kollektiv, wenn jeder auf den eigenen Vorteil bedacht ist? Ist Kooperation dann überhaupt noch möglich? In der Spieltheorie unterscheidet man zwischen sogenannten NullsummenSpielen (zero-sum) und Nicht-Nullsummen-Spielen (non zero-sum). Bei Nullsummen-Spielen gibt am Ende einen Verlierer und einen Gewinner. Man denke etwa an ein Tennismatch: Der Sieg des einen bedeutet automatisch die Niederlage des anderen. Nicht-Nullsummen-Spiele sind viel interessanter. Es besteht nämlich zusätzlich die Möglichkeit, dass beide Teilnehmer verlieren bzw. gewinnen. Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Es gibt zwei Spieler, Hans und Marie. Das „Spiel“ ist eine Verkehrssituation: Hans und Marie sind zwei Autofahrer, die aus entgegengesetzter Richtung auf eine schmale, einspurige Brücke zufahren. Hans und Marie haben jeweils zwei Möglichkeiten: weiterfahren oder anhalten. Insgesamt gibt es also vier mögliche „Strategien“, nämlich: (a) Hans lässt Marie den Vortritt (b) Marie lässt Hans den Vortritt (c) Hans und Marie halten beide an (d) Hans und Marie fahren gleichzeitig weiter.
Marie Anhalten
Weiterfahren
Anhalten
0,0
1,1
Weiterfahren
1,1
0,0
Hans Abb. 12.1: Die schmale Brücke I.
232
EVOLUTION UND MORAL
Es dürfte deutlich sein, dass (a) und (b) (c) und (d) vorzuziehen sind. Wir können die vier Ergebnisse schematisch veranschaulichen. Jedes Ergebnis wird mit einer Auszahlung (payoff) verbunden. Die Strategien (c) Anhalten-Anhalten und (d) Weiterfahren-Weiterfahren sind weder für Hans noch für Marie von Vorteil. Der Payoff beträgt nämlich für beide null Punkte. Die beiden anderen Strategien (a) und (b) bringen mehr ein, nämlich jeweils einen Punkt. Das Problem ist jedoch, dass Hans und Marie nicht wissen, was der andere vorhat. Sie werden vielleicht eine Weile höflich warten, bis ihnen die Geduld ausgeht. Beide geben dann Gas und stoßen frontal zusammen. Mit anderen Worten, es gibt für dieses Spiel keine eindeutige Lösung, keine Gewinnsituation. Oder genauer gesagt: Es gibt zwei Lösungen, nämlich (a) und (b), und gerade das sorgt für Unsicherheit bei den Spielern. Die Situation könnte sich jedoch ändern, wenn Hans und Marie einander öfter an der Brücke begegnen. Es könnte dann zu einer stillschweigenden Übereinkunft kommen („Ladys first“). Diese Lösung wäre für beide Spieler am besten: Hans lässt Marie den Vortritt. Marie Anhalten
Weiterfahren
Anhalten
0,0
2,2
Weiterfahren
1,1
0,0
Hans Abb. 12.2: Die schmale Brücke II.
Durch derartige Konventionen lassen sich zum Nutzen aller Parteien Konflikte vermeiden. Wir machen im sozialen Umgang täglich Gebrauch von solchen Regeln und Absprachen, die der Kooperation dienen. Die Frage bleibt jedoch weiterhin offen, wie solche Regeln eigentlich zustande kommen. Das Gefangenendilemma Es gibt auch Spiele, bei denen sich die Interessen der Teilnehmer teils überschneiden und teils miteinander in Konflikt geraten. Der Payoff hängt dann vom Handeln des Gegners ab. Hier wird die Spieltheorie erst richtig interessant, denn es stellt sich nun die Frage, wann man wohl und wann nicht zusammenarbeiten soll. Die Strategie unbedingter Uneigennützigkeit ist in diesem Fall keine Option, weil sie dieses Problem nicht lösen kann. Manchmal ist es einfach vernünftiger, nicht zu kooperieren, denn unbedingter Altruismus wird rasch ausgenutzt. Das berühmteste Beispiel eines solchen Spiels mit gemischten Strategien ist das sogenannte Gefangenendilemma. Zwei Personen werden verdächtigt, ge-
DAS GEFANGENENDILEMMA
233
Marie Schweigen
Verraten
Schweigen
2½, 2½
1, 10
Verraten
10, 1
5, 5
Hans Abb. 12.3: Gefangenendilemma
meinsam eine Straftat begangen zu haben, sagen wir einen bewaffneten Banküberfall. Nennen wir die Tatverdächtigen der Einfachheit halber wieder Hans und Marie. Die Polizei hat konkrete Anhaltspunkte, dass beide am Überfall beteiligt waren, doch ein Geständnis würde die Sache natürlich vereinfachen. Beide müssen auf jeden Fall mit einer Gefängnisstrafe rechnen, die Frage ist nur, wie hoch sie ausfällt. Hans und Marie werden getrennt verhört. Beiden wird ein Strafnachlass in Aussicht gestellt, wenn sie ein Geständnis ablegen und den anderen als Hauptschuldigen belasten. Wer gesteht und den anderen verrät, bekommt eine Gefängnisstrafe von nur einem Jahr, der andere, der Hauptverantwortliche, zehn Jahre. Verrat ist also verlockend, es sei denn, der andere kalkuliert genauso. Wenn beide einander verraten, drohen nämlich jedem fünf Jahre Haft. Die beste Strategie wäre also, wenn beide schwiegen, dann würden beide jeweils zweieinhalb Jahre bekommen (siehe Abb. 12.3). Die Zahl vor dem Komma gibt die Höhe der Gefängnisstrafe für Hans an, die Zahl nach dem Komma die für Marie. Was sollen Hans und Marie nun tun? Was ist die beste Strategie? Versetzen wir uns in die Lage von Hans. Er weiß, Marie kann entweder schweigen oder ihn verraten. Wenn Marie schweigt, ist es für ihn am vorteilhaftesten, wenn er sie verrät. Er bekommt dann nur eine Haftstrafe von einem Jahr, während Marie für zehn Jahre hinter Gitter muss. Aber auch wenn Marie gesteht und ihn verrät, ist es für Hans vorteilhafter, sie zu verpfeifen. Er bekommt dann zwar eine Haftstrafe von fünf Jahren, aber das ist immer noch besser als die zehn Jahre für den Fall, dass er schweigt. Wie immer Marie auch entscheidet, für Hans scheint es in jedem Fall das beste, sie zu belasten. Nun gilt natürlich das Gleiche auch für Marie. Was immer Hans tut, für sie ist es am vorteilhaftesten, wenn sie ihren Partner verrät. Indem beide versuchen, ihren Payoff zu maximalisieren, verpassen sie die optimale Lösung! Würden sie nämlich beide schweigen, müsste jeder statt für fünf nur für zweieinhalb Jahre hinter Gitter. Der springende Punkt ist also, dass ihre individuelle Rationalität – das Streben nach dem größtmöglichen Vorteil – nicht zur optimalen Lösung führt. Nun könnte man meinen, Hans und Marie verpassten deshalb ihre Chance, weil sie sich nicht miteinander beraten können. Gönnte man ihnen nur ein paar Minuten zu zweit, würden sie bestimmt verabreden, beide zu schweigen. Doch
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EVOLUTION UND MORAL
das ist noch sehr die Frage. Angenommen, sie könnten sich in der Tat einige Minuten ohne Aufsicht unterhalten, dann würden sie sich wahrscheinlich in der Tat gegenseitig versprechen dichtzuhalten. Doch in die Zelle zurückgekehrt, würde jeder für sich wieder vor dem gleichen Dilemma stehen, stärker noch, die Versuchung, den anderen zu verraten, wäre nun noch größer, denn beide werden es nun durchaus für möglich halten, dass sich der andere an das Versprechen hält und schweigt. Auf den ersten Blick kann man also aus dem Gefangenendilemma nur ein düsteres Fazit ziehen: Rationalität führt nicht zur Kooperation. Wenn Hans und Marie also auf diesem Weg versuchen, ihre Interessen durchzusetzen, haben beide das Nachsehen. Nur auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein, scheint nicht den erwünschten Erfolg zu haben. Das Affendilemma Doch die pessimistische Schlussfolgerung ist etwas voreilig, die Sache ändert sich nämlich, wenn sich beide Spieler wiederholt in der gleichen Situation befinden. Wenn das Spiel öfter gespielt wird, spricht man von einem wiederholten Gefangenendilemma. Eingefleischte Kriminelle wie Marie und Hans werden sich wahrscheinlich noch des Öfteren auf der Polizeiwache wiederfinden. Sie werden dann dahinterkommen, dass es für beide am besten ist, einander zu vertrauen und zu schweigen. Um zu sehen, wie sich ein solches Vertrauen bilden kann, ist es nützlich, eine andere Version des Spiels durchzuspielen. Es ist formal das Gleiche wie das Gefangenendilemma, nur die Hauptdarsteller und der Rahmen sind anders. Statt Hans und Marie haben wir es nun mit einer Affengruppe zu tun. Affen tun nichts lieber, als sich zu kraulen und von Flöhen zu befreien. Es gibt allerdings eine Stelle auf dem Rücken, die sie nicht erreichen können. Dafür gäbe es eine einfache Lösung: Die Affen brauchten nur bereit zu sein, miteinander zu kooperieren. Erst kraule ich dich und danach du mich. Wenn die Affen das Spiel nur einmal spielen, handelt es sich wieder um das gleiche Dilemma wie im vorigen Spiel zwischen Hans und Marie. Es ist nämlich verlockend, den anderen zu betrügen: Sobald er mich gekrault hat, mache ich mich aus dem Staub. Für den einzelnen Affen ist es daher am vernünftigsten, wenn er betrügt, denn dann geht er das geringste Risiko ein, selber ausgenutzt zu werden (siehe Abb. 12.4). Versetzen wir uns in den Affen B. Was auch immer Affe A tut, für den Affen B ist Betrügen am vorteilhaftesten. Wenn Affe A kooperiert, wird er gekrault, braucht sich aber nicht zu revanchieren. Wenn Affe A ihn betrügt, tut Affe B am besten das Gleiche, denn sonst muss er seinen Artgenossen kraulen, ohne selbst von den Flöhen befreit zu werden. Das gilt natürlich auch für Affe A. Beide Affen werden also zu dem Schluss kommen, dass Betrügen die beste Strategie ist. Da alle Affen auf den maximalen Payoff aus sind, ist das Endergebnis, dass sich jeder weiterhin selbst krault. Aus mangelndem Vertrauen verpassen sie die optimale
WECHSELSEITIGER ALTRUISMUS
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Affe A Kooperieren
Betrügen
Kooperieren
A und B werden gekrault
B muss A kraulen, wird aber selbst nicht gekrault
Betrügen
B wird gekrault, krault aber A nicht
Weder A noch B werden gekrault
Affe B
Abb. 12.4: Affendilemma (wiederholtes Gefangenendilemma)
Lösung – sich gegenseitig zu kraulen – und müssen sich mit dem schrecklichen Juckreiz an der unerreichbaren Stelle abfinden. Doch Affe A und Affe B begegnen sich öfter, und nach einigen Malen fällt Affe A nicht mehr auf den ständig betrügenden Affen B herein. Doch es kann auch sein, dass beide allmählich Vertrauen zu einander fassen. So entsteht eine vorsichtige Kooperation, ohne die eine optimale Lösung nicht möglich ist. Wenn die Affen an einer Stelle gekrault werden wollen, die sie selber nicht erreichen können, müssen sie etwas investieren. Erst kraule ich dich, dann kraulst du mich. So können beide ihre Strategie aufeinander abstimmen, und es kommt zu einer Kooperation auf der Grundlage der Gegenseitigkeit. Zudem besteht die Gruppe aus mehr als zwei Mitgliedern, was es erleichtert, einen unwilligen gegen einen kooperationsbereiten Artgenossen einzutauschen, der mehr Vorteile verspricht. Wechselseitiger Altruismus Der Begriff des reziproken Altruismus stammt von dem Soziobiologen Robert Trivers. Die Strategie beruht auf dem Prinzip „eine Hand wäscht die andere“. Wechselseitiger Altruismus bedeutet, dass jemand seine Energie und Aufmerksamkeit zeitweise einem anderen schenkt und dafür irgendwann eine „Gegenleistung“ erwartet. Es ist daher wichtig, Profiteure rechtzeitig zu erkennen. Wenn jemand ein paar Mal hereingefallen ist, muss er es den Betrüger spüren lassen. Wir treffen im Alltag dauernd solche Abwägungen. Wenn wir einen Bekannten einige Male zum Essen eingeladen haben und er revanchiert sich nie, lassen wir es irgendwann bleiben. Der Deutlichkeit halber sei gesagt: Gegenseitigkeit finden wir auf verschiedenen biologischen Ebenen, sogar bei Pflanzen, Schimmeln und Mikroben. Manche Organismen profitieren von der Nähe anderer, es kommt zu einem Abhängigkeitsverhältnis. In den meisten Fällen betrifft das ein Zusammenleben gänzlich verschiedener Arten, wie Vögel, die Krokodilen auf der Suche nach Insekten
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EVOLUTION UND MORAL
ins Maul kriechen, oder Insekten, die im Tausch für Nektar Blumen bestäuben. Wir sprechen dann von Mutualismus oder Symbiose (griechisch symbíosis = das Zusammenleben). Das Verhalten ist ganz und gar genetisch festgelegt, die Organismen sind aufeinander angewiesen. Das Krokodil wird denn auch nicht zuschnappen, nachdem ihm der Vogel den Rachen gesäubert hat. Sein Instinkt sagt ihm, das professionelle Putzer selten sind. Den symbiotischen Beziehungen zwischen Lebewesen liegen also keine bewussten Motive zugrunde, dem reziproken Altruismus hingegen sehr wohl. Letzterer setzt auch ein gutes Gedächtnis und Emotionen voraus und kommt nur bei höheren Tieren vor. Da die Individuen sich ständig neu orientieren müssen, müssen sie einander erkennen und sich an frühere Begegnungen erinnern können. Wechselseitiger Altruismus kann nur funktionieren, wenn irgendwann eine Gegenleistung erbracht wird und Betrüger bestraft werden. Die Kooperation ist also nicht programmiert wie im Fall der Symbiose, die Individuen müssen jeweils entscheiden, ob sie zusammenarbeiten oder nicht. Das Kriterium bei dergleichen Abwägungen ist die Gegenseitigkeit. Einen notorischen Trittbrettfahrer muss man abblitzen lassen, wenn er wieder einen Tauschhandel vorschlägt. Viel klüger ist es, sich auf einen Artgenossen einzulassen, der sich bereits kooperativ gezeigt hat. Die früheren Erfahrungen bestimmen so die Strategie. Alle höheren, sozial lebenden Tiere wenden diese Verhaltensregeln an. Ein schönes Beispiel für diese Art Gegenseitigkeit finden wir bei der südamerikanischen Gemeinen Vampirfledermaus (Desmodus rotundus). Sie ernährt sich ausschließlich von dem Blut, das sie nachts anderen Säugetieren wie Pferden und Kühen mithilfe ihrer scharfen Zähne abzapft. Ihr Speichel enthält gerinnungshemmende Substanzen, die wahrscheinlich sogar schmerzlindernd wirken. Doch nicht immer sind die Fledermäuse erfolgreich, manch eine kehrt mit leerem Magen zum Unterschlupf zurück, meist eine Höhle oder ein hohler Baum. Dies ist nicht ohne Risiko, denn mindestens alle drei Tage braucht der Vampir ein warmes Mahl, sonst verhungert er. Wie der amerikanische Biologe Gerald Wilkinson herausgefunden hat, sind erfolgreiche Vampire in diesem Fall bereit, die Nahrung mit darbenden und bettelnden Artgenossen zu teilen. Großzügig würgen sie das Blut aus ihrem Magen in das Maul eines anderen. Erstaunlicherweise erstreckt sich diese Fürsorge nicht nur auf Verwandte wie den eigenen Nachwuchs, sondern auch auf nicht verwandte Artgenossen in der Gruppe. Die Kooperation beruht nicht auf Verwandtenselektion, sondern ausschließlich auf Gegenseitigkeit: Ein generöser Vampir kann in einer weniger erfolgreichen Nacht damit rechnen, dass ihm der, dem er geholfen hat, etwas abgibt, während ein Schmarotzer seine gerechte Strafe bekommt und leer ausgeht. Die Fledermäuse leben im Allgemeinen in einer engen Gemeinschaft. Sie kennen einander daher gut und haben öfter die Kooperationsbereitschaft der anderen testen können, eine Voraussetzung für das Spielen des wiederholten Gefangenendilemmas. Individuen, die ihren Verpflichtungen
DER TRIUMPH VON TIT-FOR-TAT
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nachkommen, werden belohnt, Betrüger werden geächtet und aus der „Blutsbrüderschaft“ ausgeschlossen. Die Spieltheorie verdeutlicht, dass es vorteilhafter ist, zu kooperieren, als dies nicht zu tun. Dies gilt sowohl für Hans und Marie als auch für die Affen und die Vampirfledermäuse. Nur bei auf Gegenseitigkeit gegründeter Zusammenarbeit kann die optimale Lösung des „Spiels“ gefunden werden. Eine Kooperationsstrategie ist erfolgreicher als eine Strategie, bei der die Teilnehmer einander ständig zu übervorteilen versuchen oder gänzlich auf Zusammenarbeit verzichten. Kooperation lohnt sich, zumindest solange man die richtigen Partner auswählt. Spieltheoretiker und Evolutionsbiologen haben sich daher die folgende interessante Frage gestellt: Ist eine Gruppe kooperierender Individuen möglicherweise stabil in dem Sinn, dass Egoisten und Betrüger sie nicht mehr unterwandern können? Wenn dies der Fall wäre, hätten wir es mit einer sogenannten Evolutionär Stabilen Strategie (ESS) zu tun. Der Betriff stammt von dem englischen Biologen John Maynard Smith. Man kann die ESS wie folgt definieren: Eine ESS ist eine Strategie, die, wenn sie von den meisten Mitgliedern einer Population aufgegriffen wird, nicht durch eine andere Strategie verbessert werden kann. Sobald sich eine ESS durchgesetzt hat, wird sie auch weiter bestehen. Jede Abweichung von der ESS wird nämlich durch die natürliche Selektion bestraft. Der amerikanische Spieltheoretiker Robert Axelrod hat sich mit dieser Frage befasst. Er wollte wissen, ob und wie Kooperation entstehen und sich in einer Welt mit vielen alternativen Strategien behaupten kann. Axelrod begann seine Untersuchung mit den folgenden drei Annahmen: – Kooperation kann in einer Welt eigennütziger Individuen entstehen, und zwar auf Basis von Gegenseitigkeit. Zusammenarbeit ist lohnender als Egoismus. – Eine Kooperationsstrategie kann sich in einer Welt durchsetzen, in der viele verschiedene Strategien ausprobiert werden. Kooperation kann die beste Strategie sein. – Wenn sich die auf Gegenseitigkeit beruhende Kooperation durchgesetzt hat, kann sie sich vor der „Invasion“ durch weniger kooperative Strategien schützen. Betrüger haben dann keine Chance, die Population zurückzuerobern. Der Triumph von Tit-for-Tat Um seine Hypothesen zu prüfen, schrieb Axelrod 1979 ein Computer-Turnier zum wiederholten Gefangenendilemma aus. Eine Reihe von Spieltheoretikern, Evolutionsbiologen und anderen Wissenschaftlern beteiligten sich und sandten Computerprogramme ein. Das Spiel war gänzlich formalisiert, das heißt, die Programme konnten nur Punkte verdienen (siehe Abb. 12.5). Es gingen vierzehn Vorschläge namhafter Wissenschaftler aus fünf verschiedenen Disziplinen ein. Jedes Programm trat gegen jedes andere und gegen sich
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EVOLUTION UND MORAL
Programm A Kooperiert
Defektiert
Kooperiert
Beide 3 Punkte
A: 5 Punkte B: 0 Punkte
Defektiert
A: 0 Punkte B: 5 Punkte
Beide 1 Punkt
Programm B
Abb. 12.5: Robert Axelrods Computer-Turnier
selbst an. Zudem fügte Axelrod zum Vergleich noch ein Programm mit dem Namen Random hinzu, das eine Zufallsstrategie verfolgte. Insgesamt kam es während des Turniers also zu (15 x 15 = ) 225 Konfrontationen. Nachdem jedes Paar jeweils 200 Züge gespielt hatte, wurden die Punkte addiert. Maximal konnte ein Programm (200 x 5) x 15 = 15 000 Punkte erreichen und minimal 0. Keiner dieser beiden Extremwerte wurde erreicht. Die höchste Punktezahl, die ein Programm in einer Spielrunde erzielte, lag durchschnittlich bei 600, denn zwei kooperierende Strategien erhalten jeweils 200 x 3 Punkte. Programme, die ihren Gegenspieler übers Ohr zu hauen versuchten, schnitten bedeutend schlechter ab, da der andere dann gleichfalls defektierte. Um nicht ausgenutzt zu werden, war bei den meisten eingesandten Programmen nämlich eine Art von Vergeltungsverhalten eingebaut. Sieger des Turniers wurde das Programm Tit-for-Tat („wie du mir, so ich dir“) des gebürtigen russischen Psychologen und Spieltheoretikers Anatol Rapoport, Professor an der Universität von Toronto. Es war zugleich auch das einfachste der teilnehmenden Programme. Es folgte einer simplen Instruktion: Verhalte dich im ersten Zug immer kooperativ und kopiere anschließend immer den vorhergehenden Zug des anderen. Die meisten anderen Programme versuchten ihre Gegner zu überlisten, etwa indem sie ein paar Mal kooperierten und dann plötzlich defektierten. Doch diese „gemeinen“ Strategien zahlten sich auf die Dauer nicht aus. Eine Strategie, die immer defektiert, gewinnt zwar im direkten Duell mit Tit-for-Tat, da sie beim ersten simultan gespielten Zug den gesamten Payoff von fünf Punkten einstreicht, und diesen Vorsprung kann Tit-for-Tat nicht mehr einholen. Doch in dem Turnier ging es letztendlich um die Gesamtpunktzahl. Tit-for-Tat brauchte im Prinzip kein einziges individuelles Duell zu gewinnen, doch die Niederlagen gingen mit hohen Punktzahlen einher. Auch im Spiel gegen sich selbst erzielte das Programm viele Punkte. Zwei Tit-for-Tats werden immer vorbildlich zusammenarbeiten und jeweils drei Punkte verdienen. Es ist daher wichtig, dass die Spieler, die an dem wiederholten Gefangenendilemma teilnehmen, nicht wissen, wie viele Runden gespielt werden. Wüssten sie es nämlich, hätten sie es jeweils wieder mit einem einfachen, einmaligen Gefan-
IST TIT-FOR-TAT EINE EVOLUTIONÄR STABILE STRATEGIE?
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genendilemma zu tun. Wie wir sahen, ist es in einem solchen Fall die beste Entscheidung, die Zusammenarbeit zu verweigern. (Da keine Absprache möglich ist, steht die vorteilhafteste Lösung – dass nämlich beide schweigen – nicht zur Verfügung.) Angenommen, man weiß, dass man nur zehnmal gegen einen anderen spielt, dann ist die letzte Runde eigentlich überflüssig, denn es ist abzusehen, dass beide Spieler defektieren. Doch gilt dies auch für die neunte Runde und die achte und so weiter. Mit anderen Worten, wenn ein wiederholtes Gefangenendilemma endlich ist, die Spieler also vorher über die Zahl der Runden Bescheid wissen, ist die vernünftigste Strategie, immer zu betrügen. Wenn die Zahl der Spiele hingegen unbekannt ist, kann sich Kooperation lohnen. In Axelrods Sprache ausgedrückt: „Der Schatten der Zukunft muss lang sein.“ In diesem Fall ist für beide Spieler die Versuchung kleiner, einander zu betrügen, da sie riskieren, im nächsten Spiel die Quittung zu bekommen. Zu Vergleichszwecken und um Zufallsfaktoren auszuschließen, organisierte Axelrod in den Achtzigerjahren ein zweites Turnier, an dem viel mehr Programme teilnahmen, nämlich insgesamt 62 aus sechs verschiedenen Ländern (mit dem Programm Random also 63). Die Einsendungen stammten unter anderem von Spieltheoretikern, Informatikern, Ökonomen, Mathematikern und Evolutionsbiologen. Alle Teilnehmer hatten zudem eine gründliche Analyse des ersten Turniers erhalten. Es waren daher höher entwickelte Programme zu erwarten. Tatsächlich waren manche Strategien äußerst erfinderisch, etwa, indem sie zuerst den Gegner durch ständige Kooperation einschläferten, um dann plötzlich zu „defektieren“ (sich antikooperativ zu verhalten). Andere versuchten herauszufinden, wie der Gegenspieler auf plötzlichen Betrug reagiert. Folgte keine Vergeltung, konnte man den naiven Trottel weidlich ausbeuten. Auch dieses zweite Turnier gewann überraschenderweise Rapoports Programm Tit-for-Tat! Obwohl alle Teilnehmer über seine Taktik Beschweid wussten, war es niemandem gelungen, sich eine bessere auszudenken. Die „gemeinen“ Strategien schnitten sogar allesamt am schlechtesten ab. Gemeinheit hatte sich also wiederum nicht ausgezahlt. Auch im zweiten Turnier war Tit-for-Tat wieder das einfachste Programm. Offenbar ist für das Spielen des wiederholten Gefangenendilemmas Komplexität keine Bedingung, im Unterschied etwa zu Schachprogrammen, die meist äußerst kompliziert sind. Im ersten Turnier belegte die komplizierteste Strategie sogar den letzten Platz. Sein Autor wünschte anonym zu bleiben („Name nicht angegeben“). Richard Dawkins hat über die Urheberschaft spekuliert: War es vielleicht eine graue Eminenz im Pentagon? Der Chef der CIA? Oder Henry Kissinger? Wir werden es wohl nie erfahren. Ist Tit-for-Tat eine evolutionär stabile Strategie? Axelrods erste beide Hypothesen hatten sich also bestätigt. Erstens: In einer Welt eigennütziger Individuen und Betrüger ist Kooperation möglich, wenn sie auf
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Gegenseitigkeit beruht. Und zweitens: In einer Welt, in der viele verschiedene Strategien ausprobiert werden, ist die Strategie der Kooperation die lohnendste. Doch wie verhält es sich mit Axelrods dritter Hypothese? Kann sich die Strategie der Kooperation, wenn sie sich einmal durchgesetzt hat, vor der Invasion weniger kooperativer Strategien schützen? Oder können die Betrüger und Egoisten die Gesellschaft wieder unterwandern? Mit anderen Worten: Ist Tit-for-Tat eine evolutionär stabile Strategie? Um dies zu prüfen, gab Axelrod dem Turnier eine ökologische Wendung, indem er die Programme aus den vorigen Wettkämpfen in einer Computersimulation sich „fortpflanzen“ ließ. Eine Turnierrunde wurde als eine Generation aufgefasst. Wenn zum Beispiel das Programm A in der ersten Runde doppelt so viele Punkte wie das Programm B erzielte, kam es in der zweiten Runde zweimal so oft vor. Erfolgreiche Programme wurden also mit jeder Runde zahlreicher, während andere allmählich ausstarben. Die Computersimulation bildete so das Prinzip der natürlichen Selektion nach: Je erfolgreicher, desto mehr Nachkommen. Für die Programme war es ein schwerer Test: Der Konkurrenzkampf wurde immer härter, da sich die „Umwelt“ langsam veränderte. Daher handelt es sich bei dieser Computersimulation auch um eine ökologische und nicht um eine evolutionäre. Bei einer evolutionären Simulation hätten die Programme auch zufällige, kleine Veränderungen (Mutationen) erfahren müssen. In einer ökologischen Simulation ändert sich dagegen nur die Verteilung der Programme. Starke Strategien setzen sich in einer Population immer mehr durch, bis sie am Ende als einzige übrigbleiben. Anfänglich schneiden Strategien, die es auf Ausbeutung abgesehen haben, gut ab, da es noch genügend Spieler gibt, die unbedingt kooperieren wollen. Doch die Gutmütigen sind auf die Dauer zum Aussterben verurteilt, und damit ist auch das Schicksal der „gemeinen“ Strategien besiegelt, weil ihnen die Opfer fehlen. Sie vernichten sozusagen ihre eigene Überlebensgrundlage. Das Resultat der ökologischen Computersimulation sprach wiederum Bände. Nach der fünfzigsten Generation (fünfzigsten Runde) waren fast alle Programme ausgeschieden, die in den früheren Turnieren schlecht abgeschnitten hatten, während die mittelmäßigen zurückgingen und sich die erfolgreichen auch diesmal behaupteten und immer zahlreicher wurden. Mit der tausendsten Generation war die Strategie Tit-for-Tat am häufigsten vertreten und vermehrte sich auch weiterhin schneller als alle anderen übriggebliebenen Programme. Tit-forTat hatte sich als eine äußerst robuste Strategie erwiesen, das heißt, es war in sehr verschiedenen Umgebungen erfolgreich. Dennoch ist Tit-for-Tat keine echte ESS, da es, nachdem es sich etabliert hat, durch eine alternative Strategie verdrängt werden kann. Zwar nicht mehr durch eine „gemeine“ wie „Immer Betrügen“, wohl aber durch eine andere „nette“ Strategie wie „Immer Kooperieren“. In einer Population aus lauter „netten“ Strategien sind Tit-for-Tat und „Immer Kooperieren“ in ihrem Verhalten nicht voneinander zu unterscheiden. Letzteres kann sich somit in der Population unbemerkt
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ausbreiten. Da beide Programme jedoch nicht identisch sind, ist Tit-for-Tat streng genommen keine echte ESS. Zudem gerät Tit-for-Tat in Probleme, wenn es in einem Turnier nicht gegen sich selbst spielt. In einer Population, die aus lauter Betrügern besteht, kann sich ein einziges „nettes“ Programm nicht ausbreiten. Nur wenn es einen Artgenossen findet, kann sich eine kooperative Gruppe bilden, und nur einer solchen Gruppe vorbildlich zusammenarbeitender Einzelstrategien gelingt es, die Betrüger zurückzudrängen. In einem solchen Fall ist Tit-for-Tat evolutionär stabil. Die Strategie Tit-for-Tat hat noch einen weiteren Nachteil: Sie ist anfällig für Irrtümer. Zwei vorbildlich kooperierende Tit-forTats können aus Versehen in eine Endlosschleife der gegenseitigen Ablehnung geraten, aus der sie sich nicht mehr befreien können, da ja jedes Programm stets den vorigen Zug des anderen wiederholt. In der Realität ist ein solcher „EchoEffekt“ genügsam bekannt, man denke nur an die Gewaltspiralen im Nahen Osten und in Nordirland. Winke für Staatsmänner Aus Axelrods Untersuchungen lassen sich vier strategische Ratschläge ableiten, die auch im Alltag, in Wirtschaft, Politik und zahlreichen anderen Situationen von Nutzen sein können. Erstens: Vermeide unnötige Konflikte, indem du kooperierst, solange der andere dies auch tut. Zweitens: Lass merken, dass du dich provoziert fühlst, wenn der andere dich ohne jeden Anlass betrügt. Drittens: Sei nicht nachtragend. Wenn der andere wieder zur Kooperation zurückkehrt, sei ebenfalls dazu bereit. Und viertens: Verhalte dich transparent und kalkulierbar, sodass der andere sich auf dich einstellen kann. Tit-for-Tat erfüllt diese Anforderungen. Die „Gutmütigkeit“ der Strategie verhindert unnötige Komplikationen. Indem sie gleich zu Anfang ihre Kooperationsbereitschaft signalisiert und solange zusammenarbeitet, wie der andere dies auch tut, kann sich gegenseitiges Vertrauen einstellen. Auf der anderen Seite lässt sich Tit-for-Tat nicht ausnutzen und schlägt sofort zurück, wenn sich der andere als ständiger Verräter entpuppt. Die andere Partei wird es sich dann zweimal überlegen, ob sie beim nächsten Mal wieder betrügt. Tit-for-Tats Versöhnlichkeit ermöglicht dem anderen, zur Kooperation zurückzukehren. Wenn die Gegenpartei guten Willen zeigt, lässt Tit-for-Tat Vergangenes ruhen. Und die Transparenz schließlich gewährleistet, dass die angewendete Strategie für andere kalkulierbar ist, sodass Missverständnisse vermieden werden können. Sie eröffnet so die Möglichkeit zu einer langfristigen Zusammenarbeit. In seiner Rezension des Buches Die Evolution der Kooperation, in dem Axelrod seine Analysen und Ratschläge zusammenfasste, meinte Dawkins, man müsste die Regierungschefs der Welt mit dem Buch einsperren und erst wieder freilassen, wenn sie es gelesen hätten. Ihnen würde es Vergnügen bereiten und für den Rest der Menschheit könnte es die Rettung bedeuten.
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Doch ist die Geschichte damit noch nicht zu Ende. 1993 stießen der Spieltheoretiker Martin Nowak und der Mathematiker Karl Sigmund auf eine Strategie, die noch erfolgreicher war als Tit-for-Tat, nämlich „Pawlow“. Pawlow hält sich an die Instruktion: Wiederhole den vorigen Zug, wenn er zu einem günstigen Ergebnis geführt hat, ansonsten ändere die Strategie. Mit anderen Worten, Pawlow verfolgt die Strategie gewinnen-weitermachen – verlieren-wechseln. „Gewinnen“ entspricht fünf bzw. drei Punkten, „verlieren“ einem bzw. null Punkten. Pawlow wurde bei einer evolutionären Computersimulation entdeckt, in der sich wie in der ökologischen erfolgreiche Programme im Laufe der „Generationen“ vermehren. Doch zusätzlich finden fortwährend kleine Veränderungen statt. So machen die Strategien etwa willkürliche Fehler oder wechseln ständig die Taktik. Die evolutionäre Simulation sorgt dafür, dass das System lernen kann, indem es Verbesserungen annimmt und erfolglose Strategien eliminiert. Sie bildet den kumulativen Selektionsmechanismus im biologischen Bereich nach. Die PawlowStrategie war in der Simulation nach einigen Generationen entstanden und anschließend stabil geblieben. Sie besiegte Tit-for-Tat auch leicht und erweist sich als noch robuster, da sie diesem Programm in mindestens zweierlei Hinsicht überlegen ist. Zum einen kann die Pawlow-Strategie Irrtümer leichter korrigieren und somit einen Echo-Effekt durchbrechen, und zweitens ist sie besser in der Lage, Naivlinge („bedingungsloses Zusammenarbeiten“) auszubeuten. Denn Tit-for-Tat würde mit einer solch gutmütigen Strategie kooperieren und sich so die fünf Punkte entgehen lassen. Pawlow kann gemein sein, wenn es ihm etwas bringt. Der Name des Programms ist natürlich nicht zufällig gewählt, er bezieht sich auf den russischen Psychologen Iwan Petrowitsch Pawlow, der die klassische Konditionierung entdeckte, die Tatsache, dass man Tieren und Menschen eine Assoziation zwischen Reiz und Reflex beibringen kann. Dieser Entdeckung folgte ein weiterer Schritt, die operante Konditionierung, wobei Verhalten kontrolliert und durch Strafe und Belohnung verändert wird. Das Prinzip, auf dem die Strategie des Programms „Pawlow“ beruht, nämlich das Verhalten zu wechseln, wenn das Spiel eine schlechte Wendung nimmt, findet man in zahlreichen Lernprozessen, etwa bei der Dressur von Hunden oder Pferden und bei der Erziehung von Kindern. Doch auch die Pawlow-Strategie hat einen Nachteil, auf den – man rät es schon – Anatol Rapoport hinwies. Rapoport war schon Jahre zuvor auf die gleiche Strategie gestoßen und hatte sie „Einfaltspinsel“ (simpleton) genannt. Und nicht ohne Grund. Die Pawlow-Strategie ist nämlich völlig machtlos gegenüber der Strategie „Immer betrügen“, da sie dann stets auf „Kooperation“ umschaltet und somit jedesmal nur null Punkte erzielt. Was Nowak und Sigmund entdeckten, war, dass Pawlow sich erst ausbreiten kann, nachdem Tit-for-Tat alle Betrüger vertrieben hat. Dann erweist sich Pawlow als evolutionär stabil, das heißt, immun gegen jede Invasion anderer Strategien.
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Moral der Empfindungen Welche Schlussfolgerungen können wir daraus nun ziehen? Was hat die Spieltheorie mit Ethik zu tun, was verbindet beide miteinander? Die Antwort ist: unsere Empfindungen. In seinem Buch über den Ursprung der Moral meint der englische Zoologe Matt Ridley, der Prozess der natürlichen Selektion habe uns mit Emotionen und sozialen Instinkten ausgestattet, die speziell so modelliert seien, dass wir komplexe, auf Gegenseitigkeit beruhende Beziehungen eingehen können. Ridley führt darauf auch die starke Zunahme des Gehirnvolumens in den drei Millionen Jahren der menschlichen Evolution zurück. Die meiste Zeit sei unser Gehirn nämlich nicht mit intellektuellen Operationen beschäftigt, sondern damit, die sozialen Zusammenhänge zu beobachten. Die zusätzliche Gehirnkapazität sei nötig, um die komplizierten Beziehungen in einer Gruppe zu begreifen. In Situationen wie dem Gefangenendilemma muss man stets entscheiden, mit wem man kooperieren soll und mit wem nicht. Altruismus, der auf Gegenseitigkeit beruht, erfordert somit eine beträchtliche soziale Intelligenz. Nicht umsonst besitzen die Vampire von allen Fledermäusen den am weitesten entwickelten Neocortex. Unsere Emotionen und sozialen Instinkte, meint Ridley, spielen eine regulierende Rolle bei der Kosten-Nutzen-Abwägung, die wir ständig treffen müssen. Es sei nämlich nicht nur wichtig, Bündnisse zu schließen und instand zu halten, sondern auch Betrüger und Egoisten rechtzeitig ausfindig zu machen. Glücklicherweise besitzen wir für Letzteres einen guten Riecher. Beim wiederholten Gefangenendilemma geht es letztendlich darum, ob man einander vertrauen kann. Wir werden einen zuverlässigen Partner nicht so leicht düpieren, wenn wir die Konsequenzen abschätzen können. Streng rational vorgehende Menschen sind zu einem solchen emotionalen Engagement nicht fähig. Ridley verweist auf die Liebe, die uns in einer Beziehung bindet. Sie brauche nicht ewig zu sein, sei aber dauerhafter als die pure Lust. Ohne das, was wir „Liebe“ nennen, würden Menschen fortwährend den Partner wechseln und sich nie wirklich binden. Wechselseitiger Altruismus ist ein Instinkt, der uns befähigt, Nutzen aus dem sozialen Miteinander zu ziehen. Im fünften Kapitel hatten wir bereits gesehen, dass reziproker Altruismus keine kühle, verstandesmäßige Abwägung ist. Ein Affe hat keine eingebaute Stoppuhr, die ihm sagt, wie lange ein Artgenosse ihm das Fell pflegt, sodass er sich nicht versehentlich mit zu viel Zeit- und Energieaufwand revanchiert. Menschen führen nicht (immer) Buch über die Zuneigung, die sie mit ihrer Familie oder mit Freunden verbindet. Frans de Waal spricht von dem symmetrischen Prinzip der gegenseitigen Hilfe, das bei allen sozial lebenden Primaten zu beobachten sei. Gegenseitige Zuneigung stimuliert die Bereitschaft zum Teilen und festigt das soziale Band. Gegenüber Fremden und (manchen)
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Kollegen neigen wir gleichwohl dazu, auf eine ausgeglichene Bilanz von Geben und Nehmen zu achten. De Waal nennt dies berechnenden Altruismus, eine Strategie, auf die sich auch Menschenaffen verstehen. Bei dieser Form der Gegenseitigkeit wird genau Buch geführt über die Transaktionen – „Hast du vor Kurzem etwas für mich getan?“ –, sodass man entscheiden kann, ob eine Gegenleistung fällig ist. De Waal beschreibt in seinen Büchern verschiedene Fälle, in denen ein Affe höchst entrüstet ist oder sogar einen Wutanfall bekommt, wenn er in seiner Erwartung enttäuscht wird. Beide Formen der Wechselseitigkeit beruhen auf Empfindungen. Die Tatsache, dass Menschen und Tiere bisweilen sozusagen Buch führen, besagt nicht, dass eine rein rationale Abwägung stattfindet. Auch berechenender Altruismus hat seine Wurzeln in Emotionen. Wir fühlen uns moralisch verpflichtet, ein Versprechen zu halten, und schämen uns, wenn wir jemanden bewusst benachteiligen. Wir fühlen uns schuldig, wenn wir das Vertrauen eines anderen ausnutzen, und wissen ganz genau, wie schmachvoll es ist, in aller Öffentlichkeit als Betrüger entlarvt zu werden. (Der Mensch, der errötende Affe, hat sogar eine physiologische Reaktion auf sein Schuld- und Schamgefühl entwickelt, die Artgenossen über seinen Gemütszustand informiert.) Umgekehrt sind wir verstimmt oder traurig, wenn jemand uns gegenüber unaufrichtig ist, was uns davon abhalten wird, der betreffenden Person rasch zu verzeihen. Andererseits freuen wir uns, wenn jemand uns hilft, es verstärkt unsere Sympathie für ihn. Auch bei Menschenaffen hat man all diese Emotionen beobachtet, allerdings meist in rudimentärer Form. Sowohl Ridley als auch de Waal halten den Ausgangspunkt der „klassischen“ Spieltheoretiker für falsch. Menschen (und Tiere) sind nicht „rational“ in dem Sinn, dass sie ausschließlich die Maximierung des eigenen Gewinns anstreben. Die Bereitschaft zur Kooperation hat keine rationale, sondern eine emotionale Grundlage. Wäre Gewinnmaximierung das einzige Motiv, wären Menschen immer nur auf den eigenen Vorteil aus und würden sich nie von Gefühlen lenken lassen. Die klassische Spieltheorie unterstellt Rationalität und maximales Gewinnstreben, obwohl die Praxis zeigt, dass Menschen sich oft anders verhalten – zum Beispiel ein ihnen ungerecht erscheinendes Angebot ablehnen. Wir reagieren empfindlich auf Benachteiligungen und haben einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit, was nicht unvernünftig ist, denn es verhindert, dass man uns in Zukunft gleichfalls ausnutzt. Sind wir von Natur aus gut? Wechselseitiger Altruismus wäre demnach ein Produkt der Evolution und diente sowohl dem Interesse des Einzelnen wie dem der Gruppe. Das menschliche Gewissen stellte somit eine Abwägung zwischen Egoismus und Gruppeninteresse dar. Mord, Vergewaltigung und Diebstahl, so Ridley, werden überall als schwere
SIND WIR VON NATUR AUS GUT?
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Verbrechen betrachtet, weil sie Ausdruck eines extremen Egoismus sind. Die Bereitschaft zur Zusammenarbeit, Großzügigkeit und Uneigennützigkeit gelten als Tugenden, da sie den Interessen der Gruppe dienen. Ridley zufolge ist das Prinzip der Gegenseitigkeit tief in unseren sozialen Interaktionen verankert. Schuld und Reue, Scham und Vergebung, Betrug und Empörung sind Emotionen, die Kooperation begünstigen. Doch Emotionen haben auch ihre Schattenseiten und können geradezu kontraproduktiv sein. Liebe kann in Eifersucht, Hass und Rachsucht umschlagen. In solchen Fällen wären wir vielleicht ohne Gefühle besser dran, wie der rein rationale Mr. Spock aus der Science-FictionSerie Star Trek. Die Moral ist so gesehen nicht vom Himmel gefallen, sie ist untrennbar mit unserer menschlichen Natur verbunden. Die Evolution hat uns mit funktionalen Emotionen ausgestattet, die uns erlauben, in komplexen Gemeinschaften zu leben. Sowohl das Individuum wie die Gruppe profitieren davon. Der Primatenforscher Frans de Waal bestreitet die Auffassung, der Mensch sei von Natur aus schlecht; die Moral sei kein dünner kultureller Firnis, der unsere Raubtiernatur dürftig verdeckt, sondern ein aus der biologischen Notwendigkeit zur Kooperation hervorgegangener Verhaltenskodex. Wenn die Individuen einer Gruppe teils sich überschneidende und teils konkurrierende Interessen haben, können ethische Systeme entstehen, die das Gemeinschaftsleben regulieren. Solidarität mit der Gruppe bringt eine soziale Ordnung hervor, ein „Wir-Gefühl“, das Konflikten vorbeugt. Die Kehrseite dieses Sichverbrüderns ist, dass es hin und wieder mit Feindseligkeit gegenüber anderen Gruppen einhergeht. Man denke an Xenophobie, Stammesfehden und Fußball-Krawalle. Wild lebende männliche Schimpansen ziehen manchmal in Horden gegeneinander zu Felde. Bei den Menschen ist das nicht anders. Eine universale Verbrüderung ist daher kein realistisches Ideal. Auch der Erfolg der robusten Strategie „Pawlow“ weist darauf hin. Ihre Mischung aus freundlichen und gemeinen Merkmalen führt zur Kooperation, doch verhindert gleichzeitig, dass die Gesellschaft in ein naives und sanftmütiges Land der Träume abgleitet, in dem Trittbrettfahrer freie Hand haben. Eine evolutionsbiologische und spieltheoretische Betrachtung der Ethik rechtfertigt diese „unangenehmen Stammeseigenschaften“ nicht, sondern sucht sie nur zu erklären. Bedeutet nun das Prinzip des gegenseitigen Altruismus, dass wir alle im Grunde doch nur Egoisten sind? Kooperieren wir letztendlich aus reinem Egoismus? Das ist eine Frage des Standpunkts. Unser Bewusstsein wurde zwar von „egoistischen Genen“ konstruiert, doch zu dem Zweck, sozial, empathisch und kooperativ zu sein. Ist ein kooperativer Mensch wirklich selbstlos oder versucht er nur, seine eigenen Interessen langfristig zu sichern? Die Frage ist vielleicht falsch formuliert. Egoistische Gene und aufrichtige Empathie schließen einander nämlich nicht aus. Die Tatsache, dass Gene „egoistisch“ sind, bedeutet nicht, dass es ein Gen für Egoismus gibt oder dass wir alle Egoisten sind. Die Evolution
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hat uns mit einer ganzen Skala an funktionalen Emotionen ausgestattet, sie sind keine Kunstgriffe der Gene, um sich selbst zu vermehren. Gene haben keinen Willen. Die auf Gegenseitigkeit beruhenden Emotionen sind das Resultat der natürlichen Selektion, doch damit sind sie nicht weniger aufrichtig. Die Tatsache, dass die Moral in Empfindungen wurzelt, impliziert möglicherweise, dass der Mensch nicht das Monopol auf sie besitzt. Auch bei Schimpansen und Bonobos finden wir Emotionen, die auf Schuld, Scham, Entrüstung oder Dankbarkeit hinweisen. In dieser Hinsicht gibt es zwischen Mensch und Tier keine Kluft. Der einzige Unterschied besteht vielleicht darin, dass wir Menschen die uns von der Evolution gegebene Moral zu rationalisieren versuchen. Am Anfang steht jedoch das Gefühl.
13 Evolution und Ästhetik Ästhetische Obsessionen Der Mensch ist besessen von der Schönheit. Einen beträchtlichen Teil unserer Freizeit sind wir mit Dingen beschäftigt, denen wir ästhetische Erfahrungen verdanken. Wir lesen Romane und Gedichte, gehen ins Theater oder ins Konzert, besuchen Museen und Ausstellungen und reisen in ferne Länder, um großartige Baudenkmäler zu besichtigen oder die Schönheit der Natur zu bewundern. Schönheit erhebt uns und löst angenehme Gefühle aus. Wir vergessen den alltäglichen Trott und befinden uns für kurze Zeit in einem Reich, das nur um unsertwillen zu existieren scheint. Schönheit ist unwiderstehlich. Schöne Dinge schenken uns innere Befriedigung und einen seelischen Ausgleich für all das Elend, dem wir tagtäglich ausgesetzt sind. Der Hang zur Ästhetik beschränkt sich nicht nur auf die schönen Künste, die arkadische Landschaft oder den obligatorischen Besuch eines Museums oder Konzerts. Auch im Alltagsleben sind wir auf schöne Dinge fixiert. Beim Kauf von Kleidern, Brillen, Uhren, Schmuck lassen wir uns von ästhetischen Kriterien leiten. Wenn wir uns ein Auto oder ein Fahrrad anschaffen, zählt durchaus auch die Optik. Und bei der Einrichtung unserer Wohnung wählen wir Möbel, Teppiche und dekorative Gegenstände, die uns durch ihre Ästhetik überzeugen. Design steht hoch im Kurs. Renommierte Designstudios wie Cartier, Versace und Pininfarina sind die Ikonen der heutigen Zeit. Auch vor unserem eigenen Körper macht dieser Drang nach Verschönerung nicht Halt. In seinem Buch Die Abstammung des Menschen stellte schon Darwin fest, dass sich Menschen in allen Kulturen Haut und Fingernägel bemalen, das Haar färben und ihren Körper mit Tätowierungen und Piercings schmücken. Die moderne kosmetische Industrie ist nicht umsonst eine äußerst profitable und florierende Branche. Unmengen Geld werden verdient an Schminken und Puder, Salben und Cremes, die unsere Haut zu verjüngen und uns zu verschönern versprechen, und wenn sie nicht das gewünschte Resultat haben, bleibt immer noch der Gang zum plastischen Chirurgen, der den Körper wieder auf Vordermann bringt. Woher kommt diese Obsession? Ist sie kulturell geprägt oder in unseren Genen verankert? Bis vor Kurzem ging man davon aus, dass die Fähigkeit, Schönheit zu erleben und zu erkennen, erlernt sei, Kunst das Produkt unseres kulturellen Erbes, ein Merkmal der Zivilisation. In klassischen philosophischen Texten über Ästhetik gilt die Hervorbringung schöner Dinge und die Empfänglichkeit für alles Schöne denn auch oft als etwas, das sich über die alltägliche Wirklichkeit
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erhebt. Kunst sei etwas „Höheres“, ganz ohne praktischen Nutzen, der Schönheitssinn reiner Selbstzweck. Unter diesem Gesichtspunkt wäre er ausschließlich dem Menschen vorbehalten. Der Mensch, Homo aestheticus, unterscheidet sich vom Tier, weil er als einziges Lebewesen Kunst hervorbringen und rezipieren kann. Tiere sind dazu nicht in der Lage. So wenig, wie Tiere zu sittlichem Verhalten fähig sind, so wenig haben sie ein Gefühl für Ästhetik. Wie wir jedoch im vorigen Kapitel sahen, ist die Moral nicht vom Himmel gefallen, sie ist tief in unserer Biologie verankert. Was das Moralempfinden betrifft, ist der Unterschied zwischen Mensch und Tier womöglich nur gradueller Natur. Auch Affen und Menschenaffen kennen einen moralischen Verhaltenskodex, sind fähig, Dankbarkeit, Enttäuschung und Entrüstung zu äußern, je nachdem, ob Versprechen eingehalten werden oder nicht. Was für die Ethik gilt, gilt vielleicht auch für die Ästhetik, vielleicht teilen wir auch den Sinn für Schönheit mit anderen Tierarten. Evolutionspsychologen und Soziobiologen sind in der Tat dieser Ansicht: Menschen wie Tiere besitzen angeborene und artspezifische Vorlieben für bestimmte sinnliche Reize. Das eine wird als schön, angenehm oder schmackhaft erfahren, anderes als hässlich, unangenehm oder unappetitlich. Solche Präferenzen sind adaptiv und wurden durch die Evolution geformt: Sie erlauben den Lebewesen, sich in ihrer Umwelt zu behaupten. Die Evolution hat Mensch und Tier mit bestimmten Vorlieben ausgestattet, weil sie im Überlebenskampf Vorteile boten. Dieses Präferenzsystem ist letztlich im Erbgut gespeichert. Reize aus der Umwelt werden von speziellen Sinneszellen und Rezeptoren aufgenommen und lösen im Organismus Genuss oder Abscheu aus. Alle Tiere sind also im Grunde „Ästheten“, denn die Schönheitserfahrung wurzelt in der uralten biologischen Fähigkeit, Sinneseindrücke qualitativ zu bewerten. (Das Wort „Ästhetik“ ist vom griechischen aisthesis, sinnliche Wahrnehmung, abgeleitet.) Die Fähigkeit, Schönheit zu erleben, dient insofern durchaus profanen Zwecken und Interessen. Gefiederte Künstler Sonnenuntergänge, duftende Blumen, ein nächtlicher Sternenhimmel, prächtig gefärbte Vögel und Schmetterlinge, Landschaften, der Gesang der Nachtigall – an Schönheit herrscht in der Natur kein Mangel, und sie ist nicht vom Menschen abhängig. Doch ist sie objektiv in dem Sinn, dass sie für sich existieren kann? Oder anders gefragt: Sind manche Dinge schön an sich, auch wenn es niemanden gibt, der ihre Schönheit als solche wahrnimmt? Die meisten werden diese Frage wahrscheinlich verneinen. Schönheit scheint nur in einem menschlichen Kontext möglich zu sein. Ohne unseren Blick gäbe es sie nicht. Eine bekannte englische Redensart lautet: Beauty is in the eye of the beholder, die Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Die Welt an sich ist weder schön noch
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hässlich, sondern neutral, so wie auch die Natur an sich weder gut noch böse ist, sondern gleichgültig. Wir Menschen empfinden manche Dinge als schlecht oder hässlich, gut oder schön und geben moralische bzw. ästhetische Urteile über das ab, was wir sehen, hören und erleben. Diese Bewertungen scheinen nichts über die Welt auszusagen, sondern nur etwas über unsere Selbsterfahrung. An einer solchen relativistischen Sicht der Ethik und Ästhetik lässt sich jedoch in der Praxis nur schwer festhalten. Wenn es keine objektiven moralischen und ästhetischen Kriterien gäbe, könnten wir uns zum Beispiel nie irren, denn alles wäre nur eine Frage des persönlichen Geschmacks. Auch der Gedanke, nur der Mensch besitze einen Schönheitssinn, ist anfechtbar, da auch Tiere, wie bereits erwähnt, fähig sind, Sinnenreize qualitativ zu bewerten. Die Einstellung, Schönheit könne es nur in einem menschlichen Kontext geben, ist Ausdruck eines auf biologischer Grundlage beruhenden Chauvinismus. Zeugt es nicht von Arroganz zu glauben, nur der Mensch könne Freude am Schönen empfinden? Schon Darwin macht kurzen Prozess mit dieser anthropozentrischen Vorstellung. In Die Abstammung des Menschen schreibt er (1. Teil, 2. Kapitel): Schönheitssinn – Dieser Sinn soll dem Menschen eigentümlich sein. [...] Wenn man sieht, wie männliche Vögel mit Vorbedacht ihr Gefieder und dessen prächtige Farben vor dem Weibchen entfalten [...] kann man unmöglich zweifeln, dass die Weibchen die Schönheit ihrer männlichen Genossen bewundern. [...] Wie wir später sehen werden, sind die Nester der Kolibris und und die Spielplätze der Kragenvögel (Chlamydera) geschmackvoll mit lebhaft gefärbten Gegenständen ausgeschmückt; und dies beweist, dass sie beim Anblick derartiger Dinge eine Art Vergnügen empfinden müssen. [...] Die reizenden Weisen, welche männliche Vögel während der Zeit der Liebe produzieren, werden gewiss von den Weibchen bewundert [...]. Wären weibliche Vögel nicht imstande, die schönen Farben, den Schmuck, die Stimmen ihrer männlichen Genossen zu würdigen, so würde alle die Mühe und Sorgfalt, welche diese darauf verwenden, ihre Reize vor dem Weibchen zu entfalten, weggeworfen sein; und dies lässt sich unmöglich annehmen.
Darwin erörtert in Die Abstammung des Menschen nicht nur den Ursprung des Menschen, sondern er will zugleich zeigen, dass es zwischen Mensch und Tier keine Kluft gibt. Evolution sei ein kontinuierlicher Prozess, und dies gelte auch für den Schönheitssinn. Manche Tiere hätten durchaus eine Art Sinn für das Schöne, eine angeborene Vorliebe für bestimmte Formen und Farben, für Gleichmaß, Proportionen und Symmetrie. Das Beispiel des Kragenlaubenvogels, das Darwin im obigen Zitat anführt, ist nicht zufällig gewählt, denn von allen „künstlerischen“ Hervorbringungen im Tierreich kommen die Leistungen dieses in den Wäldern Neuguineas und Australiens heimischen Vogels der menschlichen Kunst wahrscheinlich am nächsten. Wie bereits im zweiten Kapitel erwähnt, bauen die männlichen Kragen- und
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Seidenlaubenvögel ihre „Laube“ aus aufrecht stehenden, miteinander verflochtenen Zweigen, die zwei parallele Wände bilden und eine Höhe von bis zu zwei Metern erreichen können, und schmücken sie mit verschiedenen monochromen Materialien aus. Der Seidenlaubenvogel etwa hat eine ausgesprochene Vorliebe für die Farbe Blau. Er sammelt knallblaue Blütenblätter, Federn, Früchte und Schneckenhäuser, die er mit großer Sorgfalt und mit einem ausgesprochenen Gefühl für Komposition in seinem Bauwerk und rund herum anordnet. Er ist mit der Arbeit voll ausgelastet, denn alle Objekte werden sofort durch neue ersetzt, sobald sie ihre Farbe zu verlieren drohen. In der Nähe menschlicher Siedlungen machen die Vögel auch Gebrauch von haltbareren Gegenständen wie Wäscheklammern, Batterien oder Kronenkorken. Die Liebeslauben würden sich in einem Museum für moderne Kunst nicht schlecht ausnehmen, es sind regelrechte Installationen, die einem Drang nach kreativem Ausdruck zu geben scheinen. Daneben, doch nicht notwendigerweise an erster Stelle, dienen sie dem Zweck, Weibchen zu verführen, auf die die gelungensten Lauben nämlich eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausüben. Sie wählen ihren Partner, nachdem sie wie versierte Kunstkritiker die verschiedenen Bauwerke inspiziert haben. Die Installationen junger, unerfahrener Männchen können meist vor dem kritischen Blick der Weibchen nicht bestehen. Sie müssen noch Jahre üben und die rechte „Dekorationskunst“ von ihren älteren Artgenossen abgucken. Nach der Begattung überlässt das Männchen dem Weibchen den eigentlichen Nestbau und die Brutpflege. Der männliche Laubenvogel hat also nicht nur die Fortpflanzung im Sinn, andernfalls täte er besser daran, einen Teil der elterlichen Sorge auf sich zu nehmen. Die Frage, was Vorrang hat – die Kunst oder die Fortpflanzung – ist daher schwer zu beantworten. Bei Picasso weiß man auch nicht, ob er, der während seines langen Lebens ein notorischer Schürzenjäger war, der überall Kinder zeugte, seine Bilder malte, um Frauen zu erobern und seine Gene weiterzugeben. Doch wahrscheinlich war Picasso zuallererst Künstler. Darwin deutete das kunstsinnige Verhalten des männlichen Laubenvogels als Resultat der sexuellen Selektion, als Anpassung an den weiblichen Geschmack (female choice). Die Präferenzen der Weibchen und das Verhalten der Männchen haben sich im Lauf der Evolution gegenseitig hochgeschaukelt. Die reich verzierten Lauben sind also eigentlich eine außer Kontrolle geratene ,Modelaune‘, so wie die prächtigen Schwanzfedern der Pfauenmännchen. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass die Pfauenfedern ein körperliches Ornament sind, während die Balzplätze der Seidenlaubenvögel die Ausprägung eines Verhaltens sind. Sie befinden sich außerhalb des Körpers und gehören daher zum sogenannten erweiterten Phänotyp. Ihre Funktion ist jedoch die Gleiche: Es sind Fitness-Indikatoren. Männchen, die so viel Zeit und Energie aufwenden, um ihre imposanten Lauben zu errichten, instand zu halten und gegen eifersüchtige Konkurrenten zu verteidigen, müssen einfach gute Gene haben. Auch die Partnerwahl der
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Weibchen lässt zweierlei Deutung zu: Sie suchen sich instinktiv das Männchen mit den besten Genen aus, doch möglich ist auch, dass sie einfach gute Kunst zu schätzen wissen. Beide Motive schließen einander nicht aus. Was will die Pfauenhenne? Längst nicht jeder ist mit Darwins Argumentation einverstanden. Der britische Philosoph Anthony O‘Hear, Professor an der Universität von Buckingham, ist keineswegs überzeugt, dass Tiere einen Schönheitssinn besitzen. In seinem Buch Beyond evolution führt er als Beispiel das Rad des männlichen Pfaus an. So wie das Bauwerk der Laubenvögel ist auch der Pfauenschwanz ein Produkt der sexuellen Selektion. Die Weibchen wählen für die Paarung die Männchen mit den prächtigsten Schwanzfedern aus. Hierüber besteht Einigkeit. Doch O‘Hear hält es für unbewiesen, dass die Pfauenhennen sich auch von ästhetischen Kriterien leiten lassen. Von einem Schönheitssinn zu sprechen, sei eine anthropomorphische Projektion, man schreibe Tieren menschliche Eigenschaften zu. Es sei, meint O‘Hear, auch gar nicht nötig, das wählerische Verhalten der Pfauenhenne mit einem Gefühl für Schönheit in Verbindung zu bringen, es sei wohl nichts anderes als eine angeborene, adaptive Reaktion. Ein großes, beeindruckendes Pfauenrad signalisiere einfach Gesundheit, Vitalität und gute Gene. Es seien diese Eigenschaften, die die weibliche Wahl bestimmten, nicht ästhetische Motive. Die Präferenz für ein prächtiges Gefieder mit möglichst vielen Augen sei höchstwahrscheinlich sogar gänzlich vorprogrammiert. Wie die Laube der Laubenvögel sei das Pfauenrad ein bloßer Fitness-Indikator. Ein Männchen, das sich prächtigere Gefieder als seine Nebenbuhler „leisten“ kann, muss gute Gene haben und für viele gesunde Nachkommen sorgen können. Was Wunder, dass die Evolution den Geschmack der Weibchen in diese Richtung getrieben hat. Nach dem Prinzip von Ockhams Rasiermesser soll eine Theorie mit möglichst wenigen Annahmen auskommen. Die Hypothese, Pfauenhennen reagierten instinktiv auf einen Fitness-Indikator, reiche als Erklärung des Sachverhalts aus. Es sei daher überflüssig, zusätzlich noch ein ästhetisches Motiv in Betracht zu ziehen. Auch der Hinweis auf Gehirnprozesse und Rezeptoren, so O’Hear, führe in eine Sackgasse. Bestimmte Strukturen des Gehirns wie das Limbische System spielten zweifellos eine wichtige Rolle bei der qualitativen Beurteilung von Sinnenreizen, doch solche Erklärungen seien prinzipiell unzureichend, da sie nur etwas über das materielle Substrat psychischer Funktionen aussagen, doch nichts über die mentalen Erfahrungen selbst. Ein solch reduktionistischer Ansatz sei daher für eine Erörterung des Schönheitssinns unergiebig. O’Hear stützt sich in seinen Ausführungen auf Immanuel Kant. In seiner 1790 erschienenen Kritik der Urteilskraft legt Kant dar, dass wir, um zu einem Begriff der Schönheit zu gelangen, nicht die Qualität des Objekts selbst analysieren sollten,
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sondern unser ästhetisches Urteil darüber. Ein ästhetisches Urteil hat die allgemeine Form „X ist schön“ oder „X ist herrlich“ und sagt somit etwas darüber aus, wie das wahrnehmende Individuum auf ein Objekt reagiert. Ästhetische Urteile haben nach Kant, einige charakteristische Kennzeichen: Sie sind interesselos, allgemeingültig und nicht auf Begriffe gegründet. Mit „interesselos“ meint Kant, dass ästhetische Urteile nicht von Interessen, Bedürfnissen oder gar Begierden bestimmt werden dürften. Wenn wir einen Gegenstand, etwa ein Fresko oder eine Skulptur von Michelangelo, betrachten und beurteilen wollen, müssen wir es ohne Nebenabsichten auf uns wirken lassen. Ein ästhetisches Urteil ist also kontemplativ und zerebral. Weder interessieren wir uns für den Marktwert des Objekts, noch soll es einem bestimmten Zweck dienen – wir betrachten es ausschließlich mit interesselosem Wohlgefallen. Kants Ästhetik ist also recht unerotisch, denn jemand, der ein Objekt mit Leidenschaft, Begierde oder Lust betrachtet, hat keinen Zugang zu seiner eigentlichen Schönheit. Es versteht sich, so O’Hear, dass dies sicher nicht auf die Pfauenhenne zutrifft. Ihre Präferenz ist alles andere als interesselos. Für sie steht vielmehr viel auf dem Spiel, sie muss einen Geschlechtspartner finden und für Nachkommen sorgen. Die Vorliebe der Pfauenhenne ist auch ebenso wenig allgemeingültig. Unter „allgemeingültig“ versteht Kant, dass unser Geschmacksurteil eine Allgemeingültigkeit beansprucht, es „mutet anderen dasselbe Wohlgefallen zu“. Eine Aussage wie „X ist schön“ impliziert, dass wir von anderen Zustimmung erwarten, sonst könnten wir uns mit einem „Ich finde X schön“ begnügen. Da sich das Schöne nicht auf die individuelle Neigung des Subjekts beziehe, so Kant, müsse es „einen Grund des Wohlgefallens für jedermann“ enthalten. Es ist das Wesen aller großer Kunstwerke, ob sie nun von Homer, Michelangelo oder Mozart stammen, dass sie jeder einigermaßen gebildete und sensible Mensch zu schätzen weiß. Bei der Wahl der Pfauenhenne dagegen kann, so O’Hear, von einer derartigen Allgemeingültigkeit keine Rede sein. Wenn ihr Auge auf ein Prachtexemplar gefallen ist, will sie damit nicht sagen, dass alle anderen Hennen ihren Geschmack teilen müssen. Wenn Kant sagt, das Geschmacksurteil über das Schöne gründe sich nicht auf Begriffe, so meint er damit, dass es uns keine Kenntnis des Objekts selbst verschafft. Das ästhetische Urteil ist kein Erkenntnisurteil wie „Dies ist ein Quadrat“ oder „Dieses Ding ist blau“. Ein ästhetisches Urteil („X ist schön“) sagt nur etwas über die Reaktion einer Person angesichts eines schönen Objektes aus, es verweist auf die Emotionen und Gedanken, die das Objekt in ihm auslöst. Hier folgt Kant im Großen und Ganzen der Auffassung David Humes: Geschmacksurteile wurzeln wie moralische Urteile letztendlich in Empfindungen. Diese sind jedoch subjektiv. Wie können ästhetische Urteile bei Kant dann zugleich allgemeingültig sein? Wie wir sahen, ist dies möglich, weil es so etwas wie eine Große Kunst oder einen Großen Geschmack gibt. Jeder sollte Große Kunst gleichermaßen schätzen. Wenn jemand sagt, mit der Ilias, dem David oder mit Don Giovanni
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könne er nichts anfangen, zweifeln wir an seinem Urteilsvermögen oder denken, sein Geschmack sei noch entwicklungsbedürftig. Die Kunstwerke Homers, Michelangelos und Mozarts müssten bei allen ähnliche Emotionen auslösen (ob dies nun tatsächlich geschieht oder nicht). Dies ist eine normative Frage, die wiederum weit entfernt ist von der vermutlich rein instinktiven Reaktion der Pfauenhenne auf das Rad des Männchens mit den meisten Augen. Ästhetischer Realismus O’Hear kann Kants Ästhetik freilich nicht voll und ganz zustimmen. Zwar betone Kant zu Recht, eine ästhetische Erfahrung sei oft mehr als nur ein angenehmes Gefühl, doch mit Kants Auffassung, ästhetische Urteile beruhten einzig und allein auf dem individuellen Empfindungsvermögen des Subjekts, ist O’Hear nicht einverstanden. Für Kant sei Schönheit letztlich etwas Subjektives, auch wenn es einen allgemeinen Konsens darüber gebe, was große Kunst ist. Denn ästhetische Urteile lassen sich nicht streng wissenschaftlich begründen, es gibt keine Maßstäbe für die Beurteilung des Schönen. Schönheit ist keine qualifizierbare Eigenschaft. Und über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten. Oder doch? O’Hear hält eine relativistische Ästhetik für nicht plausibel, da sie sich selbst infrage stelle, und plädiert für eine Form des ästhetischen Realismus: Schönheit sei zum Teil auch eine objektive Qualität der Wirklichkeit. Ästhetische Urteile seien zwar unsere Urteile, hätten aber doch eine gewisse objektive Grundlage. Denn es seien bestimmte objektive Eigenschaften eines Objekts, die das Schönheitsempfinden in uns auslösen. Man denke an den Goldenen Schnitt, die idealen Proportionen einer Fläche oder Komposition, wie sie in der klassischen Kunst und Architektur oft verwendet wurden. Es gibt also sowohl subjektive wie objektive Aspekte der ästhetischen Erfahrung. Schönheit ist eine relationale Eigenschaft. Ästhetische Urteile werden ermöglicht durch unsere biologische Grundausstattung (unser Gehirn und unseren Wahrnehmungsapparat) und unsere kulturellen Traditionen (die Tatsache, dass wir lernen, bestimmte Dinge schön zu finden). Dennoch sagen sie etwas Wesentliches über das Objekt selbst aus. Wäre das ästhetische Geschmacksurteil rein subjektiv, könnten wir uns nie irren, es wäre nur Ausdruck individueller Vorlieben. Die Kunstkritik könnte man abschaffen, denn schließlich hat jeder das Recht auf eine eigene Meinung. Ein solcher relativistischer Standpunkt ist bei genauer Betrachtung nicht überzeugend. Die Tatsache, dass wir uns irren können, bedeutet auch, dass unser Urteil von etwas Objektivem außerhalb unserer selbst abhängig ist. Nehmen wir als Beispiel die Musik Beethovens. Seine späten Streichquartette und Klaviersonaten stießen bei seinen Zeitgenossen auf Ablehnung und Unverständnis, man kritisierte ihre Strukturlosigkeit, sie seien zu weitschweifig, voller Dissonanzen und merkwürdiger Rhythmen (am Ende von Opus 111, Beethovens letzter Klavierso-
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nate ist tatsächlich ein Boogie-Woogie zu hören). Viele führten den „Mangel an Formgefühl“ auf die Taubheit des Komponisten zurück. Aus heutiger Sicht ist diese Kritik nur noch schwer nachvollziehbar. Die späten Quartette und Sonaten gelten als Höhepunkte der europäischen Musikgeschichte, als zeitlose Meisterwerke, an denen eigentlich jeder musikalisch Gebildete Gefallen finden müsste. Ähnliches gilt für das Werk Kafkas und Van Goghs, das anfänglich ebenfalls nicht verstanden wurde, doch heute zum Kanon westlicher Kunst zählt. Große Kunst wird so selbst zu einem Maßstab für jede neue Künstlergeneration. Nach Auffassung O’Hears besitzen ästhetische Urteile daher sehr wohl eine objektive Grundlage. Wir können uns nicht nur irren in unserer Beurteilung, sondern auch fortwährend neue Eigenschaften an einem ästhetischen Objekt entdecken, ob es sich nun um die Werke Homers, Michelangelos oder Mozarts handelt oder um eine Landschaft und den menschlichen Körper. Man entdeckt immer wieder neue Elemente, Formen und Stukturen. Möglich ist dies nur, weil es etwas Reales außerhalb unserer selbst gibt, das eine solche Empfindung des Schönen auslöst. Es spricht also einiges für einen ästhetischen Realismus. Der Bereich des Schönen ist in gewissem Sinne ein anthropozentrischer, denn die ästhetische Erfahrung wurzelt im Subjekt. In dieser Hinsicht haben Hume und Kant recht. Doch Schönheit hat zugleich auch eine objektive Seite, da sie uns etwas Wesentliches über bestimmte Aspekte der Welt mitteilt. Platon als Mittelweg Manche Philosophen haben versucht, einem solchen ästhetischen Realismus eine metaphysische Wendung zu geben. Ästhetische Urteile verweisen dann nicht nur auf etwas außerhalb von uns, sie übersteigen sogar die gesamte empirische Wirklichkeit. So ist für den griechischen Philosophen Platon unsere irdische Schönheitserfahrung eine Wiedererinnerung (anamnesis) an eine vorgeburtliche Zeit, in der sich unsere Seele im Reich der Ideen aufhielt. Im Grunde sind alle Phänomene der Natur bloße Schattenbilder ewiger Formen und Ideen. Die Welt, die wir mit unseren Sinnesorganen wahrnehmen, ist Platon zufolge nicht die wahre Welt. Sie ist unvollkommen, flüchtig und veränderlich. Mithilfe unseres Verstands (Plato ist der Prototyp eines Rationalisten) begreifen wir, dass die irdischen Dinge nur eine unvollkommene Abspiegelung ewiger und vollkommener Ideen sind. Dies gilt nach Ansicht Platons auch für die Schönheit. In der Sinnenwelt erleben wir Schönheit zu allererst in Gestalt physisch anziehender Menschen – in Platons Fall schöner Knaben. Das Schönheitsgefühl beginnt also mit fleischlicher Lust. Doch diese sexuelle Begierde nach einem bestimmten Menschen ist in Platons Augen sklavisch und kurzsichtig. Wir können die Lust sublimieren, indem wir uns von der Begierde aufschwingen zu dem, was alle schönen Dingen
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miteinander verbindet: das Schöne an sich. Wir haben uns von der Neigung zum Sinnlichen und Individuellen gelöst und schauen die reine Idee der Schönheit selbst. Die ästhetische Erfahrung ist dann – wie auch Kant sagt – wahrlich frei, losgelöst und interesselos. Wenn unsere Vernunft die Idee der reinen Schönheit schaut, stehen wir in Kontakt mit einer höheren, transzendenten Wirklichkeit. O’Hear meint, wir brauchten uns Platons Metaphysik nicht bedingungslos zu eigen zu machen, doch weise Platon uns auf etwas Wichtiges hinsichtlich der Schönheit hin. Er zeige nämlich, dass es eine ganze Skala an ästhetischen Erfahrungen gibt, von physischer, sexueller Anziehung auf der einen Seite bis zu interesselosem Wohlgefallen auf der anderen Seite. Es gibt, mit anderen Worten, Übergänge zwischen den Positionen von Kant und Darwin, zwischen ästhetischer Distanziertheit und sexueller Anziehung. Darwin betont den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Schönheitssinn und biologischen Funktionen wie Fortpflanzung, Nahrungsbeschaffung und Wahl eines Lebensraums. Infolgedessen haben für ihn auch Tiere einen Schönheitssinn. Kant vertritt den entgegengesetzten Standpunkt: Ein ästhetisches Urteil muss immer interesselos und frei sein und darf keinem Zweck dienen. Aus dieser Sicht können Tiere keine Schönheit empfinden. Platon kann uns helfen, die Brücke zwischen diesen entgegegengesetzten Standpunkten zu schlagen. Seine Ästhetik zeigt, dass die Positionen Kants und Darwins die äußersten Pole eines Kontinuums sind und dass es keine grundsätzliche Kluft zwischen Mensch und Tier gibt. Kant meinte, eine instinktive, physiologische Reaktion auf einen Sinnenreiz könne nie ästhetisch im eigentlichen Sinn des Wortes sein. Diese Ansicht ist unhaltbar, denn die instinktive, artspezifische Reaktion auf einen bestimmten Stimulus stellt ja gerade den Ursprung der ästhetischen Erfahrung dar. Instinkt und Ästhetik sind durchaus miteinander vereinbar. Es gibt denn auch keinen Grund, Tieren den Schönheitssinn abzusprechen, aus der Lust kann durchaus Schönes entstehen. Friedrich Nietzsche begriff dies besser als Kant. Für ihn gehen Kreativität und Schönheit aus zwei komplementären Prinzipien hervor: Rausch und Selbsterkenntnis. Nietzsche nennt sie das Dionysische und das Apollinische. Der blinde dionysische Trieb liegt dem sinnlichen Genuss, dem Rausch und der Ekstase zugrunde. Die Verzückung der Sinne kann jedoch nur mithilfe der apollinischen Selbsterkenntnis (des Individuationsprinzips) erlebt werden. Der Ursprung der Kunst O’Hear müsste also aufgrund seiner eigenen Überlegungen eingestehen, dass seine anfängliche Skepsis gegenüber einem tierischen Schönheitssinn voreilig war. Er tut dies jedoch nur zum Teil. Zwar bestreitet er weder die evolutionäre Kontinuität zwischen Mensch und Tier noch eine gemeinsame Abstammung, und er räumt ein, dass die sexuelle Anziehungskraft sowohl bei Tieren wie bei
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Abb. 13.1: Venus von Willendorf
Menschen die elementarste Schönheitserfahrung ist, doch im Unterschied zum Tier habe sich der Mensch von seinen biologischen Abhängigkeiten befreit. Der Mensch sei einzigartig, weil er seine ästhetischen Urteile evaluieren und korrigieren könne. Das menschliche Schönheitsgefühl entwickle und verfeinere sich ständig. Tiere, ob Pfau oder Laubenvogel, seien dazu nicht in der Lage, da ihre Präferenzen genetisch festgelegt seien. O’Hear hebt somit wiederum die beiden äußersten Pole der ästhetischen Erfahrung hervor, ohne die Zwischenstufen zu berücksichtigen. Zwischen instinktiven Vorlieben und sublimer Kunstkritik gibt es aber noch ein ganzes Spektrum. O’Hear weist zu Recht darauf hin, dass sich der menschliche Schönheitssinn in der bildenden Kunst, der Architektur und der Literatur ganz neue Bereiche erobert hat. Doch dies steht nicht mit der Tatsache im Widerspruch, dass der Ursprung der Schönheitserfahrung in der menschlichen Natur liegt. Im neunten Kapitel sahen wir bereits, dass die ersten Schritte des Menschen auf dem Weg zur Kunst eng mit biologischen Imperativen wie Fortpflanzung und Nahrungsbeschaffung zusammenhingen. Vielerorts hat man etwa in Europa prähistorische weibliche Figuren mit stark hervorgehobenen Geschlechtsmerkmalen gefunden. Das berühmteste Beispiel ist die Venus von Willendorf (Abb. 13.1).
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Die zehn Zentimeter hohe vollplastische Figur aus Kalkstein wurde in Österreich gefunden und wird auf ca. 25 000 v. Chr. datiert. Fast jedes renommierte archäologische Museum in Europa besitzt im Übrigen solche Statuetten. Höchstwahrscheinlich standen sie in Verbindung mit Fruchtbarkeitsritualen. Die frühesten uns bekannten Artefakte, die man als Kunstäußerungen auffassen kann, waren also mit Sexualität und Fortpflanzung verbunden. Natürlich wissen wir nicht mit Sicherheit, ob diese sogenannten Venusfiguren eine Funktion hatten und wenn ja, welche. Es wurden auch andere Deutungen vorgeschlagen, etwa, dass es sich um Spielzeug handelt. Doch ist dies nicht sehr wahrscheinlich. Auch einem anderen Zeugnis prähistorischer Kunst, den Felsmalereien, liegen höchstwahrscheinlich biologische Motive zugrunde. In den Höhlen von Lascaux, Rouffignac und Chauvet finden sich fast ausschließlich Darstellungen von Tieren, wie Auerochsen, Bisons, Hirschen, Pferden, Raubkatzen, Wisenten, Wollnashörnern und Bären. Ist dies Zufall? Wohl kaum, denn die Höhlenbilder und Felsritzungen hatten wahrscheinlich eine rituelle oder magische Funktion; durch die symbolische Kraft der Zeichen sollte das Jagdglück beschworen werden (Abb. 13.2). Jagd liefert sehr nahrhafte eiweiß- und fettreiche Kost, und die Nahrungsbeschaffung ist neben der Fortpflanzung natürlich eine der elementarsten Beschäf-
Abb. 13.2: Kopf eines Stiers, Höhlenmalerei, Lascaux (Frankreich, Dordogne)
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tigungen aller Lebewesen. Auch diese Form früher Kunst, die etwa so alt ist wie die Venus von Willendorf, ist also möglicherweise aus elementaren biologischen Bedürfnissen hervorgegangen. Wir wissen dies allerdings nicht sicher. So wurde auch die These vertreten, die Höhlen seien Kultstätten gewesen, in denen junge Männer in Mythen oder in eine Protoreligion eingeweiht wurden. Wie dem auch sei, es besteht kein Zweifel, dass die Darstellungen der Beutetiere wichtiger Bestandteil der Riten waren. Unsere fernen Vorfahren hatten noch andere künstlerische Qualitäten, wie die Herstellung sorgfältig bearbeiteter Steinwerkzeuge beweist, die viel älter sind als die Venusfiguren und Höhlenmalereien. Die ersten primitiven Abschläge und Schaber wurden bereits von Homo habilis hergestellt und sind mindest zweieinhalb Millionen Jahre alt. Vor etwa anderthalb Millionen Jahren perfektionierte Homo erectus diese Fertigkeit, es entstanden die ersten echten Faustkeile. Sie wurden, vorzugsweise aus Feuerstein oder Obsidian, in der ganzen Alten Welt (Afrika, Europa und Asien) in großen Mengen produziert und blieben über eine Million Jahre praktisch unverändert. Offensichtlich spielte kulturelle Innovation oder Variation nicht die geringste Rolle. Merkwürdig ist auch, dass viele der zutage gekommenen Faustkeile ihren eigentlichen Zweck als handliches Werkzeug zu verfehlen scheinen, da sie entweder viel zu groß und zu schwer oder viel zu klein und unpraktisch oder äußerst kunstvoll und symmetrisch bearbeitet sind. Am rätselhaftesten ist wohl die Tatsache, dass manche – auch unter dem Elektronenmikroskop – keinerlei Spuren der Abnutzung aufweisen. Die Ärchäologen Marek Kohn und Steven Mithen haben vor einiger Zeit die These aufgestellt, derartige Faustkeile hätten in erster Linie nicht als Werkzeuge gedient, sondern als Statussymbole. Ähnlich wie der Pfauenschwanz und die Bauten der Laubenvögel dienten sie dazu, dem anderen Geschlecht zu imponieren und es zu verführen. Der Faustkeil war ein Fitness-Indikator, ein Ornament der sexuellen Partnerwahl. Es erforderte eine gewisse körperliche und geistige Anstrengung, einen schönen Faustkeil herzustellen; er wies seinen Besitzer als geschickt, ausdauernd und vital aus. Wenn Kohn und Mithen recht haben, sind Faustkeile die frühesten Kunsterzeugnisse des Geschlechts Homo. Das würde einmal mehr beweisen, dass Ästhetik und Kunstsinn in unseren Genen verankert sind. Schönheitssinn als Adaptation Nach Ansicht von Evolutionspsychologen wie Steven Pinker, Geoffrey Miller und David Buss sind die Kunstwerke, wie wir sie aus Museen und Galerien kennen, nur die letzten Zeugnisse eines viel älteren und universalen menschlichen Triebs, ästhetisch schöne Gegenstände herzustellen. Die frühesten Zeugnisse sind Faustkeile, Höhlenmalereien, Statuetten, Körperbemalung und Schmuck. Hinsichtlich der Frage nach dem Ursprung des Schönheitssinns folgt die Evolu-
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tionspsychologie Darwins Auffassung. Der Sinn für das Schöne gehört zur menschlichen Natur, und wir teilen ihn vielleicht mit anderen Tieren. Die Fähigkeit, Sinneseindrücke qualitativ auszuwerten, ist eine Adaptation, das Produkt der natürlichen und/oder sexuellen Selektion. Schönheit liegt in der Psyche des Betrachters, einer Psyche, die sich im Laufe der Evolution herausgebildet hat. Wir können das Schönheitsempfinden daher nur begreifen, wenn wir es in einen evolutionären Zusammenhang stellen. Die Evolutionspsychologie ist, wie bereits an anderer Stelle erläutert, auf die Adaptationen des Gehirns und der Psyche angewandte Evolutionsbiologie. Sie betrachtet unser Gehirn und die Psyche als durch die Evolution geformte Anpassungen und überträgt die Grundsätze der Evolutionsbiologie auf das soziale Verhalten des Menschen. Mentale Funktionen wie Emotionen, Präferenzen und unser Schönheitssinn haben sich im Laufe der menschlichen Stammesgeschichte als Überlebens- und Reproduktionsvorteile herausgebildet. Die Evolutionspsychologie betont die Universalität der menschlichen Natur. Der Geist besteht aus einer Vielzahl stammesgeschichtlich geformter Module, abgestimmt auf die Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umwelt. Die menschliche Natur wird zwar auf vielfältige Weise kulturell beeinflusst, doch die genetische Grundausstattung ist überall die gleiche. Bei Weitem der wichtigste Teil der Menschheitsgeschichte vollzog sich während des Pleistozäns, des geologischen Zeitabschnitts, der vor etwa 1,6 Millionen Jahren begann und vor zehntausend Jahren endete. Alle bedeutsamen psychischen Funktionen entwickelten sich innerhalb dieses Zeitraums. Doch mit dem Aufschwung der Menschen von einfachen Jägern und Sammlern zur Landwirtschaft und städtischen Zivilisation haben sich in den vergangenen zehntausend Jahren des Holozäns unsere Gesellschaftsformen dramatisch verändert. Diese Zeitspanne war, historisch gesehen, von großer Bedeutung für den Menschen, doch gemessen an der evolutionären Zeitskala praktisch unbedeutend. Zehntausend Jahre reichen nicht aus, um körperliche und psychische Adaptationen tief greifend zu verändern. In unserem modernen Gehirn wohnt ein „steinzeitlicher Geist“. Wenn wir die Funktionen unserer ästhetischen Module, unseren Schönheitssinn, begreifen wollen, so die Evolutionspsychologen, müssen wir uns eigentlich in unsere fernen Vorfahren hineinversetzen. So legten der Verhaltensforscher Roger Ulrich, der Evolutionspsychologe Stephen Kaplan und die Ökologen Gordon Orians und Judith Heerwagen interessante Studien über unsere instinktiven Landschaftspräferenzen vor. Testpersonen verschiedener Kulturen und Altersstufen wurden anhand von Fotos nach ihren Vorlieben für bestimmte Landschaftstypen befragt. Fast immer wurden natürliche Landschaften schöner empfunden als städtische oder agrarische, und von den natürlichen Habitaten wurde eine savannenähnliche Landschaft bei weitem dem Regenwald (undurchdringliche Vegetation) oder der Wüste (wenig oder fast keine Vegetation) vorgezogen. Sogar achtjährige Kinder, die nie eine
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Savanne gesehen hatten, sprachen sich mehrheitlich für diesen Lebensraum aus. Wir scheinen eine angeborene Vorliebe für welliges Grasland mit Baum- und Felsgruppen und einem sich schlängelnden Bach zu besitzen. Die Testpersonen reagierten besonders positiv auf Wasser, auf geringe Dichte der Vegetation, mäßige Höhenunterschiede und hohe Bäume (Akazien), deren Äste sich schon tief über dem Boden verzweigen. Es ist eine an den französischen Barockmaler Claude Lorrain erinnernde Ideallandschaft. Wie ist diese kulturübergreifende Vorliebe zu erklären? Den Forschern zufolge ist sie in unseren Genen verankert: Wir empfinden eine savannenähnliche Landschaft als schön, weil sie einen stammesgeschichtlichen, angeborenen Reflex auslöst. In der afrikanischen Savanne begann der Aufstieg der ersten Hominiden, dort fanden ihre entscheidenden Entwicklungsschritte statt. Die Präferenz unserer Vorfahren für diesen Landschaftstyp war funktional und adaptiv. Die Savanne bot den ersten Menschen einen idealen Lebensraum. Hier fanden sie Nahrung und Wasser, Schutz und Aussichtspunkte. Die Savanne beherbergt vergleichsweise mehr Wild als der Regenwald und die Wüste. Die vereinzelten Baumgruppen gewähren Unterschlupf vor Raubfeinden und spenden Schatten. Individuen, die die Savanne bevorzugten, wurden von der natürlichen Selektion belohnt. Sie hatten größere Chancen, sich fortzupflanzen, als diejenigen, die im undurchdringlichen Regenwald oder in der Wüste lebten. Wir sind ihre Nachkommen und haben ihre ästhetischen Vorlieben geerbt. Auch in unseren Landschaftsgärten spiegelt sich noch immer unbewusst diese Vorliebe wider. Schönheit und Symmetrie Was für Landschaften gilt, scheint auch für bestimmte körperliche Eigenschaften zu gelten. In allen Kulturen werden bestimmte Merkmale als schön erfahren, wie volle Lippen, eine makellose Haut, gesunde und weiße Zähne, helle Augen und glänzendes Haar. Auch hier haben wir es mit Fitness-Indikatoren zu tun, physiologischen Zeichen von Jugendlichkeit, Gesundheit und Fruchtbarkeit. Wir finden junge Menschen im Allgemeinen schöner als alte. Jedenfalls trifft dies für Männer zu, die Frauen im sozusagen reproduktivsten Alter präferieren. Das Schönheitsempfinden ist ein probates Mittel, die genetischen Qualitäten und die Fitness eines potenziellen Partners einzuschätzen, wir können schließlich nicht die Gene, das Immunsystem oder die Fortpflanzungsfähigkeit des anderen unmittelbar beurteilen. Wir lassen uns zunächst vom Aussehen und der Attraktivität lenken. Auch in dieser Hinsicht ist der Schönheitssinn adaptiv. Die Evolution hat uns mit ästhetischen Modulen ausgestattet, die uns bei der Partnerwahl behilflich sind. Instinkt und Schönheitsempfinden gehen hier Hand in Hand. Der Anblick eines wie immer ,schönen‘ Menschen kann heftige emotionale und physiologische Reaktionen auslösen. Die Hormone geraten außer Rand und Band.
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Manche ästhetischen Vorlieben äußern sich bereits in sehr frühem Alter. Eine Studie der Psychologin Judith Langlois zeigte, dass schon sechs Monate alte Säuglinge Gesichter, die von Erwachsenen als schön eingestuft worden waren, beträchtlich länger anschauten als unattraktivere. Zum Glück ging aus Langlois Untersuchungen auch hervor, dass für Durchschnittsgesichter nicht alle Hoffnung verloren ist. Stärker noch, Mittelwerte scheinen überhaupt eine große Anziehungskraft auf uns auszuüben, wie verschiedene Untersuchungen von Forschern wie Karl Grammer, Randy Thornhill, David Perret und Steven Gangestad belegen. Bei einem dieser Experimente wurden aus sechsunddreißig Fotos menschlicher Gesichter mithilfe eines Computerprogramms schrittweise Durchschnittsbilder generiert und Testpersonen vorgelegt, die die Gesichter nach Schönheit und Attraktivität ordnen mussten. Alle bevorzugten das Kompositgesicht vor den Einzelgesichtern. Je mehr „Originalgesichter“ dabei in das Kompositgesicht eingegangen waren, desto attraktiver wurde es beurteilt. Zum schönsten Gesicht wurde einstimmig das gewählt, das sich aus allen sechsundreißig Gesichtern zusammensetzte. Zum gleichen Ergebnis führte ein Experiment, das eine Gruppe von Psychologiestudenten der Universität Regensburg durchführte. Sie hatten die Gesichter der zweiundzwanzig Endrunden-Teilnehmerinnen der Miss-Germany-Wahl 2002 fotografiert, und zwar in Frontalansicht, die Haare nach hinten gebunden und ohne Make-up. Auch in diesem Fall fanden Testpersonen die zusammengesetzten Gesichter attraktiver. Die „virtuelle“ Miss Germany, die aus einer Kombination aller zweiundzwanzig Gesichter entstand, schnitt wiederum am besten ab (Abb. 13.3). Der Grund für diese starke Präferenz von Durchschnittsgesichtern liegt wahrscheinlich in ihrer Symmetrie, denn durch die Überlagerung der verschiedenen Fotos werden nicht nur Unvollkommenheiten beseitigt, sondern auch sämtliche Asymmetrien. Und ein ebenmäßiges Gesicht wird unbewusst attraktiver empfunden als ein unregelmäßiges. Auch die Symmetrie ist in diesem Fall ein Zeichen der Fitness. Ein unregelmäßiges, asymmetrisches Gesicht oder ein asymmetrischer Körper scheint auf Funktionsstörungen, ein schwaches Immunssystem, die Anwesenheit von Parasiten oder chronischen Stress hinzudeuten. Menschen
Abb. 13.3: Die echte (links) und die virtuelle Miss Germany 2002 (rechts)
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mit einem unregelmäßigen Körper scheinen öfter physische und psychische Beschwerden zu haben als Menschen mit einem symmetrischen Körper. Was die Vorlieben für Gesichter betrifft, unterscheiden sich Männer von Frauen. Das Schönheitsempfinden ist nicht nur art-, sondern auch geschlechtsspezifisch. Sowohl Männer wie Frauen schätzen Symmetrie, doch Männer haben darüber hinaus eine unverkennbare Vorliebe für neotene, kindliche Frauengesichter. Unter Neotonie versteht man die Bewahrung jugendlicher Merkmale bei Erwachsenen. Ein neotenes Frauengesicht zeichnet sich durch große Augen, eine kleine Nase und volle Lippen aus. Es sendet eigentlich ein irreführendes Signal aus, doch ist dies keineswegs verwunderlich, da Männer besonders auf Zeichen der Jugendlichkeit und Fruchtbarkeit reagieren. Eine Vorliebe für ältere Frauen in der Menopause ist sicher nicht ausgeschlossen, doch aus evolutionärer Sicht keine gute Strategie. Der sexuelle Selektionsdruck begünstigt daher Frauen, die jünger aussehen, als sie tatsächlich sind. Für Frauen dagegen ist das Alter des potenziellen Partners viel weniger wichtig, da Männer bis ins hohe Alter zeugungsfähig sind. Sie tun daher besser daran, auf Anzeichen von Gesundheit und Vitalität zu achten. Frauen präferieren denn auch ein von einem hohen Testosteronspiegel geprägtes Männergesicht mit maskulinen Merkmalen wie kantigem Kiefer, hervortretenden Backenknochen und ausgeprägtem Kinn. Interessanterweise scheinen die Vorlieben bei Frauen während der Menstruation zu schwanken (vgl. Kap. 2). Eine Studie unter Leitung des Psychologen Ian Penton-Voak zeigte, dass Frauen vor und nach der Ovulation ein „feminines“ und sanftmütiges Männergesicht bevorzugen, während sie in den Tagen des Eisprungs den maskulinen Machokopf als anziehend empfinden. Frauen wenden offenbar eine intelligente Doppelstrategie an: Für die „guten Gene“ wählen sie den (unzuverlässigen) Macho, doch als Lebenspartner ist ihnen der Softie lieber. Übrigens wurde die Bedeutung der Symmetrie bei der Partnerwahl auch bei Tieren festgestellt. Bereits Jahre, bevor Thornhill die ästhetischen Präferenzen der Menschen untersuchte, entdeckte er, dass Skorpionsfliegen ein Auge für Ebenmaß haben und Artgenossen mit symmetrischen Flügeln denen vorziehen, deren Flügel unregelmäßiger sind. Ähnliches stellte der Biologe Anders Møller bei Schwalben fest. Indem er die Länge und Symmetrie des Schwalbenschwanzes manipulierte, konnte er nachweisen, dass Männchen mit einem symmetrisch gegabelten Schwanz attraktiver wirkten und einen größeren Fortpflanzungserfolg hatten als Männchen mit einem asymmetrischen Schwanz. Weibliche Rundungen und ungewaschene T-Shirts Wenn die Schönheit des menschlichen Gesichts als Qualitätsmerkmal angesehen wird, trifft dies womöglich auch auf den restlichen Körper zu. Auch hierzu gibt es eine Reihe interessanter Untersuchungsergebnisse, vor allem was die männliche Vorstellung von weiblicher Schönheit betrifft. Auf den ersten Blick
WEIBLICHE RUNDUNGEN UND UNGEWASCHENE T-SHIRTS
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scheinen die Unterschiede zwischen den Kulturen groß zu sein. In Ländern mit Nahrungsknappheit präferieren Männer mollige Frauen, während sie in den Industrieländern mit ihrem Nahrungsüberfluss schlankere bevorzugen. Westliche Frauen scheinen zudem oft ein Idealbild des eigenen Geschlechts zu haben – das superschlanke Model –, das Männer gar nicht teilen. Man könnte daher meinen, solche Vorlieben seien zeitgebunden und einzig kulturell determiniert. Doch trifft dies wahrscheinlich nicht zu. Es scheint nämlich eine universale Präferenz für ein bestimmtes Taille-zu-Hüfte-Verhältnis (THV) zu geben. Bis zur Pubertät ist es bei Jungen und Mädchen etwa gleich (ca. 0,9). Das heißt, der Umfang der Taille entspricht neunzig Prozent des Hüftumfangs. In der Pubertät wird das Becken der Mädchen breiter, das weibliche Geschlechtshormon Östrogen sorgt dafür, dass sich Fett an Hüfte, Schenkeln und Gesäß ablagert. Die Taille wird also verhältnismäßig schmaler, es entwickelt sich die typische „Sanduhrfigur“. Untersuchungen des amerikanischen Psychologen Devendra Singh zeigten, dass die Vorliebe erwachsener Männer für die Sanduhrfigur universal ist. Männer aus den verschiedensten Kulturkreisen, denen er Bilder von Frauenkörpern mit unterschiedlichem THV zeigte, präferierten mehrheitlich einen Quotienten von etwa 0,7. Anders als oft gedacht, ist diese Vorliebe auch relativ zeitlos. Zur Kontrolle blätterte Singh ältere Jahrgänge von Playboy durch. Die „Playmates“ waren in den letzten dreißig Jahren zwar schlanker geworden, doch ihr THV hatte sich nicht geändert. Dieses ist nämlich kein absoluter Maßstab, sondern gibt nur das Verhältnis zwischen Taille und Hüfte wieder. So hatten sowohl Marilyn Monroe wie Audrey Hepburn den gleichen THV-Quotienten von 0,7. Der Einwand, Männer hätten in früheren Jahrhunderten ein anderes weibliches Körperideal gehabt, sich zum Beispiel mehr für Rubens-Figuren begeistert, ist somit unter diesem Aspekt nicht relevant. Die Rubens’schen Frauen sind zwar recht füllig, doch sie weisen die gleichen geschätzten weiblichen Rundungen und Kurven auf. Die evolutionspsychologische Erklärung für diese Präferenz liegt auf der Hand: Die Sanduhr-Figur signalisiert Jugendlichkeit und Gesundheit, welche wiederum auf den weiblichen Fortpflanzungswert hinweisen. Frauen mit einem niedrigen THV (bei gesunden jungen Frauen liegt es zwischen 0,67 und 0,80) werden durchschnittlich früher und leichter schwanger als Frauen mit einem hohen THV, sie sind zudem weniger anfällig für Diabetes, hohen Blutdruck und Herz-Kreislauf-Beschwerden. Nicht verwunderlich also, dass Männer auf weibliche Kurven stehen. Die Sanduhr-Figur, ein ausgeprägtes Gesäß und Brüste sind das Resultat männlicher Präferenz. Die Rundungen gehen auf die sexuelle Selektion zurück. Wenn wir bei der Partnerwahl unbewusst von visuellen Eindrücken bestimmt werden, gilt dies vielleicht auch für andere Körpersignale, etwa für Gerüche. So entdeckte der Schweizer Biologe Claus Wedekind, dass Nagetiere wie Mäuse genetisch geeignete Sexualpartner über den Körpergeruch finden. Körpergeruch
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wird nämlich teilweise durch den Gen-Satz mit dem Namen Major Histocompatibility Complex (MHC) bestimmt. Der MHC spielt eine zentrale Rolle in der Immunabwehr von Krankheitserregern und beeinflusst zudem die Konzentration von Geruchsstoffen in Körperflüssigkeiten wie Urin, Blut, Muttermilch und Schweiß. Jedes Individuum besitzt unverwechselbare MHC-Gene. Mäuse bevorzugen, wie Wedekind herausfand, Partner, deren MHC sich möglichst von ihrem eigenen unterscheidet. Denn je bunter die MHC-Gene gemischt sind, desto wirkungsvoller arbeitet die Immunabwehr ihrer gemeinsamen Nachkommen. Um festzustellen, ob der Körpergeruch auch bei der menschlichen Partnerwahl eine Rolle spielt, dachte Wedekind sich folgendes Experiment aus. Er bat vierundvierzig Männer, zwei aufeinanderfolgende Nächte ein T-Shirt zu tragen. Um das Versuchsergebnis nicht zu verfälschen, durften die Männer kein Aftershave oder Parfüm verwenden. Anschließend legte Wedekind die T-Shirts in Kartons, die mit einem Loch versehen waren, und ließ neunundvierzig Frauen schnuppern, und zwar an jeweils drei T-Shirts von Männern mit ähnlichem MHC, an drei T-Shirts von Männern mit unterschiedlichem MHC und – zur Kontrolle – an einem frischen, ungetragenen T-Shirt. Das Ergebnis: Die meisten Frauen fanden den Geruch der Männer mit den unähnlichsten MHCs am anregendsten. Zum gleichen Ergebnis kamen Untersuchungen, wobei die Rollen vertauscht waren. Auch männliche Testpersonen zeigten eine Geruchsvorliebe für T-Shirts von Frauen, deren MHC sich von ihrem eigenen unterschied. Offenbar haben wir einen Riecher für gute Gene. Wedekind stieß jedoch auch auf eine überraschende und vielleicht etwas beunruhigende Ausnahme. Bei weiblichen Probanden, die die Antibaby-Pille einnahmen, war eine Umkehr der Geruchsvorlieben festzustellen; sie bervorzugten nun die Körpergerüche MHC-ähnlicher Männer. Die Pille beeinträchtigt offenbar die sexuelle Chemie. Erklärt wird dies damit, dass Ovulationshemmer den Hormonhaushalt der Frauen derart stören, dass diese einen geeigneten, potenziellen Partner nicht mehr „riechen“ können. Denn bei der Verhütung mit der Pille handelt es sich ja um nichts anderes als eine simulierte Schwangerschaft; Frauen sind nun nicht mehr auf der Suche nach einem Fortpflanzungspartner. Gleiches hat man bei Mäusen festgestellt. Schwangere Weibchen präferieren den vertrauten Geruch von Mäuserichen mit ähnlichem MTC. Wedekind vermutet, dass weibliche Säugetiere während der Schwangerschaft die Nähe der männlichen Verwandten suchen, die ihnen beim Aufziehen der Nachkommen helfen und sie vor fremden, mordlustigen Männchen schützen können. Aussichten einer evolutionären Ästhetik Unser Schönheitssinn ist demnach also Teil unserer menschlichen Natur. Die Evolution hat unsere Psyche mit ästhetischen Modulen und Basispräferenzen ausgestattet, weil diese überlebens- und fortpflanzungsdienlich sind. Bestimmte
AUSSICHTEN EINER EVOLUTIONÄREN ÄSTHETIK
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Vorlieben haben sich im Laufe der Stammesgeschichte als vorteilhafter erwiesen als andere. Manche, wie die Präferenz für eine savannenähnliche Landschaft, haben ihre ursprüngliche Funktion vielleicht verloren, viele andere, wie diejenigen, die bei der Partnerwahl eine Rolle spielen, sind noch immer adaptiv. Wir haben auch konstatiert, dass es die Idee der Schönheit im platonischen Sinne nicht gibt, da ästhetische Vorlieben artspezifisch sind. Was bei Menschen Ekel hervorruft, kann für einen Rosskäfer oder eine Mistfliege sehr attraktiv sein und umgekehrt. Zudem ist das Schönheitsempfinden teilweise geschlechtsspezifisch. Warum das eine Geschlecht etwas schön findet, ist für das andere bisweilen ein Rätsel (das Ballgefühl von Ronaldinho oder eine Handtasche von Louis Vuitton zum Beispiel). Auch das Alter spielt eine Rolle – die Erinnerung an das, was uns mit fünfzehn in Ekstase versetzte, treibt uns heute vielleicht eher die Schamröte ins Gesicht. Was Letzteres betrifft, hat O’Hear sicher recht: Wir können unseren Geschmack entwickeln und verfeinern. Doch so wenig Schönheit rein objektiv ist, so wenig ist sie rein subjektiv. Sie ist auch kein soziales Konstrukt. Nicht einmal in einer Ära, in der die Mona Lisa, eine Suppendose von Andy Warhol und Mickey Mouse als gleichrangige Ikonen durchgehen. Die These lautet: Schönheit ist eine biologische Realität. Sie verdankt sich den objektiven Eigenschaften der Dinge in der Außenwelt und der Psyche, die dafür empfänglich ist. Schönheit ist eine relationale Eigenschaft, wir könnten sie mit dem Psychologen James Gibson eine „Affordanz“ nennen. Eine Affordanz ist eine Eigenschaft der Welt, die zu einem bestimmten Verhalten „einlädt“. Eine reife Frucht lädt dazu ein, gepflückt zu werden, eine reizvolle Landschaft, erkundet zu werden, ein schöner Körper, geliebt zu werden und so weiter. Eine Affordanz ist nicht von einem beobachtenden Subjekt abhängig, sie existiert auch, wenn sie nicht wahrgenommen wird. Dieser Gedanke hebt die Dichotomie von Subjektivität und Objektivität auf, da eine Affordanz eine Wechselbziehung zwischen Umwelt- und Organismus-Eigenschaften darstellt. Es lassen sich jedoch auch kritische Anmerkungen zur evolutionären Ästhetik anbringen, denn längst nicht jeder ist von ihrem Nutzen überzeugt. Erklärte Gegner der Soziobiologie und der Evolutionspsychologie wie Hilary und Steven Rose halten die Idee einer „universalen menschlichen Natur“ für ein Hirngespinst. Um vieles wichtiger sei der Einfluss der Kultur auf unser Verhalten. Neodarwinisten, die sich auf das Feld der Sozialwissenschaften begäben, kämen nur zu pseudowissenschaftlichen Erklärungen. Die zweifelhaften Geschichten von Adaptationen und evolutionären Szenarios dienten den Evolutionspsychologen, bewusst oder unbewusst, nur dazu, die „naturgegebene“ Ungleichheit zwischen Menschen, Geschlechtern und Rassen zu betonen. Für Stephen Jay Gould sind es Nur-so-Geschichten – unfundierte Hypothesen, die allerlei grassierende Vorurteile in Bezug auf die menschliche Natur bekräftigen. Vielleicht haben diese Kritiker in gewissem Sinne recht. Der Einfluss der Kultur lässt sich nicht leugnen. Die Präferenz für eine Savannenlandschaft könnte
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ebenso gut zum Teil eine erworbene Eigenschaft sein, und die weltweite Vorliebe für englische Gärten ist vielleicht weniger ein biologisches, als vielmehr ein koloniales Erbe. Das Gleiche gilt möglicherweise auch für die „universale“ männliche Präferenz der weiblichen Sanduhr-Figur. Der Einfluss der Medien – Fernsehen, Film und Videoclips – ist nicht zu unterschätzen. Einige Forscher meinen, Männer aus sogenannten primitiven Kulturen, die noch nicht mit der westlichen Zivilisation in Berührung gekommen sind, fänden ein viel höheres Taille-HüfteVerhältnis bei Frauen attraktiv als Männer in den Industrieländern. Ein niedriges THV gelte ihnen regelrecht als Hinweis auf schlechte Gesundheit, Unterernährung oder Magen- und Darmstörungen. Und was soll man von der Venus von Willendorf halten, die nicht gerade eine Wespentaille hat? Herrschte während des Pleistozäns vielleicht doch ein anderes Schönheitsideal? Das Problem besteht darin, dass bei all diesen ästhetischen Präferenzen die kulturellen Einflüsse nur schwer von den biologischen zu trennen sind. In den meisten Fällen haben wir es mit einer komplexen Wechselbeziehung beider Faktoren zu tun. Es wäre daher unvernünftig, von vornherein auszuschließen, dass manche ästhetischen Vorlieben, genauso wie manche Emotionen, universal sind. Eine Klärung dieses Sachverhalts wäre vielleicht von Feldforschungen bei isolierten Kulturen zu erwarten, wenn es solche denn noch gäbe. Zweifel an den Resultaten mancher Untersuchungen können jedoch nicht schaden, im Gegenteil. Fundierte Kritik an ihren Theorien kann die Evolutionspsychologen nur dazu zwingen, umfangreicheres und überzeugenderes Beweismaterial vorzulegen. Der Wissenschaft wird es zugute kommen. Es lässt sich noch ein weiterer Einwand vorbringen. Die Erklärungskraft der darwinistischen Ästhetik hat ihre Grenzen, besonders was den Bereich der Kunst betrifft. Sie kann zum Verständnis unserer allgemeinen Vorlieben für Farben, Proportionen und Formen beitragen, doch über den Gehalt von Kunstwerken schweigt sie sich aus. Sie wird nie erklären können, warum wir Bach mehr schätzen als seinen Zeitgenossen Telemann, warum Thomas Mann als größerer Schriftsteller gilt als Botho Strauß, oder warum uns der abstrakte Expressionismus eines Willem de Kooning aufwühlt. Ein Kunstwerk besitzt neben äußeren Aspekten auch „innere“, die sich einer empirischen und quantitativen Betrachtungsweise entziehen. Die Bedeutung eines Kunstwerks ist nicht auf naturwissenschaftliche Begriffe zurückzuführen. Wer das menschliche Schönheitsempfinden rein evolutionär erklärt, klammert etwas Wesentliches aus. Die inneren Aspekte der Kunst können wohl nur durch das aufgespürt werden, was Max Weber und Wilhelm Dilthey die Methode des Verstehens genannt haben. Bei einer hermeneutischen Annäherung geht es vor allem um das Einfühlungsvermögen: Wir müssen durch Introspektion herauszufinden suchen, was der Künstler mit seiner Schöpfung bezweckte. Eine evolutionäre Ästhetik kann diese Aufgabe nicht übernehmen, doch sie prätendiert dies auch gar nicht. Die Evolutionspsychologie kann erklären, woher unser Schönheitssinn stammt und warum
AUSSICHTEN EINER EVOLUTIONÄREN ÄSTHETIK
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Menschen oft die gleichen Vorlieben haben. Sie verweist dazu auf die biologischen und evolutionären Wurzeln der Schönheitserfahrung. Die Evolutionspsychologie wird die traditionelle Ästhetik daher nicht ersetzen, sie kann aber eine wertvolle Ergänzung zu unseren Theorien über Kunst sein. Denn die menschliche Kunst ist eine sehr junge Manifestation eines viel älteren Instinkts, der Verzierungen und Ornamente hervorbrachte. Die Kunst des Menschen ist nur die Spitze des Eisbergs. Man denke an die geschmückten Bauten der Laubenvögel und die mit viel Aufwand hergestellten Faustkeile des Homo erectus. Vielleicht hat Geoffrey Miller Recht und ist die ursprüngliche, evolutionäre Funktion aller Verzierungen die gleiche, nämlich potenzielle Partner durch visuelle Effekte zu beeindrucken und die biologische Fitness ihrer Schöpfer zu bekunden. Möglicherweise ist Kunst daher an erster Stelle eine Demonstration der Geschicklichkeit und Kreativität des Künstlers und nicht so sehr Mittel zu einem wie immer gearteten höheren Zweck.
14 Darwinistische Medizin Memento mori Unser Leben, schrieb Vladimir Nabokov, sei nur ein kurzer Lichtspalt zwischen zwei Ewigkeiten des Dunkels. Man braucht kein Philosoph zu sein, um die beklemmende Wahrheit dieses Gedankens zu erkennen; früher oder später wird jeder Mensch mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert. Niemand entkommt dem unerbittlichen Terminkalender des Sensenmanns. Und man stellt sich die Frage: Warum werden wir krank und warum sterben wir? Warum ist das Leben so kurz und das Ende so oft mit körperlichem und seelischem Leiden verbunden? Denn seien wir ehrlich: Wenn man in die Jahre kommt, ist es mit dem Spaß vorbei. Die Aussichten sind alles andere als rosig. Sehvermögen und Gehör lassen nach, die Knochen werden brüchig und die Gelenke steif. Schließlich lässt uns das Gedächtnis im Stich, die Verstandeskräfte erlahmen. Das Herz rumpelt, und auch andere Organe wollen nicht mehr so recht. Die Arterien verkalken, und Wucherzellen nutzen ihre Chance. Und als wäre dies nicht schon schlimm genug, schrumpft die Libido, weil wir in zunehmendem Maße geplagt sind von Erektionsproblemen, Depressionen oder Frigidität. Niemand sollte daher die weisen Worte des Predigers (11, 9–10) in den Wind schlagen: „Freue dich, Jüngling, in deiner Jugend, sei guter Dinge in der Blüte des Lebens! Wandle, wie es dein Herz gelüstet, und genieße, was deine Augen erschauen!“ Ist das Alter eine schleichende Krankheit? Und wenn ja, warum hat die natürliche Selektion sie nicht aussortiert? Wenn die Evolution komplexe Organe wie das Auge, das Herz und das Gehirn hervorbringen kann, warum hat sie dann keinen Weg gefunden, Kurzsichtigkeit, Infarkte und Demenz zu verhindern? Man könnte antworten, Alter, Krankheit und Tod dienten der Erhaltung der Art, da verbrauchte Individuen durch junge und gesunde ersetzt werden müssten. Doch die natürliche Selektion arbeitet nicht auf der Ebene der Art, sondern auf der des Individuums umd seiner Gene. Es würde dem Individuum sehr zustatten kommen, wenn es möglichst spät altern würde oder wenn ihm das Altern gänzlich erspart bliebe. Ein sich nur wenig oder gar nicht abnutzender Organismus hätte gegenüber stetig vergreisenden Artgenossen einen großen Fortpflanzungsvorteil. Ebenso wenig befriedigend ist die Antwort, es sei in biochemischer Hinsicht einfach schwierig, einen Organismus für längere Zeit vor Abnutzung zu bewahren. Denn die Evolution hat noch ganz andere Kunststücke vollbracht. Man denke an den Prozess der Ontogenese: Aus einer befruchteten Eizelle entwickelt
MEMENTO MORI
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sich ein kompletter Organismus! Man möchte meinen, es müsste viel einfacher sein, einen Organismus instand zu halten, als ihn aus einer Eizelle hervorzubringen. Doch vielleicht ist dies gar nicht der Fall. Auch der Mensch mit all seiner Intelligenz und seiner Kreativität hat dieses Problem nicht lösen können. In den vergangenen Jahrhunderten ist das Durchschnittsalter – die Lebenserwartung – zwar beträchtlich gestiegen, doch die maximale menschliche Lebensspanne ist fast unverändert geblieben. Alle noch so spektakulären Fortschritte auf medizinischem Gebiet haben daran nichts ändern können. Viel älter als hundertzehn Jahre kann der Mensch nicht werden. Wenn Alter eine Krankheit ist, dann scheint sie vorläufig unheilbar zu sein. Rätselhaft ist überdies, dass die maximale Lebenspanne artspezifisch zu sein scheint. Manche Insekten leben nur einen einzigen Tag, eine Maus wird höchstens zwei oder drei Jahre alt und ein Mensch höchstens ein Jahrhundert. Warum kann die Evolution keine Eintagsfliege hervorbringen, die es zehn Jahre aushält, Mäuse, die Hundert werden und Menschen, die das gesegnete Alter von tausend Jahren erreichen? Wie gesagt, weist vieles darauf hin, dass die Altersgrenze wenig mit biochemischen Faktoren wie dem Stoffwechsel zu tun hat. Wahrscheinlicher ist es, dass die maximale Lebenserwartung durch die Evolution genetisch vorprogrammiert ist, so wie eine fabrikneue Glühlampe eine begrenzte Lebensdauer hat. Verschiedene Birnen haben verschiedene „Lebenserwartungen“, je nachdem, zu welchem Zweck sie entworfen wurden. Ähnlich verhält es sich mit Eintagsfliegen, Mäusen und Menschen. Es gibt keinen biologischen Grund, den Körper länger am Leben zu erhalten, als unbedingt nötig. Mit anderen Worten, die Lebensdauer eines Individuums ist im optimalen Fortpflanzungerfolg der betreffenden Art einkalkuliert. Wenn der Aufwand in keinem Verhältnis zum Nutzen steht, ist er sozusagen die Mühe nicht wert. Eine solche Investition lohnt sich ganz einfach nicht. Sucht man das Leben aus der Perspektive des Gens zu betrachten, des Erbmaterials, muss man feststellen, dass Organismen nur Überlebensmaschinen sind, vorübergehende Vehikel oder Hüllen potenziell unsterblicher Gene. Die Verpackung braucht also nicht allzu lange zu halten, denn wertvoll ist nur der Inhalt; die genetische Information muss intakt bleiben und an die nächste Generation weitergegeben werden. Gesundheit, Vitalität und Fruchtbarkeit sind nur wichtig in der Reproduktionsphase, danach hat die Hülle keine evolutionäre Funktion mehr, abgesehen davon, dass manche Arten sich noch dem Aufziehen ihres Nachwuchses widmen müssen. Doch damit ist ihre Aufgabe erfüllt. Die alten Verpackungen werden nicht mehr gebraucht und landen im Müll. Eine evolutionäre Annäherung an das Phänomen des Alterns kann uns helfen, einige hartnäckige Rätsel zu lösen. Die moderne Evolutionsbiologie, das darwinistische Paradigma, hat Einzug in viele Fachdisziplinen gehalten. Dies gilt in zunehmendem Maße auch für die medizinische Wissenschaft. Unsere Vorstellungen von Alter, Krankheit und Tod erscheinen aus evolutionärer Perspektive
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in einem anderen Licht. Wir lernen unsere Vergänglichkeit und Verwundbarkeit besser verstehen. Nun weist der menschliche Körper nicht nur Unzulänglichkeiten und Defekte auf, die Evolution hat auch dafür gesorgt, dass er Wunden heilen, Infektionen bekämpfen und Krankheitserreger austricksen kann. Symptome wie Schmerz, Fieber, Husten, Durchfall und Erbrechen betrachten wir oft als unangenehme Beschwerden, die so rasch wie möglich unterdrückt und bekämpft werden müssen. Dabei sind wir uns nicht darüber im Klaren, dass unser Körper solche Symptome hervorruft, um sich zu regenerieren. Kranksein ist oft nützlich. Die zahlreichen körpereigenen Warnsignale und Abwehrmechanismen mit ihren unangenehmen Begleiterscheinungen sind außerordentlich funktional, sind ein Zeichen dafür, dass der Körper den Krankheitsherd bekämpft. Evolutionäre Kompromisse Erst seit wenigen Jahren werden Alterungsprozess und Krankheit im Rahmen der Evolutionstheorie untersucht. Bahnbrechend war das 1994 erschienene Buch Why We Get Sick: The New Science of Darwinian Medicine / Warum wir krank werden. Die Antworten der Evolutionsmedizin des Psychologen Randolph M. Nesse und des Evolutionsbiologen George C. Williams. Es erhielt zahlreiche lobende Besprechungen, unter anderem von Edward O. Wilson und Richard Dawkins. So schrieb Letzterer: „Kaufen Sie zwei Exemplare und schenken Sie eins Ihrem Hausarzt.“ Nesse und Williams argumentieren in ihrem Buch, das darwinistische Paradigma habe nicht nur zu neuen und überraschenden Erkenntnissen über den menschlichen Körper geführt, sondern obendrein der medizinischen Wissenschaft neue Impulse gegeben. Um auf die Beschwerden des Alters zurückzukommen: Für Nesse und Williams ist der Alterungsprozess an sich kein pathologisches Phänomen, sondern das Resultat eines evolutionären Kompromisses, wodurch wir in späteren Jahren immer anfälliger für „echte“ Krankheiten werden, wie Infektionen, Diabetes, Krebs, Demenz, Durchblutungsstörungen und dergleichen. Körperlicher und geistiger Verfall sei der Preis, den wir für die Vitalität unserer Jugend bezahlen müssen. Bereits in den Vierzigerjahren des vorigen Jahrhunderts wiesen John B. Haldane und Peter Medawar nach, dass Gene, die Altersschwäche und Krankheit verursachen, durch das Netz der natürlichen Selektion schlüpfen können. Genauer gesagt, die natürliche Selektion lässt Gene, die schädliche Auswirkungen haben, unbehelligt, solange sie den Körper nicht daran hindern, sich in gewissem Umfang zu reproduzieren. So gibt es noch immer das Gen für die erbliche und tödliche Huntington-Krankheit, die das zentrale Nervensystem zerstört. Die natürliche Selektion hat das Gen nicht aussortiert, weil es erst nach dem vierzigsten Lebensjahr zur Wirkung gelangt. Die Evolution kann solchen Krankheiten nicht beikommen, weil die Betroffenen bereits Kinder bekommen haben, bevor sich die ersten Krankheitssymptome zeigen.
HETEROZYGOTER VORTEIL
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In den Fünzigerjahren arbeitete Williams diese Erkenntnis im Zusammenhang mit der Pleiotropie weiter aus, dem Phänomen, dass ein einziges Gen mehr als eine Wirkung haben kann. Ein Gen beispielsweise, das den Kalziumgehalt im Körper erhöht, sorgt dafür, dass beschädigte Knochen rascher heilen, aber zugleich auch, dass sich die Blutgefäße immer mehr verengen. Ein solches Gen wird durch die natürliche Selektion belohnt, weil es von Vorteil ist für viele junge Individuen, während nur wenige Individuen lange genug leben, um sich mit den Nachteilen herumschlagen zu müssen. Die Vorteile machen die Nachteile eben mehr als wett. Erst wenn die durchschnittliche Lebenserwartung drastisch steigt, treten die unerfreulichen Effekte – in diesem Fall Arteriosklerose – zunehmend in Erscheinung. Übrigens sind nicht alle Gene, die sich im Alter negativ auswirken, notwendigerweise in der Jugend vorteilhaft. Manche waren in der Vergangenheit nie der Selektion ausgesetzt, einfach deshalb, weil die Individuen wiederum nicht lange genug lebten. Heutige „Alterskrankheiten“ wie Krebs, Demenz und Herzstörungen sind weitverbreitet, weil das Durchschnittsalter in den vergangenen Jahrhunderten gestiegen ist. In früheren Zeiten waren diese Krankheiten viel seltener, die Menschen waren schon vorher an der Pest, den Pocken, der Cholera oder der Diphtherie gestorben, Krankheiten, die es in den modernen Industrieländern so gut wie nicht mehr gibt. Die Mechanismen, die Alterskrankheiten verursachen, sind oft keine Webfehler, sondern sozusagen Kompromisse der natürlichen Selektion. Heterozygoter Vorteil Anliegen der darwinistischen Medizin ist es, evolutionäre Erklärungen für unsere Anfälligkeit für bestimmte Krankheiten zu finden. Nesse und Williams unterscheiden zwischen den sogenannten proximaten und den ultimaten (oder evolutionären) Erklärungen. Die proximate Erklärung beschränkt sich auf die unmittelbare, nächstliegende Ursache. Wie funktioniert der Körper, warum werden manche Menschen krank und andere nicht? Unter diesem Aspekt lassen sich beispielsweise Herzstörungen auf eine cholesterinreiche Ernährung, eine genetische Veranlagung für Arterienverkalkung und anderes zurückführen. Die ultimate Erklärung hingegen sucht nach Ursachen, die zeitlich weiter zurückliegen, sie berücksichtigt die biologische Funktion der Krankheit. Bei der Untersuchung von Herzstörungen möchte der Evolutionist zum Beispiel wissen, warum der Prozess der natürlichen Selektion bestimmte Gene nicht aussortiert hat, in diesem Fall Gene, die für Fettsucht oder eine erbliche Veranlagung zu Arterienverkalkung verantwortlich sind. Die evolutionäre, ultimate Erklärung will die Frage beantworten, warum Menschen im Allgemeinen für bestimmte Krankheiten anfällig sind und für andere nicht. Warum sind manche Bereiche des menschlichen Körpers so störanfällig, und warum sind die Prädispositionen für Krankheiten
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so unterschiedlich? Die darwinistische Medizin untersucht, wie sich der Körper im Lauf der Evolutionsgeschichte so entwickelt hat, dass er anfällig ist für bestimmte Krankheiten. Wie bereits konstatiert, sind Alterskrankheiten oft das Ergebnis eines „Kompromisses“, eines Tauschhandels zwischen Vorteilen in der Jugend und Nachteilen in fortgeschrittenem Alter. Ein anderes klassisches Beispiel eines solchen evolutionären Kompromisses ist die Sichelzellenanämie. Bei dieser Erbkrankheit sind die roten Blutkörperchen sichelförmig entstellt, was zu ernsthafter Blutarmut (Anämie) führt. Ursache ist ein abweichendes Hämoglobin in den Zellen (Hämoglobin oder Blutpigment ist ein eisenhaltiges Eiweiß in den Blutzellen, das Sauerstoff transportiert und für die rote Farbe des Bluts verantwortlich ist). Die sichelförmige Veränderung erschwert die Blutzirkulation, Folgen sind Blutungen, Kurzatmigkeit, Schmerzen in Knochen und Muskeln und Beschädigung von Organen wie den Nieren. Menschen mit dieser Störung erreichten bis vor Kurzem selten das geschlechtsreife Alter, trotzdem ist das für diese Krankheit verantwortliche Gen nicht verschwunden. Stärker noch, im tropischen Afrika sind bis zu vierzig Prozent der Bevölkerung davon betroffen. Wie lässt sich dies erklären? Die Antwort lautet, dass die Sichelzellen auch von Nutzen sein können. Sie bieten nämlich unter bestimmten Umständen Schutz vor der gefährlichen Tropenkrankheit Malaria. Diese bakterielle Infektionskrankheit wird durch den parasitischen Einzeller Plasmodium falciparum verursacht, der durch die weiblichen Stechmücken der Gattung Anopheles in den menschlichen Blutkreislauf übertragen wird. Die Parasiten vermehren sich am liebsten in den normalen runden Blutkörperchen, Blutzellen mit der sichelförmigen Abweichung erschweren ihr Überleben. Menschen, die von einem Elternteil das Sichelgen, von dem anderen das Gen für das normale Hämoglobin erhalten – das heißt die Zelle ist hinsichtlich dieses Merkmals mischerbig oder heterozygot –, erkranken nicht an der Sichelzellenanämie, besitzen jedoch eine natürliche Resistenz gegen Malaria. Das Sichelzellenhämoglobin hemmt nämlich die Vermehrung der Malaria-Erreger, die in den roten Blutkörperchen stattfindet. Nur wer das Sichelgen von beiden Eltern erbt (Homozygotie), wird eine Anämie entwickeln. Das Sichelzellgen illustriert somit das Phänomen des heterozygoten Vorteils: Da heterozygote Genträger nicht von der Sichelzellenanämie befallen werden und gleichzeitig gegen Malaria geschützt sind, haben sie gegenüber beiden Formen der Homozygotie einen Überlebensvorteil. Homozygote Träger des Sichelzellgens sind im Nachteil, weil sie an der Anämie erkranken, während homozygote Träger des normalen Gens nicht über die Resistenz gegen Malaria verfügen. Dies hat zur Folge, dass das Sichelzellgen weder ganz verschwindet, noch sich über die ganze Population ausbreitet. Die Häufigkeit des Gens ist im Gleichgewicht, wobei der Vorteil der Resistenz gegen Malaria den Nachteil einer ernsthaften Blutarmut in den Kinderjahren aufwiegt. Wenn ein solch ausgewogenes Verhältnis zwischen den verschiedenen Varianten eines Merkmals über viele Gene-
EIN EWIGES WETTRÜSTEN
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B Abb. 14.1: Häufigkeit des Sichelzellgens in Afrika und Südasien (A). In den dunkel gefärbten Regionen ist die Frequenz am höchsten. Ausbreitung der Malaria in Afrika und Südasien (B). Auffällig ist, dass das Verbreitungsgebiet des Sichelzellgens weitgehend mit den Endemiegebieten der Malaria übereinstimmt.
rationen bestehen bleibt, wie dies beim Sichelzellgen in manchen Regionen Afrikas der Fall ist, spricht man von einem „balancierten Polymorphismus“. Er entsteht hauptsächlich dann, wenn die heterozygoten Genträger gegenüber den homozygoten im Vorteil sind. Aufgrund der Evolutionstheorie müsste die Häufigkeit des Sichelzellgens in den Gebieten allmählich zurückgehen, in denen Maleria selten auftritt. Und dies ist auch tatsächlich der Fall. In den Vereinigten Staaten kommt das Gen unter Afroamerikanern sehr viel weniger vor als im Herkunftsland ihrer Vorfahren. Da die USA so gut wie malariafrei sind, fällt der Selektionsdruck für das Sichelzellgen weg, das seine heterozygoten Träger vor Malaria schützte. Ein schönes Beispiel der natürlichen Auslese in Aktion. Ein ewiges Wettrüsten Neben Krankheiten, die sozusagen die Kosten adaptiver evolutionärer Kompromisse sind, unterscheiden Nesse und Williams noch eine Reihe anderer Erkrankungen, die auf unser evolutionäres Erbe zurückzuführen sind. Etwa die durch Infektionen hervorgerufenen Krankheiten. Viren, Bakterien und andere Mikroorganismen dringen in unseren Körper ein und vermehren sich exponentiell. Da sie sich viel schneller entwickeln als wir, befinden wir uns ihnen gegenüber immer im Hintertreffen. Bakterien evolvieren in einem einzigen Tag so rasch, wie wir in tausend Jahren. Aufgrund der relativ langen menschlichen Generationszeit kann unser Körper nie mit der Mutationsgeschwindigkeit dieser Eindringlinge mithalten. Wir hinken immer hinterher. Im Lauf der Evolution haben Menschen und andere Wirbeltiere daher einen besonderen und anpassungsfähigen Abwehrmechanismus entwickelt, der auf die Bedrohung von Bakterien und Viren reagieren kann: das Immunsystem. Wie wir bereits im zehnten Kapitel sahen,
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lässt sich die Immunabwehr als eine „Darwinmaschine“ betrachten, da sie nicht nur das Resultat des evolutionären Prozesses von Variation, Selektion und Replikation ist, sondern diese Evolutionsfaktoren auch selber anwendet. Sie kann sehr viel rascher als die genetische Evolution auf Gefahren reagieren und Eindringlinge bekämpfen. Immunssystem und Krankheitserreger befinden sich daher im Zustand des permanenten Wettrüstens. Manche von ihnen, wie die Trypanosomen, haben Mittel und Wege gefunden, das Abwehrbollwerk zu überlisten. Diese einzelligen Parasiten verschanzen sich in der Blutbahn und sind Erreger schwerer, manchmal tödlicher Erkrankungen. Das die Schlafkrankheit auslösende Trypanosom überlistet die Immunabwehr, indem es immer wieder in neuen Verkleidungen auftritt. Der menschliche Körper braucht etwa zehn Tage, um genügend Antikörper gegen den Eindringling zu bilden. Die Parasiten reagieren darauf, indem sie rechtzeitig eine andere Gestalt annehmen und so vom Immunsystem nicht mehr erkannt werden. Nesse und Williams zufolge kann sich ein Trypanosom mehr als tausendmal wandeln, völlig ausreichend, um es Jahre in seinen Wirtszellen auszuhalten, der Immunabwehr stets eine Nasenlänge voraus. Wenn das Immunsystem aus irgendeinem Grund nicht richtig funktioniert, übernimmt die Pharmaindustrie die Krankheitsbekämpfung. Der Rüstungswettlauf ist allerdings der gleiche. Die hohe Mutationsfähigkeit der Viren und Bakterien führt zu immer neuen Resistenzen, die wiederum neue und noch stärkere Medikamente erfordern. Es hat nicht den Anschein, als würden wir diesen Kampf jemals gewinnen. Im Gegenteil. Wenn wir die Wirkstoffe nicht sorgfältig einsetzen, kann dies unseren Untergang bedeuten. Ein anschauliches Beispiel ist der unüberlegte Einsatz von Antibiotika. Als Alexander Fleming 1929 zufällig entdeckte, dass der Schimmelpilz Penicillium Bakterien im Wachstum hemmt, schien die Menschheit plötzlich einen erheblichen Vorsprung vor den uns ständig bedrohenden Krankheitserregern zu haben. Penicillin und andere Antibiotika schienen ein Allheilmittel zu sein. Viele Ärzte hielten es für wahrscheinlich, dass Infektionskrankheiten wie Tuberkulose schon bald für immer der Vergangenheit angehören würden. 1969 meinte der Leiter der amerikanischen Gesundheitsbehörde: „Das Buch der Infektionskrankheiten kann geschlossen werden.“ Heute stellt sich die Lage anders dar. Wir haben den Vorsprung wieder verloren, da wir die Wirkstoffe zu sorglos und über einen zu langen Zeitraum eingesetzt haben. Dies ermöglichte den Bakterien, neue Invasionstechniken zu entwickeln. Ihnen genügen nur wenige Wochen, um eine Resistenz aufzubauen. Die Geschlechtskrankheit Gonorrhöe (Tripper) war bis vor einigen Jahrzehnten gut zu behandeln, doch in manchen Weltteilen, etwa in Südostasien, sind inzwischen nicht weniger als neunzig Prozent der TripperBakterienstämme resistent gegen Penizillin. Noch besorgniserregender ist die Resistenzentwicklung der Tuberkulose-Erreger. In Russland sind die oft überfüllten Gefängnisse durch die unkritische Be-
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handlung der Insassen mit Antibiotika zu einer Brutstätte für neue Bakterienstämme geworden, die gegen mindestens ein Antibiotikum oder gleich mehrere immun sind. Von Osteuropa aus haben sich diese neuen Stämme rasch ausgebreitet: In New York sind inzwischen ein Drittel aller Tuberkulose-Bakterien unempfindlich gegen ein Antibiotikum, und auch die Resistenz gegen zwei oder mehr Antibiotika-Arten nimmt rasant zu. Einer der Gründe für die zunehmende Wirkungslosigkeit der einstigen Wunderwaffe ist ihre zweifelhafte Verwendung in der Landwirtschaft und als Wachstumsmittel in der Massentierhaltung. Hühnern, Kühen und Kälbern werden oft „zur Vorsorge“ routinemäßig und exzessiv Antibiotika verabreicht. Über Milch, Eier und Fleisch gelangen die Rückstände in unseren Körper, und dies bietet den Bakterien wieder reichlich Gelegenheit, Abwehrmechanismen zu entwickeln. Für Infektionskrankheiten, die durch Viren verursacht werden, gilt Ähnliches, wenn sie auch nicht mit Antibiotika zu behandeln sind. Viren bestehen aus reiner DNA oder RNA, die von einer Proteinhülle umgeben sind. Da sie im Unterschied zu Bakterien keinen eigenen Stoffwechsel besitzen, sind Antibiotika nicht wirksam. Es gibt zwar zum Glück andere Mittel, mit denen virale Erkrankungen behandelt werden können, doch das Wettrüsten ist deswegen nicht weniger heftig. Ein bekanntes Beispiel ist die Immunschwächekrankheit Aids, die durch das HI-Virus (Human Immunodeficiency Virus) verursacht wird. Aids-Patienten sind anfällig für zahlreiche (manchmal bizarre und seltene) Erkrankungen, mit denen ein gesundes Immunsystem problemlos fertig wird. Das HI-Virus kann die Immunabwehr überlisten, weil es wie die Bakterien rasend schnell evolviert. Es ändert fortwährend seine genetische Information, sodass stets Mutanten im Körper des Patienten anwesend sind, die vom Immunsystem nicht erkannt werden. Anfänglich schienen Medikamente wie AZT zu greifen, da sie das Wachstum und die Vermehrung des HI-Virus verzögern, doch die Resistenzentwicklung ließ nicht lange auf sich warten. Die ständigen Mutationen, die das Immunsystem zu täuschen vermögen, erwiesen sich als genauso wirksam gegenüber den neuen Medikamenten. Heute erhalten Patienten einen ganzen Cocktail von Substanzen, in der Hoffnung, dass zumindest eine wirksam ist. Viren, die das Immunsystem schädigen, finden sich nicht nur bei Menschen, sondern auch bei Affen, Menschenaffen, Katzen und Kühen. Man vermutet, das HIV irgendwo in Äquatorialafrika durch Kontakt mit infektiösem Blut von Affen auf Menschen übertragen wurde. Die Affen sind nämlich Träger eines HIV-ähnlichen Virus, einer genetischen Variante des sogenannten Simian Immunodeficiency Virus (SIV). Zudem tritt die größte Diversität an HIV-Stämmen in Westafrika auf, was darauf hinweist, dass das Virus dort am längsten vorkommt. Auffällig ist, dass Affen und Menschenaffen, die SIV in sich tragen, in der Regel nicht erkranken. Möglicherweise war das Virus für sie einmal genauso tödlich wie das HI-Virus für den Menschen. Als Folge der natürlichen Selektion überlebten nur die resistenten
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Primaten. Epidemien haben also auch ihre Vorteile, da sie Resistenzen in Individuen ausbilden. So gibt es deutliche Anzeichen dafür, dass manche Menschen weniger anfällig für den HI-Virus sind, weil sie von Populationen abstammen, die in der Vergangenheit andere Pandemien überlebt haben. Etwa zehn Prozent der europäischen Bevölkerung können sich mit HIV gar nicht oder nur schwer anstecken. Sie besitzen nämlich eine Mutation im CCR5-Gen, die sonst auf der Welt nicht vorkommt. Das CCR5-Protein spielt eine Rolle bei der Abwehr von Infektionen und wird vom HI-Virus als Eintrittspforte in die Zelle genutzt. Anfänglich nahm man an, dass die Mutation im europäischen Mittelalter unter dem von der Pestbakterie (Yersimia pestis) ausgeübten Selektionsdruck entstanden war. Doch 2003 berichteten Forscher an der University of California, dass die HIV-Immunität wahrscheinlich den Pocken zu verdanken ist. Durch die starben während der Epidemien zwar in kurzer Zeit mehr Menschen als durch jede andere Krankheit, doch das Pocken-Virus ist viel älter und hat in Europa insgesamt mehr Opfer gefordert. Erst seit den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts gilt es als ausgerottet. Im Unterschied zur Pest wüteten die Pocken vor allem unter jungen Menschen, die dem Virus noch nie ausgesetzt gewesen waren. Die Krankheit hatte daher eine bedeutend größere Auswirkung auf das Reproduktionsvermögen der europäischen Bevölkerung als die Pest. Die Untersuchung ist noch nicht abgeschlossen, doch sollte sich die Vermutung bestätigen, so zeigt dies einmal mehr, wie wichtig die Erforschung des evolutionären Ursprungs von Krankheiten für die Medizin sein kann. Zwischen Parasiten und ihren menschlichen Wirten gibt es eine lange, komplexe Koevolution. Wenn wir diesen ewigen Rüstungswettlauf besser verstehen, ist vielleicht auch eine Entwicklung wirksamerer Medikamente möglich. Adaptive Abwehrstrategien Eine andere evolutionäre Erklärung für unsere Krankheiten ist, dass sie nicht selten von Nutzen sind. Manche schmerzhaften Beschwerden machen uns gesünder. Sie haben, wie Nesse und Williams meinen, ihren biologischen Sinn. Wie verlockend ein Dasein ohne Schmerz auch erscheinen mag, Menschen, die keinen Schmerz empfinden, merken nicht, wenn ihr Körper angegriffen ist, und werden daher selten älter als dreißig Jahre. Beschwerden wie Schmerz, Fieber oder Depression sind Adaptationen, Alarmsignale des Körpers oder der Psyche. Wer sich hundsmiserabel fühlt, ist nicht zu großen Sprüngen aufgelegt. Man bleibt zu Hause und verkriecht sich unter die Bettdecke. Die Inaktivität verstärkt die Abwehrfähigkeit unseres Immunsystems und beschleunigt die Heilung. Das muss auch die Medikation berücksichtigen. Ein Arzneimittel, das nur das Gefühl des Unwohlseins beseitigt, schaltet auch seine biologische Funktion aus. Wer sich über seinen tatsächlichen Gesundheitszustand täuscht, gönnt dem Körper nicht die zur Regeneration nötige Ruhe.
ADAPTIVE ABWEHRSTRATEGIEN
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Es ist also wichtig, zwischen einem physiologischen Defekt und einem physiologischen Abwehrmechanismus zu unterscheiden. Husten beispielsweise ist oft unangenehm und schmerzhaft, erfüllt aber eine wichtige Funktion. Er ist ein schützender Reflex, der Fremdpartikel aus den Atemwegen entfernt. Das Gleiche gilt für eine triefende Nase. Wenn die Atemwege durch eine bakterielle oder virale Infektion irritiert werden, tritt der Abwehrmechanismus in Aktion, es werden große Mengen Schleim und Rotz produziert, um die Eindringlinge zu vertreiben. Medikamente, die Husten und Niesen unterdrücken, ohne die Ursachen zu bekämpfen, schaden daher mehr, als sie nützen. Husten, Niesen und Rotzen lassen sich auch aus der Perspektive des Parasiten betrachten. Die konzertierten Abwehrreaktionen des Körpers sind nämlich nicht nur für den Wirt, sondern auch für den Eindringling von Vorteil. Indem er auf schlaue Weise die Physiologie seines Gastherrn manipuliert, sorgt er für seine eigene Verbreitung. Ein Rhinovirus, das keine Niesanfälle auslösen würde, wäre zum Tod verurteilt. Nicht nur bei harmloseren Beschwerden wie Erkältung und Grippe, sondern auch bei potenziell tödlichen Erkrankungen wie Tuberkulose reicht ein winziger Tropfen des ausgehusteten Sekrets (Sputum) aus, andere Individuen anzustecken. Die Parasiten haben daher sozusagen ein Interesse daran, uns – ihre Träger – nicht allzu rasch allzu krank zu machen, jedenfalls nicht, bevor sie auf andere übergesprungen sind. Wie schnell sich ein Grippevirus ausbreitet, hängt von unserer Mobilität ab. Es gibt allerdings auch Erreger, denen es in den Kram passt, wenn wir inaktiv und wehrlos sind, wie dem Malaria-Parasit. Wer von Schüttelfrost gebeutelt wird, hat nicht mehr die Kraft, sich gegen umherschwirrende Mücken zu wehren. Die Insekten können ungestört ihre „Missionsarbeit“ fortsetzen. Eine der ältesten und wirksamsten Abwehrstrategien unseres Körpers ist das Fieber. Es ist eine zwar unangenehme, doch nützliche Reaktion bei der Infektabwehr, die sich im Laufe der Evolution durch natürliche Auslese entwickelt hat. Fieber existiert im Tierreich möglicherweise schon seit Millionen von Jahren. In der Medizin wurde Fieber ebenso wie Husten lange Zeit nicht als adaptive Reaktion betrachtet, sondern als nutzlose Begleiterscheinung von Infektionen, die man unbesorgt mit Mitteln unterdrücken könne. Noch heute heißt es bei jeder Gelegenheit: Nimm ein Aspirin. Es ist jedoch sehr die Frage, ob dies wirklich ratsam ist. Fieber ist nämlich kein „Fehler“ der körpereigenen Temperaturregelung, sondern ein sorgfältig abgestimmter Abwehrmechanismus. Die höhere Temperatur erleichtert das Zerstören von Krankheitserregern. Nesse und Williams weisen auf eine Reihe von Untersuchungen hin, die überzeugend belegen, dass Fieber heilsam sein kann. Eine Studie betraf Kinder mit Windpocken. Eine Gruppe erhielt Fieber senkende Mittel, eine andere ein Placebo. Die erste Gruppe brauchte im Durchschnitt einen Tag länger, um zu genesen, als die zweite. Bei einer anderen Untersuchung wurde sechsundfünfzig Testpersonen mittels eines infektiösen Nasensprays eine ordentliche Erkältung ver-
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passt. Die eine Hälfte von ihnen erhielt wiederum ein Placebo, die andere Aspirin. Auch hier hier zeigte sich, dass das Immunsystem der Testpersonen der ersten Gruppe besser funktionierte als das der zweiten, sie hatten zudem viel mehr Antikörper im Blut. Die vielleicht berühmteste Untersuchung zur Funktion des Fiebers wurde bereits Anfang des 20. Jahrhunderts durchgeführt, als man den Nutzen des Fiebers wohl höher einstufte als heute. Dem österreichischen Arzt Julius Wagner-Jauregg war aufgefallen, dass manche Syphilispatienten große Fortschritte machten, nachdem sie an Malaria erkrankt waren. Er stellte zudem fest, dass in Malaria-Gebieten Syphilis selten vorkommt. Wagner-Jauregg vermutete, die von der Malaria ausgelösten heftigen Fieberanfälle könnten die Syphilis-Bakterie (Treponema pallidum) getötet haben. Um seine Vermutung zu testen, führte er bei Tausenden Patienten künstlich Malaria herbei. Die „Behandlung“ hatte spektakulären Erfolg, da bei nicht weniger als dreißig Prozent der Patienten die Syphilissymptome verschwunden oder stark vermindert waren. Wagner-Jauregg erhielt für diese Entdeckung 1927 den Medizin-Nobelpreis. Natürlich sind Fieber senkende Medikamente auch nützlich, denn eine erhöhte Temperatur hat auch Nachteile, sonst würde unser Körper sein Thermostat ständig auf vierzig Grad oder höher einstellen, um Infektionen erst gar keine Chance zu geben. Doch so funktioniert das Prinzip nicht. So wie viele andere komplexe Anpassungen hat Fieber seinen Preis. Bei einer Körpertemperatur von vierzig Grad werden die Reserven sehr viel rascher aufgebraucht als normalerweise, außerdem verursacht die erhöhte Temperatur bei Männern eine (vorübergehende) Sterilität. Steigt die Temperatur über vierzig Grad, treten Krämpfe und Wahrnehmungsstörungen auf, zudem kann Gewebe bleibend geschädigt werden. Man muss daher bei der medikamentösen Fieberbehandlung die Vor- und Nachteile sorgfältig abwägen. Gleiches gilt auch für andere Krankheitssymptome wie Erbrechen und Durchfall. Auch bei diesen handelt es sich um adaptive Reaktionen. Spürt unser Körper, dass giftige oder schädliche Stoffe in den Magen gelangt sind, reagiert er durch Entleerung des Magens. Haben die unerwünschten Stoffe bereits den Magen passiert, reagiert der Körper mit Darmkrämpfen und Durchfall. Auch in diesen Fällen ist die Unterdrückung der Symptome nicht immer vernünftig, sie verlängert oft gerade den Krankheitsverlauf, wie verschiedene Untersuchungen, auf die Nesse und Williams hinweisen, belegen. Indem man die Abwehrmechanismen ausschaltet, nimmt man dem Körper die Chance, gegen die Ursache der Symptome anzugehen. Auch mentale Beschwerden wie Niedergeschlagenheit und Depression können Abwehrstrategien sein. Im Oktober 2005 war Randolph Nesse einer der Redner auf dem Europäischen Kongress für Neuropsychopharmakologie in den Niederlanden. Nesse, der neben seiner akademischen Tätigkeit noch immer praktizierender Psychiater ist, meinte, für psychische Beschwerden gelte das
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Gleiche wie für physiologische wie das Fieber, es sei nicht immer ratsam, ihre Symptome zu unterdrücken. Niedergeschlagenheit etwa könne uns davon abhalten, unerreichbaren Zielen nachzujagen, Zielen, die wir uns nicht selbst gesetzt haben und die unserem Wesen eigentlich fremd sind, vor allem solchen, die mit sozialer Anerkennung zusammenhängen. Wenn sich diese Zukunftshoffnungen aus welchen Gründen auch immer nicht erfüllen, reagieren wir darauf mit Niedergeschlagenheit. Sie kann ein Warnsignal sein. Menschen, die es verstehen, sich rechtzeitig von unerreichbaren Ziele zu verabschieden, leiden am wenigsten unter Stress und Depressionen. Negative Emotionen wie Kummer, Angst und Eifersucht haben durchaus einen Sinn. Traurig zu sein und zu weinen, kann nützlich sein, weil es uns dazu bewegt, bei anderen Menschen Hilfe zu suchen. Angst ist funktional, wenn sie verhindert, dass wir unüberlegte Dinge tun, und Eifersucht kann die Beziehung zu einem Partner verstärken. Leider verlieren wir manchmal die Kontrolle über diese Emotionen, dann überwältigen sie uns. Niedergeschlagenheit wächst sich zu einer chronischen Depression aus, Eifersucht nimmt krankhafte Formen an, berechtigte Angst schlägt um in dysfunktionale Panikanfälle. Die Adaptationen kehren sich gegen uns. Wir tun in einem solchen Fall gut daran, einen Arzt oder Therapeuten aufzusuchen. Der Vormarsch der Zivilisationskrankheiten Ein weiterer evolutionärer Grund, warum wir krank werden, hängt mit der Tatsache zusammen, dass wir nicht länger in der Umwelt leben, für die wir ursprünglich entworfen wurden. Nicht nur unsere Psyche, sondern auch unser Körper stammt aus der Steinzeit. Der menschliche Körper hat sich im Lauf der Evolution an die Bedingungen eines relativ kleinen geographischen Gebiets angepasst: die afrikanische Savanne. Ein solch begrenztes Habitat wird von Anthropologen auch als „Umwelt der evolutionären Angepasstheit“ (UEA) bezeichnet. Fast allen Arten von Lebewesen ist eine solche UEA eigen, eine Umwelt, in der sie evolviert und für die sie konzipiert sind. Dies gilt auch für den Menschen. Neunzig Prozent seiner evolutionären Vergangenheit spielte sich im Ursprungsgebiet der Hominiden, in Afrika, ab. Unsere fernen Vorfahren waren Jäger und Sammler, die in kleinen nomadischen Gruppen miteinander verwandter Individuen über die afrikanischen Ebenen zogen. Ihr Dasein war alles andere als idyllisch, die Sterberate war hoch, Nahrung und Wasser knapp, sie waren ständigen Gefahren ausgesetzt und leiche Beute für die großen Raubtiere. Die Kindersterblichkeit war hoch, und die mittlere Lebenserwartung wird (wenn überhaupt) höchstens dreißig oder vierzig Jahre betragen haben. Diese relativ stabile Periode endete, als sich Homo sapiens vor etwa 100 000 Jahren – wie Homo erectus vor ihm – von Afrika aus über die ganze Erde verbreitete. Doch im Unterschied zum Homo erectus hat der moderne Mensch nicht nur seine
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angestammte Umwelt verlassen, sondern sie zudem einschneidend verändert. Allerdings erst seit sehr kurzer Zeit. Es ist nur einige tausend Jahre her, dass der Mensch sein Nomadendasein aufgab und Ackerbau und Viehzucht zu treiben begann. Mit anderen Worten, unser Körper ist ein Produkt des Pleistozäns, des Zeitabschnitts, der vor etwa 1,6 Millionen Jahren begann und vor etwa 10 000 Jahren endete, während alle tief greifenden kulturellen und technischen Veränderungen aus dem späten Holozän stammen, das heißt aus den letzten Jahrtausenden. Das Aufkommen der städtischen, industriellen Welt ist noch sehr viel jüngeren Datums. Auf der Zeitskala der Evolution sind ein paar Jahrtausende (geschweige denn Jahrhunderte) viel zu kurz, um einen bewährten Körperbauplan zu ändern. Dies hat zur Folge, dass die Struktur unseres Körpers und die Umwelt nicht mehr aufeinander abgestimmt sind. Die natürliche Selektion hatte nicht genügend Zeit, unseren Körper so zu ändern, dass er den Gefahren und Versuchungen der modernen Zeit gewachsen ist. Die Adaptationen, die in der afrikanischen Savanne funktional waren, wirken heute oft zu unserem Nachteil. Für Nesse und Williams ist diese fehlende Anpassung an die jetzigen Lebensbedingungen verantwortlich für viele, wenn nicht sogar für die meisten modernen Krankheiten. Verglichen mit unseren fernen Vorfahren leben die meisten Menschen in den Industrieländern heute in einer Wohlstandswelt. Der Preis, den wir dafür zahlen, ist eine stete Zunahme der Zivilisationskrankheiten wie Diabetes, Übergewichtigkeit, Krebs und Herz-Kreislauf-Krankheiten. Das Problem beginnt oft bei der Ernährung. Die Nahrung, die unseren afrikanischen Vorfahren zur Verfügung stand, war vielleicht nicht sehr kalorienreich, dafür aber wahrscheinlich abwechslungsreich und bestand neben Wild und Aas auch aus Knollen und Früchten. Mit dem Übergang zum Ackerbau wurde die Kost beträchtlich einseitiger. In traditionellen agrarischen Gesellschaften liefern Weizen und Reis die meisten Kalorien und Proteine. Auch wenn die tägliche Nahrung durch Milcherzeugnisse und Fleisch ergänzt wird, besteht die Gefahr eines Vitaminmangels, besonders eines Mangels an Vitamin C. Verminderte Widerstandsfähigkeit und verschiedene Erkrankungen sind die Folgen. Neben einseitiger Ernährung ist auch ein Zuviel an bestimmten Nahrungsmitteln ein modernes Phänomen, das zu allerlei Beschwerden führt. Besonders in den Industrieländern nehmen Übergewichtigkeit und alle damit zusammenhängenden Gesundheitsprobleme epidemische Formen an. Obwohl viele Menschen zu dick sind, tun sie sich unverdrossen weiter an kalorienreichen Mahlzeiten gütlich. Dieser Drang nach Zucker, Fett und Salz ist eine angeborene Disposition, die einmal funktional war. Unsere afrikanischen Vorfahren waren sich nie sicher, ob sie täglich etwas zu beißen haben würden, und Nahrung mit hohem Salz-, Zucker- und Fettgehalt war relativ knapp. Ungezweifelt war es adaptiv, möglichst viele dieser Nährstoffe zu sich zu nehmen, um Reserven aufzubauen. Doch bei uns, den modernen Stadtbewohnern, wirkt diese genetisch verankerte
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Disposition kontraproduktiv. Jetzt, da es an jeder Straßenecke salz-, zucker- und fettreiche Produkte in Hülle und Fülle gibt, essen wir uns im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode. Eine salz- und fettreiche Ernährung erhöht das Risiko für eine ganze Reihe von – im Prinzip vermeidbaren – Gesundsheitsschäden wie hohem Blutdruck, Schlaganfall, Krebs und Herzkrankheiten. Das Gleiche gilt für Süßigkeiten. Eine Vorliebe für Zucker ist adaptiv in einer Umwelt, in der diese Substanz nur in Früchten zu finden ist. Heute führt das Überangebot zu Karies, Fettleibigkeit und Diabetes. Auch die drastische Veränderung unseres Lebensstils hat zu dem dramatischen Vormarsch der Zivilisationskrankheiten beigetragen. Nesse und Williams nennen als Beispiel Brust-, Eierstock- und Gebärmutterhalskrebs, Erkrankungen, die heute viele häufiger als früher seien. Es hat den Anschein, als hätten diese Formen des Krebs mit dem stark veränderten Reproduktionsverhalten vieler Frauen in den reichen Industrieländern zu tun. Frauen zögern heute ihre erste Schwangerschaft immer weiter hinaus, sie bekommen auch weniger Kinder als ihre Mütter und Großmütter oder entschließen sich ganz zur Kinderlosigkeit. Dieses veränderte Verhalten hat unvorhergesehene Folgen, denn das Risiko einer älteren Frau, an einer der oben erwähnten Krebsarten zu erkranken, korreliert mit der Zahl der Zyklen, die sie während ihres Lebens gehabt hat. Frauen, deren Fruchtbarkeitszyklen nie durch Schwangerschaften und Stillzeiten unterbrochen wurden, sind am anfälligsten. Wahrscheinlich hat dies mit den stark schwankenden Hormonkonzentrationen während des Zyklus zu tun, die Veränderungen im Gewebe von Brust, Eierstock und Gebärmutter verursachen. Diese Gewebereaktionen sind an sich adaptiv, doch wie bei vielen Anpassungen haben sie ihren Preis – in diesem Fall eine erhöhte Anfälligkeit für bestimmte Krebsarten. Das Risiko wird normalerweise durch ausgleichende Prozesse auf ein Minimum reduziert, die in der Zeit stattfinden, in der die Zyklen durch Schwangerschaft und Stillen unterbrochen werden. Doch wenn es zu diesen Unterbrechungen nicht kommt, findet auch die Regeneration nicht statt. Bei Frauen in noch existierenden Jäger-und-Sammler-Gesellschaften tritt dieses Problem nicht auf. Sie werden meist viel früher (in der Regel schon zwischen ihrem dreizehnten und neunzehnten Lebensjahr) und öfter schwanger als Frauen einer modernen Gesellschaft. Zudem stillen sie ihre Kinder viel länger, manchmal zwei bis vier Jahre. Im Durchschnitt widmet eine Frau in einer Population von Jägern und Sammlern die Hälfte ihres fruchtbaren Lebens dem Stillen ihrer Kinder. Ihre Zyklen sind daher auch viel länger als die „moderner“ Frauen, mit allen sich daraus ergebenden Vorteilen. Nesse und Williams meinen, die Zunahme von Brust-, Eierstock- und Gebärmutterhalskrebs könnte gestoppt werden, wenn man die Verhältnisse der Steinzeit künstlich nachahme, etwa durch hormonale Manipulation. Die Antibabypille erfüllte eigentlich diese Aufgabe bereits. Regelmäßige Einnahme der Pille verringerte das Risiko, an Gebärmutterhals- oder/und Eierstockkrebs zu erkranken. Nesse und Williams erwarten, dass
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in naher Zukunft wirksame Hormonbehandlungen entwickelt werden, die das Risiko von Brustkrebs verringern. Auch bei der Suche nach den Ursachen und der Bekämpfung von Krebs ist die Einsicht in unsere evolutionäre Vergangenheit von Bedeutung. Schreckensszenarien Bereits am Anfang dieses Kapitels haben wir konstatiert, dass die Kenntnis der Evolution und der Genetik immer wichtiger wird, namentlich wenn wir der drohenden Gefahr neuer Pandemien begegnen wollen. Denn krankheitserregende Viren und Bakterien hatten es noch nie so leicht wie heute. Die großen urbanen Ballungsräume und die grenzenlose Mobilität garantieren ihnen eine optimale Verbreitung. Blieben in früheren Jahrhunderten Infektionsherde oft regional begrenzt, weil die Krankheit in abgelegenen Regionen auftrat und die Parasiten nicht genügend neue Wirte finden konnten, so ist eine regionale Begrenzung heute leider sehr viel unwahrscheinlicher geworden. Eine einzige Person mit offener Tuberkulose auf einem internationalen Flughafen kann leicht eine weltweite Epidemie auslösen. Nicht umsonst zeigt sich die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zunehmend besorgt über die verheerenden Auswirkungen ansteckender Krankheiten. Einer der gefürchtetsten Erreger ist das Grippevirus. Im 20. Jahrhundert wurde die Menschheit dreimal von großen Epidemien heimgesucht. 1918/19 forderte die Spanische Grippe weltweit etwa vierzig Millionen Todesopfer, mittlere Pandemien folgten 1957 mit der Asiatischen Grippe und 1968 mit der HongkongGrippe. Zu Recht besteht die Befürchtung, dass wir es in naher Zukunft mit einer neuen, hoch virulenten Variante zu tun bekommen, die möglicherweise noch verheerendere Folgen haben wird als alle drei vorigen Pandemien zusammen. Die Krisenpläne sind auf den neuesten Stand gebracht, doch es ist die Frage, ob man den Schaden auch tatsächlich begrenzen kann. Die Viren, die Grippe (oder besser: Influenza) auslösen, haben wie alle Viren zwei Eigenschaften, die ihre Bekämpfung erschweren: Sie evolvieren sehr rasch und tauschen fortwährend Teile ihres Erbguts aus. Da sie sich jährlich verändern, kann das menschliche Abwehrsystem die neuartige Variante nur schwer erkennen, ein Grund, warum die Grippeimpfung jedes Jahr wiederholt werden muss. Influenzaviren lassen sich in die Typen A, B und C unterteilen. Der A-Typ, der für uns relevant ist, hat als einziger zwei Subtypen, nämlich H und N. Die Buchstaben verweisen auf die zwei Arten von Proteinen (Hämagglutinin und Neuraminidase), die an der Oberfläche der Virushülle verankert sind. Diese bestimmen in hohem Maße, ob das menschliche Abwehrsystem den Virus erkennt und bekämpfen kann. Bekannt sind 16 H-Subtypen und 9 N-Subtypen, die zudem in allerlei Kombinationen auftreten können. So bezeichnet „H7N2“ ein Influenzavirus des Typs A mit einem H7-Protein und einem N2-Protein. Da jeder
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Subtyp wiederum aus verschiedenen, ständig mutierenden Stämmen besteht, kann unser Immunsystem uns nicht vor neuen Ansteckungen schützen. Mindestens drei Subtypen treten beim Menschen auf: H1N1, H1N2 und H3N2. Eine schwere Grippe ist verbunden mit hohem Fieber und Gliederschmerzen, doch unter normalen Umständen selten tödlich. Gefährdet sind allerdings ältere und gesundheitlich geschwächte Personen. In den Niederlanden sterben jährlich etwa dreitausend Menschen an dieser „einfachen“ Grippe. Potenziell viel gefährlicher sind die Subtypen des Influenza-A-Virus, die von Tier zu Mensch übertragen werden, wie die Vogelgrippe (H5N1) und die Geflügelpest (H7N7). Wildvögel sind die natürlichen Träger aller bekannten Influenza-A-Viren. Sie erkranken selbst gar nicht oder zumindest nicht schwer. Doch bei Hausgeflügel wie Hühnern, Tauben, Enten oder Gänsen kann das Vogelgrippevirus eine tödliche Seuche hervorrufen und auch auf Menschen überspringen, die mit ihnen in engem Kontakt stehen. Wirklich beängstigend wäre es jedoch, wenn solche Viren von Mensch zu Mensch übertragen würden. Nur eine kleine Veränderung des Proteins wäre nötig, um aus dem Vogelgrippevirus einen tödlichen Menschenvirus zu machen. Auch der Erreger der Spanischen Grippe stammte, wie Forscher herausfanden, direkt von einem Vogelgrippevirus ab. Eine minimale Mutation in der Proteinhülle reichte aus, die menschliche Immunabwehr zu überlisten und eine Pandemie auszulösen. Die asiatische Variante der Vogelgrippe (H5N1), die sich seit einigen Jahren ausbreitet und immer wieder auch Menschen infiziert, könnte irgendwann eine Pandemie auslösen, die die Spanische Grippe noch um ein Vielfaches übertreffen würde. In den Niederlanden rechnet das Reichsinstitut für Volksgesundheit und Umwelt in diesem Fall mit mindestens vierzigtausend Sterbefällen. Einer von drei Niederländern wird sich infizieren und erkranken. Es wird sehr bald an Betten in den Krankenhäusern fehlen. Wer noch gesund ist, wird Vorräte hamstern und möglichst zu Hause bleiben. Eltern werden ihre Kinder nicht mehr in den Kindergarten oder zu Schule schicken, jeder wird den Aufenthalt in öffentlichen Räumen meiden, was auch bedeutet, dass viele Menschen nicht zur Arbeit gehen werden. Irgendwann wird Panik ausbrechen, das gesellschaftliche Leben wird nahezu zum Erliegen kommen. Eine Pandemie würde also nicht nur viele Menschenleben fordern, sondern auch große wirtschaftliche Schäden verursachen. Der Internationale Währungsfonds (IMF) warnte unlängst vor erheblichen Konsequenzen für die Weltwirtschaft. Länder müssten sich auf Transport- und Handelsstörungen, Einbrüche bei Strom- und Gasversorgung und Störungen im internationalen Zahlungsverkehr einstellen. Auch der Einsatz von Polizei, Feuerwehr und Rettungsdiensten würde beeinträchtigt. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Influenzapandemie die drei vorangegangenen an Umfang übertreffen wird, ist angesichts der Globalisierung beträchtlich. Ein europäischer oder amerikanischer Tourist, der einen Geflügelmarkt in Bangkok besucht, kann ein Virus innerhalb von vierundzwanzig Stunden auf die an-
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dere Seite des Globus befördern. Schutzmaßnahmen gibt es kaum. Feste Bestandteile der Krisenpläne sind die Verteilung von Medikamenten wie Tamiflu, die die Ausbreitung der Viren verhindern, und die Isolierung von Stadtvierteln, Städten oder ganzen Provinzen. Großveranstaltungen wie Fußballspiele und Popkonzerte werden abgeblasen, Schulen geschlossen. Doch niemand kann sagen, ob dies wirklich ausreicht. Eine umfangreiche Impfung der Bevölkerung ist zwar im Prinzip möglich, doch in der Praxis kaum durchführbar. Ein wirksamer Impfstoff kann nämlich erst nach dem Auftreten des noch unbekannten Virus entwickelt werden, und es dauert mindestens ein halbes Jahr, bevor er in ausreichender Menge zur Verfügung steht. Vielleicht ist die genetische Analyse auf Dauer eine bessere Verteidigung. Wenn wir die Evolution der Viren besser verstehen, kann die „biologische Kriegsführung“ vielleicht irgendwann einmal zu unserem Vorteil entschieden werden. Der verkrachte Medizinstudent Charles Darwin, der sich 1827 nach zwei Jahren von den Collegebänken (und besonders dem Seziersaal) in Edinburgh verabschiedete und in Cambridge auf Theologie umsattelte, hätte es sich in seinen kühnsten Träumen nicht vorgestellt, dass einmal ein neuer Wissenschaftszweig mit seinem Namen verknüpft sein würde.
15 Sozialdarwinismus und Eugenik Gefahren des evolutionären Denkens Es gibt heute kaum noch einen Wissenschaftszweig, der nicht durch das darwinistische Paradigma beeinflusst ist. Die Evolutionstheorie hat sich als eine machtvolle Idee erwiesen, die unser Weltbild verändert hat. Hundertfünfzig Jahre nach Erscheinen der Entstehung der Arten hat Darwins revolutionärer Gedanke nichts von seiner Brisanz eingebüßt. Doch das Erbe, das er uns hinterlassen hat, liefert nicht nur fruchtbare Erkenntnisse, sondern birgt auch Gefahren. Im zwölften Kapitel wurde bereits angedeutet, dass sich aus Evolutionsbiologie und Ethik leicht eine explosive Mischung bilden kann. In der Vergangenheit haben Pseudowissenschaftler, Ideologen und andere Phantasten Darwin des Öfteren vor ihren Karren gespannt, manchmal mit erschreckendem Resultat. Die zwei bekanntesten ideologischen Gefahren in der Rezeption der Evolutionstheorie sind der Sozialdarwinismus und die Eugenik. Der Sozialdarwinismus war vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts populär und vertrat die Ansicht, das Prinzip des Survival of the Fittest gelte nicht nur für die Natur, sondern auch für die Gesellschaft. Die Eugenik ist zu trauriger Berühmtheit gelangt durch die Verbrechen, die im NS-Staat unter Berufung auf die „Veredelung“ der menschlichen Spezies verübt wurden. Obwohl sich beide Doktrinen in mancher Hinsicht voneinander unterscheiden, haben sie eines gemeinsam: Sie verkünden beide, man könne und müsse die Einsichten der Evolutionsbiologie dazu nutzen, die Gesellschaft zu erneuern. Das kann geschehen, indem man entweder aktiv in die Entwicklung eingreift oder ihr im Gegenteil ihren Lauf lässt, abhängig von den Vorstellungen der Elite, die gerade an der Macht ist. Denn im Grund beruhen beide Doktrinen auf dem Größenwahn der herrschenden Klasse, sie waren Audruck ihres naiven Fortschrittsglaubens und dienten als pseudowissenschaftliche Rechtfertigung von Kolonialismus, Rassismus und hemmungslosem Kapitalismus. In seinen Auswüchsen führte das „Recht des Stärkeren“ dazu, dass man Menschen, die man als „minderwertig“ ansah, aus der Gesellschaft ausschloss, misshandelte oder ermordete. Die Auswüchse des Sozialdarwinismus und der Eugenik gehören zwar der Vergangenheit an, doch manche Elemente tauchen gerade heute in anderer Gestalt wieder auf.
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Herbert Spencer und die Evolutionsgesetze Der Sozialdarwinismus in seiner ursprünglichen, radikalen Form erklärte „das Überleben des Tauglichsten“ zum dominanten Prinzip nicht nur der biologischen Evolution, sondern auch der sozialen und kulturellen Entwicklung. Es gilt, die menschliche Gesellschaft möglichst in Übereinstimmung mit den Gesetzen der Evolution zu bringen. So wie die Natur sei auch die Gesellschaft durch Wettbewerb und Konkurrenz geprägt, wobei die Individuen, die sich am besten an ihre Umgebung angepasst haben, am längeren Hebel sitzen. Daraus folgt, dass der Staat die weniger Begünstigten – Arme, Kranke, Arbeitslose oder schwach Begabte – auf keinen Fall unterstützen dürfe. Schwäche, Bequemlichkeit und Dummheit dürften niemals „belohnt“ werden, denn damit würde man den Lauf der Evolution nur stören. Viel besser sei es, die untüchtigen Individuen ihrem Schicksal zu überlassen und sie damit zu zwingen, sich zu bessern und zu entwickeln oder unterzugehen. Mehr im Allgemeinen postuliert der Sozialdarwinismus, dass die angeblich „überlegenen“ Mitglieder der Gesellschaft den als „minderwertig“ angesehenen ihren Willen aufzwingen können. Der Sozialdarwinismus wird vor allem mit dem Soziologen und Philosophen Herbert Spencer assoziiert, der ihn populär machte. Von ihm stammt die berühmte Formel des survival of the fittest, die Darwin und viele andere nach ihm rasch aufgriffen. Spencer war schon vor der Veröffentlichung von Darwins Entstehung der Arten ein überzeugter Evolutionist. Das ist nicht verwunderlich, denn der Evolutionsgedanke lag in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geradezu in der Luft. Er bezog sich allerdings nicht auf das Prinzip der natürlichen Selektion, das erst Darwin entdecken sollte, sondern allgemeiner auf Wachstum, Entwicklung und Fortschritt: Alles ist faktisch den Entwicklungsgesetzen unterworfen. Dieser Fortschrittsglaube war ganz dem Denken des viktorianischen Zeitalters verhaftet, in dem die industrielle Revolution, der zunehmende Wohlstand und die imperialistische Expansion des britischen Königreichs einen Optimismus förderten, für den Evolution praktisch gleichbedeutend war mit Fortschritt. In diesem Kontext müssen wir auch Spencers Evolutionismus begreifen. Spencer gab keine biologische Erklärung für die Entstehung und den Wandel der Arten, sondern wies auf allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten der Geschichte und des Daseins hin: Alles ist Teil eines übergeordneten Entwicklungsprozesses. In einem 1857 unter dem Titel Progress: its Law and Cause erschienenen Essay heißt es: „Alles, was existiert, befindet sich in einem Zustand des Werdens oder der Entwicklung.“ Es klingt wie ein fernes Echo des berühmten panta rhei (alles fließt) des griechischen Philosophen Heraklit. Für Spencer vollzieht sich die Entwicklung in einem linearen Prozess vom Einfachen zum Komplexen, vom Homogenen zum Heterogenen, und zwar nicht nur in der Natur, sondern im ganzen Kosmos. Und wenn alles einem evolutionären Wandel unterworfen ist, dann gilt dies natürlich auch für die menschliche Gesellschaft.
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Spencer war also ein Evolutionist und nicht eigentlich ein Darwinist. Beeinflusst wurde er vor allem von den Ideen des französischen Naturforschers Lamarck. Im Unterschied zur darwinistischen Evolution ist die lamarckistische ein äußerst effizienter und zielgerichteter Prozess, da jede Generation auf den Leistungen und Errungenschaften der vorangegangenen aufbaut. Spencer meinte daher, gute Gründe für seinen Optimismus zu haben. Nach der Veröffentlichung der Entstehung der Arten wurde er auch von Darwin beeinflusst, doch Lamarcks Ideen spielten weiterhin eine prominente Rolle in seiner Philosophie. Für Spencer ist der Wettbewerb die treibende Kraft der Entwicklung. In seinen Augen ist der rücksichtslose Laissez-faire-Kapitalismus (jeder für sich und Gott für uns alle) im Grunde ein natürlicher Prozess, der im Überleben der stärksten und tüchtigsten Individuen resultiert. Übrigens ist auch der Einfluss von Malthus hier unverkennbar, demzufolge das Bevölkerungswachstum zu einem „Kampf ums Dasein“ (struggle for existence) führt, in dem die Schwächsten unvermeidlich unterliegen. Wettbewerb und Konkurrenz sind die Schlüssel zum Fortschritt der Gesellschaft. Dieser Wettbewerb findet nach Ansicht Spencers nicht nur zwischen Individuen statt, sondern auch zwischen Unternehmen. Ökonomie und Wohlfahrt werden vorangetrieben durch die schonungslose Konkurrenz des Unternehmertums. Betriebe, die sich nicht an die harten Bedingungen des freien Markts anpassen können, sterben aus, zum Wohl der Wirtschaft wie der Gesellschaft. Dieser Wettbewerb führt schließlich dazu, dass ein oder mehrere große Unternehmen eine Monopolstellung erreichen und der Gesellschaft den Weg weisen. Solche Ideen fanden Anklang bei amerikanischen Wirtschaftsmagnaten wie Andrew Carnegie und John D. Rockefeller, die sich schon bald auf Spencer beriefen. So meinte der Stahlmagnat Carnegie, die Konzentration von Macht und Reichtum in den Händen einiger weniger sei essenziell für den Fortschritt der Nation. Einige Jahrzehnte später trieb William Graham Sumner, einer der führenden Repräsentanten des Sozialdarwinismus und Professor für politische und soziale Wissenschaften an der Yale-Universität, den Gedanken auf die Spitze. Er verkündete, Millionäre seien durch natürliche Auslese aus dem Wettbewerb hervorgegangen, und er fasste seinen sozialdarwinistischen Standpunkt in dem wenig subtilen, aber kernigen Ausspruch root, hog, or die zusammen. Die Redensart stammt von den amerikanischen Schweinezüchtern und bedeutet so viel wie „Sorge für dich selbst oder stirb“. Heute ist der amerikanische Kapitalismus zwar etwas milder, doch im Kern unverändert. Im Kampf ums Dasein steigen erfolgreiche Individuen die Karriereleiter hinauf, und von ihrem Unternehmungsgeist profitiert die ganze Gesellschaft: „Was gut ist für General Motors, ist auch gut für Amerika.“ Der Gedanke, das persönliche Gewinnstreben komme der Gesellschaft insgesamt zugute, wurde meisterhaft in Oliver Stones Film Wall Street aus dem Jahr 1987 persifliert. „Greed is good!“, doziert der megalomane Broker und Finanzhai Gordon Gekko (gespielt von Michael Douglas). „Gier ist gut! Gier ist
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richtig! Gier funktioniert. Gier erfasst das Wesen des evolutionären Geistes!“ Die Evolution als Rechtfertigung eines Raubtier-Kapitalismus. Für Spencer und seine Geistesverwandten war der Sozialismus selbstredend von Übel. Nicht nur weil staatliche Unterstützung den schlecht angepassten Individuen und Betrieben das Überleben ermöglicht, sondern vor allem, weil der Sozialismus die Autarkie des Einzelnen infrage stellt, ohne die gesellschaftlicher Fortschritt unmöglich sei. Denn Menschen, die von staatlicher Fürsorge abhängig sind, brauchten keine Eigeninitiative mehr zu entwickeln. Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, staatliche Gesundheitspolitik oder bildungspolitische Maßnahmen sind unerwünscht, der Staat muss nur für die Sicherheit seiner Bürger sorgen. Alles andere kann man getrost der Dynamik des freien Markts überlassen. Spencers Sozialdarwinismus will die „Unangepassten“ nicht eliminieren, sondern vielmehr dazu ermutigen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und ihre gesellschaftliche Lage zu verbessern. Faulheit sei schlimmer als Dummheit und dürfe unter keinen Umständen belohnt werden. Die natürliche Strafe für Faulheit sei Armut. Staatliche Hilfsmaßnahmen seien insofern kontraproduktiv, denn ohne das Damoklesschwert der Armut würden Individuen keine Initiative entfalten. Mitgefühl sei unangebracht, jeder Versuch, Not zu lindern, sorge nur für die Ausbreitung der Schwachheit. Man solle der Natur ihren freien Lauf lassen. Die Wurzeln des Sozialdarwinismus In Spencers evolutionärem Universum ist, wie gesagt, sowohl der Einfluss Darwins wie der Lamarcks zu spüren. Sein Optimismus hinsichtlich des gesellschaftlichen Fortschritts beruhte vor allem auf Lamarcks Theorie, derzufolge Eigenschaften und Fähigkeiten, die während eines Lebens erworben werden, erblich sind. Die lamarckistische Evolution verläuft rasch und reibungslos, da jede Generation unmittelbar auf den Leistungen der vorigen aufbaut. Sie ist nicht wie bei Darwin von einem umständlichen Selektionsprozess abhängig, sie kann sogar ganz auf ihn verzichten, da sie eine innere Tendenz zum Fortschritt hat. Während für Darwin das Auftreten von Variationen immer zufällig ist, sind für Lamarck die Variationen zielgerichtet. Ein solcher Mechanismus ermöglicht raschen Fortschritt. Spencer meinte, auch die soziale Entwicklung sei kumulativ und könne innerhalb weniger Generationen stattfinden.Wenn erworbene Eigenschaften erblich seien, bedeute das, dass der Mensch seine eigene Entwicklung kontrollieren könne. Der gesellschaftliche Erfolg ist nach Spencer eine biologische, erbliche Eigenschaft. Ein fauler Arbeitsloser, der eines Tages beschließt, die Ärmel hochzukrempeln und auf der gesellschaftlichen Leiter nach oben zu klettern, wird sein Erbgut günstig beeinflussen und seine Kinder mit ähnlichen Ambitionen ausstatten. Die Nachkommenschaft hat so eine angeborene Prädisposition für Tat-
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kraft und Erfolg. Da Spencers Auffassungen sich stark auf Lamarcks Vererbungstheorie stützen, wäre es im Grunde korrekter, von einem Soziallamarckismus statt von einem Sozialdarwinismus zu sprechen. Im Nachhinein ist leicht zu sehen, welchen Denkfehler Spencer machte. Er beging den Irrtum, nicht streng zwischen dem Einfluss von Veranlagung und Umwelt (nature und nurture) zu unterscheiden. Beide Faktoren können einander zwar beeinflussen, doch ererbte Eigenschaften sind von gänzlich anderer Art als soziokulturelle, erworbene Eigenschaften. Sie werden zudem auf unterschiedlichen Wegen übertragen. Natürlich verhält es sich so, dass wir Dinge, die wir zu Lebzeiten gelernt haben, an unsere Kinder weitergeben können. Das ist das Wesensmerkmal kultureller Evolution. Doch solche im Lauf eines Lebens erworbenen Eigenschaften sind nicht im biologischen Sinne vererbar, sie gelangen nicht auf irgendeine Weise kodiert in die Geschlechtszellen. Erworbene Kenntnisse werden nicht über ein genetisches, sondern ein kulturelles Medium weitergegeben, nämlich durch Tradition, Erziehung und Bildung. Gesellschaftlicher Erfolg ist keine biologische, vererbare Eigenschaft, und ein erfolgreicher Geschäftsmann hat auch nicht automatisch „gute Gene“. Sein Erfolg verdankt sich vielleicht seinem Herkunftsmilieu und seiner guten Ausbildung. Umgekehrt hat ein Mensch, der in der sozialen Welt gescheitert ist, nicht unbedingt „schlechte Gene“. Er kann einfach das Pech gehabt haben, unter ungünstigen sozialen Bedingungen aufgewachsen zu sein. Mit der Zeit kamen auch die Sozialdarwinisten zu dieser Einsicht. Sie leugneten Umwelteinflüsse nicht länger, hielten aber an der Ansicht fest, die für den Wettbewerb wichtigsten Grundeigenschaften lägen schon bei der Geburt fest. Selbst wenn jeder die gleichen Chancen erhielte, würden sich auf Dauer dennoch eine Unterschicht und eine Oberschicht herausbilden. Lamarcks Vererbungstheorie war Gemeingut im 19. Jahrhundert, und auch auf Darwin übte sie eine gewisse Anziehungskraft aus. Gänzlich in Misskredit geriet sie erst, als der deutsche Biologe Weismann Ende des 19. Jahrhunderts die Unmöglichkeit der Vererbung erworbener Eigenschaften nachwies. Die im „Keimplasma“, wie man das Erbmaterial damals nannte, gespeicherten Informationen können während eines Lebens nicht ergänzt oder verändert werden. Es führen kausale Stränge vom Genotyp zum Phänotyp, nicht aber umgekehrt. Erst mit der Wiederentdeckung der Mendel’schen Vererbungstheorie im Jahr 1900 verfügte man über eine schlüssige Alternative zum Lamarckismus. Genetische Veränderungen kommen nicht durch Anstrengungen der Organismen zustande, sondern durch Mutation und Rekombination. Eine Population kann daher nur abwarten, bis sich eine günstige genetische Variation einstellt. Weismanns Widerlegung der Lamarck’schen Vererbungstheorie entzog auch dem Fortschrittsoptimismus den Boden. Wenn das „Keimplasma“ nicht verändert werden kann, bleiben die Nachkommen „minderwertiger“ Menschen im Prinzip „minderwertig“. Neben Lamarck übte auch Darwin großen Einfluss auf Spencer aus, namentlich mit seiner Theorie der natürlichen Selektion. Denn Wettbewerb und Kon-
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kurrenz stellen einen Selektionsprozess dar, aus dem nur die Tüchtigsten und am besten Angepassten als Sieger hervorgehen. Freier Handel und wirtschaftlicher Wettbewerb sind in diesem Sinne sozusagen Mittel der natürlichen Auslese in der menschlichen Gesellschaft. Spencers Verteidigung des Laissez-faire-Kapitalismus leitet sich direkt aus dem Prinzip des Survival of the fittest ab, dem Gedanken, dass gnadenlose Konkurrenz das Beste aus den Menschen herausholt. Darwin selbst vertrat ähnliche Ansichten, wenn auch in abgeschwächter Form. Er war davon überzeugt, dass der Konkurrenzkampf zwischen Individuen letztlich einen heilsamen Effekt habe und dass die Abschwächung dieses Selektionsprozesses durch die fortschreitende Zivilisierung des Menschen schädlich sein könne. Doch gleichzeitig war er kein Befürworter eines uneingeschränkten Kapitalismus, er war nicht der Ansicht, man müsse die Hilflosen ihrem Schicksal überlassen. Die zivilisierten Menschen seien mit einem „Instinkt der Sympathie“ ausgestattet, der sie daran hindere, allzu hartherzig aufzutreten. Der natürliche Selektionsprozess werde auf diese Weise zwar gestört, doch dies sei nun einmal der Preis für die kulturell höhere Stufe, die wir erreicht hätten. Wir könnten jetzt diese Sympathie nicht mehr unterdrücken, „ohne dass dadurch unsere edelste Natur an Wert verlöre“ (Die Abstammung des Menschen, 1. Teil, 5. Kapitel). Die Kontroverse über Rassen Das evolutionäre Schema, das Spencer entwirft, beschränkt sich nicht auf Individuen und Unternehmen, sondern ist auch auf Kulturen und Rassen anwendbar. Aus dem fortwährenden Wettbewerb zwischen sozialen Gruppen gehen die stärksten Rassen und Kulturen als Sieger hervor. Die Unterwerfung „niederer“ Rassen und Kulturen ist demnach Teil des allgemeinen Entwicklungsgesetzes. Spencer sah im europäischen Kulturkreis und der weißen Rasse die Spitze der menschlichen Entwicklung. Der Sozialdarwinismus diente im 19. Jahrhundert der Rechtfertigung des (britischen) Imperialismus, Kolonialismus und der Sklaverei. Wenn der Mensch auch nicht von Gott erschaffen wurde, der weiße protestantische (britische) Mann war jedenfalls die Krone der Evolution. Es war daher nur recht und billig, dass der weiße Mann über die Welt herrschte. Mit dieser Ansicht stand Spencer nicht allein, viele seiner (weißen, europäischen) Zeitgenossen vertraten die gleichen unverblümt rassistischen und sexistischen Ideen. Im 19. Jahrhundert war es in Europa und Amerika gang und gäbe, von „überlegenen“ und „minderwertigen“ Rassen, von einem „überlegenen“ und einem „minderwertigen“ Geschlecht zu sprechen. Auch Darwin war von der „Überlegenheit“ der männlichen Vertreter der weißen Rasse überzeugt. Nicht umsonst lautet der Untertitel der Entstehung der Arten: „die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um‘s Dasein“. Rassen gehen an ihren eigenen Unzulänglichkeiten zugrunde. In Die Abstammung des Menschen spricht Darwin unumwunden von einer Hierarchie der Menschenrassen und ordnet „Neger“
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und „Australier“ (Papuas) zwischen dem weißen Mann und den Menschenaffen ein. „In einer künftigen Zeit“, so schreibt er, „die, nach Jahrhunderten gemessen, nicht einmal sehr entfernt ist, werden die zivilisierten Rassen der Menschheit wohl sicher die wilden Rassen auf der ganzen Erde ausgerottet und ersetzt haben“ (6. Kapitel). Auch auf Unterschiede zwischen den Geschlechtern weist Darwin hin. Der Mann erreiche bei allem, was er unternehme, eine „vorzüglichere Leistung als das Weib“, ob es sich nun um tiefes Denken, um Vernunft und Imagination oder bloß den Gebrauch der Sinne und Hände handele. Typisch weibliche Fähigkeiten wie Intuition, rasche Auffassung oder Nachahmung seien charakteristisch für „einen früheren und niedrigeren Zustand der Zivilisation“. Im sechsten Kapitel hatten wir gesehen, dass im 19. Jahrhundert in der Anthropologie eine heftige Debatte zwischen Polygenisten und Monogenisten über die Frage geführt wurde, ob die Menschheit von einem oder mehreren Elternpaaren abstamme. Die Polygenisten gingen von verschiedenen Ursprüngen und von einer unterschiedlichen Entwicklung der Menschenrassen aus. Die afrikanischen und australischen Rassen etwa stellten ein Zwischenstadium zwischen Menschenaffen und Europäern dar. Die „niederen“ Rassen wurden als „erstarrte Überreste“ der progressiven Entwicklung vom Affen zum Menschen betrachtet, und diese Sichtweise ermöglichte wiederum die Rechtfertigung von Kolonialismus und Sklaverei. Die Monogenisten behaupteten dagegen den gemeinsamen Ursprung aller Menschen. In Die Abstammung des Menschen schließt sich Darwin dieser Sichtweise an. Alle Menschenrassen stammten von einem einzigen ursprünglichen Stamm ab (7. Kapitel). Dafür spreche etwa die Tatsache, dass alle Rassen uneingeschränkt miteinander fortpflanzungsfähig und auch ihre Kinder fruchtbar seien. Wenn Darwin auch auf der Seite der Monogenisten stand, so sind manche seiner Äußerungen nicht oder kaum weniger rassistisch als die der Polygenisten. Die verschiedenen Rassen gehörten für ihn zwar derselben Spezies an, doch zwischen ihnen gebe es offensichtliche geistige und intellektuelle Unterschiede. Man könne den modernen Menschen, Homo sapiens, in drei große Gruppen einteilen: die europide oder kaukasische, die negroide und die mongolide, wobei Letztere wieder in einen asiatischen, amerikanischen und australischen Zweig unterteilt werden kann. Eine Rasse sei eine Population von Individuen, die sich aufgrund ihrer gemeinsamen Abstammung ähneln und enger miteinander verwandt sind als mit anderen Populationen. Diese Ansicht ist allerdings schon seit Jahrzehnten heftig umstritten. Nach Ansicht mancher Forscher, vor allem aus den Gesellschaftswissenschaften, gibt es überhaupt keine Rassen bzw. der Begriff der „Rasse“ verweise – genauso wie der der Geschlechts – nicht auf eine biologische, sondern auf eine soziale Kategorie. Nicht die Natur, sondern wir teilten Menschen in verschiedene Subgruppen ein. In genetischer Hinsicht gebe es keinerlei Anlass zu einer Rassensystematik, denn die Unterschiede zwischen Individuen, die derselben „Rasse“ angehören, könnten durchschnittlich größer sein als die Unterschiede zwischen den „Rassen“.
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Die wissenschaftliche Einstellung zur Frage der „Rasse“ ist jedoch einem ständigen Wandel unterworfen. Der Zweite Weltkrieg und der Untergang NaziDeutschlands stellen in dieser Hinsicht einen Wendepunkt dar. So verurteilte die 1945 gegründete UNESCO in den Fünfzigerjahren jegliche Diskriminierung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe: Es gebe zwar Menschenrassen, doch alle Menschen seien gleich an Würde und Rechten geboren. In den Sechziger- und Siebzigerjahren mündete diese politisch korrekte Sichtweise in den Gedanken, „Rasse“ sei ein Mythos, ein rein soziales Konstrukt. Wir seien nicht nur alle gleich geboren, sondern es gebe überhaupt keine Rassen! Wer das Gegenteil behauptete, war ideologisch verblendet oder einfach ein Rassist. Dieser politisch korrekte Standpunkt ist heute vor allem in den Vereinigten Staaten in bestimmten Wissenschaftskreisen immer noch sehr populär. Die Ansicht, dass sich der Begriff „Rasse“ bei genauerem Hinsehen in biologischer Hinsicht als eine Fiktion erweise, wird jedoch nicht von allen geteilt. Es gibt offenbar durchaus gute Gründe, die Menschheit in verschiedene biologische Subspezies zu unterteilen, Gründe, die mit den Fortschritten der modernen Medizin zu tun haben. Wie Untersuchungen gezeigt haben, sind Afroamerikaner anfälliger für Herzleiden als Amerikaner europäischer Abstammung. Anfänglich führte man diese Unterschiede auf sozioökonomische Faktoren zurück. Afroamerikaner sind durchschnittlich ärmer als Weiße, sie haben eine andere Ernährungsweise und einen beschränkteren Zugang zum Gesundheitssystem. Doch 2002 erklärte eine Forschergruppe, die Unterschiede hätten auch eine biologische Grundlage. Die höhere Wahrscheinlichkeit eines Herzleidens sei zu einem beträchtlichen Teil auf eine genetische Differenz zurückzuführen. Die pharmazeutische Industrie ließ nicht lange auf sich warten. Im Juni 2005 brachte die Firma NitroMed ein von der US-amerikanischen Nahrungs- und Arzneimittelaufsicht FDA zugelassenes Medikament auf den Markt, das speziell für herzkranke Afroamerikaner entwickelt worden war. Das Produkt, BiDil genannt, wurde von der Gleichheitslobby schon bald eine „rassistische Pille“ genannt, doch die Patienten schien das nicht zu stören. Auch andere Erkrankungen können einen ethnischen Hintergund haben. So stehen manche Krankheiten in Zusammenhang mit der Hautfarbe. Menschen mit schwarzer oder dunkler Haut, die in einem gemäßigten Klima leben, sind anfällig für Vitamin-D-Mangel, der unter anderem Rachitis verursachen kann. Im Allgemeinen bildet der Körper selbst ausreichend Vitamin D unter Einwirkung von Sonnenlicht, und in tropischen Gebieten leiden schwarze Menschen daher nie an Vitamin-D-Mangel. Weiße kennen dieses Problem nicht, da ihre Haut für UV-Licht durchlässiger ist. Auf der anderen Seite haben Weiße, die in den Tropen leben, ein erhöhtes Risiko, an Hautkrebs zu erkranken. Grelles Sonnenlicht und Hellhäutigkeit vertragen sich schlecht. Kurzum, der Schluss, es gebe keine Rassen, ist vielleicht etwas zu voreilig.
DIE GLOCKENKURVE
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Die Glockenkurve Ein fast schon sprichwörtliches Klischee im amerikanischen Basketballsport lautet: Weiße Männer können nicht springen (white men can’t jump). Die großen Stars sind schließlich fast ausnahmslos schwarz. Weiße sind höchstens passable Spielverteiler, aber richtig dunken – sich in die Luft schrauben und den Ball von oben durch den Ring schieben – können sie nicht. Der Allergrößte, Michael „Air“ Jordan, trug seinen zweiten Vornamen nicht zu Unrecht. Kein Weißer machte ihm seine Kunststücke nach (die meisten Schwarzen übrigens auch nicht). Es ist inzwischen eine „Volksweisheit“, dass schwarze Menschen nicht nur höher und weiter springen, sondern auch schneller rennen können als Weiße. Am 100-Meter-Sprintfinale bei den Olympischen Spielen nehmen fast nur dunkelhäutige Athleten und Athletinnen teil. Auch bei den Langstrecken wie dem 10 000-Meter-Lauf oder dem Marathon sind sie dominant. Vor allem ostafrikanische Sportler oder Sportler mit ostafrikanischer Abstammung sind hervorragende Langstreckenläufer, wie die beeindruckenden Erfolge der Kenianer und Äthiopier belegen. Experten führen dies auf mehr „langsame Muskelfasern“ zurück, einen schlanken Körperbau mit langen Beinen, einen Körpertyp, der unter Belastung relativ wenig Brennstoff verbraucht. Dagegen sind westafrikanische Sportler bzw. Sportler mit westafrikanischen Wurzeln gute Sprinter. Sie verfügen über mehr „schnelle Muskelfasern“ und einen stämmigen Körperbau, wie geschafffen für eine kurze Kraftexplosion. Ist die schwarze Dominanz in vielen Sportarten tatsächlich auf angeborene, biologische Unterschiede zwischen den Rassen zurückzuführen oder liegen ihr vielleicht doch eher sozioökonomische Faktoren zugrunde? Manche Wissenschaftler vertreten die letztere Auffassung. Für viele schwarze Jugendliche sei Sport die einzige Möglichkeit, dem Ghetto zu entkommen. Die berühmten schwarzen Athleten sind wiederum Leitbilder für unterprivilegierte Jugendliche, die alles zu opfern bereit sind, um in die Fußstapfen ihrer Idole zu treten. Es ist also nicht die Rasse, die neue Generationen schwarzer Sportler hervorbringt, sondern die sozioökonomische Benachteiligung und der Ansporn, es dem Idol gleichzutun. Andere Wissenschaftler halten es dagegen für durchaus legitim, auf biologische Ursachen hinzuweisen: Dunkelhäutige Menschen hätten nun einmal einen anderen Körperbau als weiße, es würde von mangelndem Realitätssinn zeugen, diese physiologischen Unterschiede zu ignorieren. Eine solche Sichtweise hat allerdings weitreichende Implikationen, denn wenn athletische Fähigkeiten tatsächlich zu einem gewissen Teil ethnisch bedingt sind, dann könnte dies natürlich auch auf andere Merkmale zutreffen, wie Musikalität oder Intelligenz. Mit anderen Worten, wenn es angeborene körperliche Differenzen zwischen den Rassen gibt, warum nicht auch psychologische? Wir begeben uns hier auf gefährliches Terrain. Es verstößt schon gegen die political correctness, wenn man von einem besseren (weil angeborenen) Rhythmus-
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gefühl bestimmter Bevölkerungsgruppen spricht. Wer gar andeutet, eine Rasse könnte intelligenter bzw. dümmer sein als eine andere, geht dagegen entschieden zu weit. Genau das taten 1994 der amerikanische Psychologe Richard J. Herrnstein und der Politologe Charles Murray mit ihrem aufsehenerregenden Buch The Bell Curve: Intelligence and Class Structure in American Life. Intelligenz, so die Autoren, sei zwischen den verschiedenen „ethnischen Gruppen“ (lies: Rassen) in den Vereinigten Staaten ungleichmäßig verteilt, und diese Ungleichheit sei überwiegend auf genetische Faktoren zurückzuführen. Die alte IQ-Kontroverse, die bereits zugunsten der mächtigen, politisch korrekten Gleichheitslobby entschieden schien, entbrannte aufs Neue. Anschuldigungen flogen hin und her, doch die Argumente waren nicht neu. Es drehte sich wieder einmal um die alte Frage, ob der Mensch nun das Produkt seiner Veranlagung oder das seiner Umwelt sei. Dass diese Debatte vor allem in den USA immer wieder geführt wird, hängt zum Teil damit zusammen, dass Intelligenztests hier geradezu zu einer nationalen Obsession geworden sind. Für jede Kleinigkeit bemühen Amerikaner schon seit Jahr und Tag einen IQ-Test. Die Fülle an statistischem Material, die auf diese Weise zusammengetragen wurde, ist allerdings beeindruckend und erstreckt sich mittlerweile über ein ganzes Jahrhundert. Sie zeigt ein deutliches und sich wiederholendes Muster: Afroamerikaner schneiden in den Tests am schlechtesten ab, gefolgt von den Latinos (Hispanoamerikanern) und den Weißen mit mediterranen und slawischen Wurzeln. Den höchsten IQ haben Weiße nord- und westeuropäischer Herkunft und Süd- und Ostasiaten. Diese per IQ-Test erhobenen Intelligenzunterschiede zwischen den ethnischen Gruppen sind seit Jahrzehnten konstant. Die Ergebnisse werden auch akzeptiert, strittig ist nur, wie die Unterschiede zu erklären sind. Für die Anhänger der Umwelttheorie haben sie einen sozioökonomischen Hintergrund. Wer in einem armen Milieu aufwächst, das wenig Unterstützung und intellektuelle Herausforderungen bietet und zudem eine überwiegend schlechte Schulausbildung besitzt, hat zwangsläufig schlechtere Karten. Es ist Aufgabe des Staates, diesen Bildungsrückstand durch Förderprogramme auszugleichen, denn der IQ lasse sich steigern. Zudem, so wenden die Umwelttheoretiker ein, seien die IQ-Tests in sozioökonomischer und kultureller Hinsicht voreingenommen, sodass manche Gruppen einfach besser abschneiden als andere. Die Tests registrierten nämlich keine „Intelligenz“, sondern das Bildungsniveau, die Vertrautheit mit der amerikanischen Sprache und Kultur und das Milieu, in dem einer aufgewachsen ist. Demgegenüber meinen die Anhänger der Veranlagungstheorie, die Tests seien ein zuverlässiger Gradmesser für die Intelligenzverteilung, und diese beruhe auf ethnischen und genetischen Grundlagen. Es sei daher lediglich Verschwendung von Steuergeldern, Afroamerikanern und Latinos teure Förderprogramme anzubieten, denn die Intelligenzniveaus lägen schon bei der Geburt fest. Da Intelligenz erblich und angeboren sei, könne der Intelli-
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Die Intelligenzverteilung
III normal
50
II intelligent
IV dumm
sehr dumm
V 60
70
80
90
100 110 IQ-score
120
I
sehr intelligent
130
140
150
Abb. 15.1: Normalverteilungskurve (Bell Curve) der Intelligenz
genzquotient später gar nicht oder kaum mehr beeinflusst werden. Menschen seien nun einmal von Natur aus ungleich, die Unterschiede ließen sich nicht aus der Welt schaffen. Auch die Verfasser von The Bell Curve vertreten diesen politisch inkorrekten Standpunkt. Unterschiede in der Intelligenz seien ethnisch und genetisch bedingt, und wir täten gut daran, dies zu beherzigen, denn Intelligenz und alle damit zusammenhängenden Fähigkeiten bestimmten zu einem großen Teil den gesellschaftlichen Erfolg eines Individuums. Eine Population lässt sich nach Ansicht der Autoren in fünf „kognitive Klassen“ einteilen, nämlich: sehr intelligent, intelligent, normal, dumm und sehr dumm. In einer großen, gemischten Population wird die Verteilung der Intelligenz, grafisch dargestellt, in der Regel die Form einer Glocke (bell) annehmen (siehe Abb. 15.1). Denn ein normaler IQ (100) ist viel häufiger als ein sehr niedriger (weniger als 75) oder ein sehr hoher IQ (mehr als 125). Bell Curve ist die englische Bezeichnung für die Gauß’sche Glockenkurve, die die statistische „Normalverteilung“ darstellt. Herrnstein und Murray konstatieren, dass der durchschnittliche IQ in den USA langsam zurückgehe, da die Afroamerikaner beträchtlich mehr Kinder in die Welt setzten als andere ethnische Gruppen. Berücksichtige man ferner den stetig wachsenden Zustrom von Latinos aus Süd- und Mittelamerika, dann sei eine soziale Katastrophe absehbar. Die Verteilung von Intelligenz in den Vereinigten Staaten befinde sich in einer Abwärtsspirale und gebe, so die Autoren, Anlass zur Sorge. Denn ein niedriger IQ korreliere mit allerlei gesellschaftlich unerwünschten Verhaltensweisen. Personen mit einem niedrigen IQ seien im Allgemeinen weniger gute Erzieher, eine niedrige Intelligenz gehe oft einher mit
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Arbeitslosigkeit, Drogenabhängigkeit und Kriminalität. Um den Abwärtstrend des nationalen IQ zu stoppen, müsse die Einwanderungsquote von Latinos drastisch beschränkt werden, außerdem müsse der Staat arme, schwach begabte Schwarze daran hindern, sich unbegrenzt fortzupflanzen. Die Vorteile lägen auf der Hand. „Eine klügere Population“, schreiben Herrnstein und Murray, „lässt sich eher und leichter zu einem zivilisierten Bürgertum umformen.“ Die IQ-Debatte hat in den USA, wie gesagt, immer auch scharfe gesellschaftspolitische Züge. Anhänger der Veranlagungstheorie sind im Allgemeinen auf der (neo)konservativen rechten Seite des politischen Spektrums zu finden, die Umwelt-Theoretiker eher auf der linken. Die einen gelten in den Augen ihrer Kontrahenten als verantwortungslose Utopisten, die die Wahrheit nicht vertragen, die anderen als Rassisten und Sozialdarwinisten. In einer veränderten und erweiterten Ausgabe seines Buches The Mismeasure of Man / Der falsch vermessene Mensch ging Stephen Jay Gould scharf ins Gericht mit Herrnstein und Murray. Er sprach von einem „anachronistischen Sozialdarwinismus“, der nicht auf Tatsachen, sondern auf Sand gebaut sei. Der Erfolg von The Bell Curve spiegle einen „deprimierenden Zeitgeist“ und eine „historische Periode beispielloser Hartherzigkeit“ wider. Gould und andere haben insofern recht, als Herrnstein und Murray sich bei ihren statistischen Auswertungen vergaloppieren. Auf der Grundlage derselben Daten lassen sich die Ergebnisse auch ganz anders interpretieren. Außerdem tun die Verfasser von The Bell Curve so, als gebe es keine Wirtschaftskriminalität. Jemand, der auf der Leiter des Erfolgs höher steht und einen überdurchschnittlichen IQ besitzt, ist nicht per se die Tugend in Person. Kriminelle Energie findet sich genauso oft bei klugen wie bei dummen Menschen, sie fällt nur weniger auf. Zum Glück erhält die Öffentlichkeit hin und wieder tiefe Einblicke in die Abgründe des „zivilisierten Bürgertums“. Einige Jahre nach Veröffentlichung von The Bell Curve wurde Amerika von einer Welle von Wirtschaftsskandalen erschüttert. Man denke an die betrügerischen Buchhaltungsmethoden des Energieriesen Enron, die Fälle exorbitanter Selbstbereicherung und andere Machenschaften, die sogar die Regierung des Präsidenten George W. Bush in Bedrängnis brachten. Andere Rezensenten, auch wenn sie in der Minderheit waren, vertraten die Ansicht, Herrnstein und Murray schnitten wichtige Themen an, es sei unvernünftig, aus Gründen der politischen Korrektheit soziale Tabus aufrechtzuerhalten. Wie dem auch sei, die Kontroverse über The Bell Curve zeigt, dass der Sozialdarwinismus noch sehr lebendig ist. Heute geht es vor allem um die Frage, ob der Mensch durch seine Anlagen oder seine Umwelt bestimmt wird, denn daraus ergeben sich Konsequenzen für die künftige Politik hinsichtlich Immigration, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und der Armut, des Gesundheitswesens und der Kriminalität. Es ist daher bedauerlich, dass sich die Diskussion in den Vereinigten Staaten so polarisiert hat und die Kontrahenten sich immer tiefer in ihre
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Schützengräben verschanzen und damit den Mittelweg versperren, die Einsicht, dass der Mensch sowohl durch seine Anlagen wie durch seine Umwelt geprägt ist. Denn beides schließt einander keineswegs aus. Die Zukunft der Zivilisation Herrnsteins und Murrays Plädoyer für eine Beschränkung der Geburtenzahl unter armen, unterprivilegierten Schwarzen weist nicht nur Merkmale des Sozialdarwinismus, sondern auch der Eugenik auf. Der Begriff „Eugenik“ – „von guter Abkunft“ – wurde 1883 von dem einflussreichen englischen Psychologen und Naturwissenschaftler Francis Galton, einem jüngeren Vetter von Charles Darwin, geprägt. Ziel der Eugenik ist es, die Menschheit oder eine Menschenrasse durch selektive Fortpflanzung zu verbessern, so wie Züchter Tiere oder Pflanzen „veredeln“, indem sie konsequent alle Individuen mit den erwünschten Merkmalen und Eigenschaften für die weitere Vermehrung auswählen. Die Eugenik will dieses Verfahren auf den Menschen anwenden. Die Elite habe die Aufgabe, die „Qualität“ der Rasse zu gewährleisten, indem sie die Größe der Familie auf die erblichen Eigenschaften der Eltern abstimme: Individuen mit „guten Eigenschaften“ dürfen sich unbeschränkt vermehren, Individuen mit „schlechten Eigenschaften“ dagegen nicht. Man unterscheidet zwei Formen der Eugenik: die positive und die negative. Die positive Eugenik fördert die Fortpflanzung „überlegener“ Individuen, etwa durch finanzielle Belohnung; die negative Eugenik versucht, die Fortpflanzung „minderwertiger“ Individuen zu verhindern, etwa durch Zwangssterilisation. Eine konsequent durchgeführte Rassentrennung (racial segregation) und ein Verbot von Mischehen soll darüberhinaus die „rassische Reinheit“ sicherstellen. Der Sozialdarwinismus war vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts populär, die Eugenik in der ersten Hälfte des 20. Während der Sozialdarwinismus nicht in die durch natürliche Selektion getriebene Evolution eingreifen will, ist es Ziel der Eugenik, gerade durch eine künstliche Selektion Einfluss zu nehmen. Der Vermehrung „erblich belasteter“ Individuen müsse entgegengetreten werden. In seinem 1989 erschienenen Buch Evolution, the History of an Idea erklärt Peter Bowler, Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Universität von Belfast, diesen Umschwung wie folgt. Im 19. Jahrhundert betrachteten sich die weißen Europäer noch als die berechtigten Welteroberer, die die „wilden Rassen“ bald zum Aussterben bringen würden. Im 20. Jahrhundert war man in dieser Hinsicht etwas pessimistischer geworden: Die zivilisierte weiße Rasse hatte sich als sehr verletztlich erwiesen und sollte vor den heranrückenden „niederen“ Rassen in Schutz genommen werden. Nun war nicht mehr Expansion das Ziel, sondern Konsolidierung. Die Regionen, in denen die Europäer Fuß gefasst hatten, sollten gegen die „biologisch rührigeren Rassen“ verteidigt werden. So wurde etwa 1924 in den Vereinigten Staaten der Immigration Restriction Act erlassen, der
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Quoten für „ungeeignete“ ethnische Gruppen einführte. Australien betrieb noch bis in die Sechzigerjahre des vorigen Jahrhunderts eine solch restriktive Einwanderungspolitik: Nur weiße Europäer waren down under willkommen. Wie Darwin und Spencer betrachtete der vielseitig begabte Galton den weißen Mann als die Spitze der Evolution; die Europäer hätten zu Recht die Herrschaft über die Welt errungen. Doch auch die weiße Rasse war noch verbesserungsfähig. In seinem wichtigsten, 1869 erschienenen, Werk Hereditary Genius behauptete Galton, die Unterschiede in den Denkfähigkeiten seien angeboren und erblich. Der Verstand ließe sich zwar schulen, doch ein Individuum könne nie über seine angeborenen geistigen Grenzen hinauswachsen. Weismanns Entdeckung, dass das „Keimplasma“, das Erbgut, unverändert an die nächste Generation weitergereicht wird, erklärte nach Galtons Auffassung, warum die Unterschicht in jeder Generation aufs Neue ins Hintertreffen gerate. Zudem bestehe durch ihre höhere Geburtenrate die Gefahr, dass die „Qualität“ der gesamten weißen Rasse auf Dauer beeinträchtigt werde. Die „Tauglichen“ müssten daher mehr Kinder bekommen und die „Untauglichen“ weniger. Die Zukunft der Zivilisation stehe auf dem Spiel. Ironischerweise blieb Daltons eigene Ehe mit seiner kränkelnden Frau Louisa kinderlos. Wiederum finden sich erste „eugenische“ Überlegungen schon bei Darwin selbst. Um 1855 begann er sich ausführlich mit dem Phänomen der künstlichen Selektion zu beschäftigen, namentlich mit der Züchtung von Tauben- und Hunderassen. Beispiele dieser gesteuerten Zuchtwahl dienten ihm später in der Entstehung der Arten als Beweise für seine Evolutionstheorie. So wie der Mensch innerhalb weniger Jahrhunderte neue Pflanzen- und Tierrassen züchte, so bringe der Prozess der natürlichen Auslese im Lauf von vielen Millionen Jahren neue Arten hervor. Seine Kenntnis der Veredelung von Pflanzen und Tieren schärfte auch seinen Blick für die Menschenwelt. In Die Abstammung des Menschen schreibt Darwin, dass unter den „Wilden“ die an Körper und Geist „Schwachen“ rasch elimiert würden, während wir zivilisierten Menschen alles daran setzten, dies zu verhindern. „ Wir erbauen Heime für Idioten, Krüppel und Kranke. Wir erlassen Armengesetze, und unsere Ärzte bieten alle Geschicklichkeit auf, um das Leben der Kranken so lange als möglich zu erhalten. [...]. Infolgedessen können auch die schwachen Individuen der zivilisierten Völker ihre Art fortpflanzen. Niemand, der etwas von der Zucht von Haustieren kennt, wird daran zweifeln, dass dies äußerst nachteilig für die Rasse ist“ (1. Teil, 5. Kapitel). Wie Galton konstatiert auch Darwin, dass die Armen und Schwachen sich in höherem Tempo fortpflanzen als die „überlegenen“ Individuen, mit allen nachteiligen Folgen für die Zivilisation. Doch im Unterschied zu Galton ist Darwin nicht der Ansicht, die „Schwachen“ müssten ihrem Schicksal überlassen werden, geschweige denn man dürfe ihnen das Recht auf Fortpflanzung nehmen. Wie erwähnt, schrieb Darwin dem Menschen eine instinktmäßige Sympathie zu, die ihn vor allzu großer Herzlosigkeit bewahre. Sich diesem Gefühl zu widersetzen,
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sei moralisch verwerflich: „Wenn wir aber absichtlich die Schwachen und Hilflosen vernachlässigen wollten, so wäre das nur zu rechtfertigen, wenn das Gegenteil ein größeres Übel, die Unterlassung aber eine Wohltat herbeiführen würde. Wir müssen uns daher mit den ohne Zweifel nachteiligen Folgen der Erhaltung und Vermehrung der Schwachen abfinden.“ Die Eugenik wurde wie der Sozialdarwinismus zuerst in Großbritannien populär. 1907 gründete Galton das Laboratory for National Eugenics, und schon bald folgte die Herausgabe einer Zeitschrift: Eugenics Review. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Eugenik eine internationale Bewegung; in Europa, Russland und den Vereinigten Staaten entstanden nationale eugenische Gesellschaften. 1912 fand der erste internationale Kongress in London statt. Ziel war es, die „Qualität“ der (weißen) Rasse zu schützen, hauptsächlich indem man versuchte, die untersten sozialen Klassen an der Fortpflanzung zu hindern und geistig Behinderte, Kriminelle und ausgegrenzte Gruppen aufzuspüren, bevor sie sich vermehren konnten. Um die „Spreu vom Weizen zu trennen“, wurden die ersten IQ-Tests entwickelt. Diejenigen, die am schlechtesten abschnitten, die „Degenerierten“, sollten, getrennt nach Geschlecht, in Verwahrung genommen und eventuell sterilisiert werden. Ab den Dreißigerjahren wurden in verschiedenen US-Staaten Gesetze erlassen, die Zwangssterilisation ermöglichten. Es betraf hauptsächlich psychiatrische Patienten. Nach einer vorsichtigen Schätzung wurden mindestens 70 000 Amerikaner Opfer dieser staatlichen Eugenikprogramme. Doch auch in Europa – und nicht nur in Nazi-Deutschland – waren solche Praktiken üblich, namentlich in den skandinavischen Ländern. Erst 1997 wurde öffentlich bekannt, dass in Schweden zwischen 1935 und 1976 über 60 000 Personen zwangsweise sterilisiert – und kastriert – worden waren. Die Eugenik fand jedoch ihre schlimmsten Auswüchse im „Dritten Reich“. Entsprechend der nationalsozialistischen „Rassenhygiene“ mussten „unwerte“ Individuen und Bevölkerungsgruppen nicht nur an der Fortpflanzung gehindert, sondern auch dem „arischen Herrenvolk“ unterworfen oder schlichtweg eliminiert werden. Neben dem Genozid an Juden, Zigeunern und Homosexuellen wurden zahllose Frauen sterilisiert, hauptsächlich körperlich und geistig Behinderte. Auf Befehl Heinrich Himmlers wurden zudem sogenannte Lebensborn-Heime eingerichtet, deren Ziel es war, die Erhöhung der Geburtenrate „arischer“ Kinder auch aus außerehelichen Beziehungen herbeizuführen. Dies sollte durch anonyme Entbindungen und Vermittlung der Kinder zur Adoption erreicht werden, bevorzugt an Familien von SS-Angehörigen. Himmler war übrigens der Ansicht, jeder SS-Mann müsse mindestens vier Söhne zeugen: zwei, die für das Vaterland sterben, und zwei, die den Fortbestand der germanische Rasse gewährleisten.
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„Rassenhygiene“ im Polderland In den Niederlanden kam es zu keinen eugenischen Auswüchsen, wahrscheinlich weil sich die niederländische Eugenikbewegung nie auf die obskure, teils mythische Rassenanthropologie der Nationalsozialisten eingelassen hat. Dennoch wäre es ein Irrtum zu glauben, die eugenische Bewegung habe in den Niederlanden keine Anhänger gehabt. Ganz im Gegenteil: In bestimmten Kreisen erfreute sich die Doktrin großer Beliebtheit. In seiner 1990 erschienenen Untersuchung Om de kwaliteit van het nageslacht (Um der Qualität der Nachkommenschaft willen) gibt der Historiker Jan Noordman einen detaillierten historischen Überblick über die Eugenik in den Niederlanden, der dem Leser die Schamröte ins Gesicht treibt. Zwar wurden in den Niederlanden nie Eugenikgesetze verabschiedet, dafür aber zahlreiche andere Maßnahmen zur Förderung der „Rassenhygiene“ ergriffen. Die Vorschläge dazu stammten vor allem aus akademischen Kreisen. So befürwortete der Biologe C. J. Wijnaendts Francken schon Ende des 19. Jahrhunderts ein Eheverbot für Kriminelle, sozial Schwache, Alkoholiker und Taubstumme. Und der Jurist und Soziologe S. R. Steinmetz meinte, man solle getrost die verarmte Unterschicht ihrem Schicksal überlassen. Sie hätte sich ihre Lage selbst zuzuschreiben. Unter dem Titel „Die Zukunft unserer Rasse“ veröffentlichte Steinmetz 1910 in der Zeitschrift De Gids einen berüchtigten Artikel, in dem er die hohe Kindersterblichkeit in den ärmsten Bevölkerungsgruppen als erfreulich bezeichnete. Die Natur befreie auf diese Weise die Menschheit vom „Unkraut“. Hector Treub, Professor für Gynäkologie, forderte eine medizinische Untersuchung als Vorbedingung für jede Eheschließung. In seinem 1920 veröffentlichten Artikel „Huwelijk en ziekte“ (Ehe und Krankheit) plädierte er für eine strenge Fortpflanzungshygiene, denn warum, so argumentierte er, sollten die Regeln der Tierzüchtung nicht auch für den Menschen gelten, „das einzige Tier, das diese Regeln gut kennt?“. Und der Psychologe Jacob Prak propagierte, Personen mit einem IQ über 110 sollten die Elite der Gesellschaft bilden und das Land regieren. Den intellektuellen „Bodensatz“, etwa zehn Prozent der Bevölkerung, solle man am besten auf eine Wattinsel deportieren. Einer der bekanntesten Vertreter der niederländischen eugenischen Bewegung war der Arzt und Sexualwissenschaftler Jan Rutgers. Er war 1881 Mitbegründer und jahrelanger Leiter des „Nieuw Malthusiaanse Bond“ (NMB), dem Vorläufer der „Nederlandse Vereniging voor Seksuele Hervorming (NVSH)“, der Niederländischen Vereinigung für Sexualerziehung und Familienplanung. Der NMB beriet seine Mitglieder unter anderem in Fragen der Familienplanung und Verhütung. In seinem 1905 erschienenen Buch Rasverbetering en bewuste aantalsbeperking (Rassenverbesserung und gezielte Geburtenbeschränkung) schlug er vor, „erblich Belastete“ sterilisieren zu lassen und diejenigen, die sich weigerten, mit einem „Gebärverbot“ zu bestrafen. Wie Galton träumte Rutgers von einer überlegenen Rasse.
REGELN FÜR DEN MENSCHENPARK
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Als in den Dreißigerjahren Teile der ehemaligen Zuiderzee als Polder trockengelegt wurden, bot sich den niederländischen Behörden die Gelegenheit, einige der Empfehlungen in die Praxis umsetzen und eine Art Modellbevölkerung zu schaffen. Dieser vergessenen Episode der niederländischen Geschichte widmet Noordman ein eigenes Kapitel. Da die Nachfrage das Angebot überstieg, konnte ein Auswahlverfahren angewandt werden. „Fehler“, die man etwa bei der Besiedlung des Haarlemermeerpolders Mitte des 19. Jahrhunderts gemacht hatte, wollte man so vermeiden. Dort hatte es der Staat nämlich nicht regulierend eingegriffen, sodass das Polderland schon bald von „Gesindel“ bevölkert wurde. Diesmal sorgte die Obrigkeit dafür, dass der Zustrom der Siedler nach strengen Kriterien erfolgte. Die neuen Immigranten wurden nicht nur nach ihrer ökonomischen „Verwertbarkeit“ selektiert – Arbeitslose kamen prinzipiell nicht infrage –, sondern auch nach ihrer „soziobiologischen“. So musste sich jeder einer medizinischen Untersuchung unterziehen. Man suchte vor allem gesunde, kräftige Landarbeiter aus „gutem Stall“, die ihre „erblichen Qualitäten“ bereits unter Beweis gestellt hatten. Regeln für den Menschenpark Der Gedanke, die Menschheit könnte durch selektive Fortpflanzung verbessert werden, ist so alt wie die Welt. Schon die Spartaner setzten körperbehinderte, schwächliche und blind geborene Kinder unmittelbar nach der Geburt aus. Auch bei Platon finden sich eugenische Überlegungen. In seinem Dialog Der Staat (459–460) vertritt der griechische Philosoph die Ansicht, die Ehe müsse abgeschafft werden und die besten Männer sollten den besten Weibern möglichst oft beiwohnen. Gebrechliche Kinder seien an einem „geheimen und unbekannten Orte“ zu töten. Ähnliche Ideen tauchten in späteren Jahrhunderten immer wieder auf. Aldous Huxleys 1932 erschienener Roman Brave New World / Schöne neue Welt ist eine brillante und abschreckende Satire auf die Manipulierbarkeit des Menschen. Huxley, wie der Biologe Julian Huxley Enkel von Thomas Huxley („Darwins Bulldogge“), beschreibt eine utopische Welt, in der der Staat Menschen züchtet und in verschiedene Klassen einteilt. Nur die Angehörigen der Elite dürfen ihre Individualtität behalten, sie sind berufen, das totalitäre System zu führen. Die unteren Klassen bestehen aus programmierten Arbeitern ohne Individualität, Eigeninitiative und Emotionen. Nach dem Zweiten Weltkrieg verlor das eugenische Gedankengut angesichts der unsäglichen Verbrechen, die in seinem Namen begangen worden waren, an Überzeugungskraft. Deutlich wurde auch, dass die Doktrin auf naiven und falschen Auffassungen fußte. Wie die Sozialdarwinisten begingen die Eugenetiker den Fehler, den Einfluss der angeborenen Faktoren nicht von dem der Umweltbedingungen zu unterscheiden. Die ersten IQ-Tests berücksichtigten keine Unterschiede in Bildung und sozialem Milieu. Nicht die Intelligenz, sondern die
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sozioökonomische Herkunft wurde sozusagen „gemessen“. So ließ sich schwer feststellen, ob bestimmte Eigenschaften auch tatsächlich vererbbar sind. Weist ein mäßiger IQ auf eine erbliche Anlage hin oder auf ein armes Elternhaus? Ist Veranlagung, Umwelt oder beides im Spiel? Ein weiterer Irrtum war die Annahme, eine körperliche oder geistige Eigenschaft hänge von einem einzigen Gen ab. Dies ist nicht der Fall. Vielen Eigenschaften liegt ein komplexes Zusammenspiel mehrerer Gene zugrunde, die ihrerseits in Wechselwirkung mit der Umwelt stehen. Seit den 1950er-Jahren geriet die Eugenik daher zu Recht in Verruf. Auch in den Sozialwissenschaften vollzog sich in den Sechziger- und Siebzigerjahren ein Wandel. Der biologische Determinismus war fortan tabu, von nun an galt als Glaubensbekenntnis, der Mensch werde primär durch Kultur bestimmt. Erst in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts kam man zu der Einsicht, dass man von einem Extrem ins andere gefallen war. Statt dem biologischen Determinismus hatte man dem Kulturdeterminismus gehuldigt. Die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte. Wie ein Mensch sich entwickelt, hängt nicht nur von sozioökonomischen Faktoren ab, sondern auch von seiner biologischen und genetischen Ausstattung. Die Forschungen in der Molekulargenetik, die in der Entschlüsselung des menschlichen Genoms gipfelten, haben uns mehr Wissen über genetische Ursachen von Krankheiten und anderen Störungen beschert, sondern scheinen neue Möglichkeiten der Manipulation zu eröffnen. Und so ist die Eugenik wieder unter uns, wenn auch unter anderem Namen. Heute reden wir von Pränataldiagnostik oder Genanalyse. Doch die Absicht ist teilweise noch die Gleiche wie zur Zeit von Galton und seinen Mitstreitern, nämlich die Überwachung der „Qualität“ der Nachkommenschaft. Denn mithilfe einer Fruchtwasseruntersuchung oder eines Flockungstests lässt sich verhindern, dass „unerwünschte“ Kinder geboren werden. Der Einwand, der Vergleich mit der Eugenik sei an den Haaren herbeigezogen, da es sich ja um eine freie Entscheidung der Eltern handle, ist nur zum Teil berechtigt. So frei ist die Entscheidung nämlich nicht, denn der Druck der Gesellschaft auf die Eltern, „gesunde“ Kinder in die Welt zu setzen, nimmt ständig zu. Es werden immer mehr Gründe angeführt, eine Schwangerschaft vorzeitig zu beenden, etwa, wenn sich herausstellt, dass das ungeborene Kind eine lebensbedrohende Krankheit hat oder ernsthaft behindert auf die Welt kommen würde. Durch die Fortschritte der Medizin werden die Erwartungen immer höher geschraubt. Auch das oft gehörte Argument, es handle sich hier nicht um eine eugenische Maßnahme, sondern um die Vermeidung unnötigen Leids, ist nicht ganz stichhaltig, denn mit dem Abbruch der Schwangerschaft wird zugleich auch verhindert, dass „minderwertige“ Individuen der Gesellschaft zur Last fallen. Im Mittelalter wimmelte es noch von Buckligen und missgestalteten Menschen. Heute sieht man kaum mehr welche. In einigen Jahrzehnten werden vielleicht auch Menschen mit dem Down-Syndrom aus dem Straßenbild ver-
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schwunden sein. Der australische Bioethiker Peter Singer plädiert seit Jahren dafür, Babys mit dem Down-Syndrom eine tödliche Spritze zu verabreichen. Solche „Nicht-Personen“ könnten, so Singer, doch nie ein „vollwertiges“ Leben führen. Eng mit dem vorherigen Thema hängt auch die Frage zusammen, ob man Schwachsinnigen und geistig Behinderten das Recht auf Fortpflanzung verweigern darf. In den Niederlanden dürfen diese Menschen in der Praxis sexuelle Beziehungen miteinander eingehen, es wird ihnen allerdings mit Nachdruck der Gebrauch von Verhütungsmitteln empfohlen. Im Fall eines Kinderwunsches raten die zuständigen Behörden dringend ab und helfen den Betroffenen, Alternativen zu finden, etwa durch Anschaffung eines Haustiers oder einer Puppe. Wenn der Kinderwunsch jedoch unvermindert stark weiterbesteht, kann letztendlich nicht mehr eingegriffen werden. Bekommen geistig Behinderte dann Kinder, kann es zu schwierigen Situationen kommen, da die Eltern oft nicht in der Lage sind, ihre ebenfalls mit Behinderungen zur Welt gekommenen Kinder zu versorgen. Manchmal zieht sich das über mehrere Generationen hin. Anfang 2004 machte die niederländische Staatssekretärin für Gesundheitsfragen, Clémence Ross, den Vorschlag, geistig Behinderte nachdrücklicher zu entmutigen, Kinder zu bekommen, nötigenfalls in Form einer Zwangssterilisation. Das Problem dabei ist jedoch zu entscheiden, welche Kriterien anzulegen sind. Müssen auch alle Personen, deren IQ unter einem bestimmten Wert liegt, vorsorglich unfruchtbar gemacht werden? Oder müssen dafür neue Kriterien entwickelt werden? Schließlich sind auch viele ganz „normale“ Eltern nicht in der Lage, für ihre Kinder zu sorgen. Und wie verhält es sich mit Psychopathen und notorischen Sexualtätern? Sollen auch sie präventiv sterilisert bzw. kastriert werden? Was wiegt schwerer? Das Recht auf Sexualität und Fortpflanzung oder die Verhinderung von Leid und der Versuch, die Ausbreitung nachteiliger Gene zu verhindern? Zukünftig werden Eltern womöglich die Auswahl aus einer ganzen Reihe von Retortenbabys haben. Sollten sie dann nicht auch das Geschlecht ihres Babys bestimmen dürfen? In Ländern wie Indien und China überwiegt beispielsweise der Wunsch nach männlichen Nachkommen. Darf ein Fötus abgetrieben werden, weil er weiblich ist? Wobei die moralische Beurteilung der Abtreibung an sich noch gar nicht berührt wurde. Möglicherweise wird jeder von uns in absehbarer Zeit einen Gen-Ausweis besitzen, aus dem Gesundheitsämter und Versicherungsgesellschaften genau ersehen können, wie groß unser Risiko ist, an einer bestimmten Krankheit zu erkranken. Die Erfolge der Molekularbiologie – genetische Manipulation und Modifikation, Biotechnologie und Klonen – ermöglichen uns, unsere Evolution selbst in die Hand zu nehmen. Im Sommer 1999 hielt Peter Sloterdijk auf Schloss Elmau in Oberbayern einen Vortrag mit dem Titel „Regeln für den Menschenpark“. Die gelehrten Ausführungen waren eigentlich für Fachkollegen bestimmt, doch einige Sätze gelang-
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ten schon bald an die Öffentlichkeit und lösten einen Sturm der Entrüstung aus. In dem als „faschistoid“ gebrandmarkten Text hatte Sloterdijk argumentiert, der Humanismus, der seit der Aufklärung das Denken des Westens beherrsche, befinde sich in einer Sackgasse, er sei als Schule der „Menschenzähmung“ gescheitert. Doch die moderne Wissenschaft biete eine hoffnungsvolle Alternative: die „Domestizierung“ des Menschen mithilfe der Biotechnologie. Vielleicht sei der neue Mensch zu „züchten“. Nietzsche, für manche ein ordinärer Sozialdarwinist mit literarischem Talent, hätte seine helle Freude gehabt. Der Übermensch als Ergebnis pränataler Selektion, Anthropogenetik und Biopolitik! Die öffentliche Entrüstung in Deutschland war allerdings überzogen, denn Sloterdijks Vortrag war längst nicht so explosiv, wie manche Kommentatoren uns glauben machen wollten. Seine Ausführungen strotzten von vagen Andeutungen und abstrakten Reflexionen, und an keiner Stelle machte er konkrete Vorschläge hinsichtlich der Bioethik oder der Gentechnologie. Sloterdijk sieht in den raschen Entwicklungen in der Biotechnologie im Allgemeinen einen umwälzenden Prozess, der langfristig große und unvorhersehbare Folgen haben kann. Der Mensch ist eine sich selbst domestizierende Spezies, die in einem von ihm selbst entworfenen Menschenpark lebt. Es ist vielleicht vernünftig, über dessen künftige Regeln nachzudenken, bevor es zu spät ist und wir uns, ohne es merken, in Platons Staat oder Huxleys schöner neuer Welt wiederfinden.
16 Evolution und Fortschritt
Evolutionary Hymn Lead us evolution, lead us Up the future’s endless stair; Chop us, change us, prod us, weed us, For stagnation is despair: Groping, guessing, yet progressing, Lead us nobody knows where. C. S. Lewis
Progressive Evolution? „Verwende nie die Wörter höher und niederer.“ Um das Jahr 1846 kritzelte Darwin diesen Satz auf den Rand einer Seite seines Exemplars von Vestiges of the Natural History of Creation, ein an Lamarck angelehntes Buch über die Evolution. Darwin war nicht der Einzige, der sich in Vestiges vertiefte („Vestiges“ bedeutet Überreste und bezieht sich auf die fossilen Zeugnisse ausgestorbener Tiere und Pflanzen). Das im Oktober 1844 erschienene Werk entwickelte sich zu einem wahren Bestseller und wurde von der viktorianischen Leserschaft verschlungen. Eine Neuauflage folgte der anderen. Neben dem populären Inhalt spielte dabei sicher auch die Tatsache eine Rolle, dass das Buch anonym erschienen war und das Rätselraten um den Verfasser für reichlich Gesprächsstoff sorgte. Für die einen deuteten Stil und Inhalt auf den Intellekt einer Frau, andere hatten Charles Darwin in Verdacht, der bereits eine Reihe naturgeschichtlicher Bücher veröffentlicht hatte. Allerdings hatte er bisher von seiner revolutionären Theorie nichts verlauten lassen, es sollte noch bis zum Jahr 1858 dauern, bis er, gezwungen durch Wallaces Manuskript, mit seinen Gedanken an die Öffentlichkeit trat. Dennoch war die Aufregung über die Vestiges Darwins Gemütsruhe nicht gerade zuträglich. Denn schon seit Längerem plagte ihn die Frage, wie er seine Entdeckung des Prinzips der natürlichen Auslese einer konservativen, gottesfürchtigen viktorianischen Gesellschaft präsentieren sollte. In dieser Hinsicht waren ihm die Vestiges eine Lehre, denn die Begeisterung des großen Publikums wurde von der Zunft der Naturforscher nicht geteilt. So schrieb der Geologe Adam
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Sedgwick, Darwins Freund und Lehrmeister, eine vernichtende Kritik, in der er dem anonymen Autor himmelschreiende Unkenntnis vorwarf. Die heftigen Diskussionen zeigten einmal mehr, dass die „Transmutation“, wie Darwin seine Theorie des Artenwandels nannte, ein heikles Thema war, und dass jeder, der sich dazu äußern wollte, gut gewappnet sein musste. Darwin war also gewarnt, und dies erklärt vielleicht die oben erwähnte Randnotiz. Die Naivität der Vestiges galt es unter allen Umständen zu vermeiden. Erst Jahrzehnte später wurde das Geheimnis der Autorschaft gelüftet. Die Vestiges stammten aus der Feder des schottischen Verlegers und Amateur-Evolutionisten Robert Chambers. Seine Vorstellungen von der Evolution hatten nichts mit dem Selektionsprinzip zu tun, das den Kern von Darwins Theorie bildete. Chambers entwirft ein umfassendes, positives Bild der Entwicklungsgeschichte des gesamten Naturreichs, an dem das allgemeine Publikum wenig Anstoß nehmen konnte. Evolution ist für Chambers gleichbedeutend mit Fortschritt und Wachstum, sie schreitet kontinuierlich zum Besseren fort. In Vestiges beschreibt der Autor die Entwicklung des Kosmos, von der Entstehung der Planeten und des Sonnensystems, dem spontanen Auftreten des Lebens auf der Erde bis hin zur Geburt des modernen Menschen. Die Grundthemen sind immer wieder: Entwicklung und Fortschritt. Frühere und niedere Stadien in der kosmischen Entwicklung bezweckten gewissermaßen die späteren und höheren. Wie Lamarck stellte sich Chambers eine kontinuierliche Entwicklungslinie vor, wobei jede Phase eine Verbesserung gegenüber der vorigen darstellt. Die Unterschiede zwischen Chambers und Darwin sind groß. Darwin hatte gewiss nicht den Ehrgeiz, die Entwicklung des gesamten Kosmos zu beschreiben; seine Theorie, die er vorerst noch streng geheim hielt, beschränkte sich auf die Entwicklung des organischen Lebens auf der Erde. Und im Gegensatz zu Chambers verfügte er über eine durch empirische Studien untermauerte Hypothese, die diese Entwicklung erklären konnte: den Mechanismus der natürlichen Selektion. Darüber hinaus war ein zentraler Aspekt seiner Theorie die gemeinsame Abstammung aller Lebewesen, während sich nach Chambers’ Dafürhalten die verschiedenen Lebensformen in parallelen Reihen von völlig unabhängigen Abstammungslinien entwickelten, die ihrerseits durch Spontanzeugung entstanden waren. Und wo Chambers schließlich den linearen Charakter der „Transformation“ betonte, finden wir bei Darwin den Gedanken der Diversifikation, der fortwährenden Verzweigung von Abstammungslinien. Aber trotz aller Unterschiede gab es auch Übereinstimmungen, und diese waren wohl der Grund für Darwins Besorgtheit, vor allem, nachdem die Vestiges von den tonangebenden Naturforschern vernichtend kritisiert worden waren. Denn wie Darwin stützte sich auch Chambers auf die Embryologie, um seine Theorie zu unterbauen. Das Gesetz, dem die Entwicklung des Embryos gehorche, sei das Gleiche, dem auch die Entwicklung der Art unterworfen sei. Die embryonale Entwicklung eines Lebewesens „rekapituliert“ gleichsam die verschie-
PROGRESSIVE EVOLUTION?
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denen Stadien seiner Stammesgeschichte. Auch Darwin war dieser Ansicht: die embryonale Rekapitulation zeige, dass Entwicklung Fortschritt beinhalte. Doch von der Gewissheit, die Chambers an den Tag legte, war er weit entfernt. Zu der Vorstellung, Evolution sei gleichbedeutend mit Fortschritt, hatte er zeitlebens eine zwiespältige Einstellung. So findet sich in in einem seiner privaten Notizbücher die Äußerung, es sei „absurd“, ein Tier über das andere zu stellen. Es sei nur unsere Sichtweise, die eine solche Rangordnung herstelle. Doch andere Stellen in den Notizbüchern scheinen dieser Überzeugung regelrecht zu widersprechen. Würden die Menschen aussterben, heißt es etwa, würde sich irgendwann der Mensch wieder aus dem Affen entwickeln. Die Entstehung des Menschen war in seinen Augen also unvermeidlich. Darwin ließ zudem, wie wir bereits in vorigen Kapiteln sahen, keinen Zweifel daran, dass er den Menschen – den weißen, männlichen Europäer – als den Gipfel der Evolution betrachtete. Trotz seiner theoretischen Bedenken liebäugelte er also weiterhin mit der Idee des evolutionären Fortschritts, wie verschiedene Stellen in der Entstehung der Arten belegen. So endet der vorletzte Absatz des Buches mit den Sätzen: Und da die natürliche Zuchtwahl nur durch und für das Gute eines jeden Wesens wirkt, so wird jede fernere körperliche und geistige Ausstattung desselben seine Vervollkommnung zu fördern streben.
Darwin erklärte diese Tendenz zur Vervollkommnung mit dem Konkurrenzkampf. Durch den Wettbewerb der Lebewesen untereinander (biotische Faktoren) und durch die Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt (abiotische Faktoren) wird jede Verbesserung des Körperbauplans durch die natürliche Selektion belohnt, etwa die Eigenschaft, schneller rennen zu können als andere, ausdauernder oder widerstandsfähiger gegen Krankheiten zu sein. Durch diesen unaufhörlichen „Kampf ums Dasein“ verlaufe die Evolution letztendlich progressiv. Gegen Ende des elften Kapitels der Entstehung der Arten, das sich mit der geologischen Aufeinanderfolge organischer Wesen befasst, schreibt Darwin: Die Bewohner der Erde aus einer jeden der aufeinanderfolgenden Perioden ihrer Geschichte haben ihre Vorgänger im Kampfe ums Dasein besiegt und stehen insofern auf einer höheren Vollkommenheitsstufe als diese, und ihr Körperbau ist im Allgemeinen mehr spezialisiert worden; dies kann die allgemeine Annahme so vieler Paläontologen erklären, dass die Organisation im Ganzen fortgeschritten sei.
Die Frage, ob Evolution auch Fortschritt bedeutet, ist unter Evolutionsbiologen bis heute umstritten. Darwins zwiespältige Haltung spiegelt sich auch in den heutigen Diskussionen wider. Manche Biologen sind der Meinung, Darwin sei in dieser Hinsicht noch zu sehr im Denken seiner Zeit befangen gewesen, um den letzten Schritt tun zu können. Wenn er anfänglich eine wertende Rangordnung zwischen den Lebewesen ablehnt, um dann doch wieder einen Rückzieher zu machen, so deshalb, weil der Fortschrittsglaube im 19. Jahrhundert so allgegen-
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wärtig war, dass niemand es wagte, ihn in Frage zu stellen. Heute wissen wir, so meint diese Fraktion der Biologen, dass Evolution nichts mit Fortschritt zu tun habe, dass sich dies in keiner Weise belegen lasse und daher als unwissenschaftlich abzulehnen sei. Doch gibt es auch Evolutionsbiologen – und es sind nicht die Geringsten –, die zurückhaltender urteilen und am Begriff des Fortschritts festhalten. Zwar nicht im alten anthropozentrischen Sinne – der Mensch als eigentliches Ziel der Evolution –, sondern in dem Sinne, dass die Entwicklungsgeschichte des Lebens auf der Erde insgesamt progressiv verlaufe. Dass „Fortschritt“ in irgendeiner Weise stattgefunden habe, sei nicht zu leugnen. Die große Kette der Wesen Die Beharrlichkeit, mit der man lange Zeit Evolution mit Fortschritt gleichsetzte, hat ihre Ursache in einer sehr viel älteren Vorstellung, nach der die Welt hierarchisch geordnet ist. In dem oben angeführten Zitat aus der Entstehung der Arten verwendet Darwin die Metapher der Stufenleiter des Lebendigen oder der Scala naturae, die mindestens zweieinhalbtausend Jahre alt ist und sich schon bei Aristoteles findet: Die Natur ist nach einem göttlichen oder kosmischen Plan in Stufen gegliedert, nach dem Grad der Komplexität aufsteigend von den niederen zu den höheren Lebewesen, von den Einzellern zum Menschen. In De generatione animalium siedelt Aristoteles die Insekten und Fische auf der untersten Stufe an, es folgen die Vögel, Reptilien und Amphibien, schließlich die lebendgebärenden Land- und Meeressäugetiere und zum Schluss der Mensch. Im Mittelalter wurde die Scala naturae weiter ausgearbeitet; nicht nur die lebende Natur, sondern die ganze Schöpfung wurde in einer aufsteigenden Leiter angeordnet. Ganz unten standen die unbelebten, seelenlosen Gegenstände und Erscheinungen wie Gesteine und Feuer. Sie besitzen nur die Eigenschaft, dass sie existieren. Eine Stufe höher finden wir die Pflanzen, die nicht nur existieren, sondern auch leben. Es folgen die Tiere, die nicht nur existieren und leben, sondern auch einen Willen haben und sich fortbewegen können. Unterhalb der Sphäre des Mondes ist der Mensch das höchste Wesen, denn er besitzt neben den genannten Qualitäten auch noch Verstand. In der himmlische Sphäre (Caelum) finden wir die verschiedenen Ordnungen der Engel und ganz oben Gott (Deus), der jedem Wesen seinen ewigen und unveränderlichen Platz zugewiesen hat (Abb. 16.1). Die Idee der Stufenleiter oder der „großen Kette der Wesen“, wie sie der amerikanische Philosoph Arthur O. Lovejoy in seiner gleichnamigen, 1936 erschienenen historischen Studie nannte, ist ein wiederkehrendes Thema in der Geschichte des abendländischen Denkens, nicht nur in Philosophie und Theologie, sondern auch in anderen Wissenschaften. Auch Darwin bedient sich dieses Bildes. Es ist daher ein Irrtum zu glauben, die Darwin’sche Evolutionstheorie habe mit der Idee der Scala naturae ein für allemal aufgeräumt. Darwins Verdienst war es zu
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Abb. 16.1: Eine mittelalterliche Darstellung der Scala naturae
zeigen, dass sich die Entwicklung des Lebens auch ohne die Existenz eines Schöpfers erklären ließ. Doch die Vorstellung einer hierarchisch gegliederten Natur blieb davon größtenteils unberührt. Das heißt, Darwin stellte die Leiter in einen evolutionären Rahmen: Die Natur ist nicht auf übernatürliche Weise in sechs Tagen erschaffen worden, sie hat sich nach natürlichen Gesetzen allmählich entwickelt. Darwin erschütterte den Glauben an die göttliche Vorsehung, doch nicht den an den evolutionären Fortschritt und die Sonderstellung des Menschen. Wenn der Mensch auch keine Schöpfung Gottes mehr war, so blieb er doch der Höhe- und Endpunkt der Evolution.
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Der deutsche Biologe Ernst Haeckel, ein Bewunderer Darwins und einer der wichtigsten Verfechter der embryonalen Rekapitulationstheorie, veröffentlichte 1874 in seinem Buch Anthropogenie einen Stammbaum des Tierreichs. Seine Klassifikation erinnert an die des Aristoteles. Ganz unten finden wir die Bakterien (Moneren) und primitiven Würmer, in der Mitte die Insekten, dann die Fische, Amphibien, Reptilien und Vögel. Die Baumkrone ist den Säugetieren vorbehalten, an deren Spitze – wie könnte es anders sein – der Mensch steht. Von einem zügigen, linearen Fortschrittsprozess wie bei Lamarck und Chambers kann zwar keine Rede mehr sein, doch trotz aller launischen Verästelungen wird der Mensch wieder als das höchst organisierte Lebewesen betrachtet (Abb. 16.2). Auch manche modernen Lehrbücher über Biologie und Evolution haben sich von dieser Vorstellung noch nicht verabschiedet. Statt einer Leiter oder eines Baums symbolisiert nun eine Uhr die Entwicklung der Lebens. Würde man die gesamte Erdgeschichte in einen 24-Stunden-Tag pressen, würden gegen sechs Uhr morgens die ersten Prokaryoten (Organismen ohne Zellkern) in den Ozeanen auftauchen, um zwölf Uhr mittags die ersten Bakterien und Algen, die Photosynthese betreiben, und vier Stunden später die ersten Eukaryoten (Organismen mit Zellkern und Organellen). Gegen acht Uhr abends entstehen die ersten mehrzelligen Organismen in den Weltmeeren; dann besiedeln die Pflanzen das Land. Nur wenige Sekunden vor Mitternacht erscheint der moderne Mensch auf der Bildfläche, recht spät und in evolutionärer Hinsicht unbedeutend, doch so prominent, als hätte die ganze Evolution nur seinetwegen stattgefunden (Abb. 16.3). Der Mensch hat seine Sonderstellung insofern verloren, als er nicht mehr die nach Gottes Ebenbild geschaffene Kreatur ist. Darwin hat die absichtsvolle göttliche Vorsehung radikal infrage gestellt, doch der Glaube an einen evolutionären Fortschritt und an eine zielgerichtete Weltordung scheint unausrottbar. Das Denken in hierarchischen Strukturen ist offenbar tief in uns verankert. Kein Wunder also, dass wir uns nur schwer von anthropozentrischen Ansichten und anderen Formen eines biologischen Chauvinismus lösen können. Wenn die Evolution schon ohne die Lenkung Gottes auskommen muss, so soll ihr Endzweck doch zumindest der Mensch sein. Fortschrittskriterien Doch die Vorstellung, der Mensch sei der Endpunkt der Evolution und das Maß aller Dinge, lässt sich mit den Erkenntnissen der modernen Evolutionsbiologie nicht vereinen. Darwins Theorie hat den Menschen ja gerade aus dem Mittelpunkt des Lebens herausgeholt. Auf der geologischen Zeitskala ist Homo sapiens nur eine ephemere Erscheinung, ein junger, winziger Zweig an einem uralten und weitverzweigten evolutionären Baum. Daher zeugt es von wenig Realitätssinn, wenn wir diesen Zweig zur Krone der Evolution erklären. Es sagt mehr über unsere Vorurteile als über den tatsächlichen Status des Menschen aus.
FORTSCHRITTSKRITERIEN
Abb. 16.2: Der Stammbaum des Menschen, nach Ernst Haeckel (1874)
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Tiere besiedeln das Land Die ersten Menschen
Pflanzen besiedeln das Land Die ältesten mehrzelligen Organismen
4 Milliarden Jahre Die ältesten bekannten Gesteine Mitternacht Die frühsten isotopischen Spuren des Lebens
1 Milliarde Jahre Abend
Die ersten eukaryotischen Fossilien
Morgen
Die ersten prokaryotischen Fossilien
3 Milliarden Jahre Mittag
2 Milliarden Jahre
Die ersten Hinweise auf Photosynthese
Abb. 16.3: Die Uhr der Erdgeschichte, aus dem Handbuch Understanding biology (1991)
Gegen die Auffassung, der Mensch sei das eigentliche Ziel der Evolution und natürliche Selektion sei immer gleichbedeutend mit Fortschritt, sprechen verschiedene Gründe. Zuallererst ist natürliche Selektion keine Zauberformel, sondern ein blinder, zielloser und opportunistischer Prozess. Natürliche Selektion bedeutet nur, dass die Unterschiede im Fortpflanzungserfolg nicht zufällig sind. Alles dreht sich darum, wer die meisten Gene an die nächste Generation weitergibt. Zum anderen ist die natürliche Selektion selten oder nie in der Lage, einen vollkommenen Entwurf herzustellen, da sie nur mit bereits vorhandenen Körperbauplänen und Anpassungen arbeiten kann. Große Entwicklungssprünge sind dadurch so gut wie ausgeschlossen, denn Makromutationen sind in der Regel nicht lebensfähig. Perfektion wird auch deshalb selten erreicht, weil immer Kosten und Nutzen gegeneinander abgewogen werden. Solange etwas zufriedenstellend funktioniert, ist jede weitere Verbesserung unnötige Energieverschwendung. Vergegenwärtigt man sich die vielen Zufallsfaktoren, so ist es schwer vorstellbar, dass die Evolution zielgerichtet abläuft, dass es etwa eine lineare Entwick-
FORTSCHRITTSKRITERIEN
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lung von Einzellern zum Menschen geben sollte. Zu den Unwägbarkeiten gehören Massenaussterben, Vulkanausbrüche großen Ausmaßes oder Epidemien. Hätte nicht vor fünfundsechzig Millionen Jahren ein Asteroid die Erde getroffen, wären die Dinosaurier vielleicht heute noch die Herren des Tierreichs und die Herrschaft der Säugetiere hätte wohl nie begonnen. Doch selbst die Schützenhilfe aus dem All hat das Erscheinen des Menschen nicht unvermeidlich gemacht. Wie aus genetischen Untersuchungen hervorgeht, entging der Mensch seinem Untergang nur um ein Haar. Vor etwa hunderttausend Jahren kroch die menschliche Population durch ein evolutionäres Nadelöhr (bottleneck) und stand knapp vor dem Aussterben. Durch eine plötzliche Dezimierung schrumpfte sie auf einige Tausend zusammen. Es hätte nicht viel gefehlt, und es gäbe uns gar nicht. Die Entwicklung des Lebens hätte einen ganz anderen Verlauf nehmen können. Doch bedeutet dies, dass der Fortschrittsgedanke an sich für überholt gelten muss. Wollen wir in irgendeiner Weise an ihm festhalten, müssen wir uns auf jeden Fall vor biologischem Chauvinismus hüten. Sollte es Fortschritt auch ohne Vorherbestimmung und Notwendigkeit geben? Um den Begriff „Fortschritt“ weiter verwenden zu können, sollten wir eine Definition versuchen. Eine formale Definition könnte lauten: Fortschritt beinhaltet eine gezielte Veränderung, wobei spätere Entwicklungsstufen nach bestimmten Maßstäben „besser“ sind als die vorhergehenden.
Davon ausgehend, brauchen wir Kriterien, die ein progressiver Wandel erfüllen muss und an denen wir ihn erkennen können. Die Schwierigkeit liegt natürlich in dem Wörtchen „besser“. Wenn wir etwas als „besser“ – oder als „schlechter“ – bezeichnen, sprechen wir ein Werturteil aus, was man in der Wissenschaft vermeiden sollte. Man könnte jedoch argumentieren, Werturteile seien unter der Voraussetzung erlaubt, dass sie zu Erkenntnissen führen und empirisch untermauert werden können. Manche Evolutionsbiologen haben beispielsweise darauf hingewiesen, dass Organismen im Lauf der Evolution immer komplexer geworden sind. Eine solche Zunahme der morphologischen Komplexität könnte man als Anzeichen eines Fortschritts werten. Auf den ersten Blick spricht in der Tat einiges für diese These. Das erste Leben entstand in einer Ursuppe aus organischen Makromolekülen, die sich selbst kopierten. Aus primitiven Bakterien und Mikroben entwickelten sich mehrzellige, makroskopische Tiere, aus ihnen Fische, Amphibien, Reptilien und Vögel und aus den Landwirbeltieren schließlich die Säugetiere, Primaten und Hominiden. In fast allen Abstammungslinien ist nicht nur eine Zunahme der Körpergröße zu beobachten – die sogenannte Cope-Regel, benannt nach dem amerikanischen Paläontologen Edward D. Cope –, sondern auch eine allgemeine Entwicklung hin zu wachsender Komplexität. Doch trifft dies längst nicht immer zu. Evolution ist nicht zwangsläufig gleichbedeutend mit Höherentwicklung. Ein gutes Gegenbeispiel sind die Parasiten, in
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deren Entwicklungsgeschichte oft eine Vereinfachung zu beobachten ist. Sie haben sich in der Blutbahn oder im Magen-Darm-Kanal ihrer Wirte verschanzt und benötigen weder Gliedmaße noch Sinnesorgane, noch komplizierte Verdauungsorgane, da verdaute Nahrung bereits in Hülle und Fülle vorhanden ist. Bei einem Parasiten wie dem Bandwurm (Cestoda) haben sich diese Organe im Lauf der Evolution zurückgebildet, sie sind immer einfacher geworden. Das Gleiche gilt für den Körperbauplan der Säugetiere, die vom Land ins Meer zurückkehrten, wie Wale und Delphine. Auch ihr Skelett hat sich beträchtlich vereinfacht. Meeressäuger können auf Beine mit hochkomplexen Gelenken verzichten. Natürliche Selektion „belohnt“ also nicht nur Komplexität. Ein weiteres Missverständnis ist, ausgestorbene Tiere müssten per definitionem weniger komplex gewesen sein als die heutigen Tiere, sonst wären sie nicht zugrunde gegangen. Auch diese Argumentation ist falsch. Die Dinosaurier etwa waren nicht schlechter an ihre natürliche Umgebung angepasst als die Säugetiere, die heute die Erde bevölkern. Ihr Körperbauplan war keineswegs überholt oder rückständig. Das Aussterben einer Art deutet nicht automatisch auf Mangelhaftigkeit hin. Die Dinosaurier hatten einfach das Pech, dass ihnen ein riesiger Brocken kosmischen Schutts auf den Kopf fiel. Man könnte daher sagen, dass in der Entwicklung des Lebens einige wichtige Ereignisse stattgefunden haben, wie der Übergang von Prokaryoten zu Eukaryoten oder die Kambrische Explosion – das „plötzliche“ Auftauchen zahlreicher Tierstämme in den Weltmeeren vor etwa 530 Millionen Jahren –, doch danach sind Organismen durchschnittlich nicht signifikant komplexer geworden. Auch die These, dass die Menge an genetischer Information im Genom im Lauf der Evolution immer größer wurde, gilt inzwischen als widerlegt. Die Anzahl der kodierenden DNA im Genom eines Organismus gibt keine Auskunft über seinen Organisationsgrad. Der Mensch besitzt „nur“ etwa 30 000 Gene, ebensoviele wie die Maus und nicht viel mehr als das Huhn mit seinen 22 000 Genen. Der Fadenwurm (C. elegans) kommt auf 20 000 (Gene), obwohl dieses „primitive“ Tier nur über 300 Gehirnzellen verfügt (der Mensch besitzt ein Milliarde mehr). Im Allgemeinen haben Säugetiere nur doppelt so viel Gene wie Spulwürmer und Taufliegen. Auf der anderen Seite bringt es die Ackerschmalwand (Arabidopsis thaliana), eine unscheinbare Pflanze, auf nicht weniger als 26 000 Erbanlagen. Die Gesamtheit der Information im Genom korreliert nicht automatisch mit der phänotypischen Komplexität. Mit einer relativ kleinen Anzahl von Genen lässt sich ein hochkompliziertes Lebewesen bauen. Es weist nichts darauf hin, dass die genetische Information im Lauf der Evolution ständig zugenommen hat. Genetische Variabilität wird vor allem durch Rekombination und Mutation verursacht.
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Evolution und Eskalation Die Vorstellung einer stetigen Höherentwicklung der Organismen in morphologischer, anatomischer oder genetischer Hinsicht ist noch immer Ausdruck eines anthropozentrischen Vorurteils, wie auch andere angebliche Belege für den evolutionären Fortschritt. Etwa, dass sich das Gehirnvolumen der Tiere immer mehr vergrößert habe, dass die Tiere immer intelligenter geworden seien und sich ein immer komplexeres Sozialverhalten entwickelt habe. Legt man derartige Kriterien an, erweist sich der Mensch immer als das höchstentwickelte Lebewesen, und einen solchen biologischen Chauvinismus möchten wir gerade vermeiden. Wenn wir einen wissenschaftlich vertretbaren Begriff von „Fortschritt“ formulieren wollen, müssen wir die Natur und die Geschichte des Lebens mit einem objektiveren Blick zu betrachten versuchen. Dass dies nicht einfach ist, beweist die große Uneinigkeit unter den Koryphäen der modernen Evolutionsbiologie in dieser Frage. Richard Dawkins beispielsweise ist fest davon überzeugt, dass Fortschritt eine Konstante der Evolution ist. Er schließt sich Darwin an, ohne allerdings an die Unvermeidlichkeit des Menschen oder die Notwendigkeit einer immer größeren Komplexität zu glauben. Für Darwin verläuft die Evolution aufgrund des Wettbewerbs insgesamt fortschrittlich. Im Kampf ums Dasein wird jede adaptive Verbesserung belohnt. Dawkins hat diesen Gedanken weiter ausgearbeitet mit seinem Begriff des „Wettrüstens“ konkurrierender Organismen. Seiner Ansicht nach ist dieser Wettkampf die wichtigste Ursache dafür, dass Organismen sich immer besser an ihre Umgebung anpassen und ihr Bauplan ständig verfeinert wird. Ein Beispiel dafür ist der Wettlauf zwischen Gepard und Gazelle, in buchstäblicher wie evolutionärer Hinsicht. Beide Kontrahenten haben ihre „Waffen“ immer wieder an den Überlebenskampf angepasst. Nur die schnellsten Geparde erlegen genügend Gazellen, nur die schnellsten Gazellen haben eine Chance, dem Jäger zu entkommen. Der Körperbau des Gepards ähnelt heute mehr dem eines Windhunds als dem einer Großkatze. Wie der Windhund hat der Gepard einen sehr schlanken Körper mit überlangen Extremitäten und mit Krallen, die wie Spikes funktionieren. Doch auch die Gazelle hat nicht nur größere Schnelligkeit und Wendigkeit entwickelt, sondern auch größere Ausdauer und einen feineren Geruchssinn. Das „Wettrüsten“ zwischen Raubtier und Beute sorgt also für eine Verfeinerung des Körperbauplans beider Tiere. Da sich die Kontrahenten in einem solchen evolutionären Wettlauf in nichts nachstehen und das Resultat unterm Strich das Gleiche bleibt, kann man in Anlehnung an den amerikanischen Biologen Leigh van Valen von einem „Rote-Königin-Effekt“ sprechen. In Lewis Carrolls Alice hinter den Spiegeln rennen Alice und die rote Königin sich die Beine aus dem Leib, ohne auch nur einen Schritt voranzukommen. Auf Alices verwunderte Frage, antwortet die Königin: „Hierzulande musst du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben
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willst. Und um woandershin zu kommen, muss man noch mindestens doppelt so schnell laufen!“ Der „Rote-Königin-Effekt“ tritt nicht nur in der Evolutionsbiologie auf, sondern auch in zahlreichen anderen Bereichen, etwa im Sport. Im amerikanischen Baseball werfen die Pitcher in den vergangenen hundert Jahren den Ball immer härter, doch führte dies nicht zu einem Ungleichgewicht, denn die Hitter sind auch immer geschickter geworden. Ein anderes Beispiel für einen evolutionären Wettlauf ist der zwischen Bäumen im Regenwald, die sich in ihrer Konkurrenz um Sonnenlicht gegenseitig zu immer höherem Wachstum antreiben. Auch dieser Wettbewerb löste einen Selektionsdruck aus, wobei jede zufällige Verbesserung im Bauplan belohnt wurde. Nach Auffassung von Dawkins führt die biotische Konkurrenz eher zu progressiven Anpassungen als die abiotische. Denn die biotische Umwelt besteht aus Rivalen, die selbst auch evolvieren. Die abiotische Umwelt (zum Beispiel Bodenbeschaffenheit, Klima) kann sich zwar ebenfalls ändern, doch nicht nach evolutionären Gesetzmäßigkeiten, da sie keiner kumulativen Selektion unterworfen ist. Auch die Evolution von Parasiten wie die des Bandwurms stellt nach Dawkins Definition eine Form der Fortschritts dar, trotz der Verringerung der morphologischen Komplexität. Wie der Gepard und die Gazelle hat sich der Parasit immer besser an seine Umwelt (seinen Wirt) angepasst. Eine progressive Zunahme der Komplexität oder der Gehirngröße ist daher nur bei den Abstammungslinien zu erwarten, denen diese Eigenschaft einen Vorteil bringt. Anders ausgedrückt: In allen evolutionären Abstammungslinien wird ein Fortschritt zu „Etwas“ stattfinden, doch dieses „Etwas“ ist nicht notwendigerweise in allen Linien das Gleiche. Das evolutionäre Wettrüsten hat also Verbesserungen im Körperbauplan der Organismen zur Folge. Sie sind allerdings nicht absolut, sondern relativ, das heißt, sie stehen in Beziehung zur einer bestimmten Umwelt oder einem bestimmten Rivalen. Das Wettrüsten kann zudem eskalieren und sich als nachteilig für beide Kontrahenten herausstellen. Beim Geparden zum Beispiel hat sich die Schnelligkeit auf Kosten seiner Kraft und seines Stehvermögens entwickelt. Andere Raubtiere wie Löwen und Hyänen und sogar Paviane jagen ihm leicht die Beute ab. Die Überspezialisierung könnte sich daher als Sackgasse erweisen. Das Gleiche gilt für die Bäume im Regenwald. Ein rasch in die Höhe wachsender Stamm hat außer Vorteilen auch Nachteile. Schnelles Wachstum erfordert viel Energie, die auch für andere Zwecke verwendet werden könnte. Und je höher der Stamm, desto fragiler ist er. Auch in diesem Fall ist die Weiterentwicklung des Bauplans nur relativ und nicht absolut. Mit anderen Worten, es sind Verbesserungen in bestimmten Trends und in bestimmten Bereichen festzustellen, doch von einer progessiven Entwicklung im absoluten Sinn, als sei der Entwurf nicht noch verbesserungsfähig, kann keine Rede sein. Dennoch hält Dawkins Fortschritt für ein Wesensmerkmal der Evolution. Das könne man seiner Meinung nach sogar aus einer Überlegung a priori folgern. So
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hat die Evolution etwa das Auge mehrfach, in verschiedenen Tiergruppen, unabhängig voneinander hervorgebracht. Diese Entwicklung kann man als progressiv bezeichnen, da sie von sehr einfachen Lichtrezeptoren ausging, die allmählich zu funktionsfähigen Sehorganen evolvierten. Adaptationen fallen nicht vom Himmel. Die einzige Erklärung für Anpassungen wie das Auge ist die kumulative Selektion. Über zahlreiche aufeinanderfolgende geringfügige Variationen hat sich der Entwurf immer weiter verfeinert. Adaptive Evolution ist daher per definitionem zielgerichtet und progressiv. Der Modus des Lebens Stephen Jay Gould würde auf der Stelle dagegenhalten, dass Evolution nicht per definitionem adaptiv sei. Natürliche Selektion ist nämlich nur eine der vielen die Evolution antreibenden Kräfte. Manche, wie die Gendrift, führen nie zu progressiver Veränderung, weil sie ungerichtet und zufällig sind. Organismen sind daher auch nicht vollkommen, und nicht alle Eigenschaften der Organismen sind Adaptationen. Manche sind bloß neutrale Nebenprodukte oder Nebeneffekte der Evolution. Dawkins Credo, fast alles in der Natur sei durch natürliche Selektion geformt, würde Gould als Fiktion bezeichnen. Wir können zwar sagen, dass eine Adaptation, das heißt eine funktionale Eigenschaft, das Resultat der natürlichen Selektion sein muss, doch nicht, dass alle Merkmale der Organismen adaptiv sind, geschweige denn, dass, wie Dawkins meint, die Evolution insgesamt progressiv verläuft. Gould hat sich zeitlebens heftig gegen den biologischen Fortschrittsgedanken ausgesprochen, der seine Zählebigkeit der Verankerung in der populären Mythologie verdanke. Und die Medien tragen ihren Teil dazu bei. Man denke etwa an das in Cartoons und in der Werbung immer wieder verwendete Bild der menschlichen Ahnenreihe vom behaarten Knöchelgänger bis zum aufrecht gehenden Cro-Magnon-Mann mit Speer und Lendenschurz. Der „Vormarsch des Menschen“ legt den Gedanken der Höherentwicklung nahe (wie es auch „besser“ sei, sich auf zwei Beinen fortzubewegen, als auf vier), und durch ständige Variation dieses „klassischen“ Themas bleibt die linear fortschreitende Evolution wie von selbst im allgemeinen Bewusstsein präsent. Nach Ansicht Goulds gehört diese Vorstellung jedoch nicht in die Evolutionsbiologie. Im Lauf seines Forscherlebens hat er eine ganze Reihe von Argumenten zur Unterstützung seines Standpunkts gesammelt. Eines der Argumente bezieht sich auf die radikale Kontingenz der Evolution: Durch die zahlreichen Zufallsfaktoren war der Prozess eigentlich von Anfang an unvorhersagbar. Die Entstehung des Menschen ist daher nichts als ein glücklicher Zufall. Was würde geschehen, so fragt Gould, wenn man die Evolution wie ein Tonband zurückspulen und nochmals laufen lassen könnte? Würde es nach vier Milliarden Jahren wieder Menschen geben und Ameisen, Amseln und Ma-
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gnolien? Die Wahrscheinlichkeit sei gleich null, selbst wenn wir das Tonband der Evolution tausendmal abspielen würden. Es sei schon ein Wunder, dass das Leben die schwierige Kluft zwischen Prokaryoten und Ekaryoten überbrücken konnte. Dafür brauchte die Evolution nicht weniger als zwei Milliarden Jahre. Ein zweites Mal würde es vielleicht noch viel länger dauern, vielleicht fünf oder zehn Milliarden Jahre. Nur schade, dass sich die Sonne bis dahin längst in einen roten Riesen verwandelt hat, und auf der Erde kein Leben mehr möglich ist. Beim ersten Mal hat einfach alles zufällig genau gepasst. Mit Fortschritt hat es nichts zu tun. Wie sehr die Evolution durch Zufälligkeiten gekennzeichnet ist, belegen die Perioden des Massenaussterbens, die, wie wir sahen, der Geschichte des Lebens eine gänzlich neue Wendung gaben. Bisher hat man fünf solcher globalen Katastrophen ausgemacht, die berühmteste besiegelte den Untergang der Dinosaurier. Doch die verheerendste fand vor 250 Millionen Jahren an der Wende vom Perm zur Trias statt, als 90 Prozent der marinen Arten und 70 Prozent der landlebenden Arten ausstarben. Dass Organismen im Lauf der Evolution von anderen abgelöst werden, hat also nicht unbedingt etwas mit Fortschritt zu tun. Spätere Lebewesen sind nicht immer „besser“ als ihre Vorgänger. Die durch die Katastrophen frei gewordenen ökologischen Nischen konnten von den überlebenden Opportunisten besetzt werden. Diese waren nicht die bestangepassten, sie hatten nur mehr Glück gehabt. Goulds zweites Argument gegen den evolutionären Fortschritt lautet, dass die augenscheinlich zielgerichteten Veränderungen, die wir festzustellen meinen, in Wahrheit keine progressiven Trends darstellen. Es erscheint uns nur so, als hätte eine gerichtete Entwicklung zu immer größeren, komplexeren und intelligenteren Lebewesen stattgefunden, doch dies, schreibt Gould in seinem Buch Full House/ Illusion Fortschritt sei nur Schein, eine statistische Täuschung wie die Cope-Regel. Die Evolution konnte sich nur in eine Richtung entwickeln, und zwar hin zu größerer Komplexität, aber nicht, weil es „besser“ oder vorteilhafter gewesen wäre, sondern weil nur dieser Weg offen war. Einfacher als ein Einzeller konnte ein Organismus nämlich nicht werden. Durchschnittlich mag das Leben also komplexer geworden sein, so Gould, doch seien statistische Mittelwerte ungeeignet, Trends in asymmetrischen Verteilungen zu erkennen. Betrachte man den Modus – den häufigsten Wert in der Verteilung – , so stelle man fest, dass es zwar bei einigen Abstammungslinien zur Zunahme an Größe, Komplexität oder Intelligenz gekommen ist, jedoch dass der größte Teil der Biomasse noch immer aus einzelligen Lebewesen besteht. Während eines Menschenlebens sei allein die Zahl der Kolibakterien im Darm weitaus größer als die Gesamtzahl aller Menschen, die heute auf der Erde leben und jemals gelebt haben, schreibt Gould. Kurzum, der Modus des Lebens war immer die Bakterie, sie war die erste und die erfolgreichste Lebensform, sie wird auch die letzte auf unserem Planeten sein. Wieso Fortschritt?
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Zunehmende Diversifikation
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Diversifikation und Dezimierung
Abb. 16.4: Die konventionelle Darstellung der zunehmenden Diversifikation (links) und das korrigierte Modell von Diversifikation und Dezimierung, das nach Goulds Ansicht durch die Burgess-Fossilien belegt wird.
Goulds drittes und letztes Argument gegen den Fortschritt in der Evolution stammt aus der Paläontologie. Sein 1989 veröffentliches Buch Wonderful Life / Zufall Mensch beschäftigt sich ausschließlich mit den zahlreichen rätselhaften Fossilien aus dem Kambrium, die im Burgess-Schiefer, einem berühmten Fundort in British Columbia hoch in den kanadischen Rocky Mountains, zutage kamen. Die Analyse der Fossilien belegt nach Ansicht Goulds die dominante Rolle des Zufalls im evolutionären Prozess. Wir sehen keine stetige Zunahme an Diversität, sondern eine Dezimierung. Statt sich fortwährend zu verzweigen, wurde das Leben vielmehr rigoros gestutzt. Genauer gesagt: Durch die Kambrische Explosion breitete sich das Leben schlagartig aus, doch kurze Zeit später wurden die meisten Äste wieder willkürlich abgesägt (Abb. 16.4). Die Fossilien des Burgess-Schiefers sind etwa 530 Millionen Jahre alt und bezeugen den unerhörten Reichtum an verschiedenen Lebensformen in den Gewässern des Kambrium. Die Fundstätte stellt eine Momentaufnahme des Lebens kurz nach der Kambrischen Explosion dar, als innerhalb eines kurzen Zeitraums alle uns heute bekannten tierischen Körperbaupläne auf der Bildfläche erschienen. Aufgrund eines solchen Körperbauplans kann ein Tier einer taxonomischen Gruppe, einem Phylum, zugeordnet werden. Die Burgess-Fossilien zeigten nun, dass es vor 530 Millionen Jahren viel mehr Tierstämme gab als heute. Zu ihnen gehören bizarre Kreaturen, die mit keiner heute bekannten Gruppe in Verbindung gebracht werden können. Goulds Paradebeispiel ist ein Tier mit dem vielsagenden Namen Hallucigenia. Es war nur wenige Zentimeter groß und bewegte sich auf dem Meeresboden auf sieben Paar Stelzen fort (Abb. 16.5). Hallucigenia ist ganz offensichtlich aus der Art geschlagen. Kein Paläontologe hatte je ein so skurriles Geschöpf gesehen. Das Fossil besaß einen gänzlich unbekannten Körperbauplan. Nach Ansicht Goulds galt dies für viele Organismen des Burgess-
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Abb. 16.5: Hallucigenia auf seinen spitzen Stelzen. Abbildung aus Goulds Zufall Mensch. Die Rekonstruktion erwies sich als falsch; die vermeintlichen Stelzen waren Zacken auf dem Rücken.
Schiefers. Offenbar war die organische Vielfalt im Kambrium viel größer als heute. Von evolutionärem Fortschritt könne daher keine Rede sein. Die gängige Auffassung, dass sich das Leben kontinuierlich verzweigt habe, bedürfe einer gründlichen Revision. Die fossilen Reste wiesen auf das Gegenteil hin, nämlich auf eine anfängliche Diversifikation der Organismen, gefolgt von einer Dezimierung. Die Tierstämme, die überlebten, seien diejenigen, die wir heute noch kennen. Evolution könne nur auf existierenden Bauplänen aufbauen. Innerhalb der noch existierenden Gruppen seien zwar viele verschiedene neue Arten entstanden, doch diese seien nur Variationen auf ein Thema, Ausarbeitungen bestehender Baupläne. Einige Jahre nach der Veröffentlichung von Zufall Mensch stellte sich heraus, dass die Rekonstruktion von Hallucigenia falsch war. Gould hatte das Tier auf den Kopf gestellt. Die merkürdig spitzen Stelzen waren in Wirklichkeit Zacken auf dem Rücken. Wie Funde ähnlicher Fossilien in China belegen, gehört das Lebewesen, wie viele andere aus dem Burgess-Schiefer, zu den Lobopodia, raupenartigen Organismen und Vorläufern der heutigen Peripatopsidae und anderer Stummelfüßer (Onychophora). Auch die übrigen „Problematika“ (Versteinerungen, die schwer zu klassifizieren sind) ließen sich bei näherer Betrachtung bekannten Gruppen von Organismen zuordnen. Nichts weist daher vorläufig auf eine dramatische Dezimierung tierischer Körperbaupläne hin, wie Gould suggeriert. Mit seinen übrigen Argumenten hat Gould sicherlich recht. Die Bakterien sind in der Tat die erfolgreichste Lebensform auf der Erde, und die Evolution ist
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– aufgrund einer ganzen Reihe von unwägbaren Faktoren – zutiefst kontingent, zufällig. Ein zweites Mal würde sich das Leben höchstwahrscheinlich gänzlich anders entwickeln, der Mensch ist wohl tatsächlich ein glücklicher Zufall. Muss deswegen der Gedanke des Fortschritts aus der Evolutionsbiologie verbannt werden? Keineswegs. Gould hat nur glaubhaft dargelegt, dass die Evolution nicht vorherbestimmt ist, doch das wussten wir bereits. Seine Argumente lassen sich gegen menschliche Arroganz und einen biologischen Chauvinismus ins Feld führen, doch den Gedanken einer linearen, progressiven Entwicklung widerlegen sie nicht. Auch ohne Vorherbestimmung ist Fortschritt möglich. Evolution und Konvergenz Für Edward O. Wilson jedenfalls, jahrelang Goulds Kollege in Harvard, ist evolutionärer Fortschritt eine Tatsache, die man schlichtweg nicht leugnen könne. Wilson stimmt mit Gould überein, dass die Evolution nicht zweckgerichtet sei, und das scheint auf den ersten Blick eine progressive Tendenz auszuschließen. Doch „Fortschritt“ hat für ihn noch eine andere Bedeutung, die für die Evolutionsbiologie sehr wohl relevant sei. Es lasse sich nämlich ein offensichtlicher und unbezweifelbarer Trend zu größerer Biodiversität feststellen. Wilson unterscheidet vier wichtige progressive Phasen in der Geschichte des Lebens. Der erste und wichtigste Schritt war die Entstehung des Lebens selbst aus präbiotischen organischen Molekülen vor knapp vier Milliarden Jahren. Es dauerte weitere zwei Milliarden Jahre, bis sich die ersten Eukaryoten bildeten. Wahrscheinlich entstand die eukaryotische Zelle aus einem Zusammenschluss, einer sogenannten „Endosymbiose“ primitiver Bakterien. Zellorganellen wie Mitochondrien und Chloroplasten waren einmal sich frei bewegende Prokaryoten, die von anderen Einzellern geschluckt und gezähmt wurden und so eine Funktion innerhalb der eurkaryotischen Zellen erhielten. Diese Erkenntnis ist größtenteils dem amerikanischen Mikrobiologen Lynn Margulis zu verdanken. Das dritte wichtige Ereignis in der Geschichte des Lebens war die „plötzliche“ Radiation tierischer Körperbaupläne in den Gewässern des Kambrium vor 530 Millionen Jahren. Nicht viel später begannen Organismen Land und Luft zu erobern. Der vierte und vorerst letzte Schritt ist die Entwicklung des Bewusstseins bei Tieren und Menschen. Das Bewusstsein ermöglichte eine zweite Form der Evolution: die der Kultur. Wichtige Informationen können jetzt auch auf nichtgenetischem Weg durch Nachahmung oder Sprache weitergegeben werden. Alles weise, so Wilson, auf Fortschritt hin. Nach allen denkbaren Maßstäben sei Progression ein Wesensmerkmal der Evolution. Aus der Ursuppe sind die ersten Bausteine des Lebens hervorgegangen, sie haben sich in der Biosphäre ausgebreitet, erst im Meer, dann an Land und in der Luft. Obwohl es immer wieder durch Katastrophen wie Massenaussterben Rückschritte in der Evolution gab,
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schwärmte das Leben weiter aus und besetzte immer neue ökologische Nischen. Die Biodiversität, die biologische Vielfalt wurde immer reicher. Nach Ansicht Wilsons hat die Zahl der Phyla, der Stämme seit der Kambrischen Explosion wahrscheinlich zugenommen und nicht, wie Gould vertritt, abgenommen. Dies gelte auf jeden Fall für die Zahl der Arten und die gesamte Biomasse. Das Leben ist um ein Vielfaches expandiert, nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ. Vielleicht wird das organische Leben irgendwann auch in unser Sonnensystem und in die Tiefen des Weltalls ausschwärmen. Man könnte nun in Anlehnung an Wilson „Fortschritt“ wie folgt beschreiben: Fortschritt ist eine Kategorie der biologischen Evolution, weil die Geschichte des Lebens durch Diversifikation, Ausbreitung und Erkundung gekennzeichnet ist. Im zehnten Kapitel wurde argumentiert, dass man Evolution als einen Erkenntnisprozess auffassen kann. Im Zusammenhang mit der oben aufgestellten Definition gilt dies umso mehr. Ein wichtiger Aspekt unserer Definition des „Fortschritts“ ist, dass es nichts mehr zur Sache tut, welche Phyla, welche Arten oder welche Organismen Erben der Erde sein werden, oder ob eine wiederholte Evolution den Menschen erneut hervorbringen würde. Es ist nicht der Mensch, der der Evolution eine progressive Richtung gibt. Entscheidend ist, dass die Biodiversität zugenommen hat. Könnten wir die Evolution noch einmal von vorn beginnen lassen, würden wahrscheinlich nicht ein zweites Mal Menschen (und Ameisen, Amseln oder Magnolien) entstehen. Doch höchstwahrscheinlich würden bestimmte „Erfindungen“ aufs Neue gemacht werden, wie die Photosynthese, Augen, Flügel oder das Nervensystem. Oder wie Daniel Dennett es formulierte: Man kann die Evolution noch so oft ablaufen lassen, die guten Erfindungen werden immer wieder gemacht. Das Phänomen, dass die Evolution oft auf verschiedenen Wegen zu den gleichen Lösungen gelangt, nennt man „Konvergenz“. Das bekannteste Beispiel ist die bemerkenswerte Ähnlichkeit zwischen den Beuteltieren Australiens und den Plazenta-Säugetieren der anderen Kontinente. Von diesen unterscheiden sich die Beuteltiere darin, dass sie in einem sehr frühen Stadium zur Welt kommen und sich im Beutel (marsupium) der Mutter, an eine Zitze festgesaugt, weiter entwickeln. Trotz der Unterschiede in der Fortpflanzungsweise und der evolutionären Entwicklung – die beiden Tiergruppen sind vor mehr als hundert Millionen Jahren getrennte Wege gegangen – sind sie sich durch die Anpassung an die gleichen ökologischen Nischen sehr ähnlich geworden. Im australischen Raum sind mehr als zweihundert verschiedene BeuteltierArten beheimatet, die man als Analogien zu den Plazenta-Säugetieren Maus, Maulwurf, Kaninchen, Hase, Dachs, Katze, Hund, Gleithörnchen und Ameisenbär auffassen kann. Fast alle ökologischen Nischen, die in der übrigen Welt von Säugern eingenommen wurden, sind in Australien von Beuteltieren besetzt. Grasende Kängurus nehmen die Stelle von Antilopen und Pferden ein, das Baumwal-
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laby ist eigentlich eine Art Kletteraffe, und der Koala ist dem südamerikanischen Faultier, was seine Lebensweise betrifft, täuschend ähnlich. Bis 1930 lebte in Tasmanien sogar noch der Beutelwolf (Thylacinus cynocephalus), wegen seiner auffälligen Streifen auf dem Rücken auch Tasmanischer Tiger genannt. Das letzte bekannte Exemplar starb 1936 im Zoo von Hobart. Glücklicherweise gibt es auf der Insel noch den Tasmanischen Teufel (Sarcophilus harrisi), der im Aussehen und Verhalten große Ähnlichkeit mit dem Vielfraß aufweist, einer im nördlichen Eurasien und in Nordamerika beheimateten Raubtierart aus der Familie der Marder. Doch Säugetiere und Beuteltiere sind nicht die einzigen Zeugnisse einer parallelen Entwicklung. Konvergenz hat wahrscheinlich zu allen Zeiten stattgefunden. Die ökologischen Nischen, die von Beuteltieren und Säugetieren besiedelt wurden, waren einst von den Dinosauriern besetzt. Auch in Australien lebten, wie fossile Funde belegen, fleischfressende Riesenkängurus. Die Welt scheint bestimmte Körperbaupläne und Lebensformen zu erzwingen. Das Gleithörnchen (Glaucomys volans) und seine marsupiale Entsprechung, der Gleitbeutler (Petaurus brevicept), sind an die gleichen aerodynamischen und biomechanischen Gesetze gebunden. Beide Tiere haben unabhängig voneinander eine dünne Hautfalte zwischen ihren Gliedmaßen entwickelt, die es ihnen erlaubt, von Baum zu Baum zu schweben. Im zehnten Kapitel sind wir bereits einem ähnlichen Beispiel begegnet: der Evolution der Flügel. Flügel haben sich viele Male unabhängig voneinander in völlig verschiedenen Tiergruppen entwickelt. Doch diese Entwürfe unterliegen alle den gleichen Gesetzen der Aerodynamik. Ein anderes Beispiel für Konvergenz ist die Stromlinienform der Tiere, die sich im Wasser fortbewegen, wie Delfine, Haie, Thunfische, Pinguine oder Tintenfische. Auch die Bauanleitung dieser so unterschiedlichen Tiere beruht auf den gleichen hydrodynamischen Grundprinzipien. Für den britischen Paläontologen Conway Morris wurde die Geschichte des Lebens auf der Erde durch Konvergenz bestimmt. Die Entstehung des Menschen sei daher unvermeidlich gewesen. Intelligentes Leben sei in gewissem Sinne schon im ersten DNA-Molekül angelegt. In seinem 2003 erschienenen Buch Life’s Solution / Jenseits des Zufalls erklärte Morris, das Leben habe sich eindeutig in eine vorhersehbare Richtung entwickelt. Der Mensch sei kein glücklicher Zufall oder eine Laune der Natur. Denn im Laufe der Erdgeschichte sei das Leben immer wieder zu denselben Lösungen gelangt. Die Ironie will, dass Morris durch Goulds Buch Wonderful Life / Zufall Mensch bekannt wurde. Er hatte, bevor er Professor für evolutionäre Paläobiologie an der Universität von Cambridge wurde, viele Jahre über die Fossilien des Burgess-Schiefers gearbeitet. Von ihm stammte die falsche Analyse der Hallucigenia. Dieses Zeichen menschlicher Fehlbarkeit hat ihn jedoch weder vorsichtiger noch zurückhaltender gemacht. Im Gegenteil, Morris ist fest davon überzeugt, dass die Evolution überall und immer wieder bei einer intelligenten Spezies ankommen werde. Manche Kritiker unterstellen ihm, dem gläu-
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bigen Christen, eine religiöse Hinterabsicht. Er selbst bestreitet dies entschieden. Doch Zweifel sind berechtigt. Die Zukunft des Lebens Wilson, der Nestor der modernen Evolutionsbiologie und Vater der Soziobiologie, hat sich in den letzten Jahren zu einem vehementen Verfechter der Erhaltung der Biodiversität entwickelt. In seinem 2002 erschienenen Buch The Future of Life / Die Zukunft des Lebens ruft er dazu auf, alles zu unternehmen, um die biologische Vielfalt unserer Erde zu erhalten. Es drohe nämlich ein neues Massenaussterben, diesmal nicht durch einen Meteoriteneinschlag oder eine andere Naturkatastrophe, sondern durch den Menschen verursacht. Die Zerstörung der letzten Regenwälder und die Überfischung der Weltmeere seien nur einige Beispiele für unsere Gleichgültigkeit gegenüber der Umwelt. Wenn wir nichts unternehmen, werden Mitte dieses Jahrhunderts mindestens zwanzig Prozent aller Pflanzen und Tiere verschwunden sein. Gegenwärtig ist jedes vierte Säugetier und jeder achte Vogel gefährdet. Weltweit sind derzeit ca. dreißig bis fünfzig Prozent aller Amphibien unmittelbar vom Aussterben bedroht. Das Verschwinden sogenannter „Schlüsselarten“, die für ein Ökosystem essenziell sind, gefährdet alle abhängigen Arten. Die Biodiversität droht zerstört zu werden. Arten sterben heute mit einer Geschwindigkeit aus, die tausend- bis zehntausendmal höher ist als in den Zeiten, als es noch keinen menschlichen Einfluss gab. Niemals hat eine einzelne Art andere Lebewesen so drastisch dezimiert, wie der Mensch es heute tut. Unsere Gleichgültigkeit gegenüber der Umwelt liegt, nach Ansicht Wilsons, in unserer Natur. Das menschliche Gehirn ist evolviert, um sich emotional an ein geographisch kleines Gebiet und an eine kleine Gruppe Verwandter zu binden. Wir orientieren uns nur an den eigenen kurzfristigen Interessen und sehen höchstens eine oder zwei Generationen voraus. Unsere ökologische Kurzsichtigkeit richtete in der Vergangenheit wenig Schaden an, doch je mehr die Weltbevölkerung wächst, desto einschneidender sind die Folgen. Gegen Ende des 21. Jahrhunderts werden mehr als zehn Milliarden Menschen die Erde bevölkern. Doch Wilson ist kein Unheilsprophet. Er glaubt daran, dass der Mensch Desinteresse und Kurzsichtigkeit überwinden kann. Er sieht darin eine wichtige Aufgabe für Erziehung und Schule. Wenn wir das drohende Massenaussterben verhindern wollen, müssen wir unsere Kinder früh mit dem Wert der Natur und der Vielfalt des Lebens vertraut machen. Wilson setzt auf die „Biophilie“ des Menschen, auf seine angeborene Liebe zur Natur, auf seine unbewusste Neigung, die Nähe der übrigen Lebewesen zu suchen. Denn es wäre eine Katastrophe, wenn die in der Biosphäre gespeicherte Information verloren ginge. Das Leben stellt sozusagen eine gigantische „Datenbank“ dar, eine Bibliothek der biologischen Vernunft. Dieses „Wissen“ ist von unschätzbarem Wert. Man braucht nur an die vielen Schimmel- und Pflanzenarten in den Urwäldern zu denken, die für die
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pharmazeutische Industrie unentbehrlich sind. Der Erhalt des Artenreichtums ist daher auch in unserem eigenen Interesse. Doch vor allem steht die Zukunft des Lebens selbst auf dem Spiel. Wenn wir die biologische Vielfalt bewahren, investieren wir, so Wilson, in die Unsterblichkeit. Den evolutionären Fortschritt, den Wilson in der Geschichte des Lebens sieht, droht der Mensch zunichte zu machen. Wir sind wie die Barbaren, die die Bibliothek von Alexandrien plünderten und brandschatzten: Wir begreifen noch immer nicht, dass das mühevoll zusammengetragene Wissen für immer verloren zu gehen droht. Doch es ist noch nicht zu spät, meint Wilson. Wenn wir unsere Kräfte bündeln und Wissenschaft und Technologie vernünftig einsetzen, kann das Blatt sich vielleicht noch wenden.
Nachwort
„Sollten jemals höher entwickelte Lebewesen aus dem Weltraum die Erde besuchen, so werden sie, um unsere Zivilisationsstufe einzuschätzen, zuerst die Frage stellen: ,Haben sie die Evolution schon entdeckt?‘“ So beginnt Richard Dawkins sein Buch Das egoistische Gen. Intelligentes Leben erreiche, wo auch immer, erst dann einen Zustand der Reife, so Dawkins, wenn es die Ursachen für seine Existenz erkennt. Wir auf unserem Planeten verdanken diese Einsicht und Reife Darwin. Seine Evolutionstheorie ist ein intellektueller und wissenschaftlicher Meilenstein. Nie zuvor hat es in der Geschichte der Wissenschaften eine Erkenntnis von solcher Tragweite gegeben. Denn nie zuvor wurde mit so wenigen Annahmen so viel erklärt. Und auch die Form, in die Darwin seine Theorie gegossen hat, ist von großer Eleganz und Schönheit. In diesem Buch wurde der verwegene, von vornherein zum Scheitern verurteilte Versuch unternommen, dem Leser eine Übersicht über die Folgen und die Reichweite des Darwin’schen Erbes zu verschaffen. Denn die Darwin’sche Revolution ist noch längst nicht beendet, ihre Implikationen sickern noch heute, hundertfünfzig Jahre nach dem Erscheinen der Entstehung der Arten, in zahlreiche Fachgebiete ein. Die Evolutionstheorie ist nicht nur für die Biologie relevant, sondern auch für die Theologie, die Philosophie, die Psychologie, die Soziologie, die Anthropologie, die Linguistik, die Medizin und so weiter. Es gibt kaum einen Wissenschaftszweig, der nicht durch Darwins „gefährliche Gedanken“ beeinflusst wird. Um mit Daniel Dennett zu sprechen: Darwins Grundgedanke ist wie eine „Universalsäure“, die alles angreift, sich durch alles hindurchfrisst, die durch nichts aufzuhalten ist. Darwins Theorie hat tief verwurzelte, uralte Überzeugungen ins Wanken gebracht. Der Mensch wurde nicht nach Gottes Ebenbild geschaffen, er nimmt keine einzigartige Stellung in der Natur ein. Die unsterbliche Seele, die dem Menschen von Gott eingehaucht wurde, gehört ins Reich der Fabel, ebenso wie die Vorstellung, unsere Existenz habe einen transzendenten Sinn. Der Mensch ist kein gefallener Engel, sondern ein emporgestiegener Primat. Die Revolution, die Darwin herbeiführte, besteht in der Umkehrung des gängigen Erklärungsmodells: Keine übernatürlichen Mächte stehen am Anfang des Lebens, sondern präbiotische, selbstreplizierende Makromoleküle. Die Lebensformen sind in einem natürlichen, kontinuierlichen Prozess aus einem primitiven Anfang hervorgegangen. Seit Darwin wissen wir, dass ein komplexer Entwurf
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nicht notwendigerweise einen intelligenten Urheber voraussetzt. Auch durch den blinden, ziellosen Prozess natürlicher, kumulativer Selektion können atemberaubend schöne Geschöpfe entstehen. Doch die Evolutionstheorie bringt nicht nur ernüchternde Erkenntnisse, sondern auch neue, überwältigende Einsichten mit sich. Etwa die, dass alles Leben auf unserem Planeten bis in die letzten Fasern und Zellen im Wesen eins ist. Von jedem von uns verläuft eine ununterbrochene Replikationskette zurück zum allerersten Beginn. Und diese Genealogie ist nicht Jahrtausende, sondern vier Milliarden Jahre alt. Wenn wir unsere eigene Abstammungslinie zurückverfolgen, gelangen wir über die Entstehung der ersten Hominiden, die „Geburt“ der Primaten, das Aufkommen der Säugetiere und der ersten Wirbeltiere, die Land und Meer besiedelten, schließlich zur Kambrischen Explosion und dem Zeitalter der Mikroben und Einzeller, das dieser vorausging. Je weiter wir uns in der Zeit zurückbewegen, desto mehr Entwicklungslinien vereinen sich, erst die jüngsten Zweige und Ausläufer des evolutionären Baumes und zuletzt die Hauptäste, die alle direkt aus dem Stamm herauswachsen. Diese uralte Schicksalsgemeinschaft nötigt uns Respekt ab, sie verbindet uns mit allem, was lebt, und zwar in einer Weise, die kein Mythos übertreffen kann. Im Gegensatz zu dem, was manche glauben, hat Darwin unser Dasein nicht entzaubert, sondern vielmehr zutiefst bereichert. Die Einsicht in die Zusammengehörigkeit allen Lebens zieht zugleich auch Verpflichtungen nach sich, denn die Menschen, in denen der Evolutionsprozess sich sozusagen seiner selbst bewusst geworden ist, sind dafür verantwortlich, dass dieses Leben in all seinen Erscheinungsformen weiter fortbesteht. Im Herbst 2005 erschien im W. W. Norton-Verlag in New York eine prächtige Neuausgabe von Darwins vier wichtigsten Büchern unter dem Titel: From so simple a beginning. Die Kassette enthält in Dünndruck Voyage of the Beagle von 1845, Origin of species von 1859, Descent of man von 1871 und The expression of the emotions in man and animals von 1872. Der Gesamttitel verweist auf den berühmten Schlusssatz der Entstehung der Arten, dem wir schon im elften Kapitel begegnet sind: Es liegt eine Größe in dieser Sicht des Lebens, dass es mit seinen verschiedenen Kräften ursprünglich nur wenigen Formen oder gar nur einer einzigen eingehaucht wurde, und dass, während dieser Planet nach den Gesetzen der Schwerkraft seine Kreise zieht, aus einem so einfachen Anfange sich eine endlose Reihe der schönsten und wundervollsten Formen entwickelt hat und immer noch entwickelt.
Für Edward O. Wilson, der die einzelnen Bände mit einer Einleitung und einem Nachwort versah, stellt die Darwin’sche Revolution sogar die kopernikanische Wende in den Schatten, die die Erde aus dem Zentrum des Universums stieß und zu einem unbedeutenden Satelliten der Sonne machte. Darwin hat uns Menschen aus dem Mittelpunkt der Welt verjagt, indem er nachwies, dass wir nur ein
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junger, unbedeutender Spross an einem uralten, weit verzweigten evolutionären Baum sind. So bereitete er dem liebgewonnenen Glauben ein Ende, der Mensch sei nach göttlichem Plan und zu einem bestimmten Zweck auf der Welt. Die zahlreichen Implikationen der Evolutionstheorie lassen sich, wie gesagt, heute noch nicht überschauen. Vielleicht wird sich das Darwin’sche Paradigma im Lauf des 21. Jahrhunderts, dem Jahrhundert der Biologie, voll entfalten. Zugleich wird die Evolutionstheorie weiterhin auf den Widerstand derjenigen stoßen, die nicht bereit sind, sich mit ihren Konsequenzen auseinanderzusetzen bzw. abzufinden. Die Religion wird ihren Vormarsch fortsetzen, sie wird immer öfter und immer heftiger mit den Erkenntnissen der fortschreitenden Wissenschaft kollidieren. Die Kluft zwischen Wissen und Glauben wird sich vertiefen. Doch wir sollten keine Kompromisse schließen, denn die Darwin’sche Revolution ist unumkehrbar, es sei denn, die Zeloten übernehmen die Macht und stürzen die Welt wieder in Finsternis. Wilson zufolge bedeutet die Darwin’sche Revolution einen Bruch mit dem prähistorischen, hartnäckigen Selbstbild des Menschen. Doch Aberglauben, tradierte Mythen und übernatürliche Erklärungen lassen sich mit der empirischen Wissenschaft nicht vereinen. Dies gilt insbesondere für die Evolutionstheorie, denn in der Geschichte der Menschheit gibt es keinen Gedanken, der unser Selbstbild radikaler verändert hätte. Wer sind wir? Woher kommen wir? Und wohin gehen wir? Diese Fragen haben sich unsere fernen Vorfahren vielleicht schon gestellt, als sie im nächtlichen Dunkel der afrikanischen Savanne zum Sternenhimmel aufblickten. Woher wir kommen, wissen wir seit Darwin. Wohin wir gehen, weiß nur die Evolution. Sie hat das letzte Wort.
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345
Bildnachweis 1.1 1.2 2.1 2.2 3.2 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 4.8 4.9 4.10 6.1
6.2 7.1 9.1 11.1 13.1 13.2 13.3 14.1 15.1 16.1 16.2 16.3 16.4
16.5
Nach: The zoology of the voyage of H. M. S. Beagle during the years 1832−1836, edited by Charles Darwin, London, 1839−1843, Bd. 2, Teil 3, Birds, von John Gould. Nach: The Hornet, März 1871. Nach: T. Goldschmidt (1994), Darwins hofvijver: een drama in het Victoriameer. Amsterdam, S. 55. Originalaufname von J. G. Millais aus dem Jahr 1897. Nach: R. Dawkins (1996), Climbing mount improbable, London, S. 84 (übernommen mit Zustimmung des Hamilton Spectator). Pascal Goetgheluck/Photo Researchers John Reader/Science Photo Library John Reader/Science Photo Library John C. Lewis/The Paul Getty Trust Locutus Borg www.dinosoria.com John Reader/Science Photo Library Musée de l’Homme, Paris Nach: I. Tattersall (1995) The fossil trail, S. 234. Oxford: Oxford University Press. Nach: Darwin Het uitsdrukken van emoties, S. 392. Amsterdam: Nieuwezijds, dt: Der Ausdruck der Gemütsbewegungen, S. 425. Frankfurt a. M.: Eichborn (übernommen mit Zustimmung von Paul Ekman). Nach: D. Freeman (1983), Margaret Mead and Samoa, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, S. 116. Nach: J. Aitchison (1996), The seeds of speech, Cambridge: Cambridge University Press. Nach: Frans de Waal (Hrsg.) (2002), Tree of origin, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, S. 237 (Foto: A. C. Hannah). Nach: George C. Williams (1996), Plan & purpose in nature, London: Phoenix, S. 14. Sammlung Naturhistorisches Museum Wien. Nach: N. K. Sandars (1985), Prehistoric art in Europe, S. 102. London: Penguin. Computerbild: Martin Gruendl, Regensburg. Nach: M. Ruse (1986), Taking Darwin seriously, S. 117 und S. 118. Oxford: Blackwell. Nach: Herrnstein & Murray (1994), The bell curve, S. 121. New York: The Free Press. Nach: Michael Ruse (1996), Monad to man, S. 22. Harvard University Press. Nach: Ebenda S. 180. Nach: P. Raven und G. Johnson (1991) Understanding biology, St Louis: Mosby-Year Book. Nach: S. J. Gould (1989), Wonderful life: the Burgess Shale and the nature of history, S. 46. New York: W.W. Norton (übernommen mit Zustimmung von W. W. Norton & Company, Inc.). Nach: Ebenda, S. 154.
Personen- und Sachregister
Abiotischer Wettbewerb 307, 316 Abtreibung 124, 303 Acheuléen-Kultur 81 Ackerschmalwand 314 Adaptation 27, 41, 42, 135, 137, 138, 146, 196, 197, 198, 217, 218, 258, 259, 265, 276, 279, 280, 317 Adaptationistischer Fehlschluss (adaptationist fallacy) 198 Adaptive Radiation 25, 62, 72 Aerodynamik 196, 323 Ästhetik 247 ff. ästhetischer Realismus 253 f. ästhetisches Urteil 252 ff. angeborene Präferenzen 248 Bedeutung der Kunst 47, 53 biologische Funktion 250, 255 Darwin über Schönheit 249 Design 247 Einfluss der Kultur 247, 265 f. evolutionäre Ästhetik 264 Goldener Schnitt 253 Homo aestheticus 248 Kant über Schönheit 252 Kluft zwischen Mensch und Tier 248 f. Körpergeruch 263 f. männliche Präferenz 262 f., 266 Nietzsche über Schönheit 255 Objektivität der Schönheit 253 f. Partnerwahl 262 ff. persönlicher Geschmack 252 Platon über Schönheit 254 f. prähistorische Kunst 256 ff. schöne Künste 247 Schönheit als Adaptation 258 ff. Schönheit als affordance 265 Schönheit als Fitness-Indikator 174, 250 f., 267 Schönheit als relationale Eigenschaft 253, 265 Schönheit und Emotion 244 f. Schönheitssinn bei Tieren 248 ff., 251 Subjektivität der Schönheit 249, 252 Symmetrie 260 ff. Taille-zu-Hüfte-Verhältnis 263 Universalität der Schönheit 259 Ursprung der Kunst 255 ff.
Ursprung der Schönheitserfahrung 267 weibliche Präferenz 46, 50 f., 53 f., 262 ff. Agassiz, Louis 116 Aggression 98, 122, 129 Aiello, Leslie 92 Aitchison, Jean 140, 143, 146 The seeds of speech 149 Alarmschrei 140 f. Alexandrinische Bibliothek 325 Allen’sche Regel 60 allopatrische Artbildung 61 ff. Altamira 86, 145 Altruismus 100, 102 ff. wechselseitiger 104 ff., 113, 165, 229, 235 ff., 243 ff. Amebelodon 142 American Museum of Natural History 124 Amöbe 202 Animalia 58 Anthropisches Prinzip 224 Anthropologie 47, 111, 113 ff., 116, 119 ff., 124, 127 ff., 291, 300, 326 Anthropomorphismus 118, 167 f. Antibabypille 282 Antikörper 200, 274, 278 Apollinisch 255 Archaeopteryx 28 Arche Noah 212 Archeabacteria 58 f. Aristoteles 16 als „Heide“ 18 als Biologe 9 De generatione 300 erster oder unbewegter Beweger 16 Essenz 16 hierarchische Ordnung 17 Konzept der biologischen „Funktion“ 17 natürliche Ordnung 17 Quintessenz 16 Teleologie 17 vier Elemente 16 Zweckursache 17 Armstrong, D. M. 153 Artbildung 55 ff., 59, 61 ff., 69 Artenschwarm 61 ff. Asexuelle Fortpflanzung 64 f. Astrologie 202
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PERSONEN- UND SACHREGISTER
Astrophysik 195, 224 Atheismus → siehe auch Religion 221 ff. Auerochse 85, 257 Aufklärung 111, 124, 222, 304 Auge 18, 20 f., 27, 41 f., 44, 67 f., 71, 137, 213, 217 ff. Augustinus 17 Aurignacien-Kultur 86 Australopithecinen 72 ff., 77 ff., 81, 89, 90 ff., 143 Australopithecus (Geschlecht) 72 ff. Australopithecus aethiopicus 72 f., 74, 88 Australopithecus afarensis 72 f., 75 ff., 78 f., 88 Australopithecus africanus 72 ff., 78, 88, 93 Australopithecus anamensis 72 ff., 78, 88, 93 Australopithecus boisei 72 ff., 75, 88, 93 Australopithecus robustus 72 ff., 88, 93 Autokatalytischer Prozess 110 Autonomie der Sozialwissenschaften 48 Axelrod, Robert 237 ff. Bach, Johann Sebastian 78, 201, 221, 266 Bakterien 58, 69, 200, 212, 214 f., 273 ff., 282, 310, 312, 320 f. Bandwurm 314, 316 Baseball 156, 316 Basketball 293 Baumwallaby 323 Beach Boys 201 Beagle 23, 25 f., 28 Beatles 75 Beauvoir, Simone de 123 Beethoven, Ludwig van 185, 253 Behaviorismus 118, 133 f., 152 f. Behe, Michael 212 f. Darwin’s black box / Darwins Black Box 212 Bergmann’sche Regel 60 Beuteltiere 28, 322 f. Beutelwolf 57, 323 Bewusstsein 13, 95, 105, 134, 147 f., 159 Aspektdualismus 159 f. autobiographisches Bewusstsein 165 f. Bewusstsein als Epiphänomen 149 f., 164 Bewusstsein aus evolutionärer Sicht 165 f. Bewusstsein bei Tieren 148 f., 151, 162 f., 165, 167 biologische Funktion des Bewusstseins 149, 162 f. Blindsehen 163 Funktion des Bewusstseins 155, 164 Funktionalismus 152 ff., 154, 157 Gedächtnis 105, 150, 152, 161, 166, 236 Geist als informationsverarbeitendes System 153 Geist als neuronales Netzwerk 160, 162, 185
Geist und Materie 150 ff. Identitätstheorie 153 f. Innerlichkeit 152 ff., 159 Introspektion 152 f., 159 Kernbewusstsein/Kernselbst 165 f. Kognitivismus 153 Körper-Geist-Problem 150 ff., 158, 161, 166 künstliche Intelligenz 155 ff. Materialismus 152, 160 mehrschichtiges Bewusstsein 164 ff. mentalistisches Paradigma 161 Monismus 152 Neurowissenschaften 160 Physikalismus 154, 158, 161 Psychopharmaka 152 Qualia 148 qualitative Auswertung sinnlicher Reize 167, 251 Realisierbarkeit mentaler Zustände 154 Repräsentationsproblem 151 Selbstbewusstsein 148, 165 f. Sprache und Bewusstsein 166 Tiere als gefühllose Maschinen 151, 163 Unterschiede zwischen menschlichem und tierischem Bewusstsein 148 f. Bickerton, Derek 144 BiDil 292 Big Bang 110, 224 Biodiversität 63, 112, 321 f., 324 Biogenetisches Gesetz 27 Biologischer Determinismus 14, 47, 94 ff., 107, 124, 181, 302 Biologisches Artkonzept (BSC) 36, 59, 65 f. Biologische Evolution 40, 94, 174, 179, 182 ff., 197, 204 f. Biologische Art 59 ff., 68, 184 f. Biometriker 35 Biophilie 324 Biosphäre 112, 188, 199, 203 f., 321, 324 Biotischer Wettbewerb 307, 315 f. Bipedie 76 f., 89 f., 92, 143 Blackmore, Susan 172, 178, 180, 183, 187, 227 Blinder Fleck 218 Blutgerinnung 212, 216 Boas, Franz 120 f., 124, 127, 129 Boise, Charles 74 Bonobo 12, 50 f., 66, 78, 141, 168, 229, 246 Borges, Jorge Luis 56 Bowler, Peter 297 Evolution, The history of an idea 297 Broca, Paul 138 Brodie, Richard 172 Bruno, Giordano 19 Buikhuisen, Wouter 95 Burgess-Schiefer 319 f., 323
PERSONEN- UND SACHREGISTER
Bush, George W. 296 Buss, David 258 Calvin, William 199 Carnegie, Andrew 287 Cartier 247 Cartesianischer Dualismus 150 ff. Chambers, Robert 306 f., 310 lineare Evolution 306 Übereinstimmung mit Darwin 306 f. Unterschied zu Darwin 306 Vestiges of the natural history of creation 305 f. Chartres, Kathedrale von 221 Chauvet 86, 257 Cheney, Dorothy 140 Cheyenne-Indianer 56 Chinesisches Zimmer 156 Chloroplast 321 Chomsky, Noam 133 ff., 137, 141 ff. Churchland, Paul 160 ff. Cichliden 62 ff., 216 Cleese, John 157 Cogito ergo sum 150, 189 Columbine High School 177 Computermodell des Geistes 153 Conway Morris, Simon 323 Life’s solution / Jenseits des Zufalls 323 Cope, Edward D. 313 Cope-Regel 313, 318 Corballis, Michael 144 Cosmides, Leda 108 Crick, Francis 38, 161, 187 Cro-Magnon-Mensch 86, 145, 317 Cuvier, George 25 Damasio, Antonio 165 f. Dart, Raymond 73 f., 79 Darwin, Anne Elizabeth (Annie) 31, 208 f. Darwin, Charles Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren 114 Die Abstammung des Menschen 32, 44, 46, 114, 131, 247, 249, 290 f., 298 Down House 207 Entdeckung des Prinzips der natürlichen Selektion 12, 29 Entstehung der Arten 11, 26, 31 ff., 37, 100, 114, 117, 195, 223, 285 ff., 290, 298, 307 f., 326 f. Gesundheitszustand 30 ff. Glaube 31, 208 f., 309 Journal of researches 30 Kaplan des Teufels 209 Medizinstudium in Edinburgh 21, 23, 284 Reise mit der Beagle → siehe Beagle Theologiestudium in Cambridge 21, 23, 25, 208, 284
349
über den gemeinsamen Ursprung des Menschen 26 f. über Frauen 117 über Gradualismus 66, 69 über Menschenrassen 297 f. über natürliche Selektion 29 ff. über Schönheit 249 über sich Verschlucken 137 über „wilde“ Völker 116, 290 f. Wassertherapie 208 Darwin, Emma 30 Darwin, Erasmus 21 Zoonomia or the laws of organic life 21 Darwinmaschine 199 ff., 274 Darwinistischer Algorithmus 40 ff. Darwinistisches Paradigma → siehe Evolutionäres Paradigma Darwinisten 35 Darwins Bulldogge 32, 301 Datierungsmethoden 70 f. Dawkins, Richard 99, 170 ff., 174, 176 ff., 179, 181, 187, 198, 209, 219 ff., 227, 239, 241, 270, 315 f., 326 The selfish gene / Das egoistische Gen 99, 326 Deep Blue 155, 157 Dekker, Cees 210 Dekkers, Midas 92 Dennell, Robin 89 Dennett, Daniel 10, 12, 157, 171 f., 178, 182, 186, 228, 322, 326 Descartes, René 150 ff., 154, 163, 167 Design-Argument 11, 18, 20 f., 199, 209, 213, 216, 223 Determinismus Biologischer Determinismus 14, 47, 94 f., 97, 107, 124, 181, 302 Kulturdeterminismus 14, 48, 110, 118 ff., 124, 127, 129, 302 genetischer Determinismus 94, 97, 181 Dickleibigkeit 111 Differenzierung der Gene 14 Dilthey, Wilhelm 266 Dinosaurier 28, 72, 313 f., 318, 323 DNA-Vergleich 39, 78, 85, 87, 89 f. Dobzhansky, Theodosius 36 Doppelhelix 38 f., 161 Down House 207 Down-Syndrom 302 f Dubois, Eugène 74, 81 f. Dunbar, Robin 91, 146 f. Durkheim, Émile 227 Ebu gogo 83 Edler Wilder 89 Egoistische Gene 245 Egoistisches Verhalten 98 ff., 103 f., 106 f Einfühlungsvermögen 147, 167, 266 Einstein, Albert 11, 202
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PERSONEN- UND SACHREGISTER
Einzigartigkeit des Menschen 95, 132, 138 ff. Eisbär 196 Ekman, Paul 114 f., 129 Eldredge, Niles 68 f. Elterliche Fürsorge 103, 303 Elterninvestition 50, 102, 106 f. Embryologie 26 f., 306 Emotionen 49, 51 f., 106 f., 111, 114 ff., 122, 129, 132, 209, 226, 236, 243 ff., 246, 252 f., 258, 266, 279, 301 Empirismus 133 f., 189, 192 f. Enard, Wolfgang 145 Endosymbiose 321 Epigenetische Regeln 110, 112 Epistemologie → siehe auch Erkenntnis 188 ff., 191, 195, 203, 205 f. Erhalt der Art 98 Erkenntnis a posteriori 189, 193 a priori 189, 192 f., 195, 205, 316 Adaptation als Erkenntnis → siehe Adaptation Analogie zwischen Evolution und Wissenserwerb 170 ff. angeborenes Verhalten 49, 95, 114, 123, 129, 132, 192 f. angeborenes Wissen 108 ff., 134 f., 140, 153, 189, 192 f. Anschauungsformen 189, 194 f. erkennendes Subjekt 196 Erkenntnislehre 189, 191, 193 f., 205 evolutionäre Epistemologie 188 ff., 195, 205 f. Funktion des Erkenntnisapparates 193 ff. geistige Repräsentation 196 Idealismus 194 Kluft zwischen Subjekt und Objekt 193 kognitive Nische 195 Naturalismus 190 f. naturalistische Erkenntnislehre 191 Normen 128, 205 f. ontogenetische Erkenntnis a priori 193 phylogenetische Erkenntnis a posteriori 193 Realismus 194 f. Sprache 56, 79, 85, 92, 108, 131–147 Versuch und Irrtum 165, 183, 202, 206 Welt an sich 248 Wahrheit 32, 119, 126, 128, 180, 196, 202, 204, 219 Zuverlässigkeit 191, 194 f. Escherichia coli 215 Essentialismus 30 Ethik → siehe Moral Ethnozentrismus 120 Ethologie 97, 118 Eubacteria 58 f. Eugenik 13 ff., 47, 117, 120, 285–304
Bioethik 303 f. Biotechnologie 303 f. Eheverbot 300 Eugenics Review 299 Familienplanung 300 Gen-Ausweis 303 genetische Manipulation 303 Genozid 299 Kinderwunsch geistig Behinderter 303 Klonen 303 Mischehen 297 negative Eugenik 297 positive Eugenik 297 Pränataldiagnostik/Genanalyse 302 pränatale Selektion 304 Rassenhygiene 14, 299 Rassentrennung 297 Rassismus 285 Recht auf Fortpflanzung 117, 298, 303 Retortenbabys 303 selektive Fortpflanzung 297, 301 soziobiologische Auswahl 301 Zwangssterilisation 117, 297, 299, 303 Eukaryoten 58, 310, 314, 321 Euklid 184 Die Elemente 184, 189 Evans, Dylan 221 Evolution als „dummer Bastler“ 216 als Erkenntnisprozess 322 Ästhetik 247–267 Biogeographie als Beweisstück 28 der Wissenschaft 188 ff., 201 ff. des Bewusstseins 149, 162, 164 ff. des Kosmos 17, 224, 286, 306 des Sonnensystems 197, 306 Embryologie als Beweisstück 26 Eskalation 315 ff. Geologie als Beweisstück 25 Geschwindigkeit der Evolution (→ siehe auch Gradualismus) 39, 69 Gradualismus 66, 69 graduelle Evolution 116 konvergente Evolution 196 lamarckistische Evolution 288 Lücken in der Evolutionstheorie 69 f., 213 f., 219 Paläontologie als Beweisstück 28 Parallele zwischen biologischer und wissenschaftlicher Evolution 205 rudimentäre Organe als Beweisstück 27 treibende Kraft der Evolution 29 Unterschied zwischen biologischer und wissenschaftlicher Evolution 203 vergleichende Anatomie als Beweisstück 27 Zufall 21, 36, 38, 40 f., 46, 54, 61 f., 135, 137, 154, 182, 198 ff., 216 f., 288, 312, 316 ff., 319 ff., 323
PERSONEN- UND SACHREGISTER
Zusammenhang zwischen biologischer und kultureller Evolution 203 Evolutionsbiologie 13, 15 f., 35 ff., 38, 41, 60, 64, 97, 101, 135, 170, 176, 191 ff., 195, 205, 218, 227, 228, 231, 259, 269, 285, 310, 315 ff., 321, 324 Evolutionspsychologie 13, 48, 94, 96 f., 99, 108, 110 ff., 113, 259, 265 ff. Evolution der Hominiden 79 ff., 93 Evolution des Menschen → siehe sexuelle Selektion/natürliche Selektion Evolutionär stabile Strategie (ESS) 104, 239 f. Evolutionäre Epistemologie → siehe Erkenntnis Evolutionärer Algorithmus 40 ff., 172 f., 196 ff., 217 Evolutionärer Flaschenhals 60, 69 Evolutionäres Wettrüsten 51, 273 ff., 315 f. Evolutionäres Artkonzept 66 Evolutionäres Paradigma 13, 37, 170, 269 f. Exaptation 134 f. Experimentelle Evolution 215 Fa’apua’a Fa’amu 127 Fadenwurm 314 Falsifikationsprinzip 202, 205 Familie der Hominiden (Menschenartigen) 72 Faultier 28, 323 Faustkeil 109, 258, 267 Female choice 46, 250 Feminismus 124 Fisher, Ronald A. 35 f., 47 Fitness, biologische 40 f., 100 f., 164, 175, 177, 267 Fitness-Indikator 47, 250, 258, 260 Fitzroy, Robert 23 Flanagan, Owen 164 Fledermaus 27, 57, 158 f., 162, 196, 236 f., 243 Fleming, Alexander 274 Flockungstest 302 Flores-Mensch 82 f. Fodor, Jerry 108, 154 Fortschritt 305–325 adaptive Evolution 196, 198, 317 adaptive Verbesserung 315 als hierarchische Ordnung 57 ff., 310 als statistische Illusion 318 als Werturteil 313 Anthropozentrismus 249, 308, 310, 315 biologischer Chauvinismus 154 Conway Morris über Fortschritt 323 Darwin über Fortschritt 307 Dawkins über Fortschritt 315 f. Definition 313, 322
glücklicher Zufall, Entstehung des Menschen 317, 321, 323 Gould über Fortschritt 317 ff. Kontingenz der Evolution 317 Konvergenz 217, 321 ff. linearer Prozess 310 Massenaussterben 69, 313, 318, 321 Spencer über Fortschritt 286 ff. Stufenleiter der Natur 308 f. Vorherbestimmung 313, 321 Vorsehung 309 f. Wilson über Fortschritt 321 ff. Ziel der Evolution 308, 312 zielgerichtete Evolution 136, 223, 287 f., 312, 317 f. Zunahme der Biomasse 322 Zunahme der Diversität 319, 321 f. Zunahme der genetischen Information 314 Zunahme der Komplexität 22 Zunahme der Körpergröße 313 Fossilienlücke 78 Freeman, Derek 119, 125–129 Margaret Mead and Samoa / Liebe ohne Aggression 125 f. The fateful hoaxing of Margaret Mead 127 Freud, Sigmund 202, 227 Freie Marktwirtschaft 230 Freier Wille 107, 182 Frisch, Karl von 97, 139, 192 Fruchtbarkeitsritual 257 Fruchtwasseruntersuchung 302 Fußspuren von Laetoli 76 f., 81 Galapagos-Inseln 23 f., 28 ff., 56, 61, 65 Darwinfinken 24 f., 62, 65 geographische Trennung 24 f., 56, 61 Schnabelformen 24 f. Galilei, Galileo 18 Gallup 210 Galton, Francis 117, 297 ff., 302 Hereditary genius / Genie und Vererbung 298 Gangestad, Steven 261 Gardner, Allen 141 Gardner, Beatrice 141 Garten Eden 228 Gazelle 315 f. Gebärdensprache 134, 141, 144, 146 Geburtenbeschränkung 300 Gefangenendilemma 232 ff., 243 wiederholtes Gefangenendilemma 236– 239, 243 Gehirn 53 f., 68, 71 f., 74 f., 77 ff., 89 f., 91 f., 94, 96, 107 f., 110, 135, 137 f., 142 ff., 146 f., 149, 152 f., 154 f., 158– 161, 166, 170 f., 173, 176 ff., 181, 194 f., 200 f., 208, 218, 220, 226 f., 243, 251 ff., 259, 268, 314 f., 316, 324
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PERSONEN- UND SACHREGISTER
Gender 123 Genderforschung 123 Gendrift 36, 61, 69, 317 Genfluss 59, 61 ff. Generationszeit 69, 199, 273 Genesis 65, 211, 228 Genetische Verwandtschaft 101 Genetischer Determinismus 181 Genetischer Egoismus 102, 105 f. Genie 140 Genpool 46, 60, 87, 99, 171, 173 Genselektion 99, 178, 201 Geographische Isolation 61, 63, 186 Geozentrisches Weltbild 16 Gepard 315 f. Gerber, Eleanor 125 f., 128 Geschlechtsdimorphismus 44 f., 79 bei Australopithecinen 79 bei Homo habilis 79 Tierverhalten 45 Unterschied zwischen primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen 44 f. Gesellschaftsvertrag 229 → siehe auch Moral Gestaltwandel 178 Gibson, James 265 Giraffe 22, 182 Gleitbeutler 323 Gleithörnchen 322 f. Gottesbeweise 18, 209, 224 f. → siehe auch Religion Goldschmidt, Richard 67 f. hoffnungsvolle Monster 66 f. Goldschmidt, Tijs 63 Goodall, Jane 168 Gorilla 45, 51, 66, 74, 81 Gould, John 23 f. Gould, Stephen Jay 68 f., 112, 135 ff., 142 f., 149, 198, 209, 220 f., 265, 296, 317–323 Full house / Illusion Fortschritt 318 The mismeasure of man / Der falsch vermessene Mensch 296 Wonderful life / Zufall Mensch 318, 323 Gradualismus 66, 69 Grammer, Karl 261 Gray, Asa 209 Gründer-Effekt 61 Grüne Meerkatze 140 f. Gully, James 208 Gut-brain swap 92 Haeckel, Ernst 26 f., 58, 310 f. Haldane, John B. 35 f., 270 Hallucigenia 319 f., 323 Hamilton, William 99–104 The genetical evolution of social behaviour 100
Hardy, Alister 90 f. Hautfarbe 60, 116, 292 Hautflügler (Hymenoptera) 100, 102 → siehe Soziale Insekten Heerwagen, Judith 259 Heimlich-Manöver 137 Heliozentrisches Weltbild 18 Henslow, John 23, 26 Heraklit 286 Herrnstein, Richard J. 294–297 The Bell Curve: Intelligence and Class structure in American Life 294 ff. Herschel, John 55 Heterozygotie 271 ff. Himmler, Heinrich 299 Hobbes, Thomas 229 Hobbit 82 f. Höhlenbär 85 Höhlenmalereien 86, 145, 176, 257 f. Hoeven, Maria van der 209 Holmes, Lowell D. 125 f. Holozän 259, 280 Holt, Edward 120 Homeobox-Gene 68 Homer 132, 173, 252 ff. Hominiden 50, 71 f., 74 ff., 78 ff., 81, 83, 89 f., 93, 142 f., 147, 176, 260, 279, 313, 327 Homo (Gattung) 52 ff. Homo erectus 81 ff., 258, 267, 279 Homo floresiensis 82 Homogenität des menschlichen Erbguts 60 Homo habilis 89, 258 Homo heidelbergensis 83 Homologe Eigenschaften 27 Homo neanderthalensis 83 Homo sapiens 32, 52, 57, 60, 83, 85 f., 87, 109, 112, 116, 132, 162, 144 f., 148, 226, 279, 291, 310 Homozygotie 272 Hooker, Joseph 31, 209 Hox-Gene 68, 214 Hull, David 172, 181, 183 ff., 204 Humanismus 222, 304 Hume, David 113 f., 193 f., 252, 254 An enquiry concerning human understanding 113 Hutton, James 25 Huxley, Aldous 301 Brave new world / Schöne neue Welt 301 Huxley, Julian 37 Evolution, the modern synthesis 36 Huxley, Thomas H. 37, 301 Hybridisation 65 Hydrodynamik 196 Hypophyse 198
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Ichneumonidae 209 Immigration Restriction Act 297 Immunsystem 200 f., 212, 216 f., 260, 273 ff., 278, 283 als Darwinmaschine 200 Inclusive fitness 101 Induktionsproblem 190, 202, 205 Industrielle Revolution 286 Industriemelanismus 42 Infantizid 98 Influenza → siehe Medizin, Grippe 282 f. Inherit the wind / Wer den Wind sät 211 Instinkte 47, 95, 109, 136, 138 f., 162, 192, 229, 236, 243, 255, 260, 267, 290 Intelligent Design 199, 209, 212, 218 f. Intelligenz 11, 54, 91, 95 f., 108 f., 140, 146, 155, 161, 243, 269, 293 ff., 301, 318 Interaktor 181 Internet 172, 177 f., 181, 186 f. Invisible hand 230 Inzesttabu 110 IQ-Debatte 296 Isolationsmechanismen 63 f. in sympatrischen Populationen 63 f. jahreszeitliche oder umweltbedingte Isolation 63 f. postmating isolation 63 premating isolation 63 Java-Mensch 81 f. Johannes Paul II. 12, 209, 225 Johanson, Donald 74 ff. Jordan, Michael 293 Junk-DNA 186 Känguru 322 f. Kafka, Franz 254 Kalium-Argon-Datierung 71 Kambrische Explosion 214, 314, 319 Kambrium 214, 319 f., 321 Kant, Immanuel 189 f., 192 ff., 225, 251 ff. Kanzi 141 Kapitalismus 285, 287 f., 290 Kaplan, Stephen 259 Kasparow, Garri 155, 157 Katastrophismus 25, 215 Kategorische Aussagen 190 Kausalität 189, 193 ff. Kehlkopf 85, 137, 141, 143 f. Keimplasma 34, 289, 298 Kepler, Johannes 19 Kernfusion 204 Kette der Wesen 308 Kettenbrief 171, 178 Kin selection 101 ff., 105 f., 229, 236 → siehe Verwandtenselektion Kipling, Rudyard 112 Just so stories 112
Kissinger, Henry 239 Klassifikation 57, 66, 208, 310 Kluft zwischen Mensch und Tier 139, 142, 249, 255 Kloos, Peter 128 Kluger, Hans 167 Kluger-Hans-Effekt 168 Knöchelgänger 317 Koala 323 Ko-Evolution 109 Kohlenstoffdatierung 70 Kohlenstoff-14 70 Kohn, Marek 258 Kolonialismus 285, 290 f. Komplexes soziales Zusammenleben 91, 113 Konditionierung 118, 133, 152, 168, 242 Kontrollgene 12, 67 f., 214 Konvergente Evolution 27, 196 Kooning, Willem de 266 Kopernikus, Nikolaus 11 f., 16, 18, 220 Kopernikanische Revolution 12, 327 Kopernikanisches Weltbild 11, 12, 16, 18, 220 Kopffüßer 165 Kreationismus 212 f., 221, 282, 292 → siehe Religion Krebs 125, 204, 270 f., 280 f. Krieg 14, 29, 122, 229 Kriminalität 96, 296 Kristalle 224 Kritische Phase 140, 192 Kuckuck 52, 103 Künstliche Intelligenz 155 Künstliche Selektion 29, 39, 142, 257 Kuhn, Thomas S. 12, 335 inkommensurable Paradigmen 129 Kultur → siehe auch Meme 170 ff. als Determinante des Verhaltens 13 f., 47 f., 95 ff., 109, 119 Einfluss der Kultur 14, 92, 95, 109 f., 120, 127, 265, 289 Kultur an der Leine 109, 110, 113, 175 ff. Kultur als biologisches Phänomen 212 Kultur als Modelaune 180, 250 Kultur bei Menschenaffen 168, 175, 224, 248, 291 Kultur bei Tieren 95, 109 f., 163 f., 175 f. Kultur und erkennbare Replikationslinien 184 Kultur und horizontale Übertragung 184 Kultur und lamarckistische Evolution 22, 182 f., 287 f. Kultur und Soziobiologie 113, 198 kulturelle Evolution und Erblichkeit 118, 184 nicht-genetisches Medium 170 Werkzeuggebrauch bei Menschenaffen 175
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Zielgerichtetheit der kulturellen Evolution 183, 218 Kulturdeterminismus 8, 118 ff., 124, 127, 129, 302 Kulturanthropologie 119, 129 Kulturelle Evolution 109, 174, 175, 176, 178 f., 182 ff. Kultureller Big Bang 110 Kultureller Relativismus 119 f. Kumulative Selektion 197, 201, 217, 317 Kunst 15, 53, 132, 135, 145, 148, 164, 174, 176, 181, 221, 227, 247 ff., 266 f. Laissez-faire-Kapitalismus 287, 290 Lakatos, Imre 186 Lamarck, Jean-Baptiste de 21f., 29, 30 f., 182 f., 199, 287 ff., 305 f., 310 erworbene Eigenschaften sind erblich 21, 33, 182, 288 f. Giraffenhals 22, 192 Prinzip von Gebrauch und Nichtgebrauch 33 zielgerichtete Evolution 40, 136, 183, 203 f., 223, 287 f., 310, 312, 317 Langlois, Judith 261 Lascaux 86, 145, 257 Laubenvogel 249 f. Leakey, Louis 74 Leakey, Mary 76 f. Leakey, Meave 78 Leakey, Richard 78 Lebensborn 299 Leibniz, Gottfried von 224 Leica 195 Lenneberg, Eric 133 f., 140 Lenski, Richard 215 Lernmechanismen 192 Lewis, C.S. 305, 315 Evolutionary hymn 305 Lewontin, Richard 135, 198 Linné, Carl von 57 ff., 66, 71 binominale Methode 57 hierarchisches Klassifikationssystem 58 natura non facit saltus 66 taxonomische Kategorien 56, 70, 215, 319 Lobopodia 320 Löwenzahn 65 Logischer Positivismus 189 Lord Kelvin 26 Lorenz, Konrad 97 f., 192 ff. Lorrain, Claude 260 Vuitton, Louis 265 Lovejoy, Arthur O. 308 Great chain of being / Die große Kette der Wesen 308 f. Lucy 75 ff., 81 f. Lyell, Charles 26, 31, 215
Principles of geology 26 Lymphozyten 200 f. McDiarmid, Roy 214 Major Histocompatibility Complex 264 Makroevolution 68, 214 ff. Makromutation 35, 67 f., 312 Male contest 45 Malin génie 150 Malthus, Thomas 29, 287 Essay on the principle of population / Das Bevölkerungsgesetz 29 Mammut 85, 131 Margulis, Lynn 321 Martinez, Ignacio 144 Marx, Karl 94 f., 202, 227 Massenaussterben 69, 313, 318, 321, 324 Massentierhaltung 275 Mastodont 142 Maulesel 64 Maultier 64 Maynard Smith, John 101, 103, 237 Mayr, Ernst 66 ff., 107, 198 Animal species and evolution 63 Mead, Margaret 119 ff. Coming of age in Samoa / Kindheit und Jugend in Samoa 119 über Adoleszenz 119, 122 über (Homo-)Sexualität 123 über die Pubertätskrise 122, 126 Medawar, Peter 270 Medizin 278 ff. Abwehrmechanismen 273, 277 Aids 275 Alter 28, 49 f., 59, 70 f., 74, 78, 83, 121, 133, 200, 215, 260 ff., 265, 268 ff. Antibiotika 274 f. Arteriosklerose 271 aus evolutionärer Sicht 268 ff. Blutarmut 272 Cholera 271 darwinistische Medizin 268 ff. Demenz 166, 268, 270 f. Depression 123, 152, 158, 268, 276, 278 f. Diabetes 263, 270, 280 f. Diphtherie 271 Durchfall 270, 278 Epidemie 29, 276, 282, 313 Erbrechen 270, 278 Erektionsprobleme 268 Erkältung 277 evolutionärer Kompromiss 273 Fettleibigkeit 281 Fettsucht 271 Fieber 277 ff. Frigidität 123, 126, 268 Funktion der Krankheit 271 Gonorrhö 274
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Grippe 277, 282 f. Herzstörungen 271 HIV (Human Immunodeficiency Virus) 275 f. hoher Blutdruck 263, 281 Huntington-Krankheit 270 Husten 270, 277 Immunsystem 200 f., 212, 216 f., 260, 273 ff., 283 Infektion 270, 273, 276 ff. Influenza 282 f. Karies 281 Krebs 125, 204, 270 f., 280 ff., 292 Malaria 272 f., 277 f. maximale Lebensspanne 269 Pandemie 60, 276, 282 f. Parasiten 47, 104, 178, 261, 272, 274, 276 f., 282, 313 f., 316 Penizillin 274 Pest 160, 271, 286, 283 Pocken 271, 276 Rachitis 292 Schlafkrankheit 274 Schmerz 113, 154, 163, 166, 270, 272, 276 Sichelzellanämie 272 SIV (Simian Immunodeficiency Virus) 275 Syphilis 278 Tod 22, 31, 35, 69, 71, 110 f., 127 f., 148, 170, 195, 202, 208 f., 226, 268 f., 277, 281 f. Tuberkulose 274 ff., 282 Vogelgrippe 283 Warum wir krank werden 270 Wettrüsten 51, 273 ff., 315 ff. Windpocken 277 Zivilisationskrankheiten 279 ff Zuckerkrankheit 263, 270, 280 f. → siehe Diabetes Meme → siehe auch Kultur 170 ff. als Artefakte 185 als Körperfresser 178 als Replikator 170 ff., 177, 179, 180 f., 184 f., 186 f. Analogie zu Genen 171 f., 182 ansteckende Meme 282 Definition 185 egoistische Meme 179, 187 Gehirn als Vehikel für Meme 179, 181, 227 geistigen Viren 180, 201 irrationale Meme 182 Journal of Memetics 172 Kritik an der Memetik 172, 180 ff. Meme und Rationalität 180, 182 memetische Evolution 201, 355 memetische Fitness 179, 186 memetischer Determinismus 181 Memplex 178 f., 220
Mempool 171, 173 Populationsmemetik 186 Religion als Memplex 179, 220 Ursprung des Namens 171 Zölibat-Mem 177 Memetik 170 ff. Mendel, Gregor 32 ff., 97, 182, 187, 223, 289 Mendelisten 35 Menschenaffen 45, 51, 53, 60, 66, 71, 74, 77 f., 80, 91, 109, 141 ff., 147, 168, 175, 229, 244, 248, 275, 291 Menschenrassen 116 f., 290 ff. Menschliche Natur 109 ff., 113, 117 ff., 121, 123, 129, 132, 259, 265 Menschliches Genom 14, 97, 187, 200, 302, 314 Mentale Modulen 108 Metaphysik 190, 223, 225, 255 Meyer, Stephen 214 f. Michelangelo 221, 252 ff. Mickey Mouse 265 Mikroevolution 214 Miller, Geoffrey 53 f., 91, 258, 267 Milz 198 Mimik 114 ff., 129, 144, 167 Miss Germany 261 Missing link 28 Mistfliege 265 Mithen, Steven 85, 145, 258 The singing Neanderthal 85 Mitochondrien 38, 87 Moderne Synthese 35, 37 Modus des Lebens 317 f. Molekularbiologie 34, 38 f., 97, 161, 185, 223, 303 Molekulare Uhr 39 Moleschott, Jacobus 152 Møller, Anders 262 Mona Lisa 265 Monera 58 Monogame Arten 46 Monroe, Marilyn 263 Moral 12, 15, 210, 228 ff., 243, 245 f., 248 Altruismus 13, 100 ff., 113, 165, 229, 232, 235 f., 243 ff. bei Tieren 100 ff., 165, 229, 235 f., 244 f. biologische Ethik 303 f. biologische Wurzeln 47, 175 f., 228 Dankbarkeit 246, 248 Diebstahl 228, 244 Echo-Effekt 241 f. Egoismus 102, 105 ff., 112, 237, 244 f. Eifersucht 52, 245, 279 Emotionen 49, 51 f., 106 f., 111, 114 ff., 122, 129, 132, 209, 226, 236, 243 ff., 252 f., 259, 266, 279, 301
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Empathie 96, 165, 230, 245 Engagement 243 Entrüstung 32, 214, 229, 246, 248, 304 Gewaltspirale 241 Gewissen 123, 228 f., 244 Gruppeninteresse 244 Hass 96, 245 Konfliktbeherrschung 228 Konvention 124, 232, 319 Kooperation 104 ff., 108, 142, 228 ff., 234 ff., 239 ff., 244 f. Liebe 52, 106, 122, 127, 243, 245, 249, 324 Lust 163, 166, 243, 252, 254 f. Mitleid 147, 229 Mord 228, 244 Scham 229, 245 f. Schuld 105, 128, 180 f., 245 f. sozialer Instinkt 243 Sündenfall 228 Tribalismus 110 übernatürlicher Ursprung 228 Verbrüderung 245 Vergebung 245 Vergewaltigung 122, 126, 228, 244 Verrat 233 Wechselseitigkeit 104, 244 Wut 113, 229 Xenophobie 96, 245 Zivilisation 117, 120 f., 124, 229, 247, 259, 266, 291, 297 f. Morgan, Elaine 91 The aquatic ape / Kinder des Ozeans 91 Morgenstern, Oskar 230 Morris, Desmond 52, 72, 83, 97 Der nackte Affe 52 Moustérien-Kultur 85 Multiregionales Modell 87, 116 Murray, Charles 294 ff. The bell curve 294 ff. Mutationen 35 f., 38 f., 67 f., 87, 184, 199, 214, 240, 275 Mutualismus 105, 235 Nabokov, Vladimir 268 Nagel, Thomas 158 ff. Nativismus 133 f. Natürliche Selektion 12, 29 ff., 35 f., 40, 42, 44, 53, 54, 55 f., 62, 97 ff., 106, 135, 137 f., 146, 173, 191, 193 f., 198 f., 207, 212, 217, 227, 237, 268, 270 f., 280, 290, 297, 307, 312, 314, 317 Natural History Museum 23, 87 Naturalismus 190 f. Naturalistischer Fehlschluss 205 Nature/Nurture-Kontroverse 47, 95, 117, 132, 289
Naturtheologie 20 f. Naturzustand 229 f. Nazi-Deutschland 67, 292 Neandertaler 83 ff., 89, 144 f. Neodarwinismus 35, 37, 210, 214, 216 Nesse, Randolph M. 270 f., 273 f., 276 ff. Why we get sick / Warum wir krank werden 270 Nestflüchter 192 Nesthocker 192 Neumann, John von 230 Neuronen 200 New age 222 Newton, Isaac 10 f., 19 f. Nicht-Nullsummen-Spiele 231 Nietzsche, Friedrich 209, 255, 304 Nilbarsch 63 NitroMed 292 Noordman, Jan 300 f. Om de kwalität van het nageslacht 300 Nowak, Martin 241 f. O’Hear, Anthony 251 ff., 265 Beyond evolution 251 Ockham, William of 225 f. Ockhams Rasiermesser 225, 251 Ontogenie rekapituliert die Phylogenie 26 Onychophora 320 Orang-Utan 66, 71, 91, 146 Organismus als Black Box 152 f. Orians, Gordon 259 Orthogenese 43 Osten, Wilhelm von 167 Out of Africa-Szenario 81, 85, 87, 116 Owen, Richard 28 Paläanthropologie 70 f., 89 außerwissenschaftliche Faktoren 89 unterschiedliche Interpretation fossiler Überreste 81 f. Paläontologie 319 Paley, William 20 f., 213 Natural theology 20 Pan prior 78 Paradiesvogel 44 Paradigma 12 ff., 37, 129, 160 ff., 170, 269 f., 285, 328 evolutionäres Paradigma 13, 37, 176 Parallelle Evolution 323 Paranthropus 72 Parasiten 47, 104, 178, 261 f., 274, 276 f., 282, 313 f., 316 Parasitismus 102 ff. Parthenogenese 65 Pawlow (Computerprogramm) 242, 245 Pekingmensch 82 Pentadaktyles (fünffingriges) Schema 27, 216
PERSONEN- UND SACHREGISTER
Penton-Voak, Ian 262 Perm 318 Perret, David 261 Pfau 42 ff., 47, 53, 251, 256 Pfungst, Oskar 167 f. Phänotypische Plastizität 40 Pharmaindustrie 215, 274 Philosophie und empirische Wissenschaft 191, 205 f. Photosynthese 214, 310, 312, 322 Phyletische Evolution 56 Phylogenetische Verwandtschaft 70 Physik 13, 16, 19, 26, 189 f. Physikalismus 152, 154, 158 Physiognomik 23 Piltdown-Mensch 71 Pininfarina 247 Pinker, Steven 108 ff., 127, 136 ff., 142 f., 146, 258 The language instinct / Der Sprachinstinkt 136 Plantae 58 Platon 16 f., 148, 184, 188, 254 f., 301, 304 Demiurg 17 Der Staat 301 Plazenta-Säuger 57, 322 Pleiotropie 40, 271 Pleistozän 259, 266, 280 Polygame Arten 45 Polygenese 116 Polymorphismus 273 Popper, Karl 126, 190, 202 f., 205 Alles Leben ist Problemlösen 202 Populationsdynamik 59 Populationsgenetik 35, 56 Postmodernismus 191 Prägung 192 f. Prak, Jacob 300 Primaten 45, 50 ff., 54, 58, 71 f., 74, 91, 93, 105, 116, 137, 142, 145 ff., 165, 226, 243, 276, 313, 327 charakeristische Merkmale 45, 71 f. Proceedings of the Biological Society of Washington 213 Prokaryoten 58, 310, 314, 318, 321 Protosprache 139 f., 143 Proximate Erklärung 271 Pseudowissenschaft 13, 96, 119, 198, 202, 205, 213, 221, 265, 285 Psychoanalyse 202 Ptolemaios 17 f. Punctuated equilibrium 68, 143 → siehe Unterbrochenes Gleichgewicht Putnam, Hilary 154 Pythagoras 178 Quantenmechanik 189, 195 Quine, Willard Van Orman 191, 205 f.
random variation 40, 203 f., 217 Rankenfüßer (Cirripedia) 207 f. Rapoport, Anatol 238 f., 242 Rasse 29, 32, 60 f., 89, 116 f., 120, 265, 290 ff., 297 ff. als soziales Konstrukt 292 Anfälligkeit für Krankheiten 292 athletische Veranlagung 293 Intelligenz 294 f. körperliche Unterschiede 293, 299 psychologische Unterschiede 293 Rassenhass 96 Rassismus 285 Rationalismus 188 f., 192 f. Reiz-Reflex 152 f., 242 Rekapitulationstheorie 27, 310 Rezessive Eigenschaften 35, 61 Rekombination 36, 40, 199, 217, 289, 314 Reduktionismus 14, 111 Relativismus 191 Relativitätstheorie 189 Religion 207 ff. Affenprozess 211 Agnostizismus 208, 222 Animismus 222 Anti-Evolutionsgesetze 211 Atheismus 221 f., 223 Bible Belt 210 biologischer Ursprung und Funktion der Spiritualität 222, 226 f. christliche Lobby 211 f. christliche Werte 210 Creation Science 211 f., 221 Darwins Agnostizismus 208, 222 Deismus 221 f. Einflößung des Glaubens 208 Etwasismus 222 Evolutionstheorie als westliche Verirrung 210 Evolutionstheorie im amerikanischen Schulunterricht 211, 214 Fundamentalismus 221 f. Gerichtsverhandlungen über das Lehrprogramm 214 God spot 226 f. Gott der Lücken 213 Humanismus 222, 304 Inkompatibilität von Evolution und Religion 209, 219 Inquisition 19, 221 Intelligent Design 199, 209, 212, 218 f. Kampf gegen die Evolutionstheorie in den USA 210 f. Kreationismus 212 f., 221 Kreuzzüge 221 Leben nach dem Tod 226 letzte Fragen 225
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Lücken in der Evolutionstheorie 69, 89, 213 f., 219, 227 Magisteria 219 ff. Monotheismus 222 Muslime 34, 210 Neurotheologie 227 nichtreduzierbare Komplexität 212 f. NOMA 220 f. Pantheismus 222 Religion als geistiges Virus 179 f., 201, 219 Religion als kollektive Neurose 227 Religion als Kunst 221 Religion als natürliche Feind der Wissenschaft 220 Religion als Opium fürs Volk 227 Religion als soziales Bindemittel 226 f. Religions-Gen 226 religiöser Fanatismus 221 religiöser Obskurantismus 220 Staunen über das Sein 222, 227 Terrorismus 221 Theismus 221 f. Trennung von Kirche und Staat 209 Renaissance 18, 33, 124 Replikator 170 ff., 177, 179 f., 181, 184 ff. Reproduktion 40 f., 101, 106, 197, 203 Reproduktionsstrategien 110 Reproduktive Barrieren bei sympatrischer Artbildung 61, 63, 65 Reproduktive Isolatie 59, 64 f., 67 Ridley, Matt 243 ff. Riesenhirsch 42 ff. Rockefeller, John D. 287 Roebroeks, Wil 87, 89 Rose, Hilary 107, 265 Rose, Steven 107, 265 Ross, Clémence 303 Rosskäfer 265 Rote-Königin-Effekt 315 f. Rouffignac 257 Rousseau, Jean-Jacques 229 Rubens, Pieter Paul 263 Rudimentäre Organe 216 Ruse, Michael 209, 220 f. Rutgers, Jan 300 Rasverbetering und bewuste aantalsbeperking 300 Säugetiergehirn 166 Sahelanthropus tchadensis 78, 90 Saltationismus 66, 68 Samoa 119 ff. Sartre, Jean-Paul 109 Savage-Rumbaugh, Sue 141 Savannentheorie 90 f. Scala naturae 17, 59, 308 f. Sceptics Society 213
Schimpanse 12, 39, 50 f., 66, 75, 78, 92, 98, 141, 144, 168, 175, 229, 245 f. Schlüsselarten 32 Schlupfwespe 209 Schwarze-Eva-Hypothese 87 Skorpionsfliege 262 Schubert, Franz 178 Schwalbe 262 Scopes, John 211 Searle, John 156 Sedgwick, Adam 25, 306 Seepocken 207 Seidenlaubenvogel 250 Selbstmord 110, 122, 177 Selektionsdruck 40, 45, 50 f., 53, 55, 90, 147, 172, 177, 203, 217, 262, 273, 276, 316 Sexualität 49, 52, 110, 122, 133, 176, 257, 303 Sexuelle Fortpflanzung 40, 184 Sexuelle Selektion 15, 36, 38, 45 ff., 50 f., 53 f., 62 f., 64, 80 f., 91, 262 f. bei Tieren 45, 47, 62 ff. beim Menschen 46 ff., 53 ff., 80 f., 91 Ehebruch 51 f. emotionale Untreue 51 f Emotionen 49, 51 f., 106 f., 111, 114, 122, 129, 132, 209, 226, 236, 243 ff., 252 f., 259, 266, 279, 301 Geweih des Riesenhirsches 43 ff. male contest 45 Pfauenschwanz 44, 251, 258 sexuelle Untreue 52 sozialer Status 49 f., 110 Weibchenwahl (female choice) 46, 62 Seyfarth, Robert 140 Shakespeare, William 21, 41, 132, 217 Shermer, Michael 213 Sigmund, Karl 241 f. Simpson, George G. 36, 65 f. Singer, Peter 303 Singh, Devendra 263 Sinnesdaten 190 Sintflut 25, 28, 55 Skinner, B. F. 130, 133, 152 Sloterdijk, Peter 303 f. Smart, J. C. C. 153 Smith, Adam 230 Smith, John Maynard 101, 103, 237 Société de Linguistique 132 Solipsismus 151 Sozialbiologie 118 Sozialdarwinismus 13, 15, 22, 117, 198, 285 ff., 296 f., 299 Armut 14, 117, 288, 296 Autarkie 288 Darwins Einfluss 288 f. Evolutionsgesetze 286
PERSONEN- UND SACHREGISTER
Faulheit 288 freie Marktwirtschaft 230 Hartherzigkeit 296 Imperialismus 290 Kampf ums Dasein 29, 287, 307, 315 Kolonialismus 285, 290 f. Konkurrenz 45, 80, 125, 286 f., 290, 316 Laissez-faire-Kapitalismus 287, 290 Lamarcks Einfluss 22, 287 ff. minderwertige Rassen 116 f., 285, 290, 297 Mitleid 147, 229 Rassismus 285 Selektionsprozess 172 f., 288, 290 Sklaverei 290 f. soziale Evolution 147 survival of the fittest 22, 117, 202, 285 f., 290 Sympathie-Instinkt 290, 298 überlegene Rassen 120, 290, 300 Wettbewerb 22, 286 f., 289 f. Wirtschaft 290 Wohlstand 286 Soziale Insekten 99 ff., 103 Soziallamarckismus 289 Soziobiologie 13, 15, 48, 94 ff., 99, 107, 111 ff., 129, 189, 228, 265, 324 Speziation 56, 61 ff. Spektralanalyse 161 Spencer, Herbert 21 f., 117, 286 ff., 298 als Vater des Sozialdarwinismus 286 ff. Spermienkonkurrenz 51 Spieltheorie 105, 228, 230 ff., 237, 243 f. Spinoza 159, 222 Deus sive natura 222 Sprache 131 ff. Alarmschreie der grünen Meerkatze 140 als Adaptation 135, 137 f., 146 als Bogenfüllung 136 als Exaptation 134 f. als kulturelles Artefakt 131 als Nebenprodukt der Evolution 135 f., 138 als soziales „Schmiermittel“ 146 Alter 131 ff. bei unseren Vorfahren 131 f., 137, 142, 147 Bezugssystem 139 Bienensprache 139 Broca-Areal 138 Dialekte 134, 140 Einzigartigkeit der menschlichen Sprache 132, 138 f., 142 Gebärden- und Symbolsprache 134, 141, 144, 146 Generativität der Sprache 139, 141 Grammatik 134, 139, 141 kritische Phase 140
poverty of the stimulus 133 Protosprache 139 f., 143 semantisch „geschlossen“ 138 semantisch „offen“ 138 semantische Repräsentation 141 Singsprache 145 Sprachinstinkt 136, 138 Sprachmodul 134 f. Sprachstörung 138 Sprachverständnis bei Hunden 138 Sprachzentren im Gehirn 137 f., 144 universale Grammatik 134 Ursprung der menschlichen Sprache 131 ff. Vogelgesang 140 Wernicke-Zentrum 138 Zwischenstufen der Sprache 139, 142 Standardmodell der Sozialwissenschaften 48, 117 ff. Star Wars-Bar 93 Stasis 69 Steinmetz, S. R. 300 Steinwerkzeuge 53, 79, 81, 85, 92, 143, 258 Stimmbänder 137 Stone, Oliver 287 Stringer, Chris 87 Struggle for existence 29, 287 Struggle for life 32 Stummelfüßer 320 Stupid Design 216 ff. Sumner, William Graham 287 Survival of the fittest 22, 117, 202, 285 f., 290 Symbiose 105, 235 f., 321 Symmetrie 249, 260 ff. Sympatrische Artbildung 62 ff. Synapsen 160, 200 f. Tabula rasa 96, 118 f., 189, 192 Tacit knowledge 134 Taille-zu-Hüfte-Verhältnis 263 Tasmanischer Teufel 323 Tasmanischer Tiger 323 Taufliege (Drosophila) 36, 39, 58 f., 68, 314 Taung-Kind 73 f. Taxonomie 56 ff., 70 Telemann, Georg Philipp 266 Teleologie 17, 218 Teleonomie 218 Terrace, Herbert 141 The bell curve 294 ff. Thomas von Aquin 18 Thornhill, Randy 261 f. Thymus 198 Tiere als gefühllose Maschinen 163 Tierisches Bewusstsein 167 ff. Tierpsychologie 167 Tinbergen, Nikolaas 97, 99, 192
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PERSONEN- UND SACHREGISTER
Tooby, John 108 Toumaï 78 f., 90 Transmutation 25 f., 306 Trends in der menschlichen Evolution 89 ff. Bipedie 76 f., 89 f., 92, 143 Kommunikation 92, 109, 132, 138 ff., 143 ff., 146 f. veränderte Ernährung 81, 92 Zunahme des Hominidenhirns 50, 53, 75, 91 f., 243 soziales Zusammenleben 91 Treub, Hector 300 Trial and error 202 Tribalismus 110 Trivers, Robert 49, 104, 235 Turing, Alan 155 f. Turingtest 155 f. Überspezialisierung 316 Ulrich, Roger 259 UNESCO 292 Uniformitarismus 215 Universaler Darwinismus 172 f. Unterbrochenes Gleichgewicht 68, 143 Ursprung des Lebens 38, 223 Valen, Leigh van 315 Vampirfledermaus 236 Vandermassen, Griet 123 Van Gogh, Vincent 254 Venus von Willendorf 256, 258, 266 Vererbung erworbener Eigenschaften 288 f. Verhaltensdispositionen 193 Verhaltensprogramm 107 geschlossenes 107 offenes 107 Verhütungsmittel 49, 303 Verifikationsprinzip 190, 202 Verwandtenselektion 101 ff. Vielfraß 323 Vierfüßer 216, 219 Viktoriasee 61 ff., 216 Viren 180, 184, 200 f., 215, 273 ff., 282 ff. Vitalismus 38, 161 Vogelgesang 140, 176 Volonté générale 230 Voltaire 135, 198 Candide 135, 198 Vroon, Piet 166 Tranen van de krokodil / Drei Hirne im Kopf 166
VSR-Algorithmus → siehe Evolutionärer Algorithmus 41 Waal, Frans de 168, 175, 229, 243 ff. The ape and the sushi master / Der Affe und der Sushimeister 175 Wagner-Jauregg, Julius 278 Wal 27, 207, 216, 314 Walker, Alan 143 f. Wallace, Alfred Russel 31, 55 Warhol, Andy 265 Washoe 141 Wasseraffe 90 f. Watson, James 38, 161 Watson, John 118, 124, 152 Weber, Max 266 Wedekind, Claus 263 f. Wedgwood, Emma 30 Weismann, August 32 ff., 182, 289, 298 Weltgesundheitsorganisation (WHO) 282 Wernicke, Carl 138 Wesensmerkmale 55, 78, 289, 316, 321 Wheeler, Peter 92 Whiten, Andrew 147 Wijnaendts Francken, C. J. 300 Wilberforce, Samuel 32 Wilkinson, Gerald 236 Williams, George C. 99, 198, 270 f., 273 f., 276 ff., 280 f. Why we get sick / Warum wir krank werden 270 Wilson, Edward O. 48, 94 ff., 109 ff., 127 f., 175, 198, 228, 270, 321 f., 324 f., 327 f. Consilience / Die Einheit des Wissens 111 Sociobiology 94 The future of life / Die Zukunft des Lebens 324 Wolfskinder 140 Wolpoff, Milford 85, 87 Wright, Sewall 35 f. Xenophanes 223 Xenophobie 96, 245 Zentrales Dogma der Molekularbiologie 34 Zirbeldrüse 151, 198 Zukunft des Lebens 324 f.