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German Pages 336 [338] Year 2018
Maria Bühner / Maren Möhring (Hg.)
Europäische Geschlechtergeschichten
4 Geschichte Franz Steiner Verlag
Europäische Geschichte in Quellen und Essays
Maria Bühner / Maren Möhring (Hg.) Europäische Geschlechtergeschichten
europäische geschichte in quellen und essays herausgegeben von Martin Baumeister, Rom Ewald Frie, Tübingen Madeleine Herren, Basel Rüdiger Hohls, Berlin Konrad Jarausch, Chapel Hill Hartmut Kaelble, Berlin Gabriele Metzler, Berlin Matthias Middell, Leipzig Maren Möhring, Leipzig Alexander Nützenadel, Berlin Louis Pahlow, Frankfurt am Main Iris Schröder, Erfurt Hannes Siegrist, Leipzig Stefan Troebst, Leipzig Jakob Vogel, Paris Claudia Weber, Frankfurt/Oder Michael Wildt, Berlin
band 4
Maria Bühner / Maren Möhring (Hg.)
Europäische Geschlechtergeschichten
Franz Steiner Verlag
Umschlagabbildung: Still aus dem Film „Od 3 do 22“ (Regie: Krešimir Golik, 14 min, Jugoslawien 1966). Eigentum des Croatian State Archives, Croatian Film Photo Collection [HR-HDA-1392]. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2018 Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12138-5 (Print) ISBN 978-3-515-12146-0 (E-Book)
EUROPÄISCHE GESCHICHTE IN QUELLEN UND ESSAYS EDITORIAL Die Reihe Europäische Geschichte in Quellen und Essays behandelt die Geschichte Europas und der Europäer vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart anhand origineller Text- und Bilddokumente, die mithilfe eines begleitenden Forschungsessays in die historischen Zusammenhänge eingeordnet werden. Historiker und historisch arbeitende Sozial- und Kulturwissenschaftler zeigen, warum und in welcher Hinsicht die von ihnen untersuchten Ereignisse, Strukturen, Prozesse, Vorstellungen und Ausdrucksformen für den Verlauf der Geschichte Europas, das historische Bewusstsein der Europäer und die gegenwärtigen Herausforderungen bedeutsam sind. Die wechselvolle Geschichte der Konstruktion Europas, der Wandel der Selbst- und Fremdbilder der Europäer und schließlich der europäischen Integration wird in die Geschichte der sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Beziehungen und Entwicklungen eingebettet. Große Strukturen, fundamentale Konflikte, alltägliche Praktiken, subjektive Erfahrungen und kollektive Erinnerungen werden vergleichend, beziehungs- und verflechtungsgeschichtlich auf der lokalen, nationalen und internationalen Ebene analysiert. Zu den besonderen Anliegen der Reihe gehört es, die Spannung zwischen Tradition und Modernisierung und die damit einhergehende Dynamik der Verräumlichung sozialer, kultureller, wirtschaftlicher und politischer Ordnungen zu begreifen und die Interdependenz von Prozessen der Europäisierung, Nationalisierung und Globalisierung zu analysieren. Jeder Band vertieft und spezifiziert das Anliegen der Reihe anhand eines besonderen Themas, einer fundamentalen Problematik oder einer besonderen Zeit. Die Quellen und Essays für die Print- und E-Book-Ausgabe stammen teilweise aus dem „Themenportal Europäische Geschichte“ (www.europa.clio-online.de) von Clio-online. Der intellektuelle Mehrwert der Themenbände besteht darin, dass inhaltlich verwandte Quellen und Essays unter einem übergreifenden Gesichtspunkt integriert, aufeinander abgestimmt, durch eine themenzentrierte und problemorientierte historisch-kritische Einleitung der Herausgeber ergänzt werden. Die Reihe richtet sich insbesondere an Dozenten und Studierende der Geschichtswissenschaften sowie der historischen Fachrichtungen und Spezialgebiete in den Kultur-, Kunst-, Sozial-, Medien-, Staats- und Wirtschaftswissenschaften. Sie stimuliert und unterstützt die wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung über die Geschichte Europas, der Europäer und des Europäischen in historischen, kultur-, sozial- und rechtswissenschaftlichen Studiengängen und in den interdisziplinären Studiengängen der European und Area Studies.
INHALTSVERZEICHNIS Maria Bühner und Maren Möhring Einleitung ................................................................................................... 13 1. GESCHICHTE DES FEMINISMUS Gisela Bock Frauenrechte als Menschenrechte. Olympe de Gouges’ „Erklärung der Rechte der Frau und der Bürgerin“ .................................. 49 Quelle: Olympe de Gouges: Die Rechte der Frau (1791) ......................... 60 Ruth Nattermann Feministinnen in der europäischen Friedensbewegung. Die Association Internationale des Femmes (1868–1914) ....................... 67 Quelle: Marie Goegg: Offener Brief an Gualberta Alaide Beccari / Statut der Association Internationale des Femmes (1868) ........................ 78 Margareth Lanzinger „Wir antizipieren die Flügel, die wir einst haben werden“. Hedwig Dohms Ehekritik als Gesellschaftskritik und utopischer Entwurf ............ 81 Quelle: Hedwig Dohm: Über Ehescheidung und freie Liebe (1909) ........ 91 Belinda Davis Europe is a Peaceful Woman, America is a War-Mongering Man? The 1980s Peace Movement in NATO-Allied Europe .............................. 97 Quelle: Aufstehen für den Frieden! (1982) ............................................. 110 Maria Bühner „[W]ir haben einen Zustand zu analysieren, der uns zu Außenseitern macht“. Lesbischer Aktivismus in Ost-Berlin in den 1980er-Jahren....... 111 Quelle: Lesben in der Kirche: Informationspapier (1985/86) ................ 127
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2. FRAUENARBEIT INTERNATIONAL Relinde Meiwes Im Schatten des Kulturkampfes. Katholische Schwestern in Skandinavien ........................................................................................ 135 Quelle: Johanna (Eustachia) Boenke: Mehrjähriger Aufenthalt dreier Novizen in Helsingfors (1893) ...................................................... 143 Kirsten Heinsohn „Also, ich bin eine Deutsche nicht mehr, eine Engländerin werde ich nie sein.“ Erfahrungen und Deutungen einer emigrierten Wissenschaftlerin......................................................... 147 Quelle: Interview mit Eva G. Reichmann (1981) .................................... 157 Chiara Bonfiglioli A Working Day that has no End. The Double Burden in Socialist Yugoslavia .............................................................................................. 161 Quelle: Film „Od 3 do 22“ [From 3 to 22] (1966) ................................ 169 Christiane Mende Arbeiterinnenselbstverwaltung? Normalität und Aufbruch im Arbeitsalltag in der belegschaftseigenen Glashütte Süßmuth .................. 171 Quelle: Über Arbeit und Politik in der Re/Produktion. Die Arbeiterinnen der selbstverwalteten Glashütte Süßmuth im Gespräch mit Erasmus Schöfer (1973) .............................................. 181 3. MÄNNLICHKEITEN Felix Axster Männlichkeiten als Groteske. Koloniale (Un-)Ordnung auf Bildpostkarten um 1900 ..................................................................... 191 Quelle: Koloniale Bildpostkarten um 1900 ............................................. 207 Annelie Ramsbrock Das verlorene Geschlecht. Zur Kastration von Sexualstraftätern seit 1945 ....................................................................... 209 Quelle: Auszug des Gesetzentwurfs über die freiwillige Kastration und andere Behandlungsmethoden (1969) ........................... 221
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Gabriele Metzler „Denen mußte es mal gezeigt werden“. Antiterrorpolitik als Politik der Männlichkeiten ................................................................. 225 Quelle: Spiegel-Interview mit Bundeskanzler Helmut Schmidt (1975) ........................................................................... 231 Pablo Dominguez Andersen „Mein Name ist Ahmet Gündüz, lass mich erzählen euch“. Migration, Männlichkeit und die diasporischen Ursprünge von HipHop in Deutschland und Europa ........................................................ 235 Quelle: Liedtext „Ahmet Gündüz“ von Fresh Familee (1991) 4. KÖRPER UND SEXUALITÄTEN Judith Große „Schwarz-weiße Liebe“. Die (post-)koloniale „Mischehenfrage“ im deutschen Sexualreformdiskurs der Zwischenkriegszeit .................... 249 Quelle: „Schwarz-weiße Liebe“, Leserbriefe aus „Die Ehe“ (1929/1930) .......................................................................... 259 Stefan Offermann Die Verschränkung von Geschlecht und Dis/ability. Das Blickregime des Propagandaspielfilms „Ich klage an“ im Kontext der NS-„Euthanasie“ ............................................................. 263 Quelle: Film „Ich klage an“ (1941) ....................................................... 280 Franz X. Eder Sexualimages US-amerikanischer, französischer und schwedischer Frauen in österreichischen und westdeutschen Medien der 1950er- und 1960er-Jahre .................................................................. 285 Quelle: „Die Wahrheit über die Pin-up-Girls“ (1951) ........................... 296 Detlef Siegfried Rote Lippen soll man küssen. Deutungen europäischer Schönheitspraktiken um 1960 .................................................................. 299 Quelle: „Sieben-Länder-Untersuchung“ der Zeitschrift Reader’s Digest (1963) ........................................................................... 307
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Susanne Oesterreich „Längst kein Privileg der Männer mehr“? Die Frauenhose in der europäischen Mode am Beispiel der DDR (1949-1965) .......................... 309 Quelle: „Mode ist kein Zwang, sondern eine Erlaubnis“ (1964) ............ 318 Stefan Wiederkehr Frauensport und Männerwelt im Kalten Krieg ........................................ 321 Quelle: International Olympic Committee, Sex Control (1972) .............. 332 Autorinnen und Autoren ............................................................................... 335
ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abb. 1:
„Aufstehen für den Frieden!“ (1982) ....................................... 110
Abb. 2: Lesben in der Kirche: Informationspapier (1985/86) .............. 127 Abb. 3:
„Od 3 do 22“ (1966), Filmstills ............................................... 169
Abb. 4: Koloniale Bildpostkarten um 1900 „Zukunft’s-Bilder unserer Schutztruppe“ ................................ 207 Abb. 5: Koloniale Bildpostkarten um 1900 „Zukunftsbild der Infanterie“ ................................................... 207 Abb. 6: Koloniale Bildpostkarten um 1900 „Zukunfts-Bilder aus dem Frauenstaat“ ................................... 208 Abb. 7: Koloniale Bildpostkarten um 1900 „Zur Frauenbewegung“ ............................................................ 208 Abb. 8:
Auszug des Gesetzentwurfs über die freiwillige Kastration und andere Behandlungsmethoden (8. Januar 1969) ............... 221
Abb. 9:
„Ich klage an“ (1941), Filmstills .............................................. 280
Abb. 10: „Die Wahrheit über die Pin-up-Girls“, Cocktail (1951) .......... 296 Abb. 11: „Mode ist kein Zwang, sondern eine Erlaubnis“ (1964) ......... 318 Abb. 12: Der erste negative Geschlechtertest der Sportgeschichte im Blick des Karikaturisten Franco Barberis, Sport (1967) .......... 328
EINLEITUNG Maria Bühner und Maren Möhring Der Band „Europäische Geschlechtergeschichten“ arbeitet mit gender als Analysekategorie, um europäische Geschichte und Geschichtsschreibung (kritisch) zu befragen. Er konzentriert sich dabei auf die Geschichte der europäischen Neuzeit mit einem besonderen Schwerpunkt auf dem 20. Jahrhundert. Anhand der vier Themenfelder „Feminismus“, „Frauenarbeit“, „Männlichkeiten“ sowie „Körper und Sexualitäten“ sollen zum einen zentrale theoretische und methodische Weichenstellungen der Frauen- und Geschlechtergeschichte nachvollzogen und zum anderen die große Bandbreite an Themen und Perspektiven verdeutlicht werden, welche die Geschlechtergeschichte bietet. Ein besonderer Fokus der Beiträge liegt auf der quellenkritischen Analyse des Untersuchungsmaterials, dessen Spektrum von der „Erklärung der Rechte der Frau“ von Olympe de Gouge aus dem Jahre 1791 bis zum Rap-Song „Ahmet Gündüz“ von Fresh Familee aus dem Jahre 1990/91 reicht. Die Autor_innen1 des Bandes haben unterschiedliche Analyseperspektiven gewählt: In einigen Beiträgen werden Frauen als Akteurinnen sichtbar und ihre Lebenssituation und Handlungen stark gemacht, in anderen werden Geschlecht, Sexualität und Körper dekonstruiert und/oder in Bezug gesetzt zu anderen Kategorien wie race und dis/ability. In manchen Beiträgen geschieht beides gleichzeitig. Dieser Band versteht sich damit auch als ein Plädoyer für Methoden- und Perspektivenvielfalt, um die Entwicklung der europäischen Geschlechterordnung(en) der Neuzeit in ihrer Mannigfaltigkeit und auch Widersprüchlichkeit zu beleuchten. Der Titel „Europäische Geschlechtergeschichten“ verweist mithin auf die Spannung zwischen europäischen Gemeinsamkeiten bei den Geschlechterarrangements einerseits und den oft gravierenden lokalen, nationalen und regionalen Differenzen innerhalb Europas andererseits. Mit Karin Hausen plädieren wir für eine produktive „Nicht-Einheit von Geschichte“2 und damit für den Plural: europäische Geschlechtergeschichten. Nach einem Überblick über die Entstehung und die methodisch-theoretischen Entwicklungen auf dem Gebiet der Frauen- und Geschlechtergeschichte stellt diese Einleitung zentrale Aspekte europäischer Geschlechterordnungen der Neuzeit 1
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Um Platz zu lassen für mehr als zwei Geschlechter und darauf hinzuweisen, dass Geschlecht eine sozial und kulturell hervorgebrachte Kategorie ist, haben wir uns an verschiedenen Stellen dafür entschieden ein gender gap mit Unterstrich zu setzen. Den Autor_innen dieses Bandes stand es frei, wie sie geschlechtergerechte Sprache umsetzen. Hausen, Karin, Die Nicht-Einheit der Geschichte als Herausforderung. Zur historischen Relevanz und Anstößigkeit der Geschlechtergeschichte, in: Medick, Hans; Trepp, Anne-Charlott (Hgg.), Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Perspektiven, Göttingen 1998, S. 15–55, hier S. 35, 54–55.
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und die konstitutive Funktion heraus, die Geschlecht und Sexualität für eine Geschichte der europäischen Moderne zukommt. Im Anschluss werden Struktur und Inhalte des Bandes erläutert und die einzelnen Beiträge knapp zusammengefasst, bevor Hinweise zu dem bearbeiteten Quellenmaterial und einigen für die Frauenund Geschlechtergeschichte hilfreichen Archiven die Einführung abschließen. Von der Frauen- zur Geschlechtergeschichte? „Er reckte sich. Er erhob sich. Er stand vor uns in völliger Nacktheit. Und indessen die Trompeten ihr ‚Wahrheit! Wahrheit! Wahrheit!‛ schmettern, bleibt uns keine andere Wahl, als zu bekennen, daß er – ein Weib war. […] Orlando betrachtete sich von Kopf bis Fuß in einem hohen Spiegel, ohne sich irgendwie erstaunt oder bestürzt zu zeigen, und begab sich dann vermutlich ins Bad.“3
Virginia Woolfs großer Roman Orlando umspannt lustvoll eine Biografie des_der Adligen Orlando von über vier Jahrhunderten, in welcher der Übergang vom männlichem zum weiblichem Geschlecht eine Transformation neben anderen darstellt. Der Roman, insbesondere seine Hauptfigur, war inspiriert von Woolfs Geliebter Vita Sackville-West und ist so auch ein seltenes historisches Zeugnis lesbischen Begehrens.4 Der Wechsel vom vermeintlich einen zum vermeintlich anderen Geschlecht geschah in der europäischen Geschichte der Neuzeit selten mit so viel Leichtigkeit wie in diesen wenigen Zeilen. Die Zweigeschlechtlichkeit wurde stattdessen mit Hilfe von Wissenschaft und Medizin als natürlich und nicht hinterfragbar zementiert, Lust und Begehren wurden von den sogenannten Perversionen befreit und die heterosexuelle Ehe wurde zur zentralen Institution für die Organisation von sozialen Beziehungen, Sexualität, Geschlecht und Arbeit. Eben jene Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen, hat die Geschlechtergeschichte zu ihrem Ziel erklärt. Diese begreift die Kategorie Geschlecht als notwendig für die historische Gesellschaftsanalyse und macht sich zur Aufgabe, Geschlecht und Geschlechterverhältnisse gleichermaßen zu historisieren.5 Ihre Wurzeln liegen in der Frauengeschichte, die sich seit den 1960er- und 1970er-Jahren zunächst in den USA und wenig später auch in Europa im Kontext der zweiten Welle der Frauenbewegung, gesellschaftlicher Umbrüche und der Öffnung der Universitäten entwickelte.6 In den 1980er-Jahren setzte in der Bundesrepublik 3 4 5 6
Woolf, Virginia, Orlando. Eine Biographie, Leipzig 1983, S. 122. Vgl. Amrain, Susanne, So geheim und vertraut. Virginia Woolf und Vita Sackville-West, Frankfurt am Main 2006. Vgl. Hausen, Karin, Einleitung, in: dies., Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte, Göttingen 2012, S. 7–15, hier S. 7. Vgl. Heinsohn, Kirsten; Kemper, Claudia, Geschlechtergeschichte, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte 2012, URL: (10.09.2017). Historische Forschung von Frauen über Frauen hat es aber bereits zuvor gegeben: Vgl. Paletschek, Sylvia, Die Geschichte der Historikerinnen. Zum Verhältnis von Historiografiegeschichte und Geschlecht, in: Freiburger FrauenStudien, 20 (2007), S. 27–49. Zur geschlechterhistorischen Dimension der Historiografie(geschichte) siehe Epple, Angelika; Schaser, Angelika (Hgg.), Gendering Historiography. Beyond National Canons, Frankfurt am Main 2009.
Einleitung
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eine erste Phase der Institutionalisierung der Frauengeschichte ein.7 Eigene Strukturen wie der Arbeitskreis Historische Frauenforschung (1990) und Fachorgane wie L’Homme Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft (1990) wurden geschaffen.8 Während sich die Frauen- und spätere Geschlechtergeschichte in den USA bereits früh fest etablieren und institutionalisieren konnte, hat sie in der europäischen Geschichtswissenschaft eine weniger prominente Position inne und viele Forscher_innen auf diesem Gebiet arbeiten in prekären Verhältnissen.9 Zudem sind deutliche Unterschiede innerhalb Europas festzustellen: In den osteuropäischen Ländern konnten sich Frauen- und Geschlechtergeschichte (wie insgesamt die Gender Studies) als unabhängige Forschungsrichtungen erst nach 1989 etablieren und sind dort noch immer eher randständig.10 Auch in Westeuropa musste die Frauen- und Geschlechtergeschichte gegen zahlreiche Widerstände und Vorurteile ankämpfen – und ist dazu derzeit wieder gezwungen, stehen doch auch feministische Wissenschaften und Gender Studies im Fokus des rechten Backlashs.11 Den frauenbewegten Forscherinnen der 1970er- und 1980er-Jahre wurde vorgeworfen, sie könnten keine „objektive“ Geschichte schreiben und Quellen für eine solche Geschichte seien nicht vorhanden.12 Solche Vorwürfe standen in einem wissenschafts- und (damit) machtpolitischen Zusammenhang. So schreibt Karin Hausen im Rückblick, dass es bei den damaligen Reaktionen „zunächst weniger um die fachspezifischen Inhalte als um die Verteidigung disziplinärer und akademischer Hoheiten und Konventionen ging.“13 Neben der notwendigen und überfälligen Reflexion auf die Situiertheit von Forschung haben die Ergebnisse aus mittlerweile fünf Jahrzehnten Frauen7 8
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Das gilt auch für die Schweiz, wie Elisabeth Joris, Geschlechtergeschichte. Von der Spurensuche zur thematisch ausdifferenzierten Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse, in: traverse. Zeitschrift für Geschichte 18 (2011), S. 238–269, hier S. 240, darlegt. Das international wohl einflussreichste Organ der Geschlechtergeschichte, Gender & History, erschien erstmals 1989 und zeigt mit dem einleitenden programmatischen Aufsatz von Gisela Bock, wie eng die Frauen- und Geschlechterhistoriker_innen international zusammenarbeiteten. Vgl. Heinsohn; Kemper, Geschlechtergeschichte. Zur Position von Frauen in der deutschen Geschichtswissenschaft siehe Hagemann, Karen, Gleichberechtigt? Frauen in der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe 13 (2016), H. 1, URL: , Druckausgabe: S. 108–135. Zur Situation der Women’s (und Gender) Studies in Europa zu Beginn des neuen Jahrtausends siehe Griffin, Gabriela; Braidotti, Rosi (Hgg.), Thinking Differently. A Reader in European Women’s Studies, London, New York 2002. Vgl. Hark, Sabine; Villa, Paula-Irene (Hgg.), Anti-Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen, Bielefeld 2015. Zu den aktuellen Verschränkungen von Sexismus, aber auch Feminismus und Rassismus siehe dies., Unterscheiden und herrschen. Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart, Bielefeld 2017. Vgl. Angehrn, Céline, Nicht erledigt. Die Herausforderungen der Frauengeschichte und der Geschlechtergeschichte und die Geschichte des Feminismus, in: L’Homme. Z.F.G. 28 (2017), H. 1, S. 115–122, hier S. 118. Hausen, Einleitung, S. 8.
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und Geschlechtergeschichte14 die skeptischen Einwürfe entkräftet. Neue Quellenbestände wurden erschlossen, aber es konnte auch gezeigt werden, dass und wie sich bereits aufgearbeitetes Quellenmaterial neu lesen lässt. Das kritische Potential der Frauengeschichte bestand nicht zuletzt darin, gängige Dichotomien und Hierarchien in Frage zu stellen, wie Gisela Bock 1991 resümierte. So wurde die Natur/Kultur-Dichotomie, die geschlechtlich kodiert war (und ist), aufgebrochen, indem auch die Vorstellungen von Natur und Natürlichkeit als soziale und kulturelle Produkte ihrer Zeit sichtbar gemacht wurden. Im Zuge dessen wurden auch die vermeintlich natürlichen Eigenschaften von Mann und Frau und die (bürgerliche) Zuordnung von Frauen und Männern zur privaten respektive öffentlichen Sphäre hinterfragt.15 Mit der Problematisierung der Trennung von Öffentlichem und Privatem, von Natur und Kultur ging auch die Infragestellung des geschichtswissenschaftlichen Theorie- und Begriffsapparates und herkömmlicher Periodisierungen einher.16 Ihrem Anspruch nach wollte die Frauengeschichte gängige Annahmen der so genannten allgemeinen Geschichte von Grund auf revidieren. Die Dekonstruktion und Umformulierung herkömmlicher Konzeptualisierungen von Geschichte und gängiger Narrative konnte jedoch nur partiell umgesetzt werden; teilweise entwickelte sich die Frauengeschichte zu einem thematisch begrenzten und oft deskriptiven Teilgebiet der Geschichte, ohne deren Basisannahmen zu hinterfragen.17 Einen neuerlichen kritischen Impuls erhielt die Frauengeschichte durch das Konzept gender, welches zuerst 1976 von Natalie Zemon Davis in die Debatte eingeführt wurde.18 Breit rezipiert wurde es im Anschluss an Joan W. Scotts 1986 veröffentlichten Aufsatz „Gender: A Useful Category of Historical Analysis“, der zu einem Gründungsdokument der Geschlechtergeschichte wurde. Beeinflusst von poststrukturalistischen Theorien schlug Scott vor, gender als Kategorie zur Analyse von Herrschafts- und Machtbeziehungen, besonders mit Blick auf Geschlech14 Für eine der ersten epochenübergreifenden Gesamtdarstellungen siehe die fünfbändige „Geschichte der Frauen“, herausgegeben von George Duby und Michelle Perrot, deren italienische Originalausgabe 1990–92 unter dem Titel „Storia delle donne in occidente“ erschien. 15 Vgl. Bock, Gisela, Challenging Dichotomies. Perspectives on Women’s History, in: Offen, Karen; Pierson, Ruth; Rendall, Jane (Hgg.), Writing Women’s History. International Perspectives, Basingstoke u.a. 1991, S. 1–24, hier S. 1–7. Auf Deutsch erschienen in: Fragwürdige Dichotomien. Eine Herausforderung für die Geschlechtergeschichte, in: dies. (Hg.), Geschlechtergeschichte der Neuzeit. Ideen, Politik, Praxis, Göttingen 2014, S. 44–66. 16 Eifert, Christiane, Geschlechtergeschichte, in: Jordan, Stefan (Hg.), Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2002, S. 130–134, hier S. 132f.; Medick, Hans; Trepp, Anne-Charlott, Vorwort, in: dies. (Hgg.), Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Perspektiven, Göttingen 1998. Einschlägig zur Frage einer neuen Periodisierung: Kelly(-Gadol), Joan, Did women have a renaissance?, in: Women, History, and Theory. The Essays of Joan Kelly, Chicago, London 1984, S. 19–50. 17 So Opitz-Belakhal, Claudia, Gender in Transit – oder am Abgrund? Ein Diskussionsbeitrag zu Stand und Perspektiven der Geschlechtergeschichte, in: L’Homme. Z.F.G. 28 (2017), H. 1, S. 108–114, hier S. 108–109. 18 Vgl. Davis, Natalie Zemon, „Women’s History“ in Transition. The European Case Source, in: Feminist Studies 3 (1976), H. 4, S. 83–103.
Einleitung
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terverhältnisse, zu nutzen.19 Mit dieser Hinwendung zu Geschlecht als Strukturkategorie, durch die nicht mehr allein Frauen, sondern Geschlechterbeziehungen als zentrale Organisationsform von Gesellschaften in den Blick kamen, transformierte sich die Frauengeschichte nach und nach in Richtung Geschlechtergeschichte. Dieser Wandel zeigte sich auch auf der institutionellen Ebene. So änderte der Arbeitskreis Historische Frauenforschung 1998 seinen Namen in Historische Frauenund Geschlechterforschung, und 1999 entstand AIM Gender, ein Arbeitskreis für interdisziplinäre Männer- und Geschlechterforschung. Gender ist in Scotts Sinne eine analytische Kategorie, mit der sich nach der Produktion, Zirkulation und dem Wandel der Bedeutungen sexuierter20 Körper fragen lässt.21 Einen von der Geschlechter- und anderen sozialen Ordnungen losgelösten, gleichsam neutralen Zugang zu einer vor-diskursiven Materialität (des Körpers) gibt es nicht. Diese Einsicht hat besonders deutlich Judith Butler in den frühen 1990er-Jahren formuliert.22 Ihre Überlegungen wurden zu einem wichtigen Bezugspunkt der Queer Studies, die sich in den 1990er-Jahren etablierten und sich die Denaturalisierung des gesamten sex-gender-Systems, also der zweigeschlechtlichen und heterosexuellen Geschlechterordnung, auf die Fahnen schrieben und Körperlichkeit und Sexualität auch jenseits binärer Geschlechtermodelle und heterosexueller Szenarien in den Blick nahmen.23 Mit ihrer grundlegenden Kritik an einer – alle gesellschaftlichen Bereiche prägenden – Heteronormativität machten sie die enge Verknüpfung von Geschlechterordnung und Sexualität greifbar.24 Heteronormativität nach Butler meint die erzwungene Kohärenz von sex (dem körperlichen Geschlecht), gender (der Geschlechtsidentität) und Sexualität bzw. 19 „[G]ender is a constitutive element of social relationships based on perceived differences between the sexes, and gender is a primary way of signifying relations of power“ (Scott, Joan W., Gender: A Useful Category of Historical Analysis, in: American Historical Review 91 (1986), S. 1053–1075, hier S. 1067). Auf Deutsch erschienen als: Gender: Eine nützliche Kategorie der historischen Analyse, in: Kaiser, Nancy (Hg.), Selbst Bewusst. Frauen in den USA, Leipzig 1994, S. 27–75. 20 „Sexuierung“ bezeichnet den Vorgang, bei dem körperlichen Merkmalen und Phänomenen Bedeutung im Sinne geschlechtlicher Zuschreibungen gegeben wird. 21 “[I]t is gender that produces meanings for sex and sexual difference, not sex that determines the meanings of gender. If that is the case, then [...] not only is there no distinction between sex and gender, but gender is the key to sex.” (Scott, Joan W. Unanswered Questions (AHR Forum), in: American Historical Review 113 (2008), H. 5, S. 1422–1430, hier S. 1428). 22 Butler, Judith, Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, New York u.a. 1990 (dt. Das Unbehagen der Geschlechter. Aus dem Amerikanischen von Kathrina Menke, Frankfurt am Main 1991); Butler, Judith, Bodies that matter, New York 1993 (dt. Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin 1995). 23 Kraß, Andreas, Queer Studies – eine Einführung, in: ders. (Hg.), Queer Denken. Gegen die Ordnung der Sexualität (Queer Studies), Frankfurt am Main 2003, S. 7–28, hier S. 18. Siehe auch Engel, Antke, Geschlecht und Sexualität. Jenseits von Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität, in: Moebius, Stephan; Reckwitz, Andreas (Hgg.) Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, Frankfurt am Main 2008, S. 330–346. 24 Vgl. Claudia Opitz, Geschlechtergeschichte, Frankfurt am Main u.a. 2010, S. 25. Siehe auch: Griesebner, Andrea, Feministische Geschichtswissenschaft. Eine Einführung, Wien 22012, S. 171–180.
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Begehren, die auch in der feministischen Forschung oft unhinterfragt vorausgesetzt und nicht als exkludierende Matrix sichtbar gemacht worden ist.25 Butlers Thesen zur performativen Herstellung von Geschlecht und zur Materialisierung von Körpern waren gerade im deutschsprachigen Raum sehr umstritten. Unter der performativen Herstellung von Geschlecht versteht Butler die Wiederholung und Sedimentierung geschlechterdifferenter Körpernormen, mithin eine Verstofflichung „mit der Zeit“.26 Mit diesem Fokus auf Materialisierungsprozesse begegnete Butler in Körper von Gewicht dem Vorwurf, den Körper als reinen Diskurseffekt zu verstehen und seine Materialität außer Acht zu lassen. Eine solche Kritik an Butlers dekonstruktivistischem Ansatz übte etwa Barbara Duden, die ihr eine „Entkörperlichung“ (analog zu biotechnologischen Visualisierungen des Körpers) vorwarf, die den Leib und mit diesem letztlich auch die Frau als politisches Subjekt zum Verschwinden bringe.27 1987 hatte Duden mit ihrer historisch-somatologischen Studie über die Körpererfahrungen der Patientinnen eines Eisenacher Arztes um 1730 ein Grundlagenwerk der Körpergeschichte verfasst.28 Im Zuge der Auseinandersetzung mit Butlers Thesen kam es zu theoretisch ergiebigen Debatten über das Verhältnis von Diskurs und Erfahrung, die zur Erkenntnis führten, dass Erfahrungen (auch die der eigenen Körperlichkeit) immer diskursiv gerahmt sind.29 Die Frage nach der Relation von Diskurs und Materialität aber ist damit keineswegs beantwortet, wie die aktuellen Diskussionen um einen New Materialism zeigen.30 Gender jedenfalls erwies sich als ein integratives und einladendes Konzept, das auch Männlichkeiten und weitere Geschlechtsidentitäten einzubeziehen erlaubte. Zugleich aber läuft eine solchermaßen erweiterte Geschlechtergeschichte 25 Auf die teils gravierenden Unterschiede in der Art und Weise, wie „sex“ und „gender“ in verschiedenen europäischen Sprachen gefasst werden, hat Rosi Braidotti aufmerksam gemacht. Für sie ist die erfolgreiche Butler’sche Kritik des sex-gender-Systems nicht nur ein fruchtbarer Ansatz, sondern auch ein Zeichen für die Dominanz des Englischen und angloamerikanischer Konzepte (auch) in der feministischen Wissenschaft. Vgl. Braidotti, Rosi, The Uses and Abuses of the Sex/Gender Distinction in European Feminist Practices, in: Griffin, Gabriela; dies. (Hgg.), Thinking Differently, S. 285–310. 26 Butler, Körper von Gewicht, S. 21. Im Anschluss kann Jon McKenzie formulieren: „Norms become sedimented as [im Original hervorgehoben] (and not in) gendered bodies“ (McKenzie, Jon, Genre Trouble. (The) Butler Did It, in: Phelan, Peggy; Lane, Jill (Hgg.), The Ends of Performance, New York u.a. 1998, S. 217–235, hier S. 221). 27 Duden, Barbara, Die Frau ohne Unterleib. Zu Judith Butlers Entkörperung, in: Feministische Studien 11 (1993), H. 2, S. 24–33. 28 Vgl. Duden, Barbara, Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730, Stuttgart 1987. 29 Scott, Joan W., The Evidence of Experience, in: Critical Inquiry 17 (1991), H. 3, S. 773–797; Opitz, Geschlechtergeschichte, S. 18–22. Siehe auch Stoff, Heiko, Diskurse und Erfahrungen. Ein Rückblick auf die Körpergeschichte der 90er Jahre, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 14 (1999), H. 2, S. 142–160. 30 Barad, Karen, Posthumanist Performativity. Toward an Understanding of How Matter Comes to Matter, in: Signs 28 (2003), H. 3, S. 801–831. Neben der „agency“ der Materie spielen im New Materialism auch Re-Lektüren klassischer materialistischer Theorien und die verstärkte Einbeziehung geopolitischer (globaler) Ungleichheiten eine zentrale Rolle.
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Gefahr, ihren feministischen Impetus zu verlieren.31 Aus diesem Grund werden in jüngster Zeit eine Re-Politisierung von gender und eine Rückbindung der wissenschaftlichen Forschung an den feministischen Aktivismus eingefordert. Aktuell argumentieren einige Historikerinnen, statt die Entwicklung von der Frauen- zur Geschlechtergeschichte – wie es in Darstellungen zur Geschichte der Geschlechtergeschichte durchaus üblich ist – in Form eines Fortschrittsnarrativs hin zu einer progressiveren, da inklusiveren und weniger essentialistischen Form der Geschichtsschreibung zu präsentieren, für einen anderen Umgang mit der (eigenen) Geschichte. Céline Angehrn plädiert dafür, beide Perspektiven heuristisch als turns und somit als voneinander getrennte Perspektiven mit jeweils eigenem Potenzial zu begreifen. Sowohl bei der Frauen- als auch bei der Geschlechtergeschichte handele es sich um unerledigte und nicht abschließbare Projekte, da die jeweils aufgeworfenen Fragen und Problemstellungen weiterhin der Bearbeitung bedürften.32 Dieser Feststellung ist sicherlich zuzustimmen. Das Anliegen der Frauengeschichte, Frauen als handelnde und kritische Akteurinnen sichtbar zu machen, regt nach wie vor interessante Forschungen an, die sich etwa mit spezifischen Erfahrungen von Frauen befassen. Die Wertschätzung dieser Perspektive birgt die Möglichkeit, Traditionen nicht abbrechen zu lassen und erarbeitetes Wissen nicht zu verlieren. Eine solche Position vermittelt zwischen zwei Polen: auf der einen Seite eine radikale Dekonstruktion von Geschlecht im Anschluss an den queer turn, auf der anderen Seite eine Fortschreibung der Kategorie „Frau“. Damit stellt sich der Frauen- und Geschlechtergeschichte die schwierige Aufgabe „‚Frauenzentrierung‘ und ‚De-Essenzialisierung von Weiblichkeit‛“ zusammen zu denken.33 Im Anschluss an Karin Hausens Kritik an (der Suche nach) Meistererzählungen lässt sich für die „Nicht-Einheit von Geschichte“ und die „historische Konstruktion mehrsinniger Relevanzen“, Widersprüchlichkeiten und Vieldeutigkeiten plädieren – in der Frauen- und Geschlechtergeschichte, aber auch generell in der Geschichtswissenschaft.34
31 Dass „gender“ mitunter als „successful effacement of the discomforts associated with feminist critique“ fungiert hat, stellt Greta Olson, Gender as a Travelling Concept. A Feminist Perspective, in: Neumann, Birgit; Nünning, Ansgar (Hgg.), Travelling Concepts for the Study of Culture, Berlin u.a. 2012, S. 205–223, hier S. 205, heraus. Nicht nur die Geschlechtergeschichte, sondern auch die Gender Studies insgesamt lassen sich mithin nicht unbedingt als „feministisches Wissensprojekt“ verstehen, wie: Hark, Sabine, Dissidente Partizipation. Eine Diskursgeschichte des Feminismus, Frankfurt am Main 2005, S. 259, betont. 32 Vgl. Angehrn, Nicht erledigt, S. 117–122. Vgl. zum Verhältnis von Frauen- und Geschlechtergeschichte auch Bock, Gisela, „Multiple Stories“. Perspektivenwandel in der Frauen und Geschlechtergeschichte, in: dies. (Hg.), Geschlechtergeschichte der Neuzeit. Ideen, Politik, Praxis, Göttingen 2014, S. 7–18. 33 Hacker, Hanna, Erinnerungen an die Möglichkeit einer Historiografie lesbischer Frauen und die queere Notwendigkeit ihres Verlusts, in: L’Homme. Z.F.G. (2017), H. 1, S. 71–88, hier S. 77. 34 Hausen, Nicht-Einheit, S. 35, 54–55.
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Europäische Geschlechtergeschichten Die Verdienste der Frauen- und Geschlechtergeschichte für die europäische Geschichtswissenschaft sind mannigfaltig. Sie steuerte nicht nur neue Themen und Fragestellungen zu den etablierten Forschungsfeldern der Politik-, Kultur-, Gesellschafts-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte bei, sondern war auch maßgeblich am Wandel von einer sozialwissenschaftlich hin zu einer deutlicher kulturwissenschaftlich ausgerichteten Perspektive beteiligt. Fragen nach der agency, der Handlungsmacht historischer Akteur_innen, kamen verstärkt in den Blick. Der sogenannte Historikerinnenstreit zwischen Claudia Koonz und Gisela Bock um die Beteiligung von Frauen an den nationalsozialistischen Verbrechen etwa regte eine intensive Auseinandersetzung mit weiblicher Täterschaft (statt Opferrolle) an und trug damit Wesentliches zur Frage nach den Handlungsräumen während des Nationalsozialismus bei.35 Zu den von der Frauen- und Geschlechtergeschichte ausgehenden Impulsen für die Geschichtswissenschaft zählten von Anfang an die Ausdifferenzierung, Nuancierung, aber auch Infragestellung zentraler Begrifflichkeiten und Kategorien wie beispielsweise Nation, Bürgertum oder Arbeit, die fortan nicht mehr verwendet werden konnten, ohne über ihre geschlechtsspezifischen Implikationen und Kodierungen nachzudenken. Darüber hinaus wurden neue Themenfelder wie die Körper- und Sexualitätsgeschichte (mit-)erschlossen. Damit erweiterte die Frauen- und Geschlechtergeschichte letztlich die Definition des historisch Relevanten und machte deutlich, dass soziale Ordnungen immer auch Geschlechterund Körperordnungen sind. Die europäische Geschichte kann somit auf eine Auseinandersetzung mit den historisch-spezifischen Geschlechterordnungen in Europa nicht verzichten. Bestimmend für die europäischen Geschlechterordnungen der Moderne war und ist die Annahme (nur) zweier und zudem klar voneinander unterscheidbarer Geschlechter.36 In ihrem für die Frauengeschichte wegweisenden Aufsatz über die „Polarisierung der „Geschlechtercharaktere“ und die „Dissoziation von Erwerbsund Familienleben“ umriss Karin Hausen 1976 die Entstehung der bürgerlicheuropäischen binären Geschlechterordnung, die Männer und Frauen als grundsätzlich verschiedene, aber in ihren Eigenschaften komplementäre Wesen begriff.37 35 Bock, Gisela, Die Frauen und der Nationalsozialismus: Bemerkungen zu einem Buch von Claudia Koonz, in: Geschichte und Gesellschaft 15 (1989), S. 563–579; von Saldern, Adelheid, Victims or Perpetrators? Controversies about the Role of Women in the Nazi State, in: Crew, David (Hg.), Nazism and German Society. 1933–1945, London 1994, S. 141–165. 36 Zu dritten Geschlechtern in anderen Teilen der Welt siehe die politisch und persönlich inspirierte Studie Feinberg, Leslie, Transgender Warriors. Making History from Joan of Arc to Dennis Rodman, Boston 1996 sowie die knappen Hinweise bei Merry Wiesner-Hanks, Gender History and Global History. Borders and Intersections, in: L’Homme. Z.F.G. 23 (2012), H. 2, S. 79–85, hier S. 82. 37 Hausen, Karin, Die Polarisierung der „Geschlechtercharaktere“. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Conze, Werner (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, S. 363–393.
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Dabei wurden den beiden Geschlechtern jeweils bestimmte Eigenschaften zugeschrieben. Frauen wurden mit Passivität, Schwäche, Liebe, Hingabe und ähnlichen Attributen verknüpft und dem Privaten und Häuslichen zugeordnet. Aktivität, Stärke und Rationalität hingegen wurden Männern zugeschrieben, was sie wiederum für die öffentliche und politische Sphäre prädestinierte. Diese Polarisierung der sozialen Geschlechtscharaktere komplementierte Thomas Laqueur 1990 mit seiner These vom Wandel des (frühneuzeitlichen) one-sex model, das Frauenkörper als graduelle Abweichung vom männlichen Normkörper auffasste, hin zu einem (modernen) two-sex model, das von zwei biologisch fundamental unterschiedenen Körpern ausgeht, die Polarisierung also auch auf Ebene der Geschlechtskörper (sex) instituiert.38 Thomas Laqueur, Claudia Honegger und andere konnten zeigen, dass Differenzen zwischen den Geschlechtern in Europa seit dem 18. Jahrhundert verstärkt anthropologisiert, biologisiert und medikalisiert wurden und dass die entsprechenden lebenswissenschaftlichen Diskurse massiv von zeitgenössischen Geschlechterkonzeptionen strukturiert waren (und sind) und an deren Konstruktion mitwirk(t)en.39 Geschlechterordnungen sind immer auch Wissensordnungen und vice versa. Besondere Wirkmächtigkeit erlangten Biologisierung und Medikalisierung dadurch, dass sie die Unterordnung von Frauen und ihren Ausschluss aus bestimmten gesellschaftlichen Sphären als natürlich legitimierten – just zu einem Zeitpunkt, als die sich entwickelnden aufklärerischen Vorstellungen von der Freiheit und Gleichheit aller Menschen Geschlechter- und andere Hierarchien in Frage zu stellen erlaubten. Die Polarisierung und Naturalisierung der Geschlechterordnung lässt sich mithin als Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen und das historisch neue Gleichheitspostulat verstehen. Die Vehemenz, mit der an der Durchsetzung der binären Geschlechterordnung gearbeitet wurde, zeigt möglicherweise, wie prekär und legitimierungsbedürftig die Ungleichheit der Geschlechter gerade angesichts der zunehmenden Infragestellung der religiösen Ordnung geworden war.40 Die Naturalisierung der Zweigeschlechtlichkeit und die geschlechtsspezifische Kodierung des öffentlichen und privaten Raums flankierte die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, welche die Reproduktionsarbeit den Frauen überließ, die aufgrund ihrer mütterlichen Eigenschaften als für diesen Bereich prädestiniert 38 Laqueur, Thomas, Making Sex. Body and Gender from the Greeks to Freud, Cambridge Mass. 1990 (dt. Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt am Main u.a. 1992). Für eine kritische Auseinandersetzung und Präzisierung von Laqueurs Überlegungen siehe: Voß, Heinz-Jürgen, Making Sex Revisited. Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive, Bielefeld 2010. Grundlegend vgl. auch: Fausto-Sterling, Anne, Sexing the Body. Gender Politics and the Construction of Sexuality, New York 2000. 39 Honegger, Claudia, Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib. 1750–1850, Frankfurt am Main 1991. 40 Rang, Brita, Zur Geschichte des dualistischen Denkens über Mann und Frau. Kritische Anmerkungen zu den Thesen von Karin Hausen zur Herausbildung der Geschlechtscharaktere im 18. und 19. Jahrhundert, in: Dalhoff, Jutta (Hg.), Frauenmacht in der Geschichte – Beitr. d. Historikerinnentreffens 1985 zur Frauengeschichtsforschung (Studien Materialien zur Geschichtsdidaktik; 41), Düsseldorf 1986, S. 194–204, hier S. 198f.
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galten. Auch wenn das bürgerliche Familienmodell für breite soziale Schichten nicht die Realität darstellte, so spielte es als Norm doch eine bedeutende Rolle. Das zeigt sich nicht zuletzt in der zunehmenden Verbreitung der Kleinfamilie, die – wenn auch mit deutlichen regionalen Unterschieden – für das moderne Europa des 20. Jahrhunderts prägend werden sollte.41 Eine europäische Geschlechtergeschichte macht auch dann Sinn, wenn sie sich nicht mit Europa als Gegenstand befasst. Vielmehr geht es ihr um eine Auseinandersetzung mit dem „Geflecht von in Europa gelebten und von Europa aufgezwungenen Trennungen und Ausschlüssen in der Vergangenheit“42 bis in die Gegenwart. Dabei geraten nationale Divergenzen und Konkurrenzen innerhalb Europas – nicht zuletzt mit ihren jeweils unterschiedlichen Formen, Geschlecht und Nation zu verknüpfen43 – ebenso in den Blick wie Konvergenzen, insbesondere in der Abgrenzung von außereuropäischen Regionen. Denn gerade die Bezüge zu außereuropäischen und oft kolonialen Kontexten waren es, über die sich Europa konstituierte und stabilisierte. Nicht erst in jüngster Zeit dient die Annahme, die (west)europäische Geschlechterordnung sei der Inbegriff von Geschlechtergerechtigkeit und Fortschrittlichkeit, der Abwertung der (Geschlechter-) Verhältnisse in den als peripher geltenden europäischen wie den nicht-europäischen Regionen. Bereits im 18. Jahrhundert wurde die „zivilisierte Geschlechterordnung“ als europäisch markiert, und auch die Gegensatzpaare, die bemüht wurden, um Europa vom Rest der Welt abzugrenzen – etwa „Dynamik versus Stagnation, Kraftentfaltung versus Dekadenz“ – wurden über die binäre Geschlechterordnung artikuliert.44 Diese enge Verknüpfung von Kolonial- und Geschlechterordnungen, von „Rasse“, Geschlecht und Sexualität ist insbesondere von Vertreter_innen der postcolonial studies aufgearbeitet worden, deren Studien für intersektionale Perspektiven auf die Geschichte daher unverzichtbar sind.45 In die historischen und 41 Für einen Überblick über die Geschichte der Familie in Europa von der Antike bis zur Moderne siehe Gestrich, Andreas; Krause, Jens-Uwe; Mitterauer, Michael, Geschichte der Familie, Stuttgart 2003. 42 Passerini, Luisa, Ist eine europäische Frauengeschichte möglich? Beitrag zur Podiumsdiskussion am vierten nationalen Kongress der Società italiana delle storiche, in: Neuverortung Geschlechtergeschichte, URL: (13.11. 2017). 43 Blom, Ida; Hagemann, Karen; Hall, Catherine (Hgg.), Gendered Nations. Nationalisms and Gender Order in the Long Nineteenth Century, London u.a. 2000. 44 Frevert, Ute; Pernau, Margrit, Europa ist eine Frau. Jung und aus Kleinasien. Beitrag zum Themenschwerpunkt „Europäische Geschichte – Geschlechtergeschichte“. Themenportal Europäische Geschichte, URL: (13.11. 2017). Siehe auch Schröder, Iris, Europäische Geschichte – Geschlechtergeschichte. Einführende Überlegungen zu einer möglichen Wahlverwandtschaft. Beitrag zum Themenschwerpunkt „Europäische Geschichte – Geschlechtergeschichte“, in: Themenportal Europäische Geschichte, (24.08.2017). 45 Siehe exemplarisch: Stoler, Ann Laura, Race and the Education of Desire. Foucault’s History of Sexuality and the Colonial Order of Things, Durham 1995; McClintock, Anne, Imperial Leather. Race, Gender and Sexuality in the Colonial Contest, New York 1995. Zur theoretischen Debatte siehe auch: Spivak, Gayatri Chakravorty, A Critique of Post-Colonial Reason: Toward a History of the Vanishing Present, Cambridge u.a. 1999.
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gegenwärtigen Konstruktionen, Imaginationen und Wahrnehmungen von Europa sind demnach (immer auch rassifizierte und ethnisierte) Geschlechterdifferenz und Heteronormativität fest eingeschrieben. Nicht zuletzt darin, diese zu dekonstruieren, liegt das große Potential einer reflexiven europäischen Geschlechtergeschichte. Für die europäische Geschlechtergeschichte des 20. Jahrhunderts stellt das Jahr 1989 einen wichtigen Einschnitt dar. Denn nun galt es, die Frauen- und Geschlechtergeschichte der ehemaligen sozialistischen Länder in eine neu zu konzipierende europäische Geschichte zu integrieren, die sich nicht auf Westeuropa beschränkte und westeuropäische Entwicklungen nicht zur Norm erklärte.46 Dabei kamen unterschiedliche Wissenschaftskulturen und Wahrnehmungen Europas in Berührung miteinander. Ebenso gerieten im Zuge dieser Forschungen europäische Raumvorstellungen, allen voran die Grenzziehungen zwischen Ost und West und Nord und Süd, in Bewegung.47 Es wurde deutlich, dass die „(geografische) Verortung von Themen und Subjekten in der Historiografie“48, die ungleiche Machtverteilung innerhalb Europas und auch innerhalb der feministischen Wissenschaften in Europa zu reflektieren ist,49 um geopolitische Ungleichheiten nicht einfach zu reproduzieren. Eine solchermaßen kritische europäische Geschlechtergeschichte wird Europa nicht zur fraglosen „Schlüsselkategorie“ der Geschichtsschreibung machen, sondern Europa historisieren und – im Sinne eines europäischen Kommunikations-, Handlungs- und Erfahrungsraums – nach den vielfältigen Verflechtungen und wechselseitigen Wahrnehmungen innerhalb Europas, etwa zwischen Ost- und Westeuropa, sowie zwischen Europa und außereuropäischen Regionen fragen.50 Insbesondere die Migrationsforschung, komparatistische, inter- und transkulturelle Ansätze sowie nicht zuletzt die postcolonial studies haben dazu beigetragen, Europa in diesem mehrfachen Sinne zu de-zentrieren und es als eine (heterogene)
46 Vgl. Arni, Caroline et al. (Hgg.), L’Homme. Z.F.G., Post/Kommunismen 15 (2004), H. 1, S. 7. 47 Vgl. dazu auch: Kraft, Claudia, Die Geschlechtergeschichte Osteuropas als doppelte Herausforderung für die „allgemeine“ Geschichte, in: Themenportal Europäische Geschichte, URL: (08.08.2017). 48 Hacker, Erinnerungen, S. 75. Siehe auch Hüchtker, Dietlind, Rückständigkeit als Strategie oder Galizien als Zentrum europäischer Frauenpolitik, in: H-Soz-Kult, URL: (10.07.2017). 49 Vgl. Saurer, Edith; Hafner, Michaela; Gerhalter, Li, The Research Platform “Repositioning of Women’s and Gender History” at the University of Vienna, in: Genre & Histoire (2010), H. 1, URL: (03.07.2017). Passerini, Luisa; de Haan, Francisca; Sauer, Edith; Mitterauer, Michael, Ist eine europäische Frauengeschichte möglich?, in: salon 21. Forschungsplattform Neuverortung der Frauen- und Geschlechtergeschichte, URL: (03.07.2017). 50 Arndt, Agnes; Häberlein, Joachim; Reinecke, Christiane, Europäische Geschichtsschreibung zwischen Theorie und Praxis, in: dies. (Hgg.), Vergleichen, verflechten, verwirren? Europäische Geschichtsschreibung zwischen Theorie und Praxis, Göttingen 2011, S. 11–30, hier S. 26.
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Region innerhalb einer neu zu konzipierenden Globalgeschichte zu verstehen.51 Die Frage, was Europa ausmacht, bleibt eine offene Frage: „There is the question of what is specifically European, and, even more, how should that question be asked?“52 Darüber werden sich (nicht nur) Geschlechterhistoriker_innen auch in Zukunft weiter streiten. Zu diesem Band Die in diesem Band versammelten Beiträge verstehen Europa nicht als einen klar abgrenzbaren geografischen Raum oder Container, sondern, erstens, als transnationalen Kommunikations- und Handlungsraum, welcher sich durch eine Vielzahl von Verflechtungs- und Transferprozessen auszeichnet.53 Diese Prozesse fanden sowohl auf Makro- also auch auf der Meso- und Mikroebene statt. So werden im Rahmen dieses Bandes beispielsweise transnationale Lebensläufe untersucht, aber auch die Herausbildung von grenzüberschreitenden feministischen Netzwerken. Zweitens greifen die Beiträge Europa als „europäischen Erfahrungsraum“54 auf und versuchen sich an einer „Erfahrungsgeschichte Europas von unten“55, oft mit Hilfe von Ego-Dokumenten. Dabei zeigt sich das Potenzial von Mikrogeschichte, das Lokale im Kontext einer transnationalen europäischen Geschichte (neu) zu verorten.56 Diese Perspektiven lassen sich in dem dynamischen Konzept der Europäisierung zusammenführen, wie es Hartmut Kaelble und Martin Kirsch vorgeschlagen haben und das Europäisierung als Prozess der Transnationalisierung und zunehmenden Verflechtung begreift, in dem es zur Herausbildung politischer, kultureller, gesellschaftlicher, rechtlicher und wirtschaftlicher Konvergenzen zwischen europäischen Regionen und Staaten, aber auch zur Entstehung von diesbe51 Vgl. Chakrabarty, Dipesh, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton 2008; Stieglitz, Olaf, Martschukat, Jürgen (Hgg.), race & sex. Eine Geschichte der Neuzeit – 49 Schlüsseltexte aus vier Jahrhunderten neu gelesen, Berlin 2016. 52 Griffin, Gabriele; Braidotti, Rosi, Introduction: Configuring European Women’s Studies, in: dies. (Hgg.), Thinking Differently, S. 1–28, hier S. 27. 53 Vgl. Bauerkämper, Arnd, Wege zur europäischen Geschichte. Erträge und Perspektiven der vergleichs- u. transfergeschichtlichen Forschung, in: Arndt, Agnes; Häberlein, Joachim; Reinecke, Christiane (Hgg.), Vergleichen, verflechten, verwirren? Europäische Geschichtsschreibung zwischen Theorie und Praxis, Göttingen 2011, S. 33–60, hier S. 50; Chołuj, Bożena; Kraft, Claudia (Hgg.), L’Homme. Z.F.G. (2017), H. 1. 54 Kaelble, Hartmut, Europabewußtsein Gesellschaft und Geschichte. Forschungsstand und Forschungschancen, in: Hudemann, Rainer (Hg.), Europa im Blick der Historiker. Europäische Integration im 20 Jahrhundert. Bewusstsein und Institutionen (Historische Zeitschrift – Beihefte, N.F., Bd. 21), München u.a. 1995, S. 1–29, hier S. 14. 55 Mergel, Thomas, Transnationale Mobilität, Integration und Herkunftsbewusstsein. Migration und europäisches Selbstverständnis im 19. und 20. Jahrhundert, in: Kaelble, Hartmut; Kirsch, Martin (Hgg.), Selbstverständnis und Gesellschaft der Europäer. Aspekte der sozialen und kulturellen Europäisierung im späten 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2008, S. 251–297, hier S. 252. 56 Vgl. Preface, in: Regulska, Joanna; Smith, Bonnie G., Women and Gender in Postwar Europe. From Cold War to European Union, New York 2012, S. XI.
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züglichen Besonderheiten und Divergenzen kommt.57 Um diese festzustellen, sind komparatistische Perspektiven unerlässlich.58 Die Beiträge dieses Bandes stellen, nicht zuletzt auch aufgrund der Kürze der Texte, selten einen vollumfänglichen Vergleich an; sehr wohl aber erörtern die Autor_innen durch punktuelle Vergleiche oder die Betonung von transnationalen Transfers ihre Gegenstände innerhalb eines europäischen Kontextes. Der vorliegende Band gliedert sich in vier Sektionen: Feminismus (I), Frauenarbeit (II), Männlichkeiten (III) sowie Körper und Sexualitäten (IV). Dieser Aufbau reflektiert die skizzierten Entwicklungen der Frauen- und Geschlechtergeschichte in den vergangenen Jahrzehnten. Die erste Sektion nimmt mit der Geschichte des Feminismus Bezug auf eines der ersten und nach wie vor besonders produktiven Forschungsfelder der Frauen- und Geschlechtergeschichte, der es immer auch darum ging, die Kämpfe von Frauen um Gleichberechtigung aufzuarbeiten und damit auch das eigene – politische und wissenschaftliche – Engagement historisch zu situieren. In der zweiten Sektion kommt mit der Frauenarbeit ein zentrales Thema der Frauenbewegungen einerseits und der Frauen- und Geschlechterforschung andererseits zur Sprache. Insbesondere an der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und der ins Private verschobenen und damit unsichtbar gemachten Reproduktionsarbeit von Frauen entzündete sich die Debatte; deutlich wurde hier unter anderem die enge Verschränkung von Wirtschafts- und Geschlechterordnung.59 Die dritte Sektion widmet sich Männlichkeiten in der Geschichte. Sie verweist damit auf die notwendige Ergänzung und Erweiterung der Forschungen zu Frauen und Weiblichkeiten, die ab den 1990er-Jahren im Sinne der Relationalität von Geschlecht vermehrt Beachtung fanden. Männlichkeiten wurden nun ebenfalls als instabile und historisch variable Konzepte herausgearbeitet. In der letzten Sektion stehen mit Beispielen aus dem Feld der Körpergeschichte und der Geschichte der Sexualitäten diejenigen analytischen und thematischen Erweiterungen des Feldes im Zentrum, die besonders im Zuge der Auseinandersetzung mit den Queer Studies erfolgten.
57 Vgl. Kaelble, Hartmut; Kirsch, Martin, Einleitung: Zur Europäisierung des Selbstverständnisses und der Gesellschaft der Europäer im 19. und 20. Jahrhundert, in: dies. (Hgg.), Selbstverständnis und Gesellschaft der Europäer, S. 11–26. Vgl. zur Europäisierung auch: Kaelble, Hartmut, Europäisierung, in: Middell, Mathias (Hg.), Dimensionen der Kultur- und Gesellschaftsgeschichte. Festschrift für Hannes Siegrist zum 60. Geburtstag, Leipzig 2007, S. 73– 89. 58 Für geschlechterhistorisch inspirierte komparatistische Perspektiven auf Gesundheitspolitik und Wohlfahrtsstaat siehe: Lindner, Ulrike, Gesundheitspolitik in der Nachkriegszeit. Großbritannien und die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, München 2004; Kolbe, Wiebke, Elternschaft im Wohlfahrtsstaat. Schweden und die Bundesrepublik im Vergleich 1945-2000, Frankfurt am Main u.a. 2002. Zur produktiven Verbindung von Transfer und Vergleich siehe Middell, Matthias, Kulturtransfer, Transferts culturels, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte 2016, URL: (03.10.2017). 59 Bock, Gisela; Duden, Barbara, Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit. Zur Entstehung der Hausarbeit im Kapitalismus, in: Gruppe Berliner Dozentinnen (Hgg.), Frauen und Wissenschaft. Beiträge zur 1. Sommeruniversität für Frauen, Berlin 1977, S. 118–199.
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Die Anordnung der vier Sektionen verweist auf die historische Abfolge bestimmter thematischer Konjunkturen in der Frauen- und Geschlechtergeschichte, soll aber – nicht zuletzt im Sinne eines die eigenen Forschungstraditionen bewahrenden Ansatzes – keine Fortschrittsgeschichte signalisieren. Vielmehr verstehen wir die vier Bereiche als nach wie vor aktuelle, sich beständig weiter entwickelnde und für die Geschlechterforschung paradigmatische Felder, die mit ihren jeweiligen empirischen und theoretischen Reflexionen maßgeblich für die Frauen- und Geschlechtergeschichte waren und auch in Zukunft die Forschungslandschaft prägen werden. Sektion I: Feminismus Besonders anhand der Geschichte des Feminismus wird deutlich, wie wirkmächtig die Kategorie Geschlecht für die europäischen Gesellschaften war und welches Potenzial Geschlechtergeschichte als europäische Gesellschaftsgeschichte besitzt. In den Beiträgen begegnen uns Frauen als politische Akteurinnen, die sich intensiv für Frauenrechte einsetzten und sich an der Entwicklung neuer Geschlechterordnungen in Europa beteiligten.60 Oft kam es dabei zu grenzüberschreitender Zusammenarbeit. Doch machte der Nationalismus auch vor Teilen der Frauenbewegung keineswegs Halt, wie sich zeigen wird. Gisela Bocks Beitrag diskutiert mit der „Erklärung der Rechte der Frau“ von Olympe de Gouges im Kontext der Französischen Revolution ein Schlüsseldokument des europäischen feministischen und politischen Denkens. In ihrem programmatischen Essay analysiert sie die Konstitution des modernen staatsbürgerlichen Subjekts und den Ausschluss von Frauen aus diesem Prozess und damit aus der Sphäre des Politischen, gegen den sich de Gouges Intervention richtete. Dabei wirft Bock zentrale Fragen nach dem Verhältnis von Geschlecht und Politik, Gleichheit und Differenz auf. Es wird deutlich, dass die Kategorie „Frau“ von de Gouges bemüht wurde, um für diese staatsbürgerliche Rechte einfordern zu können. Gleichzeitig zeigt sich aber auch, dass sie mit ihrer Kritik am Ausschluss von Frauen, welche die „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ (1789) vornahmen, einen universalistischen Anspruch verfolgte. Fortan sollte der Kampf um die Anerkennung von Frauen als politische Subjekte und die Forderung nach deren (rechtlicher) Gleichstellung ein bestimmendes Thema für die sich entfaltenden europäischen feministischen Bewegungen bleiben – ein bis heute noch unabgeschlossenes und gefährdetes Projekt. Feministische Bewegungen sind nicht nur beeinflusst von Europäisierung und Globalisierung, sondern sind für eben diese Prozesse auch eine treibende Kraft.61 60 Vgl. dazu auch Bock, Gisela; Thane, Pat (Hgg.), Maternity and Gender Policies. Women and the Rise of the European Welfare States. 1880s–1950s, London 1991. 61 Janz, Oliver; Schönpflug, Daniel, Introduction, in: dies (Hgg.), Gender History in a Transnational Perspective. Networks, Biographies, Gender Orders, New York u.a. 2014, S. 1–24, hier S. 1.
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So bildeten sich bereits früh grenzüberschreitende feministische Netzwerke heraus. Im späten 19. Jahrhundert begannen die entstehenden nationalen Frauenbewegungen transnationale Netzwerke zu schaffen, nicht nur innerhalb Europas, sondern auch im engen Austausch mit der US-amerikanischen Frauenbewegung.62 Ruth Nattermann diskutiert in ihrem Beitrag die erste internationale Frauenvereinigung, die 1868 gegründete Association Internationale des Femmes (AIP). Der Essay nimmt einerseits das Gründungsstatut der AIP in den Blick, andererseits aber auch die (transnationalen) Biografien von drei wichtigen Protagonistinnen: Marie Goegg, Gualberta Alaide Beccari und Paolina Schiff. Die Friedensbewegung bot einen Raum für das politische Engagement von Frauen zu einer Zeit, als diese noch für ihr aktives und passives Wahlrecht kämpfen mussten. Dennoch war die Arbeit der Vereinigung nicht auf die Themen der Friedensbewegung beschränkt, sondern zielte auch auf die allgemeine Gleichberechtigung von Frauen als Staatsbürgerinnen und die Öffnung des Zugangs zu allen Berufen ab. In der AIP arbeiteten mehrheitlich bürgerliche Frauen aus der Schweiz, Frankreich, Italien und England zusammen. Die Organisation selbst war jedoch international vernetzt, unter anderem mit entsprechenden Gruppen in Frankreich, England, den USA und Russland. Doch nicht nur nationale, sondern auch religiöse, politische und soziale Unterschiede suchte die AIP zu überbrücken. Auch wenn sie am entflammenden Nationalismus angesichts des Ersten Weltkrieges letztlich scheiterte, so gab die Organisation doch wichtige Impulse für die weitere Entwicklung und Verflechtung europäischer Frauenbewegungen. Am Beispiel der AIP wird damit deutlich, dass Transnationalisierung und Europäisierung keine teleologischen, sondern umkämpfte und prekäre Prozesse sind. Margareth Lanzingers Essay beschäftigt sich mit den politischen Kontroversen um die Ehe am Beginn des 20. Jahrhunderts. Anhand der Ehekritik der bekannten und frauenbewegten Schriftstellerin und Publizistin Hedwig Dohm skizziert sie den Streit zwischen Kirche, Parteien und Strömungen der Frauenbewegung um die Zukunft der Institution Ehe.63 Hier wird einmal mehr das utopische Potenzial feministischer Kritiken und Politiken sichtbar, basierte Dohms Vision doch auf der Vorstellung von freier Liebe, welche zwischen Mann und Frau als gleichberechtigte Partner_innen bestehen sollte. Dohm setzte sich für die ökono62 Schlüsselwerke zur transnationalen Geschichte der (europäischen) Frauenbewegungen sind u.a. Paletschek, Sylvia; Pietrow-Ennker, Bianka (Hgg.), Women’s Emancipation Movements in the 19th Century. A European Perspective, Stanford 2004 und Offen, Karen, European Feminisms 1700–1950: A Political History, Stanford 2000; Bosch, Mineke et al. (Hgg.), Politics and Friendship: Letters from the International Woman Suffrage Alliance. 1902–1942, Columbus 1990; Rupp, Leila J., Worlds of Women. The Making of an International Women’s Movement, Princeton 1997; Offen, Karen (Hg), Globalizing Feminisms. 1789–1945, London 2010. Siehe auch: Gehmacher, Johanna, Vitorelli, Natascha (Hgg.), Wie Frauenbewegung geschrieben wird. Historiographie, Dokumentation, Stellungnahmen, Bibliographien, Wien 2009. 63 Zu den in den einzelnen Staaten und Regionen sehr unterschiedlichen Regulierungen von Liebe und Ehe durch Gesetze, Anstandsregeln oder kirchliche Verordnungen siehe: Sauer, Edith, Liebe und Arbeit. Geschlechterbeziehungen im 19. und 20. Jahrhundert, Wien 2014.
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mische Unabhängigkeit von Frauen, das Recht auf Scheidung und letztlich für eine fortgesetzte Suche nach der „richtigen“ Form der Vereinigung zweier Menschen ein. Diese Ideen besaßen politische Sprengkraft, stellten sie doch die bestehende Gesellschaftsordnung in Frage. Denn über die Ehe wurde die Benachteiligung von Frauen fest- und fortgeschrieben und die geschlechtsspezifische (bzw. geschlechtsdifferenzierende) Arbeitsteilung organisiert. Ehekritik war damit zugleich fundamentale Gesellschaftskritik. Lanzinger macht in ihrem Beitrag entsprechend deutlich, welche zentrale Rolle die „Frau-Familie-Einheit“64 für die Organisation moderner europäischer Gesellschaften spielt(e). Während Nattermann die frühe feministische Friedensbewegung in den Blick nimmt, widmet sich Belinda Davis der auch stark von Feministinnen getragenen Friedensbewegung in der Bundesrepublik Deutschland der 1980er-Jahre und ihrem Europabild.65 Unter dem Eindruck der angespannten außenpolitischen Situation nach dem NATO-Doppelbeschluss wurde das Bild von Europa als friedliebender Frau mit den aggressiven, männlichen USA kontrastiert. Wie Davis ausführt, hat das Bild von Europa als Frau eine lange Tradition mit jeweils historischspezifischen Konnotationen.66 Für die westdeutsche Friedensbewegung war es positiv besetzt und bot qua Selbstviktimisierung – das weibliche Europa als Opfer des männlichen Aggressors USA – einen vermeintlichen Ausweg nicht zuletzt auch aus der mit der Shoah verbundenen Schuld. Hier artikulierte sich zudem eine Abgrenzung von den USA, die sich in eine lange Tradition deutscher und europäischer Kulturkritik an Prozessen der Amerikanisierung einreihen lässt. Eine europäische Geschichte der Moderne ist ohne die Einbeziehung von USamerikanischen Kulturtransfers und der Leuchtkraft der Idee, dass die USA auf einzigartige Weise Modernität verkörper(te)n, nicht denkbar – dasselbe gilt aber auch für die oft vehemente Abwehr US-amerikanischer Einflüsse, die ebenso zur Konstitution dessen beitrugen, was unter Europa verstanden wurde.67 Davis’ Artikel bietet Einblicke in die Europavorstellungen der (west)europäischen Friedensbewegung nicht nur auf rhetorischer, sondern auch auf visueller Ebene und kontextualisiert diese mit Blick auf die transatlantischen Beziehungen. Die bewegten 1980er-Jahre stehen ebenfalls im Mittelpunkt von Maria Bühners Beitrag, der allerdings die andere Seite des nur vermeintlich undurchlässigen Eisernen Vorhangs fokussiert. Bühner macht deutlich, dass die Politisierung von Geschlecht und Sexualität als transnationale Prozesse verstanden werden müssen. Es kam im Kontext der Entstehung und Entwicklung der Homosexuellen- und Lesbenbewegungen in den 1970er- und 1980er-Jahren zu einer Vielzahl von Transfers zwischen „Ost“ und „West“, sei es in Form von (Brief-)Freundschaften, 64 Hausen, Nicht-Einheit, S. 47. 65 Weiterführend zur Neuen Frauenbewegung in Deutschland: Lenz, Ilse (Hg.), Die neue Frauenbewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Ausgewählte Quellen, aktualisierte Auflage, Wiesbaden 22010. 66 Vgl. zu entsprechenden Europavorstellungen auch: Frevert; Pernau, Europa ist eine Frau. 67 Vgl. Doering-Manteuffel, Anselm, Amerikanisierung und Westernisierung, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte 2011, URL (14.11.2017).
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geschmuggelten Büchern oder Treffen von Aktivist_innen. Ausgehend von der Analyse des Informationspapiers der Gruppe Lesben in der Kirche von 1985/86 skizziert Bühner die Politisierung lesbischer Sexualität und die sich entfaltenden Identitätspolitiken in der DDR. Sie begreift die Entstehung der Lesbenbewegung als Antwort auf die Marginalisierung, Pathologisierung und Diskriminierung von Lesben in den vorangegangenen Jahrzehnten. Doch beschränkten sich weder die Analyse noch die Kritik der Lesben in der Kirche auf diese Themen. Auch feministische und staatskritische Perspektiven informierten ihre Analyse und Arbeit. Mit der Thematisierung von lesbischem Feminismus verweist Bühner auf die zahlreichen Leerstellen der Feminismus-Sektion, welche die Vielfältigkeit feministischer Strömungen, Kämpfe und Themen nur andeuten kann. Jüdischer Feminismus, Schwarzer Feminismus, marxistischer, kommunistischer und sozialistischer Feminismus, Trans*feminismus und andere Feminismen sind nicht zuletzt auch als Reaktion darauf zu verstehen, dass meist westliche, weiße Akteurinnen aus der Mittelschicht andere Formen der Diskriminierung nicht wahr- und ernstnahmen und soziale Ungleichheiten nicht in ihrer Komplexität zum Gegenstand feministischer Kämpfe machten.68 Eine theoretische Antwort auf diese Situation stellt das Konzept der Intersektionalität dar, welches von women of colour entwickelt wurde und durch den wegweisenden Aufsatz „Mapping the Margins“ der afroamerikanischen Juristin Kimberlé Crenshaw weite Verbreitung gefunden hat.69 Intersektionalität verweist mit dem Bild der (Über)kreuzungen von Diskriminierungen auf ein dynamisches Verständnis von Machtverhältnissen und auf ein Interesse für die Effekte ihrer Überlappungen. Im Gegensatz zur verbreiteten Rezeption im deutschsprachigen Forschungsraum entsteht dabei nicht eine einfache Überschneidung statischer und separater Kategorien, sondern diese konstituieren und artikulieren sich wechselseitig. Intersektionalität macht die Komplexität und Diversität von Vergeschlechtlichungsprozessen im Verbund mit anderen sozialen Prozessen deutlich und bietet anspruchsvolle und bereichernde Analyseperspektiven für weitere Forschungen.70
68 Vgl. bspw. Oguntoye, Katharina; Ayim, May; Schultz, Dagmar (Hgg.), Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte, Berlin 1986; Piesche, Peggy (Hg.), Euer Schweigen schützt euch nicht. Audre Lorde und die Schwarze Frauenbewegung in Deutschland, Berlin 2012. Koyama, Emi, The Transfeminist Manifesto, in: Dicker, Rory; Piepmeier, Alison (Hgg.), Catching A Wave. Reclaiming Feminism for the 21st Century, Lebanon 2003, S. 244–259. Wenzel, Cornelia (Hg.), „Jüdisch-sein, Frau-sein, Bund-sein“. Der jüdische Frauenbund 1904-2004 (= Ariadne (2004), H. 45/46). 69 Vgl. Crenshaw, Kimberlé, Mapping the Margins. Intersectionality, Identity Politics, and Violence Against Women of Color, in: Stanford Law Review 43 (1991), H. 6, S. 1241–1299. 70 Vgl. Mackert, Nina; Crenshaw, Kimberlé: Mapping the Margins (1991). Oder: Die umkämpfte Kreuzung, in: Stieglitz, Olaf; Martschukat, Jürgen (Hgg.), race & sex. Eine Geschichte der Neuzeit – 49 Schlüsseltexte aus vier Jahrhunderten neu gelesen, Berlin 2016, S. 50–56, hier: S. 50.
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Sektion II: Frauenarbeit Die Organisation von Arbeit und die Geschlechterordnung sind eng miteinander verzahnt, wie sich in der (geschlechter)historischen Analyse zeigt. Formen geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung und die mit ihnen einhergehenden Zuschreibungen sozialer Wertigkeit lassen sich in allen bekannten Gesellschaften nachweisen.71 Die Vorstellung von Männer- und Frauenberufen bzw. -tätigkeiten ist demnach „als grundlegendes kulturelles Vehikel zu begreifen, welches überall und zu jeder Zeit die Regularien der Geschlechterordnung zur Anschauung bringt.“72 Kooperation und Konkurrenz der Geschlechter auf dem Gebiet der Arbeit prägten bereits die europäischen Gesellschaften in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit.73 Für die Veränderungen der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung im modernen Europa waren zwei Entwicklungen maßgeblich: die Industrialisierung und die Herausbildung eines bürgerlichen Familienmodells. Frauen übten in der Fabrik nur bestimmte Tätigkeiten aus, besaßen kaum Qualifizierungsmöglichkeiten und verdienten deutlich weniger. Mit der Lohnarbeit etablierte sich ein nachhaltiges Lohngefälle zwischen Frauen und Männern. Die bürgerliche geschlechtsspezifische Arbeitsteilung wiederum führte im 19. Jahrhundert nicht nur zur Aufspaltung in Produktion und Reproduktion, Öffentlichkeit und Privatheit, sondern konstituierte auch die entstehende Welt bürgerlicher Berufe entscheidend mit. Die Herausbildung der Professionen ab dem späten 18. Jahrhundert und die – rechtliche wie ideologische – Exklusion von (bürgerlichen) Frauen sind zwei miteinander verflochtene Prozesse, die ein wichtiges Moment europäischer Geschlechterordnungen der Neuzeit markieren. Die zaghafte Öffnung von Bildungsberufen für (bestimmte) Frauen während des späten 19. und im Laufe des 20. Jahrhunderts stellt eine wichtige, jedoch keineswegs geradlinige Entwicklung auf dem Gebiet der Arbeit dar.74 71 So Duden, Barbara; Hausen, Karin, Gesellschaftliche Arbeit – geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, in: Kuhn, Annette; Schneider, Gerhard (Hgg.), Frauen in der Geschichte, Bd. 1, Düsseldorf 1979, S. 11–34, hier S. 12. 72 Hausen, Einleitung, S.14. 73 Zur Herausbildung eines „Ehe- und Arbeitspaares“ in der Frühen Neuzeit, das gemeinsam den Haushalt leitete, siehe: Wunder, Heide, Er ist die Sonn’, sie ist der Mond. Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992, bes. Kap. III–V. 74 Vgl. Van Zee, Marynel Ryan, Women’s Way to the Professions – a European Perspective. Contribution to the web-feature „European history – gender history“, in: Themenportal Europäische Geschichte, URL: (14.11. 2017), S. 2. Zur europäischen Professionsgeschichte siehe auch: Siegrist, Hannes; Müller, Dietmar (Hgg.), Professionen, Eigentum und Staat. Europäische Entwicklungen im Vergleich. 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2014; Siegrist, Hannes, Advokat, Bürger und Staat. Sozialgeschichte der Rechtsanwälte in Deutschland, Italien und der Schweiz (18.– 20. Jh.), Frankfurt am Main 1996; Albisetti, James C., Deutsche Lehrerinnen im 19. Jahrhundert im internationalen Vergleich, in: Jacobi, Juliane (Hg.), Frauen zwischen Familie und Schule. Professionalisierungsstrategien bürgerlicher Frauen im internationalen Vergleich, Köln 1994, S. 28–53; Costas, Ilse, Das Verhältnis von Profession, Professionalisierung und Geschlecht in historisch vergleichender Perspektive, in: Wetterer, Angelika (Hg.), Profession
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Der Beruf der Lehrerin wurde als erster Bildungsberuf für Frauen geöffnet und ermöglichte diesen eine größere Unabhängigkeit und Mobilität.75 Relinde Meiwes Essay über die Erfahrungen einer kleinen Gruppe von katholischen Schwestern, die 1877 von Preußen nach Helsinki gingen, um dort als Lehrerinnen zu arbeiten, greift diese zunehmende Mobilität von Frauen auf. Im Kontext der von Meiwes untersuchten Frauenkongregationen entstand eine Gruppe hochmobiler Frauen, die sich zwar auf der einen Seite den strengen Ordensregeln zu unterwerfen hatten, aber auf der anderen Seite an der Gestaltung des katholischen transnationalen Milieus im 19. und frühen 20. Jahrhundert intensiv beteiligt waren. Ihre transnationalen Biografien, die Meiwes exemplarisch anhand eines Reiseberichts aufarbeitet, sind Ausdruck voranschreitender Verflechtungen innerhalb Europas. Doch waren Mobilität und Migration oft mit politischen und/oder wirtschaftlichen Zwängen verbunden: So war es den katholischen Schwestern aufgrund des Kulturkampfes nicht mehr möglich, in Preußen als Lehrerinnen zu arbeiten. Migration – auch erzwungene Migration – bildete demnach ein wichtiges Moment der Europäisierung.76 Meiwes Beispiel zeigt, welche wichtige Rolle Frauen dabei bereits im 19. Jahrhundert gespielt haben. Die bislang größten Migrationsbewegungen und Zwangswanderungen in Europa lösten die menschenverachtende nationalsozialistische Politik und der Zweite Weltkrieg aus.77 Im Zentrum der Verfolgung standen Jüdinnen und Juden. Kirsten Heinsohn thematisiert in ihrem Essay die Erfahrungen und Deutungen der jüdischen Soziologin Eva Reichmann, zum einen in Bezug auf ihre durch die antisemitische NS-Politik erzwungene Emigration nach Großbritannien und zum anderen auf die daraus resultierende (Un-)Möglichkeit, sich positiv auf das Nachkriegsdeutschland zu beziehen, das zu keiner Zeit ein Signal an emigrierte Juden und Jüdinnen aussprach, in ihr Herkunftsland zurückzukehren. In ihren wissenschaftlichen Arbeiten widmete sich Reichmann intensiv der Entstehung des deutschen Antisemitismus und der Verfolgung von Juden und Jüdinnen im Nationalsozialismus. Der Essay thematisiert darüber hinaus auch die wissenschaftliche Karriere einer jüdischen Frau in einem deutlich männlich dominierten Feld unter zum Teil schwierigen materiellen Bedingungen. In dem ausführlichen Interview mit Reichmann, welches die Quellengrundlage des Essays bildet, nehmen ihr Jüdisch-Sein und das problematische Verhältnis zum Deutsch-Sein eine wesentlich größere Rolle ein als ihr Geschlecht – ein geschlechterhistorisch relevanter Befund, der die Notwendigkeit einer intersektionalen Perspektive verdeutlicht. Der wesentlich größere Teil von Frauenarbeit jedoch fand nicht in der Wissenschaft oder anderen Professionen, sondern in Form von häuslicher Reproduktiund Geschlecht. Über die Marginalität von Frauen in hochqualifizierten Berufen, Frankfurt am Main 1992, S. 51–82; Huerkamp, Claudia, Bildungsbürgerinnen. Frauen im Studium und in akademischen Berufen. 1900–1945, Göttingen 1996. 75 Vgl. Van Zee, Women’s Way to the Professions, S. 3–4. 76 Vgl. Kaelble; Kirsch, Einleitung, S. 14. 77 Vgl. Oltmer, Jochen, Migration und Zwangswanderungen im Nationalsozialismus, in: Bundeszentrale für politische Bildung 2005, URL: (13.06.2017).
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onsarbeit, in der Industrie und Landwirtschaft statt. Eine Besonderheit der europäischen Gesellschaften der Moderne ist ihre starke Prägung durch Industriearbeit; mitunter über mehrere Jahrzehnte hinweg arbeitete der größte Teil der Beschäftigten im Industriesektor.78 Industriearbeit war in Europa oft Ausgangspunkt politischer und sozialer Kämpfe, wie sie die sozialistischen, kommunistischen und anarchistischen Arbeiter_innenbewegungen in unterschiedlichen Regionen Europas im 19. und 20. Jahrhundert ausfochten.79 Die Gleichberechtigung von Männern und Frauen gehörte vielfach zu den zentralen politischen Versprechen, die in den realsozialistischen Staaten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (zumindest rechtlich) schneller und umfassender umgesetzt wurden als in den westeuropäischen Ländern. Das galt neben dem Ehe- und Scheidungsrecht auch für das Recht auf Abtreibung sowie für die gleiche Bezahlung bei gleicher Arbeit. 1989 sollte sich zeigen, wie unterschiedlich Realität und Wahrnehmung weiblicher Erwerbsarbeit in Ost und West nach wie vor waren. Die außerhäusliche Erwerbsarbeit von Frauen hatte sich in weiten Teilen Osteuropas, nicht zuletzt aufgrund des Arbeitskräftemangels, nach dem Zweiten Weltkrieg zur Norm entwickelt. Sie spielte als ideologischer Streitpunkt während des Kalten Krieges vor allem in der Bundesrepublik und der DDR eine wichtige Rolle; die jeweilige Geschlechterordnung wurde in Ost- und Westdeutschland als Beweis für die Überlegenheit des jeweiligen Systems angeführt. Trotz aller Fortschritte bei der Gleichstellung von Frauen in den realsozialistischen Staaten lag jedoch auch dort die Hauptlast der Reproduktionsarbeit weiterhin bei den Frauen. Die schwierigen Arbeits- und Lebensbedingungen von Arbeiterinnen im sozialistischen Jugoslawien Mitte der 1960er-Jahre werden von Chiara Bonfiglioli diskutiert. Als Quelle dient ihr der dokumentarische Kurzfilm Od 3 do 10 des kroatischen Regisseurs Krešimir Golik. Damit rückt sie eine auch künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema Frauenarbeit und das Potenzial von bewegten Bildern als Quelle in den Blickpunkt.80 Neben der monotonen Arbeit in der Textilfabrik ist der Tag der Hauptfigur des Kurzfilms bestimmt durch die Reprodukti78 Vgl. Kaelble, Hartmut, Europäisches Selbstverständnis und gesellschaftliche Entwicklungen im 20. Jahrhundert, in: ders.; Kirsch, Martin (Hgg.), Selbstverständnis und Gesellschaft der Europäer, S. 421–447, hier S. 439–440. 79 Diese spezifische Konfliktgeschichte hängt nicht zuletzt mit den Besonderheiten der europäischen Klassengesellschaft zusammen, so Kaelble, Europabewußtsein, S. 14. Vgl. Boll, Friedhelm, Arbeitskämpfe und Gewerkschaften in Deutschland, England und Frankreich. Ihre Entwicklung vom 19.–20. Jahrhundert, Bonn 1992; Koller, Christian, Streikkultur. Performanzen und Diskurse des Arbeitskampfes im schweizerisch-österreichischen Vergleich (1860–1950), Wien u.a. 2009; Birke, Peter, Wilde Streiks im Wirtschaftswunder. Arbeitskämpfe, Gewerkschaften und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik und Dänemark, Frankfurt am Main u.a. 2007. Siehe auch die einschlägige Buchreihe „Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts“, darin auch Schmidt, Jürgen, Die deutsche Arbeiterbewegung zwischen Klassenkampf und Bürgergesellschaft, 1830–1870, Bonn 2018. 80 Vgl. zur künstlerischen Auseinandersetzung mit Arbeiterinnen im Sozialismus: Hock, Beáta, The female worker in words and pictures. Historical narratives and visual representations, in: L’Homme. Z.F.G. 28 (2017), H. 1, S. 33–49.
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onsarbeit – in Form von Kinderbetreuung, Essenseinkauf und -zubereitung, dem Waschen von Kleidung, dem Putzen und anderen Tätigkeiten. Wie Bonfiglioli herausarbeitet, zeigt der Film die Lebensrealitäten von Arbeiterinnen besonders im ländlichen Raum Jugoslawiens auf und macht deutlich, dass trotz der sozialistischen Politik, die auf die teilweise Auslagerung der Reproduktionsarbeit in öffentliche Einrichtungen wie Kantinen und Kindergärten abzielte, Frauen weiterhin hauptverantwortlich für diesen Bereich blieben. Ohne Frage ist Reproduktionsarbeit zentral für das Funktionieren von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen und verdient folglich mehr Aufmerksamkeit, auch in der historischen Forschung.81 Auch im Kontext von Arbeiter_innenkämpfen und politischen Experimenten spielte die Reproduktionsarbeit von Frauen eine wichtige Rolle. Christiane Mende thematisiert in ihrem Beitrag den Arbeitsalltag in der belegschaftseigenen Glashütte Süßmuth mit Blick auf die Situation von Industriearbeiterinnen. Der Betrieb wurde 1973 als erster in der Geschichte der Bundesrepublik von den Arbeiter_innen übernommen und fortan selbstverwaltet. Ihre zentrale Frage ist, welche Rolle Frauen in diesem Prozess spielten und wie ihre Arbeitsbedingungen sich gestalteten. Als Quelle dient ein Interview mit vier Arbeiterinnen, deren Ehemänner als Facharbeiter ebenfalls in dem Betrieb tätig waren. Die Frauen hatten im Vergleich zu den Männern die ungelernten und schlechter bezahlten Tätigkeiten inne. Dennoch zeigten sie ein großes Selbstbewusstsein gegenüber ihren männlichen Vorgesetzten. Dass sie sich nicht aktiv an den Protesten, der Betriebsübernahme und Selbstverwaltung beteiligten, ist nicht zuletzt auf die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung zurückzuführen. Die Arbeit der Frauen fand auf der „Hinterbühne“ der Selbstverwaltung statt. Sie waren nicht an der Organisation des Protestes oder in den neu gegründeten Gremien vertreten, sondern hielten den Männern den Rücken frei, indem sie (selbstverständlich) neben ihrer Lohnarbeit die häuslichen Reproduktionsarbeiten übernahmen und in der Kleinstadt Immenhausen bei der Bevölkerung für die Akzeptanz der Betriebsübernahme warben. Die Quelle ist insofern ein seltenes Zeugnis, als sie die Stimmen und Perspektiven von Arbeiterinnen dokumentiert. Gleichzeitig verweist sie auf eine weitere Leerstelle in der Überlieferung der Geschichte der Arbeit: Migrantische Arbeiterinnen, von denen
81 Silvia Federici, die ab 1972 bei der internationalen Kampagne „Wages for Housework“ aktiv war und zur akademischen Debatte um Reproduktionsarbeit viel beigetragen hat, schreibt retrospektiv: „Through my involvement in the women’s movement I realized that the reproduction of human beings is the foundation of every economic and political system, and that the immense amount of paid and unpaid domestic work done by women in the home is what keeps this world moving.“ (Federici, Silvia, Preface, in: dies., Revolution at Point Zero. Housework, Reproduction, and Feminist Struggle, Oakland 2012, S. 2.) Siehe auch Sachse, Carola, Der Hausarbeitstag. Gerechtigkeit und Gleichberechtigung in Ost und West 1939– 1994, Göttingen 2002. Aktuell sind besonders die Debatten um Care-Arbeit zu nennen. Siehe L’Homme. Z.F.G. 19 (2008), H. 1; Sich Sorgen – Care sowie den Forschungsverbund ForGenderCare, welcher das Verhältnis von Care und Gender theoretisch und empirisch bearbeitet, URL: (25.08.2017).
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es 1973 über 700.000 in der Bundesrepublik gab,82 werden auch in dieser Quelle nur am Rande erwähnt und kommen nicht selbst zu Wort. Stand im Fokus der (historischen) Forschung zur Arbeit lange Zeit die Erwerbsarbeit von Männern, so gelang es der Frauen- und Geschlechtergeschichte, diese Beschränkung in mehrfacher Hinsicht aufzubrechen.83 Nicht nur fand die außerhäusliche und bezahlte Arbeit von Frauen Beachtung; auch die zentrale Rolle der Reproduktionsarbeit für das Funktionieren von Gesellschaften wurde, wie gesagt, sichtbar gemacht. Mit Blick auf die intensiven Umwälzungen in der Organisation von Arbeit durch die Deindustrialisierung, die in Westeuropa ab den 1970er Jahren und in Osteuropa ab den 1990er-Jahren einsetzten, stellt sich eine Vielzahl von neuen Fragen für die geschlechterhistorische Forschung: Was bedeutet die zunehmende Flexibilisierung von Arbeit im Neoliberalismus für Frauenarbeit?84 In welchem Verhältnis steht diese zur Flexibilisierung von Geschlecht? Und was bedeutet die zunehmende Ökonomisierung von Reproduktionsarbeit und die Auslagerung an Frauen aus ärmeren Ländern? Sektion III: Männlichkeiten Im Zuge der Ausweitung bzw. Verschiebung der Frauen- hin zur Geschlechtergeschichte rückten seit den 1990er-Jahren auch vermehrt Männer als geschlechtlich markierte Akteure in den Blick der Forschung. Im Kontext der interdisziplinären Men’s Studies, die sich in den USA bereits in den 1970er- und 1980er-Jahren und nicht zuletzt in Reaktion auf Frauenbewegung und Frauenforschung an den Universitäten etabliert hatten85, wurden nun auch Männer und Männlichkeiten zum Gegenstand zunächst sozialwissenschaftlicher, bald aber auch historischer Forschung. Der Fokus liegt dabei nach wie vor auf der „machttheoretische[n] Analyse der Position von Männern im Geschlechterverhältnis“, um zum einen die systematische Unterdrückung von Frauen und zum anderen die „Dominanzverhältnisse unter Männern“ betrachten zu können.86 Mit dem einflussreichen Konzept der hegemonialen Männlichkeit, das Raewyn Connell in die Diskussion einge-
82 Vgl. Mattes, Monika, Zum Verhältnis von Migration und Geschlecht. Anwerbung und Beschäftigung von „Gastarbeiterinnen“ in der Bundesrepublik 1960 bis 1973, in: Motte, Jan; Ohliger, Rainer; von Oswald, Anne (Hgg.), 50 Jahre Bundesrepublik – 50 Jahre Einwanderung. Nachkriegsgeschichte als Migrationsgeschichte. Frankfurt am Main u.a. 1999, S. 285– 309, hier S. 307. 83 Einige herausragende Beiträge zur Geschichte von Frauenarbeit sind: Hausen, Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte; Sachse, Hausarbeitstag; Canning, Kathleen, Languages of Labor and Gender. Female Factory Work in Germany. 1850–1914, Ann Arbor 2002; Frader, Laura L.; Rose, Sonya O. (Hgg.), Gender and Class in Modern Europe, Ithaca 1996. 84 Vgl. Lenz, Ilse; Evertz, Sabine; Ressel, Saida (Hgg.), Geschlecht im flexibilisierten Kapitalismus? Neue UnGleichheiten, Wiesbaden 2017. 85 Vgl. Franziska Schößler, Einführung in die Gender Studies, Berlin 2008, S. 135. 86 Martschukat, Jürgen, Stieglitz, Olaf, „Es ist ein Junge!“. Einführung in die Geschichte der Männlichkeiten in der Neuzeit, Tübingen 2005, S. 54.
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bracht hat87, lassen sich die dominanten Entwürfe von Männlichkeit in einer Gesellschaft untersuchen, die als Norm nicht nur über die Abgrenzung von Weiblichkeit, sondern auch von anderen, z.B. ökonomisch oder sexuell marginalisierten Männlichkeiten – und damit mehrfach relational – instituiert werden. Eine solchermaßen verstandene Geschichte der Männlichkeiten muss sich nicht notwendigerweise für konkrete männliche Akteure in der Geschichte, sondern kann sich auch für Prozesse des gendering interessieren, durch die bestimmte Verhaltensweisen, Denkmuster, Konzepte oder Institutionen männlich kodiert werden.88 Die Beiträge des Bandes greifen beide Dimensionen einer Geschichte der Männlichkeiten auf, indem sie sowohl konkrete Akteure und ihre Identitätskonstruktionen, insbesondere in Relation zu hegemonialen Männlichkeitsmustern, in den Blick nehmen als auch nach den geschlechtlichen Kodierungen gesellschaftlicher Prozesse und Institutionen fragen. Felix Axster befasst sich am Beispiel parodistischer Bildpostkarten mit den Verschränkungen von Geschlechterordnung und kolonialer Ordnung. Seine Analyse der auf den Postkarten dargestellten „verkehrten Welten“, nämlich eines zukünftigen „Frauenstaates“, der sowohl für das Deutsche Kaiserreich als auch für Deutsch-Südwestafrika imaginiert wird und in dem Frauen männlich kodierte Tätigkeiten und Institutionen übernehmen (und Männer Reproduktionsarbeiten), macht deutlich, wie der Bilderwitz normative Geschlechter- und Kolonialordnungen durch Ridikülisierung der „verkehrten Welten“ bestätigt. Zugleich aber verweisen derartige Bilderwitze immer auch auf Denormalisierungsängste, welche die Brüchigkeit vermeintlich fixer „Rassen“und Geschlechtergrenzen zu erkennen geben. Historisch sind die untersuchten Bildpostkarten als antifeministische Reaktion auf die (in Sektion I dieses Bandes erörterten) Forderungen der Frauenbewegung zu lesen.89 Bedroht ist die hegemoniale weiße Männlichkeit aber nicht nur von sich emanzipierenden Frauen, sondern auch von einem „rassischen Herabsinken“ der Kolonisatoren, das sich gemäß zeitgenössischer Degenerationsängste durch „Mischehen“ mit Schwarzen Frauen einstellte und immer auch einen Verlust männlicher Autorität implizierte. „Rassen“- und Geschlechtergrenzen werden hier in ihrer konstitutiven Verschränkung und ihrer – nur in dieser Verflechtung zu verstehenden – Bedeutung für das koloniale Unternehmen sichtbar, und zwar in Kolonie wie Metropole.90 Sie verbinden sich zudem in der expliziten Sexualisierung der kolonialen Verhältnisse: Sexuelle Beziehungen zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten spielten nicht nur für das Alltagsleben in den Kolonien, sondern auch auf symbolischer Ebene eine zentrale 87 Connell, Robert W., Gender and Power. Society, the Person and Sexual Politics, Cambridge 1987; ders., Masculinities, Cambridge 1995 (Dt. Connell, Raewyn: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Wiesbaden (42015). 88 Vgl. Martschukat; Stieglitz, „Es ist ein Junge!“, S. 74. 89 Zum Antifeminismus um 1900 siehe Bruns, Claudia, Politik des Eros. Der Männerbund in Wissenschaft, Politik und Jugendkultur 1880–1934. Köln u.a. 2008. 90 Sehr instruktiv zur Verwobenheit der Grenzen Europas mit Geschlechter- und „Rassen“Grenzen: Bruns, Claudia, Europas Grenzdiskurse seit der Antike. Interrelationen zwischen kartographischem Raum, mythologischer Figur und europäischer „Identität“, in: Gehler, Michael; Pudlat, Andreas (Hgg.), Grenzen in Europa, Hildesheim 2009, S. 17–64.
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Rolle, wurde die koloniale Expansion doch insgesamt als männliches und (heterosexuell) erotisiertes Unternehmen begriffen, wie Axster in seiner detaillierten Lektüre der Bildquellen darlegt. Mit dem komplexen Verhältnis von Männlichkeit und Sexualität befasst sich auch der Beitrag von Annelie Ramsbrock, der eine Form „delinquenter“ Männlichkeit in den Blick nimmt, nämlich „den“ Sexualstraftäter. Im Mittelpunkt ihrer Analyse steht das 1969 erlassene und 2010 vom Europäischen Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe kritisierte „Gesetz über die freiwillige Kastration“, welches die Option einer Orchiektomie durch einen Arzt vorsieht, wenn dieser Eingriff in die körperliche Unversehrtheit therapeutischen Nutzen für den Patienten verspricht. Erhellend für die geschlechterhistorische Forschung ist in diesem Zusammenhang nicht zuletzt das von Ramsbrock explizierte Verhältnis von Geschlechtsorgan und Geschlechtsidentität, wie es in den sexualwissenschaftlichen und psychiatrischjuristischen Diskursen der 1950er- und 1960er-Jahre konzeptualisiert wurde. Welche Bedeutung hatten die Geschlechtsorgane respektive ihre Entfernung für die Konstruktion männlicher Identität? In Ramsbrocks Analyse werden damit historisch-spezifische Artikulationen von sex und gender in ihrem Zusammenwirken greifbar, die der theoretischen Diskussion im Anschluss an Butler eine historisierende Perspektive hinzufügen.91 Hegemoniale Männlichkeit in der Bundesrepublik der 1970er-Jahre steht im Zentrum von Gabriele Metzlers Beitrag über die Antiterrorpolitik der Bundesregierung, die sie am Beispiel eines Spiegel-Interviews mit Bundeskanzler Helmut Schmidt vom April 1975, kurz nach dem Ende der von der RAF durchgeführten Geiselnahme in der Stockholmer Botschaft, analysiert. Eine geschlechtergeschichtliche Perspektive ist hier nicht nur deshalb angezeigt, weil es sich bei den Akteuren der Antiterrorpolitik – in den Krisenstäben wie in der medialen Öffentlichkeit – ausnahmslos um Männer handelte, sondern auch, weil die verwendete, oft martialische Sprache sowie der an den Tag gelegte soldatische Habitus in der Terrorbekämpfung klar männlich kodiert waren. Angst durfte und konnte nicht artikuliert werden. Metzler gelingt es, diese Form hegemonialer Männlichkeit zum einen über den Rückgriff auf ältere Erfahrungen zu erklären, hatte doch ein nicht unerheblicher Teil der Antiterror-Experten noch als Soldat am Zweiten Weltkrieg teilgenommen. Zum anderen aber setzt sie die kühle und soldatische Männlichkeit in Beziehung zu den neuen, alternativen Männlichkeitsentwürfen, wie sie im Zuge der soziokulturellen Transformationsprozesse der 1960er- und 1970er-Jahre entstanden sind. Sie verweist damit auf die Dynamik der Geschlechterverhältnisse, die nicht nur die Beziehungen zwischen Männern und Frauen verändert, sondern auch unterschiedliche Konzepte von Männlichkeit hervorbringt, 91 Zur Hinterfragung der kulturell zugeschriebenen Bedeutung von Genitalien in queerer Kunst siehe Hoenes, Josch, Das kulturelle Gewicht der Genitalien. Streifzüge durch die TransGenital Landscapes Del LaGrace Volcanos, in: Paul, Barbara; Tietz, Lüder (Hgg.), Queer as … Kritische Heteronormativitätsforschung aus interdisziplinärer Perspektive, Bielefeld 2016, S. 103–125.
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die sich nur in Relation zueinander angemessen betrachten (und historisieren) lassen. Was jeweils als hegemoniale oder marginale Männlichkeit (und Weiblichkeit) gilt, ist demnach umstritten und in steter Veränderung begriffen. Gerade die zeithistorische Forschung hat in dieser Hinsicht noch großen Nachholbedarf.92 Mit marginalisierter Männlichkeit in der Bundesrepublik befasst sich der Beitrag von Pablo Dominguez Andersen, der den deutschsprachigen Rap-Song „Ahmet Gündüz“ von Fresh Familee aus dem Jahre 1991 auf migrantische Männlichkeitsentwürfe und ihr Verhältnis zur hegemonialen deutschen/weißen Norm hin analysiert. Er greift damit zum einen das bereits in den ersten beiden Sektionen dieses Bandes thematisierte Moment der Transnationalität und Migration auf. Zum anderen wird der Fokus auf (Frauen-)Arbeit in Sektion II hier um die Dimension der so genannten Gastarbeit erweitert, wenn der Rapper Tahir Cevik alias Tachi in die Rolle des aus der Türkei angeworbenen Arbeiters Ahmet Gündüz schlüpft, um dessen von schwierigen Arbeits- und Lebensbedingungen sowie Diskriminierungserfahrungen geprägte Migrationsgeschichte zu erzählen. Dominguez’ Analyse macht deutlich, dass zwar viel (und stereotyp) über migrantische Männer gesprochen und geschrieben wurde, die Möglichkeiten zur medialen und kulturellen Selbstrepräsentation aber sehr beschränkt waren (und sind). Europäischer Hip-Hop wird als Produkt einer transnationalen migrantischen Jugendkultur und als Sprachrohr eines zugleich politischen wie kulturellen Aktivismus sichtbar, der sich gegen den rassistischen (und zunehmend anti-muslimischen) Ausschluss von Minderheiten richtet und damit immer auch kritisch hinterfragt, wer als deutsch und europäisch gilt und wem diese Zugehörigkeit verwehrt wird.93 HipHop als Jugendkultur und Medium der Selbstrepräsentation allerdings wird nicht zu Unrecht vorgeworfen, dass hier einseitig und klischeehaft männliche Härte und Potenz beschworen würden. Dominguez argumentiert hier mit Connell, dass es oft gerade marginalisierte Männer seien, die zu einer (der Norm nicht entsprechenden, als übertrieben wahrgenommenen) Zurschaustellung männlich kodierter Verhaltensweisen neigten und dass sich diese Männlichkeitsentwürfe entsprechend nur unter Einbeziehung sozialer, ökonomischer und rassistischer Ausschließungen – und damit in ihrer intersektionalen Verschränkung mit Klasse und „Rasse“ – verstehen lassen. Was die vier Beiträge zur Geschichte der Männlichkeiten eint, ist – neben der Bezugnahme auf Connells Konzept hegemonialer Männlichkeit – die zentrale 92 Vgl. Wolff, Kerstin; Silies, Eva-Maria; Paulus, Julia (Hgg.), Zeitgeschichte als Geschlechtergeschichte. Neue Perspektiven auf die Bundesrepublik, Frankfurt am Main 2012. 93 Für die europäische Geschichtsschreibung gilt es, die anglo-amerikanischen Debatten um Whiteness an den europäischen Kontext anzupassen, weil Rassifizierungen hier oft weniger über die Dichotomie von Schwarz und „weiß“ denn über (vermeintliche) religiös-kulturelle oder ethnische Differenzen erfolgen. Nach Gabriele Griffin und Rosi Braidotti müssten die in Europa wirkmächtigen Diversitäten innerhalb einer als „weiß“ geltenden Gruppe stärker in den Blick genommen werden; sie verweisen in diesem Zusammenhang insbesondere auf den eliminatorischen Antisemitismus im Nationalsozialismus. Vgl. Griffin, Gabriele; Braidotti, Rosi, Whiteness and European Situatedness, in: dies. (Hgg.), Thinking Differently, S. 221– 236.
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Rolle, die dem Körper und Sexualität(en) bei der Definition und Praxis von „Mannsein“ zukommt. Der von „Degeneration“ bedrohte Körper des weißen Kolonisators um 1900, der kastrierte Körper des Sexualstraftäters am Ende der 1960er-Jahre, der soldatische Habitus der Männer in der Antiterrorpolitik der 1970er-Jahre bis hin zum abgewerteten migrantischen Männerkörper machen deutlich, dass Männlichkeiten ohne je spezifische Konzepte von Körperlichkeit nicht denkbar sind. Sektion IV: Körper und Sexualitäten Im deutschsprachigen Raum setzte in den 1990er-Jahren eine intensivere Beschäftigung mit Körpern und Sexualitäten ein, die meist stark von Michel Foucaults Arbeiten zur Geschichte der Disziplinarmacht einerseits und der Sexualität andererseits geprägt waren. Entsprechend wurde Sexualität historisiert und als MachtWissen-Komplex analysiert, über den Subjekte und Bevölkerung gleichermaßen und auf je historisch-spezifische Weise reguliert wurden.94 Mit dem Foucault’schen Begriff der Biopolitik ließen sich die staatlichen Zugriffe auf die Körper der Bürger_innen untersuchen, mit denen Sexualität, Fortpflanzung und Gesundheit der Bevölkerung gelenkt werden sollten – und die diese Bereiche als zentralen Kampfplatz der modernen europäischen Geschichte sichtbar machen. Diese neue biopolitische Ordnung war eine binär organisierte Geschlechter- und Körperordnung, die Heterosexualität zu einer nun (natur)wissenschaftlich begründeten, „gesunden“ Norm erklärte und Homosexualität (und andere Sexualitäten) als „abnorm“ pathologisierte. Trotz dieser nicht zuletzt durch Foucault und Butler angestoßenen kritischen Neuperspektivierung von Körpern und Sexualitäten sind die Geschichten von Menschen, die sich als lesbisch, schwul, bi- oder intersexuell, queer oder Transgender identifizier(t)en, noch immer nicht ausreichend aufgearbeitet.95 Die Beiträge in Sektion IV dieses Bandes spiegeln diese Forschungssituation insofern wider, als sie sich überwiegend mit männlichen und weiblichen Körpern innerhalb
94 Foucault, Michel, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 8 1989; Foucault, Michel, Der Wille zum Wissen (Sexualität und Wahrheit; 1), Frankfurt am Main 91997. 95 Grundlegend: Halberstam, Judith, Female Masculinity, Durham 1998; Halberstam, Jack, In a Queer Time and Place. Transgender Bodies, Subcultural Lives, New York u.a. 2005. Zur geschichtswissenschaftlichen Forschung siehe Sutton, Katie, From Sexual Inversion to Trans: Transgender History and Historiography, in: Mildenberger, Florian; Evans, Jennifer; Lautmann, Rüdiger; Pastötter, Jakob (Hgg.), Was ist Homosexualität? Forschungsgeschichte, gesellschaftliche Entwicklungen und Perspektiven, Hamburg 2014, S. 181–204; Trau, Kim, Rechtswohltat oder „Schweinerei“? Die Diskussion des Transsexuellengesetzes in der Presse und in Petitionen an den Bundestag zwischen 1975 und 1982, in: Invertito – Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten 17 (2015), S. 68–99 sowie Invertito allgemein; Klöppel, Ulrike, XX0XY ungelöst. Hermaphroditismus, Sex und Gender in der deutschen Medizin. Eine historische Studie zur Intersexualität, Bielefeld 2010.
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eines heterosexuellen Rahmens auseinandersetzen.96 Heteronormativitätskritik ist aber nicht vom Untersuchungsgegenstand abhängig, sondern von der Perspektive, die auf den Gegenstand geworfen wird.97 Zudem konnten auch heterosexuelle Beziehungen, wie bereits im Beitrag von Axster deutlich wurde, als nicht der Norm entsprechend und „widernatürlich“ aufgefasst werden, wenn es sich um die Verbindung von Weißen und Schwarzen handelte. Moderne Geschlechterverhältnisse sind demnach nicht losgelöst von „Rassen“-Ordnungen zu betrachten; europäische Geschlechter- und Körperordnungen basierten immer auch auf der Exklusion nicht-weißer Körper. Wenn die Körpergeschichte die Forderung der postcolonial studies ernst nimmt, europäische „Zentren“ und koloniale „Peripherien“ in einem gemeinsamen epistemologischen Feld zu analysieren98, dann müssen die „body projects of empire“99 als verflochtene Körperpolitiken betrachtet werden. An die bereits von Axster thematisierte koloniale „Mischehefrage“ anschließend, befasst sich Judith Große mit einer geplanten Eheschließung zwischen einer weißen Deutschen und einem aus Kamerun stammenden Schwarzen Hausdiener in der Weimarer Republik. Sie analysiert die im Zusammenhang mit einem (von einer Freundin der potentiellen Braut verfassten) Leserbrief entfaltete Diskussion, der 1929 in der sexualreformerischen Zeitschrift Die Ehe erschien. Die von Große skizzierte Debatte zeigt zum einen, dass kolonialrassistische Ansichten auch nach dem Verlust der deutschen Kolonien und auch innerhalb der sich als linksliberal und progressiv verstehenden Sexualreformbewegung weiterhin zirkulierten – wenn hier bisweilen auch auf die Überlappung von „Rasse“ und Klasse und den zeitgenössischen (Sozial-)Rassismus kritisch Bezug genommen wurde. Zum anderen macht der untersuchte Leserbrief die extreme Sichtbarkeit Schwarzer Körper in Deutschland deutlich, das weit weniger Migration aus den (ehemaligen) Kolonien als etwa Frankreich oder Großbritannien zu verzeichnen hatte. Dennoch gehörten auch im deutschen Fall zur imperialen Beziehung in Kolonie und europäischer Metropole die Konfrontation und der Kontakt mit unterschiedlich rassifizierten100 Körpern. Als Schwarzer Körper, so scheint es, gewinnt auch der Männerkörper eine spezifische Sichtbarkeit durch Sexualisierung, die ansonsten eher
96 Siehe aber den Beitrag von Bühner in Sektion I. 97 In diesem Sinne gilt es auch, Heterosexualität konsequent zu historisieren. Vgl. Stoff, Heiko, Heterosexualität, in: Mildenberger et al. (Hgg.), Was ist Homosexualität?, S. 73–112. 98 Cooper, Frederick; Stoler, Anne, Tensions of Empire: Colonial Cultures in a Bourgeois World, Berkeley u.a. 1997. 99 Canning, Kathleen, The Body as Method? Reflections on the Place of the Body in Gender History, in: Gender & History 11 (1999), H. 3, S. 499–513, 504. Siehe auch Lorey, Isabell, Der weiße Körper als feministischer Fetisch – Konsequenzen aus der Ausblendung des deutschen Kolonialismus, in: Tißberger, Martina et al. (Hgg.), Weiß – Weißsein – Whiteness – Kritische Studien zu Gender und Rassismus/Critical Studies on Gender and Racism, Frankfurt am Main u.a. 2006, S. 61–83. 100 „Rassifizierung“ bezeichnet den Vorgang, bei dem körperlichen Merkmalen und Phänomenen Bedeutung im Sinne einer vermeintlichen Rassenzugehörigkeit gegeben wird.
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Frauenkörper betrifft. Letzteres legt nicht zuletzt auch der starke Fokus auf weibliche Körper in den übrigen Beiträgen in Sektion IV nahe.101 Von Foucault inspirierte Überlegungen zum Sexualitätsdispositiv haben Geschlecht und Sexualität als modernen biopolitischen Zusammenhang und damit die Verschränkung individueller und bevölkerungspolitischer Regulierungsversuche sichtbar gemacht. Daraus resultierte ein für Europa markanter, sich letztlich aber auch global auswirkender Zugriff auf Körper, der in seiner heteronormativen Vereindeutigung der Geschlechter vom späten 19. Jahrhundert bis (mindestens) zur Mitte des 20. Jahrhunderts zudem stark rassenhygienisch und eugenisch geprägt war. Ein Extrembeispiel für diesen Umgang mit Körpern untersucht Stefan Offermann in seinem Beitrag über die nationalsozialistische Euthanasiepolitik. Er nimmt dabei eine in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft erst in den letzten Jahren prominenter gewordene analytische Perspektive auf Körperlichkeit ein, indem er sich im Sinne der Disability Studies102 mit der – im Nationalsozialismus über Leben und Tod entscheidenden – Zuschreibung respektive dem Absprechen von körperlicher und geistiger Befähigung (ability) befasst. In seiner auf das Blickregime fokussierten Analyse des 1941 von Wolfgang Liebeneiner produzierten Spielfilms Ich klage an, in dem die Protagonistin Hanna an multipler Sklerose erkrankt und von ihrem Mann auf eigenen Wunsch „erlöst“ wird, zeichnet Offermann die filmische Inszenierung des kranken und nach NS-Logik „lebensunwerten“ Körpers nach, der über seine zunehmend eingeschränkte Beweglichkeit als solcher markiert wird. Dabei gelingt es ihm, in intersektionaler Perspektive die konstitutive Bedeutung von Geschlecht für die Konstruktion „lebensunwerten“ Lebens aufzuzeigen. Normative Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit spielen nicht nur im Film, sondern spielten auch bei der „Aktion T4“ eine zentrale Rolle, wenn es darum ging, „störende“ oder „gefährliche“ Patient_innen zu identifizieren. Denn ob ein bestimmtes Verhalten als (noch) angepasst gedeutet wurde oder nicht, hing maßgeblich vom Geschlecht ab, wie Offermann darlegt. Nach 1945 war es in Deutschland und Österreich notwendig, die Vorstellungen von Körperlichkeit, Sexualität und die Geschlechterrollen zu „entnazifizieren“. In diesem Zusammenhang gewannen ausländische Vorbilder und kulturelle Transfers an Bedeutung. Diesen in den 1950er- und 1960er-Jahren vorgenommenen Re-Formulierungen widmet sich Franz X. Eder, der sich mit den Sexualimages US-amerikanischer, französischer und schwedischer Frauen in westdeutschen und österreichischen Illustrierten befasst. Greifbar wird in dieser Analyse, wie sich mediale Vorstellungen von Weiblichkeit und weiblicher Sexualität in Öster-
101 Siehe aber die intensive Verhandlung von Männerkörpern in Ramsbrocks Beitrag in Sektion III. 102 Zu den Disability Studies respektive Critical Ability Studies siehe exemplarisch Waldschmidt, Anne (Hg.), Handbuch Disability Studies, Wiesbaden 2017, die Reihe „Disability History“ beim Campus-Verlag sowie Goodley, Dan, Dis/Ability Studies. Theorising Disablism and Ableism, New York 2014.
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reich und der Bundesrepublik US-amerikanisierten bzw. westernisierten103, und zwar über die massenhafte Zirkulation „fremder“ Frauenbilder, die auf der Textoberfläche oft abgelehnt oder nur sehr selektiv akzeptiert wurden, qua bildlicher Präsenz aber nichtsdestotrotz ihre attraktive Wirkung entfalteten. Wenn auch oft indirekt, so fand auf diese Weise eine (Wieder-)Einschreibung in einen europäisch-transatlantischen Sexualdiskurs statt, die eine Distanzierung von der Vergangenheit ermöglichte. Eders Beitrag macht deutlich, wie zentral zum einen die USA als Vorbild und Abgrenzungsfolie waren, wenn es um die Formulierung zukunftsträchtiger deutscher, österreichischer und europäischer Frauenbilder und Sexualnormen ging; zum anderen aber werden auch die Differenzen innerhalb Europas (hier: Westeuropas) sichtbar, die trotz der sich entwickelnden Gemeinsamkeiten zu nationalspezifischen Ausprägungen der Sexualimages führten. Mit Vorstellungen weiblicher Attraktivität befasst sich auch der Beitrag von Detlef Siegfried, der auf Basis einer Anfang 1963 im Auftrag von Reader’s Digest London durchgeführten „Sieben-Länder-Untersuchung“ zum Konsumverhalten der Leserinnen die Transformationen europäischer Schönheitspraktiken analysiert. Am Beispiel der Verwendung von Lippenstift zeigt Siegfried die Ähnlichkeiten, vor allem aber auch die markanten nationalen Differenzen innerhalb (West-) Europas auf und zeichnet die in der Bundesrepublik intensiv geführten Debatten um die Legitimität körperlicher Attraktivität insbesondere junger Frauen nach. Während sich in Großbritannien bereits in den 1950er-Jahren die „Teenage girls“ samt zugehöriger Jugend(konsum)kultur etabliert hatten, blieben in der Bundesrepublik und, stärker noch, in Italien konservative Stimmen in den öffentlichen Debatten tonangebend; weibliche Schönheitspraktiken, insbesondere bei Minderjährigen, wurden als unmoralisch diskreditiert. Angesichts der gerade in Deutschland dominanten Natürlichkeitsideologie bis hin zur nationalsozialistischen Kritik am Schminken betont Siegfried das emanzipatorische Potential des self-fashioning junger Frauen, das die europäischen Schönheitspraktiken signifikant veränderte und qua moderner Konsumkultur neue Selbstentwürfe ermöglichte. Der Beitrag signalisiert damit eine Ausweitung des (normativen) Konzepts „Emanzipation“ in Richtung eines breiten Verständnisses von agency, das auch konsumkulturelle Formen der Subjektivierung als Kampf um Anerkennung versteht.104 Mit einer markanten Veränderung geschlechtsspezifischer Kleidungspraxis nach 1945 beschäftigt sich Susanne Oesterreich, die der Etablierung der Frauen103 Wie Kaelble, Europabewußtsein, S. 18, betont, spricht einiges für europäische Konvergenzen im Zuge der Amerikanisierung, die eine „gemeinsame westeuropäische Erfahrung“ war. Allerdings hebt Kaelble die großen inner(west)europäischen Differenzen bei der Durchdringungstiefe US-amerikanischer Kultur hervor und betont zudem, dass viele Prozesse, die unter Amerikanisierung abgehandelt werden, letztlich „gemeinsame europäisch-amerikanische Entwicklungen“ darstellen (ebd., S. 19). 104 Thomas, Lynn M., Historicising Agency, in: Gender & History 28 (2016), H. 2, S. 324–339, hier S. 334. Zur Kritik an einer einseitigen Begeisterung für die (Konsum-)Wahlfreiheit von Frauen und einem neoliberalen Konzept von „agency“ siehe Hassim, Shireen, Critical Thoughts on Keywords in Gender and History. An Introduction, in: Gender & History 28 (2016), H. 2, S. 299–306, hier S. 301.
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hose in der DDR nachgeht. Damit weitet sich der Blick über Westeuropa hinaus und macht es möglich, nach europäischen Gemeinsamkeiten auch über den „Eisernen Vorhang“ hinweg zu fragen. Denn trotz nationaler Besonderheiten konnte sich in ganz Europa die – zunächst in Stoff und Schnitt noch deutlich vom männlichen Vorbild abweichende – Frauenhose durchsetzen, die letztlich nicht mehr auf Sport oder Arbeitswelt beschränkt bleiben sollte. Für eine körperhistorische Perspektive ist der Fokus auf Mode insofern vielversprechend, als er das performative Moment geschlechtsspezifischer Körperlichkeit betont und die alltägliche Inszenierung von Männer- und Frauenkörpern in ihrem historischen Wandel nachzuzeichnen erlaubt. Oesterreichs Beitrag macht darüber hinaus deutlich, dass in der von ihr analysierten Ratgeberliteratur und Frauenpresse klar zwischen verschiedenen Frauenkörpern differenziert wurde. Das Tragen von Hosen galt für junge und schlanke Frauen als unproblematisch. Mithin waren Alter und Körperform die zentralen (ästhetischen) Parameter, über die weibliche Ausdrucksformen und Handlungsspielräume reglementiert werden sollten. Den Abschluss der Sektion „Körper und Sexualitäten“ bildet der Beitrag von Stefan Wiederkehr, der sich mit den zwischen 1968 und 1998 durchgeführten Sexchromatintests befasst, denen sich alle Teilnehmerinnen an Frauenwettkämpfen bei den Olympischen Spielen unterziehen mussten. Auf diese Weise sollte sichergestellt werden, dass ausschließlich Frauen gegeneinander antraten. Die Labortests, aber auch die mediale Debatte darüber, welcher Körper als Frauenkörper akzeptiert wurde, machen die Kriterien explizit, anhand derer geschlechtliche Zuordnungen vorgenommen wurden (und werden). Im Falle des von Wiederkehr analysierten Informationsblattes der Medizinischen Kommission des Internationalen Olympischen Komitees aus dem Jahre 1972 ging es um die Feststellung des chromosomalen Geschlechts. In den von der Systemkonkurrenz des Kalten Krieges geprägten medialen Debatten hob die westliche Presse auf hormonelle Manipulationen ab, die als Erklärung für die „vermännlichten Ostblockathletinnen“ angeführt wurden; die Systemkonkurrenz erweist sich damit, wie bereits angemerkt, auch als eine zwischen unterschiedlichen Geschlechterordnungen. Ohne Butlers Ansatz, dass sex schon immer gender sei, zu teilen, machen Wiederkehrs Ausführungen nicht nur deutlich, wie schwierig eine biologisch-medizinische Kategorisierung des Geschlechts ist, sondern auch wie stark die Bestimmung des Geschlechtskörpers von gesellschaftlichen (Gender-)Normen geprägt ist. Intersexualität, aber auch „Inkohärenzen“ zwischen chromosomalem und hormonellem, zwischen geno- und phänotypischem Geschlecht stellen das binäre Geschlechtermodell in Frage. Das ist gerade für den Leistungssport ein großes Problem, handelt es sich hier doch um einen gesellschaftlichen Bereich, der wie vielleicht kaum ein anderer auf der Annahme und rigiden Durchsetzung (genau) zweier klar definierter Gruppen von Körpern basiert und keinerlei Uneindeutigkeiten bezüglich der Geschlechtszugehörigkeit zulässt. Den großen normalisierenden Aufwand, der zu diesem Zwecke betrieben werden muss, und die den Normalisie-
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rungsversuchen inhärenten Verfehlungen machen die Geschlechtertests sichtbar.105 Europäische Geschlechtergeschichten und ihre Quellen Während die vier Themen- und Problemfelder dieses Bandes Schwerpunkte der Frauen- und Geschlechtergeschichte aufgreifen und zentrale Debatten und Akzentverschiebungen verdeutlichen sollen, besteht ein weiteres Anliegen darin, auf die Vielfalt an für die Geschlechtergeschichte relevanten Quellen hinzuweisen. Die Autor_innen wurden gebeten, auf den spezifischen Quellenwert ihres Materials für ihre Fragestellungen einzugehen, um auf diese Weise Möglichkeiten und Grenzen einzelner Quellenarten aufzuzeigen. Zu den analysierten Quellen aus 200 Jahren europäischer Geschichte zählen Briefe, Abhandlungen über die Ehe, Ratgeberliteratur, Zeitschriftenartikel, Reiseberichte, Gesetzesentwürfe und Reglements für Geschlechtertests, Flugblätter und Informationspapiere aus dem Umfeld der neuen sozialen Bewegungen, Konsum-Umfragen sowie Ton- und Bildquellen, namentlich Postkarten, Interviews, Dokumentar- und Spielfilme sowie ein RapSong. Der Band versteht sich damit auch als Plädoyer für eine intensive wie extensive Quellenlektüre, die auch für marginal erachtete Quellentypen berücksichtigt.106 Die Autor_innen dieses Bandes ziehen für ihre Untersuchungen auch Parallelund ergänzende Quellen hinzu, aber der eigentliche Reiz der im Themenportal „Europäische Geschichte“ und nun in diesem Band zusammengeführten Essays liegt darin, eine genaue Analyse einer einzelnen Quelle anzubieten. Auf diese Weise lässt sich zum einen die Vielfalt geschlechterhistorisch aussagekräftiger Quellen andeuten respektive zeigen, dass im Grunde fast jede Quelle aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive interpretierbar ist, weil Geschlecht als zentrale Strukturkategorie beinahe jedes Dokument (mit-)prägt. Zum anderen geben die hier versammelten Analysen auch die jeweiligen medialen Besonderheiten des Untersuchungsmaterials zu erkennen – gerade in der Kontrastierung mit den anderen in diesem Band betrachteten Quellentypen. Auch wenn die Geschichtswissenschaft nach wie vor hauptsächlich mit Textquellen arbeitet, zeigen mehrere Beiträge dieses Bandes, dass sich die Visual History mittlerweile zu einem bedeutenden Gebiet der Historiografie entwickelt hat und unser Wissen über Geschlechterund Körperbilder sowie insgesamt über wirkmächtige gesellschaftliche Imaginationen signifikant erweitert hat.
105 Vgl. Fenske, Uta; Stieglitz, Olaf, Sport treiben, in: Netzwerk Körper (Hg.), What Can a Body Do? Praktiken des Körpers in den Kulturwissenschaften/Figurationen des Körpers in den Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main u.a. 2012, S. 111–126, hier S. 124f. 106 Ein für die feministische (Geschichts-)Wissenschaft und auch für die Geschichte (anderer) sozialer Bewegungen zentraler Quellentyp, das Oral-History-Dokument, fehlt in diesem Band. Zu seinem Quellenwert und zur Quellenkritik siehe BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen.
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Die hier präsentierte Auswahl von Quellen erhebt selbstverständlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit. So wie eine europäische Geschlechtergeschichte nicht auf bestimmte Themen oder Methoden festgelegt und stattdessen eher durch das permanente Aufwerfen neuer Fragen gekennzeichnet ist107, so besitzt sie auch keine klar definierte Quellenbasis. Worauf sie aber für viele ihrer Fragestellungen angewiesen ist, ist eine vielfältige Archivlandschaft, die neben staatlichen, kommunalen, Kirchen-, Verbands- und Wirtschaftsarchiven auch kleinere, oft unabhängige Archive umfasst.108 Entscheidend ist jedoch nicht nur, dass Quellen vorhanden sind, sondern auch dass sie in der Archivpraxis möglichst umfassend erschlossen sind und bei der Erstellung von Findmitteln Geschlecht, Sexualität etc. als relevante Kategorien berücksichtigt werden, damit Forscher_innen sie finden können.109 Für die Geschichte marginalisierter Gruppen kommt noch ein weiterer Aspekt hinzu: Da ihre Geschichte nur in seltenen Fällen dokumentiert wird, spielt der Aufbau „eigener“ Archive eine wichtige Rolle für Sammlung und Erhalt historischen Materials – und bildet oftmals die Voraussetzung, bestimmte Geschichten überhaupt aufarbeiten zu können.110 Die Digitalisierung macht zunehmend Quellen über die europäischen Frauenbewegungen und andere Aspekte von Frauenleben zugänglich oder zumindest recherchierbar. Wichtige Dokumente der Frauenbewegung in der Habsburgermonarchie und dem Österreich der Zwischenkriegszeit sind etwa im Online Portal „Frauen in Bewegung 1848–1938“ verfügbar, das in das frauen- und genderspezifische Wissensportal Ariadne der Österreichischen Nationalbibliothek eingebettet ist. Das FRAGEN Projekt stellt Schlüsseldokumente der feministischen Bewegungen in Europa aus 29 Ländern digital zur Verfügung. Mit Hilfe dieser online zugänglichen Quellensammlungen lassen sich europäische Vergleichs- und Transferstudien leichter durchführen. Zudem zeigen die grenzüberschreitend kooperierenden Projekte zur Erschließung frauen- und geschlechtergeschichtlich relevanten Materials, dass die Akteur_innen in diesem Bereich gut vernetzt und damit selbst an der weiteren Transnationalisierung und Europäisierung der Geschlechtergeschichte beteiligt sind. 107 „Gender history [...] has so far been notable for raising yet more analytical problems rather than for adopting one settled viewpoint“ – so Corfield, Penelope J., History and the Challenge of Gender History, in: Rethinking History 1 (1997), H. 3, S. 241–258, hier S. 221, 247. 108 Vgl. Bacia, Jürgen; Wenzel, Cornelia, Bewegung bewahren. Freie Archive und die Geschichte von unten, Berlin 2013; „Zur Zukunft der Archive von Protest-, Freiheits- und Emanzipationsbewegungen“ – Positionspapier des VdAs zu den Überlieferungen der neuen sozialen Bewegungen, in: Der Archivar (2016), H. 2, S. 179–186. 109 Vgl. als ein Beispiel: Leidinger, Christiane, LSBTI-Geschichte entdecken! Leitfaden für Archive und Bibliotheken zur Geschichte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen. Herausgegeben von der Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung, Berlin 2017. 110 Zu nennen wären hier exemplarisch für Deutschland die Stiftung Archiv der deutschen Frauenbewegung in Kassel, die Hamburger Frauenbibliothek DENKtRÄUME sowie der Spinnboden Lesbenarchiv und Bibliothek e.V., das GrauZone Archiv der staatsunabhängigen Frauenbewegung der DDR und das Archiv des schwulen Museums* (die drei letztgenannten sind alle in Berlin ansässig).
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DANK Bedanken möchten wir uns zum einen bei den Autor_innen, die uns ihre interessanten Beiträge für die Printversion – oft in nochmals überarbeiteter Form – zur Verfügung gestellt haben, sowie bei Dietlind Hüchtker, Christiane Reinecke und Hannes Siegrist, die mit ihrer fundierten Kritik viel zur Präzisierung der Einleitung beigetragen haben. Unser Dank gilt zudem Susann Winsel, Anne Lammers, Chiara Bonfiglioli, Nicole Reichert und Florian Simonis, die uns bei der Redaktion und Erstellung des Manuskripts geholfen haben. Maria Bühner und Maren Möhring Leipzig, im Dezember 2017
Ausgewählte Onlinearchive Ariadne Frauendokumentation – Österreichische Nationalbibliothek, URL: . Biblioteca Digitale delle Donne (Italien), URL: . Digitales Deutsches Frauenarchiv, URL: . FRAmes on GENder (Europa), URL: . Frauen in Bewegung 1848–1938 (Habsburger Monarchie und Österreich), URL: . META Suchmaschine (deutschsprachige Lesben-/Frauenarchiven und -bibliotheken), URL: . Women’s Library der LSE mit einer interaktiven Zeitleiste zur Frauenbewegung, URL: .
1. GESCHICHTE DES FEMINISMUS
FRAUENRECHTE ALS MENSCHENRECHTE OLYMPE DE GOUGES’ „ERKLÄRUNG DER RECHTE DER FRAU UND DER BÜRGERIN“1 Gisela Bock Es war der 14. September 1791, als Olympe de Gouges ihr 25seitiges Büchlein mit dem Titel Die Rechte der Frau (Les droits des femmes) zum Druck gab; sein Herzstück war die „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“ (Déclaration des droits de la femme et de la citoyenne). Es geschah also in eben jener aufregenden Zeit, als die Nationalversammlung die Verfassung einer konstitutionellen Monarchie verabschiedete (am 3. September); an den Anfang der Verfassung stellte man die „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ (Déclaration des droits de l’homme et du citoyen), welche die Nationalversammlung zwei Jahre zuvor schon verabschiedet hatte. Voll freudiger Erregung hielt de Gouges den schon laufenden Druck ihres Werks noch einmal an, um in einem Postscriptum ihre „reine Freude“ darüber auszudrücken, dass der König der Verfassung zustimmte (das geschah am 13./14. September) und gleichzeitig die Nationalversammlung eine Generalamnestie erließ; de Gouges hoffte (vergeblich), dass nun „alle unsere Flüchtlinge“ wieder zurückkehren könnten. Ihre Frauenrechtserklärung wollte sie der Nationalversammlung vorlegen, die sie verabschieden sollte (sie tagte bis Ende September noch mehrmals, und am 1. Oktober wurde sie von der neugewählten Assemblée législative abgelöst); doch so weit kam es nicht. Historische Bedeutung, Erinnerung und Vergessen De Gouges’ Werk über die Rechte der Frauen ist eine grundlegende Kritik an der Erklärung der Menschenrechte von 1789, außerdem eine Ergänzung und vor allem ein Gegenentwurf; auf provokative Weise wird das Dokument von 1789 formal imitiert – im Pathos der Präambel und in den berühmten 17 Artikeln –, um diese inhaltlich in einer damals unerhörten Alternative aufzusprengen: als Herausforderung an die Männerwelt, aber auch an Frauen, und als Forderung nach zivilen und politischen Rechten für Frauen. Zu Recht gilt der Text als ein Schlüsseldokument in der Geschichte der Frauen, der Frauenbewegung und des feministi1
Essay zur Quelle: Olympe de Gouges: Die Rechte der Frau (1791). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Der Essay ist auch erschienen als: Bock, Gisela, Frauenrechte als Menschenrechte: Olympe de Gouges‘ transnationale Wiederentdeckung, in: dies. (Hg.), Geschlechtergeschichte der Neuzeit. Ideen, Politik, Praxis, Göttingen 2014, S. 155– 167.
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schen Denkens; darüber hinaus kann er auch als ein Schlüsseldokument des modernen politischen Denkens überhaupt gelten. Inzwischen wird er zu den Vorläufern der Allgemeinen Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen gezählt (1948, besonders Art. 2) und erst recht zu den Vorläufern der UN-Frauenrechtskonventionen, beginnend mit dem Frauenwahlrecht (1952) über das „Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frauen“ (1979) bis zu den heutigen Theorien und Aktivitäten unter der Parole „Women’s Rights are Human Rights“, die in den 1990er-Jahren begründet worden sind.2 Neuerdings wurde vorgeschlagen, dass de Gouges im Sinn der UN-Erklärung über Menschenrechtsverteidiger von 1998 anerkannt werde, und in Frankreich wird gefordert, dass sie einen Platz im Pantheon erhalten solle.3 Für viele ist Olympe de Gouges aufgrund ihrer Déclaration zu einer Ikone des Feminismus geworden. Und doch ist ihre historische Bedeutung alles andere als selbstverständlich. Denn erstens sind die Déclaration und ihre Verfasserin nur in wenigen Kreisen bekannt, vor allem in der Frauen- und Geschlechterforschung und den historisch interessierten Teilen der Frauen- und der Menschenrechtsbewegungen, aber weder in der europabezogenen Geschichtswissenschaft im allgemeinen noch in der etablierten Geschichtsschreibung zur Französischen Revolution.4 Zweitens ist Olympes breites Werk, das weit über die Déclaration hinausgeht und auch viel zu deren Verständnis beiträgt, nach wie vor kaum bekannt; Teile davon wurden bis vor 2
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Vgl. Fraser, Arvonne, Becoming Human. The Origins and Development of Women’s Human Rights, in: Agosin, Marjorie (Hg.), Women, Gender, and Human Rights: A Global Perspective, New Brunswick, N.J. 2001, S. 15–64; Bunch, Charlotte, Women’s Rights as Human rights: Towards a Re-vision, in: Human Rights Quarterly 12 (1990), S. 486–498. Zur Allgemeinen Menschenrechtserklärung vgl. Winter, Jay, The Universal Declaration of Human Rights, in: Themenportal Europäische Geschichte (2009), URL: , und: The Universal Declaration of Human Rights (1948), in: ebd., URL: . Die Konvention von 1979, URL: (18.10.2017). Colloquium zu de Gouges am 14. November 2008 in Montreuil, veranstaltet von der UNESCO u.a. zur Feier des 60. Jahrestags der Verabschiedung der Allgemeinen Menschenrechtserklärung, in: Le Monde diplomatique, November 2008, URL : (18.10.2017); Viénet, René, Olympe de Gouges – une Quercinoise en route vers le Panthéon, in: Le Quercy sur le Net, URL: (26.10.2009); Fraisse, Geneviève, Olympe de Gouges, sa place est au Panthéon, in: ReSPublica, 6. Oktober 2009; dies., Muse de la raison, la démocratie exclusive et la différence des sexes, Aix-en-Provence 1989. Vgl. z.B. Sledziewski, Elisabeth G., Die Französische Revolution als Wendepunkt, in: Duby, Georges; Perrot, Michelle (Hgg.), Geschichte der Frauen, 5 Bde., Frankfurt am Main 1993– 1995, Bd. 4: Das 19. Jahrhundert, hg. von Fraisse, Geneviève; Perrot, Michelle, S. 45–62; Fauré, Christine, Des droits de l’homme aux droits des femmes: une conversion intellectuelle difficile, in: dies. (Hg.), Encyclopédie politique et historique des femmes: Europe, Amérique du Nord, Paris 1997, S. 203–222; Brive, Marie-France (Hg.), Les femmes et la Révolution Française. Modes d’action et d’expression. Nouveaux droits – nouveaux devoirs. Actes du colloque international 12–13–14 avril 1989, Toulouse 1989. Zum historischen Kontext vgl. auch Bock, Gisela, Frauen in der europäischen Geschichte, München 2005, Kap. II. Zur etablierten Geschichtsschreibung vgl. Offen, Karen, The New Sexual Politics of French Revolutionary Historiography, in: French Historical Studies 16 (1990), H.4, S. 909–922.
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kurzem erst entdeckt, von anderen ist nur der Titel überliefert, und ihr Gesamtwerk umfasst rund 150 Titel und 3.500 Seiten.5 Drittens ist Olympes Ruhm höchst rezent. Allerdings war sie im prärevolutionären Paris – 1748 geboren in der südwestfranzösischen Provinz, zog sie nach einer unglücklichen Ehe um 1770 in die Kapitale, als Witwe und mit ihrem Sohn – durchaus bekannt, vor allem als Dramatikerin und Publizistin. Und auch später, im revolutionären Paris, war sie aufgrund ihres vielfältigen, ungewöhnlichen und streitbaren Engagements – gegen die Sklaverei und für Redefreiheit, gegen Armut und für eine „patriotische“ Besteuerung von Luxus, zugunsten unehelicher Kinder und ihrer Mütter sowie für die Besserstellung von Frauen – ebenso berühmt wie berüchtigt. Sogar außerhalb Frankreichs wurde ihre Adresse an die Nationalversammlung gerühmt, etwa von Theodor Gottlieb von Hippel in seinem 1792 anonym erschienenen Werk Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber.6 De Gouges gehörte keiner der politischen Faktionen der Französischen Revolution an, bewegte sich aber im Umkreis derer, die später Girondisten genannt wurden und ebenfalls für die Rechte von Frauen und von Schwarzen eintraten. In Olympes zahlreichen Flugschriften und Plakaten nahm sie zu den Entwicklungen der Revolution ebenso enthusiastisch wie kritisch Stellung und wandte sich scharf gegen die Terreur und gegen Robespierre. Schließlich wurde ihr kurzer Prozess gemacht, und am Tag darauf, am 3. November 1793, wurde sie unter dem Beil der Guillotine hingerichtet: zwei Wochen nach der Königin und drei Tage nach der Hinrichtung der girondistischen Männer. Dann erst wurde sie „vergessen“ (im Gegensatz zu der weitaus weniger radikalen Mary Wollstonecraft, die 1792 in England ihre Vindication of the Rights of Woman veröffentlicht hatte). Erst seit 1840 wurde de Gouges in einigen wenigen Büchern zur französischen Geschichte wieder erwähnt (meist auf verständnislose, verächtliche oder gar pathologisierende Weise), und ihre Frauenrechtserklärung wurde zuweilen partiell zitiert. Seit 1848 taucht sie in Texten der französischen Frauenbewegung auf und um 1900 in den Werken einiger französischer Historiker des Sozialismus oder des „féminisme français“.7 Die Begründerinnen der US-amerikanischen Frauenbewegung wussten nichts von Olympe, als sie 1848 deren Verfahren nachahmten und ihr erstes großes Dokument, die Declaration of Sentiments, in Anlehnung an die 5 6 7
Blanc, Olivier, Marie-Olympe de Gouges. Une humaniste à la fin du XVIIIe siècle, Paris 2003, S. 240–247; Thiele-Knobloch, Gisela, Olympe de Gouges fordert Menschenrechte für Frauen, in: Engler, Winfried (Hg.), Die Französische Revolution, Stuttgart 1992, S. 125–134. Hippel, Theodor Gottlieb von, Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber (1792), Berlin 1828, hg. von Dittrich-Jacobi, Juliane, Vaduz 1981, S. 122f.; Bock, Frauen, S. 100f. Vgl. Offen, Karen, Women’s Memory, Women’s History, Women’s Political Action: The French Revolution in Retrospect, 1789 – 1889 – 1989, in: Journal of Women’s History 1 (1990), H. 3, S. 211–230; Strummingher, Laura S., Looking Back: Women of 1848 and the Revolutionary Heritage of 1789, in: Applewhite, Harriet B.; Levy, Darline G. (Hgg.), Women and Politics in the Age of the Democratic Revolution, Ann Arbor 1990, S. 259–285. Zur sozialistischen Geschichtsschreibung um 1900: Fauré, Christine, La naissance d’un anachronisme: „le féminisme pendant la Révolution française“, in: Annales historiques de la Révolution française 344 (2006), URL: (18.10.2017).
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Declaration of Independence formulierten.8 Die deutschsprachige Frauenbewegung kümmerte sich kaum um Olympe, allerdings mit Ausnahme zweier Schwägerinnen und Sozialdemokratinnen: Lily Braun widmete ihr 1901 einen längeren Abschnitt, wobei sie aus der tragischen eine Erfolgs-Story machte, und Emma Adler, geborene Braun (Ehefrau des Begründers der österreichischen Sozialdemokratie), schrieb 1906 zwar mit viel Sympathie über sie, wiederholte aber auch zahlreiche Topoi des 19. Jahrhunderts, die heutzutage widerlegt sind.9 Wurde Olympe erwähnt, so stand meist die exzentrische „femme célèbre“ im Vordergrund und ihre Frauenrechtserklärung, ungeachtet mancher Zitate aus ihr, ganz im Hintergrund. Allerdings wurde ein Satz aus ihr gern und geradezu rituell zitiert: „Die Frau hat das Recht, das Schafott zu besteigen; sie muss gleichermaßen das Recht haben, die Rednertribüne zu besteigen.“ Olympe de Gouges wurde als Opfer der Guillotine und als Märtyrerin gesehen, doch weitaus weniger als Denkerin und Autorin. Eine transnationale Wiederentdeckung Nur ganz wenige Exemplare des Erstdrucks der Frauenrechtserklärung sind erhalten, und fast zwei Jahrhunderte lang gab es weder Nachfrage noch Neuauflage. Dann folgte eine erratische, aber transnationale Neuentdeckung sowie Editionsund Übersetzungsgeschichte des Werks, vorwiegend im Kontext der Frauenbewegung und Historischen Frauenforschung der 1970er- und 1980er-Jahre. Im Jahr 1971 nahm Paule-Marie Duhet lange Passagen von Les droits des femmes in ihre Studie über die Frauen in der Revolution auf (und verwies dabei auf die Signatur in der Bibliothèque nationale, was baldige Wirkung zeitigte). 1982 folgte eine Faksimile-Ausgabe des Originals, eingefügt in den Kontext weiterer Texte von Olympe und anderen engagierten Frauen jener Zeit (in der grandiosen Reihe der Éditions d’Histoire sociale). Erst 1986 erschien ein Band mit Œuvres, darunter auch die Déclaration, und die Herausgeberin, Benoîte Groult, nennt Olympe „la première féministe moderne“ (der Begriff „Feminismus“ kam allerdings erst in den 1870er-Jahren auf und zwar in Frankreich, von wo aus er sich um 1900 international verbreitete). Doch die tatsächlich erste Neuauflage – auf Französisch – wurde 1979 in Deutschland produziert, von Margarete Wolters und Clara Sutor; obwohl diese Edition lange Zeit viel benutzt wurde, ging sie gleichsam unter zwischen deutschen Interessierten, die nicht Französisch lasen, und französischen Interessierten, die in Deutschland verlegte Titel nicht zur Kenntnis nahmen.10 In 8
Synopse beider Dokumente, URL: (26.10.2009). 9 Vgl. Braun, Lily, Die Frauenfrage. Ihre geschichtliche Entwicklung und ihre wirtschaftliche Seite, Leipzig 1901, ND Berlin 1979, S. 80–85; Adler, Emma, Die berühmten Frauen der Französischen Revolution, Wien 1906, S. 182–197. 10 Duhet, Paule-Marie, Les femmes et la Révolution 1789–1794, Paris 1971; Les femmes dans la Révolution Française, 2 Bde., EDHIS, Paris 1982, im 1. Bd.; Gouges, Olympe de, Œuvres, hg. von Groult, Benoîte, Paris 1986, S. 11; Gouges, Marie Olympe de, Politische Schriften in
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dieser Zeit der Neuentdeckungen publizierte Olivier Blanc 1981 die erste Biografie, die er kürzlich – nach diversen Neuauflagen, Übersetzungen und Wiederentdeckungen von Olympes Schriften – durch eine weitere ergänzte; es waren insbesondere seine, nunmehr 30-jährigen, Forschungen, die zahlreiche biografische und bibliografische Fragen beantworteten, Kontroversen klärten und (teilweise 200jährige) Vorurteile und Verleumdungen widerlegten. Er hat Olympe de Gouges gleichsam rehabilitiert, wobei er Wert darauf legt, dass sie nicht „nur“ eine Feministin gewesen sei, sondern eine Humanistin, die sich vielfach engagierte und auch in revolutionärer Zeit gegen Gewalt und Blutvergießen wandte.11 Zu derselben Zeit begannen auch Übersetzungen der Frauenrechtserklärung zu erscheinen: auf Englisch erstmals 1979, in einer berühmt gewordenen amerikanischen Quellenedition zu Frauen in der Revolution, und 1983 eine Neuübersetzung in einer weiteren, ebenfalls maßgeblichen und weithin rezipierten Quellenedition zur europäischen Frauengeschichte.12 Die erste deutsche Übersetzung (um einiges gekürzt) stammt von Theresia Sauter und ist Teil eines grundlegenden Aufsatzes, den Hannelore Schröder 1977 zusammen mit ihr veröffentlicht hat; Schröder modifizierte die Übersetzung später mehrfach.13 Die weitere deutschsprachige Editionsgeschichte, die zu einer ganzen Reihe von Übersetzungsvarianten (zuweilen auch Übersetzungsproblemen) geführt hat, ist auch eine Geschichte der Historiografie zu Olympe de Gouges und ihrer deutschsprachigen Rezeption. 1980 erschien Die Rechte der Frau zusammen mit 18 weiteren Texten in einer bis heute nützlichen Ausgabe, und 1981 folgte – herausgegeben von der Autorinnengruppe Uni Wien in einem für die umfassendere Historische Frauenforschung wichtigen Band – eine bald vielbenutzte Fassung der Frauenrechtserklärung, die Auswahl (1784–1793), hg. von Wolters, Margarete; Sutor, Clara, Hamburg 1979. Zum Bicentennaire erschien: Opinions de femmes: de la veille au lendemain de la Révolution française, Vorwort von Fraisse, Geneviève, Paris 1989. Zur Begriffsgeschichte von „Feminismus“ vgl. Rochefort, Florence, Du droit des femmes au féminisme en Europe, 1860–1914, in: Fauré (Hg.), Encyclopédie, S. 551–570; Offen, Karen, European Feminisms, 1700–1950: A Political History, Stanford, CA 2000, S. 183ff. 11 Blanc, Olivier, Olympe de Gouges, Paris 1981 (und 1989, dt. Übers. 1989); ders., MarieOlympe de Gouges; ders., Einleitung zu: Olympe de Gouges, Écrits Politiques 1788–1791, und zu: Écrits politiques 1792–1793, Paris 1993; ders., Cercles politiques et „salons“ du début de la Révolution (1789–1793), in: Annales historiques de la Révolution française 344 (2006), URL: (18.10.2017). 12 Applewhite, Harriet B.; Levy, Darline G.; Johnson, Mary D. (Hgg.), Women in Revolutionary Paris, 1789–1795, Urbana 1979, S. 87–96 (auch unter der URL: (26.10.2009)); Bell, Susan Groag; Offen, Karen (Hgg.), Women, the Family, and Freedom: The Debate in Documents, 1750–1950, 2 Bde., Stanford, CA 1983, Bd. 1, S. 97, 104–109. 13 Schröder, Hannelore; Sauter, Theresia, Zur politischen Theorie des Feminismus: Die Deklaration der Rechte der Frau und Bürgerin von 1791, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zu Das Parlament B 48 (1977), S. 29–48; die Übersetzung: S. 49–54. Die vollständige Fassung dann in Schröder, Hannelore (Hg.), Die Frau ist frei geboren. Texte zur Frauenemanzipation, 2 Bde., München 1979, Bd. 1, S. 31–49 (übers. von Theresia Sauter und Gerda Guttenberg); außerdem dies., Olympe de Gouges, Mensch und Bürgerin. „Die Rechte der Frau“ (1791), Aachen 1995, S. 101 („verbesserte Übersetzung von Hannelore Schröder“) bis S. 129.
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eine doppelte Synopse enthält: zum einen die deutsch-französische, zum anderen die von 1791 und 1789 (also beide in beiden Sprachen).14 In der Tat ist es unerlässlich, Olympes Déclaration erst einmal parallel zur Déclaration von 1789 zu lesen; mehrere solche Synopsen erschienen dann rechtzeitig zum Bicentennaire15, der die einschlägigen Forschungen mächtig inspirierte. In der nächsten historiografischen Runde wurden noch weitere zweisprachige Versionen vorgelegt (mit immer neuen Übersetzungsvarianten), gewöhnlich im Rahmen erneuter Analysen oder auch Popularisierungen von de Gouges’ Leben und politischem Werk. Aus dem Jahr 2008 stammt schließlich die Übersetzung der Wiener Philosophin Victoria Frysak.16 Auch de Gouges’ literarisches Werk wurde neuentdeckt und neuaufgelegt; so hat die jüngst verstorbene Romanistin Gisela Thiele-Knobloch eine (zweisprachige) deutsche Übersetzung der Autobiografie von 1788 vorgelegt.17 „Erkennt eure Rechte!“ Der Erklärung der Rechte der Frau und der Bürgerin geht eine Widmung „An die Königin“ voraus, außerdem eine Vorrede, die sich an Männer wendet und über Männer handelt. Sie beginnt, streng die Struktur der „Menschen“-Rechtserklärung von 1789 nachahmend, mit einer Präambel und umfasst 17 Artikel. Es folgen eine 14 Gouges, Olympe de, Schriften, hg. von Dillier, Monika; Mostowlansky, Vera (die Übersetzerin); Wyss, Regula, Frankfurt am Main 1980 (und 1989); Bei, Neda; Schwarz, Ingeborg, Olympe de Gouges: Les droits de la Femme. A la Reine. – Die Frauenrechte. An die Königin, in: Autorinnengruppe Uni Wien, Das ewige Klischee. Zum Rollenbild und Selbstverständnis bei Männern und Frauen, Wien 1981, S. 45–75; der deutschen Übersetzung der Erklärung von 1789 liegt diejenige von Hartung (1964) zugrunde. Ihre heute maßgebliche Übersetzung stammt von Wolfgang Kaiser, in: Gauchet, Marcel, Die Erklärung der Menschenrechte: Die Debatte um die bürgerlichen Freiheiten 1789, Reinbek 1991 (frz.: 1989), S. 9–12. 15 Gerhard, Ute, Menschenrechte – Frauenrechte 1789, in: Schmidt-Linsenhoff, Viktoria (Hg.), Sklavin oder Bürgerin? Französische Revolution und neue Weiblichkeit 1760–1830, Frankfurt am Main 1989, S. 55–67; S. 69–72: Synopse der Erklärungen von 1791 und 1789 auf Deutsch; die Übersetzung der ersteren entstammt dem Beitrag von Schröder und Sauter von 1977 (siehe Anm. 13), von Gerhard „durch eigene Übersetzung revidiert“; diejenige der letzteren von Walter Grab (1973). Die Synopse findet sich auch in Gerhard, Ute, Gleichheit ohne Angleichung. Frauen im Recht, München 1989, S. 263–267; hier wurde de Gouges’ Text der Schröderschen Edition von 1979 entnommen, teilweise von Gerhard „neu übersetzt“. 16 Noack, Paul, Olympe de Gouges 1748–1793: Kurtisane und Kämpferin für die Rechte der Frau, München 1992 (1993 auch auf Französisch), Nachwort von Marieluise Christadler; die „Erklärung“, übers. von Paul Noack: S. 161–179; Burmeister, Karl Heinz, Olympe de Gouges. Die Rechte der Frau 1791, Bern 1999, S. 139–175: zweisprachig, übersetzt von Ulrike Längle. Viktoria Frysaks Übersetzung (2008), URL: (26.10.2009). Hier finden sich auch übersetzte Auszüge aus anderen Werken von de Gouges. 17 Gouges, Olympe de, Denkschrift der Madame de Valmont / Mémoire de Madame de Valmont, hg. und übertragen von Thiele-Knobloch, Gisela, Frankfurt am Main 1993: die erste Neuausgabe, seit das Werk 1788 erschienen war; eine – nur – französische Ausgabe erschien dann 1995; vgl. dies. (Hg.), Olympe de Gouges, Théâtre politique, 2 Bde., Paris 1991, 1993.
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Postambel (Nachwort), die sich an Frauen wendet, dann ein „Gesellschaftsvertrag zwischen Mann und Frau“, ferner ein soeben erlebtes Abenteuer – es dient zur Kritik an der Justiz, aber auch „zum Lachen“ – und schließlich das oben schon erwähnte Postscriptum. In der Komplexität dieser Textsorten schlägt sich der Umstand nieder, dass es bei weitem nicht damit getan gewesen wäre – und erst recht nicht für Olympe de Gouges –, schlicht zu reklamieren, dass „auch Frauen“ Menschen seien. War die Erklärung von 1789 überhaupt eine von „Menschen“Rechten und nicht etwa eine von Männerrechten? Wenngleich das 1789 noch als offene Frage gesehen werden konnte und wurde – allerdings sprachen manche kritischen Zeitgenossen schon damals von „Männerrechten“ –, war spätestens im September 1791 die Antwort klar, denn nun war sie von der Verfassung gegeben worden: Die neue Bürgerschaft (citoyenneté) war sprachlich und konzeptionell als männliche bestimmt worden (auch wenn sie noch nicht für sämtliche Männer galt), vor allem durch die berühmte Unterscheidung von „aktiven“ und „passiven“ Bürgern.18 In dieser Situation (sie verschärfte sich in den Folgejahren bis hin zum förmlichen Ausschluss der Frauen aus der politischen Arena) musste eine Grundlegung von Frauenrechten komplexer ausfallen als die der Männerrechte und sowohl deren hochgradiges Abstraktionsniveau aufgreifen als auch konkrete Geschlechterbeziehungen thematisieren. Olympe de Gouges’ Text unterstreicht gleichermaßen den realen Gegensatz zwischen Männern und Frauen und die postulierte Gemeinsamkeit und Gleichheit der Geschlechter. Die Vorrede zu ihrer Erklärung beginnt: „Mann, bist du fähig, gerecht zu sein? Eine Frau stellt dir die Frage. [... W]er hat dir die selbstherrliche Macht verliehen, mein Geschlecht zu unterdrücken?“ „Der Mann“ sei in seiner anachronistischen Herrschsucht „verblendet“ – gerade auch im Rahmen der Revolution – und stehe im Gegensatz zur Natur, die keinen Geschlechterantagonismus kenne. Das weibliche Geschlecht hingegen melde mit dieser Erklärung seinen Anspruch auf die Früchte der Revolution an, nämlich das Recht auf Gleichheit („um nicht noch mehr zu sagen“!).19 Die Postambel beginnt: „Frauen, erwachet; [...] erkennt eure Rechte!“ Denn diese sind, wie schon aus der Erklärung von 1789 bekannt und in Olympes Präambel aufgegriffen, „natürlich, unveräusserlich und heilig“ und müssen also lediglich „erkannt“ bzw. „anerkannt“ (das ist in den beiden Originalen dasselbe Wort) und eben „deklariert“ werden. Die Autorin bezweifelt einerseits den Nutzen der Revolution für Frauen („Ihr werdet noch mehr verachtet, noch offener verhöhnt“ als zuvor) und kritisiert andererseits die intrigante 18 Sewell, William, Le citoyen/la citoyenne: Activity, Passivity, and the Revolutionary Concept of Citizenship, in: The French Revolution and the Creation of Modern Political Culture, Bd. 2, hg. von Lucas, Colin, Oxford 1988, S. 105–123; Godineau, Dominique, Autour du mot citoyenne, in: Mots 16 (1988), S. 91–100; Singham, Shanti Marie, Betwixt Cattle and Men: Jews, Blacks, and Women, and the Declaration of the Rights of Man, in: Kley, Dale van (Hg.), The French Idea of Freedom. The Old Regime and the Declaration of Rights of 1789, Stanford 1994, S. 114–153; Furet, François; Halévi, Ran, La Monarchie républicaine: La constitution de 1791, Paris 1996, S. 184–196; Rosanvallon, Pierre, Le sacre du citoyen. Histoire du suffrage universel en France, Paris 1992, bes. Kap. I und II im ersten Teil. 19 Vgl. dazu meine Anm. 28 zu der Quelle.
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weibliche Herrschaft über „die Schwächen der Männer“. Dann aber ermahnt sie die Frauen, sich nicht einschüchtern zu lassen, wenn die männlichen Gesetzgeber sagen (sie modifiziert hier die provokative Frage von Jesus an seine Mutter im Johannesevangelium 2,4): „Frauen, was gibt es Gemeinsames zwischen uns und euch?” Ihre Antwort ist dieselbe, mit welcher der große politische Theoretiker Abbé Sieyès Anfang 1789 die Frage „Was ist der Dritte Stand?” beantwortet hatte: „Alles”.20 Olympes „Alles“ hat denselben Sinn wie das von Sieyès. Ungeachtet des Titels der Frauenrechtserklärung geht es hier nicht nur um Frauen, sondern auch um Männer. Denn zum einen stellt die Verwendung von homme im Sinn von „Mann“ die Universalität der Erklärung von 1789 in Frage, und zum anderen wird ihr eine wahrhafte Universalität entgegengesetzt, indem das Subjekt der Rechte durch die Integration der Frauen pluralisiert wird: „Die Frau ist frei geboren und bleibt dem Manne gleich an Rechten“ (Art.1). Im 2. Artikel ist – präzise werden die Worte von 1789 aufgegriffen – „der Endzweck jeder politischen Vereinigung“ die „Erhaltung der natürlichen und unveräusserlichen Rechte der Frau und des Mannes“: nämlich Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand. Die „Alles“-bedeutende Gemeinsamkeit der Geschlechter schlägt sich nieder in „der Nation, die nichts anderes ist als die Vereinigung von Mann und Frau“ (Art. 3). Erstmals in der Geschichte wird hier ein wahrhaft allgemeines Wahlrecht gefordert, denn „alle Bürgerinnen und Bürger müssen persönlich oder durch ihre Repräsentanten“ an der Gesetzgebung mitwirken und zu allen Ämtern zugelassen werden (Art. 6). Die „Bürgerinnen und Bürger“ bestimmen selbst oder durch ihre Abgeordneten das Steueraufkommen und die Staatsausgaben (Art. 13, 14). Die Rechte schließen immer auch Pflichten ein. Und da im Strafrecht die Frauen den Männern ohnehin gleichgestellt sind (Art. 7 und 9), formuliert de Gouges im 10. Artikel – in der Erklärung von 1789 handelt er von der Meinungsfreiheit und war am heftigsten umstritten gewesen – die berühmte Parallelisierung von „Schafott“ und „Rednertribüne“, die schon oben angeführt wurde. Ist von Frauen und Männern geschlechterübergreifend die Rede, so steht zuweilen „Individuum”: Eine Verfassung ist nichtig, „wenn nicht die Mehrheit der Individuen, welche die Nation bilden“, an ihr mitgewirkt hat (Art. 16).21
20 Sieyes, Emmanuel Joseph, Politische Schriften 1788–1790, übers. und hg. von Schmitt, Eberhard; Reichardt, Rolf, München 21981, S. 119, 125. Vgl. meine Anm. 30 zu der Quelle. Die (ironische) Nutzung der Bibel entspricht Olympes Distanz zur katholischen Religion. In ihrem Nachlass fand sich ein Neues Testament: Blanc, Marie-Olympe de Gouges, S. 52. Zu weiblicher Religiosität im spezifischen Kontext der Französischen Revolution vgl. Bock, Frauen, S. 83–92. 21 Zum schillernden Begriff „Individuum“, ebenso wie „homme“, in der revolutionären Sprache vgl. Badinter, Elisabeth (Hg.), Paroles d’hommes (1790–1793): Condorcet, Prudhomme, Guyomar ..., Paris 1989, z.B. S. 142; Rosanvallon, Le sacre du citoyen, Kap. II („L’individu autonome“).
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Gleichheit und Differenz Doch keineswegs durchgängig übernimmt Olympe die Postulate von 1789, und nur teilweise sind die Rechte von Frauen und Männern dieselben. Wahrhafte Gleichheit macht nur Sinn, wenn sie auch für unterschiedliche Menschen gilt. Unter dem Anschein der Parallele zu dem Dokument von 1789 argumentiert die Präambel auf eine Weise, die nicht abstrakte Individuen gleichsetzt, sondern die Differenz der Geschlechter und das menschliche Aufeinander-Bezogen-Sein ins Licht rückt: „Die Mütter, die Töchter, die Schwestern, Vertreterinnen der Nation, verlangen, als Nationalversammlung konstituiert zu werden.“22 Sie fordert also ein exklusiv weibliches Parlament (zweifelte sie etwa am Nutzen einer geschlechterübergreifenden Versammlung? Oder war es eine Provokation gegenüber der tatsächlichen, die exklusiv aus 1.200 Männern bestand?). Olympe stellt also die damals gängigen Tiraden, denen zufolge Frauen wegen ihrer weiblichen Rollen der Politik fernbleiben müssten, auf den Kopf bzw. auf die Füße: Nicht obwohl sie Mütter, Töchter, Schwestern sind, sondern weil sie es sind, repräsentieren sie die Nation, und das erst recht angesichts ihrer „intellektuellen Fähigkeiten“, von denen die Vorrede handelte. Olympe weist die Geschlechterdifferenz nicht etwa zurück, sondern macht sie zur Basis der Menschenrechte auch für das weibliche Geschlecht. Geschlecht ist somit zugleich – und je nach Kontext – von hoher Bedeutung und bedeutungslos: eine Paradoxie, die sich aus der Einseitigkeit der Männer-Erklärung ergab, die aber auch Olympes Sinn für Paradoxien entgegenkam.23 Das Ende der Präambel ist ein Balanceakt zwischen Gleichheit und Differenz: Weil das weibliche Geschlecht dem männlichen überlegen ist (hier klingt noch die frühneuzeitliche Querelle des femmes mit), erklärt es seine Freiheit und Rechtsgleichheit mit dem männlichen Geschlecht. Im 11. Artikel schließlich – wie 1789 geht es um die Freiheit der öffentlichen Rede, hier als „eines der kostbarsten Rechte der Frau“ bestimmt – ersetzt Olympe die Vorlage durch eine gänzlich neue Reflexion, nämlich über das Verhältnis der Geschlechter auf dem Terrain von Mutterschaft, Vaterschaft und Sexualität. Die weibliche Freiheit garantiere die Legitimität von Vaterschaft insofern, als „jede Bürgerin“ öffentlich, wahrhaftig und ohne fremden Druck sagen kann, sie sei die Mutter eines Kindes, das ein bestimmter Mann gezeugt habe; sie habe allerdings auch die Pflicht, die Wahrheit zu sagen. Angesichts der Differenz der Geschlechter auf diesem Terrain konnte hier eine bloße Zulassung von Frauen zu den Männerrechten nicht genügen. Ohne das Recht auf wahrhafte Rede hätten Frauen weder die Möglichkeit noch die Macht, Väter auf ihre Pflichten gegenüber ihren Kindern festzulegen. Noch einmal wird 22 Vgl. meine Anm. 29 zur Quelle. Nicht zufällig „fehlen“ in diesem Satz die Ehefrauen, denn sie sind in den anderen drei Kategorien enthalten, und die Ehe gilt nicht als konstitutiv für das Frau-Sein. 23 Scott, Joan W., French Feminists and the Rights of „Man“: Olympe de Gouges’s Declarations, in: History Workshop 28 (1989), S. 2–21; dies., Only Paradoxes to Offer. French Feminists and the Rights of Man, Cambridge, Mass. 1996, Kap. 2.
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hier Mutterschaft, in der Regel als Grund für den Ausschluss von Rechten herangezogen, geradezu als Legitimation weiblicher Bürgerschaft präsentiert. Vaterschaft sollte nicht bloß an der ehelichen Verbindung oder der Aussage des Mannes abgelesen werden, sondern an der Aussage der Mutter, die ein höheres Maß an Wahrheit verbürge. Mutterschaft wird somit nicht nur als leibliches Problem verstanden, sondern als soziales, und nicht als ein „frauenspezifisches“ und damit partikulares Problem, sondern als eine universale Kategorie (und das erst recht in der Form von Elternschaft). In einem Universalität beanspruchenden Grundrechtekatalog hatte sie für de Gouges einen legitimen Platz: Frauen sind Menschen, nicht obwohl, sondern weil sie Frauen sind. Warum hat de Gouges eine derartige Herausforderung des Verhältnisses von Partikularem und Universalem gerade an der nichtehelichen Mutterschaft exemplifiziert? Ihre eigene nichteheliche Herkunft spielte sicher eine Rolle: Sie wurde in eine Handwerkerfamilie geboren, aber ihr leiblicher Vater war ein gebildeter Adliger. Doch ebenso wichtig ist der umfassendere Kontext: Die Frage der Unehelichkeit wurde in Frankreich – aber auch in ganz Europa – seit langem breit diskutiert und sollte auch künftig von Bedeutung sein. Schon seit Jahrhunderten war es vielerorts üblich gewesen, unverheirateten Schwangeren eine déclaration de grossesse abzunehmen und von ihnen den Kindsvater zu erfahren, um ihn zur Zahlung zwingen zu können – die recherche de la paternité. Die Frage von Wahrheit und Lüge aus dem Mund einer Frau war somit ebenso zentral wie umstritten. In der vorrevolutionären Rechtsprechung war die väterliche Alimentationspflicht allmählich zurückgewiesen worden und damit auch das Recht der Frau auf Vaterschaftsklage. Seit den 1780er Jahren hatte Olympe sich für eine Besserstellung lediger und armer Mütter eingesetzt, sich über die unzureichenden Entbindungsanstalten empört, staatliche Versorgung und die Erneuerung der recherche de la paternité gefordert. Von 1790 bis zum Herbst 1793, an eben dem Tag, als Olympe dem Revolutionstribunal vorgeführt wurde, gab es dann tatsächlich mehrere Reformen zugunsten von ledigen Schwangeren, unehelichen und Findelkindern.24 De Gouges’ Rechtekatalog kulminiert in einem „Gesellschaftsvertrag“, der die zivilen Rechte für den Bereich der Ehe formuliert (auch die Verfassung definierte die Ehe als bürgerlichen Vertrag). Da der Wohlstand von Frauen der höheren Schichten von ihrem Mann (oder ihren Männern) abhänge und ungesichert sei, wenn sie alt und hässlich werden, und da Frauen der Unterschichten ohnehin keine Chance auf einen eigenständigen Lebensunterhalt hätten, sei die traditionelle Ehe „das Grab des Vertrauens und der Liebe“. Deshalb müsse künftig das Eigentum beiden Ehepartnern gemeinsam gehören und auf die Kinder – ob inner- oder außerehelich – vererbt werden. Bei einer Scheidung – schon ein Jahr zuvor hatte
24 Vgl. Taeger, Angela, Kindesaussetzung und Frauenpolitik: Fürsorge für Mutter und Kind im Frankreich des 19. Jahrhunderts, Hamburg 1991, S. 7–10.
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Olympe in einem Theaterstück über La Nécessité du divorce für ihre Dringlichkeit plädiert – solle das Vermögen geteilt werden und auch den Kindern zukommen.25 Drei weitere Reflexionen, die über den Vertrag hinausgehen, betreffen außereheliche Sexualität. Breche ein Mann sein Eheversprechen, so habe er die Frau entsprechend seinem Vermögen zu entschädigen; im umgekehrten Fall solle auch die Frau bestraft werden. Zweitens sollen Prostituierte ihrem Gewerbe in speziellen Bezirken nachgehen; im Übrigen seien nicht sie es, welche die Sitten verderben, sondern die Damen der „guten“ Gesellschaft. Drittens kommt die Autorin auf das Thema zurück, mit dem sie 1784 ihr politisches Engagement begonnen hatte, und plädiert zugunsten der Schwarzen und Farbigen in den Kolonien: Hier herrschen weiße Pflanzer despotisch über Farbige, deren Väter und Brüder sie sind; sie frönen ihrer Begierde nach schwarzen Frauen, ohne jedoch die Pflichten der Vaterschaft zu übernehmen. „Widerstand“ sei hier nötig, doch überaus schwierig. De Gouges wurde zwar nicht unmittelbar wegen ihres Einsatzes für Frauenrechte hingerichtet, sondern wegen ihrer öffentlichen Kritik an der zentralistischen und terroristischen Politik von Robespierre. Gleichwohl nannte das Prozess- und Hinrichtungsprotokoll als Begründung, dass sie ein „Staatsmann” sein wollte und „die Tugenden vergessen hat, die ihrem Geschlecht anstehen”.26 Am Ende waren es Frauen – Sansculottinnen, die tricoteuses –, die mitleidlos ihrer Hinrichtung applaudierten. Doch die historische Bedeutung von Olympe de Gouges liegt nicht darin, dass sie scheiterte, sondern dass sie agiert hat, sich selbst zur „aktiven Bürgerin“ machte: leidenschaftlich denkend und formulierend, was ihr als politisches Handeln galt. Ihr Jesus-Zitat in der Déclaration ließe sich (nach dem Johannesevangelium) fortführen: „Meine Stunde ist noch nicht gekommen.” Dass Olympes Visionen gleichsam anachronistisch waren, war der Grund dafür, dass sie so schnell und so lange in Vergessenheit geriet. Ihr selbst war das durchaus klar; einführend zu ihrem Gesellschaftsvertrag schrieb sie: „Wenn mein Versuch, meinem Geschlecht eine achtbare und gerechte Existenzgrundlage zu verschaffen, gegenwärtig als ein selbstverschuldetes Paradoxon angesehen wird, als der Versuch, Unmögliches anzustreben, dann überlasse ich den Menschen der Zukunft den Ruhm, diese Frage zu behandeln.“ Weit ihrer Zeit voraus war Olympes Versuch, nicht nur Menschenrechte als Frauenrechte zu konzipieren, sondern auch Frauenrechte als Menschenrechte. Literaturhinweise Blanc, Olivier, Marie-Olympe de Gouges. Une humaniste à la fin du XVIIIe siècle, Paris 2003. Bock, Gisela, Frauen in der europäischen Geschichte, München 2005.
25 Vgl. Blanc, Marie-Olympe de Gouges, S. 154; Thiele-Knobloch, Einl. zu Théâtre politique, Bd. 2, S. 16; Verdier, Gabrielle, From Reform to Revolution: The Social Theater of Olympe de Gouges, in: Literate Women and the French Revolution of 1789, Birmingham, AL 1994, S. 189–221. Scheidung wurde 1792 legalisiert, eine Generation später abgeschafft und erst 1884 wieder eingeführt. 26 Duhet, Les femmes, S. 205f.; Blanc, Marie-Olympe de Gouges, S. 227.
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Duby, Georges; Perrot, Michelle (Hgg.), Geschichte der Frauen, Bd. IV: 19. Jahrhundert, hg. von Fraisse, Geneviève; Perrot, Michelle, Frankfurt am Main 1994, bes. Teil I: „Der politische Bruch und die Neuordnung des Diskurses“, S. 25–132. Fauré, Christine (Hg.), Encyclopédie politique et historique des Femmes: Europe, Amérique du Nord, Paris 1997, bes. Teil II: „L’Ère des Révolutions“, S. 97–315. Offen, Karen, European Feminisms 1700–1950: A Political History, Stanford 2000.
Quelle Olympe de Gouges: Die Rechte der Frau (1791)27 An die Königin Madame, Wenig geübt in der Sprache, in der man zu Königen spricht, werde ich mich nicht der Schmeichelei der Höflinge befleißigen, um Euch dieses einzigartige Werk zu widmen. Mein Ziel, Madame, ist es, offen zu Euch zu sprechen. Um mich dergestalt zu äußern, musste ich nicht das Zeitalter der Freiheit abwarten; ich habe mich mit gleicher Tatkraft zu einer Zeit gezeigt, als die Despoten in ihrer Verblendung einen so kühnen Edelmut noch bestraften. [...] Möge ein edleres Bestreben [als Intrigen zum Schaden Frankreichs] Euch auszeichnen, Madame, Euren Ehrgeiz beflügeln und Eure Blicke auf sich ziehen. Allein derjenigen, die der Zufall in einen so herausragenden Rang erhoben hat, gebührt es, den Rechten der Frau zum Aufschwung zu verhelfen und ihren Erfolg zu beschleunigen. [...] Dieses Werk [Eurem Geschlecht die Position zu verleihen, die ihm zukommt] kann nicht an einem Tag vollendet werden, zum Unglück für das neue Regime. Diese Revolution wird sich erst dann verwirklichen, wenn alle Frauen von ihrem beklagenswerten Los und vom Verlust ihrer Rechte in der Gesellschaft überzeugt sind. Unterstützt eine so schöne Sache, Madame; verteidigt dieses unglückliche Geschlecht, und bald werdet Ihr die eine Hälfte des Königreichs auf Eurer Seite haben und von der anderen mindestens ein Drittel. [...] 27 Der Name der Autorin steht im Original nur am Ende der Adresse an die Königin; die im Folgenden mit „x“ bezeichneten Anmerkungen stammen von Olympe de Gouges. Anders als manche Ausgaben nahelegen, trägt die Broschüre kein Datum. Für französische Editionen vgl. den zugehörigen Essay (Anm. 10, 11); eine historisch-kritische Ausgabe gibt es nicht. Das Original in der Bibliothèque Nationale Paris, URL: (28.10.2017). Die Quelle sowie das französische Original sind zudem mit deren freundlicher Genehmigung online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Vgl. auch URL: (28.10.2017). Wegen des Formats des „Themenportals Europäische Geschichte“ werden hier nur etwa vier Fünftel des Textes wiedergegeben; das Übrige ist leicht in den bisher vorliegenden deutschen Editionen zu finden (vgl. dazu den Essay, Anm. 13, 14, 16). Die folgende Übersetzung stammt von Gisela Bock. Neben dem französischen Original habe ich die sechs vorliegenden Übersetzungen sowie ihre Divergenzen geprüft und einige Probleme geklärt. Für diejenigen Teile der 17 Artikel, die mit der „Erklärung“ von 1789 identisch sind, habe ich die Übersetzung von Wolfgang Kaiser benutzt (1991, siehe Anm. 14 zum Essay). Zur angegebenen Literatur vgl. ebenfalls den Essay.
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Mit dem Ausdruck tiefster Ehrerbietung verbleibe ich, Madame, Eure ergebenste und gehorsamste Dienerin De Gouges Die Rechte der Frau Mann, bist du fähig, gerecht zu sein? Eine Frau stellt dir diese Frage; zumindest dieses Recht wirst du ihr nicht nehmen können. Sag mir, wer hat dir die selbstherrliche Macht verliehen, mein Geschlecht zu unterdrücken? Deine Kraft? Deine Talente? Sieh den Schöpfer in seiner Weisheit; prüfe die Natur, der du dich anscheinend nähern willst, in all ihrer Majestät und zeige mir, wenn du es wagst, ein Beispiel für solche tyrannische Herrschaft.X Wende dich den Tieren zu, befrage die Elemente, studiere die Pflanzen, wirf schliesslich einen Blick auf all die Vielfalt der belebten Materie; und füge dich dem Offensichtlichen, wenn ich dir die Mittel dazu an die Hand gebe. Suche, untersuche und unterscheide, wenn du es kannst, die Geschlechter in der Ordnung der Natur. Überall wirst du sie vermischt finden, überall arbeiten sie in harmonischer Gemeinschaft an diesem unsterblichen Meisterwerk. Allein der Mann hat sich aus seiner Ausnahme ein Prinzip zurechtgeschustert. Wunderlich, verblendet, aufgeblasen von den Wissenschaften und degeneriert, will er – in diesem Jahrhundert der Aufklärung und des Scharfsinns in krasseste Unwissenheit zurückfallend – despotisch über ein Geschlecht befehligen, das alle intellektuellen Fähigkeiten besitzt. Dieses Geschlecht beansprucht, aus der Revolution einen Nutzen zu ziehen und sein Recht auf Gleichheit einzufordern, um nicht noch mehr zu sagen.28 Erklärung der Rechte der Frau und der Bürgerin zu verabschieden von der Nationalversammlung in ihren letzten Sitzungen oder in der nächsten Legislaturperiode Präambel Die Mütter, die Töchter, die Schwestern, Vertreterinnen der Nation, verlangen, als Nationalversammlung konstituiert zu werden.29 In Erwägung, dass die Unwissenheit, das X Von Paris bis Peru, von Japan bis Rom ist das dümmste Tier wohl doch der Mann. 28 Dieser Satz ist in fast allen deutschen (und auch englischen) Übersetzungen inkorrekt übertragen; eine Ausnahme: Noack, Paul, Olympe de Gouges 1748–1793: Kurtisane und Kämpferin für die Rechte der Frau, München 1992, S. 164. Zur korrekten Übersetzung vgl. Blanc, Olivier, Olympe de Gouges, Paris 1981, S. 193 (dt. 1989, S. 196); ders., Marie-Olympe de Gouges. Une humaniste à la fin du XVIIIe siècle, Paris 2003, S. 150. Ich danke Françoise Thébaud für ihre Beratung. 29 Dieser Satz („être constituées en assemblée nationale“, vgl. das Dokument von 1789: „constitués en Assemblée nationale“) ist in den meisten deutschen Übersetzungen inkorrekt übertragen; korrekt aber in den beiden englischen Übersetzungen (siehe Anm. 12 zum Essay) und in Bei, Neda; Schwarz, Ingeborg, Olympe de Gouges: Les droits de la Femme. A la Reine. – Die Frauenrechte. An die Königin, in: Autorinnengruppe Uni Wien, Das ewige Klischee. Zum Rollenbild und Selbstverständnis bei Männern und Frauen, Wien 1981, S. 50; Gouges, Olympe de, Schriften, hg. von Dillier, Monika; Mostowlansky, Vera (die Übersetzerin); Wyss, Regula, Frankfurt am Main 1980, S. 40; Burmeister, Karl Heinz, Olympe de Gouges. Die Rechte der Frau 1791, Bern 1999, übersetzt von Ulrike Längle, S. 160. Zur korrekten Übersetzung vgl. z.B. Fau-
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Vergessen oder die Missachtung der Rechte der Frau die alleinigen Ursachen des öffentlichen Unglücks und der Verderbtheit der Regierungen sind, haben sie beschlossen, in einer feierlichen Erklärung die natürlichen, unveräusserlichen und heiligen Rechte der Frau darzulegen, damit diese Erklärung allen Gliedern des Gesellschaftskörpers ständig gegenwärtig ist und sie unablässig an ihre Rechte und Pflichten erinnert; damit die Handlungen der Macht von Frauen und diejenigen der Macht von Männern in jedem Augenblick mit dem Endzweck jeder politischen Einrichtung verglichen werden können und dadurch mehr geachtet werden; damit die Ansprüche der Bürgerinnen, fortan auf einfache und unbestreitbare Prinzipien gegründet, sich immer auf die Erhaltung der Verfassung, der guten Sitten und das Glück aller richten mögen. Daher anerkennt und erklärt das Geschlecht, das an Schönheit wie an Mut im Ertragen der Leiden der Mutterschaft überlegen ist, in Gegenwart und unter dem Schutze des Höchsten Wesens, die folgenden Rechte der Frau und der Bürgerin. I. Die Frau ist frei geboren und bleibt dem Manne gleich an Rechten. Soziale Unterschiede können nur auf den gemeinen Nutzen gegründet sein. II. Der Endzweck jeder politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unveräusserlichen Rechte der Frau und des Mannes. Diese Rechte sind Freiheit, Eigentum, Sicherheit und vor allem Widerstand gegen Unterdrückung. III. Der Ursprung jeder Souveränität ruht seinem Wesen nach in der Nation, die nichts anderes ist als die Vereinigung von Mann und Frau: keine Körperschaft, kein Individuum kann eine Autorität ausüben, die nicht ausdrücklich von ihr ausgeht. IV. Freiheit und Gerechtigkeit bestehen darin, alles zurückzugeben, was einem anderen gehört; die Ausübung der natürlichen Rechte der Frau hat mithin keine Grenzen außer in der ständigen Tyrannei, die der Mann ihr entgegensetzt. Diese Grenzen müssen durch die Gesetze der Natur und der Vernunft reformiert werden. V. Die Gesetze der Natur und der Vernunft verbieten alle Handlungen, die der Gesellschaft schaden. Alles, was nicht von diesen weisen und göttlichen Gesetzen verboten wird, kann nicht behindert werden, und niemand kann gezwungen werden, etwas zu tun, was sie nicht vorschreiben. VI. Das Gesetz muss der Ausdruck des Gemeinwillens sein; alle Bürgerinnen und Bürger müssen persönlich oder durch ihre Vertreter an seiner Bildung mitwirken. Es muss für alle das gleiche sein: Alle Bürgerinnen und alle Bürger müssen, da sie vor den Augen des Gesetzes gleich sind, gleichermaßen zu allen Würden, Stellungen und öffentlichen Ämtern zugelassen werden, entsprechend ihrer Fähigkeit und ohne andere Unterschiede als die ihrer Tugenden und ihrer Talente. VII. Keine Frau hat Sonderrechte. Frauen werden in den vom Gesetz bestimmten Fällen angeklagt, festgenommen und gefangengehalten. Frauen sind diesem strengen Gesetz ebenso wie Männer unterworfen. VIII. Das Gesetz soll nur solche Strafen verhängen, die unbedingt und offenkundig notwendig sind, und niemand kann bestraft werden außer aufgrund eines Gesetzes, das bereits vor der Tat erlassen und verkündet wurde und rechtmäßig auf Frauen anwendbar ist. IX. Jede für schuldig befundene Frau unterliegt der ganzen Strenge des Gesetzes.
ré, Christine, Des droits de l’homme aux droits des femmes: une conversion intellectuelle diffi-cile, in: Dies. (Hg.), Encyclopédie politique et historique des femmes: Europe, Amérique du Nord, Paris 1997, S. 203–222, hier S. 212f.
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X. Niemand darf wegen seiner Ansichten, selbst wenn sie grundsätzlicher Art sind, behelligt werden. Die Frau hat das Recht, das Schafott zu besteigen; sie muss gleichermaßen das Recht haben, die Rednertribüne zu besteigen, sofern ihre Äußerungen nicht die durch das Gesetz festgelegte öffentliche Ordnung stören. XI. Die freie Mitteilung der Gedanken und Meinungen ist eines der kostbarsten Frauenrechte, denn diese Freiheit sichert die Legitimität der Väter gegenüber ihren Kindern. Jede Bürgerin kann daher in aller Freiheit sagen: „Ich bin die Mutter eines Kindes, das von Euch stammt“, ohne dass ein barbarisches Vorurteil sie zwänge, die Wahrheit zu verbergen. Allerdings unter dem Vorbehalt der Haftung im Falle von Missbrauch dieser Freiheit in den vom Gesetz bestimmten Fällen. XII. Die Gewährleistung der Rechte der Frau und Bürgerin muss einem höheren Nutzen verpflichtet sein; sie muss zum Wohle aller gereichen, nicht zum persönlichen Nutzen derer, denen sie anvertraut wird. XIII. Zum Unterhalt der Polizei und zu den Kosten der Verwaltung tragen Frauen und Männer gleichermaßen bei. Weil die Frau an allen Diensten und Lasten beteiligt ist, muss sie gleichermaßen beteiligt sein an der Verteilung der Posten, der Anstellungen, der Aufträge, der Würden und der Gewerbe. XIV. Die Bürgerinnen und Bürger haben das Recht, selbst oder durch ihre Vertreter die Notwendigkeit der öffentlichen Steuer festzustellen. Die Bürgerinnen können dem aber nur dann beipflichten, wenn ihnen ein gleicher Anteil nicht nur am Vermögen zugestanden wird, sondern auch an den öffentlichen Ämtern, und sie die Höhe der Abgaben, ihre Verwendung, Einziehung und Zeitdauer mitbestimmen. XV. Die Masse der Frauen, die zur Steuerleistung mit der der Männer zusammengeschlossen ist, hat das Recht, von jeder öffentlichen Instanz Rechenschaft über ihre Amtsführung zu fordern. XVI. Jede Gesellschaft, in der die Verbürgung der Rechte nicht gesichert und die Trennung der Gewalten nicht festgelegt ist, hat keine Verfassung. Die Verfassung ist null und nichtig, wenn nicht die Mehrheit der Individuen, welche die Nation bilden, an ihrem Zustandekommen mitgewirkt hat. XVII. Eigentum steht beiden Geschlechtern zu, ob gemeinsam oder getrennt. Jedes von ihnen hat darauf ein unverletzliches und heiliges Anrecht. Niemandem darf das Eigentum, wahrhaftes Erbteil der Natur, genommen werden, es sei denn, die gesetzlich festgestellte öffentliche Notwendigkeit erforderte es offenkundig, und unter der Bedingung einer gerechten und vorherigen Entschädigung. Postambel Frauen, erwachet; die Sturmglocke der Vernunft ist im ganzen Universum zu hören; erkennt eure Rechte! Das gewaltige Reich der Natur ist nicht mehr umlagert von Vorurteilen, Fanatismus, Aberglaube und Lügen. Die Fackel der Wahrheit hat alle Wolken der Dummheit und Anmaßung zerstreut. Der versklavte Mann hat zwar seine Kräfte vervielfacht, aber er hat der eurigen bedurft, um seine Ketten zu sprengen. Kaum in Freiheit versetzt, ist er nun selbst ungerecht geworden gegen seine Gefährtin. O Frauen! Frauen, wann wird eure Verblendung ein Ende haben? Was sind denn die Vorteile, die euch aus der Revolution erwachsen sind? Ihr werdet noch mehr verachtet, noch offener verhöhnt. In den Jahrhunderten der Korruption habt ihr nur über die Schwächen der Männer geherrscht. Eure Herrschaft ist zerstört, was bleibt euch also? Die Überzeugung, dass der Mann ungerecht ist; der Anspruch auf das, was euch zusteht, der sich auf die weisen
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Verfügungen der Natur beruft. Was hättet ihr angesichts einer so schönen Aufgabe zu befürchten? Den spöttischen Tadel des Gesetzgebers bei der Hochzeit von Kanaan? Fürchtet ihr, dass unsere französischen Gesetzgeber – Richter über jene Moral, die sich lange Zeit in der Politik eingenistet hat, nun aber überlebt ist – es euch wiederholen: „Frauen, was habt ihr mit uns gemein?“ „Alles“, werdet ihr zu entgegnen haben.30 Und wenn sie sich in ihrer Schwäche darauf versteifen, mit ihren eigenen Prinzipien in Widerspruch zu geraten, dann setzt beherzt die Macht der Vernunft ihren eitlen Anmaßungen entgegen, euch überlegen zu sein. [...] Frauen haben mehr Böses als Gutes getan. Zwang und Verstellung sind ihr Erbteil gewesen. Was ihnen durch Gewalt geraubt wurde, haben sie durch List zurückgewonnen. Sie haben alle Mittel ihrer Reize ausgespielt, sodass selbst der ehrenhafteste Mann ihnen nicht widerstehen konnte. Gift und Dolch, auf alles verstanden sie sich; sie befehligten das Verbrechen wie die Tugend. Insbesondere die französische Regierung war jahrhundertelang abhängig von den nächtlichen Machenschaften der Frauen. Das Kabinett war vor ihrer Indiskretion nicht sicher, weder Botschaft, Heeresleitung, Ministerium, Präsidium noch PontifikatXX und Kardinäle, kurzum alles, was die Torheit der Männer ausmacht, ob im weltlichen oder geistlichen Bereich, alles war der Begierde und dem Ehrgeiz dieses Geschlechts unterworfen: des Geschlechts, das einstmals verächtlich, doch respektiert war und seit der Revolution respektabel ist, doch verachtet wird. Was hätte ich an dieser Art von Paradoxa nicht noch alles vorzubringen! [...] Ich kehre nun noch einmal zu meinen Ausführungen über die Sitten zurück. Die Ehe ist das Grab des Vertrauens und der Liebe. Die verheiratete Frau kann ihrem Mann ungestraft Bastarde unterschieben und ihnen damit sein Vermögen, das ihnen nicht zusteht, zuschanzen. Die Unverheiratete hingegen hat nur ein schwaches Recht: alte und unmenschliche Gesetze verweigerten ihr für ihre Kinder das Anrecht auf den Namen und auf Hab und Gut ihres Vaters, und man hat keine neuen Gesetze auf diesem Gebiet gemacht. Wenn mein Versuch, meinem Geschlecht eine achtbare und gerechte Existenzgrundlage zu verschaffen, gegenwärtig als ein selbstverschuldetes Paradoxon angesehen wird, als der Versuch, Unmögliches anzustreben, dann überlasse ich den Menschen der Zukunft den Ruhm, diese Frage zu behandeln; aber bis es soweit ist, kann man es durch ein nationales Bildungswesen, durch eine Erneuerung der Sitten und durch Eheverträge vorbereiten. Muster eines Gesellschaftsvertrags zwischen Mann und Frau Wir, N. und N., verbinden uns, geleitet von unserem eigenen Willen, für die Zeit unseres Lebens und für die Dauer unserer gegenseitigen Zuneigung zu den folgenden Bedingungen: Wir beabsichtigen und wollen unsere Vermögen in eine Gütergemeinschaft überführen, behalten uns jedoch das Recht vor, unser Vermögen zugunsten unserer Kinder sowie derjenigen, die wir aus einem anderweitigen Verhältnis haben könnten, aufzuteilen; wir anerkennen gegenseitig, dass unser Vermögen direkt unseren Kindern gehört, welchem Beilager sie auch entstammen mögen, und dass alle ohne Unterschied das Recht haben, den Namen der Väter und Mütter zu tragen, die sich zu ihnen bekannt haben, und wir verpflichten uns, das Gesetz gutzuheißen, das die Verleugnung des eigenen Blu30 Johannes 2,4: „Weib, was habe ich mit dir zu schaffen?“ („Quid mihi et tibi est, mulier?“). Vgl. auch Anm. 20 zum Essay. XX Etwa Monsieur de Bernis, eine Kreatur der Madame de Pompadour.
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tes bestraft. Wir verpflichten uns gleichermaßen für den Fall der Trennung, unser Vermögen zu teilen und den gesetzlich vorgesehenen Anteil unserer Kinder abzuziehen. Und im Falle einer dauerhaften Verbindung würde, wer zuerst zu sterben käme, die Hälfte seiner Güter seinen Kindern überschreiben; und wenn einer kinderlos stirbt, erbt der Überlebende von Rechts wegen alles, wofern nicht der Erblasser über die Hälfte des gemeinsamen Vermögens zugunsten Dritter verfügt hat. Das wäre ungefähr das Muster des Ehevertrags, dessen Anwendung ich vorschlage. Beim Durchlesen dieses bizarren Textes sehe ich jetzt schon die Heuchler, die Prüden, den Klerus und die ganze höllische Brut sich gegen mich erheben. [... Aber] Dieses Gesetz wird vielleicht das Gemeinwohl sichern und die Verwirrung eindämmen, die so viele Opfer in die Häuser der Schande, der Erniedrigung und des Zusammenbruchs aller menschlichen Grundsätze führt, wo die Natur seit langem schmachtet. Mögen die Verleumder der vernünftigen Philosophie doch damit aufhören, gegen die ursprünglichen Sitten zu wettern, oder mögen sie zugrundegehen in der Flut ihrer Zitate!XXX Ich wünsche auch noch ein Gesetz zugunsten von Witwen und alleinstehenden Frauen, die durch falsche Versprechungen eines Mannes, mit dem sie sich verbunden haben, getäuscht wurden. Ich möchte, sage ich, dass dieses Gesetz einen Wankelmütigen dazu zwingt, seine Verpflichtungen einzuhalten oder aber eine seinem Vermögen angemessene Entschädigung zu zahlen. Ich möchte auch, dass dieses Gesetz unerbittlich gegen die Frauen sei, zumindest gegen jene, welche die Stirn haben, schutzheischend ein Gesetz anzurufen, das sie selbst durch ihr liederliches Betragen übertreten haben – falls der Beweis dafür erbracht wird. Gleichzeitig wünschte ich, wie ich es bereits 1788 in Das ursprüngliche Glück des Menschen31 dargelegt habe, dass die Freudenmädchen bestimmte Stadtviertel zugeteilt erhalten. Doch es sind nicht die Frauen der Straße, die am meisten zur Sittenverderbnis beitragen, sondern die Frauen der Gesellschaft. Indem man die letzteren bessert, ändert man die ersteren. Diese Kette brüderlicher Einigung wird zuerst Verwirrung stiften, aber letztlich ein vollkommenes Ganzes hervorbringen. Ich biete ein unübertreffliches Mittel an, um die Seele der Frauen zu erheben: man muss sie an allen Tätigkeiten des Mannes teilnehmen lassen. Wenn der Mann sich darauf versteift, dieses Mittel für unanwendbar zu halten, soll er sein Vermögen mit der Frau teilen, und zwar nicht nach seiner Laune, sondern nach der Weisheit der Gesetze. Das Vorurteil fällt, die Sitten werden reiner, und die Natur setzt sich wieder in ihre Rechte ein. Fügt man dem noch die Priesterehe hinzu und eine Wiedererstarkung des Königs, so würde die französische Regierung nicht mehr zugrundegehen. Es ist wohl nötig, etwas zu den Unruhen zu sagen, die, wie man hört, das Dekret zugunsten der Farbigen32 auf unseren Inseln ausgelöst hat. Dort erbebt die Natur vor
XXX Abraham hatte sehr wohl legitime Kinder von Hagar, der Magd seiner Frau. 31 Gouges, Olympe de, Le bonheur primitif de l’homme, ou les Rêveries patriotiques, Amsterdam 1789. 32 Das Gesetz zugunsten der freien Farbigen (gens de couleur) stammt vom 15. Mai 1791. Von dem Aufstand der Sklaven, der Ende August begann, konnte de Gouges noch nicht erfahren haben, als sie „Die Rechte der Frau“ schrieb, und erst recht nicht von der Sklavenbefreiung im August/September 1793 auf Haiti und am 4.2.1794 in der Nationalversammlung. Vgl. Gliech, Oliver, Die Sklavenrevolution von Saint-Domingue/Haiti und ihre internationalen Auswirkungen, in: Hausberger, Bernd; Pfeisinger, Gerhard (Hgg.), Die Karibik. Geschichte und Gesellschaft 1492–2000, Wien 2005, S. 85–100; Dorigny, Marcel (Hg.), Les Abolitions de l’esclavage. De L. F. Sonthonax à V.
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Abscheu, dort haben Vernunft und Menschlichkeit die verhärteten Seelen noch nicht gerührt. Dort vor allem versetzen Zwist und Zwietracht die Einwohner in Aufruhr. Es fällt nicht schwer, die Anstifter dieser Brandherde zu erraten: es gibt sie sogar inmitten der Nationalversammlung, und in Europa schüren sie das Feuer, das Amerika versengen soll. Die Kolonisten maßen sich an, als Despoten über Menschen zu herrschen, deren Väter und Brüder sie sind, und in Missachtung der Rechte der Natur gehen sie deren Ursprung bis in die geringste Nuance ihres Blutes nach. Diese unmenschlichen Kolonisten sagen: „Unser Blut fliesst zwar in ihren Adern, aber wir werden es, wenn nötig, unerbittlich vergiessen, um unsere Gier oder unseren blindwütigen Ehrgeiz zu befriedigen.“ Ausgerechnet in jenen Gefilden, die der Natur am nächsten sind, verleugnet der Vater den Sohn; taub für die Stimme des Blutes, erstickt er all ihren Zauber. Was kann man da von einem Widerstand, den man dem entgegensetzt, erhoffen? Mit Gewalt zu widerstehen, würde die Lage noch verschlimmern; weiter in Ketten zu verbleiben, bedeutet, dass alles Unheil über Amerika kommt.33 [...] P.S. Dieses Werk war seit einigen Tagen gesetzt; der Druck wurde noch verzögert; und in dem Moment, als Monsieur Talleyrand, dessen Name der Nachwelt stets teuer sein wird, sein Werk über die Grundsätze der öffentlichen Erziehung herausgebracht hat,34 war dieser Text schon unter der Druckerpresse. Ich bin glücklich, wenn ich mit den Ansichten dieses Redners übereinstimme! Aber nunmehr kann ich nicht umhin, den Druck anzuhalten und der reinen Freude Ausdruck zu verleihen, die mein Herz angesichts der Nachricht empfunden hat, dass der König soeben die Verfassung angenommen hat und die Nationalversammlung, die ich momentan geradezu anbete – sogar einschließlich des Abbé Maury, und La Fayette ist ein Gott –, einstimmig eine Generalamnestie verkündet hat. Göttliche Vorsehung, hilf, dass diese öffentliche Freude keine falsche Illusion sei! Schicke uns unsere sämtlichen Flüchtlinge zurück und mach, dass ich mit einem liebenden Volk ihnen entgegeneilen kann, und an diesem Feiertag werden wir alle deine Macht preisen.
Schœlcher 1793 – 1794 – 1848, Paris 1995; Blackburn, Robin, The Overthrow of Colonial Slavery 1776–1848, London 1988, S. 188–190. 33 Die deutschen Übersetzungen (auch die englischen) dieser letzten Sätze divergieren enorm. Längle und Burmeister, Olympe de Gouges (siehe Anm. 29), nehmen an, das Original sei hier fehlerhaft. 34 Charles Maurice de Talleyrand präsentierte der Nationalversammlung seinen Bericht am 10., 11. und 19. September 1791. Auch Mary Wollstonecraft bezog sich in ihrer „Vindication of the Rights of Woman“ (1792), die sie in Paris schrieb, auf Talleyrands Schrift (erwähnte aber nicht de Gouges’ Texte).
FEMINISTINNEN IN DER EUROPÄISCHEN FRIEDENSBEWEGUNG DIE ASSOCIATION INTERNATIONALE DES FEMMES (1868–1914)1 Ruth Nattermann Im Juni 1868 veröffentlichte die Italienerin Gualberta Alaide Beccari einen offenen Brief der Schweizerin Marie Goegg, geborene Pouchoulin, in der von ihr nur wenige Wochen zuvor gegründeten Frauenrechtszeitschrift La Donna.2 Die italienische Frauenbewegung befand sich in ihrer Frühphase; der Prozess der italienischen Einigung, der 1861 in die Ausrufung des „Königreichs von Italien“ gemündet war, hatte das Engagement von Frauen für ihre eigenen Rechte vorbereitet. Die Entwicklung lief parallel zu den in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in ganz Europa entstehenden nationalen Frauenbewegungen.3 Thema des Briefes der schweizerischen Aktivistin war die Initiative zur Gründung einer internationalen Frauenvereinigung, der Association Internationale des Femmes (AIF). Goegg appellierte an die Leserinnen, sich der neuen Organisation anzuschließen, sie zu unterstützen und in der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Die Entstehung dieser ersten internationalen Frauenvereinigung war untrennbar mit der zeitgenössischen europäischen Friedensbewegung verbunden: Tatsächlich entwickelte sich die AIF in direktem Zusammenhang mit der Ligue internationale et permanente de la paix (Internationale Liga für Frieden und Freiheit, ILFF), welche 1867 in Genf ins Leben gerufen worden war.4 Marie Goegg, die selbst dem Zentralkomitee der ILFF nahe stand, unterstrich gleich zu Beginn ihres offenen Briefes die Intention der Frauenorganisation: Die Verbreitung und Erläuterung der „noblen Ideen“ der Friedens- und Freiheitsliga bei einem internationalen weiblichen Publikum. Unmissverständlich machte die Aktivistin jedoch auch das zweite Ziel der neuen Vereinigung klar: Der gemeinsame Einsatz für die Gleichberechtigung von Frau1
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Essay zur Quelle: Marie Goegg: Offener Brief an Gualberta Alaide Beccari / Statut der Association Internationale des Femmes (1868). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Vgl. die Quelle zu diesem Beitrag: Goegg, Marie, Offener Brief an Gualberta Alaide Beccari sowie Statut der Association Internationale des Femmes vom Juni 1868, veröffentlicht in: La Donna I (1868), H. 25, S. 99–100. Im Folgenden stammen alle Quellenzitate, soweit nicht anders ausgewiesen, aus der hier abgedruckten Quelle. Vgl. Paletschek, Sylvia; Pietrow-Ennker, Bianka (Hgg.), Women’s Emancipation Movements in the 19th Century. A European Perspective, Stanford 2004. Vgl. Cooper, Sandi E., Patriotic Pacifism: Waging War on War in Europe, 1815–1914, Oxford 1991, S. 290; Offen, Karen, European Feminisms 1700–1950: A Political History, Stanford 2000, S. 150f.
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en als Staatsbürgerinnen, ihr Recht auf Arbeit und auf Zugang zu allen Berufen. Wenn Goegg davon sprach, dass die „aktuelle Gesellschaftsordnung“ einen Teil des Unrechts verursache, das der Frau vorgeworfen werde, so spielte sie damit vor allem auf die weit verbreitete Frauenarbeitslosigkeit und -obdachlosigkeit inklusive der damit zusammenhängenden Missstände an. Bezeichnenderweise entwickelte sich der Kampf gegen den Frauen- und Mädchenhandel und gegen die staatlich reglementierte Prostitution zu einem der wichtigsten Ziele der ersten internationalen Frauenorganisation, die zu einer engen Zusammenarbeit mit der International Abolitionist Federation führte. Die europäische Friedensbewegung des 19. Jahrhunderts spielt für die Entstehungsgeschichte der Frauenbewegungen in Europa, vor allem im italienischen und schweizerischen Zusammenhang, eine wichtige Rolle, die jedoch von der einschlägigen Forschung insgesamt eher vernachlässigt worden ist. Der vorliegende Essay erläutert diese Verbindung, wobei dem italienischen Kontext aufgrund der ausgeprägten europäischen Orientierung italienischer Aktivistinnen besondere Aufmerksamkeit zukommt. Weiterhin sollen drei innerhalb der ersten internationalen Frauenvereinigung wirkende Akteurinnen behandelt werden, die im Gegensatz zu bekannteren frühen europäischen Feministinnen wie Josephine Butler, Marie Deraismes und Annamaria Mozzoni heute größtenteils in Vergessenheit geraten sind: Die Verfasserin des oben zitierten offenen Briefes und Initiatorin der ersten internationalen Frauenorganisation Marie Goegg (1826–1899), ihre Adressatin, die Journalistin Gualberta Alaide Beccari (1842–1906), sowie die Mailänder Friedensaktivistin deutsch-jüdischer Herkunft Paolina Schiff (1841–1926), Mitbegründerin und bis ins 20. Jahrhundert hinein einflussreiche Protagonistin der organisierten Frauenbewegung in Italien. Diese Fallstudien veranschaulichen das Potential der von Goegg gegründeten internationalen Frauenvereinigung, die in ihren Anfängen politische, soziale und religiöse Unterschiede zu überbrücken versuchte und wichtige Impulse für die Etablierung und organisatorische Entwicklung europäischer Frauenbewegungen insgesamt gab. Gleichzeitig verdeutlicht die kurze Geschichte der AIF, die im Kontext der europäischen Friedensbewegung entstand, deren Ideale letztlich jedoch an der politischen Realität – vor allem dem unüberwindbaren deutsch-französischen Gegensatz – scheiterten, ein grundsätzliches Problem der Verbindung zwischen Frauen- und Friedensbewegungen im langen 19. Jahrhundert: Internationalismus funktionierte im Prinzip nur dann, wenn die eigenen nationalen Identitäten nicht in Frage standen.5 Das generell exklusive Potential des Bewusstseins und Gefühls der Zugehörigkeit zu einer „vorgestellten“ nationalen Gemeinschaft erwies sich letztlich stärker als transnationale bzw. transkulturelle Identitäten, wie sie im Selbstverständnis der Vorreiterin Marie Goeggs anzutreffen waren. Der von der AIF ursprünglich angestrebte Internationalismus im Sinne einer institutionalisierten Dimension von Austausch und Beziehungen zwischen Individuen und Verbänden über nationale Organisationen hinaus war auf Dauer nicht umsetzbar. In Zeiten innerer wie äußerer Krisen trat 5
Vgl. Rupp, Leila J., Worlds of Women. The Making of an International Women’s Movement, Princeton 1997, S. 117, 120f.
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die dem Projekt der Nation inhärente Dynamik – Homogenisierung nach innen, Abgrenzung und Aggression nach außen – unmittelbar und deutlich zutage. Anhand des deutschen Kontextes lässt sich aufzeigen, wie sich die Mehrheit bürgerlicher Frauen spätestens seit der Jahrhundertwende zur Legitimierung ihres Handelns auf das Nationalprinzip statt auf die Menschenrechtstradition berief und damit die dem Nationalismus innewohnenden exklusiven und aggressiven Elemente bereitwillig mittrug.6 Die Umsetzung eines konstruktiven, andauernden Internationalismus in den frühen Frauenbewegungen scheiterte an der Übermacht zeitgenössischer Nationalismen. Sobald die „eigene“ Nation in ihrer Existenz als bedroht empfunden wurde, gaben Aktivistinnen in der Regel dem Anliegen ihrer Nation die Priorität vor pazifistischen und feministischen Prinzipien, die mit dem Ziel einer internationalen Verständigung verbunden waren. Den Konflikt zwischen nationalen Interessen und Grenzen einerseits, international gültigen menschlichen Werten und Rechten andererseits konnte die AIF nicht dauerhaft lösen. Bereits 1870, während des deutsch-französischen Krieges, wurden die AIF und ihr Veröffentlichungsorgan Journal des femmes wieder aufgelöst, und auch die zwei Jahre später gegründete internationale Nachfolgeorganisation Association pour la Défense des Droits de la Femme und ihre Zeitschrift Solidarité hörten 1880 auf zu existieren. Die Kurzlebigkeit der AIF und ihrer Nachfolgeorganisationen, die sich im Kontext eines zunehmend aggressiven Nationalismus in Europa ereignete, weisen daher bereits auf die Unbeständigkeit pazifistischer Einflüsse in den nationalen wie internationalen Frauenbewegungen des langen 19. Jahrhunderts hin. Im Ersten Weltkrieg bildeten die europäischen Pazifistinnen eine Minderheit.7 Das bislang einzige grundlegende Werk zu Frauen in der frühen europäischen Demokratiebewegung, das aus der Feder der italienischen Historikerin Franca Pieroni Bortolotti (1925–1985) stammt, ist außerhalb Italiens nahezu unbekannt geblieben. Die Autorin konnte hier jedoch bereits Mitte der 1980er-Jahre nachweisen, dass die italienische wie auch weitere nationale Frauenbewegungen in ihren Anfängen Teil einer deutlich größeren und komplexeren Bewegung waren, deren Ziel die Herstellung des Friedens und der Einheit Europas darstellte. In erster Linie bedeutete „Europäismus“ für die damaligen Aktivisten und Aktivistinnen, so Pieroni Bortolotti, dass es zwischen Staaten auch Beziehungen gab, die eine Alternative zu Krieg und Gewalt darstellten: Übereinkommen, Ausgleich, Koexistenz, kurz: Dialoge zur Schlichtung von Konflikten.8
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Vgl. Planert, Ute, Vater Staat und Mutter Germania: Zur Politisierung des weiblichen Geschlechts im 19. und 20. Jahrhundert, in: dies. (Hg.), Nation, Politik und Geschlecht. Frauenbewegungen und Nationalismus in der Moderne, Frankfurt am Main 2000, S. 15–50, hier S. 50. Vgl. Wilmers, Annika, Pazifismus in der internationalen Frauenbewegung (1914–1920). Handlungsspielräume, politische Konzeptionen und gesellschaftliche Auseinandersetzungen, Essen 2008, insbesondere S. 43–45. Pieroni Bortolotti, Franca, La Donna, La Pace, L’Europa. L’Associazione internazionale delle donne dalle origini alla prima guerra mondiale, Mailand 1985, S. 9.
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Insbesondere die frühe italienische Frauenbewegung blieb bis in die Anfänge des 20. Jahrhundert hinein in den – letztlich unerfüllten – Idealen der europäischen Demokratiebewegung nach dem Vorbild Giuseppe Mazzinis verwurzelt.9 Die radikalen demokratischen Ideen des Mitbegründers der internationalen Arbeiter-Assoziation wurden zur politischen und geistigen Heimat seiner Anhängerinnen und Anhänger, der sogenannten Mazzinianer und Mazzinianerinnen. Mazzinis Vision eines vereinten Europa, das durch den friedlichen Zusammenschluss freier, demokratisch regierter Nationen verwirklicht werden sollte, schloss die Gleichberechtigung aller Menschen, also auch die Teilhabe von Frauen an diesem Werk ein. Die Mazzinianerinnen identifizierten sich mit dem Ideal einer freien und friedlichen „Verbrüderung“ – damals als „Assoziation“ bezeichnet – von Menschen, Völkern und Staaten. Bis ins 20. Jahrhundert hinein waren Feminismus, Pazifismus und Europagedanke bestimmende Motive im Engagement vieler Italienerinnen für ihre eigene Befreiung, die sie mit übergeordneten demokratischen Zielen verbanden. Dass sich die italienische Frauenbewegung anfangs in erster Linie aus dem Kreis der Mazzinianerinnen rekrutierte, lässt sich daher nicht zuletzt an ihrer bemerkenswerten internationalen Aktivität ablesen. Auch Gualberta Alaide Beccari, an die Marie Goegg im Juni 1868 ihren öffentlichen Aufruf zur Unterstützung der AIF richtete, ist in diesem politischen Umfeld anzusiedeln. Gezielt suchte die Schweizerin für ihr Unternehmen nach Anhängerinnen in Italien, die als Netzwerkerinnen auf internationaler Ebene fungieren würden. Im Folgenden sollen zunächst die Organisatorin Goegg, danach die Journalistin Beccari und ihre Zeitschrift La Donna näher betrachtet werden, in welcher der Brief der Schweizerin veröffentlicht wurde. Abschließend wird anhand der dem internationalen Kreis um Goegg nahestehenden Friedensaktivistin Paolina Schiff die spätestens mit Beginn des Ersten Weltkriegs zunehmend brüchige und widersprüchliche Verbindung zwischen europäischer Frauen- und Friedensbewegung exemplarisch erläutert: Wie zahlreiche ihrer italienischen Mitstreiterinnen gab Schiff, die in jungen Jahren über ihr Engagement für die internationale Friedensbewegung zur Frauenbewegung gelangt war, während des Ersten Weltkrieges ihre pazifistischen Überzeugungen zugunsten interventionistischer Positionen auf. Marie Goegg wurde 1826 als Marie Pouchoulin in einer Uhrmacher-Familie in Genf geboren. Ihre Vorfahren waren französische Hugenotten, die nach der Aufhebung des Edikts von Nantes 1685 aus der Dauphiné in die Schweiz geflohen waren. Maries Eltern vermieteten Zimmer an französische Flüchtlinge der 1848er Revolution. Die im Hause Pouchoulin geführten Diskussionen über Freiheit und Frieden, Demokratie und Liberalismus hatten einen prägenden Einfluss auf die intellektuelle Entwicklung der jungen Marie, die sich nach dem Ende ihrer Schulzeit selbst weiterbildete, vor allem in Geschichte, Literatur, Englisch und Deutsch. 9
Vgl. dazu auch Dickmann, Elisabeth, Die italienische Frauenbewegung im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2002, S. 491ff.; dies., Über die Grenzen. Die Italienerinnen in der frühen internationalen Frauenbewegung, in: Schöck-Quinteros, Eva et al. (Hgg.), Politische Netzwerkerinnen. Internationale Zusammenarbeit von Frauen 1830–1960, Berlin 2007, S. 207– 227, hier S. 208f.
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Mit neunzehn Jahren heiratete sie den Schweizer Kaufmann Marc Antoine Mercier, von dem sie einen Sohn bekam; 1856 ließ sie sich scheiden und wurde die Ehefrau des Deutschen Amand Goegg (1820–1897), der nach der gescheiterten Revolution 1849 in die Schweiz gekommen war. Der gebürtige Renchener hatte eine führende Rolle in der badischen Revolution gespielt und war Mitglied der badischen Revolutionsregierung gewesen. Zwei Jahre vor der Heirat ging Marie mit Amand, als dieser 1854 zeitweise aus der Schweiz ausgewiesen wurde, ins Londoner Exil, wo ihr zweiter Sohn zur Welt kam. In der englischen Metropole begann die Schweizerin offenbar, sich aufgrund von Verbindungen zu englischen Frauenrechtlerinnen zunehmend für die Frauenfrage zu interessieren. 10 Nach längeren Aufenthalten in Baden und in Bienne kehrte das Ehepaar Goegg um 1865 nach Genf zurück, wo Maries dritter Sohn geboren wurde. Sechs Jahre später brach Amand zu einer Reise in die USA auf und kehrte nicht mehr zu seiner Familie zurück.11 Marie Goeggs ideologische Entfaltung, ihr Interesse für die europäische Friedensbewegung sowie ihr Bewusstsein für die politische und soziale Benachteiligung von Frauen wurden durch die Reisen mit Amand, die Kontakte zu führenden Vertretern der europäischen Radikaldemokratie und englischen Feministinnen, aber auch durch ihre eigene Situation als geschiedene, später alleinerziehende Frau zweifellos beeinflusst. Gemeinsam mit ihrem Mann gehörte sie bald zum inneren Kreis des zeitgenössischen europäischen Pazifismus. Amand Goegg war 1867 Mitgründer der Internationalen Liga für Frieden und Freiheit in Genf und wurde zu ihrem Vizepräsidenten gewählt. Ein Ziel des Vereins stellte die Verhinderung eines französisch-preußischen Kriegs dar. In der Liga versammelten sich Pazifisten, Sozialisten und Emigranten der 1848er Revolution mehrerer Länder, unter anderem aus Deutschland, der Schweiz, Frankreich, Italien und Osteuropa. Sitz der Liga war zunächst Genf, dann Bern. Die Symbolfigur des Risorgimento Giuseppe Garibaldi, langjähriger Weggefährte Giuseppe Mazzinis, wurde zum Ehrenpräsidenten ernannt. Das Veröffentlichungsorgan der Liga trug bezeichnenderweise den Namen Etats unis d’Europe (Vereinigte Staaten von Europa).12 Amand Goegg, zweiter Redakteur der Zeitschrift, band seine Frau von Beginn an in die Aktivitäten der neuen Organisation ein. Marie ging es insbesondere um die Zulassung von weiblichen Mitgliedern in der Liga und die explizite Aufnahme der Forderung nach Frauenrechten in die Zielsetzung der neuen Organisation. Goegg zufolge konnte das Ziel der Liga – ein langfristiger Frieden in Europa – nur mithilfe gleichberechtigter Frauen sichergestellt werden, die ihre Kinder nicht der Barbarei des Krieges ausliefern wollten. 10 Vgl. Woodtli, Susanna, Du féminisme à l’égalité politique, Lausanne 1977, S. 25; Pieroni Bortolotti, La Donna, La Pace, L’Europa, S. 77f. 11 Zu Marie Goegg vgl. u.a. Anteghini, Alessandra, Parità, pace, libertà: Marie Goegg e André Léo nell’associazionismo femminile del secondo Ottocento, Genua 1998; Rappaport, Helen (Hg.), Encyclopedia of Women Social Reformers, Bd. 2, Santa Barbara 2001, S. 259–261. 12 Pieroni Bortolotti, La Donna, La Pace, L’Europa, S. 7f. Zur internationalen Friedensliga vgl. Durand, André, Gustave Moynier and the peace societies, in: International Review of the Red Cross 314 (Oktober 1996), S. 532–550.
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Der Appell der Schweizerin zur Gründung einer internationalen Frauenassoziation als Teil der Friedens- und Freiheitsliga muss als unmittelbare Konsequenz dieser Überlegungen gesehen werden: Er erschien am 8. März 1868 in der Verbandszeitschrift Etats unis d’Europe.13 Goegg rief die Frauen dazu auf, nationale Komitees zur Unterstützung der Friedensliga zu gründen, sich durch Korrespondenz und Besuche miteinander zu vernetzen, eigene Clubs mit Bibliotheken, Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen einzurichten. Die geplanten Assoziationen sollten dezidiert säkular ausgerichtet sein, um nicht nur soziale, sondern auch kulturelle und religiöse Gegensätze zwischen Frauen zu überbrücken. Der oben zitierte offene Brief Marie Goeggs, der im Juni 1868 von Gualberta Alaide Beccari veröffentlicht wurde, unterstrich die Notwendigkeit einer absoluten Solidarität zwischen Frauen unterschiedlichen kulturellen und gesellschaftlichen Hintergrunds für das Gelingen des internationalen Zusammenschlusses. Er knüpfte direkt an den öffentlichen Appell der Schweizerin vom März 1868 in den Etats unis d’Europe an. Garibaldi telegrafierte im April 1868 an Amand Goegg, er gratuliere dessen Frau dazu, „das schöne Geschlecht in die Reihen der Kämpfer für die menschliche Vernunft, die noch immer von der Tyrannei des Adels und des Klerus erstickt wird“, einzubeziehen.14 Marie Goegg bediente sich in ihrem Aufruf bewusst der Form des offenen Briefes und seines häufig appellativen Charakters. Obwohl an eine bestimmte Person oder Institution adressiert, in diesem Falle die Herausgeberin und Journalistin Beccari, sind offene Briefe im Unterschied zu privaten Schreiben prinzipiell dazu bestimmt, veröffentlicht und von vielen gelesen zu werden: Der implizite Adressat dieser Quelle ist die Öffentlichkeit. Der Schweizerin ging es zweifellos um die Rezeption ihres Aufrufs und die Entfaltung öffentlicher Wirkung auch auf internationaler Ebene, weshalb sie sich an das Leserpublikum der mazzinianisch geprägten Frauenrechtszeitschrift in seiner Gesamtheit wandte.15 Direkt im Anschluss an Goeggs Appell veröffentlichte La Donna die Satzung der AIF, die ihre Ziele, Aktionsmittel sowie Organisationsstrukturen auflistete. Auf diese Weise erlegte sich der Verband im Hinblick auf die Regulierung seiner sozialen Aktivitäten selbst bestimmte Vorschriften auf. Die in dieser normativen Quelle enthaltenen Regelungen bildeten die schriftliche Fixierung der geplanten Finanzierung, der Aufgaben seiner Mitglieder und der Organisation des Unternehmens. In Einklang mit dem offenen Brief wurde unter „Ziel“ gleich zu Anfang darauf hingewiesen, dass die internationale Frauenorganisation als Sektion der Friedens- und Freiheitsliga die männlichen Aktivisten in ihrem Bemühen um „Freiheit, Bildung, Wohlstand und brüderlichen Zusammenschluss der Völker“ 13 Goegg, Marie, Proposition de créer une Association internazionale des femmes, in connection avec la Ligue de la paix et de la liberté, in: Etats unis d’Europe (8. März 1868), abgedruckt in italienischer Sprache in: Pieroni Bortolotti, La Donna, La Pace, L’Europa, S. 41f. 14 Der Wortlaut des auf Italienisch verfassten Telegramms findet sich ebd., S. 77; die Übersetzung ins Deutsche stammt von Ruth Nattermann. 15 Zum Genre des offenen Briefes vgl. Essig, Rolf-Bernhard, Der offene Brief. Geschichte und Funktion einer publizistischen Form von Isokrates bis Günter Grass, Würzburg 2000, insbesondere S. 11–22.
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unterstützen und sich gleichzeitig für die „intellektuelle und soziale Verbesserung der Frau“ einsetzen sollte.16 Ferner hatten die Mitglieder zum Bestehen und zur Entwicklung der Assoziation in dreierlei Weise beizutragen: Durch die Rekrutierung neuer Anhängerinnen, die Anwerbung von Abonnentinnen für die Verbandszeitschrift der ILFF „Die Vereinigten Staaten von Europa“ sowie durch die Förderung des übergeordneten Ziels der AIF unter anderem durch Veröffentlichungen und Broschüren. Die Intention, mithilfe der neugegründeten Frauenorganisation auch der internationalen Friedensliga selbst eine größere europäische Öffentlichkeit zu schaffen, ist offensichtlich. Die enge, durchaus auch materielle Verbindung der beiden Vereinigungen wurde explizit in der Satzung festgehalten: Vorgesehen war, dass die Zentralkomitees der beiden Vereinigungen sich durch stetige Korrespondenz austauschen und die internationale Frauenorganisation ihren eventuellen jährlichen Überschuss aus Beitragszahlungen und Geldspenden der Friedensliga zur Verfügung stellen sollte. In der Organisationsform der AIF findet sich eine wichtige Voraussetzung für die von ihr ausgehende, in den Folgejahren zunehmende Vernetzung friedensbewegter Feministinnen. Als intellektueller wie organisatorischer Mittelpunkt und Entscheidungsträger der Vereinigung sollte ein Zentralkomitee in Genf fungieren. Die Aufgabe dieses zentralen Vorstands, der sich aus einer Gruppe von Aktivistinnen zusammensetzte, bestand darin, nationale und örtliche Gruppen (Komitees) in anderen Ländern ins Leben zu rufen. In einer jährlichen Generalversammlung aller Delegierten sollte das Zentralkomitee neu gewählt werden. Laut Satzung konnten Mitarbeiterinnen der AIF beantragen, ihre Namen nicht der Öffentlichkeit preiszugeben. Hierin findet sich ein Hinweis auf die Existenz zeitgenössischer gesellschaftlicher Vorurteile und der Furcht vor offenen Anfeindungen. Pazifistische wie frauenemanzipatorische Ideen und Organisationen wurden von nicht wenigen bürgerlichen Akteurinnen vermutlich lieber anonym unterstützt. Die offizielle Gründung der AIF fand wenige Wochen nach der Veröffentlichung von Goeggs Aufruf in La Donna beim zweiten Kongress der Friedensliga im Juli 1868 in Bern statt. Erreicht wurde dort auch die Aufnahme von Frauen als gleich- und stimmberechtigte Mitglieder in die Friedensliga. Marie Goegg selbst wurde in ihren Vorstand sowie in den Redaktionsausschuss der Verbandszeitschrift gewählt. Der AIF selbst traten zunächst wenige Frauen bei, zumal Goeggs feministische Forderungen vielen bürgerlichen Frauen ihrer Zeit zu radikal erschienen. Tatsächlich blieb die Zahl der offiziellen Mitglieder auch in den kommenden Jahren gering. Es waren feministische Pionierinnen, die in der AIF für die Gleichberechtigung und Selbstbestimmung von Frauen, gegen Sexismus und eine doppelte gesellschaftliche Sexualmoral eintraten. Sofortige Unterstützung für ihr Unternehmen fand Goegg bei der deutsch-jüdischen Frauenrechtlerin Rosalie Schönwasser (1828–1908), der englischen Feministin Josephine Butler (1828– 1906), beim französischen Kreis um Léon Richer (1824–1911) und Marie 16 Pieroni Bortolotti, La Donna, La Pace, L’Europa, S. 100. Der Brief und die Satzung erschienen am 28. Juni 1868 auch in der Verbandszeitschrift der Internationalen Friedens- und Freiheitsliga Etats unis d’Europe; vgl. ebd., S. 47f.
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Deraismes (1828–1894), die die Zeitschrift Droit des femmes herausgaben, sowie bei der Gruppe um Beccaris La Donna. Auch aus Portugal und den USA stießen in der Folgezeit einige wenige Aktivistinnen hinzu. Die zentralen organisatorischen Aufgaben wurden von Schweizerinnen übernommen, der Sekretärin Gandillon und der Schatzmeisterin Bouchey. 17 De facto war die soziale und ideologische Reichweite der AIF sehr viel eingeschränkter als dies der Massenappell in Goeggs offenem Brief von 1868 suggeriert hatte. Die Organisation wurde von Akteurinnen aus mehrheitlich wohlhabenden Familien der gebildeten Mittelschichten vor allem in der Schweiz, Frankreich, Italien und England getragen, die auch die in der Satzung geforderte Finanzierung des Unternehmens sicherstellen konnten. Im Sinne der angestrebten Überbrückung religiöser Unterschiede konnten sich Frauen mit protestantischem (bzw. hugenottischem) Hintergrund wie die Gründerin Goegg Seite an Seite mit Akteurinnen jüdischer Herkunft wie Schönwasser und Schiff in der Vereinigung engagieren. Die dezidiert säkulare Orientierung der Organisation wie auch die laizistische Grundeinstellung ihrer Vertreterinnen spielten für die erfolgreiche Inklusion von Frauen mit unterschiedlichem religiösem Hintergrund eine Schlüsselrolle. Neben der laizistischen Grundhaltung war auch der politische Standort der AIF insofern recht homogen, als die Aktivistinnen hauptsächlich aus den Kreisen der europäischen Radikaldemokratie stammten. Die Tatsache, dass Goegg sich in ihrem Aufruf gezielt an die Mazzinianerin Beccari und deren Leserschaft gewandt hatte, deutet zudem auf die Grenzen des parteiübergreifenden Anspruchs der AIF hin. Vor dem Hintergrund der zeitgenössischen europäischen Kulturkämpfe positionierte sich die AIF im antiklerikalen Lager, wie auch aus der oben zitierten Bemerkung Garibaldis und der Beteiligung des Freimaurers Richer hervorgeht. Die AIF ging bewusst auf Distanz zu katholischen Kreisen. Entsprechend des erklärten Ziels einer „intellektuellen und sozialen Verbesserung der Frau“ agierten die Vertreterinnen der internationalen Frauenvereinigung v.a. in der Schweiz, in Frankreich und Italien durch die 1869 gegründete Verbandszeitschrift Journal des femmes, durch Lesezirkel, Vorträge und politische Schulungskurse. Wie in der Satzung der Organisation festgelegt, setzten sich die Aktivistinnen zudem für die Bildung nationaler und lokaler Friedenskomitees ein. In Italien engagierte sich dafür insbesondere die Republikanerin Annamaria Mozzoni (1837–1920), die mit Gleichgesinnten die italienischen Gruppen anfangs in lockerer Organisationsform aufbaute.18 Die Mailänderin aus wohlhabender Familie war bereits 1864 mit der zum Teil auch von Mazzini inspirierten Schrift La donna ed i suoi rapporti sociali („Die Frau und ihre sozialen Beziehungen“) an die Öffentlichkeit getreten und avancierte zur zentralen Figur der italienischen Frauenbewegung des 19. Jahrhunderts. Die vor allem im italienischen Norden entstehenden regionalen Friedenskomitees bildeten wichtige Vorläufer für die 1881 von Annamaria Mozzoni und Paolina Schiff (1841–1926) in Mailand ge-
17 Ebd., S. 54, 96, 102. 18 Vgl. Dickmann, Über die Grenzen, S. 217.
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gründete erste italienische Frauenorganisation, die Lega Promotrice degli Interessi Femminili (Liga zur Förderung der Fraueninteressen). Annamaria Mozzoni und Schiff gehörten beide zum Mitarbeiterkreis Gualberta Alaide Beccaris. Die Herausgeberin war die wichtigste Verbreiterin der Ideen Marie Goeggs in Italien; mit ihrer Zeitschrift La Donna, die zum bedeutendsten Forum des zeitgenössischen italienischen Frauenrechtsdiskurses avancierte, spielte sie in der Gewinnung von Anhängerinnen für die internationale Frauenvereinigung eine Schlüsselrolle. Beccari kam 1842 in einem bürgerlichen, aber verarmten Elternhaus in Padua zur Welt. Der Vater war ein Anhänger Mazzinis; ihm folgte die Tochter ins Turiner Exil, wo sie mit republikanischen Kreisen in Kontakt kam. Bereits in jungen Jahren unterstützte sie den Vater mit Sekretariatsarbeiten, woraus sich ihr Interesse für das Schreiben und den Journalismus entwickelte.19 Beccari war zeit ihres Lebens überzeugte Mazzinianerin: Seit 1878 platzierte sie Mazzinis Appell, die Frauen als „gleichrangig“ zu behandeln, sie als intellektuelle Gefährtin zu lieben und zu respektieren,20 als Motto unter den Titel jeder Ausgabe von La Donna. Angelehnt an die Lehren der nationalen Symbolfigur zeichnete sich Beccaris Zeitschrift durch den erzieherischen Anspruch und eine betont laizistische Ausrichtung aus. Der programmatische Rekurs auf Mazzini bildete einen bedeutenden Anknüpfungspunkt für die Mehrheit der frühen Mitarbeiterinnen. La Donna schuf eine Atmosphäre weiblicher Solidarität, die innerhalb der damaligen italienischen Zeitungslandschaft einmalig war. In der Redaktion arbeiteten ausschließlich Frauen mit, und auch das Publikum wurde als rein weibliche Leserschaft definiert.21 Innerhalb des Panoramas der jungen italienischen Frauenbewegungspresse war La Donna zudem die einzige Zeitschrift, welche die Gleichheitsforderung explizit in ihr Programm aufnahm und ihren Zielen hinsichtlich der Emanzipation von Frauen während der mehr als zwanzig Jahre andauernden Existenz kontinuierlich treu blieb. Die Leserinnenschaft rekrutierte sich insbesondere aus dem mittleren und gehobenen Bürgertum; Lehrerinnen gehörten zu den wichtigsten Adressatinnen.22 Aus dieser Gruppe stammte auch die Mehrheit der italienischen Aktivistinnen, die sich mit Goeggs feministischen Zielen und ihrem Bemühen um einen wachsenden internationalen Zusammenhalt in der Frauenbewegung identifizieren konnten.
19 Zu Beccari vgl. Schwegmann, Marjan, Gualberta Alaide Beccari, emancipazionista e scrittrice, Pisa 1995; Pisa, Beatrice, Venticinque anni di emancipazionismo femminile in Italia, Adelaide Beccari e la rivista „La Donna“ (1869–1890), Rom 1983. 20 Mazzini, Giuseppe, Doveri dell’uomo, hg. von Giuseppe Civelli, New York 2009 (digitalisiert), S. 50. 21 Vgl. die unveröffentlichte Habilitationsschrift von Keilhauer, Annette, Frauenrechtsdiskurs und Literatur zwischen nationalen Traditionen und transnationalen Begegnungen: Französisch-Italienische Verflechtungen 1870–1890, Humboldt-Universität zu Berlin 2004, S. 179. 22 Vgl. Pieroni Bortolotti, Franca, Alle origini del movimento femminile in Italia 1848–1892, Turin 1963, S. 116; Buttafuoco, Annarita, Cronache femminili. Temi e momenti della stampa emancipazionista in Italia dall’Unità al fascismo, Arezzo 1988, S. 26, 48; Keilhauer, Frauenrechtsdiskurs, S. 178.
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Die weitreichende internationale Vernetzung von La Donna geht aus der Fülle regelmäßiger Nachrichten aus dem Ausland, unter anderem England, Frankreich, den USA und Russland hervor. Auch durch Übersetzungen von Texten zur Frauenemanzipation ins Italienische, darunter Briefe der deutsch-jüdischen Schriftstellerin Fanny Lewald (1811–1889),23 fügte sich La Donna dezidiert in den Rahmen der internationalen Frauenbewegung ein. Nicht zuletzt fand die eingangs erwähnte International Abolitionist Federation, für die sich auch Goegg stark machte, ein bedeutendes Diskussionsforum in La Donna. Die Tatsache, dass Beccari in ihrer soeben gegründeten Zeitschrift Goeggs Aufruf zur Entstehung der AIF veröffentlichte, ist daher sowohl ein Beweis für ihre weitreichenden Beziehungen zu zeitgenössischen Frauenrechtlerinnen in und außerhalb von Italien, als auch für die bewusste Positionierung ihrer Zeitschrift in einen internationalen Zusammenhang. Die anfängliche enge Verbindung zwischen den europäischen Frauen- und Friedensbewegungen begann Ende des 19. Jahrhunderts aufgrund zunehmender nationalistischer Tendenzen schwächer zu werden. Der nicht mehr aufhaltbare Vormarsch eines aggressiven Nationalismus in Europa unterdrückte den Kosmopolitismus, der das Engagement der Friedenspionierinnen noch in den 1860erJahren ausgezeichnet hatte. In Italien waren Pazifistinnen zwar bis ins 20. Jahrhundert hinein in der Frauenbewegung aktiv, doch schrumpfte ihre Zahl zu einer Minderheit zusammen. Die italienische Frauenbewegung geriet spätestens 1911 mit dem Krieg gegen Libyen in eine Krise, die sich auch auf ihre internationalen Beziehungen negativ auswirkte. Der Erste Weltkrieg verstärkte diese Entwicklung: Die Mehrheit der Aktivistinnen wandte sich spätestens 1917 interventionistischen Positionen zu.24 In der Biografie der bereits genannten Frauenrechtlerin Paolina Schiff spiegelt sich diese Entwicklung eindrucksvoll wider.25 Die Mailänderin deutsch-jüdischer Herkunft gelangte vor allem über die europäische Friedensbewegung zur Frauenbewegung, gab ihre pazifistischen Ideale jedoch im Laufe des Ersten Weltkriegs auf. Schiff hatte sich seit den 1870er-Jahren zusammen mit ihrer Gesinnungsgefährtin Annamaria Mozzoni auf Anregung Goeggs für die Bildung von Friedenskomitees in Italien tatkräftig eingesetzt.26 Entscheidenden Einfluss hatte dabei die Verbindung der Literaturwissenschaftlerin zu dem lombardischen Radikaldemokraten Felice Cavallotti (1842–1898), der dem Kreis der Internationalen Liga für Frieden und Freiheit angehörte. In Übereinstimmung mit Goegg funktionierte Pazifismus Schiffs Überzeugung nach nur in Relation mit Frauenemanzipation. 1887 war sie beim Aufbau der lombardischen Union der Gesellschaft für Frieden und 23 Vgl. La Donna IX (1878-79), H. 21–23; XII (1880), H. 2–3. 24 Vgl. u.a. Guidi, Laura, Un nazionalismo declinato al femminile, in: dies., Vivere la guerra: percorsi biografici e ruoli di genere tra Risorgimento e primo conflitto mondiale, Neapel 2007, S. 93–118. 25 Zu Schiff vgl. Nattermann, Ruth, Vom Pazifismus zum Interventionismus. Die italienische Frauenrechtlerin Paolina Schiff (1841–1926), in: Dunkel, Franziska; Schneider, Corinna (Hgg.), Frauen und Frieden? Zuschreibungen – Kämpfe – Verhinderungen, Opladen u.a. 2015, S. 73–85. 26 Vgl. Pieroni Bortolotti, La Donna, La Pace, L’Europa, S. 179.
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internationalen Ausgleich beteiligt und übernahm zusammen mit dem Mailänder Journalisten und späteren Friedensnobelpreisträger Ernesto Teodoro Moneta (1833–1918) deren Vorsitz. Zwei Jahre später referierte sie als einzige Frau bei der internationalen Friedenskundgebung in Mailand, die sich gegen den Zusammenschluss Italiens mit Deutschland und Österreich im Dreibund sowie den Gegensatz zu Frankreich richtete.27 Ihre pazifistischen Ideale konnten den Ersten Weltkrieg jedoch nicht überdauern: Am Internationalen Frauenfriedenskongress 1915 in Den Haag nahm Schiff nicht teil. Nach der Niederlage Italiens in der Schlacht von Caporetto 1917 begann die einstige Pazifistin, die 1892 in die Sozialistische Partei eingetreten war, einen italienischen Interventionismus zu unterstützen. Schiffs Entwicklung steht beispielhaft für viele aus der europäischen Radikaldemokratie hervorgegangenen friedensbewegten Aktivistinnen, deren internationalistischer Anspruch an der Übermacht nationalistischer Aggression scheiterte. Die Bruchlinien indessen scheinen bereits beim Vorbild Mazzini und seiner Idee von Nationalismus als Emanzipations- und Partizipationsversprechen in genuiner Verbindung mit einer friedlichen Gemeinschaft der Nationen angelegt zu sein. In der Praxis standen die exklusiven Elemente des Nationalismus zu einer friedlichen europäischen Einigkeit in offenem Widerspruch. Nicht zufällig beriefen sich während des Ersten Weltkriegs italienische Interventionisten und Interventionistinnen in ihrer Vorstellung von einer angeblich notwendigen Vervollkommnung der nationalen Einigung, ebenso wie in ihrer durchaus aggressiven Forderung nach einer Neuordnung Europas auf die Konzeption Mazzinis.28 Vor allem die italienische Frauenbewegung erhielt in ihrer Frühzeit wichtige Impulse aus der europäischen Friedensbewegung. Die Verknüpfung pazifistischer Intentionen, welche auf die Herstellung des Friedens und der Einheit Europas abzielten, mit den Forderungen nach Frauenemanzipation, wie sie in Goeggs eingangs zitiertem offenen Brief deutlich wird, entwickelte sich zu einem Charakteristikum des Engagements führender italienischer Frauenrechtlerinnen im 19. Jahrhundert. Von Dauer jedoch war diese Verbindung nicht: Die Fragilität der pazifistischen Basis der italienischen wie der frühen europäischen Frauenbewegungen insgesamt, die sich nicht zuletzt in der Kurzlebigkeit der AIF und ihrer Nachfolgeorganisationen widerspiegelt, sollte mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs endgültig zum Vorschein kommen. Goeggs Vision eines „brüderlichen Zusammenschlusses der Völker“ von 1868 stellte sich als unerreichbares Ideal heraus.
27 Vgl. Nattermann, Pazifismus, S. 81f. 28 Vgl. Levis Sullam, Simon, L’Apostolo a Brandelli. L’eredità di Mazzini tra Risorgimento e Fascismo, Rom u.a. 2010, S. 56–58; Belardelli, Giovanni, Mazzini, Bologna 2010, S. 242.
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Literaturhinweise Anteghini, Alessandra, Parità, pace, libertà: Marie Goegg e André Léo nell’associazionismo femminile del secondo Ottocento, Genua 1998. Cooper, Sandi E., Patriotic Pacifism: Waging War on War in Europe, 1815–1914, Oxford 1991. Offen, Karen, European Feminisms 1700–1950: A Political History, Stanford 2000. Paletschek, Sylvia; Pietrow-Ennker, Bianka (Hgg.), Women’s Emancipation Movements in the 19th Century. A European Perspective, Stanford 2004. Pieroni Bortolotti, Franca, La Donna, la Pace, l’Europa. L’Associazione Internazionale delle Donne dalle origini alla prima guerra mondiale, Mailand 1985.
Quelle Marie Goegg: Offener Brief an Gualberta Alaide Beccari / Statut der Association Internationale des Femmes (1868)29 Signora, Genfer Damen, welche die noblen Ideen, die die „Friedens- und Freiheitsliga“ unter den Massen zu verbreiten sucht, ihrem eigenen Geschlecht bekannt und verständlich machen wollen, haben die Initiative zur Bildung einer internationalen Frauenvereinigung mit einem Zentralkomitee in Relation zu der genannten Liga ergriffen. Sie wenden sich daher an alle Frauen aller Länder, aller Lebensumstände, und rufen sie auf, sich ihnen anzuschließen, um das Gelingen dieses Unternehmens sicherzustellen. Bisher waren die Frauen voneinander isoliert, getrennt durch Barrieren, welche Gewohnheit und Vorurteil unüberwindbar machten, und diese Isolation hat eine Menge Übel hervorgebracht, die die aktuelle Vereinigung zu mindern versuchen und vielleicht auch ganz beenden wird. Indem sie sich zusammenschließen, werden die Frauen lernen, sich zu kennen, zu lieben, zu schätzen; die Tüchtigsten werden die Schwächsten unterstützen, und alle – gegenseitig ermutigt, getragen, erleuchtet – werden in ihren Familien, und vor allem in ihren Kindern, die gesegneten Früchte der „Union“ gedeihen lassen. Überzeugt, dass die aktuelle Gesellschaftsordnung einen Teil des Unrechts verursacht, das der Frau vorgeworfen worden ist und leider einen Schatten auf ihre Tugenden wirft, wollen die Gründerinnen der internationalen Frauenvereinigung sich darum bemühen, für die Frau diejenigen Rechte zu erlangen, deren sich die Männer im Staat erfreuen, ebenso wie [das Recht] auf Arbeit und auf [Ausübung] aller Berufe. Wir sind davon überzeugt, bei allen Damen Unterstützung zu finden, und infolgedessen senden wir Ihnen anbei die Satzung mit der Bitte, verehrte Signora, diese in Ihren Kreisen bekannt zu machen, Anhängerinnen zu gewinnen, örtliche Komitees zu bilden, und das Ergebnis Ihrer Arbeit an die Adresse der Signora Stefani, Strada Monte Bianco, N. 5, Genf in der Schweiz, zu schicken. Seid unserer Hochachtung versichert, verehrte Signora. Genf, im Juni 1868. 29 Goegg, Marie, Offener Brief an Gualberta Alaide Beccari sowie Statut der Association Internationale des Femmes vom Juni 1868, veröffentlicht in: La Donna I (1868), H. 25, S. 99–100. Die Übersetzung der Quelle vom Italienischen ins Deutsche stammt von Ruth Nattermann. Die Quelle ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .
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Für das Zentralkomitee der internationalen Frauenvereinigung Die Präsidentin Marie Goegg
Satzung der Internationalen Frauenvereinigung I. Ziel. Art 1. Die internationale Frauenvereinigung bildet eine Sektion der Friedens- und Freiheitsliga, verfolgt als Ziel, mit all ihren Kräften die Männer in ihren Anstrengungen zu unterstützen, den Völkern Freiheit, Bildung, Wohlstand und brüderlichen Zusammenschluss untereinander zu gewährleisten, und sich für die intellektuelle und soziale Verbesserung der Frau einzusetzen. II. Aktionsmittel. Art. 2. Jedes Mitglied der Vereinigung zahlt vom Tag seines Beitritts an einen monatlichen Beitrag von cent. 25. Art 3. Vom Komitee wird jede freiwillige Geldspende, egal welcher Höhe, mit Anerkennung entgegengenommen. Art. 4. Jedes Mitglied muss moralisch, freimütig und tatkräftig am Werk der Vereinigung mit folgenden Mitteln beitragen: a) Konstantes Engagement für den Anschluss neuer Anhängerinnen. b) Erhöhung der Zahl der Abonnentinnen der Zeitschrift „Die Vereinigten Staaten von Europa“, des Organs der Friedens- und Freiheitsliga. c) Arbeit für das in Art. 1 angegebene Ziel mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, beispielsweise Publikationen, Broschüren etc. pp. III. Organisation. Art 5. Ein Zentralkomitee, das sich aus mehreren Damen zusammensetzt und seinen Sitz in Genf hat, ist damit beauftragt, die Beitragszahlungen der Mitglieder, die freiwilligen Spenden, die Anfragen für ein Abonnement der Zeitschrift „Die Vereinten Staaten Europas“, die diversen Reklamationen etc. in Empfang zu nehmen: kurz, sich um alle administrativen Angelegenheiten der Vereinigung zu kümmern. Dieses Komitee handelt eigenverantwortlich, korrespondiert aber mit dem Zentralkomitee der Friedens- und Freiheitsliga mit Sitz in Bern, und an dieses wird die Gesamtsumme der Beitragszahlungen gesandt, wie in Art. 11, Art. 6 erklärt wird. Das Genfer Komitee wird nationale und lokale Komitees in den Ländern etablieren, wo die Zahl der Mitglieder genügend groß ist, um eine sofortige Bereitschaft in Anspruch zu nehmen. Diese Komitees korrespondieren mit dem Genfer Zentralkomitee, senden jedes halbe Jahr einen Bericht über die Anzahl ihrer Mitglieder und ihrer Abonnenten der Zeitschrift „Die Vereinigten Staaten von Europa“, über den Empfang der Beitragszahlungen und freiwilligen Spenden sowie über ihre Arbeiten entsprechend Art. 4, Buchstabe c). Art. 7. Ein Komitee wird lediglich für ein Jahr nominiert, aber seine Mitglieder sind wieder wählbar. Art. 8. Die Frauen des Komitees versammeln sich immer dann in einer außerplanmäßigen Sitzung, wenn eine von ihnen dies für notwendig hält. Art. 9. Auf speziellen Antrag werden die Namen der Mitglieder der Vereinigung, Frauen des Komitees oder Anhängerinnen nicht veröffentlicht. Art. 10. Jedes Jahr wird eine Generalversammlung der Delegierten aller Mitglieder stattfinden, die vom Zentralkomitee einberufen und geleitet wird, um den jährlichen Gesamtbericht zu […] diskutieren und zu billigen, um neue Vorschläge zu unterbreiten und das neue Zentralkomitee für das Folgejahr zu wählen. IV. Spezielle Bestimmungen. Art 11. Wenn das Zentralkomitee seine Ausgaben und jene der örtlichen Komitees beglichen hat, stellt es zugunsten der Friedens- und Freiheitsliga die Summe der Spenden und der Beiträge dieses Jahres bereit und überlässt den zukünftigen Generalversammlungen die Entscheidung über eine weitere Verteilung.
„WIR ANTIZIPIEREN DIE FLÜGEL, DIE WIR EINST HABEN WERDEN“ HEDWIG DOHMS EHEKRITIK ALS GESELLSCHAFTSKRITIK UND UTOPISCHER ENTWURF1 Margareth Lanzinger Ehe war über Jahrhunderte hinweg religiös kodiert und moralisch aufgeladen, als Institution und zentrale sozio-politische Ordnungsstruktur zugleich untrennbar mit der jeweils herrschenden Geschlechterordnung, also mit Vorstellungen und Konzepten von Geschlechtern und ihrem Verhältnis zueinander, verbunden. Eine wesentliche Grundlage konstituierte die Ehegesetzgebung, die zugleich das Eheverständnis prägte.2 Diskussionen über Ehe und Ehekritik sowie alternative und utopische Gegenentwürfe zur Ehe verweisen demgegenüber stets auf gesellschaftliche Veränderungen und Umbrüche. Auch wenn im Rahmen normativer Vorgaben stets Raum für das „Aushandeln von Ehe“ in der sozialen Praxis offen blieb,3 wurden die strukturellen Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern und damit auch Machtgefälle und einseitige Abhängigkeiten letztlich jahrhundertelang durch das Eherecht geformt.4 Genau hier setzt Hedwig Dohm 1909 mit ihrer Ehekritik in dem Text „Über Ehescheidung und freie Liebe“5 an – ein Quellentext, der insofern an der Schnittstelle von Geschlechtergeschichte und Europäischer Geschichte steht, als er zentrale Themen des zeitgenössischen politischen Streits aufgreift, den Parteien, Kirchen und Frauenbewegungen um 1900 grenzüberschreitend über die Ehe führten.6 Die allseits zu konstatierende Krise der Ehe um 1900 löste gesellschaftliche Erschütterungen aus. Schließlich wurden nun sowohl die bei der Eheschließung stets avisierte lebenslange Dauer als auch die ungleiche Machtver1 2 3 4 5
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Essay zur Quelle: Hedwig Dohm: Über Ehescheidung und freie Liebe (1909). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Zum Eherecht vgl. Duncker, Arne, Gleichheit und Ungleichheit in der Ehe. Persönliche Stellung von Frau und Mann im Recht der ehelichen Lebensgemeinschaft 1700–1914, Köln 2003, u.a. S. 50–60, 212–219, 375–400, 1115–1123. Lanzinger, Margareth et al., Aushandeln von Ehe. Heiratsverträge der Neuzeit im europäischen Vergleich, Köln 2010. Vgl. Ulbrich, Claudia, Artikel „Ehe“, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 3, Stuttgart 2006, Sp. 38–44, bes. Sp. 38. Dohm, Hedwig, Über Ehescheidung und freie Liebe, in: Sozialistische Monatshefte 13 (1909), S. 842–849, URL: (18.10.2017). Im Folgenden stammen alle Quellenzitate, soweit nicht anders ausgewiesen, aus den hier mit abgedruckten Quellenausschnitten. Zu zeitgenössischen Debatten in der Frauenbewegung über das Eherecht vgl. die Beiträge in Gerhard, Ute (Hg.), Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1999.
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teilung in ihrem Inneren öffentlich in Frage gestellt.7 Der Artikel von Hedwig Dohm steht so auch für eine breite öffentliche Präsenz von Frauen, die für ihre Rechte und für gleiche Rechte eintraten.8 In diesem Kontext besticht Hedwig Dohm sowohl mit ihren pointiert formulierten Beobachtungen als auch mit ihrer Positionierung. Ihr Ausgangspunkt ist die Frage, „ob die Frau auch zum Ausharren in einer unglücklichen Ehe erzogen werden“ solle – eine Frage, die sie verneint, wenn sie die aus ihrer Sicht tote Form vom Inhalt trennt: Die Schuld am Scheitern zahlloser Ehen liege nicht bei den Ehepartnern, sondern bei der Institution Ehe selbst. Ein Ausweg ist auch aus Dohms Sicht nicht einfach, denn zwar müsse der künftige Weg zur „freien Ehe“, zur „freien Vereinigung“ führen, deren „Verwirklichung“ sei aber erst in „eine(r) ferne(n) Zukunft“ denkbar. Dieser Befund macht Dohms Text paradigmatisch: Er bedeutet einen Brückenschlag zwischen einem Modell, das aus Sicht der Frauen nicht länger akzeptabel ist, und einer utopischen Vision von Ehe, die so nicht ohne Weiteres umsetzbar erscheint, schreibt sich doch die Ehe kulturell genau in jene rechtlichen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse ein, die sich nur langfristig zu verändern vermögen. Hedwig Dohm (1831–1919) war die Tochter der Wilhelmine Henriette Jülich und des Tabakfabrikanten Gustav Adolph Schlesinger. Ihre Eltern heirateten erst im Jahr 1838, nach der Geburt des zehnten von insgesamt 18 Kindern.9 Im Unterschied zu ihren Brüdern stand ihr nur eine Mädchenschule offen – gerade auch deshalb galt ihr späteres Engagement einer Verbesserung der Bildungsmöglichkeiten für Mädchen und Frauen sowie deren uneingeschränktem und gleichberechtigtem Zugang zu Hochschulen und akademischen Berufen. Ihr Ehemann Wilhelm Friedrich Ernst Dohm war Redakteur des Satireblatts Kladderadatsch. Nicht zuletzt aufgrund seiner Kontakte zu den intellektuellen Kreisen Berlins wurde das Dohmsche Haus zu einem bekannten Salon, dessen Jour fixe Hedwig Dohm auch nach dem Tod ihres Mannes im Jahre 1883 fortführte. Überdies stand sie in engem Kontakt mit führenden Persönlichkeiten der Ersten Frauenbewegung wie Minna Cauer und Helene Stöcker10 und beteiligte sich aktiv an der Gründung mehrerer Frauenbewegungsvereine. Dohm war Schriftstellerin und Publizistin; ihr in den 1860er-Jahren begonnenes Werk umfasst unterschiedlichste Genres, darunter auch politische Essays und Streitschriften. In diesen setzte sie sich unter anderem scharfsinnig mit antifeministischen Thesen und Vorurteilen von prominenten Zeitgenossen auseinander 7
Vgl. dazu Arni, Caroline, Entzweiungen. Die Krise der Ehe um 1900, Köln 2004, insbes. S. 1–10, 34–71. 8 Vgl. u.a. Offen, Karen, European Feminism 1700–1950. A Political History, Stanford 2000; Rupp, Leila J., Worlds of Women. The Making of an International Women’s Movement, Princeton 1997. 9 Zu ihrer Biografie vgl. Rohner, Isabel, Spuren ins Jetzt. Hedwig Dohm – eine Biografie, Sulzbach 2010; zu ihrem Œuvre Pailer, Gaby, Hedwig Dohm, Hannover 2011. 10 Vgl. dazu Stöcker, Helene, Lebenserinnerungen. Die unvollendete Autobiographie einer frauenbewegten Pazifistin, hg. von Lütgemeier-Davin, Reinhold; Wolff, Kerstin, Köln u.a. 2015, S. 190.
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und übte Kritik an der Benachteiligung von Frauen in der Gesellschaft ihrer Zeit.11 Die erstarkenden Frauenbewegungen und die in diesen Jahren neu gegründeten Zeitschriften schufen ab Mitte der 1890er-Jahre jenes Umfeld, in dem Hedwig Dohm eine Fülle an Artikeln, Essays und Miszellen verfasste und veröffentlichte. Ein weiteres Forum boten die Sozialistischen Monatshefte, die von 1897 bis 1933 unter der Leitung von Joseph Bloch monatlich bzw. über Jahre im vierzehntägigen Rhythmus erschienen. Die Zeitschrift vertrat als politische Linie nicht die „reine marxistische Lehre“ und galt als „Blatt außerhalb der Partei“, was phasenweise auch für Konflikte mit dieser sorgte. Die Sozialistischen Monatshefte standen vor allem den Vertretern einer revisionistischen Linie nahe, die den Reformweg gegenüber einer Revolution bevorzugten, boten aber auch Anhängerinnen und Anhängern anderer politischer Richtungen, etwa Anarchistinnen und Anarchisten, eine wichtige Publikationsmöglichkeit.12 In den Sozialistischen Monatsheften publizierten zahlreiche Protagonistinnen der Frauenbewegung. Neben dem Einsatz für mehr Bildungs- und Erwerbsmöglichkeiten für Mädchen und Frauen und dem Kampf für das Frauenstimmrecht stand vor allem die Erweiterung der Rechte von Frauen in Ehe und Familie auf der Agenda. Bei der ausgewählten Schrift von Hedwig Dohm handelt es sich demnach um einen journalistischen Text in Form eines politischen Essays, der – einer möglichen Typologie folgend – in einer „Bewegungszeitschrift“ mit dem Ziel der Aufklärung und Positionierung, der Bewusstseinsbildung und politischen Mobilisierung erschienen ist. Solchen Zeitschriften und ebenso den darin abgedruckten Artikeln kam daher grundsätzlich eine doppelte Funktion zu: als „internes“ Diskussionsforum und als „Agitationsmittel“.13 Mit diesem spezifischen Kontext verbunden ist die streitbare, an das Lesepublikum in der Rhetorik einer politischen Rede gewandte Sprache, in der Hedwig Dohm hier schreibt. Diese Textgattung ermöglicht ihr, deutliche Aussagen über Geschlechterbeziehungen, gegenseitige Verletzungen und das Scheitern zu treffen sowie Forderungen zu stellen und Gegenentwürfe zu propagieren. Das Eherecht basierte in den europäischen Ländern durchweg auf der Vormachtstellung des Ehemannes und auf der Gehorsamspflicht der Ehefrau. Zentrale Forderungen von Aktivistinnen der Frauenbewegung um 1900 galten daher der rechtlichen Gleichstellung von Frauen in der Ehe und einem einfacheren Scheidungsrecht. Manche vertraten auch radikalere Positionen, sprachen sich für die Abschaffung der Ehe aus oder schrieben über die „freie Liebe“. Eine solche Vor11 Vgl. beispielsweise ihre 1874 in Berlin erschienene Streitschrift „Die wissenschaftliche Emancipation der Frau“, die sich u.a. gegen Ärzte und Wissenschaftler wendet, die Frauen die Eignung zum Studium absprechen wollen. Großes Aufsehen riefen ihre Schriften „Was die Pastoren von den Frauen denken“ (1872), „Der Jesuitismus im Hausstande. Ein Beitrag zur Hausfrauenfrage“ (1873) sowie „Der Frauen Natur und Recht“ (1876) hervor. 12 Woltering, Hubert, Die „Sozialistischen Monatshefte“ (1895/96–1933). Einleitung zur Online-Edition der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung, URL: (18.10.2017). 13 Drücke, Bernd, Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht? Anarchismus und libertäre Presse in Ost- und Westdeutschland, Ulm 1998, S. 29.
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stellung der Geschlechterbeziehungen war zeitgenössisch jedoch überaus strittig. „Die Frauenbewegung erscheint durch diesen Kampf in zwei Lager gespalten: eine radikale Minorität, die in einer grundsätzlichen Umgestaltung der moralischen und rechtlichen Normen des Geschlechtslebens die Lösung der brennenden Fragen sieht; [und] eine Majorität, die nach wie vor in der Ehe die höchste sittliche und die allein der sozialen Verantwortlichkeit voll genügende rechtliche Norm anerkennt, und der bei allen praktischen Reformvorschlägen und sittlichen Forderungen die Vertiefung und soziale Festigung der Ehe das höchste Ziel ist“, so heißt es im Vorwort eines von prominenten Autorinnen, die sich der „Majorität“ zuordneten, verfassten und ebenfalls 1909 erschienenen Bandes.14 Die „freie Liebe“ war vor allem „ein Reizwort für Juristen und konservative Politiker der Zeit“.15 Die österreichische frauenbewegte Sozialistin und Herausgeberin der Arbeiterinnen-Zeitung Adelheid Popp bezahlte die Verwendung dieses Begriffs in dem Artikel „Frau und Eigenthum“16 im Jahr 1895 mit einer vierzehntägigen Gefängnisstrafe. Popp prangerte darin die geltenden Ehegesetze an: Diese würden noch immer den Geist der Zeit atmen, in welcher der Mann die Peitsche oberhalb des Ehebettes hängen hatte. Unter „freier Liebe“ verstünde sie eine Beziehung, die „ohne Zwang aus freier, innerer Ueberzeugung“ entsteht, während der Staatsanwalt darin nicht nur einen Angriff „gegen die ganze Institution der Ehe“ ortete, sondern gegen die Gesellschaftsordnung insgesamt: „Der Gesetzgeber ist der Ansicht, daß der Staat und die ganze Gesittung und die ganze Cultur auf dem Spiele steht, wenn man die Ehe und die Familie herabwürdigt.“17 Aus konservativer Sicht kam die Krise der Ehe einer Krise der gesellschaftlichen Ordnung insgesamt gleich. Die „freie Liebe“ war also ein provokantes Schlagwort, und trotzdem – oder gerade deshalb? – steht sie im Titel des Artikels von Hedwig Dohm, obzwar im Text selbst dann ausschließlich von „freier Ehe“ und „freier Vereinigung“ die Rede ist. Doch genau diese Diskrepanz zwischen Titel und Inhalt ist für die Krise der Ehe symptomatisch, signalisiert sie doch, dass diese Institution eben nicht so leicht zu umgehen war oder einfach abgeschafft werden konnte bzw. sollte. Denn das war auch aus der Sicht Hedwig Dohms nicht das Ziel: Das Konzept der freien Liebe war nicht gleichbedeutend mit einer Absage an die Ehe. Der Sexualwissenschaftler Iwan Bloch sah in der freien Liebe – im Unterschied zum zuvor zitierten Staatsanwalt – die „Zukunft der Kultur“. Diese hing für ihn von der endgültigen
14 Vorwort, in: Bäumer, Gertrud et al., Frauenbewegung und Sexualethik. Beiträge zur modernen Ehekritik, Heilbronn 1909, S. vii–viii, hier S. vii. 15 Saurer, Edith, Liebe und Arbeit. Geschlechterbeziehungen im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Lanzinger, Margareth, Wien u.a. 2014, S. 138. 16 Popp, Adelheid, Frau und Eigenthum, in: Arbeiterinnen-Zeitung 4 (1895), H. 13. 17 Popp, Adelheid, Freie Liebe und bürgerliche Ehe. Schwurgerichtsverhandlung gegen die „Arbeiterinnen-Zeitung“, durchgeführt bei dem k. k. Landes- und Schwurgericht in Wien am 30. September 1895, Wien 1895, S. 8, 10.
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„Erlösung und Befreiung aus den durch die Zwangsehe geschaffenen schmachvollen Zuständen des Liebeslebens der Gegenwart“ ab.18 Neben der Kritik an arrangierten Ehen, die Familieninteressen bedienten, verband sich mit diesem Liebesmodell als zentrales Anliegen die Abschaffung der Prostitution und die Forderung nach sozialer Akzeptanz vor- bzw. außerehelicher sexueller Beziehungen, „die auf ernsthafter Zuneigung beruhten“,19 und in Konsequenz auch nach Anerkennung und Unterstützung für ledige Mütter und deren Kinder. Das Vorwort eines von Vertreterinnen der radikalen Richtung der Frauenbewegung, darunter federführend Hedwig Dohm, 1905 verfassten Bandes über Ehe und Sexualreform bringt die Folgen der „bürgerliche(n) Moral“, gegen die sie ankämpften, klar zum Ausdruck: Diese habe die „sexuelle Betätigung in die engen Fesseln der Ehe gezwängt“ und brandmarke „das in heißer Liebe erzeugte uneheliche Kind“.20 Die Reform der Ehe müsse ihren Ausgang daher von der Anerkennung der Ebenbürtigkeit der Frauen nehmen, denn mit der Auffassung von deren geistiger Inferiorität stehe die „Herrenrechtlerei des Mannes“ in Zusammenhang und diese wiederum bestimme „die sexuellen Sitten und Gesetze“. Dieser „einseitige(n) Herrschaft des Mannes“ schreibt sie die Doppelmoral und die „ungeheure Ausdehnung der Prostitution“ zu. Ziel von Erziehung und Schule und Basis der von ihr als ideal konzipierten Liebe sollten demnach das „aneinander- und miteinanderwachsen“ sein, „Kameradschaft, Freundschaft zwischen Mann und Weib“.21 Entscheidend war, dass das Eheverständnis und damit auch die Krise der Ehe um 1900 an eine jahrhundertelange Tradition anknüpften, und zwar auch und vor allem an die Zeit der Reformation. Schließlich hatten die Reformatoren im beginnenden 16. Jahrhundert besonders in Hinblick auf die Eindeutigkeit von Eheschließungen „Unordnung“ geortet, die es in eine neue Ordnung zu überführen gelte. Allerdings handelte es sich bei dieser „Unordnung“ mehr um eine rhetorische Figur, die der konfessionellen Abgrenzung diente: Die bis dahin nicht in einem punktuellen Trauungsakt, sondern in einem mehrstufigen Prozess – vom Eheversprechen bis zum Einzug in den gemeinsamen Haushalt – eingegangene Ehe, war durchaus Regeln und Konventionen gefolgt und hatte ebenso der sozialen Kontrolle unterstanden.22 Auf den Ruf nach einer sichtbareren Ordnung reagierten indes auch die Träger der katholischen Kirche. Mit den aus Reformation und Gegenreformation resultierenden Regelwerken sollte das Monopol der Ehe als einzig legitimer Ort für Sexualität, als einzig unbehelligt lebbares Bezie18 Bloch, Iwan, Das Sexualleben unserer Zeit in seinen Beziehungen zur modernen Kultur, Berlin 1908, S. 263. 19 Saurer, Liebe und Arbeit, S. 139. 20 Dohm, Hedwig et al., Ehe? Zur Reform der sexuellen Moral, Berlin 1905, S. 5–6. 21 Dohm, Hedwig, Zur sexuellen Moral der Frau, in: dies., Ehe?, S. 7–14, 7f, 11f. 22 Burghartz, Susanna, Umordnung statt Unordnung? Ehe, Geschlecht und Reformationsgeschichte, in: Puff, Helmut; Wild, Christopher (Hgg.), Zwischen den Disziplinen? Perspektiven der Frühneuzeitforschung, Göttingen 2003, S. 165–185; Seidel Menchi, Silvana; Quaglioni, Diego (Hgg.), Matrimoni in dubbio. Unioni controverse e nozze clandestine in Italia dal XIV al XVIII secolo, Bologna 2001.
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hungsmodell klar festgeschrieben werden. Die damit eingeleitete Moralisierung der Geschlechterbeziehungen wurde im Laufe des 17. Jahrhunderts zu einem regelrechten moralischen Programm, das durch die Mission mit mehr oder weniger Erfolg weiträumig auch über Europa hinaus exportiert werden sollte. Die machtvolle Durchsetzung des neuen Eheverständnisses lag jedoch nicht allein in kirchlicher Hand, auch weltliche Strafordnungen und Gerichte trugen die Moralvorstellungen mit, wenn sie sexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe, spätestens sobald sie durch Schwangerschaften publik wurden, als „Fornikation“, „Fleischesverbrechen“ oder „Unzucht“ ahndeten.23 Dies traf zwar Männer wie Frauen, jedoch tendenziell in unterschiedlicher Form: Die den Frauen auferlegten Strafen dienten nicht selten dazu, die ‚Sünderin‘ und ihr ‚Vergehen‘ öffentlich auszustellen und damit auch die Grenzen weiblicher Ehre abzustecken. Nach der Abschaffung der strafrechtlichen Verfolgung nichtehelicher Sexualität, die in zahlreichen deutschen Territorien und in Österreich im Laufe der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfolgte, sollten sich die juristischen Debatten um den Status, die Rechte und die Gleichstellung von unehelich geborenen Kindern noch lange hinziehen. Sogenannte Konkubinatsparagrafen, die es Polizei und Gericht erlaubten, Paare, die in ‚wilder Ehe‘ lebten, zu trennen, gab es auch im 19. Jahrhundert noch. Ergebnis dieser langfristigen Prozesse war ein Modell von Ehe als der gesellschaftlich akzeptierten Form, Geschlechterbeziehungen zu leben, die es – so verlangte es Hedwig Dohm – nun wieder aufzubrechen galt. Ein Angriffspunkt der Kritik um 1900 war die Position des Ehemannes als „Herrenoberhaupt“, wie Hedwig Dohm sie bezeichnet, zu dem analog die untergeordnete Rolle der Ehefrau zu sehen ist, die sich in deren Gehorsamspflicht ausdrückte. Religiös in der Schöpfungsgeschichte fundiert und durch weltliches Recht abgesichert sollte dieses von Dohm als „traditionell“ apostrophierte Ehemodell in den westeuropäischen Ländern noch bis zur partnerschaftlichen Gleichstellung der großen Familienrechtsreformen der 1970er-Jahre wirkmächtig bleiben.24 Als einen Aspekt, in dem „das Recht des Mannes“ zum Tragen kommt, thematisiert Dohm die „eheliche Liebespflicht“, die selbstverständlich eingefordert werden konnte. In dem ehelichen ‚Privileg‘ als alleinigem Ort für Sexualität lag somit keine Freiheit, sondern im Gegenteil: die Ausübung war Pflicht, eine Schuld – debitum conjugale –, die es einzulösen galt. Denn der Hauptzweck der Ehe war die Fortpflanzung, die „eheliche Liebespflicht“ erlaubte somit, so folgerte Dohm in ihrem Essay, eine „Ehe ohne Liebe“. Ihre Kritik setzte genau hier an, denn in einer solchen Situation sei die Forderung nach dem Erfüllen der Schuld Ausdruck und Praxis von ungleichen Machtverhältnissen. Das Paarkonzept „Mann und Frau“ stellte Hedwig Dohm gleichwohl nicht in Frage, dabei waren 23 Vgl. Strasser, Ulrike, State of Virginity. Gender, Religion, and Politics in an Early Modern Catholic State, Ann Arbor 2004. 24 Holzleithner, Elisabeth, Recht Macht Geschlecht. Legal Gender Studies. Eine Einführung, Wien 2002, S. 43–62; Schwab, Dieter, Gleichberechtigung und Familienrecht im 20. Jahrhundert, in: Gerhard, Frauen in der Geschichte des Rechts, S. 790–827; Verschraegen, Beate (Hg.), Gleichheit im Familienrecht unter Berücksichtigung des Einflusses von Verfassungen und internationalen Übereinkommen, Bielefeld 1997 mit zahlreichen Länderberichten.
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Diskussionen um ein „drittes Geschlecht“ zu dieser Zeit, inspiriert von Magnus Hirschfeld, durchaus an der Tagesordnung, und gerade der radikale Flügel der Frauenbewegung, allen voran Helene Stöcker, griff diese auch auf. Rein rechtlich stünde es der Ehefrau genauso zu, die „eheliche Pflicht“ von ihrem Mann einzufordern. Um dieses gleiche Recht ging es Hedwig Dohm aber nicht. Vielmehr problematisiert sie Sexualität in Begriffen der „erotischen Ehegemeinschaft“ und des „Erlöschens der Erotik“ – was sie gleichsetzt mit einem „Sprung in der Liebe“, der sich nicht mehr kitten lasse. Auf dem „Entschwinden der erotischen Empfindung“ und der vom Mann geforderten ehelichen Liebespflicht, also im Bereich der Sexualität, liegt ein argumentativer Schwerpunkt, mit dem sie sich gegen das lebenslang währende Eheband wendet. Als zweites skizziert sie das „sich gegenseitig erniedrigen und zerstören“, den „kleinlichen Krieg aller Tage“ und die gegenseitige Abneigung, die eine jegliche Ehe potentiell einem „schauerlichen Hospital für Inkurable“ gleichen lasse. Dies vermittelt, gemessen an den in Scheidungsklagen vielfach dargestellten Szenarien von Misshandlung und Gewalt25, nur ein partielles Bild, das sich an die bürgerliche Situiertheit der Autorin rückbinden lässt. So kritisiert Dohm die duldende Rolle von Frauen in unglücklichen Ehen, die im ewigen Anpassen und Hinnehmen schließlich vollkommen erlöschten. Zugleich zeichnet sie in Zusammenhang mit der „ehelichen Liebespflicht“ – nahezu klassisch den Vorstellungen von „Geschlechtscharakteren“26 folgend – Frauen als den passiven und Männer als den aktiven Part. Den eherechtlichen Aspekt der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern verknüpft Dohm mit der ökonomischen Ungleichheit und der daraus resultierenden Abhängigkeit von Frauen. Auf diese Weise wählt sie die Verflechtung von Ehe, Liebe und Ökonomie zum Ausgangspunkt, wenn es um die Frage einer „leichten, freien“ Ehescheidung geht. Aus der Sicht einer Frau war eine Scheidung zeitgenössisch in mehrfacher Hinsicht riskant, denn, wie auch Hedwig Dohm schreibt, sie hing sozial und finanziell ganz von ihrem Mann ab; eine Geschiedene verlor somit nicht nur ihr gesellschaftliches Ansehen. So war nach Dohm die „freie Scheidung“ auf Grundlage der derzeitigen gesellschaftlichen Situation der meisten Frauen durchaus problematisch, denn nur die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frau mache die freie Scheidung überhaupt erst möglich; schließlich habe der Mann das Recht auf eine zweite Partnerschaft und es gehöre zur Würde der Frau, ihre Existenz nach einer Scheidung selbst zu bestreiten. Schlussfolgerung: „[F]ür diejenigen Frauen“, so Dohm, „die Beruf und Mutterschaft nicht zu vereinigen wissen, muss es bei der alten niet- und nagelfesten Ehe bleiben, mit dem ernährenden Mann als Herrn und Oberhaupt, mit der erschwerten Scheidung.“
25 Blasius, Dirk, Ehescheidung in Deutschland 1794–1945, Göttingen 1987, bes. S. 112–126. 26 Hausen, Karin, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienarbeit, in: Conze, Werner (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, S. 363–393.
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Als Grundproblem identifiziert Dohm zunächst also die ökonomische Abhängigkeit von Frauen – angesprochen sind damit vornehmlich jene aus dem bürgerlichen Milieu. Diese ist durch fehlende Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten, aber auch durch die Unvereinbarkeit von Beruf und Mutterschaft bedingt, und macht Frauen im Scheidungsfall von der Unterhaltszahlung des geschiedenen Mannes abhängig. In diesem Punkt argumentiert Hedwig Dohm aus einer konsequent emanzipatorischen Position heraus, die auch heute noch umstritten ist27, da sie die wirtschaftliche Eigenständigkeit von Frauen einfordert – unabhängig von deren Familienstand. Dabei entlässt sie zugleich die geschiedenen Männer aus ihrer Pflicht und betont deren Recht auf „ein neues Glück“ in einer neuen Beziehung. Hintergrund dieser Auseinandersetzung sind die de facto unterschiedlichen Voraussetzungen und Implikationen von Ehescheidungen für Frauen und Männer. Was ist aber mit der „erschwerten Scheidung“ gemeint? Die Scheidungs- und Wiederverheiratungsmöglichkeit war über Jahrhunderte primär konfessionell respektive religiös geprägt.28 Der katholische Sakramentcharakter der Ehe und die damit verbundene Unauflöslichkeit der Ehe hatten zur Folge, dass eine Wiederverehelichung trotz gewährter Trennung zu Lebzeiten beider Ehepartner unmöglich war. Dem hatte Martin Luther seine Auffassung von Ehe als ein „irdisch Ding“ entgegengesetzt; eine Wiederverheiratung war möglich, jedoch nicht für den als „schuldig“ geschiedenen Teil.29 Zur Zeit Hedwig Dohms gab es im Deutschen Reich – seit 1875 – die Zivilehe, die eine Erleichterung für Wiederverehelichungen brachte.30 Das revolutionäre Frankreich hatte diese als Erstes eingeführt und blieb als Vorreiter in Europa damit lange allein. In anderen Ländern trugen klerikal-konservative und liberale Richtungen Machtkämpfe um die Einführung der obligatorischen Zivilehe aus. In Italien wurde sie 1866 durch den liberalen Codice Pisanelli eingeführt. Im Deutschen Reich war diese Auseinandersetzung Teil des sogenannten „Kulturkampfes“. In Österreich gab es die Zivilehe erst ab 1938 als Folge des ‚Anschlusses‘ an das nationalsozialistische Deutschland. Was die Möglichkeit einer Scheidung selbst betraf, so sollte dies dort wie auch in anderen europäischen Ländern noch lange Gegenstand von juristischen 27 Zur aktuellen und neuerlich umstrittenen Unterhaltsregelung in Deutschland vgl. Gerhard, Ute, Paradoxe Folgen der Emanzipation? Das neue Unterhaltsrecht des bundesdeutschen Familienrechts, in: L’Homme. Z.F.G. 22 (2011), H.1, S. 139–145. 28 Freier waren das jüdische und das islamische Scheidungsrecht. Vgl. Lieber, David L.; Drori, Moshe, Artikel „Divorce“, in: Encyclopedia Judaica, Bd. 5, Detroit 22007, S. 710–721; für ein Fallbeispiel: Klein, Birgit, „Der Mann: ein Fehlkauf“. Entwicklungen im Ehegüterrecht und die Folgen für das Geschlechterverhältnis im spätmittelalterlichen Aschkenas, in: Müller, Christiane E.; Schatz, Andrea (Hgg.), Der Differenz auf der Spur. Frauen und Gender in Aschkenas, Berlin 2004, S. 69–99; Amira El-Azhary Sonbol, Women, the Family and Divorce Laws in Islamic History, Syracuse 1996. 29 Blasius, Ehescheidung, S. 112–126. 30 Eine Konsequenz dieser ungleichen Situation war ein relativ reger Scheidungstourismus aus katholischen Gebieten. Vgl. als sehr plastische Analyse: Grandner, Margarete; Harmat, Ulrike, Begrenzt verliebt. Gesetzliche Ehehindernisse und die Grenze zwischen Österreich und Ungarn, in: Bauer, Ingrid et al. (Hgg.), Liebe und Widerstand. Ambivalenzen historischer Geschlechterbeziehungen, Wien 2005, S. 287–304.
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und politischen Debatten bleiben. Dirk Blasius sieht im Scheidungsrecht des zu Beginn des Jahres 1900 in Kraft getretenen deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches ein „Neben- und Ineinander von Modernisierungsbemühungen und gezielten Modernisierungsblockierungen“.31 Weitere Erschwernis, vor allem gegenüber dem liberaleren Allgemeinen Landrecht für Preußen von 1794, brachte das strikte Verschuldensprinzip, das eine einverständliche Scheidung nunmehr unmöglich machte. In den kontroversen Debatten um das Scheidungsrecht entwarfen konservative Juristen nicht nur Verfallsszenarien, die sie mit dem Aufkommen von „Socialdemokratie und Anarchismus“ verbanden, sondern beschworen pathetisch einen „nationalen Notstand“: „[D]ie sittlichen Mächte sind es, die der Staat stärken muß, um sich erhalten zu können gegenüber dem Ansturm, der unheimlich von unten heraufkommt.“32 Entscheidend für die von Hedwig Dohm beklagte „erschwerte Scheidung“ war das dominante ökonomische Muster des male breadwinner und der Ehe, die immer noch Versorgungsinstitution war. Dabei hatten bereits mehr als hundert Jahre zuvor Vertreter und Vertreterinnen der Romantik ein neues Liebeskonzept formuliert, das sich gegen allzu vordergründige wirtschaftliche Kalküle von Heiratsprojekten wandte und die Einheit von Ehe und Liebe propagierte. Angriffspunkt waren vor allem die arrangierten Ehen. Wurde auch im romantischen Diskurs jener Zeit die Liebesheirat proklamiert und die Geldheirat verfemt, so war dies als Vorstellung und Anspruch weit über die bürgerlich-intellektuellen Kreise, die diesen in die Welt gesetzt hatten, hinaus verbreitet und wirkmächtig. Mit der Umsetzung allerdings haperte es auch hundert Jahre später noch: Anstandsbücher des ausgehenden 19. Jahrhunderts empfahlen zwar die Liebesheirat, sahen aber keinerlei Widerspruch darin, einen Absatz später zu versichern, dass der Bräutigam mit Fug und Recht „neben der Neigung der von ihm Erkorenen auch eine gute Mitgift willkommen“ heißen „und über die Vermögensverhältnisse der Eltern des jungen Mädchens nähere Erkundigungen“ einholen könne.33 Tatsächlich blieben die wirtschaftlichen Verhältnisse noch lange ein wichtiges Kriterium bei der Ehepartnersuche: Geldfragen wurden im 19. Jahrhundert im Vorfeld einer Eheschließung – wenn auch nicht in allen Kreisen gleichermaßen – ziemlich offen diskutiert. Einschlägige Studien stellen einen beiderseitigen Bedacht auf Absicherung über eine Ehe unter relativ Gleichen quer durch die verschiedenen sozialen Milieus fest.34 Hedwig Dohm schwebte nun eine „Neugestal31 Blasius, Ehescheidung, S. 128. 32 Gutachten des Herrn Professor Dr. Otto Mayer in Straßburg, zit. nach Blasius, Ehescheidung, S. 138. 33 Ebhardt, Franz, Der gute Ton in allen Lebenslagen. Handbuch für den Verkehr in der Familie, in der Gesellschaft und im öffentlichen Leben, Leipzig 101886, S. 140, zit. nach Hausen, Karin, Die Ehe in Angebot und Nachfrage. Heiratsanzeigen historisch durchmustert, in: Bauer Ingrid et al. (Hgg.), Liebe und Widerstand, S. 428–448, hier S. 431. 34 Hausen, Die Ehe in Angebot und Nachfrage, S. 439, 448; Borscheid, Peter, Geld und Liebe. Zu den Auswirkungen des Romantischen auf die Partnerwahl im 19. Jahrhundert, in: ders.; Teuteberg, Hans J. (Hgg.), Ehe, Liebe, Tod. Zum Wandel der Familie, der Geschlechts- und Generationsbeziehungen in der Neuzeit, Münster 1983, S. 112–134, bes. S. 122–134.
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tung der Ehe“ vor, wenn sie forderte, dass der „stärkere Charakter […] das Übergewicht haben“ sollte, diesen jedoch nicht an ein bestimmtes Geschlecht gebunden sehen wollte. Geht man von einer gesellschaftlichen Stabilisierungsfunktion von Ehe aus, würde dies die Machtposition des Mannes als breadwinner untergraben. Was den Unterhalt betraf, so hatte in der Zeit, als Hedwig Dohm den hier kommentierten Artikel schrieb, eine geschiedene Frau auf Grundlage des Bürgerlichen Gesetzbuches ohnehin nur dann einen Anspruch darauf, wenn der Mann zum allein schuldigen Teil am Auseinandergehen der Ehe erklärt worden war. Dabei konnten geschiedene Männer nur in einem begrenzten Ausmaß zu Unterhaltszahlungen verpflichtet werden, und zwar nur soweit diese deren eigene standesgemäße Lebensführung nicht gefährdeten. Überdies entfiel die Unterhaltspflicht in zwei sozial ganz unterschiedlich gelagerten Situationen völlig: wenn nämlich Frauen über ausreichend eigenes Vermögen verfügten oder in „Verhältnissen“ lebten, in denen „Erwerb durch Arbeit“ auch für Frauen üblich war und diese ihren Unterhalt also weiterhin selbst bestreiten konnten (BGB § 1578). Frauen, die keinen Beruf erlernt hatten oder ausübten und über kein größeres Vermögen verfügten, hatten also eine denkbar schlechte Verhandlungsposition bei einer Scheidung, sofern ihren Ehemännern nicht ein klares Verschulden anzulasten war. Das Scheidungsrecht scheint insofern mehr die Lage des schuldig geschiedenen Mannes im Blick gehabt zu haben als jene der nicht schuldig geschiedenen Frau.35 Die Radikalität von Hedwig Dohms Artikel liegt in ihrer Vorstellung, dass niemand nach der Form fragen sollte, „in der zwei Menschen sich in Liebe vereinigten“. Ausgehend von ihrem Befund der ökonomisch und sozial ungleichen Stellung von Frauen und Männern und von den Folgen, die dies für die Ehe als privilegierte Form der gelebten Geschlechterbeziehung hatte, kam sie zu dem ungewöhnlichen Schluss, dass die „rechte Form für das Sexualleben von Mann und Weib […] noch nicht gefunden“ sei. Die auf die Geschichte der Ehe zurück gewandte Langzeitperspektive lieferte ihr zugleich die Prognose: „Ein langer Weg war’s von dem sakramentalen Traualtar bis zum profanen Standesamt. Lang wird der Weg sein vom Standesamt zur freien Ehe.“ Dies fordert nicht zuletzt die Frage heraus, auf welcher Etappe des Weges wir heute stehen. Denkt man an eingetragene Partnerschaften, an gleichgeschlechtliche Ehen, an nichteheliche Lebensgemeinschaften, die von manchen Sozialgesetzen so behandelt werden, als leisteten die Partner bzw. Partnerinnen einander Unterhalt, so ergibt sich zwar das Bild einer Vervielfältigung der Formen, aber auch jenes einer engen Koppelung dieser größeren Freiheit an bürgerliches Recht. Um dagegen zu jener Freiheit zu gelangen, die Hedwig Dohm vor Augen hatte, ist es also wohl noch ein weiteres Stück des Weges.
35 Blasius, Ehescheidung, S. 151.
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Literaturhinweise Arni, Caroline, Entzweiungen. Die Krise der Ehe um 1900, Köln 2004. Blasius, Dirk, Ehescheidung in Deutschland 1794–1945, Göttingen 1987. Duncker, Arne, Gleichheit und Ungleichheit in der Ehe. Persönliche Stellung von Frau und Mann im Recht der ehelichen Lebensgemeinschaft 1700–1914, Göttingen 1987. Gerhard, Ute (Hg.), Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1999. Ulbrich, Claudia, Artikel „Ehe“, in: Enzyklopädie der Neuzeit 3, Stuttgart 2006, Sp. 38–44.
Quelle Hedwig Dohm: Über Ehescheidung und freie Liebe (1909)36 Habe ich bereits verschiedene Gesichtspunkte für die Erziehung zur Ehe behandelt, so will ich heute von der Ehescheidung reden, davon, ob die Frau auch zum Ausharren in einer unglücklichen Ehe erzogen werden soll. Die traditionelle Ehe mit dem Herrenoberhaupt, mit ihren festen Normen und Einengungen, entspricht nicht mehr dem Geist der Zeit, nicht mehr der Entwickelung der Frau. Wer wüsste es nicht, dass äussere Formen sich oft lange Zeiträume hindurch noch erhalten, wenn ihr Inhalt aus dem sozialen Empfinden geschwunden ist. […] Wer trägt die Schuld an den vielen zerstörten, glücklosen Ehen unserer Zeit? In der Regel nicht der Mann, nicht die Frau: die Ehe trägt die Schuld. Ja, wenn man zur Entwickelung eines Menschen sagen könnte: Bleib wie du bist, oder entwickele dich in der selben Richtung wie der, dem du dich vermählt hast. Ob zwei Menschen, die die Ehe vereint hat, sich auseinanderleben oder gleichen Schritt mit einander halten werden, kann niemand vorausbestimmen. Treue in der Liebe ist keine innere Verpflichtung. Ich kann nicht versprechen dich morgen zu lieben, weil ich dich heut geliebt habe. Ich kann nur versprechen nie das Band der Ehe lösen zu wollen. Soll nun die Reform der Ehe in einer leichten freien Scheidung bestehen? Ja und nein. Ja sage ich im Hinblick auf das Elend so vieler Ehen. Für die Frau ist die Scheidung fast immer etwas unendlich Schweres. Hat sie die Fessel abgestreift, bleibt ihr die Empfindung, als schleppe sie die Kette noch hinter sich her. Alles hat sie durch den Mann, von dem Mann: ihre soziale Stellung – sie trägt seinen Namen und Titel –, er nährt, kleidet sie und die Kinder, er bestreitet ihre Vergnügungen. Die Geschiedene gerät in der Regel in eine dürftige Lage und sinkt in der Schätzung der Gesellschaft. Der Mann verliert bei der Scheidung nichts als die Frau, die er eben los sein will. Demnach ist anzunehmen, dass nur zwingende äussere oder innere Gründe die Frau zu einer Scheidung drängen werden. So wäre doch die möglichst leichte Scheidung geboten? Es scheint so. Die Ehe kann das Schönste, aber auch das Schrecklichste sein. Das Schönste: Einsamkeitserlösung, Sehnsuchtserfüllung für die Frau, ein Tuskulum der Seele für den Mann. Für beide ein Rosenblühen auch noch im Winter. Das Schrecklichste, wenn sie wie eine Wanderung über ein Feld von Brennesseln ist, ewig Verwundungen fühlend. Es 36 Dohm, Hedwig, Über Ehescheidungen und freie Liebe, in: Sozialistische Monatshefte 13 (1909), S. 842–849, URL: (18.10.2017). Die Quelle ist zudem online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .
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ist das Recht des Mannes von der Frau die eheliche Liebespflicht zu fordern, auch wenn ihr diese Pflicht widerstrebt. Eine keusche, sensitive Frau empfindet diese Pflicht, ohne den hinreissenden Impuls zur Hingabe, als etwas Widriges, ihre Schamhaftigkeit tödlich Verletzendes. Ja, es gibt Frauen, die diesen Anspruch des Mannes als eine Vergewaltigung empfinden. Bei exzentrischen, leidenschaftlichen Frauen kann dieser Widerwille sich bis zum Hass, bis zur Vorstellung von Mord oder Selbstmord steigern. Selbstverständlich wird diese Empfindungsart nicht von allen Frauen, die in der Ehe sich dem Manne ohne Liebe geben, geteilt. Man hat die Hingabe in der Ehe ohne Liebe wohl als legale Prostitution bezeichnet. Nicht ganz mit Recht. Bei weiblichen Dickhäutern mag die erotische Ehegemeinschaft mit Gelassenheit, als ein notwendiges Übel, hingenommen werden. Man gewöhnt sich. Nicht selten aber werden edlere Motive dabei ausgelöst: ein – wenn man will – schwärmerisches Pflichtgefühl, ein Altruismus, der das eigene Ich zu gunsten eines andern ausschaltet; eine Güte des Gebens, dem selbstsüchtigen Nehmen des Mannes gegenüber. Und fromme Frauen gibt’s, denen die Ehe ein Sakrament ist, das selbst widrige Pflichten heiligt. Dazu kommt der lebhafte Wunsch zur Erhaltung des Friedens, die Sorge, dass bei andauerndem Versagen des Gatten Neigung erkalten würde. Und kein Mittel gibt’s gegen das Erlöschen der Erotik? Keins! Auch die herzlichste Sympathie der Gattin für den Gatten vermag nicht das Erlöschen der Erotik zu hindern. Ein Sprung in der Liebe lässt sich kitten. Aus der Asche einer toten Liebe schlägst du keine Funken mehr. […] Mir scheint, innerhalb der Ehe bedingt das Entschwinden der erotischen Empfindung noch keine unglückliche Ehe. Die Erotik ist nicht oder braucht nicht der Kern der Ehe zu sein. Eine Blüte ist vom Baum der Ehe gefallen. Edle Früchte kann sie noch tragen. Es bleiben die Kinder, die gemeinsamen Interessen, die herzliche Gewohnheit des Miteinanderseins, des Mitteilens und Teilens von allem Leid und aller Freude. Die ruhevolle Wohligkeit eines friedlichen Heims. Und die Freundschaft bleibt, und Liebe und Zärtlichkeit auch. Kann wenigstens bleiben. […] Allein, es gibt sehr viel Ehen, in denen die Gegensätze zwischen Mann und Frau unüberbrückbar sind. Ist die Frau verpflichtet auch in einer solchen Ehe auszuharren? Nein. Wer sich zum Sklaven eines Schicksals macht, das er bekämpfen, überwinden kann, ist feig, ist dumm. Eine Feigheit, um äusseren Ärgernissen zu entgehen, innere Zerstörungen zu dulden. Wir passen uns so lange an, schmiegen, bücken, krümmen uns, bis wir nach unten wachsen anstatt nach oben, bis der Baum unseres Lebens seine Krone verloren hat. Wie? Auf den Irrtum – einen gar nicht zu umgehenden – eines unerfahrenen, jungen Geschöpfes, soll ein harte, lebenslängliche Strafe stehen? Furchtbar der Anblick zweier Menschen, die sich gegenseitig erniedrigen, zerstören, vielleicht in einem kleinlichen Krieg aller Tage, oder in einer Abneigung, die auf der Gegensätzlichkeit all ihres Denkens, Fühlens, Wollens oder auf einem physischen Widerwillen beruhen kann. Einem schauerlichen Hospital für Inkurable gleichen solche Ehen. Nicht ein Rausch der Unvernunft, der diese zwei an einander kettet? Ein Verbrechen der Ethik? Ein Idiotismus der Tugend? Nicht sonderbar, dass die Gesetze diesen Seelenmorden ihren Beistand leisten? Einen Irrtum zu widerrufen ist das Gebot ehrenhafte Gesinnung. Das Verbot den Irrtum einer Eheschliessung zu widerrufen ist der Ehre und der Moral bar. Kommt in der Eheanschmiedung nicht tiefe Menschenverachtung zum Ausdruck? […] Und doch und doch: Von einem andern Standpunkt aus, einem berechtigten, ist die freie Scheidung abzulehnen. Die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frau ist ihre Voraussetzung, sie ist ohne diese undurchführbar. Wer soll die Frau erhalten, wenn sie sich nach einigen Jahren der Ehe von ihrem Mann trennen will, auch wenn es aus stichhaltigen Gründen geschieht? Der Mann? Wie käme er dazu? Ist er nicht berechtigt mit einer
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andern Frau ein neues Glück zu suchen? Und wäre er selbst bereit und im stande das Geldopfer zu bringen: welche Frau hätte die Indezenz ihre Existenz von ihm bestreiten zu lassen? Die kleine Minorität der reichen Frauen kommt nicht in betracht. Von ihnen wird der Mann ungern sich scheiden, denn: treu dem Gelde ist gern der Mensch. Demnach: für diejenigen Frauen, die Beruf und Mutterschaft nicht zu vereinigen wissen, muss es bei der alten niet- und nagelfesten Ehe bleiben, mit dem ernährenden Mann als Herrn und Oberhaupt, mit der erschwerten Scheidung. Erleichterungen der Scheidung mag man der Frau gewähren, nicht dem Mann, denn der Frau fallen alle Nachteile der Scheidung zu. Für die hilflose, abhängige Frau wird die unglückliche Ehe zu einer unsittlichen Notwendigkeit. Die Tragödie beginnt. Der Dichter walte seines Amtes: der Vorläufer des Sozialreformers. Nun möchte ich das Thema Die freie Ehe erörtern. Alle geplanten Reformen werden schliesslich zur freien Ehe führen, mag ihre Verwirklichung auch einer fernen Zukunft vorbehalten sein. Dass eine durchgreifende Umgestaltung der geltenden, streng bindenden Eheform die wirtschaftliche Selbständigkeit der Frau zur Voraussetzung hat, habe ich an anderer Stelle bereits ausgeführt. Ist hingegen die Frau in ihrer materiellen Existenz unabhängig vom Mann, so ist damit eine Situation gegeben, die logischerweise zu einer Neugestaltung der Ehe führen muss. Nicht Mann über Bord wird es heissen, aber der Herr über Bord. Zwischen zwei Ebenbürtigen gibt es nicht Herren und Untergebene. Sicher, der stärkere Charakter wird das Übergewicht haben. Es kann ebenso gut der Mann wie die Frau sein. Fossile, – lächerliche Gesetzesbestimmungen, die die Frau versklaven, müssen fallen. […] Innerhalb der Frauenbewegung spalten sich die Fürsprecherinnen der Ehereformierung in zwei Parteien: eine gemässigte und eine radikale. Die Gemässigten oder die Rechte bilden die Zeitgemässen, die das zunächst Erreichbare erstreben. Auch diese Reservisten in der Ehefrage, die, auf dem Unterbau der legalen Ehe, durch Ergänzungen und Beseitigungen, sich bemühen der Ehe eine würdigere und beglückendere Stätte zu bereiten, sie sind willkommen. Haben sie die soziale und rechtliche Gleichstellung der Geschlechter, die ökonomische Selbständigkeit der Frau und eine erleichterte Scheidung bewirkt, dann mag immerhin für melodische Seelen irgend eine stimmungsvolle Zeremonie die Ehe einleiten. Dann mag man zwischen den Willen zur Scheidung und der ausgesprochenen Scheidung eine mehrmonatliche Frist setzen, zum Schutz der Allzuscheidungsbereiten. Die Radikalen (oder die Linke) verneinen jede gesetzlich bindende Form der Ehe. Es sind die Unzeitgemässen – Nietzsche hält gerade diese für die eigentlichen Kulturförderer –, Schauerinnen der Zukunft, Theoretikerinnen. […] Neue Ethik – alte Ethik! Der Kampf zwischen dem Gestrigen und dem Heutigen ist ein evolutionistisches Weltprinzip. Warum befehden sich die beiden Denkrichtungen so wütend mit dem Ecrasez l’infame? Unverständlich ist mir das Identischsein von Gegnerschaft und Feindschaft. Ich nenne denjenigen moralisch, der in Wort und Tat seinen tiefsten Überzeugungen aus eigenster Erkennenskraft folgt. […] Die hitzigen Gegner der freien Vereinigungen verwechseln in der Regel das Verhältnis mit der freien Ehe. […] Die Frau aber in der freien Ehe ist nicht die Geliebte des Mannes, sie ist sein Weib. Die freie Ehe wird, ebenso wie die standesamtliche, in der Hoffnungsfreudigkeit eines dauernden Beieinanderseins von den Liebenden geschlossen. Alle beglückenden Momente der legalen Ehe würden auch in der freien Ehe ihre Verwirklichung finden: das Behagen einer gemeinsamen Häuslichkeit, die Interessengemeinschaft, das Elternglück. Nur die Umgitterung fällt fort, die den nicht mehr Liebenden, nicht mehr Befreundeten den Weg ins Freie sperrt. Freilich fällt mit der Umgitterung
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auch die feste Verankerung in einem sicheren Hafen, den die versorgungsbedürftige Frau nicht entbehren kann. Die durch sich selbst versorgte Frau kann ihn entbehren. Mit scheinbarem Recht sagen die Gegner der freien Vereinigungen: Die alte Eheform mit ihren Einengungen und Freiheitsbeschränkungen mag für dich nicht nötig sein, zum Schutz der Gesamtheit ist sie es. […] Steht wirklich der Anspruch einer radikalen Ehereform dem Gemeinwohl entgegen? Nie und nimmer. Was mich persönlich erniedrigt, verzehrt, was in meinen reinsten Stunden mein Gewissen, meine Vernunft verwirft, das muss das Falsche, das Unsittliche sein. […] Übrigens, eine unmittelbare Gefahr droht der legitimen Ehe nicht. Zur Beschwichtigung schwer beunruhigter Gemüter sei’s gesagt. Die Majorität der Menschen denkt noch gar nicht daran des Ariadnefadens entraten zu wollen. Kann nicht daran denken in einer Zeit, wo die gesetzliche Ehe für alle diejenigen, die vom Staat abhängen, Existenzbedingung ist. In einer Zeit, wo der Polizei noch die Befugnis zusteht gegen Paare, die in freier Ehe leben, einzuschreiten. Im sicheren Port der Gesetzlichkeit bleibt von Herzen gern die Mehrzahl der Frauen, aus aufrichtiger oder ihr suggerierter Überzeugung oder aus praktisch weltlicher Klugheit. Wenn ich nicht irre, ist es für einen Aristokraten durchaus unstatthaft an die Deszendenztheorie zu glauben. Ebenso wenig wird die höhere Bürgersfrau oder die Weltdame der freien Ehe huldigen. Es beziehen die Individuen ihre Spezialanschauungswelt von ihrer Gesellschaftsschicht. Sie haben das Kollektivgewissen ihrer Klasse. Wer da aus Reih und Glied tritt, erscheint den Standesgenossen als ein Fahnenflüchtiger. Er riskiert das Los eines Offiziers, der zum Gemeinen degradiert wird. Die zu eigener Ethik Erweckten bilden vorläufig eine winzige Minorität. Und auch unter ihnen sind wenige Paare erst von der Ideenpropaganda zur Propaganda der Tat geschritten. Und ich meine: Wie man auch heut schon in geistig verfeinerten, vorurteilslos vorwärtsschauenden Kulturkreisen den Menschen, mit dem man verkehren möchte, nicht fragt, ob er Katholik ist oder Muhamedaner, Buddhist oder Jude, so fragt man in diesen Kreisen auch der Form nicht nach, in der zwei Menschen in Liebe sich vereinigten. Nach ihren geistigen und seelischen Qualitäten schätzt man sie ein, und danach sucht oder meidet man ihren Umgang. Der Gesamtwert ihrer Persönlichkeit entscheidet. Die Kulturgeschichte bezeugt, dass nicht nur Zuchtlosigkeit, dass auch herzzerreissender Jammer von jeher, zu allen Zeiten und unter allen Völkern, eine Begleiterscheinung der Zwangsehe gewesen ist. Und immer und immer hat die Unwiderruflichkeit der Ehe antiken und modernen Dichtern – von Sophokles bis zu den modernen Ehebruchsdramen – den Stoff für ihre Tragödien geliefert. Die Schlussfolgerung ist unabweisbar: Die rechte Form für das Sexualleben von Mann und Weib ist noch nicht gefunden. Mir scheint, noch niemals hat es eine Zeit gegeben, so erfüllt von der Sehnsucht nach einer Versittlichung, einer Idealisierung der Ehe wie die gegenwärtige. Ob die freie Ehe uns die Pforte zu einer sexuellen Idealwelt erschliessen wird? Seien wir des Spruchs eingedenk, dass selbst der Weiseste nicht auf ewig recht hat. Wie jeder Mensch seine Wiege und sein Grab, so hat auch jedes soziale Gebilde Geburt und Tod. Die Idee der freien Ehe hat einen mächtigen Bundesgenossen, zu dem Gott selbst aus dem feurigen Busch sprach. Es ist der Geist der Zeit. […] Ein langer Weg war’s von dem sakramentalen Traualtar bis zum profanen Standesamt. Lang wird der Weg sein vom Standesamt bis zur freien Ehe. Langsam vollzieht sich bei den Menschen das Umfühlen, Umdenken; langsamer noch setzt sich das Umgedachte, Umgefühlte in Taten um.
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Der Geist der Zeit. Der Geist der Freiheit ist’s. […] In dem hochkultivierten Finnland haben die Frauen das Stimmrecht erlangt. Die Dienstboten stehen im Begriff freie Arbeiterinnen zu werden. Die Arbeiter tun sich gruppenweise zusammen und lassen sich von Berufenen unterrichten, um geistig frei zu werden. Und die Frauen! Die Frauen! Verschüttet seit Jahrtausenden waren ihre Kräfte. Gewonnen sind sie nun für die Kultur. Und die phänomenalen Triumphe der Technik! Nicht umsonst steuern die Luftschiffe durch den Äther, durchsausen die Automobile die Welt und spannen unsere Nerven zu einem Hinaus! Vorwärts! Ins Weite, Freie, Endlose! Grenzpfähle stürzen, die für Ewigkeiten errichtet schienen. Wir antizipieren die Flügel, die wir einst haben werden. Licht, Luft, Freiheit sind die weltliche Dreieinigkeit unserer Zeit. Nach dieser Dreieinigkeit ringt auch die Ehe. Die Seelen all der Frauen, die ihr Leben nicht leben durften, kämpfen mit uns für die Menschwerdung des Weibes, wie die Geister der Gefallenen in jenen sagenhaften Kriegen an der Seite der Lebendigen kämpften.
EUROPE IS A PEACEFUL WOMAN, AMERICA IS A WAR-MONGERING MAN? THE 1980S PEACE MOVEMENT IN NATO-ALLIED EUROPE1 Belinda Davis The image below represents a flyer put out by the Evangelische StudentenGemeinden Westberlin (ESG), calling for viewers to stand up for peace, by attending a demonstration to be held on the occasion of US-American President Ronald Reagan’s visit to West Berlin, in June 1982. The specific concern is to prevent the stationing of new nuclear weapons across Europe, in the Cold War West and East. Europeans are implicitly represented in the person of a female protester who, though in dress and heels, demonstrates sufficient strength to kick away an unwanted nuclear rocket.2 The message seems forthright and quite simple. But as an exemplar of the era’s iconography, the flyer would have communicated a range of meanings and associations. One of thousands of such images and associated texts in West Germany/West Berlin alone, the flyer was part of a popular political movement across NATO-allied Europe, protesting NATO’s new “double-track” strategy of rearmament alongside continued détente.3 Such images clearly reached people at some level across the Cold War West. In West Germany alone, the movement brought millions to demonstrate in the streets between 1980 and 1983, and to convene in “convergence marches” (Sternmärsche) on Bonn, numerous times over the course of several years, making this the most successful grassroots mass political movement numerically in German history. In turn, this was the most populous informal political movement ever also within other NATO-allied and non-aligned European countries, and across Europe tout court, as Netherlanders, Italians, Austrians, Finns, and others likewise poured out in remarkable numbers. The movement fostered some six thousand local peace initiatives across western Europe. Feminist, communist, Protestant, Catholic, and other groups joined longstanding peace activists in leading this movement, exemplary 1 2
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Essay relates to source: Aufstehen für den Frieden! (1982). The essay and the source are published online in the web portal “Themenportal Europäische Geschichte”, URL: . There is some play here concerning whether this woman is “Europe,” or whether she is a “European”, protecting an (also female) Europe. The essay draws heavily on Davis, Belinda, “Women’s Strength Against Their Crazy Male Power”. Gendered Language in the West German Peace Movement of the 1980s, in: Davy, Jennifer A., et al. (eds.), Frieden – Gewalt – Geschlecht. Friedens- und Konfliktforschung als Geschlechterforschung, Essen 2005, pp. 244–265. Metaphors used in the movement were varied and highly fungible; I emphasize here one set of foci. References to West Germany include West Berlin here unless otherwise noted.
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of its diversity as well as sheer numerical strength. If indeed these protestors failed to convince political leaders in power to reconsider the stationing of new nuclear weapons in Europe, that so many, and such diverse populations, joined to occupy public space to express their deep concerns, across several years at least, was itself a significant political success. This essay thus seeks to explore the political efficacy and broader implications of the gendered metaphors peace activists of Cold War Western-bloc Europe adopted in the 1980s movement, against resumption of nuclear arms build-up. Drawing on sources of both word and image, the essay begins by adumbrating the positive effects peace activists secured in employing but also playing with familiar, binary-gendered imagery, in both recruiting protestors and communicating their message. It also speaks to the auspicious implications of the successful use of the metaphor in the first place: that “the feminine” might no longer be automatically associated with something inferior, weak, or marginal. The piece then turns to consider unintended downsides to gendered metaphors in the context of the peace movement, and the ways in which a binary-gendered model wind up ineluctably reinstanciating essentialist and negative thinking about gender, generating problems both political and philosophical. Self-identified women as a group took a prominent role in this peace activism, both through “mixed-gender” groupings, from Church to trade union to communist organizations, and through women-only activism, such as Women for Peace and Greenham Common Women’s Peace Camp. In the former, gendered structures still too often followed the patterns of pacifist movements for the preceding century, via which women constituted the bulk of the membership, specifically related to peace work and did most of the everyday work of the organization, preparing and posting flyers, making phone calls and making site arrangements while men took on the roles of titular leadership. These groupings did however follow on recent developments within the new social movements and other alternative-cultural initiatives of the 1970s that sought (if not always successfully) to challenge hierarchical organization, and conventional notions of “leadership” and of “spokespeople” altogether. This was all the more the case in the women’s-only groupings, even if, to be sure, these were also prone to conflicts over hierarchy and control.4 This success of the broad movement in bringing millions to the streets in public protest was at least in part a function of the image of a “feminized” Europe. In the language of this narrative, Europeans were moral and ethical, sensitive and nurturing. It was not least their emotional awareness that created their particular “rationality,” in contrast with the “insanity” of a zealous pursuit of “mutually as-
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Compare e.g. Davis, Belinda, “Civil Society in a New Key? Feminist and Alternative Groups in 1970s West Germany,” in Michel, Sonya, et al. (eds.), Civil Society and Gender Justice: Historical and Comparative Perspectives, New York 2008, p. 208–223; ibid., The Internal Life of Politics: Extraparliamentary Opposition in West Germany, 1962–1983 (forthcoming).
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sured destruction,” perceived as a profoundly male concept.5 This conceptualization reflects three interesting and arguably salutary phenomena. The first is the fact in itself that such large and diverse numbers rallied under the aegis of this feminized Europe, hardly imaginable in the twentieth century up to this point (aside from the question of whether “Europe” itself might have served as such a rallying point). They did so under a banner representing characteristics for the twentieth century stereotypically female (morality, sensitivity, antipathy to violence), now perceived as positive.6 Further, this woman was often, as in this flyer, “well-dressed,” communicating (apparently successfully) that popular protest was now perfectly respectable, across classes as genders and in contrast with a broad perception in preceding decades that such protest was the domain of a marginalized and crazy “tiny radical minority,” and dirty, violent youth, whom many imagined as destroying rather than protecting Cold War Western Europe.7 The second phenomenon is that this imagery seems simultaneously to have successfully challenged or reworked other gender stereotypes. The woman offering a swift and effective kick in our poster demonstrates a woman’s “rationality,” informed by her sensitivity, and in turn the “strength” it gave her to stand up against its converse, crazy male power. This rationality, long perceived as a positive masculine trait, brought women – or Europeans – to contest the slogan of the West German Lutheran Church: “Don’t be afraid.” In the face of the nuclear destruction centered in Europe, the only “rational” response was rather to “be afraid.” This fear was then to stiffen Europeans’ spines, to bring them the strength – a quality also heretofore perceived as masculine – to stand in opposition to the men in control, men who exhibited power lust in lieu of strength. This embrace and simultaneous reworking of perceived gender characteristics was even in its often contradictory forms a seminal move, anticipating the work of subsequent feminist theorists and activists around the world, including, for example, concerning diaspora sexuality and gender.8 From the perspective of the 2003 American
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Compare e.g. Theurer, Johannes, Blutig, Blutig, in: Zitty 18 (1979), p. 32; Freyhold, Michaela, Frauen gegen den Krieg, aber wie, in: Qustorp, Eva (ed.), Frauen für den Frieden. Analysen, Dokumente und Aktionen aus der Friedensbewegung, Bensheim 1982, pp. 49–53. “Difference” versus “equality” feminism was one rough major divide within the European socalled Second Wave women’s movements (as it had also been in the First Wave). The former reinforced but celebrated notions of fixed gender differences, while the latter group on the whole challenged such notions altogether. The 1980s peace movement reflected the influence of both iterations of feminism, but the former was arguably more audibly expressed in the movement. This did not preclude enormous conflict among constituent groupings. Compare Rochon, Thomas R., Mobilizing for Peace. The Antinuclear Movements in Western Europe, Princeton, 1988; della Porta, Donatella; Mario Diani, I movimenti sociali, Rome 1997; Rüdig, Wolfgang, Peace and Ecology Movements in Western Europe, in: West European Politics 11 (1988), No. 1 pp. 26–39; Kriesi, Hanspeter, Sviluppo organizzativo dei nuovi movimenti sociali e contesto politico, Rivista italiana di scienza politica 23 (1993), No. 1, pp. 67–117. Compare e.g. Gopinath, Gayatri, Impossible Desires: Queering Diasporas and South Asian Public Cultures, Durham 2006; Alexander, Jacqui, Pedagogies of Crossing: Meditations on
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war on Iraq, the only military action to have drawn still greater numbers in protest internationally, we can say that these activists arguably helped to create new “frames of war,” frames in which these protestors might be recognized as “counting,” as requiring notice.9 The third phenomenon was the new life and widespread legitimacy the peace movement gave to feminism in the event. This is particularly remarkable in light of the fact that the European peace movement, from its origins nearly a century earlier, was “negatively” feminized from the start, one characteristic that had for the intervening decades left the movements marginalized.10 In the early twentieth century, some activists had tried to portray the movement as specifically reflecting positive female characteristics, but with very limited success. Activists turned simultaneously to the strategy of placing men in leadership positions in the movement (except in women-only peace organizations), but the enduring feminine association seems to have proved detrimental.11 That is, peace associations remained marginal because of perceptions, widespread if variable across Europe, that such organizations were for females only, or represented a feminized (and feminizing) point of view, frequently conceived for example as simply weak, and as in opposition to a willingness to stand up for one’s country and its values. In the “new pacifism” of the 1980s movement, many activists themselves, such as those in Women for Peace (Scandinavia, West Germany, the Netherlands, and elsewhere), returned to reinforcing perceived gender-specific characteristics in their appeals. At the same time, concerned for the de facto limiting quality of this emphasis, many turned to highlighting notions of “the masculine” and “the feminine” in everyone. While activists sometimes tied themselves into rhetorical knots with this strategy, it proved effective, at least in some respects.12 If feminization of the European subject seemed to work to bring increasing numbers into the Feminism, Sexual Politics, Memory and the Sacred, Durham 2006; also Manalansan, Martin F., Global Divas: Filipino Gay Men in the Diaspora, Durham 2003. 9 See Butler, Judith, Frames of War: When is Life Grieveable?, London 2010; also ibid, Bodies that Matter, New York 2011; ibid, Dispossession: The Performative in the Political, London 2013. 10 This new prominence began at some level from early ’70s, in the form of the new “peace research,” e.g. as carried out through the Deutsche Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung. See as one seminal text Senghaas, Dieter, Abschreckung und Frieden. Studien zur Kritik organisierter Friedenslosigkeit, Frankfurt am Main 1969. 11 Compare for the German case specifically e.g. Chickering, Roger, Imperial Germany and a World Without War. The Peace Movement and German Society, 1892–1914, Princeton 1976; Davy, Jennifer, “Manly” and “Feminine” Antimilitarism. Perceptions of Gender in the Antimilitarist Wing of the Weimar Peace Movement, in: Davy, Frieden–Gewalt, pp. 144–165; Nehring, Holger, „Security Therapies – Peace Activists and Cold War Normality in West Germany,” unpublished paper; Ibid., Politics of Security: British and West German Protest Movements and the Early Cold War, 1945–1970, Oxford 2013; also generally Nehring, Holger; Pharo, Helge, Introduction: A Peaceful Europe? Negotiating Peace in the Twentieth Century, in: Central European History 17 (2008), No. 3, pp. 277–299. 12 Compare Müller, Ingrid, in: Frankfurter Rundschau (September 1979), reproduced in Burmeister, Elisabeth, ed., Frauen machen Frieden. Lesebuch für Großmütter, Mütter und Töchter, Gelnhausen 1981, p. 20. This was not an entirely new strategy.
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movement, at the same time, at some level at least, women were no longer the marginalized, the “particular,” the “other.” “They” were the “we,” an identity acceptable and even desirable to adopt, for example following the women who led the march for peace to and encampment at Greenham Common, a nuclear weapons site in England, and the women who took on leadership positions in the 1981 antinuclear march from Copenhagen to Paris. It can be argued that this image of a female Europe is one that Europeans have regularly and positively projected since that time. Additionally, the peace movement united divided European feminists among themselves in many cases, at least in working directly on this issue, in a way that not even campaigns for reproductive choice had done. The emergent Green Party in West Germany grew to parliamentary strength in part by linking feminism and disarmament, care of the earth and non-violence. These represent noteworthy transformations. But the image and the broader associations were not without their both less functional and less attractive qualities as well. Pace Lawrence Wittner’s argument that it was grassroots activism that prevented nuclear war throughout the second half of the twentieth century, the massive protest of the early 1980s did not succeed in demonstrators’ direct, major goal of preventing the installation of medium-range missiles on European soil.13 This failure cannot be explained simply or monocausally. But it is noteworthy that the rhetoric of some activist leaders often served paradoxically to reinforce “feminine” stereotypes of inescapable, deeply structural and even fundamental vulnerability, of the need to be taken care of, of the inability to escape the control of a powerful “masculine” counterpart, in this case most often specifically (if not exclusively) the United States.14 It may well be that this rhetoric, running in tandem with language and images meant to challenge long-held stereotypes, undermined the political efficacy of the gendered imagery. The binary gendering of rearmament represented additional problems. One was the reinforcement of gendered associations in a good/bad, self/other framework. Metaphorically, Europe’s positive femininity seemed to work only in contrast to America’s negative masculinity. Indeed if “femininity” and “masculinity” were fixed notions, and if “femininity” altogether was good, then “masculinity” was a priori bad. This threatened only to reverse rather than transcend the earlier ordering of femininity versus masculinity. This rhetoric drew finally on some rather unsettling broader narratives. Using the trope of a common feminized “victimization” and a corresponding ineluctable masculine lust for violence, some activists sought to draw direct comparisons between Europeans and female North Vietnamese villagers in the Vietnam war, and between present-day Europeans and the Japanese in Hiroshima and Nagasaki 13 Wittner, Lawrence, Struggle against the Bomb. History of the World Disarmament Movement, 3 vols., Stanford 1993–2003. 14 Compare Brockmann, Dorothee, Wider die Friedfertigkeit – Gedanken über einen kriegerischen Alltag, in: Courage 6 (March 1981), pp. 20–21; Jansen, Mechthild, Friedenspolitik von Frauen – Nur eine Illusion? Über den Zusammenhang von Frauen und Patriarchat, Hagen 1995.
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(hence the notion “Euroshima”). In the case of West Germans, this imagery could be especially troubling, as some drew analogies between themselves and American slaves, and between themselves, even specifically as Christian Germans, and victims of Auschwitz. It is not difficult to imagine how such imagery might have attracted participants to the peace movement. The comparisons offered new and implicitly appealing narratives of the past as well as of the present. Thus in the latter instances it was not that Germans, aware of Germany’s history of aggressive, “masculine” violence, chose now to eschew violence, though some activists did advance this message, and certainly our poster here could be read that way. Rather, the rhetoric often seemed to suggest: We are and remain the vulnerable victims of violence, and it is in that narrative that we trace our history. This was a message both pragmatically and philosophically problematic. As early as 1958, Hannah Arendt raised an alarm concerning those, individuals or groups, who claimed to be able to feel the pain, share the experience of another, and especially another “category” of person, rather than by precisely recognizing differences in experience; she continued to write on the problem until her death in 1975, just before the peace movement itself.15 Some feminist scholars too have now long questioned the practice of white women of privilege proclaiming equivalencies of experience with e.g. subaltern peoples. While this paper focuses on European peace protest in the Cold War Western bloc, it should be acknowledged that movements for peace flourished likewise throughout the Cold War Eastern bloc (not to mention in the non-aligned nations). The former began as state-sponsored ventures, associated with the Sovietdominated World Peace Council. Yet, from the beginning of the 1980s, authorities held only tenuous control over these protestors, many of whom soon became closely joined with broader reform initiatives for government reform, in East Germany, Poland, Czechoslovakia, and elsewhere. While overwhelmingly “underground” movements, these initiatives spanned national boundaries, as in the Western bloc and, indeed, they crossed through the “Iron Curtain.” The case of the visit of renowned British historian and early CND activist E. P. Thompson to Ferenc Kőszegi’s apartment in Budapest in 1982 is only the most prominent example of such cross-fertilization. This activism was in turn formative in the broader movements that brought about the end of the Cold War only a few years later, in 1989.16 However, metaphors of gender seem to have been less in play in the movements on this side of the Berlin Wall. 15 Arendt, Hannah, On the Human Condition, Chicago 1958; also her Lectures on Kant's Political Philosophy, Chicago 1982. 16 See for example Silimon, Anke, “Schwerter zu Pflugscharen” und die DDR: Die Friedensarbeit der evangelischen Kirchen in der DDR im Rahmen der Friedensdekaden 1980–1982, Göttingen, 1999; Poppe, Ulrike, et al. (eds.), Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung: Formen des Widerstandes und der Opposition in der DDR, Berlin, 1995; Bispinck Henrik, et al. (eds.), Aufstände im Ostblock: Zur Krisengeschichte des realen Sozialismus, Berlin 2004; Vanek, Miroslav, “The Development of a Green Opposition in Czechoslovakia: The Role of International Contacts,” in: Horn, Gerd-Rainer; Kenney, Padriac (eds.), Transnational Moments of Change: Europe, 1945, 1968, 1989, Lanham 2004, pp. 173–188; Kenny, Padriac,
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What were the sources of these patterns in the Cold War West? Peace activists in the 1980s did not draw ex nihilo on a gendered image of Europe, any more than on a feminized peace activism, though they were successful in using these images to evoke contemporary concerns and associations. There is a long history of figuring Europe as a woman. In the nineteenth century, this image had been largely a negative one.17 This image most often related to notions of European military but also economic strength – or vulnerability – and above all, again, in contrast with the United States.18 Because in the event U.S. military power helped determine the winners and losers of both world wars, many Europeans envisioned a group of “emasculated” losers on the one side, specifically defeated by this physically unstoppable behemoth, and on the other, a set of European victors who were at best the (ambivalently) admiring helpmates of this force.19 Unsurprisingly, this developing perceived relationship between Europeans and Americans produced European resentments as well as approbation at critical points in the twentieth century, helped along to be sure by American leaders’ bouts of preemptive arrogance, particularly during the Cold War. In this narrative, Germany’s and then West Germany’s relationship with the U.S. bore similarities to those of other European countries, but also demonstrated unique elements. Well before the Cold War, it had been American military forces that had “violated” Germany in World War I, and had contributed to leaving “her” a prostitute in the Weimar Republic.20 It was in turn U.S. economic power, on which Germany depended in that era, that left the country further violated and vulnerable after the 1929 stock market crash.
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Carnivals of Revolution: Central Europe, 1989, Princeton 2003; Wittner, Lawrence, Toward Nuclear Abolition: A History of the World Nuclear Disarmament Movement, 1971 to the Present, Stanford 2003. At the same time, the language of nationalism has led Europeans to regularly refer to their own and those of other European nations and their “avatars” (Marianne, Germania, etc.) as “masculine” or “feminine”, in shifting and often contradictory fashion. Compare e.g. Blom, Ida, et al. (eds.), Gendered Nations: Nationalisms and Gender Order in the Long Nineteenth Century, London 2000; also Davis, Belinda, Home Fires Burning: Food, Politics, and Everyday Life in World War I Berlin, Chapel Hill 2000. Compare e.g. Jones, Priska, Europas Frieden? Zu einer Europa-Karikatur aus dem Kladderadatsch (1926), in: Themenportal Europäische Geschichte, URL: (18.10.2017). Compare e.g. Biess, Frank, Homecomings. Returning POWs and Legacies of Defeat in Postwar Germany, Princeton 2006; Goltermann, Svenja, Die Beherrschung der Männlichkeit. Zur Deutung psychischer Leiden bei den Heimkehrern des Zweiten Weltkriegs, 1945–1956, in: Feministische Studien 8 (2000), pp. 7–19. „POWs“ stands for prisoners of war. Compare on gendered national images Davis, Home Fires Burning; on European and American relations variously Moore, R. Laurence and Vaudagna, Maurizio (eds.), The American Century in Europe, Cornell 2003; Markovits, Andrei, Amerika, dich hasst sich besser. Antiamerikanismus und Antisemitismus in Europa, Hamburg 2004; De Grazia, Victoria, Irresistible Empire: America's Advance through Twentieth-Century Europe, Cambridge 2006; Nolan, Mary, The Transatlantic Century: Europe and America, 1890-2010, Cambridge 2012; dies., Anti-Americanism and Americanization in Germany, in: Politics & Society 33 (2005), No. 1, pp. 88–122.
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In this scenario, the U.S. might have become a protector, but it could be a highly undependable and dangerous protector. As the notion of a Cold War became the dominant template for viewing postwar Europe, some regarded America increasingly as a bullying defender, uninterested in consensual partnership. As after World War I, many Germans felt particularly vulnerable to unequal relations. It was a short step in the 1980s to the idea of an America (or a “U.S.+NATO,” or “Reagan-Haig-Weinberger”)21 as an oversized boy crazy for his violent “boy toys” or as an abusive husband, one who violated even as he claimed to protect his wife. Europe was the abused wife. Egon Bahr, who defied the West German Social Democratic party line to reject rearmament, averred, “The people are afraid of their protectors.”22 Theologian and leading peace activist Dorothee Sölle asserted in turn that those who rearmed sought to distract attention away from – and at the same time mirrored – the already existing war between the rapist and the raped woman.23 In an era in which feminists brought to the fore real issues of domestic violence, and of women learning to fight back, the image had a certain appeal. We can find these issues and this rhetoric too in the British case, despite its different wartime relation to the U.S.24 This appeal was in part in writing the story of the arms race in a particular way. The double-track strategy of prospective rearmament alongside continued talks was developed in the second half of the 1970s, particularly at the urging of British Prime Minister James Callahan and West German Chancellor Helmut Schmidt, in response to concerns that the U.S.S.R. planned to station Soviet SS-20 missiles in “Eastern Bloc” Europe. In 1977, Schmidt gave a widely publicized speech in London, calling on U.S. President Jimmy Carter to agree to positioning missiles on West German soil. NATO leaders agreed to the double-track strategy in 1979, well before Ronald Reagan ascended to power in America in January 1981. But in the era’s popular iconography, it was Reagan who was responsible for a plan to impose rearmament on Europe. The new president made this story all too easy to tell. It was little stretch to substitute Reagan, frequently photographed on his ranch, smilingly challenging the Soviets, for the character of Major Kong in the 1964 British-American Cold War film classic Dr. Strangelove. In that film, Major Kong enthusiastically rode a nuclear missile like a bucking bronco. Here now it seemed was another such “cowboy,” wearing a simplistic, Manichean vision of the world as he did his cowboy hat and kerchief, promoting a “better dead than red” mentality at the expense of all of Europe (a Europe conversely wearing “civilized” clothing). Reagan’s secretary of state, Alexander Haig, asserted in his 21 This referred to U.S. President Ronald Reagan, Secretary of State Alexander Haig, and Secretary of Defense Casper Weinberger. 22 Cited in a flyer of the West German Alternative Liste (AL), Für einen stürmischen Friedensherbst!, reprinted in Teppich, Fritz, Flugblätter und Dokumente der Westberliner Friedensbewegung 1980–1985, Berlin (West) 1985, pp. 73–74. Bahr referred in this instance specifically to NATO. 23 Sölle, Dorothee, Man kann die Sonne nicht verhaften, in: Quistorp, Frauen, pp. 59–63, 60. 24 Compare Liddington, Jill, The Road to Greenham Common, Syracuse 1989, pp. 202–203 passim.
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1981 confirmation hearing that “There are more important things than peace – things which we Americans must be willing to fight for.” Certainly U.S. leaders led the way in perpetuating a particular gendered image of U.S.-European relations in the Cold War, specifically as the powerful protecting the weak and vulnerable.25 European peace protestors in the 1980s adopted and worked from this imagery, in part to recruit additional demonstrators. Reagan as well as U.S. military officers thus figured dominantly in the “masculinized” images that peace protestors disseminated, likewise drawing on sexualized imagery: with rockets qua phalluses like the papier mâché one Reagan rode in effigy, in a makeshift sculpture on a sidewalk in Amsterdam; or like the gun drawn in place of a penis, e.g. in cartoons by West German artist Marie Marcks.26 Hanne Birckenbach urged West German “men and women” to reject their role of “serving” the United States and “servicing” their rockets.27 Christina Tröber asserted, “The erect penis establishes its monument in a missile-studded ‘bulwark against Bolshevism’.” Tröber claimed this show of strength represented the “men’s” and “male citizens’” fear of their own weakness, which thereby perpetuated the patriarchy and specifically violence against women.28 In some of this imagery, however, “Europe” causes the “erect” missile to become flaccid or to fold. In our own image (while far less sexually suggestive than many), Europe kicks the rocket with her high-heeled shoe, sending it pointing downward rather than up.29 A renowned 1980 issue of the British feminist magazine Spare Rib importuned readers to stand up and “take the toys from the boys.”30 Such images caught people’s attention and raised the issue of rearmament in their minds, injecting humor and provocation into the discussion. They challenged fellow Europeans to re-think simplistic Cold War assumptions. For better or worse, they also successfully drew on broader antipathies toward America, critical in bringing new groups to the movement, such as the nationalists who protested alongside communists, for example, in the Italian, Dutch, Danish, and West German movements. 25 This was part of a long tradition in the U.S. as well. In the Cold War, this was at least in part an inversion of U.S. politicians’ and thinkers’ fears of an American “feminization.” Compare Lori Lynn Bogle (ed.), The Cold War, vol. 1, New York 2001, pp. 129ff. 26 Compare e.g. the drawing by Marcks in: Quistorp, Frauen, p. 90. Such imagery was also used by American peace activists. Compare files of the Swarthmore Peace Collection, Swarthmore, Pennsylvania, e.g. U.S. Women’s 1980 Pentagon Action. 27 Birckenbach, Hanne-Margret, Nach den Raketen. Dienende Frauen – dienende Männer, in: taz, 1.7.1982. 28 Tröber, Christina, Krieg und Frieden gemalt, in: Schöfthaler, Ele (ed.), Geschichten von Frauen und Frieden, Gelnhausen 1982, pp. 18–21; see also speech by Kassel feminists at the June 1981 Sternmarsch, reprinted as Frieden im Patriarchat ist Krieg für Frauen, in: Quistorp, Frauen, pp. 98–99. 29 Such images reflected discussion of whether “women” weren’t then also violent and whether they needed to be. 30 Spare Rib 99 (1980); see also placards at the Women’s International Day for Disarmament, Halifax, England, 1985, spelling out “Take t’[he] Toys from the Boys,” reprinted in Liddington, Greenham Common, n.p. (opposite p. 195).
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But, once more, the rhetoric and images also produced conundrums and contradictions that are worthwhile to acknowledge. By setting European-American relations in the context of patriarchy, the strategy thereby proclaimed these relations among the most difficult in world history to transform. And by focusing on physical sexual attributes as related to personal characteristics, the rhetoric once more challenged how easily men could be incorporated into the movement and could be “European.” Thus, if women originally led the protest of British men and women at Greenham Common, ultimately the women insisted that the men had to leave, because their gender, and their attendant ‘seduction by violence’, was part of the problem.31 Finally, by regularly (if certainly not in every case) ascribing all such power to the American president, rather than also to European political leaders, while propagating such images of this president, protestors may have had the effect of reinstanciating the sense of Europe’s feared total vulnerability to this cowboy, crazy with his own power. The Finnish chapter of Women for Peace proclaimed, “We don’t want to be the last generation in Europe. We do not want to be exterminated because of the madness of the great powers.”32 This statement described a Europe at the mercy of both the U.S. and Soviet governments, but very often the Soviet Union dropped out of the equation altogether. Peace marchers in England descended specifically on Greenham Common, a former RAF air base in the 1980s affiliated with the U.S. Air Force. Members of the Dutch peace group Weeds wrecked a model of the U.S. White House that was displayed in a model village, in order to emphasize the overweening American posture and presence in the Netherlands and in Dutch decision-making.33 The Sternmärsche in West Germany descended on Bonn, not on Washington, D.C. nor even on NATO headquarters in Brussels. But it was in a poster promoting the 1981 Bonn demonstration that activists asserted the “major power insanity and the merciless toughness demonstrated against all of those who get in the way of Washington’s interests. The new U.S. government under President Reagan…wants to lead the U.S. toward domination of the entire world.”34 In our own flyer too, Reagan is the object of concern. Whether he is the object of appeal here or otherwise, it seems to be that he is the one to determine whether there will be “new nuclear weapons in Europe” or not. It appears further he may be responsible for “nuclear weapons in Europe…in West and East” as well. The notion of “Euroshima” conceptually united all of Europe but only as a victim of an uncontrollable American enemy, an “intimate enemy.”35 While the role of U.S. officials in driving the nuclear race may be clear, there are questions about the efficacy of having reinforced the image of a corresponding supine, virtually defenseless Europe.
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Liddington, Greenham Common, p. 255; also pp. 235–236. Cited in Wittner, Struggle Against the Bomb, vol. 3, Toward Nuclear Abolition, p. 153. Rochon, Mobilizing for Peace, pp. 123–124. Joint poster against rearmament, reproduced in Teppich, Flugblätter, p. 77. AL, flyer Friedensherbst; compare Günther Gillesen, Panzerangriffe werden riskanter, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 17.8.1981, p. 8; compare also Liddington, Greenham Common, p. 238, and p. 227, with an appeal specifically to mothers.
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Some of the movement’s imagery and rhetoric built on this gendered division moreover to overlay additional, static binaries that may likewise have offered dubious utility. Thus for example activists opposed an American male lethal embrace of technology with an explicitly or implicitly European female life-giving oneness with nature and Christianity.36 West German theologian Dorothee Sölle staked out the boundaries between a Christian Europe and Americans, for whom “power” was a “substitute religion,” and a sign of their actual weakness.37 Such characterizations proved useful at the time. A feminization of Jesus, for example, acted as a means to allow European men back into the category of protestors for peace.38 Indeed such rhetoric characterized women as responsible for using their natural, God-given qualities to convince men to join them.39 Such imagery brought together groups in the Netherlands like the Interchurch Peace Council (IKV), Pax Christi, and Women for Peace. But this imagery betrayed conceptual difficulties. For one thing, while it may have been unproblematic and effective to aver that Jesus’s teachings advance peace and not war, the related, often implicit assertion that Europe had the lock on Christianity, and especially that Europe was specifically Christian, creates some uneasiness. Historian Jill Liddington notes in this vein generally the increasingly Manichean, and, in her view correspondingly problematic, language that emerged in segments of the British peace movement, similar to that of Reagan himself. Paradoxically, she ascribes this phenomenon to the influence of certain American activists, arguably more influential in Europe than they were in the U.S.40
36 Compare e.g. Römelt, Sigrid, Frauen wagen Frieden – eine christliche Initiative, in: Schöfthaler, Geschichten, pp. 55–56; also Liddington, Greenham Common. This discussion responded to yet another characterization among some American officials and policymakers: that “Europe” was concerned for weapons build-up because of Europeans’ “anti-modernism” in the face of “science.” Rochon, Mobilizing for Peace, pp. 31ff. 37 Sölle, Dorothee, The Strength of the Weak. Toward a Christian Feminist Identity, Philadelphia, 1984; see also Unsere Rettung wäre eine europäische Volksbewegung gegen den Massenmörder Atomwaffe. Ein Gespräch mit Alva Myrdal, in: Quistorp, Frauen, pp. 74–77. Sölle and most others normally differentiated between “Americans” and “the U.S.” or “the U.S. government.” Indeed rhetoric often emphasized unequal power relations that pit “the U.S. government” against “Europeans.” See too Römelt, Sigrid, Frauen wagen Frieden – eine christliche Initiative, in Schöfthaler, Geschichten, pp. 55–56. Paradoxically, this period saw a lasting “Christian awakening” in America, leading more recently to a switch in identification as to who is “more” and “less” Christian. 38 Compare Die neue Friedensbewegung–Aufmarsch gegen die Rüstung, in: Der Spiegel 25, 15.6.1981; see conversely Vinocur, John, The German Malaise, in: The New York Times Magazine, 15.11.1981, p. 40. This came in contrast with the image of a powerful, macho Jesus, who backed rearmament in the apocalyptic battle against the godless Soviet enemy, a notion some pro-rearmament American and other activists advanced. On the long European history of figuring a feminized Jesus, compare Bynum, Caroline Walker, Jesus as Mother: Studies in the Spirituality of the High Middle Ages, Berkeley 1984. 39 Burmeister, Elisabeth, Brief einer Hausfrau, handbill reprinted in Burmeister, Geschichten, pp. 44–45. 40 Liddington, Greenham Common, pp. 215–216 passim.
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The opposition of Europeans’ Christian embrace of peace and nature to the U.S. government’s frenzy for deadly technology offers up other conceptual problems, particularly in the West German case. In a published reflection, Michaela Freyhold mapped out one on top of the other images of U.S. control over West Germans, male desires for sexual destruction played out against women, and the power of (unspecified) Holocaust perpetrators over their victims, as the context for understanding the U.S. government’s “extermination machine.”41 Dorothee Sölle depicted a cold, male technology, out of touch with both nature and God, in describing the American Pentagon as “the greatest death factory of the world.”42 Borrowing here on the language of the U.S. television mini-series Holocaust, aired in 1979, Sölle and others easily adopted U.S. peace activists’ notion of a “nuclear holocaust,” perpetrated by U.S. military power.43 West Germans and Europeans were thus in turn victims of the “slavery” of U.S. foreign policy.44 This was why all the “oppressed of the world” (including women and/or Europeans) had to come together in response.45 West German appeals also made connections between themselves and women whose husbands had been in concentration camps and with those who had suffered under bombing (often specifically characterized as U.S. bombing) during the war as well as with the plucky German “Trümmerfrauen” left to repair this damage after the war was over.46 Certainly contemporary U.S. government rhetoric too often blithely referred to mythological images of America, ignoring realities of Americans’ own past. The European images may also have been effective in attracting a wide range of activists to the movement. But it seems worth considering (as in the American case as well) some of the costs of some of this imagery, practical and otherwise. Gendered rhetoric continues from both the European and American sides in describing one another and their relations. This seems in part Europeans’ continued effort to respond to and refigure offensive American characterizations, such as of those of “EU-nuchs” and “Euroweenies,” and in turn to recast power relations.47 Metaphors can be a powerful political tool for such important change. One may argue that gendered metaphors and others have in the intervening decades contributed in some ways to transforming European-American relations for the better. But such imagery can also lock individuals, representatives of nations, and 41 42 43 44 45 46 47
Freyhold, Frauen. Sölle, Mann kann die Sonne nicht verhaften, p. 63. Ibid, The Arms Race Kills, Philadelphia 1983. Ibid, pp. 68–75. AL, flyer Friedensherbst. Compare Weber, Doris, Erinnerungen an Gestern, in: Schöfthaler, Geschichten, pp. 86–88. Compare Kagan, Robert, Of Paradise and Power. America and Europe in the New World Order, New York 2003. Kagan enthusiastically embraced Ronald Reagan’s foreign policy. “EU-nuch” plays on the English term, “eunuch,” for a castrated male; “weenies” is colloquial for an “emasculated” male. See also Michel Martin, host of “Tell Me More,” broadcast of U.S. National Public Radio, 13 October 2009, concerning “A Spanking Ban in the U.S.?”, URL: (18.10.2017), suggesting that some US-Americans might find Swedes (who imposed such a ban in 1979, as representing violence against children) to be raising their children as “weenies.”
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delegates of transnational bodies into disadvantageous and constraining positions; it can shape and reinforce past and present “realities” in a form that fixes thinking in unproductive fashion. Perhaps least useful is the way such imagery reinstanciates particular notions of gender difference itself. Ongoing careful attention to the broader functionality and resonances of such metaphors remains critical. Bibliography Davy, Jennifer A., et al, eds., Frieden—Gewalt—Geschlecht. Friedens- und Konfliktforschung als Geschlechterforschung, Essen 2005. Kagan, Robert, Of Paradise and Power. America and Europe in the New World Order, New York 2003. Le Bricquir, Danielle and Thibault, Odette, Féminisme et pacifisme, même combat, Paris, 1985. Qustorp, Eva, ed., Frauen für den Frieden. Analysen, Dokumente und Aktionen aus der Friedensbewegung, Bensheim 1982. Waever, Ole, Hele Europa: Projekter – Kontraster, Copenhagen, 1989.
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Q Quelle 4 Aufstehen ffür den Fried den! (1982)48
Abb. 1: Auffstehen für den n Frieden!49
488 The sourcce is published online in thhe web portaal “Themenpo ortal Europäiische Geschicchte”, URL: . 499 Aufstehen n für den Frieeden!, reproduuced in: Tepp pich, Flugblätter, p. 136.
„WIR HABEN EINEN ZUSTAND ZU ANALYSIEREN, DER UNS ZU AUSSENSEITERN MACHT“ LESBISCHER AKTIVISMUS IN OST-BERLIN IN DEN 1980ER-JAHREN1 Maria Bühner „Aber in Erinnerung an diese erste Frau und im endlich beginnenden Nachdenken, was meine Gefühle gegenüber Frauen betraf, fing ich an, diese Alternative in Erwägung zu ziehen, mit einer Frau zu leben. Ich bildete mir aber ein, in dieser Stadt die einzige Lesbe zu sein – die Lesbe, das war mir damals noch nicht so klar – die einzige Frau zu sein, die so empfindet.“2
Diese wenigen Zeilen fassen die Erfahrungen vieler lesbisch begehrender Menschen in der DDR in Worte, oft sprechen sie neben Isolation auch von Angst und Scham. Nach Jahrzehnten der Unsichtbarkeit wurde der Wunsch eben jene Gefühle zu durchbrechen in den 1980er-Jahren zu einer wichtigen Triebfeder für die Entstehung von Homosexuellen- und etwas später auch eigenständiger Lesbengruppen, in denen das Persönliche und das Politische zusammengebracht wurden. Ein entscheidendes Moment für diese Prozesse war auch, Worte und ein Verständnis für das eigene Begehren und Empfinden zu finden und gemeinsam mit anderen weiter zu entwickeln. Im Mittelpunkt meiner Analyse steht das „Informationspapier vom Arbeitskreis Homosexuelle Selbsthilfe – Lesben in der Kirche“ (1985/86), der ersten Lesbengruppe, welche 1982–1983 in Ost-Berlin entstand.3 Bis in die zweite Hälfte der 1980er-Jahre war die Gruppe die einzige selbstständige Lesbengruppe in der DDR und gab wichtige Impulse für die politische Arbeit der Homosexuellenbewegung.4 Das Informationspapier ist ein wichtiges Dokument der zu großen Teilen noch unerforschten Geschichte von Lesben in Ostdeutschland.5 Es gibt 1
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Essay zur Quelle: Lesben in der Kirche: Informationspapier (1985/86). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Für das Zitat vgl. Krug, Marina; Baum, Gabi, Arbeitspapier des Arbeitskreises homosexuelle Selbsthilfe Berlin, 1983, S. 14, in: Robert-HavemannGesellschaft Berlin (RHG)/GrauZone (GZ)/A1/1453. Gutsche, Kerstin, Ich ahnungsloser Engel. Lesbenprotokolle, Berlin 1991, S. 19. Vgl. Lesben in der Kirche (1985/86), Informationspapier vom Arbeitskreis Homosexuelle Selbsthilfe – Lesben in der Kirche, in: RHG/GZ/A1/29. Im Folgenden stammen alle Quellenzitate, soweit nicht anders vermerkt, aus der hier mit abgedruckten Quelle. Vgl. Körzendörfer, Marinka, Politisch aktive Lesben unter dem Dach der evangelischen Kirche. Herbst 1986 bis 1989, in: Dennert, Gabriele; Leidinger, Christiane; Rauchut, Franziska (Hgg.), In Bewegung bleiben. 100 Jahre Politik, Kultur und Geschichte von Lesben. Berlin 2007, S. 113–117, hier S. 114–116. Vgl. Bühner, Maria, ‚Beiträge für eine Chronik, die vielleicht einmal geschrieben wird‛. Perspektiven auf den Forschungsstand zu Lesben in der DDR, in: Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen-Anhalt; Gunda Werner Institut (Hgg.) Das Übersehenwerden hat Geschichte – Lesben in
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einen Einblick in die damaligen Rahmenbedingungen lesbischer Existenz und die in den 1980er-Jahren in der DDR entstehende Lesbenbewegung; ebenso dokumentiert es den Blick der Aktivist_innen auf ihre sexuelle Orientierung und konfrontiert diese mit den Fremddeutungen weiblicher Homosexualität. Leitend für meine Betrachtung der Quelle ist das Konzept der Subjektivierung. Akteur_innen werden zu Subjekten, indem sie, etwa durch Anrufung, unterworfen werden, aber gleichzeitig konstituiert sich das Subjekt selbst, beispielsweise durch bestimmte Selbsttechniken. Das Konzept Subjekt verweist einerseits auf die Macht herrschender Diskurse, andererseits aber auch auf die Möglichkeit zur Selbstermächtigung und die Veränderbarkeit von Subjektpositionen.6 In eben jenem Spannungsfeld bewegten und wandelten sich auch die Lebenswelten von lesbisch begehrenden Menschen in der DDR. Es scheinen in dem Dokument deutlich die zwei ineinander verschränkten Seiten der Subjektwerdung auf – Subjektivierung als (regulative) Anrufung und Positionierung von „außen“ und gleichzeitig als Selbstverortung und -bestimmung. Die Analyse des Informationspapiers verweist darüber hinaus auf die notwendige Verschränkung der Geschichte der Sexualitäten mit der Geschlechtergeschichte – so wird beispielsweise in der Quelle „Lesbisch-Sein“ stark im Verhältnis zu „Frau-Sein“ verhandelt. „Lesbe“ und „Frau“ sind zu verstehen als wandelbare Kategorien, deren Bedeutungen stets wieder von neuem (diskursiv) ausgehandelt und hervorgebracht wurden und werden. Folglich gab es nicht das lesbische Subjekt, sondern es gilt die (Um)deutungen lesbischen Begehrens und lesbischer Subjektivitäten zu analysieren. Zentrales Thema der Quelle ist die Politisierung von Begehren und auch von Geschlecht; dabei handelte es sich um transnationale Prozesse, in dem es über nationale Grenzen hinweg zwischen Gruppen und Einzelpersonen immer wieder zu einem Austausch von Ideen und Strategien sowie zu gegenseitiger Unterstützung kam. So stand die Lesbenbewegung in der DDR im engen Austausch mit Aktivist_innen in West- und Osteuropa. Durch persönliche Kontakte kam es in den 1980er-Jahren zu einem Austausch von Ideen, Konzepten und teilweise auch zu gegenseitiger Unterstützung zwischen politisch aktiven Lesben in West- und Ostdeutschland. 1985 beispielsweise besuchte die Schwarze Dichterin und Aktivistin Audre Lorde mit dem Orlanda Frauenverlag die Lesben in der Kirche.7 Doch die Vernetzung der Lesbenbewegung der DDR war keinesfalls auf die BRD
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der DDR und der Friedlichen Revolution. Halle (Saale) Tagungsdokumentation, Halle (Saale) u.a. 2015, S. 110–120, URL: (12.03.2017). Der vorliegende Essay ist Teil der Forschung im Rahmen meiner Doktorarbeit zu lesbischer Subjektwerdung in der DDR in den 1970er- und 1980erJahren. Vgl. Wiede, Wiebke, Subjekt und Subjektivierung, Version: 1.0, in: DocupediaZeitgeschichte, URL: (12.03.2017). Vgl. Krug, Marina, Die Gruppe Arbeitskreis Homosexuelle Selbsthilfe. Lesben in der Kirche in Berlin/DDR – November 1982 bis Sommer 1986, in: Dennert, Gabriele; Leidinger, Christiane; Rauchut, Franziska (Hgg.), In Bewegung bleiben. 100 Jahre Politik, Kultur und Geschichte von Lesben, Berlin 2007, S. 109–112, hier S. 110.
Lesbischer Aktivismus in Ost-Berlin
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beschränkt, es bestanden beispielsweise auch Kontakte in die Niederlande und die USA. Weiterhin bestanden Kontakte zur Homosexuelle Initiative Wien (HOSI), welche im Auftrag der International Lesbian and Gay Association (ILGA) Informationen zur Situation von Lesben und Schwulen in Osteuropa im Eastern Europe Information Pool (EEIP) sammelte und 1984 die Ergebnisse in dem Buch Rosa Liebe unterm roten Stern veröffentlichte. Zu diesen beiden Organisationen hatten verschieden homosexuelle Gruppen aus der DDR Kontakt. Die HOSI als Regionalgruppe der ILGA half Kontakte zwischen den Gruppen in verschiedenen Ost Ländern herzustellen, auch durch Konferenzen, welche von 1987 bis 1996 stattfanden8 So kamen beispielsweise vom 21. bis 23. April 1989 anlässlich des dritten EEIP in Budapest 45 Aktivist_innen aus verschiedenen Städten der DDR sowie aus Budapest, Zagreb, Wien, London, Prag, Slowenien und den Niederlanden zusammen. Unter den Teilnehmer_innen waren auch zwei Personen von den Lesben in der Kirche.9 Solche Treffen förderten den Austausch und die Vernetzung innerhalb einer transnational agierenden Homosexuellenbewegung, welche den größeren Rahmen für den Aktivismus der Gruppe Lesben in der Kirche bildete. Der Arbeitskreis Homosexuelle Selbsthilfe – Lesben in der Kirche (LiK) entstand aus einem Freund_innenkreis in der homosexuellen Subkultur in Ost-Berlin mit dem Wunsch, Lesben in der DDR sichtbar(er) zu machen.10 Der Auslöser für die Gründung der Gruppe war das 1982 beschlossene Wehrdienstgesetz, welches eine mögliche Mobilmachung von Frauen einschloss. Das erste Treffen der LiK in einer Privatwohnung im November 1982 wurde von der Polizei, die sich gewaltsam Zugang zu der Wohnung verschaffte, aufgelöst.11 Eine Möglichkeit, dem Versammlungs- und Vereinigungsverbot auszuweichen, bot die evangelische Kirche, welche ab Ende der 1970er-Jahre zunehmend mehr politische Gruppen, die zu Themen wie Ökologie, Frieden und Menschenrechten arbeiteten, Räume zur Verfügung stellte.12 Zunächst arbeitete die Lesbengruppe zusammen mit der Schwulengruppe im Arbeitskreis Homosexuelle Selbsthilfe Berlin; es kam jedoch schon nach zwei Treffen zu einer Trennung der beiden Gruppen in eine eigenständige Schwulen- und Lesbengruppe.13 Es dauerte einige Zeit, bis die Lesben in der Kirche eine eigene Anbindung in der evangelischen Kirche finden konnten. Diese bot ihnen dann die Möglichkeit, sich in den Räumen der Gemeinde regelmäßig zu treffen und im Rahmen der jährlich stattfindenden Friedenswerkstätten 8 9 10 11 12 13
Vgl. Sillge, Ursula, Un-Sichtbare Frauen. Lesben und ihre Emanzipation in der DDR, Berlin 1991, S. 106–107 sowie unveröffentlichtes Interview der Autorin mit Andrzej Selerowicz, langjähriges Mitglied des EEIP, am 27.06.2016. Vgl. Protokoll (Verlaufsprotokoll) des 3. EEIP, 21.–23. April 1989, in: RHG/GZ/A1/2589. Vgl. Karstädt, Christina; Zitzewitz, Anette von, ...viel zuviel verschwiegen. Eine Dokumentation von Lebensgeschichten lesbischer Frauen aus der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1996, S. 156–157. Vgl. Krug, Die Gruppe Arbeitskreis Homosexuelle Selbsthilfe, S. 109. Vgl. Krautz, Stefanie, Lesbisches Engagement in Ost-Berlin 1978–1989. Marburg 2009, S. 53. Vgl. Kenawi, Samirah, Zeigen wir uns, damit man uns nicht verleugnen kann. Die ‚Lesben in der Kirche‛ Berlin, unveröffentlichtes Manuskript im GrauZone Archiv, Berlin 2003.
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eine Teilöffentlichkeit zu erreichen und andere vorhandene Infrastrukturen zu benutzen. Ab Sommer 1983 konnten regelmäßig im vierzehntägigen Rhythmus Veranstaltungen in der Philipuskapelle in Hohenschönhausen stattfinden; später konnten sie, nach längerer Suche, die zentral gelegenen Räumlichkeiten der Gethsemane Gemeinde Berlin benutzen. Dieses Gastrecht musste, im Gegensatz zu dem anderer Gruppen, halbjährlich erneuert werden – das Verhältnis zwischen evangelischer Kirche und den Arbeitskreisen Homosexualität war mitunter durchaus schwierig.14 Es wird auch im Informationspapier auf Debatten um Homosexualität innerhalb der evangelischen Kirche der DDR verwiesen. Die Treffen wurden von einer kleinen Gruppe in Privatwohnungen vorbereitet; zu den offenen Veranstaltungen kamen zwischen zehn bis sechzig Personen. Die Bewerbung der Veranstaltungen war schwierig, da kaum Zugang zu Kopiergeräten bestand und Programme, Positionspapiere etc. nur mit dem Schutzvermerk „Nur für den innerkirchlichen Dienstgebrauch“ vervielfältigt und weitergegeben werden konnten.15 Die Gruppe war in ihrer politischen Arbeit den gleichen Zwängen ausgesetzt wie andere Gruppen, welche unter dem Dach der Evangelischen Kirche agierten. Das trifft auch auf die Überwachungs- und Repressionsmaßnahmen durch die Staatssicherheit zu. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) schätzte die Gruppe folgendermaßen ein: Sie „benutzt bewußt ‚Freiräume‛ der Kirche, um Personen zu sammeln“, dabei „wird eine Konfrontation mit Staat und Gesellschaft angestrebt.“16 Die Konsequenz waren Überwachung und andere Formen der Repression.17 Verdächtig waren nach Einschätzung des MfS die gute Vernetzung der LiK mit anderen Frauen-, Friedens- und Homosexuellengruppen, die auch unter dem Dach der evangelischen Kirche arbeiteten, die staatskritischen Haltungen einiger Gruppenmitglieder und die Kontakte in „nicht-sozialistische“ Länder.18 Die Arbeit der Gruppe umfasste verschiedene Aspekte. Es kann grob unterschieden werden zwischen der Arbeit mit Wirkung auf die Gruppe selbst und dem Handeln mit bewusster Außenwirkung, wobei jedoch beides eng miteinander verwoben war.19 Die Arbeit nach innen war vor allem geprägt von der Idee der Selbsthilfe und der Herausbildung einer (politischen) Gruppenidentität; beides war eng verknüpft mit der Konstitution einer kollektiven Identität als Lesben. Die Gruppe schuf mit ihren regelmäßigen Veranstaltungen einen Ort der Begegnung und der Auseinandersetzung zu unterschiedlichsten Themen lesbischer Identität in Gegenwart und Vergangenheit und trug so zur Herausbildung eines (politisch) lesbischen Bewusstseins bei.20 Sie setzten sich mit Themen wie lesbischer Geschichte und Literatur auseinander, ebenso wie mit weiblicher Sexualität und
14 Vgl. Krautz, Lesbisches Engagement, S. 56–57. 15 Vgl. Krug, Die Gruppe Arbeitskreis Homosexuelle Selbsthilfe, S. 110–111. 16 Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU), MfS, HA XX/AKG, Nr. 853, Bl. 279. 17 Vgl. beispielsweise BStU, MfS, HA XX, Nr. 12398, Bl. 26–28. 18 Vgl. BStU, BVfS Potsdam, AKG, Nr. 260, Bl. 27–29. 19 Vgl. Krautz, Lesbisches Engagement, S. 60–66. 20 Vgl. Krug, Die Gruppe Arbeitskreis Homosexuelle Selbsthilfe, S. 110.
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Staatsgewalt.21 Neben Vorträgen und Diskussionen gab es auch Angebote zur gemeinsamen Freizeitgestaltung wie Ausflüge und Feiern.22 Nach außen wirkten sie vor allem über ihre Versuche, eine Öffentlichkeit und Anerkennung für Lesben herzustellen. Sowohl 1984 als auch 1985 und 1986 fuhr die Gruppe in die Nationale Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, um dort der lesbischen Opfer des Nationalsozialismus zu gedenken. Auf die Entfernung des Eintrags in das Gästebuch und des niedergelegten Kranzes 1984 reagierten sie mit Eingaben und Gesuchen um Gespräche mit offiziellen Stellen. Als sie 1985 an der Feier anlässlich des 40. Jahrestages der Befreiung teilnehmen wollten, wurden sie mit Polizeigewalt und -gewahrsam davon abgehalten. Im Folgenden schrieben sie Eingaben an politische Stellen und Briefe an bekannte Personen; sie erwirkten so zumindest eine Entschuldigung und eine Führung in der Gedenkstätte, ebenso wie die Anbringung eines Hinweises auf die Bedeutung des rosa Winkels. Der Eintrag ins Gästebuch und der Kranz wurden jedoch wiederum entfernt.23 Mitglieder der Gruppe arbeiteten auch an den wissenschaftlichen Tagungen zu „Psychosozialen Aspekten der Homosexualität“ mit, welche ab 1985 stattfanden.24 Bei diesen Tagungen kamen Wissenschaftler_innen und Aktivist_innen zusammen, um sich mit der Lebenssituation Homosexueller zu beschäftigen und gemeinsam Verbesserungsvorschläge zu erarbeiten. Es wurde auch eine eigene Studie zur Lebenssituation von Lesben in Angriff genommen, jedoch wurde sie nicht fertiggestellt.25 Was in der DDR in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre passierte, hatte in der Bundesrepublik bereits in den 1970er-Jahren begonnen. Westdeutsche Lesben kämpften, ebenso wie die ostdeutschen Lesben, mit Unsichtbarkeit, fehlenden subkulturellen und politischen Strukturen sowie der Dominanz eines heterosexuellen Frauenbildes – der „Bestimmung“ der Frau zu heterosexueller Ehe und Kindern – und einer entsprechenden Marginalisierung und Sanktionierung von anderen Lebensentwürfen. In den 1970er-Jahren beginnen Lesben in der Bundesrepublik sich zu organisieren und hatten dafür mehr Möglichkeiten als die Lesben in der DDR, die in ihrer politischen Arbeit durch das faktische Versammlungs-, Vereinigungs- und Veröffentlichungsverbot stark eingeschränkt wurden. Es entstehen in ganz Westdeutschland Gruppen; es kommt zu öffentlichen Protesten und den ersten Lesbenpfingsttreffen. Weiterhin werden subkulturelle Strukturen wie etwa die 21 Vgl. Kenawi, Samirah, Frauengruppen in der DDR der 1980er Jahre. Eine Dokumentation, Berlin 1995, S. 84. 22 Vgl. Die gesammelten Programme der Gruppe finden sich in Kenawi, Zeigen wir uns. 23 Vgl. Schmidt, Kristine, Lesben und Schwule in der Kirche, in: Sonntags-Club (Hg.), Verzaubert in Nord-Ost. Die Geschichte der Berliner Lesben und Schwulen in Prenzlauer Berg, Pankow und Weißensee, Berlin 2009, S. 198–220, hier S. 201–202, 216–220. 24 Vgl. Sektion Ehe und Familie der Gesellschaft für Sozialhygiene der DDR; Sektion Andrologie der Gesellschaft für Dermatologie (Hgg.), Psychosoziale Aspekte der Homosexualität, Manuskriptdruck, Jena 1986; dies. Psychosoziale Aspekte der Homosexualität. II. Workshop, Jena 1989. 25 Vgl. Schenk, Christina; Körzendörfer, Marinka, Zu einigen Problemen lesbischer Frauen in der DDR. Ursachen und Konsequenzen, in: Grau, Günter (Hg.), Lesben und Schwule – was nun? Frühjahr 1989 bis Frühjahr 1990. Chronik – Dokumente – Analysen – Interviews, Berlin 1990, S. 78–84, hier S. 84.
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Zeitung Lesbenpresse und eine erste Beratungsstelle geschaffen. Lesbisches Begehren und damit verknüpfte (unterschiedliche) Forderungen wurden erstmals sichtbar und entgegen der Schwierigkeiten erkämpften sie wertvolle Freiräume.26 Das „Informationspapier vom Arbeitskreis Homosexuelle Selbsthilfe – Lesben in der Kirche“ ist vermutlich Ende 1985 oder 1986 entstanden.27 Es ist im Wesentlichen eine Zusammenfassung des Arbeitspapiers der LiK, welches zwischen September und November 1983 von Marina Krug und Gabi Baum erstellt wurde, und aus einer umfassenden Analyse der Situation lesbischer Frauen Handlungsstrategien für den AK ableitete.28 Diese Zusammenfassung wurde in dem Informationspapier um einige Kommentare zu neuen Entwicklungen ergänzt. Zu diesem Zeitpunkt war in der DDR kaum Literatur verfügbar, die sich überhaupt in irgendeiner Weise mit Homosexualität beschäftigte.29 Von den LiK wurden die wenigen verfügbaren Informationen und Publikationen zu Homosexualität gesammelt. Wissen und Positionen zu Homosexualität zusammenzustellen und einer Teilöffentlichkeit zugänglich zu machen, war eine der Strategien der LiK um Lesben sichtbarer zu machen, wobei sie in ihrer Reichweite jedoch stark beschränkt waren. Durch die fehlende Veröffentlichungsfreiheit war es oft schwierig, das Material für die Vervielfältigung solcher Dokumente zu beschaffen. Zur Reproduktion wurden entweder Matrizenabzüge benutzt oder auch Durchschläge auf der Schreibmaschine verwendet. Die Schwierigkeiten, eine (Teil-)Öffentlichkeit für die Anliegen von Lesben herzustellen, waren also auch materieller Natur. Auch das vorliegende Dokument wurde auf der Schreibmaschine geschrieben und zeigt Korrekturen der Tippfehler; diese machen die schreibende Person gleichsam sichtbar. Dass der Text nur in dieser Form reproduziert werden konnte, schränkte seine Reichweite stark ein. In der vorliegenden Quelle sind allgemeine Informationen zu (weiblicher) Homosexualität und diesbezüglichen Entwicklungen in der DDR zusammengestellt. Sie diente auch der Positionierung der Gruppe in und Beteiligung an den damaligen Diskursen um Homosexualität. Gleichzeitig wird in dieser Quelle verhandelt, was weibliche Homosexualität aus Sicht der Gruppe ausmachte. Das Dokument zeichnet sich durch einen hohen Abstraktionsgrad aus – die Situation von Lesben ist weniger konkret, emotional und persönlich dargestellt, sondern wird analysiert. Der objektiv neutrale Ton schließt an die neu aufkommenden wissenschaftlichen und medialen Verhandlungen (weiblicher) Homosexualität an und macht die Analyse der LiK anschlussfähig an diese. Doch steht das Informationspapier in seiner radikalen Subjektivität dennoch in deutlicher Abgrenzung zu dem 26 Vgl. Dennert, Gabriele; Leidinger, Christiane; Rauchut, Franziska (Hgg.), In Bewegung bleiben. 100 Jahre Politik, Kultur und Geschichte von Lesben, Berlin 2007, S. 31–94. 27 Eine genauere Datierung ist nicht möglich, da das Dokument keine Datums- oder Jahresangabe enthält. Meine Datierung bezieht sich auf die Ereignisse, welche in der Quelle diskutiert werden. 28 Arbeitspapier, in: RHG/GZ/A1/1453. 29 Vgl. Krautz, Lesbisches Engagement, S. 60; Sektion Ehe und Familie der Gesellschaft für Sozialhygiene der DDR; Sektion Andrologie der Gesellschaft für Dermatologie (Hgg.), Psychosoziale Aspekte der Homosexualität, S. 88–89.
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sexualwissenschaftlichen Blick auf Weiblichkeit und Homosexualität. Es knüpft an die Tradition feministischer Manifeste an – „als Medien der Wissensvermittlung und des politischen Streits“30, welche auch minoritären Gruppen die Möglichkeit zur Partizipation als Gegenstimme an politischen Diskursen geben. Das Dokument beginnt mit einer Diskussion des Themas „Homosexualität in der Gesellschaft“31 unter dem einige Vorurteile und Diskriminierungen, denen Homosexuelle im Allgemeinen und Lesben im Besonderen immer noch ausgesetzt waren, verhandelt werden. Homosexualität sei ein „Tabuthema“, welches „verschwiegen“ und kaum von politischer Seite thematisiert werde. Wie sahen dieses Tabuisieren, diese Unsichtbarkeit aus? Bis in die 1980er-Jahre gab es keine Öffentlichkeit für Homosexualität, das heißt, sie wurde kaum medial behandelt. In den 1970er-Jahren finden sich einzelne Thematisierungen von Homosexualität in der Presse, die sich jedoch durch Pseudoliberalität einerseits und Marginalisierung von weiblicher Homosexualität andererseits auszeichneten.32 Zudem gab es keine öffentlichen Anlaufstellen oder Treffpunkte für Homosexuelle. Der Wiederaufbau subkultureller Räume nach dem Zweitem Weltkrieg wurde verunmöglicht und mit dem Bau der Mauer 1961 wurde auch die Westberliner Subkultur unzugänglich.33 Es gab in Ost-Berlin einige wenige Lokale, die von Lesben und Schwulen besucht wurden; dies waren jedoch nur inoffizielle Treffpunkte, an denen der Austausch von Zärtlichkeiten nicht geduldet wurde.34 Außerhalb von Ost-Berlin gab es kaum subkulturelle Strukturen, in kleineren Städten und auf dem Land gar keine. Die Großstädte wurden so zum Zufluchtsort, der jedoch von den Lesben in der Kirche als schwierig kritisiert wird, da die Subkultur „keine Ebene für Gespräche oder Auseinandersetzungen mit sich selbst“ biete, stattdessen „versucht sie den Homosexuellen Bewegungsfreiheit vorzugaukeln“. Zudem waren diese Orte für Außenstehende schwer zu finden. Das faktische Versammlungs-, Vereinigungs- und Veröffentlichungsverbot hatte die Entstehung politischer Gruppen und selbstgestalteter Räume fast komplett unmöglich gemacht. Ein politischer Aktivismus um Homosexualität existierte bis in die 1980er-Jahre kaum. Eine Ausnahme bildet das Engagement der Homosexuellen Interessengemeinschaft Berlin (HIB) in den 1970er-Jahren. Diese Gruppe war jedoch stärker durch Schwule als durch Lesben geprägt.35 Eine zweite Ausnahme war die Veranstaltung eines ersten DDR-weiten Lesbentreffens 1978 durch Ursula Sillge und eine andere Person im Gründerzeitmuseum von Charlotte von Mahlsdorf, welches auch von der HIB genutzt wurde. Das Treffen, welches 30 Ankele, Gudrun, Feminismus, Freiburg im Breisgau 2010, S. 22. 31 Informationspapier, in: RHG/GZ/A1/29. 32 Vgl. Vgl. Waberski, Birgit, Die großen Veränderungen beginnen leise. Lesbenliteratur in der DDR und den neuen Bundesländern, Dortmund 1997, S. 44–45. 33 Vgl. Karstädt; Zitzewitz, … viel zu viel, S. 11. 34 Vgl. Dobler, Jens, ‚Den Heten eine Kneipe wegnehmen‛, in: Sonntags-Club (Hg.), Verzaubert in Nord-Ost. Die Geschichte der Berliner Lesben und Schwulen in Prenzlauer Berg, Pankow und Weißensee, Berlin 2009, S. 167–173, hier S. 167. 35 McLellan, Josie, Glad to be Gay Behind the Wall. Gay and Lesbian Activism in 1970s East Germany, in: History Workshop Journal, 74 (2012), S. 105–130.
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mehr als 100 Gäste anzog, konnte dort jedoch nicht wie geplant stattfinden, denn die Teilnehmenden wurden von der Polizei abgehalten. Sie mussten auf eine Bar und Privatwohnungen ausweichen. Eine Folge des Treffens war das Verbot, weitere Veranstaltungen im Gründerzeitmuseum durchzuführen, welches neben anderen Faktoren zum Ende der HIB führte.36 Homosexuelles Begehren wurde also konsequent auf den Ort des Privaten verwiesen – Partnerschaften und Freund_innenkreise waren zumeist die einzigen Orte, an denen die sexuelle Identität ausgelebt werden konnte.37 Doch überhaupt eine Partnerin oder Gleichgesinnte zu finden war unter den Umständen dieser Marginalisierung schwierig. Oft waren verschlüsselte Kontaktanzeigen der einzige Weg und selbst dieser war zeitweise nicht zugänglich oder auch schlicht nicht bekannt.38 Das Gefühl der Isolation war so für viele, besonders im ländlichen Raum und kleineren Städten, ein sehr starkes. Manche hatten nicht einmal ein Wort für ihr Begehren. Isolation, Unsichtbarkeit und Unbenennbarkeit waren starke Regulationsmechanismen, welche noch von anderen ergänzt wurden, wie beispielsweise der rechtlichen Ungleichbehandlung. Diese betraf den § 151 StGB-DDR, welcher den 1968 abgeschafften § 175 zum Teil ersetzte; darin wurden „sexuelle Handlungen“ zwischen einer minder- und einer volljährigen Person gleichen, also nun mehr nicht nur männlichen, Geschlechts generell unter Strafe gestellt.39 Auch diese rechtliche Diskriminierung und die Auswirkung der damit verbundenen Stigmatisierung werden in dem Informationspapier verhandelt.40 Hinzu kam noch, dass durch die fehlenden öffentlich geführten Auseinandersetzungen über Homosexualität die bestehende Homosexuellenfeindlichkeit nicht bearbeitet wurde und fortbestand.41 Sie war weit verbreitet und obwohl sie in den 1980er-Jahren messbar zurückging konnten sich auch 1990 circa 30 Prozent der Befragten einer Studie nicht vorstellen, mit einer Lesbe befreundet zu sein. In persönlichen Berichten wird deutlich, dass es drastische Reaktionen von Eltern, insbesondere Vätern, Freund_innen und Be-
36 Vgl. ebd., S. 123–124; Sillge, Un-Sichtbare Frauen, S. 90–91. 37 Vgl. Karstädt; Zitzewitz, … viel zu viel, S. 11. 38 Vgl. Dennert, Gudrun, Leidinger, Christiane; Rauchut, Franziska, ‚Wir sind keine Utopistinnen‛. Lesben in der DDR, in: dies. (Hgg.), In Bewegung bleiben. 100 Jahre Politik, Kultur und Geschichte von Lesben, Berlin 2007, S. 95–104, hier S. 97. 39 McLellan, Josie, Love in the Time of Communism. Intimacy and Sexuality in the GDR, Cambridge 2011, S. 117. Der vollständige Paragraf 151 lautet: „Ein Erwachsener, der mit einem Jugendlichen gleichen Geschlechts sexuelle Handlungen vornimmt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung bestraft.“ (StGB der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1976) 40 Es wurde bisher nicht aufgearbeitet, in welchem Umfang und wie der Paragraf 151 eingesetzt wurde. 41 Vgl. Schenk, Christian, Die Partei(en) in der DDR. Ihre Politik und ihre Ideologie(n) im Blick auf lesbische Lebenswelten, Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD) – Landesverband Sachsen-Anhalt e.V.; Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen-Anhalt (Hgg.), Lesben und Schwule in der DDR. Tagungsdokumentation, Halle (Saale) 2008, S. 35–55, hier S. 53.
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kannten auf das „Outing“ als Lesbe gab.42 Unter diesen Umständen war die (partielle) Geheimhaltung der sexuellen Orientierung weitverbreitet, was wiederum zur Unsichtbarkeit beitrug.43 Das Schreiben dieses Informationspapiers kann als ein widerständiger Akt, als ein Anschreiben gegen diese Unsichtbarkeit verstanden werden. Mit jedem Schriftstück bewiesen die Schreibenden die Existenz von Lesben und zwar in einer selbstbestimmten Art und Weise. Schreiben war eine weitverbreitete Praxis innerhalb der Lesbenbewegung der DDR, um sich mit dem eigenen Gewordensein und persönlichen Lebensumständen auseinanderzusetzen. Das Informationspapier ist abzugrenzen von der medialen Berichterstattung über Homosexualität, in der sehr oft ausschließlich männliche Sexualwissenschaftler zu Wort kamen. Ein kurzer Blick zurück: Homosexualität war bis in die 1960er-Jahre fast nur im Kontext medizinisch-psychiatrischer Diskurse und dort ausschließlich als therapiebedürftige Pathologie verhandelt worden. Ein Beispiel dafür sind die Forschungen des Endokrinologen Günter Dörner, der erfolglos versuchte nachzuweisen, dass Homosexualität die Folge einer hormonellen Fehlprägung während der Schwangerschaft und dementsprechend mit Hilfe einer Hormontherapie heilbar sei.44 Auch im Informationspapier wird darauf verwiesen, dass Homosexualität in der Vergangenheit vor allem von außen als „psychologische Krankheit, Perversion mit Diagnosenummer“ definiert und verhandelt wurde. Solche Vorstellungen von Homosexualität spielten auch in psychotherapeutischer Behandlung lesbischer Patient_innen bis mindestens in die 1960er-Jahre eine Rolle.45 Wie genau diese psychotherapeutischen Behandlungen aussahen, wurde bisher noch nicht erforscht. Es ist noch offen, wie weit die kurzen Andeutungen der Quelle – „Homosexualität zu unterdrücken, zu ‚behandeln‛ und zu bestrafen“ – dabei auch in die Praxis umgesetzt wurden.46 Doch jenseits von Praktiken ist es auch die Sprache selbst, die verletzt. Da „es ihre Bedingungen sind, die uns konstituieren“47, so Judith Butler, „ist die sprachliche Verletzung offensichtlich nicht nur ein Effekt der Wörter, mit denen jemand angesprochen wird, sondern ist der Modus der An-
42 Vgl. Starke, Kurt, Leben von Lesben und Schwulen in der DDR. Selbstreflexionen und Einstellung von Hetero- zu Homosexuellen und Homosexualität. Ergebnisse empirischer Untersuchungen, in: ebd., S. 9–34, hier S. 11–14. 43 Vgl. Schenk; Körzendörfer, Zu einigen Problemen lesbischer Frauen in der DDR, S. 83. 44 Vgl. Mildenberger, Florian, Günter Dörner – Metamorphosen eines Wissenschaftlers, in: Setz, Wolfram (Hg.), Homosexualität in der DDR. Materialien und Meinungen, Hamburg 2006, S. 237–279. 2002 wurde Günter Dörner mit dem Großem Verdienstkreuz ausgezeichnet. 45 Vgl. Klöppel, Ulrike, Die ‚Verfügung zur Geschlechtsumwandlung von Transsexualisten‛ im Spiegel der Sexualpolitik der DDR, in: Lernen aus der Geschichte, URL: (12.03.2017). Ich danke Christiane Leidinger und Ulrike Klöppel für ihre Hinweise, die meine Forschung zu dem Thema motiviert haben. 46 Vgl. Waberski, Lesbenliteratur, S. 75. Zwei Beispiele finden sich in Karstädt; Zitzewitz, … viel zu viel, S. 166–167. 47 Butler, Judith, Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt am Main 2006, S. 9.
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rede selbst, […] der das Subjekt anruft und konstituiert.“48 In diesem Fall also als „krankes“, „perverses“ und „behandlungsbedürftiges“ Subjekt. Diese gewaltvolle Sprache wird von den LiK auch im Informationspapier sichtbar gemacht. Abwertend gegenüber weiblicher Homosexualität wurde sich auch noch in den 1980er-Jahren geäußert, wie die Lesben in der Kirche mit einem Zitat aus dem weit verbreiteten Buch Mann und Frau intim (1982) des Sexualwissenschaftlers Siegfried Schnabl belegen. Seiner Beurteilung nach entstehe weibliche Homosexualität auch, weil es schlicht an einem Partner fehle. Lesben würden damit – so die Lesben in der Kirche – abgewertet unter der Kategorie „diehabenbloßkeinenabgekriegt [sic]“ wie in dem Informationspapier resümiert wird. Sie würden also auch über einen Mangel der Erfüllung einer traditionellen Frauenrolle definiert – und so laut dem Informationspapier auch immer wieder als „Mannweiber“ beschimpft. Insgesamt zeichnete sich das Frauenbild in der DDR stark durch Heterosexualität aus. Allgemein lässt sich jedoch für das Feld der Sexualität in der DDR der 1970er- und 1980er-Jahre feststellen, dass es im Vergleich, beispielsweise zur Bundesrepublik Deutschland, ‚befreiter‛ war – Schwangerschaftsabbruch war legalisiert, Scheidungen und das Modell der alleinerziehenden Mutter weit verbreitet und wenig sozial stigmatisiert, es gab eine ausgeprägte Freikörperkultur, nicht-eheliche Beziehungen zwischen jungen Menschen wurden gefördert – um nur einige Beispiele zu nennen.49 Das schuf auch Lücken für lesbische Lebensentwürfe. Doch war die Frauen- und Familienpolitik klar an dem Ideal der bürgerlichen Ehe orientiert. Sexualität wurde dabei als heterosexuell gesetzt, entsprechend diskursiv und medial verhandelt sowie bürokratisiert und verrechtlicht. Homosexualität nahm also eine Sonderstellung ein, wurde lange abgewertet und untergeordnet.50 Ein Beispiel ist die Wohnungszuteilung, welche alleinstehende Personen und homosexuelle Paare gegenüber Ehepaaren stark benachteiligte. Der regulierende Zugriff auf Lesben erfolgte dabei nicht über die Abwertung ihrer sexuellen Orientierung, sondern auch über das herrschende Frauenbild und entsprechende politische Maßnahmen. Doch die politischen Bestrebungen, Frauen rechtlich gleichzustellen ebenso wie die weit verbreitete Erwerbstätigkeit und Kinderbetreuung, führten in der DDR auch zu einer größeren Unabhängigkeit als es beispielsweise in der BRD zur gleichen Zeit der Fall war. Das Informationspapier jedoch konzentriert sich vorwiegend auf Negativbeispiele und nimmt trotz des engen Austauschs der Gruppe mit der Lesbenbewegung in Westdeutschland ausschließlich die Situation in der DDR und die dortigen Probleme in den Blick. Parallel zu dem Fortbestehen homosexualitätsabwertender Argumentationen kam es in den 1980er-Jahren zu Veränderungen in den Diskursen um Homosexualität. Sie wurde nun zunehmend als „gleichwertige Form der Sexualität“ verhandelt, was auch den neueren Positionen der Sexualwissenschaft entsprach.51 In der 48 49 50 51
Ebd., S. 9–10. Vgl. McLellan, Love in the Time of Communism, S. 22–82. Vgl. ebd., S. 53–82. Vgl. Kowalski, Gudrun von, Homosexualität in der DDR. Ein historischer Abriß, Marburg 1987, S. 58–61.
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Quelle werden dafür verschiedene Beispiele angeführt. So werde zunehmend Eltern geraten, die homosexuelle Neigung ihrer Kinder „nicht zu bekämpfen“. Ebenso werde dabei auf die Rolle Homosexueller als „gesellschaftliche Außenseiter“, welche „durch ihre Umwelt an der Integration oft gehindert werden“ und die Notwendigkeit, „Identifikationsmöglichkeiten“ zu schaffen, verwiesen. Die LiK begrüßten einerseits diese neuen Ansätze, andererseits aber würden sie „eine erweiterte Aufklärung und den konsequenten Abbau von Vorurteilen schuldig“ bleiben, weil sie zu theoretisch seien. 1989 ergriffen Mitglieder der Gruppe dann die Möglichkeit, im Jugendradio DT64 an der Sendung „Mensch du – Ich bin lesbisch“ mitzuarbeiten, um „an die HörerInnenschaft das zu übermitteln, was WIR sagen wollen“.52 Auch das vorliegende Informationspapier zu erstellen, kann als eine Intervention gegenüber den wenigen medialen Informationen verstanden werden. Die Möglichkeit an der Radiosendung mitzuarbeiten und die zunehmende Thematisierung von Homosexualität in den Medien, welche in dem DEFASpielfilm „Coming Out“ über den schwulen Lehrer Philipp 1989 ihren Höhe- und Schlusspunkt fand, war auch Ausdruck eines veränderten politischen Umgangs mit Homosexualität, welcher nunmehr auf die „Integration von Homosexuellen in den Sozialismus“ abzielte. Ein wichtiger Faktor dafür war die Entstehung immer mehr kirchlicher und nicht-kirchlicher Homosexuellen- und Lesbengruppen im Laufe der 1980er-Jahre und dass sie aus Sicht des MfS, auch auf Grund ihrer transnationalen Vernetzung, ein Sicherheitsrisiko darstellten. Es wurden zunehmend offizielle Treffpunkte geschaffen, das Verbot von Kontaktanzeigen mit gleichgeschlechtlichen Gesuchen aufgehoben und Homosexualität wurde nun auch in den Ehe- und Sexualberatungsstellen thematisiert.53 Mit dem Versuch der Stigmatisierung von Homosexualität entgegenzuwirken reagierten die DDR Offiziellen auch auf Aids und wollten dessen Ausbreitung eindämmen. In transnationaler Perspektive betrachtet ist dieser politische Umgang mit der „Aids-Krise“ – die Entstigmatisierung von Homosexualität, das Bemühen darüber aufzuklären und für Toleranz zu werben – bemerkenswert, changierten die Reaktionen in anderen Ländern doch oftmals zunächst zwischen medialer Hysterie, Ignoranz und einer verstärkten Homosexuellenfeindlichkeit. So wichtig und notwendig ein öffentlicher Diskurs um Homosexualität war, so handelte es sich dennoch dabei um eine weitere Fremddeutung und eine sehr paternalistische Geste, die sich in diesem Fall durch die Konstitution von dem Homosexuellen als hilfsbedürftiges Subjekt auszeichnete. Von welcher Position aus konnten Lesben in der DDR überhaupt sprechen? Kann unter den beschriebenen Umständen überhaupt von einer selbstbestimmten Identität als „Lesben“ gesprochen werden? Der letzte Teil des Informationspapiers ist der „Coming-Out-Phase“ gewidmet und gibt interessante Einblicke in ein mög52 Schenk, Christina, Wir im Rundfunk. ‚Mensch Du – Ich bin lesbisch‘, in: Grau, Günter (Hg.), Lesben und Schwule – was nun? Frühjahr 1989 bis Frühjahr 1990. Chronik – Dokumente – Analysen – Interviews, Berlin 1990, S. 88–90, hier S. 89. 53 See Evans, Jennifer, Decriminalization, Seduction, and ‚Unnatural Desire‘ in East Germany, in: Feminist Studies, 36 (2010), H. 3, S. 553–577.
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liches Selbstverständnis lesbischer Identität. In Abgrenzung zu den zuvor beschriebenen Fremddeutungen und Regulationsmechanismen wird hier eine eigene Konzeption von lesbischem Begehren vorgenommen. In diesem Abschnitt wird der informierende und auch distanzierte Charakter des Dokuments besonders deutlich – es wird von „Lesben“ und „Frauen“, aber nicht von einem „wir“ gesprochen. Das verleiht dem Informationspapier einen weitgehend neutralen Ton, in dem weibliche Homosexualität Außenstehenden scheinbar sachlich erläutert wird. Den zentralen Bezugspunkt des Verständnisses von Lesbisch-Sein in dem Informationspapier bildet das Coming-Out Konzept. Es entstand zuerst im Kontext der Homosexuellenbewegung in den USA in den 1970er-Jahren und wurde in den folgenden Jahren weltweit adaptiert und ist somit ein Beispiel für einen Kulturtransfer. In dem Papier wird sogar auf eine entsprechende US-amerikanische Quelle verwiesen.54 Wie kamen die Schreibenden an dieses Wissen? Sie führten über persönliche Kontakte mit Lesben aus der Bundesrepublik, den Niederlanden und auf Anregung von ehemaligen Gruppenmitgliedern, die nach West-Berlin emigriert waren, Literatur ein und schufen in einer Privatwohnung eine kleine Bibliothek, um dem Defizit an Büchern zu Homosexualität in der DDR entgegenzuwirken.55 Die Sach- und belletristische Literatur mit lesbischen und feministischen Themen wurde zum Teil auch über Spendengelder der ILGA finanziert.56 Verglichen mit den wenigen Homosexuellengruppen, welche in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre in anderen Ländern des „Ostblocks“ entstanden, waren die Gruppen in der DDR in einer privilegierten Position in Bezug auf den Grad der internationalen Vernetzung, den Zugang zu „westlichen“ Publikationen und auch die Anzahl der Gruppen in der DDR insgesamt.57 Das Coming-Out Konzept wurde auch in der sexualwissenschaftlichen Forschung zu Homosexualität in der DDR ab Mitte der 1980er-Jahre selbstverständlich verwendet.58 Die Konzeption des Coming-Out zeichnet sich, auch in der vorliegenden Quelle, durch eine vermeintlich klare Grenze von Homo- und Heterosexualität aus, womit beispielsweise Bisexualität und anderes weniger eineindeutiges Begehren unsichtbar gemacht wird. Weiterhin nehmen sie Bezug auf ein vermeintlich eindeutiges binäres Geschlechtsmodell, dabei werden Geschlecht und Begehren gleichsam miteinander verschränkt und als für einander konstituierend gesetzt. Lesben seien dementsprechend Frauen, die Frauen begehren. Dabei wird Homosexualität in der Quelle auch als die „wahre Sexualität“ gesetzt, welche es für die Lesben zu finden gilt. Es werden auch verschiedene Probleme identifi54 Raphael, Sharon Maxine, Coming Out. The Emerge of the Movement Lesbian, Cleveland 1974. 55 Vgl. Krug, Die Gruppe Arbeitskreis Homosexuelle Selbsthilfe, S. 110. 56 Vgl. unveröffentlichtes Interview der Autorin mit Bettina Dziggel, langjähriges Mitglied der LiK, am 13. Juli 2016. 57 Vgl. unveröffentlichtes Interview mit Andrzej Selerowicz. 58 Sektion Ehe und Familie der Gesellschaft für Sozialhygiene der DDR; Sektion Andrologie der Gesellschaft für Dermatologie (Hgg.), Psychosoziale Aspekte der Homosexualität. Workshop II.
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ziert, welche es schwierig machen, diese wahr- und anzunehmen: Die Verinnerlichung von Heterosexualität als Norm(alität), der Mangel an Kontaktmöglichkeiten, Diskriminierungserfahrungen und die Unsichtbarkeit, zum anderen Konflikte mit dem Elternhaus, welches auch stark durch „das patriarchalische Leitbild“ geprägt sei. Lesbisch-Sein wird auch in Bezug auf Frau-Sein verhandelt – es wird kritisiert, dass Frauen keine selbstbestimmte Sexualität erlernen, was es erschweren würde, die eigenen Bedürfnisse überhaupt wahrzunehmen. In dem Arbeitspapier finden sie dafür noch deutlichere Worte: „Wie schläft frau miteinander, wenn der eigene Körper etwas Unerkanntes ist?“59 Die Auseinandersetzung mit der Situation von Frauen und einer als spezifisch weiblich verstandenen Sozialisation waren auch ein zentrales Thema in den Veranstaltungen des Arbeitskreises, welcher sich auch als feministisch verstand und der nicht-staatlichen Frauenbewegung in der DDR nahestand. In dem Papier wird auch darauf verwiesen, dass Lesben nicht nur als Homosexuelle, sondern auch als Frauen diskriminiert werden, was auch der Grund für die Gründung einer eigenständigen Lesbengruppe war – um einen geschützten Raum frei von männlicher Dominanz zu schaffen. Die Existenz der klar identifizierbaren Gruppe „Frauen“ ist somit notwendige Voraussetzung für diese Konzeption lesbischen Begehrens und das zugrundeliegende Geschlechtermodell ist ein binäres. Der Bezug auf diese vermeintlich klar abgrenzbare Identität machte erst eine Politisierung im Sinne von Identitätspolitik möglich. Der Kern von Lesbisch-Sein in der vorliegenden Quelle ist nicht die Sexualität, sondern die auf ihre basierende „Selbstdefinition als ‚abweichend‛“ und erstrebte „Umdefinierung […] zu einer Minderheitenidentität“ aufgrund dieser – es ist also eine Identität, nicht „nur“ eine sexuelle Orientierung. Mit dem Konzept der Minderheitenidentität greifen sie dabei auf Erving Goffmans Überlegungen zu Stigma zurück.60 Teil dieses Identifikationsprozesses sei auch die Konfrontation mit „anerzogenen Verhaltensmustern, Erwartungshaltungen und mit der von der Gesellschaft zur Norm erhobenen Lebensweise.“ Die Wirkungsmacht unterschiedlichster Emotionen in diesem Prozess wird auch sichtbar gemacht: „das Gefühl des Unbefriedigtseins [sic] und Identifikationslosigkeit“ und „Sehnsucht nach gleichgeschlechtlichen Beziehungen“ als erste Anzeichen einer lesbischen Identität; später „Schuldgefühle“ in Konfrontation mit dem gesellschaftlichen Leitbild der Heterosexualität. Es zeigt sich deutlich, dass eine Geschichte der Homosexualität auch stets eine Geschichte der Gefühle ist und Gefühle in einem starken Maße Identitäten regulieren.61 In dem Informationspapier werden verschiedene Möglichkeiten, mit der erkannten eigenen Homosexualität umzugehen, aufgezeigt – erstens, die Verinnerlichung der gesellschaftlichen Abwertung von Homosexualität und die Entscheidung für das Leben in der Isolation der Subkultur, zweitens, die Verdrängung der 59 Arbeitspapier, S. 9, in: RHG/GZ/A1/1453. 60 Vgl. ebd., S. 8. 61 Vgl. Gammerl, Benno, Erinnerte Liebe. Was kann eine Oral History zur Geschichte der Gefühle und der Homosexualitäten beitragen? In: Geschichte und Gesellschaft, 35 (2009), S. 314–345.
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eigenen Homosexualität und die Flucht in die Heterosexualität, sowie drittens der Versuch offen lesbisch zu leben. Der dritte Weg wird als schwierig charakterisiert – „Unsicherheit, Angst und eine fortwährende Unzufriedenheit brechen auch bei bewußten Lesben immer wieder durch“. Sichtbar wird, welcher Druck mit der Erkenntnis, homosexuell zu sein, einherging, und dass Akteur_innen unterschiedlich mit den schwierigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen umgingen. Lesbe sein bedeutete also auch, immer wieder Konflikten mit der Umwelt ausgesetzt zu sein. Dabei spielt das Coming-Out als ein Prozess, in welchem die eigene Sexualität öffentlich sichtbar gemacht wird, eine zentrale Rolle. Denn erst dadurch werden eben diese Konflikte sichtbar. Das Coming-Out kann so auch verstanden werden als eine politische Praxis und ist eine notwendige Voraussetzung für diese Art von Identitätspolitik. Dabei wird auch die vermeintliche Grenze zwischen privat und öffentlich verschoben mit dem Wunsch, weibliche Homosexualität öffentlich sicht- und auslebbar zu machen sowie bestimmte politische Forderungen durchzusetzen. In einem Rückblick auf die Arbeit der LiK schreibt Marinka Körzendörfer: „Wir verstanden uns als radikal und unsere Homosexualität auch als politische Entscheidung.“62 Diese radikale Haltung wurde weder von allen Mitgliedern der Gruppe geteilt, noch von all den anderen Homosexuellen- und Lesbengruppen, welche im Verlauf der 1980er-Jahre in fast allen größeren Städten der DDR entstanden. Unter ihnen gab es, besonders bei den sogenannten nichtkirchlichen Gruppen, auch „gemäßigtere“ Haltungen und beispielsweise Bezugnahmen auf Ideen des Marxismus-Leninismus, um für eine Verbesserung der Lebensumstände von Lesben und Schwulen im Sozialismus zu werben. In dem Informationspapier findet insgesamt eine Transformation von „Lesbisch-Sein“ statt – negative Fremddeutungen, deren Kern eine vermeintliche Fehlerhaftigkeit lesbischer Subjektivität ist, werden positiv umgedeutet. In der Lesart der LiK ist es die „normierte[.] Gesellschaft“, welche problematisch und Ursache für persönliche Konflikte Homosexueller ist. Im Arbeitspapier schreiben sie: „[W]ir müssen erkennen, daß nicht unsere Sexualität problematisch ist, sondern die Situation in der wir leben“.63 Diese Aussage verweist auch auf die Verflechtungen zwischen Gruppen in Ost- und Westdeutschland, denn sie kann auch gelesen werden als Referenz zum Titel von Rosa von Praunheims berühmten Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ (1971), welcher eine wichtige Rolle für die Entstehung der Homosexuellenbewegung der BRD und der HIB gespielt hatte. Das Politische der privaten und nur vermeintlich individuellen Erfahrungen wird als wichtiges Moment ausgemacht und daraus wird die Notwendigkeit von Veränderungen im gesellschaftlichen und politischen Umgang mit Homosexualität abgeleitet. Doch gleichzeitig brauche es auch eine Arbeit des lesbischen Subjekts an sich – „[d]iese, auch nach außen demonstrierte Identität hat ein Selbstbewußtsein zur Grundlage“. Als ein Ort, an dem diese Bearbeitung und Neuveror62 Körzendörfer, Marinka, Zur Geschichte des Berliner Lesbenkreises, S. 2, in: RHG/GZ/ A1/1470. 63 Arbeitspapier, S. 14, in: RHG/GZ/A1/1453.
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tung persönlicher Konflikte stattfinden kann, wird in der Quelle auf die Notwendigkeit der Selbstorganisation in Gruppen verwiesen, in denen in der Folgezeit emotionale Arbeit stattfand, in der negative Gefühle transformiert wurden und welche gleichzeitig versuchten, eine Öffentlichkeit für die Anliegen von Lesben und Schwule herzustellen. Dieses Dokument kann gelesen werden als ein Ort, an dem einerseits von den Schwierigkeiten lesbischer Subjektwerdung in der DDR berichtet und anderseits mit dem politisch lesbischen Subjekt eine Position geschaffen wurde, von der aus gesprochen und identitätspolitisch agiert werden konnte. Jedoch bringt jede Form der Identitätspolitik Ausschlüsse hervor und suggeriert vermeintliche Gleichheit, wo es eine Vielzahl unterschiedlichster Subjektpositionen und Erfahrungen gibt. Das Informationspapier dokumentiert so auch Identitätspolitik, welche für die neuen sozialen Bewegungen ab den 1960er-Jahren weltweit eine wichtige Rolle gespielt hatte. Die Reduktion von Identität auf „lesbisch“ und „Frau“ negiert, dass Identitäten vielfältig, multidimensional und fragmentiert sind und macht auch die Diversität der Gruppe unsichtbar – nicht alle Gruppenmitglieder identifizierten sich als (ausschließlich) lesbisch und/oder weiblich, so gab es auch Bisexuelle, mindestens eine Person identifizierte sich schon damals als trans*, zeitweise war auch ein Mann in der Gruppe Mitglied, auch war mindestens eine Woman of Colour an der Gruppe beteiligt.64 Es gab nicht die eine lesbische Identität oder die eine Geschichte lesbischer Frauen in der DDR.65 Insofern kann die vorliegende Quelle als eine mögliche Lesart lesbischer Lebensrealitäten und Selbstverständnisse in der DDR verstanden werden, die neben anderen stehen. Jedoch zeigt das Informationspapier viele der Regulationsmechanismen lesbischer Existenz in der DDR auf und gleichzeitig markiert die vorgenommene Politisierung lesbischer Sexualität ein zentrales Moment für die Entstehung einer Lesbenbewegung in der DDR.
64 Vgl. unveröffentlichtes Interview der Autorin mit Bettina Dziggel; Lohaus, Stefanie et al., Podiumsgespräch. Zur Rolle, Lebenssituation und den Zielen der Lesben(gruppen) zur Zeit der friedlichen Revolution, in Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen-Anhalt; Gunda Werner Institut (Hgg.) Das Übersehenwerden hat Geschichte – Lesben in der DDR und der Friedlichen Revolution. Halle (Saale) Tagungsdokumentation. Halle (Saale) u.a. 2015, S. 51–57, hier S. 54. 65 Vgl. Lantzsch, Nadine, Interview mit Peggy Piesche über Lesben in der DDR: „Sichtbarkeit kann niemals nur die eigene sein“, in Mädchenmannschaft, URL: (01.04.2017); Lantzsch, Nadine, Ausschluss oder Ausgangspunkt? Bündnisse und Fragen an die Lesbenbewegungen in der DDR, in Heinrich-Böll-Stiftung SachsenAnhalt/Gunda Werner Institut (Hgg.), Das Übersehenwerden hat Geschichte – Lesben in der DDR und der Friedlichen Revolution. Tagungsdokumentation. Halle (Saale) u.a. 2015, S. 10– 18.
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Literaturhinweise Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen-Anhalt; Gunda Werner Institut (Hgg.), Das Übersehenwerden hat Geschichte – Lesben in der DDR und der Friedlichen Revolution. Tagungsdokumentation, Halle (Saale) u.a. 2015. Krautz, Stefanie, Lesbisches Engagement in Ost-Berlin 1978–1989, Marburg 2009. Sänger, Eva, Begrenzte Teilhabe. Ostdeutsche Frauenbewegung und Zentraler Runder Tisch DDR, Frankfurt am Main u.a. 2005. Sonntags-Club, Verzaubert in Nord-Ost. Die Geschichte der Berliner Lesben und Schwulen in Prenzlauer Berg, Pankow und Weißensee, Berlin 2009. Waberski, Birgit, Die großen Veränderungen beginnen leise. Lesbenliteratur in der DDR und den neuen Bundesländern, Dortmund 1997.
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Q Quelle Lesben n in der Kircche: Informaationspapier (1985/86)666
666 Lesben in n der Kirche (1985/86), IInformationsspapier vom Arbeitskreiss Homosexueelle Selbsthilfee – Lesben in n der Kirche, in: RHG/GZ/A1/29. Icch danke für ddie Abdruckggenehmigun ng. Die Quellee ist online errschienen im m Themenportal Europäiscche Geschich hte, URL: .
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2. FRAUENARBEIT INTERNATIONAL
IM SCHATTEN DES KULTURKAMPFES KATHOLISCHE SCHWESTERN IN SKANDINAVIEN1 Relinde Meiwes Im Spätsommer des Jahres 1877 begab sich eine kleine Gruppe junger Novizinnen der Schwestern von der heiligen Katharina aus der ostpreußischen Stadt Braunsberg auf eine Reise nach Skandinavien. Ziel war die finnische Hauptstadt Helsinki, die damals den schwedischen Namen Helsingfors trug. Die Schwestern wollten hier in der katholischen Kirchengemeinde als Lehrerinnen arbeiten. Wie sie waren seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zahlreiche Menschen im Namen der Kirche unterwegs in Europa. Sie hatten sich die Verkündigung des Evangeliums zur Aufgabe gemacht und arbeiteten vor allem im Schulwesen und in der Krankenpflege. Eingebunden in religiöse Netzwerke reisten also nicht nur Priester, Missionare, Ordensmänner, Brüder oder Diakone, sondern auch Ordensfrauen, Diakonissen, Schwestern und Missionarinnen.2 Doch was bedeuteten diese weiblichen Aktivitäten? Was für ein Lebensentwurf verband sich für die Schwestern und Ordensfrauen mit ihrem Leben in klösterlicher Gemeinschaft? Er bot ihnen – und das wird im Folgenden zu zeigen sein – beachtliche Entwicklungschancen und sogar geradezu individuelle Gestaltungsoptionen, vor allem, wenn wir es mit dem Leben vieler verheirateter bürgerlicher Frauen vergleichen. Religiösen Frauen stand eine Welt offen, in der sie mit dem Rückhalt einer Frauengemeinschaft einer qualifizierten Berufstätigkeit in einem auch ökonomisch gesicherten Rahmen nachgehen konnten.3 Die Gemeinschaft der Katharinenschwestern war eine für das 19. Jahrhundert typische Erscheinung des gemeinschaftlichen religiösen Frauenlebens in der katholischen Kirche. Schon 1571 im Ermland – einem katholischen Vorposten im seit der Reformation protestantischen Preußen – von Regina Protmann gegründet, erlebte die Kongregation seit der Mitte des 19. Jahrhunderts einen Aufschwung. So lebten hier im Jahre 1875 insgesamt 179 Schwestern, die mehrheitlich als Lehrerinnen arbeiteten; nur eine kleine Minderheit engagierte sich in der Krankenpflege. Der in Preußen nach der Reichsgründung beginnende Kulturkampf gegen die katholische Kirche setzte ihren Aktivitäten gleichwohl ein Ende, schließlich 1 2
3
Essay zur Quelle: Johanna (Eustachia) Boenke: Mehrjähriger Aufenthalt dreier Novizen in Helsingfors (1893). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Vgl. Hüwelmeier, Gertrud, Nonnen auf Reisen – Transnationale Verflechtungen, in: Baller, Susann et al. (Hgg.), Die Ankunft des Anderen, Frankfurt am Main 2008, S. 226–233 und Habermas, Rebekka, Mission im 19. Jahrhundert. Globale Netzwerke des Religiösen, in: Historische Zeitschrift 287 (2008), S. 629–679. Vgl. dazu grundlegend: Meiwes, Relinde, „Arbeiterinnen des Herrn“. Katholische Frauenkongregationen im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2000.
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untersagte die neue Gesetzgebung jegliches Engagement katholischer Schwestern im höheren wie vor allem im niederen Schulwesen.4 Auch die Katharinenschwestern mussten sich daraufhin neu orientieren und nach alternativen Betätigungsfeldern suchen. War die Reise der Novizinnen nach Helsinki somit auch aus der Not geboren, eröffnete ihnen – in der Rückschau betrachtet – der Kulturkampf dennoch eine unerwartete Chance. Der vorliegende Text gibt über die bemerkenswerte Reise der Novizinnen Auskunft; er ist eine außergewöhnliche Quelle, denn autobiografische Zeugnisse katholischer Schwestern sind selten.5 Die Kongregation der Schwestern von der hl. Katharina ließ ihren Mitgliedern durch einen regulierten Tagesablauf und die Überwachung der persönlichen Korrespondenz wenig Raum für individuelles Schreiben. Die Reflexion des eigenen Handelns war eingebettet in die tägliche religiöse Praxis, sie wurde nicht schriftlich festgehalten. Autobiografisches Schreiben hatte in diesem Kontext keinen Platz. Führt man sich dies vor Augen, lässt sich ermessen, dass es sich hier tatsächlich um eine besondere Quelle handelt. Die Verfasserin, Johanna Boenke (1853–1923), war eine ungewöhnliche Person; sie berichtete vergleichsweise ausführlich über die Reise selbst sowie über die Lebens- und Arbeitsweise der kleinen Frauengemeinschaft in der finnischen Hauptstadt. In seiner Mischung aus autobiografischen Elementen und Reisebericht fand der Bericht Eingang in das Hausbuch der Kongregation. Dabei handelt es sich um eine Chronologie der Kongregation, die seit 1583 geführt und im Mutterhaus in Braunsberg aufbewahrt wurde. Der Bericht war für den internen Gebrauch und nicht für die Öffentlichkeit bestimmt und diente später als Anleitung für die Gründung weiterer Niederlassungen im Ausland. Unter dem Titel „Mehrjähriger Aufenthalt dreier Novizen in Helsingfors“ wurde der 1893 verfasste, 31 Seiten lange Text an dieser Stelle dokumentiert. Mehr als zehn Jahre nach ihrer Rückkehr aus Helsinki erzählte Johanna Boenke von ihren Aktivitäten jenseits der ostpreußischen Landesgrenzen. Ihrer guten Beobachtungsgabe sind aufschlussreiche Informationen zu verdanken, der Bericht ist schließlich das einzige erhaltene Dokument über die Tätigkeit der Katharinenschwestern in Finnland.6 4
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6
Zu den Auswirkungen dieser Auseinandersetzung für die Orden und Kongregationen in Preußen vgl. Meiwes, Arbeiterinnen, S. 288–309; zur geschlechtergeschichtlichen Dimension des Kulturkampfes vgl. Gross, Michael, Kulturkampf und Geschlechterkampf. Anti-Catholicism, Catholic Women, and the Public, in: Biess, Frank et al. (Hgg.), Conflict, Catastrophe and Continuity. Essays on Modern German History, New York 2007, S. 27–43. Boenke, Johanna (Eustachia), Mehrjähriger Aufenthalt dreier Novizen in Helsingfors, Hausbuch des Jungfrauenconvents zu Braunsberg, Anno 1615 bis 1945, Archiv des Generalats der Kongregation der Schwestern von der hl. Katharina in Grottaferrata bei Rom (AGKath), S. 182–223. Im Folgenden stammen alle Quellenzitate, soweit nicht anders ausgewiesen, aus den hier abgedruckten Quellenausschnitten. Zur Geschichte der schon 1571 gegründeten Kongregation vgl. Śliwińska, Barbara Gerarda, Geschichte der Kongregation der Schwestern der heiligen Jungfrau und Martyrin Katharina, 1571–1772, Münster 1999; Meiwes, Relinde, Von Ostpreußen in die Welt. Die Geschichte der ermländischen Katharinenschwestern 1772–1914, Paderborn 2011 und Meiwes, Relinde, Klosterleben in bewegten Zeiten. Die Geschichte der ermländischen Katharinenschwestern 1914–1962, Paderborn 2016.
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Für die Geschichte der Schwestern von der heiligen Katharina war die Gründung einer Niederlassung in Finnland ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einer transnational agierenden religiösen Frauengemeinschaft. Der erste Versuch einer Ausbreitung über die Landesgrenzen hinaus lag mehr als 200 Jahre zurück. Im litauischen Krakés hatte man 1645 ein Kloster gegründet, welches allerdings bis in die 1920er-Jahre in bemerkenswerter Unabhängigkeit vom deutschen Mutterhaus arbeitete. In den 1870er-Jahren richtete sich der Blick nicht nach Litauen, sondern auf das weiter entfernt gelegene protestantische Skandinavien. Hier wollten die Novizinnen ein gemeinschaftliches religiöses Leben praktizieren, und das in vergleichsweise großer Unabhängigkeit von der Kongregationsleitung im fernen Ostpreußen. Der Kulturkampf bot den jungen Novizinnen eine Gelegenheit, das Mutterhaus zu verlassen, denn wie viele deutsche Kongregationen und Orden suchten auch die Schwestern von der heiligen Katharina den Restriktionen im Inland durch Verlagerung von Aktivitäten ins Ausland zu entgehen. Während die in den westlichen Provinzen Preußens ansässigen Kongregationen oft Niederlassungen in Holland, Belgien, Frankreich oder gar in Übersee wählten, gab es am nordöstlichen Rand Europas offenbar andere Optionen, aber auch andere Herausforderungen. Denn anders als die Schwestern aus westlicher gelegenen Regionen des Deutschen Reiches, die sich häufig an Orten ansiedelten, an denen es bereits eine entwickelte Infrastruktur katholischen Lebens gab, war die Arbeit im Norden und Osten anders gelagert. Nennenswerte katholische Niederlassungen und Netzwerke gab es allenfalls unter dem Dach der polnischen und litauischen Kirche. Die Arbeit in den skandinavischen Ländern galt somit der katholischen Diaspora und folgte vor allem dem Ziel der Missionierung. Warum die Kongregationsleitung ausgerechnet Johanna Boenke auswählte, um die Gruppe der drei Novizinnen nach Finnland zu führen, darüber lässt sich nur mutmaßen. Die im ermländischen Bischofsstein geborene angehende Lehrerin trat 1871 mit 18 Jahren der Kongregation bei und setzte zunächst ihre pädagogische Ausbildung fort. Bereits im Noviziat arbeitete Boenke als Lehrerin. Außerdem war sie sprachbegabt, wie sich später noch zeigen sollte, und durchaus abenteuerlustig. Schon zwei Jahre vor ihrer Reise nach Helsinki war Boenke offenbar für eine ähnliche Unternehmung vorgesehen gewesen. Das Projekt scheiterte zwar, doch selbstbewusst kommentierte sie dies mit den Worten: „Von da an dachte ich nicht im entferntesten daran, jemals auswandern zu dürfen.“7 Diese Aussage ist bemerkenswert, denn dass Schwestern oder angehende Schwestern ihre persönlichen Wünsche und Hoffnungen gleichsam offen artikulierten, ist ein Novum, schließlich betonten sie in der Regel das Gebot, dass sämtliche ihrer Taten und Vorstellungen stets allein dem göttlichen oder dem kirchlichen Auftrag folgten. Wie selbstbewusst sich Johanna Boenke im katholischen Milieu bewegte, zeigt sich etwa auch, wenn sie in ihrem Bericht anschaulich schildert, wie sie sich während ihrer Reise nach Finnland in einem pommerschen Hotel verhielt: „Dr.
7
Boenke, Mehrjähriger Aufenthalt, S. 182.
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Martin Luther, der über meinem Bette hing, mußte sich gefallen lassen, daß ich ihn für diese Nacht in einen Winkel platzierte. Die Lachmuskeln ziehen sich heute noch zusammen, wenn ich an die Fahrt vom Hotel bis an den Bahnhof denke.“8 Wie es zu den ersten Kontakten zwischen den Katharinenschwestern und den wenigen Katholiken in der finnischen Diaspora kam, ist eine komplizierte Geschichte.9 In Finnland lebte, seitdem das Land sich im 16. Jahrhundert mehrheitlich der Reformation zugewandt hatte, nur noch eine verschwindende Minderheit von Katholikinnen und Katholiken, ab Mitte des 19. Jahrhunderts forcierte die katholische Kirche ihre Missionsbestrebungen im nördlichen Europa. In Helsinki begann 1869 ein vom Bistum Münster entsandter Pastor mit der Missionstätigkeit. An der von ihm eingerichteten katholischen Schule sollten auch die Novizinnen der Katharinenschwestern unterrichten, es gab also durchaus Bedarf an katholischen Lehrerinnen. Im Juli 1877 bekam Johanna Boenke, die als Lehrerin in Rössel arbeitete, von der Generalleitung aus Braunsberg einen Brief. Dieser enthielt die Bitte, binnen vier Wochen nach Finnland zu reisen. Johanna Boenke – obschon zu der Zeit bereits Novizin der Katharinenschwestern – sollte ihr Ordenskleid ablegen und dort als weltliche Lehrerin arbeiten, die beiden Novizinnen Antonia (Salesia) Appelbaum und Johanna (Ludvina) Ehlert sollten sie begleiten. Die Bedeutung der Unternehmung für die katholische Kirche des Ermlands zeigt sich darin, dass der ermländische Bischof Philipp Krementz die kleine Gruppe persönlich verabschiedete und sie für ihre Reise mit religiöser Literatur versorgte. Auch der für die Schwestern zuständige Superior Joseph Grunenberg kümmerte sich offenbar um die Reisenden und arbeitete für sie eine genaue Beschreibung der Route von Braunsberg bis Lübeck aus. Die Generaloberin Adelheid Keuchel, ihre Assistentin und die Novizenmeisterin gaben ebenfalls zahlreiche gute Ratschläge.10 Am Abend des 22. August 1877 legten die drei Reisenden ihre Ordenskleider ab, was Johanna Boenke bitter kommentierte: „Es war mir, als riß ich Stücke vom eigenen Herzen los.“ Außerdem legten die Frauen auch ihren Klosternamen ab. So verloren sie die wichtigsten klösterlichen Insignien: Ohne Schleier und mit bürgerlichem Namen konnten sie nicht mehr als Angehörige eines katholischen Ordens oder einer Kongregation erkannt werden. Für die Kommunikation mit dem Generalmutterhaus und der Generaloberin verabredeten sie eine Geheimsprache, doch wissen wir nicht, ob sie tatsächlich benutzt wurde. Berlin bewusst meidend fuhren die drei Frauen über Marienburg, Schneidemühl und Stettin mit der Eisenbahn nach Lübeck, von dort aus ging es weiter mit dem Dampfer nach Helsinki. Die Reise trug einen regelrecht konspirativen Charakter, denn ganz offenbar wollten
8 9
Ebd., S. 186. Das Großfürstentum Finnland gehörte von 1809 bis 1917, nachdem es seit Jahrhunderten zu Schweden gehört hatte, zum Russischen Reich. Der Zar gestand jedoch Finnland weitgehende Autonomierechte zu. Pastoralblatt für die Diöcese Ermland, 3. Jg., Nr. 23 vom 1. Dezember 1871, 134f. 10 Vgl. Boenke, Mehrjähriger Aufenthalt, S. 184.
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die Frauen angesichts des noch andauernden Kulturkampfes nicht als Mitglieder einer religiösen Gemeinschaft erkannt werden. Bei ihrer Ankunft wurden die drei Frauen vom örtlichen Pfarrer und von einigen lokalen katholischen Honoratioren empfangen und begannen schon bald danach mit ihrer Arbeit. Unter dem Namen „Fräulein Johanna Boenke“ unterrichtete die spätere Schwester Eustachia von September 1877 bis März 1882 an der katholischen Elementarschule, wie ihrem Zeugnis über ihre dortige Tätigkeit zu entnehmen ist.11 Die Kinder wurden zunächst auf Deutsch und später, nachdem Johanna Boenke die in Helsinki von der Oberschicht überwiegend gesprochene schwedische Sprache gelernt hatte, auch in dieser unterrichtet. Die Schülerinnen und Schüler rekrutierten sich überwiegend aus katholischen Familien, die teils aus wirtschaftlichen Gründen, teils als Angehörige des diplomatischen Dienstes aus ganz Europa nach Finnland gelangt waren. Johanna Boenke erzielte durch ihre Tätigkeit als Organistin zusätzliche Einnahmen für den kleinen Konvent.12 Den Haushalt besorgte zunächst Antonia Appelbaum, 1879 erhielt die kleine Gemeinschaft Verstärkung durch die aus Braunsberg angereiste Novizin Agnes Dittrich.13 Ansonsten lebten die Schwestern nach eigener Aussage „bescheiden“, trotz der finanziellen Unterstützung durch die katholische Gemeinde. In dieser Gemeinde, deren Kirche dem „hl. Heinrikus“ geweiht war, fühlten sich die Schwestern sehr rasch „ganz heimisch“, wie Johanna Boenke in ihrem Bericht festhielt. Detailliert beschrieb sie den Bau und zeigte sich überrascht, hier „ein so schönes, rotes, massives Gotteshaus mit hellgrünem Zinkdache zu finden.“ Boenkes genaue Beobachtungsgabe und ihre Fabulierlust betrafen zahlreiche Aspekte des kirchlichen Lebens. So informierte sie ihre Leserinnen und Leser über Feste und Feierlichkeiten und erörterte auch die Unterschiede zwischen den lokalen orthodoxen und katholischen Glaubenspraktiken. Neben der Arbeit in der Schule praktizierten die Schwestern ihre religiösen Übungen, so wie sie diese im Noviziat in Braunsberg gelernt und verinnerlicht hatten. Anstelle des Ordenskleids trugen sie alle die gleiche weltliche Kleidung. Offenbar wollten sie wiedererkannt und als Angehörige einer religiösen Frauengemeinschaft gesehen werden, und das vor allem von denjenigen, die die Bedeutung ihrer Lebensweise kannten und schätzten. Die kleine Gruppe plante stets Zeit für die eigene religiöse Praxis in ihren Tagesablauf ein, vom Morgengebet um 5 Uhr früh bis zum Abendgebet. Beim Aufstehen um 5 Uhr morgens hielten sie nach dem Morgengebet eine sogenannte Betrachtung, die der Auseinandersetzung mit Passagen aus der Bibel oder anderen religiösen Texten diente. Um 8 Uhr besuchten sie mit den Kindern die Messe. Um 12 Uhr folgte eine Viertelstunde „Gewissenserforschung“, während der man nach einem festgesetzten Ritual Re11 Vgl. Zeugnis der Lehrerin Fräulein Johanna Boenke einschließlich einer Stellungnahme des deutschen Konsuls, APSK, ZG-E-a-3. 12 Vgl. Boenke, Mehrjähriger Aufenthalt, S. 200. 13 Agnes (Eleonora) Dittrich wurde später nach Brasilien geschickt. Sie arbeitete im Hospital Santa Catarina und in einer Schule in São Paulo, wo sie 1922 starb. Vgl. Josefine Maria Thiel, Wachsendes Senfkorn. 60 Jahre Katharinen-Schwestern, Kempen 1959, S. 302.
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flexionen über eigenes fehlerhaftes Verhalten und dessen Veränderung anstellte. Um 18 Uhr gab es eine „Vesper“ mit geistlicher Lesung, um 19 Uhr ein Rosenkranzgebet und später am Abend nochmals „Gewissenserforschung“, „Betrachtung“ und Abendgebet. „Kurz alles war gemeinschaftlich und wurde gehalten, wie wir es im Kloster gewöhnt waren.“ 1878 besuchte der Braunsberger Superior der Kongregation, Joseph Grunenberg, die Gemeinschaft im fernen Finnland. Solche Besuche sind freilich bezeichnend für die Anfänge der missionarischen Tätigkeit der Katharinenschwestern, zu späterer Zeit visitierte die Generaloberin selbst all ihre Niederlassungen. Bereits in den späten 1870er- und den frühen 1880er-Jahren kannte das Engagement der Katharinenschwestern kaum Grenzen. Offenbar nutzten die Schwestern – wie Johanna Boenke berichtete – jede sich bietende Gelegenheit, um den Aktionsradius zu erweitern und weitere Niederlassungen zu gründen. Eine Chance hierfür ergab sich von Helsinki ausgehend in St. Petersburg, der Hauptstadt des russischen Zarenreichs. Am Fronleichnamsfest 1879 hatte Boenke in der Kirche die Bekanntschaft einer älteren Frau aus Italien gemacht, die deutsch sprach. Sie hatte früher als Lehrerin in St. Petersburg gearbeitet und wollte dort ein „Kranken- und Erziehungshaus zur Heranbildung guter Dienstboten“ einrichten – ein Plan, der den Wünschen der Katharinenschwestern wohl entgegenkam. Doch das Projekt scheiterte, denn anscheinend suchten die Verantwortlichen lediglich billige Arbeitskräfte und wollten die religiöse Lebensweise der Frauen mitnichten anerkennen. Ohne Respekt vor dem klösterlich-religiös geprägten Lebensentwurf funktionierte eine Zusammenarbeit mit Frauenkongregationen nicht. So erklärte denn auch Antonia Appelbaum, die an dem Vorhaben beteiligt war: „Man behandelte uns nicht als Schwestern, die einst die Leitung des Asyls übernehmen sollten, sondern als Dienstboten.“14 Doch damit nicht genug: Die Schwestern sollten sich auch wie Dienstboten kleiden und möglichst keine Ansprüche stellen. Genau dazu waren sie aber nicht bereit und verließen deshalb umgehend die Stadt. Das Experiment in St. Petersburg war somit gescheitert, doch verdeutlicht es eindringlich, in welchem Umfang die Kongregation der Katharinenschwestern ihr Engagement selbst zu steuern versuchte. Der Aufenthalt der drei Novizinnen in St. Petersburg war nur eine kurze Episode, aber auch das Engagement in Finnland war nur von vergleichsweise kurzer Dauer. Nach gut fünfeinhalbjähriger Tätigkeit mussten die Schwestern infolge der politischen Turbulenzen nach dem Attentat auf den russischen Zaren Alexander II. Helsinki verlassen. Am 9. März 1882 trafen sie wieder in Braunsberg ein.15 Dennoch war die Zeit in Finnland für die weitere Entwicklung der ermländischen Kongregation von Bedeutung, denn gewiss berichteten Johanna Boenke und ihre Reisegefährtinnen den daheimgebliebenen Schwestern sowohl von ihrer Arbeit als auch von ihrer Lebensweise in den fern gelegenen Ländern. Ja, auch von den Reisen selbst und von den vielen Sehenswürdigkeiten, etwa in Puschkin, St. Petersburg oder auf den Festungen Kronstadt und Sveaborg, dürfte in den Erzählungen 14 Boenke, Mehrjähriger Aufenthalt, S. 231. 15 Ebd., S. 222.
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der Schwestern ausführlich die Rede gewesen sein. Der Bericht schenkte zwar der gelungenen Missionstätigkeit die meiste Aufmerksamkeit, doch lassen zahlreiche Hinweise auf den großen Erfahrungsschatz schließen, den die drei Novizinnen auf ihren Reisen sammelten. Johanna Boenke und ihre Mitreisenden trugen mit ihren mündlichen wie mit ihren schriftlichen Berichten sicherlich dazu bei, dass sich der Blick der Katharinenschwestern vom Ermland und von Ostpreußen aus auf Europa und schließlich sogar auch auf die restliche Welt erweiterte. Überdies stärkten die Erzählungen der Reisenden zweifellos das Verlangen vieler Schwestern, es den Pionierinnen der Auslands- und Missionsarbeit gleichzutun.16 Nach ihrer Rückkehr aus Finnland arbeitete Johanna Boenke nach kurzem Aufenthalt im Braunsberger Mutterhaus als weltliche Lehrerin und Erzieherin im St. Josephi-Stift in Heilsberg, da es katholischen Schwestern und Ordensfrauen auch nach dem offiziellen Ende des Kulturkampfes 1887 nicht erlaubt war, im Elementarschulwesen zu arbeiten. Erst viele Jahre später legte sie erstmals wieder ein Ordenskleid an, nachdem sie am 15. Januar 1893 die Gelübde der Armut, des Gehorsams und der Keuschheit abgelegt hatte.17 Fünf Jahre später reiste die inzwischen 44-Jährige als eine der ersten Schwestern nach Südamerika. In Brasilien fand sie ein neues Tätigkeitsfeld, schließlich zeichnete sie für den Aufbau der Missionsarbeit in Brasilien verantwortlich und leitete 13 Jahre lang die Kongregation in Petropolis, in der brasilianischen Nordprovinz, nahe Rio de Janeiro. Dass Johanna Boenke – nun Schwester Eustachia – nach der schwedischen jetzt auch noch die portugiesische Sprache erlernte, verwundert bei ihrer Biografie kaum. Ihrem Unternehmungsgeist und ihrer Abenteuerlust kam die neue Aufgabe in Brasilien offenbar gelegen. Obschon eingebunden in die kirchliche Hierarchie und gebunden an das Gehorsamsversprechen gegenüber der Generaloberin im fernen Deutschland, zeigt ihr Lebensweg, in welchem Umfang sich Frauen im ausgehenden 19. Jahrhundert in religiösen Kontexten unerwartete Handlungsspielräume eroberten. Mit Hilfe der Kongregation als einer spezifischen Form der katholischen Vergesellschaftung konnten sie unter dem Dach der Kirche ihren Handlungsspielraum sukzessive erweitern. Den Schwestern ging es mit ihrem Tun um weit mehr als nur um die Erfüllung weltlicher Aufgaben. Gerade die Symbiose von religiöser und weltlicher Sphäre prägte ihre Identität und motivierte sie. Die Frauenkongregationen hatten durch ihre Arbeit auf dem weiten Feld der sozialen Arbeit und im Bildungswesen einen erheblichen Einfluss auf die Gestaltung des katholischen Milieus im 19. und frühen 20. Jahrhundert.18 Der Bericht über die finnische Mission ist eine Besonderheit im Rahmen der Historiografie des weiblichen Ordens- und Kongregationswesens des 19. Jahrhunderts, denn üblicherweise wurden in diesem Kontext knappste Berichte verfasst, die kaum mehr als die groben Fakten enthielten. Wenn es denn überhaupt längere Texte gab, so behandelten diese – für Außenstehende kaum verständlich – 16 Vgl. ebd., S. 182–231. 17 Vgl. Boenke, Mehrjähriger Aufenthalt, S. 223. 18 Zu den Handlungsmöglichkeiten von Frauen gerade in der eher von konservativen Geschlechtervorstellungen geprägten katholischen Kirche vgl. ausführlicher Meiwes, Arbeiterinnen.
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religiöse Themen in epischer Breite. Autobiografische Texte katholischer Schwestern oder Ordensfrauen sind dagegen eine Rarität und das nicht nur in den Archiven der Schwestern von der heiligen Katharina. Doch die Ausführungen von Johanna Boenke vermitteln nicht nur aufschlussreiche Einblicke in das Leben der Protagonistinnen, sie lesen sich auch fast wie eine Anleitung für künftige Unternehmungen der Kongregation, schließlich gründeten die Schwestern von der heiligen Katharina schon bald weitere europäische Niederlassungen. 1895 gingen die ersten Schwestern nach Großbritannien, um in Liverpool und Umgebung katholische Migrantinnen und Migranten aus Polen und Litauen zu betreuen und in dem von der anglikanischen Kirche dominierten Land zu missionieren. Als die Schwestern 1897 schließlich eine Anfrage aus Brasilien erhielten, waren sie auf diese Aufgabe gut vorbereitet. Johanna Boenkes Karriere war zwar außergewöhnlich, doch kann sie in mehrfacher Hinsicht als exemplarisch für viele Ordensfrauen und Schwestern gelten, denn ihr Lebensweg zeigt, welche Möglichkeiten die katholische Kirche für Frauen eröffnete. Voraussetzung dafür war allerdings, dass sie bereit waren, sich auf die von der Kirche geforderten Bedingungen eines zölibatären Lebens mit dem Gehorsamsversprechen gegenüber den Ordensoberen einzulassen. Sie waren daher keine „Independent Women“, wie Martha Vicinus ihre klassische Studie über die nicht verheirateten Frauen im viktorianischen Zeitalter betitelte.19 Eine breite Palette von Gemeinschaften, die im Spektrum von Krankenpflege, Bildung oder sozialer Frage jeweils unterschiedliche Schwerpunkte setzten, ermöglichte es den Anwärterinnen dennoch, individuelle Vorstellungen eines gemeinschaftlichen religiösen Lebens zu realisieren. Die Aussicht, als Missionarin im Ausland tätig zu sein, übte schließlich nicht nur auf angehende Katharinenschwestern, sondern auf viele Katholikinnen in Europa eine große Faszination aus. Die nach dem Ende des Kulturkampfes stetig steigenden Mitgliederzahlen der katholischen Frauenkongregationen erscheinen gerade vor dem Hintergrund einer solchen persönlichen Motivation erklärbar. Literaturhinweise Clark, Christopher; Kaiser, Wolfram (Hgg.), Kulturkampf in Europa im 19. Jahrhundert, Leipzig 2003. Mayer, Jan de; Leplae, Sofie; Schmiedl, Joachim (Hgg.), Religious Institutes in Western Europe in the 19th and 20th Centuries. Historiography, Research and Legal Position, Leuven 2004. Meiwes, Relinde, „Arbeiterinnen des Herrn“. Katholische Frauenkongregationen im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2000. Meiwes, Relinde, Von Ostpreußen in die Welt. Die Geschichte der ermländischen Katharinenschwestern 1772–1914, Paderborn 2011. Werner, Yvonne Maria (Hg.), Nuns and Sisters in the Nordic Countries after the Reformation. A Female Counter-Culture in Modern Society, Uppsala 2004.
19 Vgl. Vicinus, Martha, Independent Women: Work and Community for Single Women, 1850– 1920, Chicago 1985.
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Quelle Johanna (Eustachia) Boenke: Mehrjähriger Aufenthalt dreier Novizen in Helsingfors (1893)20 1. Berufung und Vorbereitung Es war im Juli des Jahres 1877 als in Rössel, woselbst ich (der Name der Berichterstatterin ist die Novizin Eustachia Boenke) an der Schule thätig war, der Postbote eines Tages einen offenen Brief in das Kloster brachte, der zum Erstaunen aller das Geheimnis enthielt, daß ich mein heiliges Ordenskleid ausziehen und als weltliche Lehrerin nach Finnland auswandern sollte. […] Der 22. August war da und die lieben Vorgesetzten hatten alles zur Reise Notwendige und Angenehme eingepackt. […] In der Abendrekreation war ein Abschiednehmen ohne Ende. Unvergeßlich ist mir der Augenblick, in dem ich zum letzten Male meinen Schleier, Gürtel und Habit küßte und niederlegte. Es war mir, als riß ich Stücke vom eigenen Herzen los. […] 5. Die Ankunft in Helsingfors […] Am Hafen hatte sich eine große Menschenmenge versammelt. […] Es verging keine halbe Stunde und wir betraten den Boden unserer neuen Heimat. Rings um uns nur fremde Gesichter, und das Durcheinander der fremden, uns ganz unbekannten Sprache machte auf uns einen seltsamen Eindruck. Aber wie wohltuend und darum unvergeßlich war der Augenblick, in welchem uns von einer Seite ein bekanntes „Gelobt sei Jesus Christus!“ erklang. Es war der Hochwürdige Herr Pastor Jedzink, der uns wilkommen hieß. Mehrere Gönner und Wohlthäter bewillkommneten uns und besorgten das Gepäck vom Schiffe. Dann gings mit mehreren Jswoschtschiks (Droschken) nach einem Hotel, in dem eine deutsche Hausfrau waltete. Hier verblieben wir bis Sonnabend abends, weil die Schule noch nicht geräumt war. […] Der Weg zur [Kirche] war weit. Aber wie erstaunt und überrascht waren wir, ein so schönes, rotes, massives Gotteshaus mit hellgrünem Zinkdache zu finden. Der Turm war vorn und enthielt den Haupteingang. Ueber demselben befand sich in einer Nische eine sehr große weiße Statue des hl. Heinrikus, des Kirchenpatrons, rechts und links schöne große Statuen der Apostelführer Petrus und Paulus. Einfach aber geschmackvoll und schön war das Innere der Kirche, besonders gefielen mir die schönen Gemälde der Seitenaltäre und die zahlreichen weißen Wachskerzen auf den Altären und vier großen Kronleuchtern. Hier im Gotteshaus fühlten wir uns ganz heimisch. Donnerstag war es auch, an welchem Tage wir hier zum ersten Male die hl. Sakramente empfingen. […]
20 Boenke, Johanna (Eustachia), Mehrjähriger Aufenthalt dreier Novizen in Helsingfors, Hausbuch des Jungfrauenconvents zu Braunsberg, Anno 1615 bis 1945, Archiv des Generalats der Kongregation der Schwestern von der hl. Katharina in Grottaferrata bei Rom (AGKath), S. 182–223. Ein längerer Quellenauszug ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .
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6. Einzug in die Schule […] Die Frau des Generalgouverneurs von Finnland, Gräfin Adlerberg, hatte dem Hochwürdigsten Herrn Bischof Philippus von Ermland um Schwestern für ihre Schule gebeten. Seine Bischöfl. Gnaden willfahrt ihrem Wunsche unter der Bedingung, daß ein ermländischer Priester dort angestellt werden sollte. Durch das Bemühen der hohen Frau beim russischen Hofe erhielt sie die Erlaubnis dazu, und im Jahre 1876 siedelte Herr Licentiat Jedzink hinüber. Nur an Stelle der Schwestern wurden wir unerfahrenen schwachen Geschöpfe erwählt und gesandt. 7. Der Anfang im neuen Heim […] Die ersten Tage wurde mit dem Reinigen und Ordnen zugebracht. Bis dahin existierte nur eine Schulklasse, wir richteten zwei ein. Zwei Zimmer wurden als Schlaf- und Wohnzimmer für die Zöglinge des Hauses bestimmt, (für die Mädchen, denn die Knaben schliefen von jetzt ab in der Behausung des Herrn Geistlichen) und die übrigen drei Zimmer bewohnten wir, sie waren ein Schlaf- Ess- und Sprechzimmer, welches zugleich unser Betsaal war, weil wir aus demselben die ewige Lampe in der Kirche schauen konnten. Die Anzahl der Zöglinge war anfänglich vier, sie mehrten sich aber mit der Zahl der Wohlthäter recht schnell. So daß [es] später zwanzig waren. Die liebe Schw. Salesia, unsere Hauswirtin, hatte beim Beginne ihre Not. Sie sollte die Hungrigen speisen, doch womit? – Kaum hatte sie das notwendigste Kochgeschirr, noch viel weniger Speisevorrat. Was nun beginnen? Der Herr Pastor selbst nahm Kaffeebohnen mit, um sie bei der guten Familie Geuken in Tölö rösten zu lassen. Tölö war ein Stadtteil etwa zwei Werft von der Schule entfernt. Diese brave gut katholische Familie, der Hausherr, ein Zuckerfabrikant aus Holland, und die Frau eine Kölnerin, wurde des Wohltuns nie müde. Also die Bohnen kamen nachmittags an und konnten wir dann bald Kaffeetrinken. Aller Anfang war schwer; die ersten Monate mußten wir uns mit schmaler Kost begnügen, weil Schw. Salesia nicht wußte, wie lange sie mit dem ihr überreichten Gelde auskommen konnte und sollte. […] 8. Schule und Unterricht […] Anfangs erschienen dreißig oder vierzig Schüler und Schülerinnen, später wuchs die Zahl und stieg bis sechzig und darüber. Selbst protestantische und griechisch katholische Schüler und Schülerinnen traten aus ihren Schulen und besuchten unsere. […] Der Unterricht wurde in deutscher Sprache erteilt, doch waren wöchentlich je zwei Stunden Schwedisch, Russisch und in der Oberklasse auch Französisch. Die Umgangssprache in den Küstengegenden war die schwedische, tiefer im Innern die finnische. In Helsingfors wurde sowohl schwedisch als auch russisch und finnisch, von der hohen Welt französisch gesprochen. Es waren daselbst auch Deutsche aus dem Rheinland, Baiern und Böhmen. Wir lernten auch bald das Schwedische und habe ich in der letzten Zeit den Unterricht in dieser Sprache der kleineren Abteilung erteilt. Es kamen Kinder zur Schule, die drei bis vier Sprachen reden konnten und die vierte oder fünfte lernten. Die Schweden lieben den Gesang, singen gerne und auch gut, deshalb war es mir möglich viele schöne und zuletzt auch schwere Gesänge, deutsch und lateinische einzuüben und in der Kirche während der Andacht vortragen zu lassen. […]
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In den Gesangstunden für die Schule wurden außer deutsche auch schwedische, finnische selbst russische Lieder gesungen, diese übte ich teils mit der Violine, teils mit dem Harmonium ein. Religion und schwedischen Unterricht erteilte Herr Pastor Jedzink, den russischen ein russischer Gymnasiallehrer. Die Kinder waren gehorsam, willig, sehr bescheiden und größtenteils fleißig. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich in meiner Klasse habe körperliche Strafen anwenden müssen. […] 9. Tagesordnung und Lebensweise Unsere Tagesordnung war folgende: Morgens fünf Uhr Aufstehen, da wir in der Zeit eine halbe Stunde voran waren, so begannen in Braunsberg unsre Schwestern ihre Betrachtung, wenn wir uns vom Schlafe erhoben; dann folgte die Toilette, die wegen des sehr kurzen Haares ziemlich lange dauerte. Eine frisierte die andere. Nach diesem kam das Morgengebet und die Betrachtung. Um acht Uhr war hl. Messe und nach dem Frühstück begaben wir uns sofort in die Klassen. Der Unterricht dauerte bis zwölf Uhr und wurde nach Verlauf einer halbstündigen Pause, in welcher wir uns durch einen kleinen Imbiß stärkten und eine Viertelstunde auf die Gewissenserforschung verwendeten, fortgesetzt bis drei Uhr. Während der Pause überwachte der Pastor die Schulkinder, welche ihr mitgebrachtes sogenanntes Großfrühstück verzehrten und sich etwas erholten. Nach Schulschluß speisten die Kinder Mittag, dann erst hielten wir die Mittagsmahlzeit, was im Winter gewöhnlich bei Licht geschah, da das Tageslicht nur fünf bis sechs Stunden dauerte. Nach dem Essen wurde mit den Kindern regelmäßig ein Spaziergang in den ganz nahe gelegenen Brunspark oder auf die Felsenküsten des Meeres gemacht. Die Erholung der Zöglinge im Winter bestand im Schlittchenfahren, Schlittschuhlaufen und Schneeschuhgehen. Sonntag war der Mittag früher und weil die Vesper erst um fünf Uhr begann, konnten wir uns einen längeren Spaziergang erlauben, es wurden dann die schöne sehr saubere Stadt und ihre Anlagen und botanischen Gärten, die russischen, schwedischen- und deutschprotestanischen Kirchen besehen. Am Sonntage herrschte die größte Ruhe und Stille, da nichts gekauft oder verkauft wurde und sämtliche Läden der großen Seestadt tagüber geschlossen waren. Also nach der Vesper um sechs Uhr und nach dem Spaziergange am Wochentage war Vesperbrot, die geistliche Lesung wurde auf eine halbe Stunde ausgedehnt, da mittags die Tischlesung wegfiel; um sieben Uhr war ein gemeinschaftliches Rosenkranzgebet, wonach das Abendbrot der Kinder, ihre kleine Erholung und nach derselben Abendgebet und Ruhe erfolgten. Es war acht Uhr die Zeit unseres Abendtisches alsdann Rekreation bis neun Uhr, danach Gewissenserforschung, Betrachtung, Abendgebet und Schlafengehen um zehn Uhr. So glich ein Tag dem andern. Die Tischlesung am Abend aus der Heiligenlegende konnte ungehindert eingehalten werden. Die Tageszeiten beteten wir regelmäßig an allen Sonn- und Feiertagen. Kurz alles war gemeinschaftlich und wurde gehalten, wie wir es im Kloster gewöhnt waren. Die monatliche Geisteserneuerung, sogar die Exerzitien in den Ferien hielt der Hochw. Herr Pastor. Weil in der Kirche nur jeden andern Sonntag deutsche Predigt war, so gab uns unser Herr gast jeden Sonnabend und Vorabend vor den Festen eine schöne für uns und unsere Verhältnisse passende Betrachtung. […] Viel, sehr viel haben wir dem Hochw. Herrn Pastor zu verdanken, besonders da er auf Selbstüberwindung in jeder Beziehung das größte Gewicht legte. Da habe ich erst so recht kennenglernt, was es heißt, sich selbst überwinden und entschieden seinen Neigun-
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gen entgegentreten. Gott möge ihm tausendfach vergelten das Gute, das er an uns gethan! Im Uebrigen waren unsre Ansprüche bescheiden, da wir uns einfach kleideten. Brauchten wir etwas so durften wir nur bitten und es wurde uns gegben. Den großen Rosenkranz trugen wir unter dem Kleide und den ein wenig veränderten Habit im Winter. Besuche machten wir äußerst selten und auch nur unsern größten Wohlthätern, der Familie Geuken und Jahnel. […]
„ALSO, ICH BIN EINE DEUTSCHE NICHT MEHR, EINE ENGLÄNDERIN WERDE ICH NIE SEIN.“ ERFAHRUNGEN UND DEUTUNGEN EINER EMIGRIERTEN WISSENSCHAFTLERIN1 Kirsten Heinsohn Als die Soziologin Eva Reichmann 1981 gefragt wurde, wie sie denn ihr Selbstverständnis beschreiben würde, sagte sie als erstes: „das ist eine sehr komplizierte Sache.“ Und in der Tat war es für sie, als liberale Jüdin, die 1939 aus Deutschland vertrieben worden war, außerordentlich schwierig, sich eindeutig zu einem Land zu bekennen, geschweige denn sich mit ihm zu identifizieren. Die Gewalterfahrung der Juden in Europa zwischen 1933 und 1945 fügten – auch im Fall von Eva Reichmann – den persönlichen Biografien der Überlebenden eine schwere Hypothek hinzu.2 Die Einführung ungleicher Bürgerrechte im Zuge der sogenannten Nürnberger Gesetze 1935 sowie die Aberkennung der Staatsangehörigkeit insgesamt waren Schritte in einem umfassenden Entrechtungsprozess. Aus der Rückschau ist deutlich erkennbar, dass diese sukzessive Entrechtung eine wichtige Etappe auf dem Weg zur Ermordung gewesen ist. Aus der Perspektive von Verfolgten des NS-Regimes haben gleiche Bürgerrechte sowie jene Rechte, die die eigene Staatsangehörigkeit betreffen und die vom Staat prinzipiell geschützt werden, daher eine zentrale Bedeutung. Diese staatsbürgerliche Grundausstattung haben viele Jüdinnen und Juden im Exil erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wieder erhalten, so auch Eva Reichmann, die 1945 britische Staatsangehörige wurde. Als Jüdin hätte sie nach der Verabschiedung des Rückkehrgesetzes 1950 auch die israelische Staatsbürgerschaft beanspruchen können, wählte diese aber nicht. Stattdessen blieb sie in London, wo im Juni 1981 auch das Interview stattfand, aus dem hier einige Auszüge vorgestellt werden.3 An zwei Tagen befragte Hans Lamm die 84-jährige Eva Gabriele Reichmann (1897–1998). Geboren als Eva Jungmann in Oppeln (Schlesien) hatte sie nach 1
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Essay zur Quelle: Interview mit Eva G. Reichmann (1981). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenschwerpunkt „Europäische Geschichte – Geschlechtergeschichte“ des Themenportals Europäische Geschichte, URL: . Karady, Victor, Gewalterfahrung und Utopie. Juden in der europäischen Moderne, Frankfurt am Main 1999, S. 174–198. Transkript Interview mit Eva G. Reichmann, 4.–6.2.1981, ZDF-Archiv Nr. 0012521501, Produktions-Nr. 6351/0827, S. 29–33 und S. 40–46. Teilweise gesendet als: „Zeugen des Jahrhunderts. Eva G. Reichmann im Gespräch mit Hans Lamm“ 8.2.1982. Die Interviewpassagen, die nicht gesendet wurden, sind kursiv formatiert. Stellen, die offensichtlich im Transkript falsch wiedergegeben waren, wurden korrigiert. Im Folgenden stammen alle Quellenzitate, soweit nicht anders ausgewiesen, aus den hier abgedruckten Quellenausschnitten.
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ihrer Promotion im Fach Nationalökonomie ab 1924 beim Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) in Berlin als kulturpolitische Referentin gearbeitet und sich dort, zusammen mit ihrem Mann Hans Reichmann, unter anderem der Abwehrarbeit gegen den Antisemitismus gewidmet. 1938/39 musste das Ehepaar Deutschland verlassen; Hans Reichmann war nach dem Novemberpogrom in Sachsenhausen inhaftiert worden, seine Freilassung war nur unter der Bedingung der sofortigen Ausreise möglich gewesen.4 Ohne Besitz und Einkommen kam das Ehepaar 1939 in London an. Doch erst Mitte der 1950er-Jahre, nachdem Zahlungen im Rahmen der Wiedergutmachung erfolgt waren, konnten die Reichmanns wieder eine eigene Wohnung einrichten – bis dahin hatten sie nur in möblierten Zimmern gewohnt. Hans Reichmann arbeitete bis zu seinem Tod im Jahr 1964 für jüdische Organisationen, die mit Wiedergutmachungsaufgaben betraut waren. Eva Reichmann promovierte 1943 bis 1945 an der London School of Economics mit einer Arbeit über die sozialen Ursachen des Antisemitismus, die 1950 unter dem Titel Hostages of Civilisation veröffentlicht wurde. 1956 erschien eine deutsche Übersetzung mit dem Titel Flucht in den Haß. Die Ursachen der deutschen Judenkatastrophe.5 Zwischen 1945 und 1959 war Eva Reichmann dann Forschungsdirektorin in der Wiener Library6, wo sie eine umfangreiche Sammlung an Zeitzeugenberichten über die Verfolgung der europäischen Juden aufbaute und weiter zu diesen Themen publizierte. Aufmerksam beobachtete sie die politische Entwicklung in Deutschland, wohin sie vor allem nach ihrer Pensionierung oft zu Vorträgen reiste. Eine besondere Resonanz fanden ihre Reden anlässlich der Woche der Brüderlichkeit 1960 sowie auf den Evangelischen Kirchentagen 1961 und 1967.7 Für ihr Engagement in der politischen Bildung sowie vor allem in der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit erhielt Reichmann viele Auszeichnungen. 1969 bekam sie das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse, 1983 folgte das Große Bundesverdienstkreuz. Auch der Interviewer Hans Lamm (1913–1985) hatte Deutschland 1938 verlassen müssen, weil er als Jude verfolgt wurde.8 Lamm, in München geboren und aufgewachsen, musste 1933 sein Studium der Zeitungswissenschaften aufgeben, weil ein Abschluss nach der nationalsozialistischen Gesetzgebung für ihn nicht mehr möglich war. Lamm arbeitete daraufhin in verschiedenen Aufgabenbereichen der Israelitischen Kultusgemeinde in München und im Landesverband Bayern. 1938 wanderte er in die USA aus, wurde 1939 durch die nationalsozialisti4 5 6 7 8
Reichmann, Hans, Deutscher Bürger und verfolgter Jude. Novemberpogrom und KZ Sachsenhausen 1937 bis 1939, bearb. von Michael Wildt, München 1998. Reichmann, Eva G., Hostages of Civilization. The Social Sources of National-Socialist AntiSemitism, London 1950, dt: Die Flucht in den Haß. Die Ursachen der deutschen Judenkatastrophe, Frankfurt am Main 1956. Barkow, Ben, Alfred Wiener and the Making of the Holocaust Library, London 1997. Beide Vorträge sind abgedruckt in Reichmann, Eva G., Größe und Verhängnis deutschjüdischer Existenz. Zeugnisse einer tragischen Begegnung, Heidelberg 1974, S. 173–182 und S. 211–224. Sinn, Andrea, „Und ich lebe wieder an der Isar“. Exil und Rückkehr des Münchner Juden Hans Lamm, München 2008.
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sche Regierung ausgebürgert und nahm 1944 die US-amerikanische Staatsangehörigkeit an. In den USA studierte Lamm Soziologie und Sozialwesen, war nach erfolgreichem Abschluss dann beim American Zionist Emergency Council in New York tätig und wurde schließlich von 1945 bis 1946 Gesandter der American Jewish Conference in Deutschland. Bis 1952 arbeitete er als Gerichtsdolmetscher für die US-amerikanischen Behörden und promovierte parallel an der Universität Erlangen. Aufgrund fehlender Erwerbsmöglichkeiten kehrte Lamm von 1952 bis 1955 in die USA zurück, übernahm dann aber die neu geschaffene Stelle des Kulturdezernenten des Zentralrats der Juden in Deutschland. Er siedelte nun endgültig in die Bundesrepublik Deutschland über. Bis 1960 war Lamm für den Zentralrat tätig, danach, bis 1978, als Abteilungsleiter der Münchner Volkshochschule. Überdies arbeitete er erfolgreich als freier Journalist. 1962 beantragte Lamm die deutsche Staatsbürgerschaft, die US-amerikanische wurde 1963 verlängert. Von 1970 bis kurz vor seinem Tod war Hans Lamm zudem Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Sowohl in dieser Funktion als auch als Journalist9 trat er häufig in der Öffentlichkeit auf: 1977 erhielt er den Bayerischen Verdienstorden, 1981 außerdem das Bundesverdienstkreuz. In dem Interview von 1981 erzählte Eva Reichmann ausführlich über ihr persönliches Leben und ihre wissenschaftlichen Arbeiten zum deutschen Antisemitismus sowie zur Soziologie und Geschichte der deutschen Juden. Weitere gewichtige Themen waren, neben zahlreichen jüdischen Einrichtungen und Persönlichkeiten, auch der Staat Israel und die jüdische Diaspora. Aus dem umfangreichen Film- und Tonmaterial erstellte das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) eine Ausgabe der bekannten Reihe „Zeugen des Jahrhunderts“, die am 8. Februar 1982 gesendet wurde. 1979 hatte das ZDF diese Reihe gestartet, bis 1997 wurden rund 250 Zeuginnen und Zeugen von unterschiedlichen Persönlichkeiten befragt.10 Der zuständige Redakteur beschrieb den besonderen Charakter der Sendereihe als „untypisch für das Medium Fernsehen“: Hier sollten die „Ruhe und Dauer eines Gesprächs zwischen zwei Menschen“ der „Vergeßlichkeit und Flüchtigkeit des Augenblicks“ entgegengesetzt werden, wobei dann die spätere Sendung die „Quintessenz des Dialogs“ darstellen sollte.11 Tatsächlich ist diese Beschreibung für das vorliegende Fernsehinterview in mancher Hinsicht treffend. Man sieht die beiden Gesprächspartner in der Wohnung Eva Reichmanns in London sitzen, etliche Bücher stehen in Regalen und eine Stehlampe beleuchtet nur schwach einen kleinen Tisch mit weiteren Büchern. Die Außenwelt oder gar andere Personen sind unsichtbar. Der Blick der Zuschauenden wird von der Kamera wechselweise auf Hans Lamm oder Eva Reichmann gerichtet, alles andere rückt in den Hintergrund und wird undeutlich. Auf diese Weise entsteht der Eindruck unmittelbarer Teilnahme an einem gerade erst entstehenden Gespräch. Mit der Reihe „Zeugen des Jahrhunderts“ etablierte das ZDF 9
Lamm, Hans, Deutsch-Jüdischer Publizist. Ausgewählte Aufsätze 1933–1983 mit ausführlicher Bibliographie, München 1984. 10 Zeugen des Jahrhunderts: Literatur. Begleitheft zur Video-Edition, Mainz 1997, S. 5. 11 Herrmann, Ingo, Vom Gespräch zur Erinnerung, in: ebd., S. 9.
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Ende der 1970er-Jahre erfolgreich ein neues mediales Format in der sich wandelnden Geschichts- und Erinnerungskultur der alten Bundesrepublik.12 Nicht zufällig fiel der Start dieser Reihe mit der „Geburt des Zeitzeugen“13 zusammen. Prominente Personen der Zeitgeschichte waren schon immer von Historikern oder Journalisten befragt worden; neu war nun, dass auch weniger bekannte Personen meist an persönlichen oder beruflichen Orten interviewt wurden und dass eine interessierte Öffentlichkeit einen Zusammenschnitt der Gespräche sehen konnte. Das Interview mit Eva Reichmann wurde insgesamt an zwei Tagen geführt, die Sendung selbst dauerte nur 52 Minuten. Vieles wurde also nicht gezeigt – die Redaktion hatte aber nicht nur Material weggelassen, sondern auch Passagen neu angeordnet. Damit handelt es sich bei dem gesendeten Interview um eine Quelle mit zwei Ebenen: zum einen werden Erinnerungen einer intellektuellen Jüdin und Wissenschaftlerin präsentiert, zum anderen sehen wir eine Interpretation dieser Aussagen durch die Redaktion des ZDF. Die Regeln des Mediums spielten womöglich in der Bearbeitung des Materials eine wichtige Rolle; diese Überlegungen sind allerdings im Nachhinein nur schwer zu rekonstruieren. Die Besonderheit der vorliegenden Quelle besteht nun darin, dass diese beiden Ebenen sichtbar gemacht werden können, denn es liegt ein Transkript des gesamten Interviews mit handschriftlichen Eintragungen der Redaktion zur Auswahl der Ausschnitte vor und es gibt die Sendung selbst. Auf diese Weise können die Eingriffe bzw. die Bearbeitung der Redaktion thematisiert und auch interpretiert werden. In den letzten Jahrzehnten sind zahlreiche Interviews mit prominenten wie unbekannten Personen gesendet worden, ja das Zeitzeugeninterview hat vor allem durch die Geschichtssendungen des ZDF unter der Regie von Guido Knopp ein ganz besonderes Format erhalten – allerdings eines, in dem der aktuelle Kontext, in dem und aus dem die Personen sprechen, immer stärker negiert wurde.14 Die Reihe „Zeugen des Jahrhunderts“ steht am Anfang dieser medialen Nutzung von Zeitzeugen zur Gestaltung eines Narrativs, aber sie gibt den Zeitzeugen noch sehr viel mehr Raum für eigene Interpretationen als es heutige Sendungen tun. Die von der ZDF-Redaktion hergestellte „Quintessenz des Dialogs“ zwischen Reichmann und Lamm umfasst mehrere Ebenen, die unterschiedlich behandelt werden: Eine, die Frage der nationalen Zugehörigkeit, wird offen in ihrer schwierigen Komplexität angesprochen, eine andere, die „Betroffenheit“ beider Interviewpartner, wird gar nicht thematisiert und eine dritte, die Frage der Remigration, kommt in der gesendeten Version am Schluss nicht mehr vor. 1. Zur Frage der nationalen Zugehörigkeit brachte Reichmann in dem vorliegenden und in einigen anderen Interviews immer wieder zum Ausdruck, dass ihre 12 Frei, Norbert, Deutsche Lernprozesse. NS-Vergangenheit und Generationenfolge seit 1945, in: ders., 1945 und Wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen, München 2005, S. 23–40. 13 Sabrow, Martin; Frei, Norbert (Hgg.), Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945, Göttingen 2012. 14 Keilbach, Judith, Das Gedächtnis der Nation. Eine Online-Plattform, die Fernsehen ist, in: Andresen, Knud, u.a. (Hgg.), Es gilt das gesprochene Wort. Oral History und Zeitgeschichte heute, Göttingen 2015, S. 181–194. Kantsteiner, Wulf, Macht, Authentizität und die Verlockungen der Normalität, in: Sabrow; Frei, Geburt, S. 320–353.
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Vertreibung aus Deutschland zu einer „komplizierten“ Existenz zwischen den verschiedenen nationalen Gemeinschaften geführt hatte. So wurde ihr die Zugehörigkeit zu Deutschland von den Nationalsozialisten abgesprochen, was sie persönlich verletzte. Denn Eva Reichmann fühlte sich bedingungslos als Deutsche und verteidigte ihre Zugehörigkeit nachdrücklich. So bezog sie sich auch im Interview 1989 ausdrücklich auf einen ihrer 1934 publizierten Artikel mit dem Titel „Vom Sinn deutsch-jüdischen Seins“, den sie im Übrigen 1974 wieder veröffentlichen ließ.15 In diesem Beitrag betonte Reichmann die geistige und kulturelle Integration der deutschen Juden nach der Emanzipation und beantwortete auch die Frage, ob es noch eine deutsch-jüdische Zukunft geben könne, mit einem dreifachen Ja. Das jüdische Ja gründe sich auf der Überzeugung, dass die Diaspora Teil jüdischer Geschichte und Existenz sei, das deutsche Ja enthalte das Bekenntnis zur „Deutschheit unseres Wesens“, während das ethische Ja sich auf die jüdische Religion beziehe, die unabhängig von den Ereignissen der Zeit weiterexistiere. Für die Zukunft hoffte sie, „daß eine Zeit kommen wird, in der das [deutsche] Volk selbst wiederum eine andere Regelung unseres Rechtes in Deutschland fordert“. Diese Zeit sei weder „durch die starre Forderung nach Rückkehr früherer Zustände noch durch die deklamatorische Hervorhebung unseres Deutschtums“ zu erreichen.16 Im Kontext der 1930er-Jahre argumentierte sie damit sowohl gegen die nationaldeutschen Juden17, die sich (zunächst) an die gegebenen politischen Verhältnisse anpassen wollten, als auch gegen eine vollständige Assimilation unter Preisgabe des Jüdischen, und schließlich wandte sie sich auch gegen das Primat einer jüdischen Nationalität als Grundlage des Zionismus. Demgegenüber warb sie für eine positive, selbstbewusste Identifikation mit dem liberalen Judentum. Aber auch die deutsche Kultur und ihr Zugehörigkeitsgefühl zu Deutschland wollte sie sich von niemandem nehmen lassen: „[…] das war noch ein ganz starkes Bekenntnis zu dem Deutsch-Jüdischen. Ich konnte mir etwas anderes gar nicht vorstellen. Ich bin auch heute noch keine Engländerin. Ich meine, ich habe immer noch sehr stark meine deutsche Identität behalten“18, betonte sie ebenfalls 1989. Auch in dem Interview aus dem Jahr 1981 war die Frage nach der Loyalität zentral. Hier bezog sie sich positiv auf die „deutsche Kultur“ und „die deutsche Sprache“, die sie nachhaltig geprägt hatten, verweigerte sich aber zugleich einer offensiv negativen Antwort auf die Frage, ob sie gegenüber dem Staat, der sie vertrieben hatte, noch loyal sei. Eva Reichmann schien sich 1981 nicht mehr als deutsche Staatsangehörige zu sehen, sonst hätte sie darauf hinweisen können, dass es 15 Reichmann, Eva G., „Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck“, in: Funke, Hajo, Die andere Erinnerung. Gespräche mit jüdischen Wissenschaftlern im Exil, Frankfurt am Main 1989, S. 311–335; Reichmann, Eva G., Vom Sinn deutsch-jüdischen Seins, in: C.V.-Zeitung Berlin (31. Mai 1934), wiederabgedruckt in: dies., Größe und Verhängnis deutsch-jüdischer Existenz, Heidelberg 1974, S. 48–62. 16 Reichmann, Sinn, S. 61. 17 Hambrock, Matthias, Die Etablierung der Außenseiter. Der Verband nationaldeutscher Juden 1921–1935, Köln 2003. 18 Reichmann, „Tragt ihn mit Stolz“, S. 320.
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den nationalsozialistischen Verfolgerstaat so nicht mehr gab. Gegenüber der Bundesrepublik hatte sie keine Berührungsangst, dorthin war sie oft gereist, dort hatte sie 1969 das Bundesverdienstkreuz angenommen und sogar eine Erlaubnis der englischen Königin erwirkt, diese Auszeichnung in Großbritannien offiziell tragen zu dürfen.19 Zugleich hatte ihr das erzwungene Exil aber auch neue Einsichten und Möglichkeiten eröffnet. Beruflich hatte sie sich in London eine neue Existenz aufgebaut, in London eine neue Heimat gefunden und die britische Staatsbürgerschaft erhalten. In der Rückschau gesehen sei die Exilzeit, so Reichmann, vielleicht sogar eine „Kompensation“ gewesen für das Unrecht, das ihrer Familie widerfahren sei: „Zwei Völker von innen heraus“ kennenzulernen, habe ihr die Augen für nationale Pathologien geöffnet.20 Und auch erst die Exilzeit habe ihr geholfen, die eigene Verstrickung in den deutschen Nationalismus, etwa ihre nationalistische Begeisterung zu Beginn des Ersten Weltkrieges, kritisch zu reflektieren. Zudem hatte sie schon in den 1930er-Jahren den nationalistischen Grundton des Zionismus kritisiert und eine Staatsgründung auf dieser Grundlage als gefährlich angesehen. Für Reichmann trug der „nationale Gedanke […] eine Eigengesetzlichkeit“ in sich, die „aus der Sphäre der Idee sehr zielbewußt in die Sphäre des machtpolitischen Tageskampfes hineintreibt. Man begibt sich nicht ungestraft einer rein gedanklichen Daseinsform zugunsten einer realen – die Wirklichkeit entledigt sich des lautersten Formungswillen und drängt zu einer ihr gemäßeren, machtund schuldbeladenen Existenz“.21 Damit wandte sich Reichmann gegen jegliche Verabsolutierung des nationalen Prinzips und dies galt für sie auch im Falle Israels: Zwar fühlte sie sich mit dem neuen Staat solidarisch, doch wandte sie sich gegen die Sicht, jüdisches Leben könne nur in Israel überleben und gedeihen. Nicht zuletzt aufgrund der eigenen Biografie verteidigte Reichmann stattdessen die Diaspora als einen wichtigen und notwendigen Teil des Judentums in der Welt.22 Eine weitere Facette der komplizierten Zugehörigkeitsfrage war die Integration als deutsche Exilantin in die britische Gesellschaft, die sich für sie als schwierig erwies, „denn englisch kann man nicht werden“. Englisch hatte sie zwar gut und schnell gelernt, doch fühlte sie sich wie viele Emigranten in der Sprache nicht heimisch. Die deutsche Sprache und Kultur blieben für sie maßgeblich bei der Frage nach der eigenen Zugehörigkeit. Eva Reichmann wählte für sich den Weg, sich der verschiedenen Loyalitäten bewusst zu sein und diese auch zu kommunizieren. Wenn sie immer wieder nach ihrer nationalen Zuordnung gefragt wurde, versuchte sie stets eine umständlich wirkende, ausführliche Beschreibung der einzelnen Komponenten zu geben, mit denen sie ihre hybride Existenz als Exilantin 19 Leo Baeck Institute/Jüdisches Museum Berlin (LBI/JM), Eva Reichmann Collection AR 904/MF 915, Box 4: Brief Buckingham Palace an Eva Reichmann, 11.4.1969. 20 Dieses und die vorangegangenen Zitate: Reichmann, „Tragt ihn mit Stolz“, S. 328. 21 Reichmann, Sinn, S. 56. 22 Reichmann, Eva G., Zwei Mittelpunkte. Juden in Israel – Juden in der Diaspora, in: Grohs, Gerhard (Hg.), Kulturelle Identität im Wandel. Beiträge zum Verhältnis von Bildung, Entwicklung und Religion. Dietrich Goldschmidt zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1980, S. 259–267.
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in Worte zu fassen suchte: „Ich bin eine britische Staatsangehörige jüdischer Tradition, jüdischer Herkunft und bemühe mich, meine nie versagende und nie dahingegangene deutsche Loyalität noch zu bewahren“, so lautete ihre Antwort in dem vorgestellten Interview. Diese Antwort formulierte Hans Lamm um, in „eine große Liebe zum Geburtsland“ und eine „respektvolle Dankbarkeit“ für das Exilland, wodurch er Reichmanns Äußerung eine eigene, eindeutigere Lesart hinzufügte, die ihre Aussage aber nur teilweise traf. Ein anderer Bereich von Zugehörigkeit wurde in dem Interview überhaupt nicht angesprochen: Reichmanns Leben als Frau in männlich geprägten Gesellschaften und Wissenschaften in Deutschland und England. Diese Leerstelle ist allerdings recht typisch für Frauen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihren Weg in Wissenschaft und Öffentlichkeit suchten.23 Eine Thematisierung der Geschlechterordnung (in der Wissenschaft) und ihrer Folgen fand erst im Kontext der zweiten Frauenbewegung seit den 1970er-Jahren statt. Wie viele andere ihrer Generation sprach Eva Reichmann von sich aus nicht öffentlich über ihre Erfahrungen als Frau und in allen publizierten Interviews wurde sie auch nicht dazu befragt. Hierhin zeigte sich vermutlich weniger die ohne Zweifel nicht vorhandene Sensibilität der Interviewer, sondern mehr, dass jüdische Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in der Öffentlichkeit zuerst (und manchmal ausschließlich) als Juden und Jüdinnen wahrgenommen wurden. 2. Hinsichtlich der Ebene der Betroffenheit war der Dialog zwischen Reichmann und Lamm besonders: In dieser Sendung unterhielten sich zwei Zeitzeugen, die zwar ähnliche Erfahrungen gemacht, aber andere Konsequenzen daraus gezogen hatten. Der amerikanisch-deutsche Remigrant befragte eine im Exil lebende ehemalige Deutsche, die Britin geworden war. Damit repräsentierten die Gesprächspartner idealtypisch zwei unterschiedliche lebensgeschichtliche Entscheidungen von überlebenden Juden. Nicht nur Hans Lamm und Eva Reichmann fragten sich nach 1945, ob man einen erneuten Anfang in Deutschland wagen oder lieber dem Land der Täter endgültig den Rücken kehren sollte. Nur knapp vier Prozent der deutsch-jüdischen Emigranten kamen bis Ende der 1950er-Jahre nach Deutschland zurück.24 Selbst Lamm war, wie viele andere Vertriebene auch, erst in einem längeren Reflexions- und Erfahrungsprozess zu seiner Entscheidung gelangt. Dieses Abwägen und Abwarten fand ebenso bei denjenigen statt, die sich letztlich gegen die Rückkehr entschieden, also rund 96 Prozent aller jüdischen Emigranten. Eva Reichmann repräsentierte im Fernsehinterview diese große Gruppe, während der Interviewer, obwohl gleichfalls ein „Betroffener“, aufgrund seiner Position im Hintergrund bleiben musste und so auch keine Gelegenheit hatte, seine eigenen lebensgeschichtlichen Entscheidungen erklärend einzubrin23 Auga, Ulrike, u.a. (Hgg.), Das Geschlecht der Wissenschaften. Zur Geschichte von Akademikerinnen im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main u.a. 2008. 24 Maor, Harry, Über den Wiederaufbau der jüdischen Gemeinden in Deutschland seit 1945, Phil. Diss. Mainz 1961, S. 31–50, hier S. 32. Von den rund 499.000 deutschen Juden im Jahre 1933 wurden ca. 190.000 ermordet, 280.000 konnten auswandern und nur ein kleiner Teil von ca. 20.000 Menschen überlebte in Deutschland.
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gen. Damit reduzierte die Gesprächsanordnung die vielfältigen Möglichkeiten des Interviews. Tatsächlich fand ein Gespräch über das Für und Wider der Remigration nach Deutschland deshalb hier nicht statt – und das obwohl dies ein zentrales innerjüdisches Thema der Nachkriegsjahrzehnte war. 3. Aber nicht nur die Aufgabenteilung der beiden Gesprächspartner schränkte das Interview inhaltlich ein, hinzu kam auch die redaktionelle Entscheidung über den Schnitt der Sendung, die maßgeblich die dritte Ebene des Interviews, die Frage der Remigration, beeinflusste. Auf Lamms Frage, ob sie und ihr Mann einmal erwogen hätten, nach Deutschland zurückzukehren, antwortete sie dezidiert, dass das Wissen um die Ermordung der europäischen Juden und der nicht erfolgte Rückkehrruf der Deutschen sie letztlich daran gehindert hätten. Dieser Passus enthielt eine deutliche Kritik am Verhalten der Deutschen – und wurde nicht gesendet. Dabei wäre diese Bemerkung wichtig gewesen, um die Frage der Zugehörigkeit weiter aufzufächern und zu klären. Reichmann betonte stets, dass sie nicht alle Deutschen verurteilen wollte, dann aber doch feststellen musste, dass es keine kollektive Auseinandersetzung mit der Geschichte und dementsprechend auch kein deutliches Signal an die jüdischen Emigranten zu deren Rückkehr gegeben habe. Auch an diesem Punkt hätte Lamm – im Sinne eines echten Gespräches – erläutern können, warum er für sich zu einer anderen Entscheidung gekommen war; stattdessen fragte er nach der Dankbarkeit der emigrierten Juden gegenüber Großbritannien. Damit umging er die brisante Frage nach der „zweiten Schuld“ der Deutschen nach 1945. In der Sendefassung des Interviews tauchten beide Themen überhaupt nicht mehr auf. Eva Reichmanns Verbleib in London erschien so als natürliche Folge ihrer Auswanderung. Reichmann wurde in der Sendung Zeugen des Jahrhunderts als Jüdin im Exil befragt, die nach 1945 die Auseinandersetzung mit der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft suchte, indem sie diese über die Geschichte der vertriebenen Juden und über die Geschichte des Antisemitismus aufklären wollte.25 Eine Vielzahl von Berichten über ihre Vorträge in Deutschland sowie eine große Anzahl von Rezensionen ihres Buches „Flucht in den Hass“ zeugen davon, dass sie in den 1950er- und 1960er-Jahren in den wissenschaftlichen und bildungspolitischen Zusammenhängen der Bundesrepublik und Westeuropas eine bekannte Figur war.26 Ihr Buch wurde in Westeuropa, Israel und den USA gelesen und galt lange als Standardwerk zur Geschichte des deutschen Antisemitismus.27 Aber schon seit Ende der 1960er-Jahre nahm ihre Prominenz ab, Anfang der 1980er-Jahre war Eva Reichmann nur noch Wenigen ein Begriff. Die Sendung bot ihr noch einmal Gelegenheit, ihre Theorien über den Antisemitismus in Deutschland vor 1933 25 Zum Beispiel Reichmann, Eva G., Die Lage der Juden in der Weimarer Republik, in: Die Reichskristallnacht. Der Antisemitismus in der deutschen Geschichte (Schriftenreihe der Friedrich-Ebert-Stiftung e.V.), Bonn 1959, S. 19–31. 26 LBI/JM, Eva Reichmann Collection AR 904/ MF 915, Box 1, folders 17–23. 27 Vgl. dazu den Überblick von Nonn, Christoph, Antisemitismus, Darmstadt 2008, S. 25–27, der allerdings die Thesen von Reichmann auf eine sogenannte „Realkonfliktthese“ verkürzt und damit den Gegensatz von „objektiver“ und „subjektiver“ Judenfrage, den Reichmann für zentral hält, nicht mehr erwähnt.
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einem breiteren Publikum vorzustellen. Der Zuschnitt des Interviews für die Sendung unterstützte dieses Anliegen, denn ihr Buch wurde gleich am Anfang der Sendung präsentiert, während die komplizierte Frage der nationalen Zugehörigkeit zusammengeschnitten erst im letzten Interviewteil aufkam. In den fast ungekürzt gesendeten Passagen zu ihrem Buch erläuterte Reichmann ihre These, dass es eine „objektive“ und eine „subjektive Judenfrage“ in den europäischen Ländern gegeben habe. Unter einer „objektiven Frage“ verstand sie eine „echte Frage“, d.h. Probleme, die sich aus real vorhandenen Unterschieden zwischen sozialen Gruppen ergäben, z.B. aufgrund von unterschiedlichen Berufsstrukturen. Der Gegensatz dazu sei eine „unechte“, eben „subjektive“ Frage, weil in dieser individuelle „Unlustgefühle“ zum Ausdruck gebracht würden. In einigen Ländern habe die „objektive Frage“ seit dem 19. Jahrhundert keinen Anlass mehr für gesellschaftliche Auseinandersetzungen gegeben – so unter anderem in Deutschland oder Großbritannien –, in anderen hingegen schon, etwa in Polen oder Russland. Für Deutschland insbesondere sei nur die „subjektive Judenfrage“ ausschlaggebend für den Aufstieg des Nationalsozialismus gewesen. Mit dieser Unterscheidung meinte Eva Reichmann als Soziologin und als Zeitzeugin aus eigener Erfahrung erklären zu können, warum der Antisemitismus trotz erheblicher Emanzipations- und Assimilationsfortschritte der deutschen Juden dennoch virulent geblieben war. Gerade als Jüdin war es ihr wichtig, das Vorhandensein einer „objektiven Judenfrage“ nicht zu negieren. Im Interview wird dieser Kontext durch den Hinweis auf die sogenannte Anomalie in der Berufsstruktur der deutschen Juden erläutert. Von zentraler Bedeutung in Reichmanns Analyse ist gleichwohl die „subjektive Judenfrage“ bzw. ihre politische Funktionalisierung. Auf der Suche nach den Ursachen für die starken „Unlustgefühle“ gegen Juden nennt sie neben ökonomischen Gründen, einer zunehmenden Erschütterung religiöser Wertesysteme sowie einem aggressiven Nationalismus (insbesondere in Deutschland) auch die „Schwächung des Gewissens“ als eine kollektive gesellschaftliche Erscheinung in Zeiten der Krise.28 Der Nationalsozialismus habe erfolgreich die Möglichkeiten der Demokratie für eine antirationale, gefühlsbetonte Politik gegen die Demokratie selbst gewandt. Damit verweist Reichmann auf zwei Verantwortliche für den Aufstieg des Nationalsozialismus: die politischen Führer der NS-Bewegung und die „Massen“, die lieber einer gefühlsorientierten Ideologie glaubten, als sich vernunftgeleitet mit Krisenprozessen auseinanderzusetzen. Eva Reichmann ließ somit eine einseitige These von der Verführung der Massen nicht gelten, sondern betonte gerade die Verantwortlichkeit der Menschen, die zur Masse wurden. Dies war eine Argumentation, die ihr im Nachkriegsdeutschland vermutlich nicht nur Freunde bescherte. Reichmanns Ziel war, einen gesellschaftlichen Prozess des Nachdenkens anzuregen, um aus dieser Reflexion zu einer verantwortlichen Haltung gegenüber der Vergangenheit zu gelangen. Allerdings war sie zunächst enttäuscht über die geringe Resonanz auf den Ruf nach Selbstreflexion der Deut-
28 Reichmann, Flucht, S. 94.
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schen nach 1945.29Als Wissenschaftlerin hoffte sie gleichwohl auf die moderne Zeitgeschichte, die politisch und moralisch aufklären und so zu der 1945 ausgebliebenen „geistigen Revolution“ der Deutschen beitragen solle.30 Zugleich war ihr Buch, das sie schon während der Kriegsjahre konzipiert hatte, auch eine Art Rechenschaftsbericht über ihre eigene Erfahrung als Jüdin in Deutschland. Ihre Unterscheidung in „objektive“ und „subjektive Judenfrage“ ermöglichte es ihr persönlich, sich ohne Zorn, aber in Trauer zu erinnern31 und weiter an „deutscher Kultur“ zu erfreuen. Anders als viele Zionisten, die aus ihren Erfahrungen in Deutschland die Lehre zogen, sich zuerst und vorrangig als Juden im nationalen Sinne zu verstehen, zog es Reichmann vor, „komplizierter“ zu denken und sich einer eindeutigen nationalen Identität zu verweigern. Sie verstand das als Gewinn, nicht als Verlust. Literaturhinweise Aschheim, Steven E., Beyond the Border. The German-Jewish Legacy Abroad, Princeton 2007. Brenner, Michael (Hg.), Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart. Politik, Kultur, Gesellschaft, München 2012. Heinsohn, Kirsten; Schüler-Springorum, Stefanie (Hgg.), Deutsch-Jüdische Geschichte als Geschlechtergeschichte. Eine Zwischenbilanz, Göttingen 2006. Lustig, Sandra; Leveson, Ian (Hgg.), Turning the Kaleidoscope. Perspectives on European Jewry, New York 2006. Kauders, Anthony, Unmögliche Heimat. Eine deutsch-jüdische Geschichte der Bundesrepublik, München 2007. Von der Lühe, Irmela; Schildt, Axel; Schüler-Springorum, Stefanie (Hgg.), „Auch in Deutschland waren wir nicht wirklich zu Hause“. Jüdische Remigration nach 1945, Göttingen 2008.
29 Reichmann, Eva, Im Banne von Schuld und Gleichgültigkeit. Vortrag anlässlich der Woche der Brüderlichkeit in Bonn (1960), in: dies., Größe, S. 173–182, hier S. 177. 30 Reichmann, Eva G., The Study of Contemporary History as a Political and Moral Duty, in: Beloff, Max (Hg.), On the Tracks of Tyranny, London 1960, S. 189–200, deutsche Fassung: Zeitgeschichte als politische und moralische Aufgabe, hg. vom Kuratorium für staatsbürgerliche Bildung, Hamburg 1962. Heinsohn, Kirsten, Welche Aufgabe hat die Zeitgeschichte? Antworten von Eva G. Reichmann und Hans Rothfels, in: Brämer, Andreas et al. (Hgg.), Aus den Quellen. Beiträge zur deutsch-jüdischen Geschichte. Festschrift für Ina Lorenz, Hamburg 2005, S. 378–387. 31 Transkript Interview, S. 132.
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Quelle Interview mit Eva G. Reichmann (1981)32 Transkript H. L.:
Wenn man Sie 1930 gefragt hätte, was Sie sind, dann hätten Sie gesagt, eine deutsche Jüdin oder eine jüdische Deutsche, wie es Ihnen gerade eingefallen wäre. Heute 1981 in London, was würden Sie auf die Frage heute antworten, wenn ich Sie fragen würde: Was sind Sie denn? Und ich meine nicht Ihren Beruf, sondern Ihr Selbstverständnis.
Fr. R.:
Also, das ist eine sehr komplizierte Sache. Also eine Deutsche bin ich nicht mehr. Eine Engländerin, im wahren Sinne des Wortes, werde ich nie sein. Denn englisch kann man nicht werden. Man kann Amerikaner werden, aber man kann nicht Engländer werden. Sogar die eingesessenen und eingeborenen Juden in England nennen sich Briten und nicht Engländer. Das ist hier üblich. Man ist gewöhnt hier in Stämmen zu rechnen. So ist der jüdische Stamm eben auch ein Stamm unter anderen, wie die Waliser und die Schotten. Also, ich bin eine Deutsche nicht mehr, eine Engländerin werde ich nie sein. Ich bin eine britische Staatsangehörige jüdischer Tradition, jüdischer Herkunft und bemühe mich, meine nie versagende und nie dahingegangene deutsche Loyalität noch zu bewahren, neben meiner britischen Loyalität, die von meinem ganzen Dank dafür, daß mir England eine Heimat gegeben hat, als Deutschland mir die Heimat zu nehmen begann, …
H. L.:
Was heißt Loyalität, liebe Frau Dr. Reichmann? Sind Sie dem Staat loyal, der Sie ja zur Emigration zwang?
Fr. R.:
Ich bin der deutschen Kultur und der deutschen Sprache loyal. Und auch zum Teil meinen deutschen Landsleuten. Nämlich denen, die sich bewährt haben, und es gab eine große Menge von ihnen. Ich fühle mich nicht unter Fremden, wenn ich nach Deutschland komme.
H. L.:
Fühlen Sie sich unter Fremden in London?
Fr. R.:
Nein. Aber ich möchte doch sagen, daß Englisch, wenn ich es auch in der Zeit meines Hierseins erlernt habe, nicht meine Muttersprache ist.
H. L.:
Und Sie schreiben ja auch Englisch.
32 Transkript-Interview mit Eva G. Reichmann, 4.–6.2.1981, ZDF-Archiv Nr. 0012521501, Produktions-Nr. 6351/0827, S. 29–33 und S. 40–46. Teilweise gesendet als: „Zeugen des Jahrhunderts. Eva G. Reichmann im Gespräch mit Hans Lamm“ 8.2.1982. Die Interviewpassagen, die nicht gesendet wurden, sind kursiv formatiert. Stellen, die offensichtlich im Transkript falsch wiedergegeben waren, wurden korrigiert. Ein längerer Quellenauszug ist online erschienenen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .
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Fr. R.:
Ja. Es ist aber nicht meine Muttersprache geworden. Und eine Muttersprache kann man nur einmal haben. Eine Heimat kann man nur einmal haben. Ich habe geglaubt, ich habe eine Heimat, als ich in Deutschland lebte. Es war vielleicht eine Illusion, vielleicht auch keine.
H. L:
Die Deutschen haben nach dem Zweiten Weltkrieg die Juden, die emigriert sind oder die politischen Auswanderer, nicht aufgefordert zurückzukehren. Vielleicht hatten sie andere Sorgen, vielleicht waren sie froh, daß sie sie draußen hatten. Der Ruf kam ganz spät erst im Zusammenhang der Wiedergutmachung und so weiter. Wenn aber, vielleicht darf ich diese hypothetische Frage stellen, ein deutscher Staatsmann, ein deutscher Publizist oder eine deutsche Öffentlichkeit im Jahr 46 an die Emigranten, die politischen, die rassischen und die religiösen, unter ihnen die Juden, den Ruf hätten ergehen lassen: Kommt zurück. Es war ein Unrecht, euch zur Auswanderung zu zwingen. Wir haben zwar nichts zu bieten an materiellen Gütern. Wir sind arm und ausgebombt. Wir hungern, aber wir wollen, daß ihr zurückkehrt. – Wie hätten Sie reagiert?
Fr. R.:
Ein solcher Ruf hätte uns nachdenklich gemacht. Denn während des Krieges haben wir oft, mein Mann und ich, davon gesprochen, daß wir wohl nach dem Kriege zurückkehren würden. Wir haben oft daran gedacht und erst als das große Grauen in seiner Furchtbarkeit, in seiner unglaublichen Furchtbarkeit auf uns herniederkam, da haben wir uns klargemacht, daß wir in dieses Land nicht mehr zurückgehen könnten.
H. L.:
Nicht mehr zurücksiedeln würden?
Fr. R.:
Nicht mehr zurückgehen können aus innerem Widerstand.
H. L.:
Sie halten [sic!] auch den Ruf, nicht zu reagieren. Denn der Ruf erging nicht.
Fr. R.:
Der Ruf erging nicht. Und das war mit einer der Gründe, die uns dazu bestimmten, auf jeden Fall hier zu bleiben. […]
H. L.:
Darf Ich vielleicht Ihre eigene Haltung charakterisieren als eine große Liebe zum Geburtsland Deutschland, eine vielleicht unerwiderte oder eine partiell erwiderte, aber eine respektvolle Dankbarkeit für das, was Sie England nennen.
Fr. R.:
Das ist wunderschön gesagt. Ich danke Ihnen. [S. 29–33, Film 43.47– 46.30 min.]
H. L.:
Nun, steigen wir mal […] in den Inhalt Ihres Buches ein. „Flucht in den Haß“ stellt verschiedene Thesen auf und ganz am Anfang sprechen Sie, die Sie ja von Hause aus Soziologin waren und es auch heute noch sind, Sie sprechen davon, daß Sie sich bemühen, das Phänomen des AntiSemitismus der Vor-Hitler-Zeit und der Hitler-Zeit zu verstehen. Wobei Sie gleich in Abwandlung eines Wortes der Madame [de Staël] sagen, daß Verstehen nicht Vergebung heißt. Sie schrieben das Buch, während die Greuel […] gegen die Juden tobten…
Fr. R.:
… aber noch nicht bekannt waren.
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H. L.:
… die Greuel gegen die Juden vollzogen wurden, aber noch nicht voll bekannt waren und als das Buch zum Druck ging, da ahnten oder wußten Sie schon den vollen Schrecken. […]
Fr. R.:
[…] Ich wollte mir Rechenschaft darüber ablegen, wie das in dem Lande, das ich als meine Heimat gekannt und geliebt hatte, und geschätzt und verehrt hatte, wie das in meinem Lande zustande kommen konnte. Darüber wollte ich mir Rechenschaft ablegen und daraus ist das Buch entstanden, und so mußte ich also vollkommen objektiv zu sein versuchen und ich glaube, das ist mir gelungen.
H. L.:
Sie sprechen von der deutschen Judenfrage. Würden Sie uns klar machen, worin sich die deutsche Judenfrage wesensmäßig von der Judenfrage in anderen Ländern, in Rußland, in Polen, in Frankreich, in England, den Vereinigten Staaten unterschieden hat, und wie Sie die Judenfrage – ich erinnere mich, Sie sprechen von einer objektiven und subjektiven Judenfrage –, wie Sie die Entwicklung und die Eigenart der Judenfrage in Deutschland gesehen haben?
Fr. R.:
Tatsächlich besteht eine Judenfrage, wo immer Juden leben. Aber sie sieht in jeder Gemeinschaft anders aus. Sie sah selbstverständlich in Osteuropa, wo es jüdische Massensiedlungen gab, mit fremdem Recht, mit fremder Sprache, mit fremder Tracht sozusagen, sah sie vollkommen anders aus als in Deutschland und in Deutschland wiederum anders als etwa in Italien, wo es nur eine winzig kleine Minderheit gab. Sie sah überall anders aus. […] Die deutschen Juden waren eine deutlich sichtbare Minderheitengruppe innerhalb der Mehrheit des deutschen Volkes. Sie gehörten bedingungslos ihrem Bewußtsein nach zu Deutschland. […] Und sie waren trotzdem noch als eine Minderheitengruppe sichtbar. Das lag an der Kürze der Zeit, die sie seit ihrer vollen Emanzipation zurückgelegt hatten. Das Ganze der Emanzipation ist ja nicht eine Tatsache, sondern ein Prozess. Sie waren eigentlich erst im Jahr 1918 zu voller Emanzipation gekommen. Bis dahin gab es immer noch gewisse Beschränkungen trotz legaler Gleichberechtigung. […]
H. L.:
Können wir, wenn ich Sie unterbrechen darf, versuchen, diese objektive Judenfrage zu illustrieren am Erlebnis Ihrer eigenen Jugend? Sie sind aufgewachsen in einem kleinen Städtchen im damaligen Oberschlesien, in Oppeln. Und ich glaube zu wissen, daß unter den Rechtsanwälten dieser Stadt nach dem Ersten Weltkrieg etwa ein Drittel Juden waren, obwohl die jüdische Bevölkerung einen wesentlich geringeren Prozentsatz der Gesamtbevölkerung darstellte. Würden Sie das als ein Symptom dessen, was Sie objektive Judenfrage nennen, bezeichnen?
Fr. R.:
Ja. Das würde ich. Und zwar, weil ja diese Schichtung typisch für die allgemeine Berufssituation der Juden in ganz Deutschland [war]. Ich kann von unserem kleinen Städtchen ausgehen, aber es war überall mindestens so, wenn nicht noch deutlicher sichtbar. Der Drang der Juden in die akademischen Berufe konnte sie noch nicht in die Beamtenlaufbahn führen, konnte sie noch kaum an die Hochschulen führen, wo ihnen die ordentlichen Professuren noch verschlossen blieben. Deswegen wurden
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sie zusammengedrängt unter den freien Berufen innerhalb der akademischen Berufe, zum Beispiel dem Anwaltsberuf und dem Ärzteberuf. Das war eines der Zeichen der Anomalie unserer jüdischen Gruppe innerhalb der gesamtdeutschen Mehrheit. H. L.:
Sie würden also, wenn ich Sie recht verstehe, diese objektive Judenfrage als ein soziologisches Faktum wertfrei hinstellen?
Fr. R.:
Ganz richtig.
H. L.:
Gut. Wollen mir mal versuchen zu illustrieren, was Sie subjektive Judenfrage nennen. Ich erinnere mich, zum Beispiel, daß, ich glaube, im Jahr der Nürnberger Gesetze 1935, Julius Streicher eine Sondernummer seiner berüchtigten Zeitschrift „Der Stürmer“ herausgebracht hat, eine Ritualmord-Nummer. Nun, Sie und ich wissen, daß es Ritualmorde nie gab. Würden Sie jenen krankhaften Haß, der sich im Mittelalter und dann in unserem Jahrhundert wieder mit solchen Falschbeschuldigungen verknüpft hat, würden Sie das als Ausgeburt der subjektiven Judenfrage bezeichnen?
Fr. R.:
Ja. Allerdings haben Sie nun einen ganz besonders prominenten Vertreter dieser sogenannten subjektiven Judenfrage gewählt. Ich habe sie ja mehr auf die Volksmenge angewandt, in der an sich von der Sonderstellung der jüdischen Gruppe, von der also noch eine Art von Problematik ausging, die ist ja kaum empfunden worden, die wurde erst…
H. L.:
… Verzeihung, von wem nicht empfunden? Von den Juden oder den Nichtjuden?
Fr. R.:
… von den Nichtjuden kaum empfunden worden. Sie wurden erst zu einer psychologischen, massenpsychologischen Macht, als sie unter den Geißelhieben der nationalsozialistischen Propanganda den Menschen ins Bewußtsein, und zwar in ein falsches Bewußtsein umgefälscht worden war. Man führte damals nun einfach alles, was schlecht war im Lande, worunter die Menschen litten – Arbeitslosigkeit, Inflation und so weiter, politische Verbrechen – das wurde alles den Juden in die Schuhe geschoben, und das ist es, was mit der ursprünglichen, relativ schwachen Gruppenspannung, die ich aber der Wahrhaftigkeit wegen nicht vernachlässigen wollte, was mit der im Grunde genommen gar nicht mehr zusammenhing, sondern was nur noch künstlich in sie hineingelenkt wurde. [S. 40–46, 2.54–13.01 min.]
A WORKING DAY THAT HAS NO END THE DOUBLE BURDEN IN SOCIALIST YUGOSLAVIA1 Chiara Bonfiglioli The film Od 3 do 22 [From 3 am to 10 pm] was made by Croatian director Krešimir Golik in 1966, and is considered a classic of documentary film in the former Yugoslav region.2 The 1960s were a time of intellectual opening in Yugoslavia, and a new movement of film authors, known as the Yugoslav Black Wave, started to explore everyday societal problems and marginal subjects. The film portrays a day in the life of Smilja Glavaš, a 22 years old female factory worker, married with a small child, who lives in a suburb of Zagreb and is employed in the Pobjeda [Victory] textile factory in the city. The movie is an excellent historical source for understanding women’s difficulties in combining productive and reproductive labour in socialist Yugoslavia, as well as serving as a general example of a working woman’s double burden inside and outside the home. The black and white movie, which lasts 13:42 minutes, follows the protagonist in her daily activities. The young worker wakes up at 3 am, lightens up the wooden stove, and prepares a breakfast of hot milk and bread for her husband and baby boy, who she feeds while she eats. She and her husband then leave the home to work, while the toddler remains in his bed, locked inside the little wooden house. After crossing the muddy road that leads to the house, Smilja proceeds to her work by bus, while her husband goes to work on his bike. At around 5 am, she then switches to another tram to reach her destination, and rapidly does some grocery shopping at the local market before entering the factory. At 6 am, she starts her shift within the factory, where she works deftly at the spinning machines. The film director follows her while she works, and while, sitting alone and looking pensive, she has a break, during which she eats again some bread and milk. At 2 pm, when her shift ends, she briskly walks back towards the tram stop, buying a loaf of fresh bread on the way. She barely manages to get into the overcrowded tram on the way home. She finally returns to her house a bit later than 3pm, where she immediately takes care of her child and starts cooking lunch (in socialist Yugoslavia, the main meal was consumed in the early afternoon upon return from work). Her husband then comes back from work and they have their meal. The woman first feeds her child and then eats her soup afterwards. Her husband briefly 1 2
Essay relates to source: Krešimir Golik: Od 3 do 22 [From 3 am to 10 pm] (1966). The essay is published online in the web portal “Themenportal Europäische Geschichte”, URL: . Golik, Krešimir, Od 3 do 22 [From 3 am to 10 pm] (1966). The film is available online, URL: (18.10.2017).
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plays with the child and then has a nap, while the wife fetches water at a water pump, does the dishes, scrubs the floor and washes clothing by hand, trying to keep her toddler away from the water. The husband then wakes up and goes out, probably to see some friends, while the protagonist continues her household chores and childcare. Smilja even finds the time to mend some clothes and to iron them, as well as for writing down the daily expenses, until she goes to sleep at 10 pm. Presumably in order to emphasize feelings of alienation, throughout the movie there is no dialogue or human interaction between the protagonist and her husband or colleagues. What we hear are ambient sounds (the noise of the city and of spinning machines), as well as few words and sounds pronounced by the little toddler. When viewing this documentary during a class on women’s lives in socialist Yugoslavia at the University of Pula, Croatia, students were most struck by the living conditions of the time, namely the absence of running water and of domestic appliances in the house. They were also impressed by the fact that the protagonist left her child unattended at home while at work. This practice, in fact, was not uncommon at the time among women working in garment factories, who were often migrants from the countryside to the city, or from the less developed Yugoslav republic to the more industrialised ones, and thus had no opportunity to rely on other female family members for domestic help (the protagonist’s surname, indeed, seems to suggest that she was originally from Hercegovina, hence a migrant to the city of Zagreb). This problem was present also within the factory where she worked. According to its internal magazine, the Pobjeda factory employed at the time around 1,700 workers, of which 1,100 were women. The problem of female workers leaving children unattended was recognised and openly discussed. A report of women’s political association within the factory, the aktiv žena, discussed the results of an inquiry which showed that “only a small number of children of employed women is cared for in a nursery or kindergarten, and that the majority of children are left at home alone or are left to the neighbours”.3 The organisation recommended to the factory management to open a nursery and a kindergarten, in collaboration with local authorities. That would have also allowed women, they argued, to avoid taking sick leave from work, as 80 per cent of sick leave was due to childcare reasons.4 The example of the Pobjeda factory workers, and of Smilja Glavaš’ working day, is not an isolated case in socialist Yugoslavia, but rather stands as a paradigm of women’s double burden during the process of industrialisation and urbanisation that the country underwent since the post-war era. Socialist authorities, in fact, saw women’s inclusion in the labour force as the main path towards women’s 3
4
An incomplete collection of the Pobjeda factory magazines from the 1960s can be found at the National and University Library in Zagreb. Pobjeda: List radnog kolektiva tekstilne industrije “Pobjeda” Zagreb, signatura 211.325. The quote is from the Pobjeda factory magazine from April 1965, p. 5, article “Uključiti neaktivne” [Including women who are not politically active]. Ibidem.
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emancipation, in accordance with Marxist theory. For the first time, the 1946 Yugoslav Constitution had recognized women’s equal role as citizens and workers, and their right to equal pay. At the same time, after the model of the Soviet Constitution of 1936, it also recognized women’s difference as mothers, and their entitlement to increased social rights when combining paid work and domestic work. Article 24 stated in fact: “Women have the right to the same pay as that received by men for the same work, and as workers or employees they enjoy special protection. The state especially protects the interests of mothers and children by the establishment of maternity hospitals, children’s homes and day nurseries and by the right of mothers to a leave with pay before and after childbirth”. The socialisation of domestic work and social reproduction was another tenet of Marxist theory, and the idea of “social motherhood” was engrained in the Soviet model adopted by socialist countries in the post-war era. Even after its break with the Soviet Union in 1948, Yugoslav authorities did not substantially change their gender politics, based on the so-called “working mother” gender contract.5 Employed women, however, never reached more than 30–36 per cent of the active female population during the socialist era, so that employment rates in Yugoslavia were more similar to Southern Europe than to other Eastern European socialist regimes. Women were mainly employed as unskilled workers or in “feminized”, low-paid professions, such as agriculture, education, social services, and in labour intensive branches such as the textile industry.6 Similarly to socialist elites in other countries, Yugoslav authorities did put in place a number of welfare services within factories, such as workers’ canteens, health clinics, factory housing and holiday facilities on the coast. Female workers could benefit from longer maternity leaves and shorter working hours, and could sometimes access childcare facilities in the factory. Due to the underdeveloped state of the economy, however, welfare services such as health clinics and kindergartens could not keep up with the fast pace of industrialisation, especially in smaller towns and villages. One of the main reasons was that such services depended on the resources and decisions put in place by the factory management and by local authorities, as the Yugoslav system became highly decentralised after the break with the Soviet Union. Decentralisation and the subsequent openness of the economy to the world market reinforced the economic differences that existed between the different regions that composed the multi-ethnic Yugoslav federation, as well as between rural and urban areas. There was no centralised, federal regulation about the extent to which such social services should be provided at different levels, which meant that women’s access to welfare services was highly uneven, 5 6
For a similar set-up of women’s equality and difference in socialist Eastern Europe, see Malgorzata Fidelis, Malgorzata, Women, Communism, and Industrialization in Postwar Poland, Cambridge, New York 2010. Woodward, Susan L, The Rights of Women: Ideology, Policy and Social Change in Yugoslavia, in Wolchik, Sharon L; Mayer, Alfred G. (eds.), Women, State and Party in Eastern Europe, Durham 1985; Mežnarić, Silva, Theory and Reality: The Status of Employed Women in Yugoslavia, in Wolchik, Sharon L; Mayer, Alfred G. (eds.), Women, State and Party in Eastern Europe, Durham 1985.
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and that women’s paid and unpaid labour was providing a buffer to socialist industrialisation and economic growth. As the film demonstrates, women had to take care of domestic chores and of childrearing, and this largely went unquestioned. The traditional gendered division of care work within the family was never challenged in a systematic way by socialist politics. This has often led feminist scholars to observe that socialism did not liberate women, despite its promise to do so. Various academic and feminist debates have engaged with the concept of “state patriarchy” during socialism, in Yugoslavia and elsewhere.7 In fact, such debates often treat the Yugoslav state as a single, homogenous entity, and end up representing women as victims of the patriarchal socialist state, thus denying their agency.8 These narratives, in my view, do not do justice to the complexity of women’s experiences in socialist Yugoslavia, nor to the continuities and discontinuities that emerged when it comes to gender relations. Post-war transformations of gender relations, in fact, were not only an ideological matter, but were greatly connected to pre-existing social, cultural and economic relations, as well as to class divisions. The Yugoslav socialist regime was established in what was largely a rural society, with only the main cities presenting a bourgeois upper and middle class. The immense destruction and human losses caused by World War Two and the new class politics introduced by the Yugoslav Communist Party created mass movements of the population and forged new social relations. Many working class and peasant women could access education and labour for the very first time and exercise social mobility, escaping absolute poverty in the countryside through internal migration and employment. New elites also emerged, largely from the political cadres formed during the antifascist Resistance, mostly educated urban pre-war activists, including women. Political repression also played a role in post-war society, affecting different types of so-called “enemies of the state” (from landowners to former collaborationists, to former partisans who allegedly sided with Stalin after the break with the Soviet Union). Women’s position in socialist Yugoslavia, therefore, was not only determined by their subordinated gender status, but also, greatly, by their urban or rural origin, their education, their ethnicity (which often played a role in wartime expe7
8
See notably the two Forums published on the journal Aspasia, The International Yearbook of Central, Eastern, and Southeastern European Women’s and Gender History: Is ‘Communist Feminism’ a Contradictio in Terminis? 1 (2007); Ten Years After: Communism and Feminism Revisited 10 (2016). See also the Forum Gendering the Cold War in the Region: An Email Conversation between Malgorzata (Gosia) Fidelis, Renata Jambrešić Kirin, Jill Massino, and Libora Oates Indruchova, in: Aspasia 8 (2014), pp. 162–190. Specifically on women’s activism and women’s agency during state socialism, see Funk, Nanette, A very tangled knot: Official state socialist women’s organisations, women’s agency and feminism in Eastern European state socialism, in: European Journal of Women’s Studies 21 (2014), No. 4, pp. 344–360; Ghodsee, Kristen, Untangling the knot: a response to Nanette Funk, in: European Journal of Women’s Studies 22 (2015), No. 2, pp. 248–252; Bonfiglioli, Chiara, On Vida Tomšič, Marxist Feminism, and Agency, in: Aspasia 10 (2016), pp. 145– 151.
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riences of persecution), their political orientation and their social class. These intersecting factors influenced women’s consumption practices and their standard of living, for instance when it came to washing laundry by hand or possessing a washing machine, as in the case of the protagonist of Golik’s movie.9 Women’s different social positionings in socialist Yugoslavia were very visible when it came to the politics of the official women’s organisations connected to the Communist Party, namely: the Antifascist Women’s Front (AFŽ), which existed from 1942 to 1953, the Union of Women’s Societies (SDŽ), existing from 1953 to 1961, and the Conference for the Social Activity of Women (KDAŽ), which lasted from 1961 until the end of the socialist system. The federal and republican leaders of such organisations, in fact, were a minority of urban, highly educated politicians who had been engaged as communist activists in the interwar period as well as partisans in the Resistance. They radically differed from the majority of middle-age peasant women who had joined in the Antifascist Women’s Front, or from the peasant youth who had embraced the partisan struggle as couriers, fighters and nurses for the army (official statistics stated that at least 100,000 women had joined the partisan ranks during the war, and that two million women were part of the AFŽ by the end of the conflict).10 In the immediate post-war period, the AFŽ mainly dealt with the inclusion of women within newly created economic and state institutions, and organized a wide range of literacy courses, health trainings and welfare services for women and children in order to curb illiteracy and infant mortality, particularly in the countryside.11 The reconstruction of the country and the raise in living standards was the priority for female political leaders such as Slovenian lawyer Vida Tomšič, who saw the improvement of women’s condition as inextricably linked to the improvement of the general social standards across the country.12 Women were thus encouraged to take part in production, partly out of economic need, and partly due to ideological reasons, since women’s inclusion within the labour force was seen as the first factor of emancipation. In 1953, with the process of decentralisation, the centralized pyramidal organisation of the AFŽ was abolished and replaced with the Union of Women’s Societies (SDŽ) and women were encouraged to take an active part in different societies, or aktivi, and to engage in the 9
On gender and consumption during socialism, see Sitar, Polona, The Right Step towards a Woman’s Satisfaction?: Washing Machine as a New Piece of Technology and the Construction of the Role of Women as Housewives in Socialist Slovenia, in: Narodna Umjetnost 52 (2015), No. 1, pp. 143–171. 10 Jancar-Webster, Barbara. Women & Revolution in Yugoslavia, 1941–1945, Denver 1990. 11 To get a sense of the degree of poverty and backward living standards that was affecting peasant women in 1950s Yugoslavia, I recommend the diary of Ratka Borojević, a former partisan who founded a weaving cooperative among peasant women in the underdeveloped village of Dragačevo, Serbia. Borojević, Rajka, Iz Dubca u svet, Belgrade 2006 (first edition 1964). See also Herbst, Natalja, Women in Socialist Yugoslavia in the 1950s. The Example of Rajka Borojević and the Dragačevo Women’s Cooperative, in: Kersten-Pejanić, Roswita; Rajilić, Simone; Voß, Christian (eds.), Doing Gender-Doing the Balkans, Berlin 2012. 12 Bonfiglioli, Chiara, Women’s Political and Social Activism in the Early Cold War Era: The Case of Yugoslavia, in: Aspasia 8 (2014), pp. 1–25.
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resolution of various everyday issues within their factory or municipality. This corresponded to the new orientation of socialist elites, who saw workers’ selfmanagement as the “national way to socialism” chosen by Yugoslavia, as opposed to Soviet hegemony over the rest of the socialist bloc. In this new ideological orientation, the League of Communists was supposed to “inspire and educate the masses so that they will know how to lead their own government, their own factories, and their own social organs and organisations.”13 The end of the AFŽ in 1953 has often been read by feminist scholars as the end of women’s autonomous organizing in Yugoslavia, and as the confirmation of state patriarchy.14 This “instrumentalist” view of socialist gender politics and of Yugoslav self-management is fundamentally ahistorical, as it reads the post-war socialist context with the theoretical and epistemological presuppositions of second wave feminist theory. What is clear, instead, from archival sources of different kind (from AFŽ local records to factory magazines), is that women’s position as mothers and caretakers in the family was at the time normalized at all levels of society in socialist Yugoslavia, and was very rarely questioned (the same can be told for Western European countries at the time, whose families were based on the breadwinner-housewife model). Yet, there were different degrees of naturalisation and different ideas over what constituted the “modern family”. Namely, socialist authorities and female politicians saw women’s independence and double earning households – or, in other words, the ideal of the urban, “modern” mononuclear family – as preferable to women’s dependent status in the peasant extended family, and modelled their social and economic politics accordingly. Socialist legislation promoted women’s access to schooling, work, as well as to divorce, abortion and contraception. Working mothers who were not married or widows were recognized as full members of society, and children born out of the wedlock had the same rights as children of married parents. This represented a step forward, particularly for working class and peasant women who could study and work outside the home for the first time. As in the case of Smilja Glavaš, however, women’s domestic tasks were fundamentally individualized and privatized, and each woman had to find her own solution to everyday needs, also accordingly to the welfare services offered in her firm and in her municipality. This does not mean that the issue of working women’s double burden was not openly discussed and examined in socialist Yugoslavia. From official women's organisations to factory magazines, it was widely acknowledged that women’s entry into the labour market had put enormous pressure on female workers when it came to combining work outside the home and domestic work. When interviewed within textile factory magazines, female garment workers expressed their pride for their affiliation to the working collective, and their sense of belonging to 13 Communist leader Edvard Kardelj, quoted in Lilly, Carol, Power and Persuasion: Ideology and Rhetoric in Communist Yugoslavia, 1944–1953, Boulder 2001, p. 211. 14 For an overview of the debates, see Tesija, Jelena, The End of the AFŽ – The End of Meaningful Women's Activism? Rethinking the History of Women’s Organizations in Croatia, 1953–1961, MA dissertation in Gender Studies, CEU Budapest 2014.
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the factory (this community aspect is completely missing in the film – perhaps out of stylistic concerns). Female workers, however, also complained about their double burden openly and matter-of-factly (one interviewee even stated, “today a woman is considered complete if she can be at the same time mother, housewife and worker”).15 Husbands were rarely mentioned when performing unspecified “male tasks” or could be even defined as the “third child” in the house by their wife. Most female workers expressed the wish of not having to work during the night shift, since they were not able to rest the next day due to domestic chores, or had nowhere to place the children at night. Often, local women’s associations recommended that the factory take further measures to help working mothers, for instance by reducing night shifts or by opening a nursery, as in the case of the Pobjeda factory in Zagreb. Overall, therefore, the double burden was the object of public recognition, but at the same time it was also normalised in popular culture, with women being hailed as resilient and hard-working outside and inside the home. It is only with the emergence of second wave feminist groups that socialist politics of emancipation, and the Marxist approach to the “women’s question” started to be contested. A new generation of young, highly educated women made evident the gap between advanced legal provisions and everyday reality, emphasizing that socialist politics had failed to transform the private sphere. In the document introducing the first international feminist conference held in Yugoslavia, and significantly titled Comrade Woman, The Women's Question: A New Approach? (1978), the organisers stated in fact that “in the socialist societies, even though many things have been achieved, there is a whole series of open questions concerning the position of women, the family, marriage, social relations between the sexes and their still present inequality. The family, women and everything concerning the relation between sexes is still under the pressure of bourgeois morality, patriarchal tradition, religion and various social taboos and (new and old) habits. Such a traditional consciousness represents an anachronism and is not in accord with the [progressive] tendencies of self-managing society.” Throughout the 1970s and 1980s, feminist scholars in Yugoslavia started to discuss issues such as women’s alienation within the family, domestic violence and marital rape, in dialogue with Western European radical feminism and Marxist feminism16 Since then, feminist epistemology completely transformed the way of discussing productive and reproductive labour, and of rethinking social reproduction across Europe. Women’s unpaid work gained visibility among feminist scholars, and was recognised as a pillar of the gendered division of labour on a global scale. As Adrienne Rich wrote: “Across the curve of the earth, there are women getting up 15 Vuteks factory magazine, complete collection available at the National and University Library in Zagreb. The quote is from number 154, 1974. 16 Bonfiglioli, Chiara (forthcoming), Feminist translations in a socialist context: The case of Yugoslavia, in: Gender & History. See also Bonfiglioli Chiara, Belgrade, 1978. Remembering the conference “Drugarica Žena. Žensko Pitanje – Novi Pristup?” / “Comrade Woman. The Women’s Question: A New Approach?” thirty years after, MA dissertation, Utrecht University 2008.
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before dawn, in the blackness before the point of light, in the twilight before sunrise; there are women rising earlier than men and children to break the ice, to start the stove, to put up the pap, the coffee, the rice, to iron the pants, to braid the hair, to pull the day’s water from the well, to boil water for tea, to wash children for school, to pull the vegetables and start the walk to the market, to run to catch the bus for the work that is paid. I don’t know when most women sleep.”17 Many historical and geopolitical changes have occurred in Europe since Adrienne Rich wrote this passage thirty years ago. Care work and affective labour, however, largely remains privatised and devalued (be it waged or unwaged). Women are mainly the ones in charge of domestic labour, even if new generations of men have started taking responsibility in social reproduction in a minority of cases. Gender relations, moreover, are intersecting with factors such as class and ethnicity in determining the redistribution of care work. In the post-Yugoslav region, most working class women lost their jobs as a result of the factory closures and post-socialist privatisations that followed the Yugoslav wars of the 1990s.18 Many of them joined the ranks of paid care workers in Western Europe, together with migrant women from the global South and from the other post-socialist states of Eastern Europe. Women’s work of social reproduction continues to be essential, and yet it is largely invisible. That is why, fifty years from its making, a movie like Od 3 do 22 still resonates with women’s experiences in the post-Yugoslav space and in other contexts, and serves as a productive tool for discussions in the field of feminist and gender history. Bibliography Bonfiglioli, Chiara; Kahlina, Katja; Zaharijević, Adriana, Introduction, “Transformations of gender, sexuality and citizenship in South East Europe”, Special issue of Women’s Studies International Forum 49 (2015). Dijanić, Dijana et al., Ženski biografski leksikon. Sjećanje žena na život u socijalizmu [Women’s biographical lexicon. Women’s memories of life during socialism], Centar za ženske studije, Zagreb 2004. Jambrešić Kirin Renata; Blagaić Marina, The Ambivalence of Socialist Working Women’s Heritage: a Case Study of the Jugoplastika Factory, in: Narodna Umjetnost 50 (2013), No. 1, pp. 40–73. Herbst, Natalja, Women in Socialist Yugoslavia in the 1950s. The Example of Rajka Borojević and the Dragačevo Women’s Cooperative, in Kersten-Pejanić, Roswita; Rajilić, Simone; Voß, Christian (eds.), Doing Gender-Doing the Balkans, Berlin 2012. Vodopivec, Nina, Textile Workers in Slovenia: From Nimble Fingers to Tired Bodies, in: Anthropology of East Europe Review 28 (2010), No. 1, pp. 165–183.
17 Rich, Adrienne, Notes toward a Politics of Location, in: idem (ed.), Blood, Bread and Poetry, London 1986, p. 229. 18 Bonfiglioli, Chiara, Gendered citizenship in the global European periphery: Textile workers in post-Yugoslav states, in: Women’s Studies International Forum 49 (2015), pp 57–65.
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Soource Film m stills from “Od 3 do 222” directed by Krešimirr Golik in 1996619
199 Courtesy of Croatian State Archivves, Zbirka fotografija hrvatskog h film ma, HR-HD DA1392.
ARBEITERINNENSELBSTVERWALTUNG? NORMALITÄT UND AUFBRUCH IM ARBEITSALLTAG DER BELEGSCHAFTSEIGENEN GLASHÜTTE SÜßMUTH1 Christiane Mende Im März 1970 übernahm zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik eine Belegschaft ihren Betrieb in eigene Verantwortung.2 Angesichts des drohenden Verlusts ihrer Arbeitsplätze fanden die Beschäftigten damit eine kollektive Antwort, wie sie im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts auch in anderen Industriegesellschaften Westeuropas, allen voran in Italien, Spanien und Frankreich, zu beobachten war.3 Die nun beginnende Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth in der nordhessischen Kleinstadt Immenhausen wurde zum Politikum. Während sozial-liberale Kreise von einem „in die Zukunft weisende[m] Modell“ erweiterter Mitbestimmung sprachen, so mancher Unternehmer darin erste Anzeichen einer „sozialistischen Machtergreifung“ befürchtete, begrüßten andere hingegen die „rote Hütte“.4 So unterschiedlich die politischen Deutungen dieses Ereignisses ausfielen, so einig waren sie sich jedoch in einem Punkt: Es waren die Arbeiter, nicht die Arbeiterinnen, die hier als Akteure im Fokus standen. Die erfolgreiche Betriebsübernahme nach monatelangen Auseinandersetzungen mit dem alten Eigentümer und Glaskünstler Richard Süßmuth sowie die vielfältigen, zunehmend radikaleren Proteste im Vorfeld wurden in der Berichterstattung auf eine Gruppe ausschließlich männlicher Facharbeiter zurückgeführt. Und tatsächlich waren es 1
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Essay zur Quelle: Über Arbeit und Politik in der Re/Produktion. Die Arbeiterinnen der selbstverwalteten Glashütte Süßmuth im Gespräch mit Erasmus Schöfer (2. September 1973). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Die Geschichte der Selbstverwaltung in der Glashütte Süßmuth steht im Zentrum meiner Dissertation im Rahmen des Forschungsprojekts „Moralische Ökonomie? Selbstverwaltete Industrieunternehmen Westeuropas in den 1970er und 1980er Jahren“ am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, vgl. URL: (18.10.2017). Für Hinweise beim Schreiben des Artikels danke ich Anne Sudrow, Sarah Graber Majchrzak sowie den Herausgeberinnen des Sammelbandes. Vgl. Fabian, Franz, Arbeiter übernehmen ihren Betrieb, Reinbek 1972; Literarische Verarbeitung der Belegschaftsübernahme, in: Schöfer, Erasmus, Zwielicht, Band 2 der Romantetralogie „Die Kinder des Sisyfos“, Berlin 2011. Paton, Rob, Reluctant Entrepreneurs. The Extent, Achievements and Significance of Worker Takeovers in Europe, Milton Keynes 1989. Manuskript „Eigentum verpflichtet“ von Ulrich Happel und Peter Merseburger, Sendebeitrag für „Panorama“ (ARD), ausgestrahlt am 6. April 1970, in: Archiv Fritz-Hüser-Institut (FHI) Dortmund, Schöf-1212; Unbekannte/r Autor/in, Glashartes hessisches SozialisierungsModell. Wie man einen mittelständischen Unternehmer erpreßt, in: Der Selbstständige. Offizielles Organ des Deutschen Gewerbeverbandes e.V. 9 (1970), H. 4, S. 1f.; Unbekannte/r Autor/in, Die rote Hütte, in: konkret. Zeitschrift für Kultur und Politik (1972), H. 3, S. 42–45.
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vor allem die gewerkschaftlich aktiven Glasmacher, welche als die größte und mächtigste Beschäftigtengruppe innerhalb des Unternehmens einer interessierten Öffentlichkeit sehr selbstbewusst und kämpferisch gegenüber traten. Dass die knapp 270-köpfige Belegschaft der Glashütte Süßmuth zu einem Drittel aus Frauen bestand, war dagegen höchstens eine Randbemerkung wert. Eine oberflächliche Betrachtung schien zudem auch sehr schnell zu bestätigen, dass diese Arbeiterinnen sowohl in der Zeit der Übernahme als auch während der Selbstverwaltung keine große Rolle spielten. In den verschiedenen neu gegründeten Gremien, in welchen nun die unternehmerischen Entscheidungen beraten wurden, befand sich unter den gewählten Belegschaftsvertretern keine einzige Frau.5 Die Perspektive von Arbeiterinnen auf die am Arbeitsplatz vorgefundenen Realitäten, auf die Arbeitsprozesse und Machtbeziehungen im Betrieb sowie ihr Bezug zu und ihre Ansprüche an die Erwerbstätigkeit bildete bis in die 1980erJahre eine Leerstelle in der bundesdeutschen Arbeitergeschichte.6 Das mit dem Aufkommen der Frauenforschung sowie der Alltagsgeschichte und Oral History zunehmende Interesse an Arbeiterinnen-Geschichte erschien zunächst als eine Kuriosität.7 Dies resultierte zum einen aus einer Repräsentationspolitik der traditionellen Institutionen der Arbeiterbewegung – den Gewerkschaften und der Sozialdemokratischen Partei –, welche bis zum letzten Drittel des 20. Jahrhunderts die Interessen dieser Gruppe kaum erfasste. Zum anderen kam der Organisations- und Konfliktgeschichte in der Arbeiter(bewegungs)geschichte generell eine weitaus größere Forschungsaufmerksamkeit zu als dem Arbeitsalltag.8 Auch unternehmenshistorische Fallstudien tendieren dazu, eher die Chef-Etage als den Shop Floor in den Blick zu nehmen. Die Marginalisierung von Arbeitenden im Kontext historisch spezifischer Machtverhältnisse sowie deren Historisierung greifen somit ineinander: Erstes schlägt sich in der Überlieferungslage und den Erinnerungsnarrativen nieder beziehungsweise eben nicht nieder, welche folglich eine sehr selektive Quellenlage zur Ausgangsbedingung für Letzteres macht.
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Dies änderte sich erst, als im Zuge von Neuwahlen im Herbst 1973 mit einer kaufmännischen Angestellten die erste Frau in die Gesellschafterversammlung, als einem der zentralen Entscheidungsgremien in der selbstverwalteten Glashütte, gewählt wurde. Wegweisende Forschungen zur Geschichte der Arbeit aus geschlechtshistorischer Perspektive unter anderen von: Hausen, Karin, Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte, Göttingen 2012. Zur spezifischen Situation einer „Arbeiterinnen-Kooperative“ vgl. die sozialwissenschaftliche Fallstudie von Wajcman, Judy, Women in Control. Dilemmas of a Workers’ Co-operative, New York 1983. Diese Erfahrung machte beispielsweise Bauer, Ingrid, als sie in den frühen 1980er-Jahren ihr Oral-History-Projekt über die Zigarrenfabrikarbeiterinnen von Hallein begann. Vgl. Bauer, Ingrid, „Tschikweiber haums uns g’nennt...“ Die Zigarrenfabrikarbeiterinnen von Hallein, 1. Auflage der erweiterten Neuausgabe, Berlin 2015 [1987], S. 14. Welskopp führt dies auf das Fehlen eines tragfähigen Konzepts vom „Betrieb in industrialisierenden und industriellen Gesellschaften“ zurück, welches ein Auseinanderfallen von Industrie- und Arbeitergeschichte befördert habe. Vgl. Welskopp, Thomas, Der Betrieb als soziales Handlungsfeld. Neuere Forschungsansätze in der Industrie- und Arbeitergeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 117–141.
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Die Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth war hingegen mit einer Quellenproduktion verbunden, die einen ungewöhnlich tiefen Einblick in die Vorstellungen und Deutungen der Beschäftigten ebenso wie in die Dynamiken innerbetrieblicher Machtbeziehungen gewährt, wie er einer historischen Analyse konventionell geführter Unternehmen häufig verstellt ist. Doch selbst die während der Arbeit der Selbstverwaltungsgremien entstandenen schriftlichen Quellen sprechen von den Arbeiterinnen ausschließlich über sie als zu schützende, zu belehrende oder zu disziplinierende Personen, kaum jedoch als Handelnde mit eigenen ernstzunehmenden Bedürfnissen oder Vorschlägen. Das hier auszugsweise vorgestellte Tondokument eines knapp 80-minütigen Gruppengesprächs vom 2. September 1973 ist die einzige Quelle, in welcher sich Arbeiterinnen der selbstverwalteten Glashütte Süßmuth selbst repräsentierten.9 Zu verdanken ist sie dem Schriftsteller Erasmus Schöfer, der als Mitbegründer des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt in den Jahren 1973 und 1974 mehrfach die Glashütte aufsuchte, um die Erfahrungen der Belegschaft während der Betriebsübernahme und in der Selbstverwaltung zu dokumentieren.10 Die meisten Gespräche führte Schöfer mit den Facharbeitern. An diesen Gesprächen nahmen – wenn überhaupt – Frauen oft nur als bewirtende und meist schweigende Zuhörerinnen teil. Da er sich als Aktivist an der Schnittstelle zwischen „alten“ und neuen sozialen Bewegungen jedoch explizit auch für die Wahrnehmungen der Arbeiterinnen interessierte, bemühte sich Schöfer diese in einem separaten Gespräch zum „Sprechen“ zu bringen. Insgesamt nahmen an diesem Gespräch vier Frauen im Alter zwischen 20 und 50 Jahren teil, von denen zum damaligen Zeitpunkt lediglich zwei in der Glashütte arbeiteten und eine diese bereits vor der Selbstverwaltung verlassen hatte. Eine der Gesprächsteilnehmerinnen arbeitete am Kühlband, wo sie für die Abnahme der Glasartikel nach dem Kühlprozess sowie deren manuellen Transport in die sich anschließenden weiterverarbeitenden Arbeitsbereiche verantwortlich war. Hierzu gehörte die Sprengerei als dem (einstigen) Arbeitsbereich der beiden anderen Frauen. Inwiefern die vierte, mit den anderen befreundete Gesprächsteilnehmerin in der Glashütte beschäftigt war, wird aus dem Gespräch nicht ersichtlich. Sie war jedoch, wie auch die drei anderen Frauen, mit einem Glasfacharbeiter verheiratet. Anwesend war zudem ein Arbeitskollege, der sich während des Gesprächs weitestgehend zurückhielt und daher nicht identifizierbar ist. Soweit re-
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Vgl. Interview mit Arbeiterinnen der Glashütte Süßmuth, 2. September 1973. Das Tondokument stammt aus dem Vorlass von Erasmus Schöfer, der sich im Archiv des Fritz-HüserInstituts für Literatur und Kultur der Arbeitswelt in Dortmund befindet (Signatur: Schöf1230). Das Transkript wurde von der Autorin erstellt. Für die Einwilligung zur Veröffentlichung danke ich Erasmus Schöfer und dem Fritz-Hüser-Institut. Im Folgenden stammen alle Quellenzitate, soweit nicht anders vermerkt, aus den hier mit abgedruckten Quellenausschnitten. 10 Der „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ wurde im Jahr 1970 von einer Gruppe westdeutscher Schriftsteller/innen mit dem Motiv gegründet, der Perspektive arbeitender Menschen zu einer breiteren Öffentlichkeit zu verhelfen und sie in ihrem eigenen Schreiben zu unterstützen, URL: (18.10.2017).
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konstruierbar waren alle Frauen aufgrund der Tätigkeit ihres Ehemannes nach Immenhausen zugezogen und hatten jeweils ein bis zwei Kinder. Mit Ausnahme der kaufmännischen Angestellten in der Verwaltung übten Frauen in der Glashütte Süßmuth generell Tätigkeiten in der Produktion aus, zu denen es keiner formalen Qualifikation bedurfte und die am schlechtesten bezahlt waren.11 Das Kühlband und die Sprengerei gehörten ebenso wie die Wäscherei oder die Packerei zu den Arbeitsbereichen, in denen nahezu ausschließlich Frauen unter der Leitung von männlichen Vorgesetzten arbeiteten. Mit der Zuteilung monotoner Teilarbeitsschritte sowie von Zu- und Säuberungsarbeiten fanden sich Frauen in ausführenden Tätigkeiten wieder, die ihnen in den Arbeitsabläufen kaum Gestaltungsspielräume gewährten. Die Arbeitsteilung in der Glashütte Süßmuth entsprach damit klassischen Geschlechterrollen, wie sie sich auch außerhalb des Betriebs wiederfanden. Hausarbeit und Kindererziehung sowie sonstige Pflege- und Reproduktionsarbeiten waren klarer Aufgabenbereich der Frauen, für den sie trotz der Berufstätigkeit allein zuständig waren. Dass überhaupt so viele Frauen in der Glashütte beschäftigt waren, resultierte zunächst aus der Notwendigkeit, die Existenzgrundlage der Familie im ländlich-provinziellen Arbeitermilieu über ein zweites Einkommen zu sichern beziehungsweise den Lebensstandard zu verbessern.12 Indem nicht wenige Ehefrauen von Glasfacharbeitern in der Glashütte Süßmuth arbeiteten, überlagerten sich am Arbeitsplatz betriebliche und außerbetriebliche Machtbeziehungen. Welche Bedeutung maßen die interviewten Arbeiterinnen der Betriebsübernahme und Selbstverwaltung bei? Inwiefern änderte sich hierdurch ihr Alltag? I. Die Arbeitsbedingungen in der Produktion Im Sprechen über ihre Arbeitsbedingungen in der Glashüte Süßmuth fiel den Interviewten die grundlegende Unterscheidung zwischen der Zeit vor und nach der Betriebsübernahme eher schwer. Diese Tendenz mag durch die Anwesenheit der ehemaligen Kollegin verstärkt worden sein, die bereits zuvor den Betrieb verlassen hatte. Vor allem ist dies jedoch ein Hinweis darauf, dass sich auch in der Selbstverwaltung an den grundsätzlichen Entscheidungsstrukturen im Arbeitsalltag der Frauen nicht viel änderte. Suchten Schöfers Fragen nach eindeutigen Zäsuren, so fielen die Antworten der Arbeiterinnen differenziert aus, demnach „früher“ wie „heute“ die Arbeit in der Produktion mit jeweils spezifischen Herausforderungen verbunden war. Da der alte Eigentümer mehr Wert auf repräsentative 11 Vierzehn der im Jahr 1971 beschäftigten 23 kaufmännischen Angestellten und 87 der im Jahr 1969 insgesamt 228 beschäftigten Personen in der Produktion waren Frauen. Vgl. Personallisten der Glashütte Süßmuth, in: Archiv Glasmuseum Immenhausen und FHI Dortmund, Schöf-1222. 12 Zur quantitativen Dimension weiblicher Erwerbsarbeit in der Bundesrepublik der 1950er- und 1960er-Jahre vgl. von Oertzen, Christine, Teilzeitarbeit und die Lust am Zuverdienen. Geschlechterpolitik und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland , 1948–1969, Göttingen 1999.
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Werksgebäude legte als beispielsweise auf die Erneuerung der Kühlbänder oder die Instandhaltung der Arbeitsräume, waren die Arbeiterinnen „früher“ an ihrem Arbeitsplatz starken Temperaturschwankungen ausgesetzt. Zudem mussten sie zusehen, wie mit den veralteten Kühlbändern die Ausschussproduktion stark anstieg, sodass sie das zerbrochene Glas „mit der Schippe“ herunternehmen mussten. Aufgrund der damit verbundenen Schwankungen im Arbeitsanfall ergab sich für eine der Arbeiterinnen die Notwendigkeit zwischen den Tätigkeiten der Kühlbandabnahme und des Sprengens zu „springen“. Dennoch erinnerten sich die Frauen sehr gern an diese Zeit zurück, die sie sich im Kolleginnenkreis mit gemeinsamen Essen oder kleinen Feiern auch „schön“ gestalteten. Während der Selbstverwaltung wurde in die Produktionsanlage neu investiert, womit einige Missstände beseitigt wurden. Die körperlich anstrengende Tätigkeit des Kistenschleppens wurde durch die Einführung von Transportwägen abgeschafft. Mit den neuen Kühlbändern reduzierten sich die extremen Temperaturschwankungen und der Umfang der zu Bruch gegangenen Produkte. Da sich der Artikeldurchlauf folglich erhöhte und sich auf den neuen Bändern im Gegensatz zu früher unterschiedliche Artikel auf einmal zur Kühlung befanden, war die Arbeit am Kühlband für die Arbeiterinnen nun mit der neuen Tätigkeit der Sortierung verbunden. Zudem verstärkte sich der Schwerpunkt auf der Qualitätsprüfung, weshalb die Kühlbandabnehmerinnen zusätzlich eine erste Auswahl von Mängelware vornehmen mussten. Damit verdichtete und intensivierte sich die Arbeit. Zugleich reduzierten sich dadurch die Räume für ein geselliges Miteinander während der Arbeitszeit, wie es ihnen bis dahin den Arbeitsalltag erträglicher machte. Trotz der Schwere und Monotonie ihrer Arbeit, an welcher sich in der Selbstverwaltung nur wenig änderte, lässt sich aus den Schilderungen der Arbeiterinnen eine gewisse Identifikation mit ihrer Erwerbstätigkeit ableiten.13 Dies ist umso bemerkenswerter, als sie weder eine hohe soziale und lohnpolitische Anerkennung für ihre Tätigkeit erhielten, noch deren Anstrengungen durch eine gestalterische Kreativität kompensieren konnten, wie es bei den Glasmachern und -schleifern der Fall war. Zudem waren die Arbeitsverhältnisse von Frauen in der Glashütte Süßmuth sehr viel wechselhafter, der Fluktuationsgrad in unmittelbaren Zusammenhang mit den ihnen allein zugewiesenen Reproduktionsarbeiten sehr viel höher als jener der Facharbeiter, deren Berufsbiografie in der Regel von einer linearen Aufwärtsentwicklung geprägt war. Ungeachtet der strukturellen Diskriminierung konnte die Bindung der Arbeiterinnen an den Betrieb mitunter sehr hoch sein, was auf Prozesse der Vergemeinschaftung am Arbeitsplatz verweist. In im13 Die Fähigkeit zur beruflichen Identifizierung wurde Arbeiterinnen aufgrund einer häufig fehlenden formalen Qualifikation und der schlechten Bezahlung von Vertretern der deutschen Sozialgeschichte lange Zeit dezidiert abgesprochen und als ein Faktor diskutiert, weshalb Arbeiterinnen weniger „klassenfähig“ gewesen seien. Trotz Erwerbsarbeit wurden stattdessen in „Ehe und Mutterschaft“ die „konstatierenden Merkmale ihrer Identität“ gesehen. Vgl. Canning, Kathleen, Geschlecht als Unordnungsprinzip. Überlegungen zur Historiographie der deutschen Arbeiterbewegung, in: Schissler, Hanna (Hg.), Geschlechterverhältnisse im historischen Wandel, Frankfurt am Main 1993, S. 140, 147.
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provisierter Umnutzung des früher defekten und große Hitze abstrahlenden Kühlbands eigneten sich die Arbeiterinnen beispielsweise die Produktionssphäre für das gemeinsame Zubereiten des Mittagessens für sich und gegebenenfalls die Ehemänner im Betrieb an, wodurch zugleich ein Ort der seltenen Begegnung mit der griechischen Kollegin entstand, zu welcher sie sonst offensichtlich keinen Kontakt hatten.14 Es entwickelten sich freundschaftliche Beziehungen, die über den Betrieb hinausreichten – wie die Beteiligung der ehemaligen Arbeiterin am Gruppengespräch zeigt –, und die mitunter ein Grund für die Vorfreude auf die Rückkehr in die Erwerbstätigkeit nach der „Kinderpause“ war. Über die Notwendigkeit des Geldverdienens hinaus verwies die Betriebsbindung zudem auf das spezifische Erfahrungswissen, welches auch die als unqualifizierte Arbeitskräfte beschäftigten und bezahlten Frauen mit der Zeit über ihren Arbeitsbereich gewannen und welches sie in dem von vielfältigen Unregelmäßigkeiten geprägten Fertigungsprozess in einer Mundglashütte auszeichnete. Das Mundblasverfahren sowie die große Artikelvielfalt bedingte, dass „jedes Glas anders“ war, woraus jeweils unterschiedliche Anforderungen an die weiterverarbeitenden Tätigkeiten wie beispielsweise an das Sprengen resultierten. Während die frühere Kollegin sich an den Druck erinnerte, den sie bei der Überwachung durch ihren Vorgesetzten empfand, und das Glas während des Sprengens durch ihre Aufregung dabei gerade kaputt ging, wehrte ihre jüngere Freundin allein die Vorstellung einer solchen Situation ab. Da sie schon „so lange gesprengt“ hat und „weiß, wie [sie] zu sprengen habe“, wollte sie sich weder von ihrem Abteilungsnoch vom Betriebsleiter „belehren“ lassen. Ebenso wenig scheuten sich die zwei im Betrieb arbeitenden Frauen den Glasmachern gegenüber Arbeitsfehler anzumerken, trotz der Gewissheit, dass diese daraufhin „auf 180 gingen“. Herausgefordert war damit die genderspezifische Codierung von Qualifikation als „männliche Facharbeit“ in Abgrenzung zur „weiblichen Hilfsarbeit“. II. Die Betriebsübernahme und Selbstverwaltung Inwiefern diese selbstbewusste Haltung der Arbeiterinnen gegenüber ihren Vorgesetzten und den Facharbeitern auf der Basis ihrer Arbeitserfahrungen sich im Zuge der Selbstverwaltung verstärkt hatte, geht aus dem Interview nicht hervor. Sehr deutlich wird hingegen, dass sich diese Arbeiterinnen aufgrund des Bezugs zu ihrer Arbeit und der engen Bindung an den Betrieb am Kampf um die Rettung des Unternehmens beteiligt sahen. Dass sie dabei nicht jene aktive Rolle einnahmen, wie sie Schöfer durch seine Fragen versuchte herauszufinden, lag weniger in einem fehlenden Interesse oder „politischen Bewusstsein“ begründet. Die verge14 In den Jahren 1969 bis 1974 arbeiten zwischen 15 und 30 Arbeitsmigrant/innen aus Italien, Portugal, der Türkei, Griechenland und Jugoslawien in der Glashütte Süßmuth, womit diese Gruppe ungefähr zehn Prozent der Belegschaft ausmachte. In den Gremien der Selbstverwaltung waren sie nicht vertreten. Über ihre Wahrnehmungen von den Arbeits- und Lebensrealitäten in der Glashütte Süßmuth sind so gut wie keine Dokumente überliefert.
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schlechtlichte Arbeitsteilung begrenzte vielmehr die Handlungsoptionen für politische Aktionen, für welche den Frauen geringere Zeitkapazitäten zur Verfügung standen und ihnen folglich einen höheren Organisationsaufwand abverlangten. Ihre Teilnahme am Protestzug durch Immenhausen wurde auf diese Weise abhängig vom Wetter oder von verfügbaren Betreuungsalternativen für die Kinder. Hinzu kam das exklusive Agieren der männlichen Betriebsaktivisten (ebenso wie das der sie unterstützenden Gewerkschaftsfunktionäre). Das Verfassen und Verteilen von Flugblättern sowie die Vorbereitung einer Demonstration durch Immenhausen erfolgte ausschließlich im Kreis der gewerkschaftlich organisierten Glasfacharbeiter, der maximal 30 Personen umfasste. In diesem wurde darüber hinaus unter strengster Geheimhaltung die erste Betriebsbesetzung in der Bundesrepublik geplant, für den Fall, dass Richard Süßmuth nicht einlenken sollte.15 Den Frauen wurde hierbei zugedacht, mit den Kindern ebenfalls im Betrieb zu bleiben und ihn nur zum Kochen des Essens zu verlassen. Der Rest der Belegschaft wurde erst kurz zuvor über die geplanten Protestaktionen informiert, auf die folglich kaum noch Einfluss genommen werden konnte. Dabei ist im Gespräch zu erfahren, dass zumindest eine der Arbeiterinnen durchaus auch die eigene Idee entwickelt hatte, zusammen mit Kolleginnen bei dem alten Unternehmer vorzusprechen. In der dichten Ereignisabfolge dieser Zeit kam diese letztlich nicht zum Tragen. Der Aktivismus der Facharbeiter ließ wenig Raum für eine Beteiligung ihrer Kolleginnen. Die wichtige Rolle, welche die Arbeiterinnen beziehungsweise die Ehefrauen der Facharbeiter in dieser Auseinandersetzung dennoch einnahmen, wurde hingegen nicht als eine politische verhandelt und erinnert. Dass das politische Engagement der Männer ohne die Übernahme sämtlicher reproduktiver Arbeiten durch die Frauen gar nicht möglich gewesen wäre, wurde ebenso wenig gewürdigt wie die Bedeutung der alltäglichen Gespräche beim „Metzger oder Krämer“ in ihrer genuin politischen – nämlich Öffentlichkeit herstellenden und Partei ergreifenden – Dimension. In diesen trugen die Frauen jedoch ganz wesentlich zur Aufklärung, zum Verständnis und zur Legitimation für die radikal anmutenden Forderungen der Belegschaft innerhalb der Immenhausener Bevölkerung bei, in welcher der Unternehmer Richard Süßmuth ein hohes Ansehen genoss. Reproduzierten sich damit während der Betriebsübernahme betriebliche wie häusliche Hierarchien allein dadurch, dass sie weiterhin nicht reflektiert wurden, so empfanden die interviewten Frauen ihr Verhältnis zu ihren Ehepartnern nicht als eines der Unterwerfung. Vielmehr strichen sie die gemeinsame „Stimme“ als Zeichen einer Solidarität innerhalb der Ehe heraus. Im Verständnis für die Abwesenheit während und nach der Betriebsübernahme zollten die Frauen ihren Ehemännern zudem Anerkennung für ihren Einsatz „für die Kollegen“, worin sie sie unterstützten. Schließlich kam im geschlossenen Fordern gegenüber dem Unternehmer Richard Süßmuth ein geteiltes Interesse, den eigenen (zukünftigen) 15 Die nachweislich erste Betriebsbesetzung in der Geschichte der Bundesrepublik erfolgte stattdessen fünf Jahre später in der Zementfabrik Seibel & Söhne in Erwitte. Vgl. Braeg, Dieter (Hg.), „Wir halten den Betrieb besetzt“. Texte und Dokumente zur Betriebsbesetzung der Zementfabrik Seibel & Söhne in Erwitte im Jahre 1975, Berlin 2015.
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Arbeitsplatz und den des Ehepartners zu erhalten, ein gemeinsames Verantwortungsgefühl für den Betrieb und die Belegschaft als Ganzes zum Ausdruck – ebenso wie in gewisser Weise auch für die Kleinstadt Immenhausen, in welcher sich die Arbeiterinnen sehr wohl fühlten. In der Aussage, „das ging ja alle an“, steckt somit ein aktivierender Impuls. Um diesen in konkrete Taten umzusetzen, standen den Arbeiterinnen jedoch in Relation zu den Facharbeitern höchst ungleiche Handlungsoptionen zur Verfügung. Die knapp fünf Jahre anhaltende Praxis der Selbstverwaltung gestaltete sich als Prozess permanenter und mitunter sehr konfliktträchtiger Auseinandersetzungen innerhalb des Unternehmens, die stets arbeitsbezogene Themen zum Gegenstand hatten. Diese im Arbeitsalltag intensivierten Kommunikationsprozesse ermöglichten auch den Arbeiterinnen ihre (erfahrungs-) wissensbasierten Vorstellungen einzubringen, wie zum Beispiel bei der Diskussion über die Beseitigung der Mängelproduktion, deren Ursachen vielfältig sein konnten. Wurden hierbei indirekt auch Fragen nach Gleichberechtigung verhandelt, ermöglichte der vermeintliche unpolitische Modus der Auseinandersetzung den Arbeiterinnen Anerkennung für ihre Verbesserungsvorschläge und generell für ihre Tätigkeiten zu erhalten. Eine gemeinsame Identifikation mit der Arbeit, den Produkten und der Gemeinschaft im Betrieb bildete die Basis dafür, dass sich durch die in der Selbstverwaltung angestoßenen Verständigungsprozesse die verschiedenen Beschäftigtengruppen anzunähern begannen. Dafür stehen beispielsweise auch die Diskussionen über eine gerechtere Entlohnung in den unteren Lohngruppen, in denen überwiegend Arbeiterinnen eingestuft waren, oder über die Gründung eines Betriebskindergartens. Dahingehende Bemühungen sind nicht allein auf den Idealismus oder die geläuterte Einsicht der männlichen Facharbeiter zurückzuführen, sondern in Relation zu entsprechenden Ansprüchen der Arbeiterinnen zu denken, die in expliziter Form jedoch nicht überliefert sind. Diese Annäherungsprozesse gingen letztlich nicht soweit, dass die männlichen Beschäftigten ihre eigene Position im Geschlechterverhältnis reflektierten. Die aus der vergeschlechtlichten Arbeitsteilung resultierende Mehrfachbelastung der Arbeiterinnen wurde von ihren Kollegen zwar anerkannt und zum Teil als Erklärung dafür herangezogen, dass Frauen folglich gar keine Zeit für eine Beteiligung an den außerhalb der Arbeitszeit tagenden Gremien der Selbstverwaltung hätten.16 Statt als ein strukturelles, durch eine gerechtere Verteilung der häuslichen Pflichten zu behebendes Problem, sahen die Männer hierin eine sozial abzufedernde „Belastung“, welche es durch einen (letztlich nicht gegründeten) betriebseigenen Kindergarten zu reduzieren galt. Die Arbeitsteilung an sich blieb jedoch unangetastet. Die Möglichkeiten für weiterreichende Aufbrüche in den betrieblichen Machtverhältnissen waren schließlich nicht zuletzt auch durch die 16 Vgl. Stellungnahme des Magazinleiters in seiner Funktion als Vorsitzender der Gesellschafterversammlung im Rundfunkbeitrag „280 Arbeiter = 280 Chefs“ der Sendung „Welt von heute“ (Südwestrundfunk), Manuskript von Peter Marchal, gesendet am 4. August 1971, in: FHI Dortmund, Schöf-1212; Gespräch von Erasmus Schöfer mit einer Gruppe von Beschäftigten am 19. März 1973, Teil 2, 5. Minute, in: FHI Dortmund, Schöf-1230.
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wirtschaftlich durchweg prekäre Lage des Unternehmens begrenzt. Im Zuge dessen intensivierte sich die Arbeit für fast alle Beschäftigten. Dies veränderte die sozialen Verhältnisse am Arbeitsplatz und produzierte neue Konflikte innerhalb des Betriebs, wodurch sich alte Hierarchien reproduzierten. Eine fehlende Reflexion des eigenen Dominanzverhaltens auf Seiten der Facharbeiter korrespondierte dabei mit einer spezifischen Sozialisation der Arbeiterinnen, die in der direkten Konfrontation oftmals eher unsicher und zaghaft auftraten beziehungsweise diese scheuten. III. Wie stand's mit der Emanzipation? Das gesamte Gespräch veranschaulicht sehr eindrücklich, welche persönlichen Rücksichtnahmen und Einschränkungen sowie Ausschlüsse und Diskriminierungen die Erfahrungen dieser Arbeiterinnen sowohl im Privatleben als auch im Betrieb prägten. Die offensichtlich bestehenden genderspezifischen Ungleichheiten in den Arbeits- und Reproduktionsbeziehungen wurden auch nach der Betriebsübernahme nicht auf einer (identitäts-) politischen Ebene verhandelt. Schöfers am Ende des Gesprächs nach dem Gehörten eher feststellende als fragende Bemerkung, dass es ja scheinbar „mit der Emanzipation noch nicht so weit“ sei „auf dem Dorf“, mag vor diesem Hintergrund auf den ersten Blick plausibel erscheinen. Zugleich verwundert jedoch der Zeitpunkt, an dem Schöfer die Frauen mit seiner Einschätzung konfrontierte, nämlich nachdem sie sich gerade darüber verständigt hatten, dass sie natürlich auch die Glasmacher auf ihre Fehler bei der Arbeit aufmerksam machen würden. Der Kontrast zwischen der mangelhaften Vertretung in den offiziellen Gremien der Selbstverwaltung und Schöfers Diagnose einer noch nicht so weit vorangeschrittenen Emanzipation auf der einen Seite und dem selbstbewussten Auftreten der Arbeiterinnen während des Gesprächs auf der anderen Seite, markiert ein grundlegendes Unverständnis und verweist auf die Grenzen Gehör zu finden. Bei genauerer Betrachtung der Interviewsituation fällt auf, dass Schöfers Fragen nach der Arbeit und dem politischen Aktivismus der Arbeiterinnen in der selbstverwalteten Glashütte eben jene Ausschlüsse voraussetzten, die im Zentrum der Kritik der Neuen Frauenbewegung standen. Die in Schöfers Fragen vorgenommene Engführung im Verständnis von „Arbeit“ auf die außerhäusliche Erwerbsarbeit perpetuierte deren Trennung von der unbezahlten Reproduktionsarbeit, den Haus- und Familienarbeiten, die gerade in den Antworten der Arbeiterinnen aus der Unsichtbarkeit des Privaten in ihrer Verbindung zur Produktionssphäre hervortraten. Jene Aufbrüche und Hoffnungen, die auch für die Frauen mit der Betriebsübernahme und der Selbstverwaltung verbunden gewesen sein mögen, konnte Schöfers Verständnis von der Emanzipation nicht erfassen. Akzeptierten die Gesprächsteilnehmerinnen zwar die vergeschlechtlichte Arbeitsteilung im und außerhalb des Betriebs sowie die daraus für ihre (Berufs-) Biografien resultierenden Konsequenzen, so forderten sie innerhalb dieser Rollenverteilung aber doch die Anerkennung des in ihren Tätigkeitsbereichen gewonnenen Erfahrungswis-
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sens. Dieses ermöglichte es ihnen am Arbeitsplatz eine Handlungsposition einzunehmen, aus welcher heraus sie sich gegenüber den als ungerecht empfundenen Zumutungen ihrer männlichen Vorgesetzten und Arbeitskollegen zu behaupten wussten. Das im Arbeitsprozess gewonnene Selbstbewusstsein dieser Arbeiterinnen scheint sich darüber hinaus auch auf die außerbetrieblichen Beziehungen ausgewirkt zu haben. Denn „[b]ei uns wird zu Hause auch gearbeitet!“ Nicht zufällig sprechen in diesem Tondokument die Ehefrauen von Glasfacharbeitern, welche in den Selbstverwaltungsgremien sehr aktiv waren. Den darüber gewonnenen Einblick und Zugang zu unternehmensinternen Informationen, den andere Arbeiterinnen im Betrieb nicht hatten, stellte im selbstverwalteten Unternehmen eine nicht unwesentliche Handlungsressource dar. Dem „Sprechen“ dieser Arbeiterinnen steht somit das „Schweigen“ des großen Rests der Arbeiterinnenschaft (ebenso wie generell der migrantischen Beschäftigten) gegenüber, womit die historische Betrachtung den Bereich des Nicht-(Mehr-)Sagbarens betritt. Daraus resultieren methodische Herausforderungen bei der Quellenanalyse und -kritik, wenn aus dem Gespräch mit den „sprechenden“ Arbeiterinnen verallgemeinernde Überlegungen auf die Gesamtheit der Arbeiterinnen angestellt werden. Das Mitdenken dieser Perspektive als „Leerstelle“ erfordert daher eine permanente Reflexion und kritische Überprüfung bei der Analyse vorhandener Quellen, welche dadurch jedoch mit neuem Erkenntnisgewinn gelesen werden können. Vom Wissen um die sprachliche Vermittlung von Wirklichkeit geht letztlich ein zweifacher Reflexionsimpetus aus, der sich nicht nur auf den Entstehungskontext der Quelle selbst bezieht, sondern auf die Praxis der Quellenkritik gleichermaßen.
Literaturhinweise Canning, Kathleen, Geschlecht als Unordnungsprinzip. Überlegungen zur Historiographie der deutschen Arbeiterbewegung, in: Schissler, Hanna (Hg.), Geschlechterverhältnisse im historischen Wandel, Frankfurt am Main u.a. 1993, S. 139–163. Fabian, Franz, Arbeiter übernehmen ihren Betrieb oder Der Erfolg des Modells Süßmuth, Reinbek 1972. Hausen, Karin, Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte, Göttingen 2012. Schöfer, Erasmus, Zwielicht. Die Kinder des Sisyfos, Berlin 22011. Wajcman, Judy, Women in Control. Dilemmas of a Workers’ Co-operative, New York 1983.
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Quelle Über Arbeit und Politik in der Re/Produktion. Die Arbeiterinnen der selbstverwalteten Glashütte Süßmuth im Gespräch mit Erasmus Schöfer (2. September 1973)17 [Das Gespräch fand am 2. September 1973 bei Kaffee und Kuchen in einem Raum des Betriebs statt. Die Gliederung des von Erasmus Schöfer moderierten offenen Gruppengespräch wurde im folgenden Transkript-Auszug in der Grundstruktur beibehalten, einzelne Gesprächsteile wurden jedoch entlang der im Essay vorgenommenen Schwerpunktsetzung verschoben.] I. Die Arbeitsbedingungen in der Produktion […] Erasmus Schöfer:
Als was haben sie gearbeitet damals [vor der Betriebsübernahme, CM]?
Sprengerin:
Ich hab, von Anfang an war ich in der Sprengerei.
Frühere Kollegin:
Ich hab mehrere Arbeiten gemacht – erst Schleifen, ist mir sehr schwer gefallen. Vor allem wegen dem Augenlicht [war das] sehr schlecht. Da war das Tageslicht und nachher dann durch das bunte Glas haben die Augen furchtbar gelitten. Da hab ich mich dann bemüht, dass ich eine andere Arbeit kriege. Dann hab ich gesprengt und dann bin ich ans Kühlband, fast drei Jahre. War immer mal da und mal da – hatte eine Zeit lang keine feste Arbeitsstelle. Musste aber nebenbei noch sprengen, weil zu wenig Arbeit [am Kühlband, CM] war. […] Es war eine Zeit sehr gut, eine Zeit war aber auch alles kaputt.
Kühlbandabnehmerin: Aber es geht, es geht [jetzt, CM]. Das liegt auch an den neuen Kühlbändern jetzt. Ist ja alles neu gemacht worden. Frühere Kollegin:
[unverständlich] ... gibt einige Probleme mit den neuen Kühlbändern!
Sprengerin:
Das war jetzt erst, letzte Woche, dass so viel kaputt gegangen ist. Davor ist das noch häufiger passiert. Da haben wir das [Glas, CM] mit der Schippe heruntergenommen.
17 Interview mit Arbeiterinnen der Glashütte Süßmuth, 2. September 1973; Ort des Interviews: Immenhausen; Interviewer: Erasmus Schöfer; Dauer des Interviews: ca. 80 Minuten; Format: 4 Tonbandspulen in: Archiv des Fritz-Hüser-Instituts Dortmund, Schöf1230; Transkript: Christiane Mende (im Besitz der Autorin). Für die Einwilligung zur Veröffentlichung danke ich Erasmus Schöfer und dem Fritz-Hüser-Institut. Die Quelle ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .
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Frühere Kollegin:
Erst gab es Wochen, wo es nachgekühlt werden musste – dann war es zu heiß. Da kriegten sie gar nichts raus.
Sprengerin:
Früher ist das viel passiert. Das war sehr schlimm [unverständlich]. Jetzt mit den neuen Kühlbändern ist es schon wieder besser.
Frühere Kollegin:
Früher wurde das Essen auf dem Kühlbändern warm gemacht. Konnte ich Bratwurst und Spiegelei braten. Das war ganz toll auf meinem Kühlband.
Kühlbandabnehmerin: Geht heute nicht mehr. Frühere Kollegin:
Also es war vorher auch eine schöne Zeit gewesen. Mittags kamen die Frauen und haben ihr Töpfchen drauf gestellt.
Erasmus Schöfer:
Und das haben Sie dann einmal durchlaufen lassen?
Frühere Kollegin:
Nein oben auf dem Deckel drauf. Da sind doch die Klappen da und da haben wir es oben drauf gestellt. Und diese AusländerFrau, diese Familie da aus Griechenland, ne, die kamen da immer Mittags da, ne, zum Essen warm machen. Da haben wir ein schönes Eckchen da eingerichtet, da an meinem Arbeitsplatz, und da haben wir uns da immer schön wohl gefühlt.
Sprengerin:
War früher auch eine schöne Zeit. Ist wirklich wahr.
Frühere Kollegin:
Obwohl der Winter war auch nicht angenehm – da haben wir sehr gefroren. Bei uns am Kühlband, wo ich stand, da hat es furchtbar reingezogen, weil das Dach oben alles kaputt war. Und da standen wir da mit Schal [...] und waren richtig eingemummst waren wir, ne.
Sprengerin:
Hauptsächlich die Finger, oh weih.
Frühere Kollegin:
Im Sommer konntest du es nicht aushalten vor Hitze und im Winter hast du keine Wärme gefunden. War eiskalt.
Sprengerin:
Das geht heute auch. Weil jetzt das eine Kühlband, was vorne durchläuft [unverständlich] Heute ist es so warm! Oh, also ganz furchtbar, was wir früher um diese Zeit schon gefroren haben, [...].
[…] Kühlbandabnehmerin: … ist aber heute viel schlimmer geworden, [Anrede der früheren Kollegin mit Vornamen], was müssen wir heute alles machen. […] Guck mal: Damals war's nicht wie heute – was müssen wir heute durchzählen: Glasfehler, Arbeitsfehler – alles was ist weg ... Sprengerin:
Nur ein gutes, wir haben jetzt Wagen und brauchen keine Kisten mehr heben. Das macht auch schon viel aus. Was musste ich damals Kisten schleppen! Also, ich weiß nicht, ob das ein Mann lange gemacht hätte .[…]
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Frühere Kollegin:
Freitags war kein Mann da – die Kühlbänder. Das mussten wir alles alleine machen. Wir mussten uns gegenseitig mal ein bisschen helfen. Und das waren diese schweren Zylinder und das schwere Zeug von der Beleuchtung. Na, wir zwei haben uns gegenseitig geholfen. Wir standen ja nebeneinander. Aber meine eine Kollegin, die ein bissl weiter weg war – die hat dann auch manchmal gerufen, aber meistens hat sie auch alles selber gemacht. Es war schon sehr schwer auch für die Frauen. Also arbeitsmäßig war es nicht schön.
Sprengerin:
Doch heute geht das prima!
[...] Erasmus Schöfer
[gerichtet an frühere Kollegin]: Und warum sind Sie weggegangen?
Frühere Kollegin:
Die Schwiegermutter war damals schwer krank. Und das da immer einer da war. Nachts war mein Mann da und tagsüber war ich zu Hause. [Pause] Hab ich dann die Nachtschichtstelle bei der Post übernommen, weil wir konnten auf das Geld nicht verzichten – da hab ich ein großes Opfer gebracht! [Pause] Naja.
Erasmus Schöfer:
Aber Sie waren demnach dann sehr gerne in der Hütte?
Frühere Kollegin:
Ja, ich gehe heute noch gerne in die Hütte rein! [Pause] Viele fragen, wenn ich da bin und meinem Mann Essen bringe: „Wann willst du wieder anfangen?“
[...] Erasmus Schöfer:
Das Sprengen sieht so einfach aus, dass man eben bloß so mit der Flamme ...
Sprengerin:
Ist aber nicht so einfach!
Frühere Kollegin:
Man muss alles genau wissen.
Sprengerin:
Und dann muss es immer so gerade sein. Gerade bei den Zylindern, jetzt bei den Schaum[glaszylindern] – die werden ja nicht noch einmal geschliffen, die meisten. [...]
Frühere Kollegin:
Weißt du was ich schlecht finde: Diese Beleuchtung da [unverständlich]
Sprengerin:
Ja, ja, [...] das war auch so eine Sache – diese schräge Beleuchtung! Statt gerade gesprengt, werden sie schräg abgesprengt.
Frühere Kollegin:
... das ging ganz schlecht! Ach die ersten – und mein Herz hat geklopft und da steht er [der Vorgesetzte] und guckt also... [unverständlich]
Sprengerin:
... ich weiß nicht, was kaputt geht, geht kaputt! [unverständlich]
Frühere Kollegin:
[unverständlich] Er ging weg und dann ging es auch. Und als er wieder kam, ging es wieder kaputt. [Lachen]
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Sprengerin:
Genauso hat er [einer anderen Kollegin] immer Vorschriften gemacht: „Kein Wasser nehmen!“ oder „Nicht so viel anreißen!“ Ich sage: Sollte einmal zu mir einer kommen und mir sagen, wie ich zu sprengen habe! Und wenn es der [Betriebsleiter] ist! Ich sage: Ich sprenge, nicht Sie! Und das hat mein Mann auch [dem Betriebsleiter] gesagt: „Gehen Sie mal zu meiner Frau und sagen Sie mal, wie die sprengen soll.“ [Lachen] Ich lass mich nicht belehren!
Freundin:
Na, vor allem, wenn man es kann!
Sprengerin:
Na, deswegen! Ich hab so lange gesprengt! Ich weiß, wie ich zu sprengen habe. Jedes Glas ist wieder anders. Da muss man wieder anders [absprengen] – einmal mehr und einmal weniger, ne.
[...] II. Die Betriebsübernahme und Selbstverwaltung Erasmus Schöfer:
Man müsste mal versuchen, zu erzählen, wie das so angefangen hat. Also da im Sommer 1969. Wenn Sie sich daran noch erinnern. Vielleicht, wenn Sie sich auch mal erinnern, wann ihr Mann das erste Mal was davon erzählt hat, dass es jetzt hier so kriselt in der Hütte und dass da eine Belegschaftsversammlung war und so was.
Freundin:
Ach du liebe Zeit.
Erasmus Schöfer:
Ob Sie sich daran noch erinnern? [Pause]
Kühlbandabnehmerin: [zögerlich] Na, dann vor der Zeit, nach der Zeit, wie Süßmuth nicht abgeben wollte. Dann fing es ja erst richtig an. Wo man nur laufend dachte: Was wird? Werden wir die Arbeit verlieren oder nicht? […] Erasmus Schöfer:
Aber selbst mitgemacht haben Sie nicht beim Flugblätter verteilen? Oder wo haben die Frauen denn da mal mitgemacht?
Kühlbandabnehmerin: Wir haben nur alle mitgemacht, wie es dann so weit war, dass wir alles aufgeben sollten. Frühere Kollegin:
Da hat sich dann hier die Familie beteiligt.
Kühlbandabnehmerin: Bei dem [Protestzug durch Immenhausen, CM]. Sprengerin:
Also ich hatte zu meinem Mann gesagt damals: „Weißt du, was wir machen? Ich wollte mich mit so ein paar Frauen zusammentun...“ Ich habe so einen Vorschlag gemacht und das hätte ich auch gemacht. Zusammentun und dann hoch zum Süßmuth, ne. Und dann hätten wir gesagt, wie das ist. Aber danach gingen sie dann – nächsten Tag oder wann, ich weiß es nicht mehr, – mit
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dem Sarg dann.18 Das hat dann gewirkt. [Pause] Also ich wär' hochgegangen! Ich hätte ihm das... […] Erasmus Schöfer:
[zur Freundin] Warum sind Sie denn nicht mitgegangen bei dem Zug?
Freundin:
Ja, das kann ich Ihnen auch nicht sagen. Ich weiß es nicht.
Erasmus Schöfer:
Na, ich mein nur, ob sie nicht wollten, nicht sollten – von ihrem Mann aus oder so?
Freundin:
Nee, also dass ich nicht sollte, nein. Vielleicht wollte ich auch nicht – vielleicht wegen den Kindern. Ich weiß es nicht.
Sprengerin:
Ich bin damals auch nicht mit!19
Erasmus Schöfer:
Nee? Na, ich hab nur gehört, dass Verschiedene [Frauen, CM] auch nicht wollten, einfach, aus Überzeugung, weil Sie es nicht gut fanden oder so.
Freundin:
Nee, nee. Wenn mein Mann da mit geht. Ich glaube, dass ich da eine Stimme hab mit meinem Mann in dieser Richtung. Nee, das ich dagegen war nicht, deswegen nicht – muss irgend ein anderer Grund gewesen sein.
Erasmus Schöfer:
[zu Sprengerin] Und warum sind Sie nicht mitgegangen?
Sprengerin:
Zu dieser Zeit war unser Kind noch ziemlich klein. Ich glaube, es war auch nicht … wegen ... das Wetter war nicht so gut ... Weiß auch nicht genau.
Kühlbandabnehmerin: Es war auch kalt. Es hatte geschneit! […] Sprengerin:
Mitgegangen wäre ich dann auf alle Fälle!
Frühere Kollegin:
Ich hab nicht mehr [hier] gearbeitet und bin trotzdem mit [gegangen]. Ich mein, das war praktisch so – man musste auch kämpfen! Wenn der Mann noch da ist ...
Sprengerin:
Ja sicher!
Kühlbandabnehmerin: Das ging ja alle an! Das ging ja alle an! Sprengerin:
Ich wollte dann später auch wieder [hier] arbeiten gehen.
Erasmus Schöfer:
Hat man das denn nun gemerkt, zum Beispiel beim Einkaufen im Dorf? Haben die Leute da drüber gesprochen?
Frühere Kollegin:
Wird viel, wird viel gesprochen!
18 Mit dem Protestzug führten die Beschäftigten in einem Sarg symbolträchtig ihre Hoffnungen „zu Grabe“, weil Richard Süßmuth ihnen nicht den Betrieb übergeben wollte. Zum damaligen Zeitpunkt war die Belegschaftsübernahme als einzige Option übrig geblieben, das Unternehmen vor dem Konkurs zu retten. 19 Während dieser Zeit befand sich diese Arbeiterin in Elternzeit und nahm erst ein Jahr nach der Übernahme wieder ihre Arbeit im Betrieb auf.
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Kühlbandabnehmerin: Sehr viel. Es wurde sehr viel da drüber gesprochen! Frühere Kollegin:
Es war praktisch … also ganz Immenhausen, kann man bald sagen, war alles im Aufruhr. Die Geschäftsleute vor allen Dingen. Die haben sich auch viel mit beteiligt. Einzelne waren dagegen, die Einen waren dafür.
Freundin:
Ich würde sagen, der ältere Teil hat doch mehr zum Süßmuth gehalten, als wie zu den jungen Leuten da, die jetzt da versucht haben aus diesem Zusammenbruch irgendwie noch was zu machen.
Frühere Kollegin:
Ja, das habe ich eben gemeint. Es waren viele, ein Großteil dagegen. [...] Wurde gesagt: „Was wollt ihr machen? Der arme Mann [Richard Süßmuth]! Ihr müsst daran denken, der hat alles aufgebaut!“. Ich sagte: „Das wissen wir selbst auch! Das geht ja nicht darum. Es geht ja jetzt um den Arbeitsplatz – von so vielen Menschen.“ [Pause] […] Grad so ältere Leute, so ältere Damen, die haben sich natürlich sehr eingesetzt für den Süßmuth. Das kann ich persönlich auch sagen. Also die haben da nur geschimpft gegen die Arbeiter.
Freundin:
Na, vor allen Dingen schon dagegen, dass was Neues geschaffen wurde. Das ist ja das gewesen, ne. Ich glaube, dass findet man überall.
Frühere Kollegin:
„Ihr könnt doch zufrieden sein und jeder hat doch sein Brot verdient“ hat es geheißen da und „jetzt ist keiner mehr zufrieden“. Da fingen sie erst mal so an. Und wie sie dann gehört haben, dass praktisch alles so pleite geht, da haben sie auch wieder ein bissl anders geredet, ne. [Pause]
Erasmus Schöfer:
Und wodurch haben sie das erfahren? Durch die Zeitung oder...?
Frühere Kollegin:
Naja, es wird ja viel gesprochen. Eben grade so, wenn wir sagen, beim Fleischer und so. Wie die haben gefragt, ne. Das hat sich halt herumgesprochen. In der Zeitung war es ja praktisch weniger, also, ich glaube nicht....
Arbeitskollege:
Ja, in der ersten Zeit, nicht. [Da gab es noch keine Berichterstattung, CM]
[…] Erasmus Schöfer:
Naja, und wie das dann passiert war – die Übergabe. Kann man davon noch was erzählen? Hat sich das Klima so verändert, auch zu Hause? Haben Sie [gerichtet an die Freundin] das dann zum Beispiel bei Ihrem Mann gemerkt? War er dann wieder lustiger?
Freundin:
Was heißt lustiger! Dann kam die Arbeit erst mal. Die vielen Überstunden, die sie gemacht haben, um da wirklich was zu unternehmen, damit der Betrieb erneuert wird. Die ganzen Öfen, die neue Öfen, die sie gesetzt haben. Die alten Öfen abgerissen. Das haben sie alles nach der Arbeit getan. Das war natürlich we-
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niger schön, wenn sie jeden Arbeit bis spät in die Nacht rein weg waren. […] Erasmus Schöfer:
Na, ich könnte mir vorstellen, dass es halt auch richtige Schwierigkeiten zu Hause gegeben hat, so – Wenn man also den Mann so wenig zu Hause gesehen hat und so. Da wird man ja auch dann mal ungeduldig und ...
Frühere Kollegin:
Na, wir haben ja Verständnis gehabt! Wir dachten ja auch, dass muss jetzt sein, wegen zum Vorankommen. Sie haben das übernommen und sie sind auch [unverständlich], dass muss alles – wie soll man sagen...
Kühlbandabnehmerin: ...[dass es] bergauf geht! Erasmus Schöfer:
Naja, der [eine Glasmacher] hat erzählt, dass er dann oft bis Nachts, wer weiß wie lang [aufgrund der Kreditverhandlungen, CM] in Wiesbaden [beim Wirtschaftsministerium, CM] war. Morgens dann gleich wieder um sechs dann an die Arbeit. Dann kaum zum Schlafen gekommen. Oder die Frau [des anderen Glasmachers] hat da auch mal angedeutete, dass, also wirklich, wenn sie nicht so viel Geduld gehabt hätte, dann wäre ihre Ehe daran gescheitert.
Sprengerin:
Ja, das glaub ich auch! Mein Mann war meistens mit [Name des Kollegen] weg.
Frühere Kollegin:
Hm, die haben sich schwer eingesetzt für die Kollegen. Das stimmt.
Sprengerin:
Manchmal spät in der Nacht nach Hause gekommen. [Pause]
[…] Erasmus Schöfer:
Ja und so in der jüngsten Vergangenheit – ist nun jetzt vieles anders als früher oder...?
Frühere Kollegin:
Ja, es war früher auch sehr schön. [...]
[…]
III. Wie stand‘s mit der Emanzipation? Kühlbandabnehmerin: ...kommt oft vor [dass Arbeiterinnen Kritik an den Glasmachern üben, CM.] Das kriegen sie schon mal! [Lachen] Sprengerin:
Ja, oft! Bei uns wird zu Hause auch gearbeitet! [Lachen]
Arbeitskollege:
Ja, ist auch nicht schlimm.
Kühlbandabnehmerin: Die [Glasmacher] lachen dann und sagen „Mach du‘s besser!“, aber...
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Sprengerin:
Ja, das muss auch! Wenn ich weiß, dass er es besser machen kann, dann soll er es auch das nächsten Mal besser machen. Ich muss meine Arbeit auch ordentlich machen!
Frühere Kollegin:
Bei Arbeitsfehlern – wenn ich sage, da sind ganz viele Fehler – da geht er gleich auf 180!
Kühlbandabnehmerin: [lachend] Da gehen sie [die Glasmacher] auf 180, ja! Sprengerin:
Da sagt er [mein Mann] zu mir schon immer: „Bei mir schimpfst du immer, aber bei den anderen?“ Sag ich: „Ja, nu – bei den anderen geh ich auch hin, wenn irgendwas nicht richtig ist!“
Frühere Kollegin:
Ja, ist ja deine Pflicht. Du musst ja hingehen, ne. Und du sollst ja sogar auch! Das weiß ich auch schon, wenn es viele Arbeitsfehler gibt, musste gleich hin...
Sprengerin:
Ja, denn sonst ist nächstes Mal wieder der selbe Fehler!
Frühere Kollegin:
Ja, sie müssen ja auch die Fehler herausfinden, nicht, wo es dran liegt und so.
Erasmus Schöfer:
So, aber sonst ist es mit der Emanzipation noch nicht so weit, auf dem Dorf, scheinbar!
Freundin atmet tief ein, lacht. Kühlbandabnehmerin: Aber, Herr Schöfer, wir haben doch kein Dorf! [Lachen] Frühere Kollegin:
Stadt Immenhausen!
Erasmus Schöfer:
Ja, aber es wirkt schon recht ländlich.
Frühere Kollegin:
Früher vielleicht mal. Ist schon ein Städtchen geworden!
Kühlbandabnehmerin: Ja schon, aber da hätten sie früher mal hier sein – [19]51 oder 52, wie wir hier sind her gekommen. Ah Gott! Da war es ein Dorf! Frühere Kollegin:
Armseliges Dorf!
Kühlbandabnehmerin: Ganz armselig. Sprengerin: […]
Aber in Immenhausen kann man sich wohlfühlen, also ist wirklich wahr!
3. MÄNNLICHKEITEN
MÄNNLICHKEIT ALS GROTESKE KOLONIALE (UN-)ORDNUNG AUF BILDPOSTKARTEN UM 19001 Felix Axster Um 1900 avancierte die Bildpostkarte zu einem Massenmedium.2 Insbesondere fotografische Ansichtskarten (von Städten, Gebäuden, Landschaften etc.), aber auch (gezeichnete) Humorpostkarten erfreuten sich großer Beliebtheit – als postalisches Nachrichtenmedium sowie als Sammelobjekt einer sich schnell etablierenden Sammelszene. Die Popularität der Bildpostkarte verdankte sich nicht zuletzt dem Umstand, dass sie von einer prosperierenden Privatindustrie relativ günstig hergestellt wurde und somit breiten Käufer_innenschichten als alltäglicher Gebrauchsgegenstand zur Verfügung stand. Entsprechend lässt sich die Karriere der Bildpostkarte als Chiffre jener sozialen und gesellschaftlichen Transformationen verstehen, die gemeinhin mit der Etablierung der Massen- oder Populärkultur um 1900 assoziiert werden.3 Zeitgleich mit dieser Karriere befand sich der seit Jahrhunderten andauernde Prozess der kolonialen Expansion Europas in einer Hochphase – ausgelöst unter anderem durch die Aufteilung und Inbesitznahme Afrikas im Zuge der sogenannten Kongo-Konferenz, die 1884/85 in Berlin unter Leitung von Reichskanzler Otto von Bismarck stattfand.4 Die Kunsthistorikerin Saloni Mathur bemerkt in diesem Zusammenhang: „The extraordinary popularity of the postcard from roughly 1890 to the First World War, a period in which postcards were produced, collected and circulated with an energy that remains historically unmatched, must be understood within this context of ‚high‘ empire.“5 Das heißt, der Aufstieg der Bildpostkarte verweist auch auf das Zeitalter des Imperialismus bzw. schufen der 1 2
3
4 5
Essay zur Quelle: Koloniale Bildpostkarten um 1900. Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Aus der inzwischen reichhaltigen Literatur zur Geschichte der (Bild-)Postkarte seien hier lediglich erwähnt Holzheid, Anett, Das Medium Postkarte. Eine sprachwissenschaftliche und mediengeschichtliche Studie, Berlin 2011; Walter, Karin, Postkarte und Fotografie. Studien zur Massenbild-Produktion, Würzburg 1995. Maase, Kaspar, Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850–1970, Frankfurt am Main 1997, S. 11, datiert den Aufstieg der Massenkultur in Deutschland auf die Jahre zwischen 1869 und 1914 – dies ist genau der Zeitraum, in dem sich der Aufstieg der (Bild-) Postkarte zu einem Massenmedium vollzog. Zur ‚Kongo-Konferenz‘ siehe Förster, Stig; Mommsen, Wolfgang; Robinson, Ronald (Hgg.), Bismarck, Europe, and Africa. The Berlin Africa Conference 1884–1885 and the Onset of Partition. Oxford u.a. 1988. Mathur, Saloni, Wanted Native Views. Collecting Colonial Postcards of India, in: Burton, Antoinette (Hg.), Gender, Sexuality and Colonial Modernities, London u.a. 1999, S. 95.
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Imperialismus und das mit diesem zusammenhängende Ausmaß an globaler Vernetzung – der Historiker Sebastian Conrad spricht von einer „koloniale[n] Globalität“ – Bedingungen, die den Postkartenboom um 1900 zumindest begünstigten.6 Im Folgenden will ich mich mit den kolonialen Implikationen des – wie es in der Forschung oftmals heißt – ‚goldenen Zeitalters der Bildpostkarte‘ auseinandersetzen.7 Dabei werde ich mich auf die Inszenierung von kolonialer Männlichkeit konzentrieren.8 Im Fokus stehen weniger gewissermaßen klassische Motive oder Konstellationen, die hinsichtlich der Inszenierung von kolonialer Männlichkeit einschlägig sind – heroische Szenen der Eroberung, der Jagd, des militärischen Gefechts, der wissenschaftlichen Expeditionen etc.9 Vielmehr interessieren mich solche Inszenierungsformen, die Ambivalenzen erkennen lassen bzw. das heroische Moment in gewisser Weise ad absurdum führen. Als Aufhänger dient mir das insbesondere aus der Geschichte des Karnevals bekannte Motiv der ‚verkehrten Welt‘, das wesentlich durch die Inversion geschlechtsspezifischer Rollenvorstellungen und also auch durch ein humoristisches Spiel mit Szenarien der Verweiblichung charakterisiert ist.10 Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, kam dieses Motiv auch auf kolonialen Bildpostkarten zum Einsatz, auf Bildpostkarten also, die sich dem kolonialen Diskurs oder dem Dispositiv des Kolonialismus zuordnen lassen.11 Doch worin bestand die Spezifik des ‚kolonialen Karnevals‘? Wie gestalteten sich die Rahmenbedingungen, auf die er Bezug nahm? Und wie ist der humoristische Faktor zu veranschlagen, der die Bezugnahme strukturierte? Um diese Fragen kreisen die folgenden Überlegungen. Vorausgeschickt sei, dass die Karte, die hier im Mittelpunkt stehen soll, nicht gelaufen ist. Das heißt, 6
Conrad, Sebastian, Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, München 2006, S. 44. 7 Zur Metapher des ‚goldenen Zeitalters‘ in Bezug auf die Geschichte der Bildpostkarte siehe z.B. Hax, Iris, „Gut getroffen, wie der Isaac schmunzelt, nicht wahr?“ Zur Medien- und Rezeptionsgeschichte antisemitischer Postkarten, in: Gold, Helmut; Heuberger, Georg (Hgg.), Abgestempelt. Judenfeindliche Postkarten, Frankfurt am Main 1999, S. 97–123. 8 Andere Facetten der kolonialen Implikationen des Postkartenbooms um 1900 habe ich in meiner Dissertation thematisiert. Vgl. Axster, Felix, Koloniales Spektakel in 9x14. Bildpostkarten im Deutschen Kaiserreich, Bielefeld 2014. 9 Vgl. Yekani, Elahe Haschemi, The Privilege of Crisis. Narratives of Masculinities in Colonial and Postcolonial Literature, Photography and Film, Frankfurt am Main u.a. 2011. Siehe auch Pesek, Michael, Die Auferstehung des Kriegshelden aus dem Bett des Offiziers. Die Konstruktion kolonialer Männlichkeit im Ersten Weltkrieg. Beitrag zum Themenschwerpunkt „Europäische Geschichte – Geschlechtergeschichte“, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2009, URL: (27.04.2017). 10 Zum Motiv der ‚verkehrten Welt‘ als Bestandteil der Kultur des (frühneuzeitlichen) Karnevals siehe Scribner, Bob, Reformation, Karneval und die „verkehrte Welt“, in van Dülmen, Richard; Schindler, Norbert (Hgg.), Volkskultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen Alltags (16. – 20. Jahrhundert), Frankfurt am Main 1984, S. 117–152. 11 Zum forschungsstrategischen Umgang mit Bildern als Bestandteilen von Diskursen sowie als Gegenständen von Diskurs- oder Dispositivanalysen siehe Eder, Franz X.; Kühschelm, Oliver; Linsboth, Christina (Hgg.), Bilder in historischen Diskursen, Wiesbaden 2014; Maasen, Sabine; Mayerhauser, Torsten; Renggli, Cornelia (Hgg.), Bilder als Diskurse – Bilddiskurse, Göttingen 2006.
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dass sich der Prozess der Aneignung und Nutzung bzw. die Praxis der Beschriftung kaum thematisieren lassen. Dies ist insofern von Bedeutung, als gerade die Kombination aus massenhaft reproduziertem Bild und individuell hinzugefügtem Text ein zentrales Charakteristikum der Bildpostkarte darstellt. Allerdings sei daran erinnert, dass zahlreiche Karten, ohne gelaufen zu sein, in Sammler_innenkreisen zirkulierten und eben auch die Praxis des Sammelns als eine Form der Aneignung und Nutzung verstanden werden kann.12 Zudem stellt die Praxis der Beschriftung für die historische Analyse zwar ein Moment der Verdichtung dar, da sie Rückschlüsse auf den alltäglichen Umgang mit industriell hergestellten Massenbildern erlaubt; doch handelt es sich bei den individuell hinzugefügten Botschaften der Nutzer_innen zumeist um Texte, die sich im Hinblick auf die Bildebene durch Arbitrarität auszeichnen.13 Um nicht missverstanden zu werden: Auch der Nicht-Bezug stellt eine Form der Bezugnahme dar. Insofern können handschriftliche Mitteilungen auf Bildpostkarten, die angesichts des Motivs beliebig erscheinen, durchaus Indikatoren für die Wirkmächtigkeit von Bildern sein und zum Beispiel Normalität suggerieren.14 Gleichwohl handelt es sich bei Bildpostkarten – ob mit oder ohne Beschriftung – um äußerst flüchtige und gewissermaßen sperrige (historische) Exponate, die sich klassischen Parametern der Quellenkritik (Autor_innenschaft, Entstehungszeitpunkt, Verhältnis zwischen Original und Kopie, Motivation etc.) entziehen. Gerade die Frage nach der konkreten Entstehungs- und Wirkungsgeschichte von jeweiligen historischen Bildpostkarten wird in den meisten Fällen unbeantwortet bleiben müssen. Entsprechend geht es eher darum, mögliche Entstehungsbedingungen und Wirkpotenziale zu eruieren.15 Kolonialer Karneval 1 Zu sehen ist eine Postkarte, die ein komplexes Bild-Text-Arrangement darbietet [Abb. 1].16 Es handelt sich um einen gezeichneten Bilderwitz, der in fünf Statio12 Schätzungen zufolge wurden zumindest im Deutschen Kaiserreich ca. 20 Prozent der produzierten Karten direkt von der Sammelszene absorbiert. Vgl. Hax, Zur Medien- und Rezeptionsgeschichte antisemitischer Postkarten, S. 101; Leclerc, Herbert, Ansichten über Ansichtskarten, in: Archiv für deutsche Postgeschichte (1986), H. 2, S. 5–65, hier S. 31. 13 Dass im Falle der Bildpostkarte nur selten ein expliziter Bezug zwischen Bild und handschriftlicher Mitteilung besteht, wird in der Forschungsliteratur immer wieder hervorgehoben. Baldwin, Broke, On the Verso: Postcard Messages as a Key to Popular Prejudices, in: The Journal of Popular Culture 22 (1988), S. 15–28, z.B. spricht mit Blick auf rassistische Postkarten aus den USA von „messages unrelated to the images“ (S. 15). 14 Vgl. Gugerli, David; Orland, Barbara (Hgg.), Ganz normale Bilder. Historische Beiträge zur visuellen Herstellung von Selbstverständlichkeit, Zürich 2002. 15 Vgl. Betscher, Silke, Bildsprache. Möglichkeiten und Grenzen einer Visuellen Diskursanalyse, in: Eder u.a., Bilder in historischen Diskursen, S. 63–83. 16 Für die folgenden Informationen über den Herausgeber der Karte, über den nur wenig bekannt ist, danke ich Björn Berghausen vom Berlin-Brandenburgischen Wirtschaftsarchiv: Friedrich Schubert war zwischen 1906 und 1908 in der Lothringerstraße 38 (die heutige Tor-
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nen erzählt wird. Als Rahmung fungiert eine Überschrift: „Zukunft’s-Bilder unserer Schutztruppe.“ Im mittleren kreisrunden Bild hängt ein Schild an der Wand, auf dem „Heirath’s-Prüfungscommission“ steht. Am unteren Bildrand ist zu lesen: „Tauglich zum Heirathen.“ Zwei schwarze Frauen in Tüchern werden gewogen und vermessen. Zwei weiße Männer halten die Untersuchungsergebnisse fest. Ein weißer Matrose, dessen Gesichtszüge grotesk anmuten, begutachtet eine der Frauen und kitzelt sie unter dem Kinn. Auch ihr Gesicht hat etwas Fratzenhaftes, was vor allem an den in knallroter Farbe gehaltenen und überproportional großen Lippen liegt. Im linken unteren Bild sind weiße Matrosen zu sehen, die schwarze Frauen im Bastrock küssen. Dahinter stehen zwei schwarze Männer, die Keulen schwingen und Fäuste recken. Untertitelt ist diese Sequenz mit: „Frieden’sUnterhandlungen in Südwest-Afrika.“ Im rechten oberen Bild werden ein weißer Matrose und eine schwarze Frau – mit Tuch – von einem Schutztruppenoffizier getraut. Außerdem sind ein weiterer weißer Matrose und eine weitere schwarze Frau zu sehen, die vermutlich auf ihre Trauung warten. Unter dem Bild heißt es: „Für treu gediente 3 jährige Dienstzeit.“ Das Bild links oben zeigt zwei weiße Männer, die schwarze Kinder auf dem Rücken tragen und sich daher beim Gehen nach vorne beugen. Ihnen folgen zwei schwarze Frauen, abermals in Tüchern. Die Bildunterschrift verrät: „Einst flatterten wir durch’s Leben hin/jetzt stecken im Ehejoch wir drinn.“ Schließlich das letzte Bild auf der rechten unteren Seite: Drei schwarze Frauen in Schutztruppenuniform braten ein Stück Fleisch am Spieß. Erneut fallen die knallroten und überdimensionierten Lippen auf, die einen Großteil der wie verzerrt wirkenden Gesichter ausmachen. Der Text besagt: „Im Biwak.“ Die Karte selbst gibt keine Reihenfolge der Bilder vor. Und doch gibt es eine Dramaturgie, die vor allem durch die Bekleidung der Frauen indiziert wird. Demzufolge lässt sich eine Entwicklung nachvollziehen, die von Baströcken (‚Friedensunterhandlungen‘) über Tücher (Vorbereitung und Vollzug der Eheschließung) bis zu Uniformen (‚Biwak‘) reicht. Korrespondierend vollzieht sich eine Entwicklung der weißen Männer: Das soldatische Leben mündet in das ‚Joch‘ der Ehe mit schwarzen Frauen, die vor allem dadurch gekennzeichnet zu sein scheint, dass die Männer an der Aufzucht der Kinder schwer zu tragen haben. Und in dem Moment, in dem die schwarzen Frauen Uniformen tragen bzw. übernehmen, sind die weißen Männer gänzlich von der Bildfläche verschwunden. Die Karte thematisiert den Übergang von einem Kriegs- in einen Friedenszustand. Dieser Übergang wird zwischen weißen Männern und schwarzen Frauen ausagiert bzw. durch koloniale Geschlechterverhältnisse symbolisiert und gerahmt. Vor dem Hintergrund patriarchal-bürgerlicher und kolonialrassistischer Ordnungsvorstellungen allerdings mutet der Friedenszustand wie eine verkehrte Ordnung an. Insbesondere die Kinder tragenden weißen Männer sowie die Unistraße) in Berlin als Handelsmann eingetragen. Dort saß seit 1905 (und bis 1929) auch Carl Fentzke (manchmal auch Fenske), der eine Kartenhandlung bzw. ein Versandgeschäft betrieb. Wie einige Postkarten, von denen am Ende die Rede sein wird, nahelegen, scheinen zwischen Schubert und Fentzke geschäftliche Beziehungen bestanden zu haben.
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formen tragenden schwarzen Frauen deuten darauf hin, dass es sich um eine Ordnung handelt, die gleichsam auf dem Kopf steht. Formen der Bezugnahme 1 Die Karte „Zukunft’s-Bilder unserer Schutztruppe“ nimmt dezidiert Bezug auf Kriegshandlungen in Namibia, vermutlich auf den von 1904 bis 1907 andauernden Kolonialkrieg zwischen den Herero und Nama einerseits und der deutschen Kolonialarmee andererseits.17 Damit rückt ein Ereignis in den Blick, das dem kolonialen Engagement des Deutschen Kaiserreichs in besonderer Weise Aufmerksamkeit verschaffte – und zwar gerade auch in erinnerungspolitischer Hinsicht. Denn die seit einigen Jahren sich abzeichnende Konjunktur der Beschäftigung mit dem Kolonialismus innerhalb der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft wurde nicht nur durch die verstärkte Rezeption der postkolonialen Theorie ausgelöst, sondern auch durch die von einigen Forscher_innen aufgeworfene Frage, ob es sich bei dem Kolonialkrieg in Namibia und insbesondere bei der Ermordung Zehntausender Herero in der Omaheke-Wüste um Deutschlands ersten Völkermord handele, und ob sich die deutschen Kolonialverbrechen gewissermaßen als Vorboten der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen verstehen ließen.18 Für den Versuch, den Nationalsozialismus aus postkolonialer Perspektive zu historisieren, ist der Kolonialkrieg in Namibia also eine wesentliche Referenz. Ein weiterer wichtiger Faktor in diesem Zusammenhang ist der bereits Jahrzehnte andauernde Kampf vor allem der Herero und Nama um Anerkennung und Entschädigung.19 Auch in historischer Perspektive führte der Kolonialkrieg zu einem verstärkten Interesse für das koloniale Projekt. Zumindest wurde der Krieg im Kaiserreich breit rezipiert, weshalb der Literaturwissenschaftler und Historiker Medardus 17 Zu diesem Krieg siehe Zeller, Joachim; Zimmerer, Jürgen (Hgg.), Völkermord in DeutschSüdwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904–1908) in Namibia und seine Folgen, Berlin 2003. 18 Zimmerer, Jürgen, Von Windhuk nach Auschwitz? Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust, Münster 2011. Zur Kritik an dieser Forschungsperspektive vgl. Gerwarth, Robert; Malinowski, Stephan, Der Holocaust als „kolonialer Genozid“? Europäische Kolonialgewalt und nationalsozialistischer Vernichtungskrieg, in: Geschichte und Gesellschaft 33 (2007), S. 439–466. Zur Bedeutung des Kolonialkriegs für die Erinnerungspolitik und -kultur in Namibia siehe Förster, Larissa, Postkoloniale Erinnerungslandschaften. Wie Deutsche und Herero in Namibia des Kriegs von 1904 gedenken, Frankfurt am Main 2010; Krüger, Gesine, Kriegsbewältigung und Geschichtsbewusstsein. Realität, Deutung und Verarbeitung des deutschen Kolonialkriegs in Namibia 1904 bis 1907, Göttingen 1999. Zur postkolonialen Theorie siehe Castro Varela, María do Mar; Dhawan, Nikita, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 2015. 19 Vgl. Böhlke-Itzen, Janntje, Kolonialschuld und Entschädigung. Der deutsche Völkermord an den Herero 1904–1907, Frankfurt am Main 2004. Siehe auch Später, Jörg, Gegenläufige Erinnerungen. Historizität und politischer Kontext der Debatten um Kolonialismus und Nationalsozialismus, in: freiburg-postkolonial.de, URL: (27.04. 2017).
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Brehl von einem „regelrechte[n] Diskursereignis“ spricht.20 Er hat dabei zahlreiche literarische Veröffentlichungen im Blick, die teilweise schon während des Krieges publiziert wurden.21 Doch es ließe sich auch auf die journalistische Kriegsberichterstattung verweisen, die nicht zuletzt von zwei Korrespondenten ausging, die im Auftrag der Kölnischen Zeitung und des Berliner Lokal-Anzeigers aus Namibia berichteten.22 Zudem wäre an die Debatten über den Krieg im Berliner Reichstag zu erinnern sowie vor allem an dessen Auflösung im Dezember 1906 – Grund war die Nichtbewilligung von ca. 30 Millionen Reichsmark für den Militäreinsatz durch SPD, Zentrum und polnische Fraktion. Die folgenden Neuwahlen erlangten unter dem Schlagwort ‚Hottentottenwahlen‘ Berühmtheit.23 Der Kolonialkrieg war darüber hinaus – so ließe sich Brehls Diagnose weiter ergänzen – auch ein visuelles Diskursereignis. Zahlreiche während des Kriegs erschienene Romane, Tagebücher und populärgeschichtliche Darstellungen, in denen die militärischen Auseinandersetzungen zwischen der Schutztruppe und den Herero und Nama thematisiert wurden, waren mit Zeichnungen oder Fotografien versehen, die die Texte illustrierten.24 Firmen der Konsumgüterindustrie wie zum Beispiel Liebig (Hersteller von Fleischextrakt) oder Stollwerck (Produzent von Schokolade) gaben meist kleinformatige Serien von Sammelbildern heraus, in denen ebenfalls Kriegsszenen zeichnerisch dargestellt wurden.25 Die weithin bekannte Satirezeitschrift Simplicissimus veröffentlichte im Mai 1904 eine Spezialnummer, die gänzlich dem Thema Kolonialismus gewidmet war.26 1904 und 1907 erschienen die ersten Kolonialfotobildbände, in denen jeweils auch Bilder vom Kriegsgeschehen abgebildet waren.27 Schließlich zirkulierten Millionen von der 20 Brehl, Medardus, „Das Drama spielte sich auf der dunklen Bühne des Sandfeldes ab.“ Die Vernichtung der Herero und Nama in der deutschen (Populär-)Literatur, in: Zeller; Zimmerer, Völkermord in Deutsch-Südwestafrika, S. 86–96, hier S. 86. 21 Erwähnt sei hier lediglich der 1906 erschienene Roman „Peter Moors Fahrt nach Südwest. Ein Feldzugsbericht von Gustav Frenssen“, der als eine der populärsten zeitgenössischen Auseinandersetzungen mit dem Kolonialkrieg in Namibia gilt. 22 Vgl. Zeigerer, Merle, Kriegsberichterstatter in den deutschen Kolonialkriegen in Asien und Afrika. Augenzeugen, Anstifter, Komplizen?, Kiel 2016. 23 Vgl. van der Heyden, Ulrich, Die „Hottentottenwahlen“ von 1907, in: Zeller; Zimmerer, Völkermord in Deutsch-Südwestafrika, S. 97–102. Zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der rassistischen Kategorie ‚Hottentotten‘ siehe Göttel, Stefan, „Hottentotten/Hottentottin“, in: Arndt, Susan; Hornscheidt, Antje (Hgg.), Afrika und die deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk, Münster 2004, S. 147–153. 24 Vgl. von Liliencron, Adda, Kriegsklänge der Kaiserlichen Schutztruppe in Deutsch-SüdwestAfrika, Hamburg 1906; Schwabe, Kurd. Mit Schwert und Pflug in Deutsch-Südwestafrika. Vier Kriegs- und Wanderjahre, Berlin 1904; ders., Der Krieg in Deutsch-Südwestafrika 1904–1906, Berlin 1907. 25 Vgl. Zeller, Joachim, Bilderschule des Herrenmenschen. Koloniale Reklamebilder, Berlin 2008. 26 Der „Simplicissimus“ ist inzwischen vollständig digitalisiert. Auch die ‚Spezial-Nummer Kolonien‘ steht als Download bereit, URL:. (27.04. 2017). 27 Vgl. Spenker Kunstverlag (Hg.), Kreuz und Quer durch Deutsch-Südwest-Afrika, Hamburg 1904; Lange, Friedrich, Deutsch-Südwest-Afrika. Kriegs- und Friedensbilder. 100 Originalaufnahmen, Windhuk 1907.
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Front verschickte Feldpostkarten, auf denen mitunter ebenfalls fotografische Eindrücke des Krieges vermittelt wurden.28 Die auf der Karte „Zukunft’s-Bilder unserer Schutztruppe“ ersichtliche Bezugnahme auf den Kolonialkrieg in Namibia war folglich Bestandteil eines in zahlreichen Medien zu beobachtenden Prozesses, in dem Wissen über den Kolonialkrieg sowie allgemein über den Kolonialismus breit vermittelt bzw. popularisiert und überhaupt erst generiert wurde. In diesem Sinne ließe sich argumentieren, dass die Bezugnahme sich weniger auf die Kriegshandlungen vor Ort, sondern vor allem auf deren mediale Aufbereitung durch Presse, Karikatur, Literatur etc. richtete.29 Im Zuge dieser Aufbereitung jedenfalls wurden unterschiedliche Formen der Kritik formuliert – insbesondere seitens der Sozialdemokratie und des Zentrums –, aber auch diverse Formen der Rationalisierung und Legitimierung von kolonialer entgrenzter Gewalt und Vernichtung.30 Auch die Karte „Zukunft’sBilder unserer Schutztruppe“ lässt einen spezifischen Umgang mit Gewalt erkennen. Denn die küssenden Paare als vermeintliche Agenten des ‚Friedensprozesses‘ zeugen von einer Strategie der Verharmlosung oder Bagatellisierung, in deren Folge koloniale Gewalt gänzlich unsichtbar gemacht wird. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Narration, derzufolge der Krieg durch einen interkulturellen Friedenskuss beendet und der Frieden durch die interkulturelle Eheschließung gleichsam befestigt würde, wenn auch als grotesker Zustand, in gewisser Weise quer steht zu anderen Narrationen, wie sie sich zum Beispiel in der Kolonialliteratur oder der kolonialen (Populär-)Wissenschaft herausbildeten. Häufig nämlich wurde im Grunde eine gegenläufige Erzählung in Anschlag gebracht, wonach der Ausbruch des Krieges dazu geführt habe, das – wie es dann mitunter hieß – ‚rassische Bewusstsein‘ oder ‚Rassegefühl‘ der Deutschen überhaupt erst zu erwecken und entsprechend eine als notwendig erachtete Politik der ‚Rassen28 Vgl. Axster, Felix, „… will try to send you the best views from here.” Postcards from the Colonial War in Namibia (1904–1908), in: Langbehn, Volker (Hg.), German Colonialism, Visual Culture, and Modern Memory, London u.a. 2010, S. 55–70. Der Befund, dass die militärische Auseinandersetzung in Namibia auch ein Bild-Ereignis war, widerspricht der Beobachtung von Gerhard Paul, wonach die Kolonialkriege Anfang des 20. Jahrhunderts zumindest in visueller Hinsicht „zeitgenössisch gewiss unterbelichtet oder gänzlich im Dunkeln blieben“ und der „zunächst verborgene[] Schrecken“ erst durch später aufgetauchte Bilder sichtbar wurde. Paul, Gerhard, Bilder des Krieges – Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges, Paderborn 2004, S. 470. Entsprechend liegt die Vermutung nahe, dass es sich bei dem vermeintlich historischen Faktum – die zeitgenössische Unsichtbarkeit der Kolonialkriege in Bildmedien – eher um eine Leerstelle im kulturellen Bildgedächtnis handelt. 29 Zu Prozessen der intermedialen Bezugnahme siehe Jäger, Ludwig; Fehrmann, Gisela; Adam, Meike (Hgg.), Medienbewegungen. Praktiken der Bezugnahme, München 2012. 30 Zeigerer, Kriegsberichterstatter in den deutschen Kolonialkriegen, verweist darauf, dass die journalistischen Kriegsberichterstatter „einen aktiven Beitrag zur Ermöglichung kolonialer Gewalträume“ leisteten, und zwar „indem sie eine neue koloniale ‚Gewaltnormalität‘ in den öffentlichen Diskurs des Deutschen Reiches transferierten, die entgrenzte Gewalt bagatellisierte und bzw. oder unsichtbar werden ließ“ (S. 464). Siehe auch Brehl, Medardus, Vernichtung der Herero. Diskurse der Gewalt in der deutschen Kolonialliteratur, München 2007. Zur Kolonialkritik siehe Jansen, Jan, Die Aufstände der Herero und Nama in DeutschSüdwestafrika und die Kolonialkritik im Kaiserreich, München 2007.
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trennung‘ zu implementieren.31 Auch an dieser Stelle lässt sich also eine Form der Bezugnahme ausmachen, wobei die Karte das Erweckungsnarrativ variiert und sogar in sein Gegenteil verkehrt – hierauf wird am Ende dieses Textes zurückzukommen sein. Mit den küssenden Paaren zeichnen sich weitere Formen der Bezugnahme ab, die hier kurz skizziert werden sollen. Insbesondere geht es um die von der Literaturwissenschaftlerin Susanne Zantop als „koloniale[] Ur-Fiktion“ bezeichnete Vorstellung einer „erotischen Begegnung zwischen einem Europäer und einer ‚Eingeborenen‘“.32 Wesentlicher Bestandteil dieser Vorstellung war ein spezifisches Bild von kolonialer Eroberung, wobei die militärisch-administrative Inbesitznahme des fremden Territoriums durch die von weißen Männern ausgehende sexuelle Eroberung einheimischer Frauen symbolisiert wurde.33 Die Karte „Zukunft’s-Bilder unserer Schutztruppe“ verweist auf die der kolonialen Urfiktion bzw. allgemein kolonialen Geschlechterverhältnissen inhärente Ambivalenz, und zwar indem sie die Eroberung schwarzer Frauen durch weiße (soldatische) Männer in eine Narration einbettet, die insbesondere von einem geschlechtsspezifischen Rollentausch gekennzeichnet ist. Das heißt, die koloniale Urfiktion erscheint gewissermaßen in einem anderen Licht: Im Vordergrund stehen weder Romantisierung noch heroische Männlichkeit, sondern die Karikatur einer kolonialen Ordnung. Insofern handelt es sich eher um eine humoristisch-polemische oder zynische Variante der kolonialen Urfiktion. An dieser Stelle sei auf den Versuch der Regulierung sexueller Verhältnisse in den Kolonien verwiesen: Bis zur Jahrhundertwende waren solche Verhältnisse – wie der Historiker Pascal Grosse resümiert – „an der Tagesordnung“.34 Zumeist handelte es sich um Beziehungen zwischen weißen Männern und schwarzen Frauen, da die Anzahl von weißen Frauen in den Kolonien zunächst sehr gering war. Schwarzen Frauen hingegen kam durch ihre Beziehungen zu weißen Männern oftmals die Rolle und Funktion von Vermittlerinnen zu.35 Gerade dieser Aspekt der Vermittlung war ein wesentlicher Grund, warum zum Beispiel Missionare Eheschließungen zwischen weißen Männern und schwarzen Frauen zu Beginn der Kolonisierung aus kolonialstrategischen Erwägungen durchaus befürworteten.36 Gleichwohl waren sexuelle Beziehungen und gerade Eheschließungen zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten von Anfang an umstritten. Insbesondere Protagonist_innen der organisierten Kolonialbewegung zeigten sich besorgt über 31 Vgl. Grimm, Hans, Der Leutnant und der Hottentott und andere afrikanische Erzählungen, Hamburg 1934; Rohrbach, Paul, Die Kolonie, Frankfurt am Main 1907. 32 Zantop, Susanne, Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland (1770–1870), Berlin 1999, S. 10–11. 33 Siehe McClintock, Anne, Imperial Leather. Race, Gender and Sexuality in the Colonial Contest, London u.a. 1995. 34 Grosse, Pascal, Kolonialismus, Eugenik und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland 1850– 1918, Frankfurt am Main u.a. 2000, S. 149. 35 Allgemein zu diesem Zusammenhang vgl. Theweleit, Klaus, Pocahontas in Wonderland. Shakespeare on Tour. Indian Song, Basel u.a. 1999. 36 Vgl. Wildenthal, Lora, German Women for Empire, 1884–1945, Durham u.a. 2001, S. 86ff.
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den weiteren Verlauf des Kolonisierungsprozesses sowie über die Stabilität kolonialer Machtverhältnisse. Von Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die zeitgenössischen Rassentheorien und ihre obsessive Beschäftigung mit den vermeintlich degenerativen Folgen von Mischungen jeglicher Art.37 Von Bedeutung ist aber auch, dass Ehefrauen von deutschen Männern sowie die gemeinsamen Kinder automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit erhielten.38 Der Kolonialkrieg in Namibia markiert hier eine Zäsur. Denn ein Jahr nach Ausbruch des Krieges wurde auf dem Weg einer amtlichen Verfügung ein zumindest für Namibia geltendes Verbot so genannter Mischehen erlassen.39 Gerade dieses Verbot ist symptomatisch für eine zunehmend am Imperativ der Segregation ausgerichtete Kolonialpolitik des Deutschen Kaiserreichs, die der Krieg zwar nicht initiierte, aber gewiss beförderte. Und wenn Pascal Grosse resümiert, dass der deutsche Kolonialismus „erstmals die Voraussetzungen für die Konstituierung einer ‚rassischen Ordnung‘ in der neueren deutschen Geschichte“ schuf, so stellte das Verbot der Eheschließungen zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten sicherlich eine markante Etappe in diesem Konstitutionsprozess dar.40 Grosse weist außerdem darauf hin, dass dieses Verbot mit der Vorstellung einer sexuellen Autonomie bürgerlicher Männer kollidierte: „Die Steuerung des generativen Verhaltens in der kolonialen Gesellschaft nach rassischen Kriterien war der Versuch, männliche Sexualität durch einen übergeordneten rassenpolitischen Imperativ einzugrenzen. Ferner stellte das eugenische Postulat, der ‚Rassenreinheit‘ Priorität vor der Einheit der Familie einzuräumen, wenn sich diese aus ethnisch verschiedenen Partnern zusammensetzte, die reproduktive Grundlage des bürgerlichen Nationalstaats teilweise zur Disposition.“41 Hier zeigt sich ein Konfliktpotenzial, das die Diskussion über die umstrittenen Verbote wesentlich bestimmte. Zudem deutet sich der kolonialpolitische Bedeutungszuwachs von weißen deutschen Frauen an, deren Ausreise in die Kolonien nach Beendigung des Krieges in Namibia verstärkt organisiert wurde.42 Die Diskussion über die Legitimität von und den Umgang mit sexuellen Verhältnissen zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten wurde im Kaiserreich aber nicht nur anlässlich der so genannten Mischehenverbote geführt, sondern auch und vor allem im Zuge der vielfältigen Kolonialskandale, bei denen es meist um eine Verbindung zwischen Sexualität und Gewalt ging. Mehr noch: Gerade die Kolonialskandale, die im Reichstag, in der Tagespresse oder in Karikaturzeit37 Vgl. Young, Robert J.C., Colonial Desire. Hybridity in Theory, Culture and Race, London u.a. 1995. 38 Vgl. El-Tayeb, Fatima, Schwarze Deutsche. Der Diskurs um „Rasse“ und nationale Identität 1890–1933, Frankfurt am Main 2001. 39 1906 und 1912 wurden entsprechende Verbote auch für die deutschen Besitzungen in OstAfrika und auf Samoa erlassen. Ausführlich befasst sich mit den Entwicklungen in den jeweiligen Kolonien Wildenthal, German Women for Empire, S. 79–130. 40 Grosse, Kolonialismus, Eugenik und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland, S. 10. 41 Ebd., S. 148. 42 Vgl. Walgenbach, Katarina, „Die weiße Frau als Trägerin deutscher Kultur“. Koloniale Diskurse über Geschlecht, „Rasse“ und Klasse im Kaiserreich, Frankfurt am Main u.a. 2005.
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schriften breit verhandelt und als eine Art Subgenre konstituiert wurden, schufen ein Forum, in dem Fragen nach dem Zusammenhang zwischen Sexualität, Gewalt und Kolonialismus öffentlichkeitswirksam adressiert werden konnten.43 Gleichwohl bestand das Charakteristische an den Kolonialskandalen unter anderem darin, dass hier meist Einzelfälle im Fokus der Aufmerksamkeit standen – zum Beispiel männliche Beamte in den Kolonien, deren sexuelle Verhältnisse zu einheimischen Frauen von Gewalt gekennzeichnet waren. Entsprechend resümiert die Historikerin Rebekka Habermas: „Je mehr man skandalisierte, desto mehr verfestigte sich die Vorstellung, brutale Beamte seien die Ausnahme und die Zivilisierungsmission folge einer geordneten, rechtsstaatlichen Regelhaftigkeit.“44 Das heißt, trotzdem ausführlich und en detail über Sexualität und Gewalt geredet wurde, führte die eigentümliche Logik der Skandalisierung letztlich dazu, dass strukturelle Gewalt bzw. strukturell entgrenzte Gewalt als konstitutives Merkmal kolonialer Macht- und Herrschaftsverhältnisse dethematisiert und somit „ein Prozess des silencing, des Beschweigens […] befördert wurde.“45 Bemerkenswert ist dennoch, dass und auf welche Weise koloniale Männlichkeit und romantischer Eroberungsdrang gewissermaßen als heroische Komponenten des kolonialen Projekts zur Disposition gestellt wurden bzw. wie bürgerliche Normen hinsichtlich von Sexualität und Geschlecht im Spannungsverhältnis zwischen spezifisch kolonialen und spezifisch metropolitanen Bedingungen und Anforderungen stets neu ausgehandelt und konfiguriert werden mussten. Die Kolonialskandale jedenfalls, auch wenn sie um Einzelfälle als vermeintliche Ausnahmen von der Regel kreisten, nährten potenziell den Verdacht, dass die Kolonien Räume seien, in denen bürgerliche Vorstellungen von Sitte und Anstand konterkariert würden. Insbesondere wurden kolonisierende Männer verdächtigt, in Folge nicht zuletzt von sexuellen Beziehungen zu einheimischen Frauen zu verrohen – auch hierauf wird zurückzukommen sein. Festzuhalten bleibt, dass die Karte „Zukunft’s-Bilder unserer Schutztruppe“ hinsichtlich der Bezugnahme sowohl auf den Krieg in Namibia als auch auf die sexuelle Dimension kolonialer Macht- und Herrschaftsverhältnisse in vielerlei Hinsicht anschlussfähig war. Sie lässt sich innerhalb eines weit verzweigten massenmedialen Ensembles situieren, in dem sich jeweilige Perspektivierungen von kolonialer Gewalt und kolonialer Sexualität wechselseitig überlagerten und zum Teil auch widersprachen. Doch worin besteht die spezifische Perspektivierung von Kolonialismus, Gewalt und Sexualität auf der Karte „Zukunft’s-Bilder unserer Schutztruppe“? Wie lässt sich die rätselhafte Verbindung von GewaltBagatellisierung, ‚Mischehe‘ und geschlechtsspezifischem Rollentausch verstehen? Die folgenden Überlegungen entsprechen dem Versuch, sich diesen Fragen weiter anzunähern. 43 Vgl. Bösch, Frank, Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien 1880–1914, München 2009, v.a. S. 225–327; Habermas, Rebekka, Skandal in Togo. Ein Kapitel deutscher Kolonialherrschaft, Frankfurt am Main 2016. 44 Habermas, Skandal in Togo. Ein Kapitel deutscher Kolonialherrschaft, S. 21. 45 Ebd., S. 20.
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Formen der Bezugnahme 2 Das Motiv des küssenden Paares, das augenzwinkernd mit einem Friedensprozess in Verbindung gebracht wird und sich als zynische Variante der kolonialen Urfiktion erweist, begegnet auch auf anderen Bildpostkarten. Somit ist ein dem Medium inhärenter serieller Charakter angedeutet. Dieser ergab sich nicht nur aus dem Umstand, dass die Karten massenhaft hergestellt wurden, sondern eben auch aus der Zirkulation von Motiven, die immer wieder verwendet und dabei bisweilen leicht variiert wurden. Zudem wurden zahlreiche Karten als Bestandteile einer Serie (oder zumindest eines Genres) produziert. Dies gilt auch für die Karte „Zukunft’s-Bilder unserer Schutztruppe“, und zwar mindestens in zweifacher Hinsicht: Mit dem mittleren Bild, das eine ‚Heiratsprüfungskommission‘ bei der Arbeit zeigt, reiht sich die Karte in das Genre der Musterungskarten ein.46 Zwar werden hier Frauen vermessen und medizinisch begutachtet, und das Setting ist eben keine Musterungs-, sondern eine Heiratsprüfungskommission; gleichwohl haben sich die schwarzen Frauen am Ende der humoristischen Narration in Soldatinnen verwandelt. Die Nähe zum Genre der Musterungskarten ergibt sich also zum einen durch die narrative Dimension, zum anderen lassen sich aber auch hinsichtlich des Motivs deutliche Überschneidungen erkennen. Um dies zu veranschaulichen, sei hier auf eine weitere Karte verwiesen, die „Zukunftsbild der Infanterie“ betitelt ist [Abb. 2]. Ähnlich wie bei der Karte „Zukunft’s-Bilder unserer Schutztruppe“ wird hier ein Bilderwitz in fünf Stationen erzählt. Das mittlere Bild zeigt eine Musterungskommission bei der Arbeit. Musterungskarten zirkulierten um 1900 in unzähligen Variationen. Meist waren es gezeichnete Karten, die den Weg junger Männer in die Welt des Militärs mal feierlich, mal humoristisch visualisierten. Mitunter waren auf diesen Karten vorgedruckte Textbausteine angebracht, wobei lediglich der Name des/der Adressat_in sowie der Tauglichkeitsgrad eingetragen werden mussten. Fast immer taucht das Motiv der Musterungskommission auf, wodurch der Übergang von der zivilen in die militärische Welt und zugleich die Tauglichkeit als Parameter für Männlichkeit markiert wurden. Zentrale Bestandteile dieses Motivs sind neben den Musternden und den Gemusterten zum Beispiel die Vermessungsgeräte sowie der Schreibtisch, an dem die gewonnenen Daten aufgeschrieben werden. Es handelt sich folglich um ikonische Bildelemente, die Serialität generieren und somit zur Konstitution eines Genres beitragen.47 Die Karte „Zukunft’s-Bilder unserer Schutztruppe“ greift diese Elemente auf und führt sie in gewisser Weise ad absurdum. Anders formuliert: Sie spielt im Register des Genres und treibt es sogleich über seine Grenzen hinaus. Bestandteil 46 Zu diesem Genre siehe auch Hartmann, Heinrich, Maßnehmen am Europäer. Wissenschaft und Militarismus im Spiegel der Musterungen, etwa 1890 bis 1914, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2007, URL: (27.04.2017). 47 Zum Verhältnis zwischen Genre und Serie bzw. Serialität siehe Morsch, Thomas (Hg.), Genre und Serie, Paderborn 2015.
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des Witzes ist ja gerade, dass aus der Musterungs- eine Heiratsprüfungskommission und aus weißen Soldaten schwarze Soldatinnen werden. Beziehungsweise erscheint eine Kommission, die schwarze Frauen vermisst, um ihre Tauglichkeit zum Heiraten feststellen zu können, ebenso grotesk wie die Existenz schwarzer Frauen, die Uniformen der Kaiserlichen Schutztruppe tragen. Um nicht missverstanden zu werden: Die Praxis der Vermessung von (männlichen und weiblichen) Körpern war um 1900 durchaus verbreitet, und zwar nicht nur im militärischen Kontext, sondern auch in wissenschaftlichen Disziplinen wie der Anthropologie, der Kriminologie oder allgemein der sogenannten Rassenkunde.48 Zudem war die Idee einer Ehetauglichkeitsprüfung als bevölkerungspolitisches Regulationsinstrument virulent.49 Insofern ließe sich argumentieren, dass die Karte auch auf rassenkundlich-eugenische Verfahren der Wissensproduktion anspielt. Zumindest eröffnet sich mit dem mittleren Bild der Assoziationsraum des wissenschaftlichen Rassismus.50 In diesem Zusammenhang allerdings mutet eine Institution wie die Heiratsprüfungskommission sonderbar an. Denn ausgehend von dem Reinheitspostulat von Rassetheorie und Eugenik war die Frage, ob schwarze Frauen für die Ehe mit weißen Männern tauglich seien, obsolet, bzw. wurde ihre Untauglichkeit vorausgesetzt. Das heißt, dass der Bilderwitz seine Komik nicht zuletzt durch die scheinbare Absurdität der Überprüfung der Ehetauglichkeit von schwarzen Frauen sowie durch eine verfremdende Wiederholung und also durch ein Spiel mit den Konventionen des Genres erzeugt. Die Karte „Zukunftsbild der Infanterie“ spielt selbst mit den Konventionen des Genres – immerhin sind es hier Frauen, die auf ihre militärische Tauglichkeit hin überprüft werden, Uniformen tragen, mit geschulterten Gewehren marschieren etc. Zudem ist – im Gegensatz zu den ‚klassischen‘ Musterungskarten – von einer zukünftigen Infanterie die Rede. Es wird also das Bild eines phantastischen militärischen Systems entworfen, das durch die Auflösung der Grenzen zwischen ehedem als männlich und ehedem als weiblich konnotierten Sphären charakterisiert ist. Mit dieser Stoßrichtung kündigt sich ein weiteres Genre an, dem sich auch die Karte „Zukunft’s-Bilder unserer Schutztruppe“ zuordnen lässt. Es handelt sich um ein Genre, in dem auf humoristische Weise zukünftige Szenarien einer gesellschaftlichen und sozialen Ordnung durchgespielt werden, bei der die geschlechtsspezifischen Machtverhältnisse invertiert sind. Die Karte „Zukunftsbild der Infanterie“ fügt sich nur bedingt in dieses Schema: Zwar erobern Frauen das Militär als Bastion von Männlichkeit; doch scheinen männliche Soldaten immer noch ranghöhere Funktionen einzunehmen – sie mustern die Frauen, geben den Paradeschritt vor, überprüfen die Uniform beim Wäscheappell usw. Auf anderen Karten 48 Vgl. Gould, Stephen Jay, Der falsch vermessene Mensch, Frankfurt am Main 1983. 49 Vgl. Möhring, Maren, Marmorleiber. Körperbildung in der deutschen Nacktkultur (1890– 1930), Köln u.a. 2004, v.a. S. 364–377. 50 Hartmann, Maßnehmen am Europäer, verweist auf das für die Bedeutung der Musterung um 1900 konstitutive „Wechselspiel zwischen Militarismus, entstehender demografischer Wissenschaft und Feindwahrnehmung“ (S. 2) und resümiert darüber hinaus, dass der „Rekrut […] zum Gegenstand wissenschaftlicher Debatten und Spekulationen“ und gleichzeitig „zu einem Objekt rassistischer Klassifizierung wurde“ (S. 7).
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hingegen kommt das Motiv des Rollentauschs bzw. der verkehrten Welt zum Einsatz.51 Davon zeugen die „Zukunfts-Bilder aus dem Frauenstaat. Unsere Studentinnen“ und „Zur Frauenbewegung. Träume der Frau’n von der Zukunftsehe“ betitelten Karten [Abb. 3 und 4].52 Hier treten Männer in Frauenkleidern auf und übernehmen als weiblich definierte Aufgaben (Putzen), wohingegen Frauen Anzüge tragen, sich duellieren, im Gerichtssaal Recht sprechen, rauchen, Alkohol trinken sowie als Angehörige studentischer Verbindungen Karten spielen. Beide Karten skizzieren das Szenario eines zukünftigen Gemeinwesens, in dem effeminierte Männer für die häusliche Reproduktion zuständig sein sollen und vermännlichte Frauen das öffentliche Leben dominieren. Vor dem Hintergrund der bürgerlichheteronormativen Geschlechterordnung mutet ein solches Szenario grotesk an. Demnach ergibt sich das Groteske weniger aus den Physiognomien der einzelnen Protagonist_innen, die bei der Karte „Zukunft’s-Bilder unserer Schutztruppe“ zumindest teilweise auffällig waren; eher ist es das Auf-den-Kopf-gestellt-Sein der Geschlechterordnung, das den Eindruck einer von Groteske und Verzerrung gekennzeichneten verkehrten Welt vermittelt. Kolonialer Karneval 2 Ich hatte eingangs erwähnt, dass über die konkreten Entstehungs- und Wirkzusammenhänge historischer Bildpostkarten oftmals nur wenig bekannt ist, und dass sich die Forschung zumeist mit der Erörterung von möglichen Entstehungsbedingungen und Wirkpotenzialen begnügen muss. Dies impliziert eine Form der Geschichtsschreibung, die weniger an der Rekonstruktion von (gesicherten) Fakten, sondern eher an der Plausibilisierung von Vermutungen und Interpretationen orientiert ist.53 In diesem Sinne will ich hier abschließend einen Interpretationsrahmen skizzieren, innerhalb dessen das auf den Karten verhandelte Motiv der verkehrten Welt meines Erachtens situiert werden kann. In Anlehnung an Jürgen Links Auseinandersetzung mit dem Normalismus bezeichnet der Medienwissenschaftler Friedrich Balke die Denormalisierungsangst als eine „Grund-Angst der Moderne“.54 Normalität wiederum sei „keine soziale 51 Die Karte „Zukunftsbild der Infanterie“ wurde am 30. April 1909 innerhalb Berlins verschickt. In der handschriftlichen Mitteilung heißt es: „Lieber Schwager, angesetzt zur Infanterie. Es grüßt Dein Schwager Emil.“ 52 Die Karten wurden von den Verlagen Schubert und Fentzke herausgegeben, beide ansässig in der Lothringerstraße 38 in Berlin. Es ließen sich noch zahlreiche weitere, nicht nur von Schubert und Fentzke, sondern auch von anderen Verlagen herausgegebene Exemplare anführen, die allesamt entsprechende Szenarien entwerfen. 53 Vgl. Betscher, Bildsprache. Möglichkeiten und Grenzen einer Visuellen Diskursanalyse S. 63–83. 54 Balke, Friedrich, Die neue Unübersichtlichkeit ist ziemlich alt. Jürgen Links „Versuch über den Normalismus“, in: Merkur (1998), H. 586, S. 68. Siehe auch Link, Jürgen, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen 1997.
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Perfektionsformel, sondern beschreibt den Modus, wie die Gesellschaft ihre eigene Dynamik reguliert, nachdem sie alle Brücken zu den vormaligen kulturellen Sicherheiten hinter sich abgebrochen hat.“55 Wesentlicher Bestandteil dieser Dynamik sind soziale Emanzipationsbewegungen, die das Recht auf Anerkennung und Teilhabe einfordern. Das heißt, dass Normalitätsgrenzen stets umkämpft sind und sich permanent verschieben. Die Karten sind Ausdruck solcher Kämpfe und Verschiebungen. Sie sind ein Indikator für Denormalisierungsängste, die auf den Feminismus bzw. die verschiedenen Strömungen der Frauenbewegung des Kaiserreichs (und anderer Länder wie zum Beispiel Großbritannien und die USA) rückführbar sind.56 Indem sie den zukünftigen ‚Frauenstaat‘ sowie die ‚Zukunftsehe‘ als eine Groteske stilisieren, denunzieren sie die Emanzipationsbestrebungen von Frauen. Sie lassen sich daher – um einen Ausdruck der Historikerin Ute Planert zu verwenden – als „Agenturen des Antifeminismus“ verstehen.57 Die Karte „Zukunft’s-Bilder unserer Schutztruppe“ zeugt von einer weiteren, einer spezifisch kolonialen Denormalisierungsangst. Diese lässt sich zum einen unmittelbar mit dem Kolonialkrieg in Namibia in Verbindung bringen bzw. mit der Angst vor Aufständen und Revolten, die das koloniale Machtverhältnis zu unterminieren drohten. Zum anderen ergab sich die Angst gewissermaßen aus der Logik der Kolonisierung und des kolonialen Rassismus selbst, aus der Vorstellung nämlich, dass Menschen aufgrund ihrer vermeintlichen rassischen Zugehörigkeit eine bestimmte Wertigkeit zugeschrieben werden könne, und dass durch den Kolonisierungsprozess eine Dynamik in Gang gesetzt würde, in deren Folge eben auch die Zuschreibung von Wert einem Wandel unterliege. Die weit verbreitete Legitimierungsstrategie, derzufolge der Kolonialismus als Zivilisierungsmission dem Fortschritt der Menschheit diene, implizierte ja gerade die Idee einer „moralischen Hebung“, die zum Beispiel durch Erziehung oder die Vermittlung eines bestimmten, im Zuge unter anderem der Entstehung und Ausbreitung des Kapitalismus seit dem 15. Jahrhundert sich etablierenden Arbeitsethos bewerkstelligt werden sollte.58 Allerdings gab es auch ein der Idee des Hebens komplementäres Szenario, und zwar das Sinken der Kolonisierenden, wobei das fremde Klima, die Adaption von Sprache, Kleidung und Alltagsgewohnheiten der Kolonisierten, die Einsamkeit in den Weiten der Kolonie und der fehlende Kontakt zur Heimat, vor allem aber sexuelle Verhältnisse zu kolonisierten Frauen und Eheschließungen mit (oder Liebesbeziehungen zu) diesen als auslösende Faktoren galten. Im deutschen Kolonialismus wurde ein solches vermeintliches Sinken durch den Begriff der Verkafferung markiert.59 55 Balke, Die neue Unübersichtlichkeit ist ziemlich alt, S. 69. 56 Vgl. Gerhard, Ute, Frauenbewegung und Feminismus. Eine Geschichte seit 1789, München 2009. 57 Vgl. Planert, Ute, Antifeminismus im Kaiserreich. Diskurs, soziale Formation und politische Mentalität, Göttingen 1998, S. 12. 58 Habermas, Skandal in Togo. Ein Kapitel deutscher Kolonialherrschaft, S. 17. 59 Vgl. Axster, Felix, Die Angst vor dem ‚Verkaffern‘ – Politiken der Reinigung im deutschen Kolonialismus, in WerkstattGeschichte 39 (2005), S. 39–53; Dietrich, Anette, ‚Verkaffern‘, in: Nduka-Agwu, Adibeli; Lann Hornscheidt, Antje (Hgg.), Rassismus auf gut Deutsch. Ein
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Auf der Karte „Zukunft’s-Bilder unserer Schutztruppe“ resoniert das Szenario der Verkafferung. Immerhin werden hier Ehen zwischen weißen Männern und schwarzen Frauen geschlossen. In dem Bild der Kinder tragenden Väter sowie in dem Bild der schwarzen Frauen in Schutztruppenuniform werden offenbar die Effekte dieser Eheschließung veranschaulicht. Geschlechterordnung wie koloniale Ordnung stehen also gleichermaßen auf dem Kopf. Und wenn im Rahmen der Forschung immer wieder auf den Zusammenhang zwischen Antifeminismus und Antisemitismus hingewiesen wird, so muss wohl auch nach dem Verhältnis zwischen Antifeminismus und Kolonialrassismus gefragt werden.60 Das Szenario der Verkafferung war eine spezifisch deutsche Ausprägung des going native, eines Akkulturationskomplexes also, der in allen Kolonialmächten virulent war. Stets ging es um die Vorstellung, dass sich die Kolonisierenden (bzw. vor allem die kolonisierenden Männer) in kultureller und sozialer Hinsicht an die Kolonisierten annähern oder angleichen könnten. In Abhängigkeit von dem Verhältnis zwischen assimilatorischen und segregierenden Tendenzen innerhalb jeweiliger nationaler Kolonisierungskonzepte und -politiken war diese Vorstellung durchaus unterschiedlich konnotiert. Im kolonialen Diskurs des Deutschen Kaiserreiches jedenfalls war die Diagnose der Verkafferung, die ein symbolisches Schwarz-Werden der Kolonisierenden implizierte, hochgradig normativ aufgeladen und ein zentraler Topos der kolonialen Denormalisierungsangst. Die humoristische Bezugnahme auf das Szenario der Verkafferung wiederum, die gleichzeitig eine Re-Artikulation darstellt, lässt sich als eine spezifische Form der Rationalisierung dieser Angst verstehen. Zwar wurde die verkehrte Welt hier unmittelbar und quasi ungefiltert vor Augen gestellt. Gleichwohl war dieses Vor-AugenStellen komisch gemeint und also eine Einladung zum Lachen. Die dargestellte verkehrte Welt sollte als Karikatur einer Ordnung zu erkennen sein. Das heißt, die Möglichkeit von Denormalisierung wurde zwar thematisiert, das Verfahren der Ridikülisierung aber stellte die Normalitätsgrenzen sicher. Es fungierte als Strategie der Selbstvergewisserung und gleichzeitig als Versicherung gegenüber der Denormalisierungsangst. In ähnlicher Weise lässt sich mit Blick auf die Frage nach der Thematisierung von Gewalt argumentieren: In den ersten Wochen des Krieges besetzten die Herero zahlreiche deutsche Farmen und ermordeten ca. hundert deutsche Siedler.61 Insofern war der Krieg gerade zu Beginn zumindest für die Kolonisierenden durchaus bedrohlich. Die Keulen schwingenden schwarzen Männer auf der Karte kritisches Nachschlagewerk zu rassistischen Sprachhandlungen, Frankfurt am Main 2010, S. 204–207. 60 Zu den Verbindungslinien zwischen Antifeminismus und Antisemitismus siehe Volkov, Shulamit, Antisemitismus und Antifeminismus: Soziale Norm oder kultureller Code, in: dies., Das jüdische Projekt der Moderne. Zehn Essays, München 2001, S. 62–81. 61 Vgl. Krüger, Kriegsbewältigung und Geschichtsbewußtsein, S. 46. Allgemein zum Verlauf des Krieges siehe Kuß, Susanne, Kriegsführung ohne hemmende Kulturschranke: Die deutschen Kolonialkriege in Südwestafrika (1904–1907) und Ostafrika (1905–1908), in: Klein, Thoralf; Schumacher, Frank (Hgg.), Kolonialkriege. Militärische Gewalt im Zeichen des Imperialismus, Hamburg 2006, S. 208–247.
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„Zukunft’s-Bilder unserer Schutztruppe“ hingegen wirken keineswegs bedrohlich, sondern muten im Gegenteil lächerlich an, zumal sie von den küssenden Paaren hintergangen werden. So gesehen erweist sich die humoristische Bezugnahme abermals als eine Form der Rationalisierung mit dem Effekt, den bedrohlichen Charakter der antikolonialen Gewalt gewissermaßen zu bändigen und entsprechend die Normalitätsgrenzen sicherzustellen. Die eigene Gewalt wiederum, also die von den Kolonisierenden ausgehende entgrenzte Gewalt, wird wie oben erwähnt gänzlich unsichtbar gemacht. Es bleibt rätselhaft, warum auf der Karte Krieg, Friedenskuss, Eheschließung und geschlechtsspezifischer Rollentausch derart montiert werden – und zwar, wie ebenfalls oben erwähnt, im Gegensatz zu dem eher klassischen Erweckungsnarrativ, demzufolge der Krieg zu einer rassischen Bewusstwerdung der Deutschen und somit auch zu einer behördlichen Regulierung von ‚Mischehen‘ geführt habe. Möglicherweise wäre hier so etwas wie eine mediale Eigenlogik in Rechnung zu stellen, die sich unter anderem in der Überblendung verschiedener serieller Bildelemente, die auch auf anderen Postkarten verwendet wurden (Friedenskuss), bzw. in der gleichzeitigen Bezugnahme auf verschiedene Genres (Musterungskarten, phantastische Zukunftskarten, Rollentauschkarten) offenbart. Das heißt im Umkehrschluss, dass es vermutlich in die Irre führen würde, eine spezifische Rationalität des humoristischen Kommentars zu unterstellen, derzufolge die Montage der jeweiligen Topoi im Sinne einer Kritik an einer vermeintlich allzu assimilatorisch ausgerichteten Kolonialpolitik erfolgte – zumal der Krieg eben die segregationistischen Tendenzen verstärkte. Der koloniale Bilderwitz auf Postkarten jedenfalls war in besonderer Weise wirkmächtig. Er garantierte die Zirkulation spezifisch kolonialer Denormalisierungsängste und Rationalisierungsstrategien innerhalb der Massen- oder Populärkultur und trug somit zur Popularisierung kolonialrassistischer Ordnungsvorstellungen bei. Literaturhinweise Alloula, Malek, Haremsphantasien. Aus dem Postkartenalbum der Kolonialzeit, Freiburg 1994. Geary, Christraud; Webb, Virginia-Lee (Hgg.), Delivering Views. Distant Cultures in Early Postcards, London u.a. 1998. Jäger, Jens, Bilder aus Afrika vor 1918. Zur visuellen Konstruktion Afrikas im europäischen Kolonialismus, in: Paul, Gerhard, Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006, S. 134–148. Kusser, Astrid; Lewerenz, Susann, Genealogien der Erinnerung – die Ausstellung Bilder verkehren im Kontext der Gedenkjahre 2004/2005, in: Hobuß Steffi; Lölke, Ulrich (Hgg.), Erinnern verhandeln. Kolonialismus im kollektiven Gedächtnis Afrikas und Europas, Münster, S. 214–245. Sturani, Enrico, Das Fremde im Bild. Überlegungen zur historischen Lektüre kolonialer Postkarten, in: Fotogeschichte 21 (2001), S. 13–24.
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Q Quellen 6 Koloniale K B Bildpostkarteen um 190062
Abb. 1: „Zukunft’ss-Bilder unserrer Schutztrup ppe“63
Abb. 2: „Zukkunftsbild derr Infanterie“64
622 Die Quelllen sind online erschiienen im Themenportal T l Europäischhe Geschich hte, URL: . 633 Universitääts- und Stadttbibliothek K Köln.
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Abb.. 3: „Zukunftss-Bilder aus dem d Frauensta aat“65
Abb. 4: „Z Zur Frauenbeewegung“66
644 Historisch he Bildpostkaarten – Univeersität Osnab brück Sammllung Prof. D Dr. Sabine Giiesbrecht, ww ww.bildpostkkarten.uos.de.. 655 Historisch he Bildpostkaarten – Univeersität Osnab brück Sammllung Prof. D Dr. Sabine Giiesbrecht, ww ww.bildpostkkarten.uos.de.. 666 Deutschess Historisches Museum, B Berlin/I. Desn nica.
DAS VERLORENE GESCHLECHT ZUR KASTRATION VON SEXUALSTRAFTÄTERN SEIT 19451 Annelie Ramsbrock Deutschland ist neben der Tschechischen Republik eines von wenigen Ländern Europas, in dem die chirurgische Kastration (Orchiektomie) im Rahmen der Behandlung von Sexualstraftätern bis heute per Gesetz erlaubt ist. Erlassen wurde das Gesetz über die freiwillige Kastration und andere Behandlungsmethoden (KastrG) im August 1969; Anwendung fand die Orchiektomie seitdem nur selten, nicht zuletzt, weil chemische, hormonelle und psychotherapeutische Behandlungsmethoden zunehmend an Bedeutung gewannen.2 Dennoch: Dass die Bundesrepublik die chirurgische Kastration für Sexualstraftäter überhaupt anbietet, wurde im August 2010 vom Europäischen Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) beanstandet. Die Delegierten formulierten ihre „grundsätzlichen Bedenken gegen die Anwendung der chirurgischen Kastration als Mittel der Behandlung von Sexualstraftätern“, nachdem sie routinemäßig verschiedene deutsche Gefängnisse besucht und sich über die Umstände der Kastration informiert hatten. Nicht nur, dass die Operation als eine „verstümmelnde“ und „erniedrigende Behandlung“ bewertet wurde, die nicht den internationalen „Behandlungsstandards für die Behandlung erwachsener Sexualstraftäter“ entspreche. Auch wurde zu bedenken gegeben, dass der Eingriff „irreversible körperliche Folgen“ habe; schließlich nehme er „einer Person die Fähigkeit, sich fortzupflanzen“ und könne zu „schwerwiegenden körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen führen.“ 3 Der sich daraus ergebenden Empfehlung des Europarates an die Bundesrepublik Deutschland, „die Anwendung der chirurgischen Kastration im Rahmen der Behandlung von Sexualstraftätern in allen Bundesländern einzustellen“, kam die Bundesregierung bis heute nicht nach.4 Stattdessen verfasste sie ihrerseits eine Stellungnahme, in der sie erklärte, dass die Kastration von Sexualstraftätern keine 1
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Essay zur Quelle: Auszug des Gesetzentwurfs über die freiwillige Kastration und andere Behandlungsmethoden (8. Januar 1969). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Zur Entwicklung medikamentöser Kastrationsmethoden in der Bundesrepublik siehe grundlegend Sammet, Kai, Mehr Freiheit wagen? Cyproteronacetat, Sexualstraftäter und das „Gesetz über die freiwillige Kastration und andere Behandlungsmethoden“ 1960–1975, in: Medizinisch Historisches Journal 40 (2005), S. 51–78. Report to the German Government on the visit to Germany carried out by the European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (CPT) from 25 November to 7 December 2010, CPT/Inf (2011) 6, S. 59. Ebd., Unterstreichung im Original.
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Strafe und auch keine erniedrigende Behandlung sei, sondern der „Heilung oder zumindest Linderung von schwerwiegender Krankheiten, seelischen Störungen oder Leiden, die mit dem abnormen Geschlechtstrieb des Betroffenen zusammenhängen“ diene.5 Die Frage danach, wie die chirurgische Kastration von Sexualstraftätern zu bewerten ist – als Strafe oder Therapie – wird nicht erst seit dem 21. Jahrhundert gestellt. Vielmehr setzten sich zahlreiche europäische Länder und auch die USA seit dem frühen 20. Jahrhundert mit diesem Problem auseinander. Der Gesetzgebung in Westdeutschland gingen fast zwei Jahrzehnte andauernde Debatten über die physischen und psychischen Folgen einer Kastration voraus, an denen sich Juristen ebenso beteiligten wie Mediziner und Psychologen. Aus heutiger Sicht erscheinen ihre Argumente, die größtenteils in die Begründung zum Kastrationsgesetz eingegangen sind, vor allem deshalb interessant, weil sie geeignet sind, um ein wesentliches Anliegen der noch verhältnismäßig jungen Geschichte der Männlichkeiten aufzugreifen, nämlich „historisch zu zeigen, was wann Männer zu Männern gemacht hat“ und damit „die Uneindeutigkeit des Mannseins“ bzw. „die historische Eingebundenheit verschiedener Formen des Mannseins in ganze Ensembles von Zuschreibungen“ herauszuarbeiten.6 Fragen nach dem Für und Wider die Kastration waren eng mit Fragen nach Männlichkeit verbunden, vor allem mit der Frage, inwieweit der Verlust der Hoden die männliche Sexualität und damit einhergehend die Fremd- und Selbstwahrnehmung der Betroffenen als Mann beeinflusse. Fragen nach den Grundlagen geschlechtlicher Identitätsbildung sind auf einer wissenstheoretischen Ebene längst gestellt und auch beantwortet worden. Nicht biologische Unterschiede zwischen Frauen und Männern seien ursächlich für Rollenbilder und Selbstwahrnehmungen oder für soziale Hierarchien und Ausschlussmechanismen, sondern die jeweiligen Schlussfolgerungen, die daraus gezogen würden.7 Am konsequentesten (und auch streitbarsten) hat diesen Aspekt wohl Judith Butler verfolgt in ihrem vieldiskutierten Buch Das Unbehagen der Geschlechter. Darin spricht sie sich gegen eine Trennung von sex und gender als dem natürlichen und sozialen Geschlecht aus, weil selbst die biologische Geschlechterdifferenz nichts Vor-Soziales sei, sondern durch Normen konstituiert. Auch das vermeintlich natürliche Geschlecht, so Butler, werde durch den Diskurs der (Zwangs-)Heterosexualität konstituiert, der wiederum auf der sogenannten heteronormativen Matrix gründe. Diese Matrix beschreibt eine binäre Geschlechterordnung, innerhalb derer eine Kohärenz zwischen Geschlechtskörper, sozialem Geschlecht und sexueller Orientierung (Begehren) angenommen wird, was meint, dass ein biologisch als Mann identifizierter Mensch sich (vermeintlich) männlich 5
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Stellungnahme der Bundesregierung zu den Empfehlungen, Kommentaren und Auskunftsersuchen des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) anlässlich seines Besuchs vom 25. November bis 7. Dezember 2010, CPT/Inf (2012), S. 65. Grundlegend dazu Martschukat, Jürgen; Stieglitz, Olaf, Geschichte der Männlichkeiten, Frankfurt am Main 2008, S. 57. Opitz-Belakhal, Claudia, Geschlechtergeschichte, Frankfurt am Main 2010, S. 14.
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verhält und eine weibliche Partnerin begehrt. Das sei aber keineswegs ‚natürlich‘, so Butler, sondern Ergebnis gesellschaftlichen Ordnungsdenkens. Wenngleich Butler für ihren radikalen Konstruktivismus häufig kritisiert worden ist – tatsächlich hat sie die Materialität des biologischen Geschlechts nie verneint, sondern lediglich postuliert, dass aufgrund der sozialen Wirkmächtigkeit des heteronormativen Modells jeder Mensch zwangsläufig Mann oder Frau sein müsse. „Es gibt kein Ich“, erklärt sie, „vor der Annahme eines Geschlechts“8. Folgt man ihrer Denkfigur, dass jeder Versuch „zur Materie als etwas dem Diskurs Vorgängigen zurückzukehren“ mit der Einsicht endet, „daß Materie vollständig erfüllt ist mit abgelagerten Diskursen um das biologische Geschlecht und Sexualität“9, so lässt sich daran die Frage anschließen, inwieweit sich diese Diskurse verändern, wenn in die Materie eingegriffen wird, im Fall der Kastration: wenn die Keimdrüsen als biologisches Substrat des männlichen Geschlechts entfernt werden. Welche Konsequenzen die Entfernung der Hoden auf die Geschlechtsidentität der Betroffenen haben würde, war eine Frage, die die Debatten über das Für und Wider eines Kastrationsgesetzes wesentlich bestimmte und den Gesetzesentwurf inhaltlich prägte. Da diese Frage eng mit rechtsstaatlichen und medizinischen Erwägungen der 1960er- und 1970er-Jahre verbunden war, wird es darum im ersten Teil dieses Beitrags gehen. Anschließend wird diskutiert, was „Mannsein“ im zeitgenössischen juristischen und psychiatrischen Diskurs ausmachte, und welche Bedeutung den männlichen Keimdrüsen als Bestandteil des biologischen Geschlechts dabei zukam. Nicht zuletzt stellt sich die Frage, inwieweit die kastrierten Männer selbst eine Wahrung oder einen Wandel ihrer Geschlechtsidentität proklamierten. I. Eine Frage des Rechts: die Kastration als Therapie der „Perversion“ Seit die Kastrationen als Behandlungsmethode für Sexualstraftäter im frühen 20. Jahrhundert erstmals diskutiert wurden, stellte sich die Frage nach ihrer Vereinbarkeit mit dem gesellschaftlichen Selbstverständnis und der physischen Integrität des Einzelnen.10 Während manche Juristen die Kastration „als letztes Mittel gegen die gewohnheitsmäßigen Sittlichkeitsverbrecher“11 einführen wollten, betrachteten andere diesen Eingriff als eine „barbarische Strafe“12. Er bringe eine „erhebli8
Butler, Judith, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin 1995, S. 139. 9 Ebd. S. 53. 10 Siehe zu den Anfängen des kriminologisch-psychiatrischen Diskurses, Breidenstein, Georg, Geschlechtsunterschied und Sexualtrieb im Diskurs der Kastration Anfang des 20. Jahrhunderts, in: Eifert, Christiane et al. (Hgg.), Was sind Frauen? Was sind Männer? Geschlechterkonstruktionen im historischen Wandel, Frankfurt am Main 1996, S. 217–239. 11 Das forderte etwa Erich Wulffen in seinem Buch: Der Sexualverbrecher, Berlin 1910, S. 38. 12 Schultze, Ernst, Die Strafe der Kastrierung, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 34 (1913), H. 1, S. 663–671, hier: S. 663.
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che seelische Belastung für das Ehrgefühl“ mit sich, zudem die „Unfähigkeit eine Familie zu gründen“13. Inwieweit diese Folgen aber schwerer wiegen würden als der möglicherweise lebenslange Verlust der Freiheit (was oftmals alternativ gedacht wurde),14 blieb unter Experten offen, weshalb es in der Weimarer Republik nicht mehr zu einer rechtlichen Regelung für die Kastration von Sexualstraftätern kam. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde sowohl die freiwillige Kastration als auch die Zwangskastration gesetzlich eingeführt. Die Zwangskastration regelten die Vorschriften zur „Entmannung gefährlicher Sittlichkeitsverbrecher“, die in das sogenannte „Gewohnheitsverbrechergesetz“ vom November 1933 aufgenommen worden waren.15 Die freiwillige Kastration wurde hingegen durch das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) vom 14. Juli 1933 geregelt. Demnach konnte ein Mann kastriert werden, wenn dies „nach amts- oder gerichtsärztlichen Gutachten erforderlich ist, um ihn von einem entarteten Geschlechtstrieb zu befreien“ und er dazu seine Einwilligung gegeben hatte.16 Gesetze, die Kastrationen auf freiwilliger Basis regelten, waren auch in anderen europäischen Ländern erlassen worden, etwa in Dänemark im Jahr 1929 oder in Norwegen und Schweden 1934. In der Schweiz und den Niederlanden konnten sich Sexualstraftäter ebenfalls kastrieren lassen, allerdings erließen beide Länder keine entsprechenden Gesetze. Nach dem Zweiten Weltkrieg hoben die Alliierten mit der Kontrollratsdirektive Nr. 11/1946 zwar die Möglichkeit der „zwangsweisen Entmannung“ im „Gewohnheitsverbrechergesetz“ auf,17 ließen das Erbgesundheitsgesetz aber bestehen. Von amerikanischer Seite wurde lediglich eine Suspendierung der Vorschriften angeregt, woraufhin einige deutsche Länder eigene Regelungen trafen. So wurde das Gesetz in Thüringen am 20. August 1945 aufgehoben, in Bayern am 20. November 1945, in Hessen wurde am 16. Mai 1946 verfügt, das Gesetz bis auf weiteres nicht mehr anzuwenden und Württemberg-Baden setzte das Gesetz durch ein am 24. Juli 1946 erlassenes weiteres Gesetz aus. Die sowjetische Besatzung befahl schließlich am 8. Januar 1946 die Aufhebung des Gesetzes in ihrer gesamten Zone. Dagegen erließ die englische Besatzung am 28. Juli 1947 eine Verordnung über die Wiederaufnahme von Erbgesundheitsverfahren. Da es aber keine Erbgesundheitsgerichte mehr gab, wurde das Gesetz praktisch auch hier nicht mehr angewendet. Nach 1949 wurde es in der DDR vollständig aufgehoben, in einzelnen Ländern der Bundesrepublik galt es hingegen in Teilen fort, sofern das Grundgesetz davon nicht berührt wurde. 13 Gruhle, Hans W., Schwachsinn, Verbrechen und Sterilisation, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 52 (1932), S. 424–432, hier: S. 424. 14 Hirschfeld, Magnus, Kastration bei Sittlichkeitsverbrechern, in: Zeitschrift für Sexualwissenschaft 15 (1928), S. 54–55, hier: S. 54. 15 Dazu ausführlich Wachsmann, Nikolaus, Gefangen unter Hitler. Justizterror und Strafvollzug im NS-Staat, München 2004, S. 139–143. 16 ErbgG, § 14 Abs. 2. 17 Musoff, Tobias, Strafe – Maßregel – Sicherungsverwahrung. Eine kritische Untersuchung über das Verhältnis von Schuld und Prävention, Frankfurt am Main 2008, S. 26.
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Insbesondere in jenen Bundesländern, die das Erbgesundheitsgesetz abgeschafft hatten, beurteilten Ärzte die Rechtslage als „unbefriedigend“ und „undurchsichtig“, weil die Zulässigkeit von Kastrationen hier nach dem Strafgesetzbuch beurteilt wurde.18 In diesem Sinne waren sie nach §226 StGB zunächst als „schwere Körperverletzung“ zu bewerten, für die der behandelnde Arzt – theoretisch – mit einer Haftstrafe belangt werden konnte. Dass dem praktisch nicht so war, lag wiederum daran, dass das Strafgesetzbuch den Tatbestand der Körperverletzung mit Einwilligung (§228) kannte, wonach nur dann rechtswidrig gehandelt wurde, wenn die Tat trotz der Einwilligung gegen die „guten Sitten“ verstoße. Da die Frage nach den guten Sitten eine Generalklausel war, die dem erkennenden Richter einen gewissen Interpretationsspielraum ließ, verweigerten viele Ärzte aus Angst vor einer möglichen Strafe die Kastration aus kriminalpolitischen Erwägungen heraus vorzunehmen. Auf dem Weg zu einem Bundesgesetz, das Klarheit schaffen sollte, waren verschiedene Fragen zu klären, von denen die nach dem Wesen der Freiwilligkeit eine grundlegende war. Im Kern der Debatte standen Bedenken, inwieweit die Einwilligung eines Häftlings aufgrund des besonderen Gewaltverhältnisses, in dem er sich befindet, überhaupt als freiwillig bewertet werden könne? Während England die freiwillige Kastration nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Hinweis abgeschafft hatte, dass von einer tatsächlichen Freiwilligkeit unter den Bedingungen des Freiheitsentzugs nicht ausgegangen werden könne,19 argumentierte die Bundesregierung anders. Es sei zwar richtig, dass der Betroffene, der sich im Strafvollzug befindet, in einer Zwangslage sei. Doch sei das Leben insgesamt von Zwangslagen geprägt, unter denen Entscheidungen getroffen werden müssten. Insofern könne es bei einer rechtlichen Bewertung, ob die Einwilligung freiwillig sei, nicht allein darauf ankommen, dass der Betroffene zwischen zwei Übeln zu wählen habe. Unfreiwillig wäre die Entscheidung des Betroffenen nur dann, wenn der Staat dessen Zwangslage herbeigeführt hätte, um dadurch die Einwilligung zur Kastration zu erzwingen. Das sei aber in Westdeutschland nicht der Fall. Hier liege der Grund für den Freiheitsentzug allein darin, dass der Betroffene eine rechtswidrige Tat begangen habe.20 Vor dem Hintergrund dieser Problemlagen und den anders lautenden Argumenten europäischer Nachbarländer, wurde schließlich als Gesetzesvorlage beschlossen, dass die Einwilligung des inhaftierten Straftäters, um strafrechtlich erheblich zu sein, gegenüber derjenigen Person erfolgen müsse, die den Eingriff vornimmt, also gegenüber dem behandelnden Arzt. Damit hatte ein Straftäter die Möglichkeit, falls er eine Einwilligung gegenüber einer Gutachterstelle abgegeben hatte, diese gegenüber dem behandelnden Arzt zu widerrufen. Als weitere Vo18 Krause, Werner, Freiwillige Entmannung aus medizinischer und kriminalbiologischer Indikation. Grundlagen und Folgerungen, Stuttgart 1964, S. 7. 19 Vgl. die mit diesem Essay veröffentlichte Quelle Entwurf eines Gesetzes über die freiwillige Kastration und andere Behandlungsmethoden vom 8. Januar 1969, Drucksache V/3702, S. 1– 26, hier S. 8, URL: (27.10.2017). 20 Ebd., S. 17.
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raussetzung für die Wirksamkeit der Einwilligung wurde die vorherige Aufklärung des Betroffenen über die zu erwartenden physischen und psychischen Folgen des Eingriffs festgeschrieben. Überlegungen, die freiwillige Kastration zudem von der Einwilligung der Ehefrau abhängig zu machen, wurden ebenso angestellt (Beispiel hierfür war Schweden), aber nicht in den bundesdeutschen Gesetzentwurf übernommen. Dass mit der Kastration die „Beseitigung der Zeugungsfähigkeit“, eine „körperliche Verstümmelung“ und auch eine „mögliche Veränderung der Persönlichkeit“ einhergehen würden, war den Verantwortlichen durchaus bewusst, weshalb sich die Frage stellte, inwieweit der Eingriff, selbst wenn er freiwillig gewählt war, mit der Verpflichtung des Staates die Menschenwürde zu achten, zu vereinbaren sei. Nach längeren Verhandlungen entschied der Bundesgerichtshof in einem Urteil von 1963, dass die Kastration nur mit der Menschenwürde zu vereinbaren sei, wenn der Betroffene unter einer „krankhaften seelischen Störung“ oder einer „seelischen Abartigkeit“ leide, die für seine Taten verantwortlich seien. Vor diesem Hintergrund verwundert es kaum, dass das rechtswidrige Verhalten von Sexualstraftätern pathologisiert wurde. Dabei griffen Ärzte auf ein Krankheitsbild zurück, das seit dem späten 19. Jahrhundert immer wieder bemüht worden war, um sämtliche Formen von Sexualität zu deklassieren, die vom heteronormativen Ideal abwichen: die „Psychopathia sexualis“21, kurz: die Perversion.22 Wie Vorstellungen des Normalen und Pathologischen überhaupt, sind auch Vorstellungen des Perversen historisch wandelbar. Sie sind, im Anschluss an Foucault, in höchstem Maße konstruiert, wobei gilt, dass die Durchsetzung ‚richtiger‘ Sexualität über die Konstruktion ‚perverser‘ Sexualität funktioniert. Im Lichte der sich andeutenden „sexuellen Revolution“ seit den 1960er-Jahren wurde die Perversion auch in Westdeutschland neu gedacht und zunehmend mehr als Ausdruck einer Krankheit begriffen.23 Wegweisend, auch für die Begründung des Kastrationsgesetzes, wurde dabei die sogenannte „Perversionstheorie“ des Hamburger Sexualforschers Hans Giese.24 Demnach war nicht jede Form der Sexualität, die von der idealtypischen „Vorstellung vom heterosexuellen Vollzugsakt facies ad faciem“ abwich als „perverses Verhalten“ zu bewerten, sondern lediglich jene, die sich analog zu einer Suchterkrankung beschreiben ließ. Konkret bedeutete das, dass die Betroffenen sexuelle Reize „nach dem Wirkmechanismus der bedingten Reflexe“ beantworteten und ihrer Sexualität weitgehend ausgeliefert seien. Hinzu käme ein „Verfall an Sinnlichkeit“, eine „zunehmende Frequenz“ sexueller Betätigung mit einer „abnehmenden und schließlich erlöschenden Satisfakti21 Krafft-Ebing, Richard von, Psychopathia sexualis. Eine klinisch-forensische Studie, Stuttgart 1886. Siehe dazu auch Ammerer, Heinrich, Am Anfang war die Perversion. Richard von Krafft-Ebing – Psychiater und Pionier moderner Sexualkunde, Wien 2011. 22 Siehe zu dieser Entwicklung grundlegend Foucault, Michel, Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt am Main 1977, S. 21–53. 23 Dazu ausführlich Eghigian, Greg, Science, Medicine, and the Convict in Twentieth-Century Germany, Ann Arbor 2015, S. 160–198. 24 Giese, Hans, Zur Psychopathologie der Sexualität. Mit einer Einführung von Eberhard Schorsch, Stuttgart 1973, S. 32.
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onsfähigkeit“. Daraus wiederum folge ein zunehmendes Verlangen nach sexueller Betätigung, wobei der Partner häufig und vollkommen wahllos gewechselt werde, weil es auf die Herstellung einer emotionalen Beziehung nicht ankomme. Eine „echte sexuelle Perversion“ bewertete Giese dementsprechend als „eine mit naturwissenschaftlichen Methoden nachweisbare schwere Erkrankung“, die dem Betroffenen die „Steuerungsmöglichkeiten“ seines Verhaltens weitgehend aus der Hand nehme. Eine Kastration versprach durch die mit ihr einhergehende Verminderung des Triebes den „perversen Zirkel“ aufzubrechen und dem kastrierten Mann wieder Autonomie über sein (sexuelles) Handeln zu geben.25 Wenngleich die operative Entfernung der Hoden nicht als einzige Möglichkeit gesehen wurde, als pervers markiertes Sexualverhalten zu verändern, sondern ebenso chemische, hormonelle und auch psychotherapeutische Behandlungsmethoden diskutiert wurden, schien allein die Kastration den Sexualtrieb nachhaltig beeinflussen zu können und, wie ein Kriminologe es formulierte, die „sexuelle Perversität“ in eine „sexuelle Soziabilität“ zu verwandeln.26 Eine groß angelegte empirische Studie von 1963 schien diese Annahme zu belegen.27 Demnach lag die Rückfallquote (also die Anzahl der Männer, die nach Verbüßung ihrer Strafe erneut wegen eines Sexualdeliktes verurteilt wurden) bei kastrierten Sexualstraftätern in Westdeutschland bei 2,8 Prozent, während sie bei nicht-kastrierten (oder anders behandelten) mit 39 Prozent angegeben wurde.28 Dass Dänemark, Finnland, die Niederlande, Norwegen, Schweden und die Schweiz vergleichbare Zahlen vorlegten, sprach aus kriminalpolitischer Sicht zudem noch für die Anwendung der chirurgischen Kastration und die Schaffung eines entsprechenden Gesetzes.29 Am 15. August 1969 wurde das bundesdeutsche Kastrationsgesetz schließlich erlassen. „Die Kastration durch einen Arzt“, so hieß es dort, „ist nicht strafbar, wenn die Behandlung nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft angezeigt ist, um bei dem Betroffenen schwerwiegende Krankheiten, seelische Störungen oder Leiden, die mit seinem abnormen Geschlechtstrieb zusammenhängen, zu verhüten, zu heilen oder zu lindern.“ Darüber hinaus sei sie auch „dann nicht als Körperverletzung strafbar, wenn bei dem Betroffenen ein abnormer Geschlechtstrieb gegeben ist, der nach seiner Persönlichkeit und bisherigen Lebensführung die Begehung rechtswidriger Taten ... erwarten lässt und die Kastration ... angezeigt ist, um dieser Gefahr zu begegnen und damit dem Betroffenen bei seiner künftigen Lebensführung zu helfen“.30
25 Krause, Entmannung, Zitate S. 16–19. 26 Binder, S., Zur seelischen Entwicklung zurechnungsfähiger Sexualverbrecher nach der Kastration, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 52 (1969), H. 2/3, S. 73–83, hier: S. 73. 27 Langelüddeke, Entmannung, S. 108. 28 Binder, Entwicklung, S. 73. 29 Langelüddeke, Entmannung, S. 108. 30 Gesetz über die freiwillige Kastration und andere Behandlungsmethoden (KastrG) vom 15. August 1969 (BGBl. I S. 1143), §2 Voraussetzungen der Kastration.
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Dass sich das Gesetz ausschließlich an Männer wandte, war zunächst nicht selbstverständlich. Denn der hierfür entscheidende Wortlaut des Gesetzes, dass bei der freiwilligen Kastration „die Keimdrüsen eines Mannes absichtlich entfernt“ werden, war im ursprünglichen Gesetzesentwurf der Bundesregierung vom 8. Januar 1969 noch nicht zu lesen gewesen.31 Erst der Sonderausschuss für die Strafrechtsform hatte in Absprache mit dem Gesundheitsausschuss den Zusatz „eines Mannes“ in den Gesetzestext eingebracht und diesen Schritt damit begründet, dass der Entwurf mangels Nennung eines Geschlechtes auch den entsprechenden Fall bei der Frau umfasse, dies der Sache aber nicht zuträglich sei. Zwar sprach man Frauen „eine abnorme Triebhaftigkeit“ nicht ab. Doch erklärten Kriminologen zugleich, dass Frauen meist keine Sexualstraftaten begingen. Und selbst wenn sie es täten, könnte eine Kastration dieses Verhalten nicht unterbinden, weil der weibliche Sexualtrieb nicht in den Keimdrüsen lokalisiert sei. „Nach den soweit übereinstimmenden gutachterlichen Äußerungen der vom Sonderausschuß gehörten Sachverständigen“, hieß es konkret, sei man schließlich zu dem Entschluss gekommen, dass „die Entfernung oder Ausschaltung der ‚Keimdrüsen‘ einer Frau zur Aufhebung oder Minderung der Dynamik ihres Geschlechtstriebes ungeeignet und geradezu verfehlt“ wäre, „da die von den Ovarien produzierten Hormone keine steigernde, sondern allenfalls eine neutralisierende Wirkung auf die Libido der Frau haben.“32 Inwieweit der weibliche Sexualtrieb vermindert werden könne, wurde in diesem Zusammenhang nicht weiter diskutiert; zu eng waren Sexualstraftaten als spezifische Form der Macht über andere an Vorstellungen von Männlichkeit gebunden. II. Eine Frage der Perspektive: „Entmannung“, „Vermännlichung“ und „Mannsein“ Medizinische und rechtliche Fragen spielten zwar eine wesentliche Rolle auf dem Weg zu einem Kastrationsgesetz, doch wurde auch diskutiert, inwieweit die Geschlechtsidentität der Betroffenen durch den Verlust der Hoden beeinflusst würde. Relevant war auch diese Frage vor dem Hintergrund der Menschenwürde, zu der, wie der Gesetzgebungsprozess zeigt, das Recht auf eine Geschlechtsidentität zählte. Zur „Würde des Menschen“, so der Entwurf, gehöre „auch seine Eigenschaft, Mann oder Frau zu sein“, womit sich die Verantwortlichen innerhalb des binären Geschlechtersystems bewegten. Weiter erklärten sie, dass „die Kastration die geschlechtliche Identität des Betroffenen als Mann unberührt“ lasse und deshalb der Begriff „Entmannung“, der in der nationalsozialistischen Gesetzgebung ebenso verwendet worden war wie in der Fachliteratur der frühen Bundesrepublik, ver-
31 Hervorhebung A.R. 32 Schriftlicher Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform über den von der Bundesregierung einbrachten Entwurf eines Gesetzes über die freiwillige Kastration und andere Behandlungsmethoden, Drucksache V/4235, S. 2.
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mieden werden müsse.33 Wenngleich dem Mann mit den Hoden ein wesentlicher Teil seiner inneren Geschlechtsorgane genommen wurde, er nicht mehr im Stande war Spermien auszubilden und nur noch bedingt Testosteron, wurde die Kastration im Expertendiskurs nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Geschlechtsidentität gedacht. Warum dem so war, ist dem Entwurf ebenfalls zu entnehmen. Der Eingriff, hieß es in der Begründung, „stellt auf die Auswirkungen eines abnormen Geschlechtstriebes, nicht auf den Geschlechtstrieb selbst ab. Denn die Kastration wirkt nur auf die Stärke eines abnormen Triebes ein. Sie hebt nicht seine Normabweichung auf; insbesondere vermag sie nicht seine Richtung zu ändern“.34 „Mannsein“ wurde hier also nicht über die Anwesenheit der Keimdrüsen, der Fähigkeit sich fortzupflanzen und die Intensität des Sexualtriebs gedacht, sondern über die sexuelle Orientierung – das Begehren – wie es in dem heteronormativen Geschlechtermodell heißt. Während die Hoden als Bestandteil der inneren Geschlechtsorgane nicht mit der Geschlechtsidentität eines Mannes zusammen gedacht wurden, kam den äußeren Geschlechtsmerkmalen in dieser Hinsicht eine weitaus größere Bedeutung zu. Nicht zufällig wurde das Mindestalter für Kastrationen auf 25 Jahre festgelegt: „Die nach Abschluss der Pubertät vorgenommene Kastration eines Mannes“, erklärte die Begründung zum Gesetzesentwurf, „beeinflusst niemals die Stimmhöhe und nur selten die Muskelkraft“.35 Auch, so ließe sich ergänzen, kann eine Kastration im Erwachsenenalter nicht mehr den Körperwuchs, den Haarwuchs, die Muskelbildung und die Verknöcherung beeinflussen. Der sogenannte ‚eunuchoide‘ Körperbau, wie er bei präpubertären Hodenschäden oder einer Hodenentfernung zu erwarten ist, sollte also unter allen Umständen als Folge der Kastration verhindert werden, was deutlich macht, welche Bedeutung der Anatomie eines Mannes für die Wahrnehmung seiner Geschlechtsidentität zugeschrieben wurde. Als wesentlich für die Frage nach dem Verhältnis von biologischen Geschlechtsmerkmalen und der Geschlechtsidentität eines Mannes wurde also letztlich das Bild angenommen, das die Betroffenen in der Öffentlichkeit hinterließen. Die geringe Selbstmordrate nach Kastrationen wurde etwa darauf zurückgeführt, dass der Eingriff „der Öffentlichkeit verborgen bleibt“.36 Auf Wunsch konnten den betroffenen Männern sogar Hodenprothesen eingesetzt werden, die den Eingriff nicht einmal mehr erahnen ließen. Solche Angebote bedeuteten im Umkehrschluss, dass die (vermeintliche) Anwesenheit von Hoden für die Wahrnehmung der männlichen Geschlechtsidentität höher bewertet wurde als die biologische Funktion dieses Organs, was auch den Zeitgenossen bewusst war. Denn nicht zufällig wurden solche rein kosmetischen Prothesen im Anschluss an Erving Goffmans Überlegungen zur sozialen Bedeutung der (Un-)Sichtbarkeit von körperlichen Stigmata bei der alltäglichen Interaktion als „Stigma-Management“ bezeich-
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Entwurf, S. 7. Ebd., S. 11. Ebd., S. 8. Ebd.
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net. Die kastrierten Männer, so die Begründung, müssten damit keinerlei Einschränkungen bei der Zeigbarkeit ihres Körpers hinnehmen.37 Der Zusammenhang von (anatomischen) Geschlechtsmerkmalen und Geschlechtsidentität war ein Aspekt, der im Rahmen des Gesetzgebungsprozesses diskutiert wurde. Ein anderer waren die „postoperativen seelischen Reaktionen“, mit denen sich Psychiater und Psychologen befassten. Leitend war für sie die Frage, ob sich „allgemeingültige Entwicklungsverläufe von der Sexualperversität zur Sexualsoziabilität destillieren lassen“, mit anderen Worten, „wann ein abnormer Sexual-Delinquent nach der Entmannung als geheilt angesehen werden kann“?38 Ein „Fall freiwilliger Entmannung“, wie er 1964 in der Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform von einem habilitierten Psychologen im Strafvollzugsdienst als paradigmatisch für viele andere beschrieben wurde, schien hier eine Antwort zu liefern.39 Der Proband war ein 35-jähriger Diakon, der sich, wie es in dem Artikel hieß, ständig „homosexuell betätigt und selbstbefriedigt“ hatte. Es habe nichts gegeben, „was er nicht kannte und jedesmal bis zum Exzeß ausführte“. An der Sodomie sei er „gerade noch vorbeigekommen“. Er habe „lediglich die Katzen und Hunde eines Pfarrers mit ins Bett genommen und sich ‚daran aufgegeilt‘“. Darüber hinaus aber habe er „Unzucht“ mit einem 14-jährigen Jungen begangen, weshalb er schließlich zu vier Jahren Haft verurteilt wurde. Von der Kastration erhoffte sich der behandelnde Psychiater eine „Umstrukturierung der Persönlichkeit“, die wiederum dafür sorgen sollte, dass der Diakon künftig keinerlei Sexualstraftaten mehr begehen würde. Die ‚Umstrukturierung der Persönlichkeit‘ wurde in dem Artikel als „Vermännlichung“ bezeichnet, was offenbar nicht im Widerspruch zum Begriff der „Entmannung“ stand, wie er im Titel des Beitrags zu lesen war. Während der Begriff der „Entmannung“ hier auf die biologischen Geschlechtsmerkmale bezogen wurde, sprach „Vermännlichung“ die Verhaltensweisen des Patienten an. Der „Hauptzug seines Wesens“, schrieb der Psychiater über seinen Patienten, sei vor dem Eingriff von einer „ausgesprochenen Kindlichkeit (Infantilismus)“ gekennzeichnet gewesen. In „frappierender Weise stach sein Verhalten von dem eines reifen Mannes ab. Es war das eines 6- bis 8-jährigen Kindes“. Männlichkeit wurde hier also nicht binär zu Weiblichkeit gedacht, sondern vielmehr zu Kindlichkeit und damit als Resultat einer sozialen auf die Verhaltensweisen einer Person bezogenen Entwicklung. Das Geschlechtersystem der heterosexuellen Matrix, innerhalb derer sich das Denken der Verantwortlichen im Wesentlichen bewegte, war hier also verlassen worden in dem Sinn, dass unmännlich nicht gleich weiblich
37 Heim, Nikolaus, Die Kastration und ihre Folgen bei Sexualstraftätern, Göttingen 1980, S. 169f. 38 Binder, Entwicklung, S. 75. 39 Voigt, Johannes, Ein Fall freiwilliger Entmannung während des Strafvollzugs, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform (1964), H. 1, S. 38–52. Alle folgenden Zitate sind diesem Artikel entnommen.
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bedeutete, sondern sozial unreif, was wiederum zur Erklärung des sexuell ‚abnormen‘ Verhaltens diente. Der Psychiater empfahl dem Patienten eine Kastration, dieser willigte ein und der Eingriff wurde schließlich durchgeführt. Anschließend sollte der „Aufbau seiner des Patienten A.R. Persönlichkeit“ stattfinden, womit der Arzt die Ausbildung einer Identität meinte, die nicht-kindlich, sondern männlich konnotiert war. Dass Arzt und Patient aber durchaus verschiedene Vorstellungen davon hatten, was eine männliche Identität sei, macht vor allem die Selbstbeschreibung des Patienten deutlich. Denn dieser empfand die Tatsache, dass er nach der Operation „kaum noch sexuelle Wünsche“ hatte, als „beträchtliche Minderung seiner Persönlichkeit“ und damit auch seiner Männlichkeit. So beschrieb er sich selbst als „Krüppel“, bezeichnete seine Genitalgegend als „Friedhof“ und bedauerte, nun keine Kinder mehr zeugen zu können. Er lebe im „Bewußtsein seiner männlichen Unvollkommenheit“, was letztlich zeigt, dass er seine Selbstwahrnehmung als Mann eng mit seinem biologischen Geschlecht (hier: den Hoden) und der Intensität seines Sexualtriebs verknüpfte. Während der Patient sich als ‚entmannt‘ beschrieb, sprach der Psychologe von einer „auffallenden Vermännlichung“, die er nach dem Eingriff bei seinem Probanden beobachtet habe. „Wo er früher in beinahe kindlich einfältiger Weise ‚gut zu sein‘ trachtete, so ‚ist‘ er es jetzt in männlich-bewußter Entscheidung.“ Auch warte er „nicht mehr blind auf Gnade von Gott“, sondern suche „im Vollgefühl seiner sittlichen Verantwortung“ bewusst nach Anerkennung, was bezeuge, dass er sich „stark vermännlicht“ habe. Eine „Intelligenzuntersuchung“ fünf Monate nach dem Eingriff diente dem Psychologen als zusätzlicher „exakter Nachweis“ einer „Vermännlichung“. Der Test habe einen „Leistungszuwachs“ in den Bereichen „anschauliches Denken, abstraktes Denken, begriffliches Denken, Rechnen, Formen ansehen, räumliche Vorstellungen und Merkfähigkeit“ ergeben, was als „positive Umstrukturierung“ der „intellektuellen Gesamtperson“ bewertet wurde. Auch habe seine Schrift sich verändert. „Die kindliche Naivität“ sei daraus innerhalb eines Jahres verschwunden. Zwar sei sie noch nicht „männlich ausgeschrieben“, habe aber immerhin „einen soliden Grundcharakter, der auf innere Gefestigtheit schließen lässt im Gegensatz zu der Hilflosigkeit der ersten Schrift“. Insgesamt habe die „Entmannung“ also zum „Erfolg“ geführt, weil eine „immer mehr zunehmenden Vermännlichung“ bei dem Patienten zu beobachten sei. Dass der Psychologe die „Entmannung“ als Ursache für eine „Vermännlichung“ nennt, steht nur scheinbar im Widerspruch zueinander. Denn ‚Mannsein‘ bedeutete nicht zwangsläufig auch männliche Keimdrüsen als Bestandteil des biologischen Geschlechts zu haben, jedenfalls nicht für diejenigen Ärzte, Psychologen und Juristen, die sich an der Debatte über das Für und Wider die Kastration beteiligten. Ihre Vorstellung von Männlichkeit, genauer: der Männlichkeit jener Männer, über deren Schicksal sie zu entscheiden hatten, erinnert vielmehr an das, was seit dem 19. Jahrhundert als „Geschlechtseigentümlichkeiten“ kursierte: eine
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Mixtur aus Biologie, (sozialer) Bestimmung und Wesen.40 Eigenschaften wie Verstand, Leistungswillen, Denkvermögen oder Charakterstärke waren in dieser Denkfigur als ‚männlich‘ bestimmt, Naivität, Güte und Entscheidungsschwäche hingegen als weiblich. Wenngleich sich die Situation für die Betroffenen anders darstellte und ihre Selbstwahrnehmung als Mann, wie das Beispiel des Diakons zeigt, eng mit der Funktionsfähigkeit der inneren Geschlechtsorgane verbunden war, sollte sich die Sicht der Verantwortlichen auf die Geschlechtsidentität durchsetzen und die Kastration gesetzlich legitimieren. Dass der Expertendiskurs nicht mit der Selbstwahrnehmung der Kastrierten korrespondierte, zeigt nicht zuletzt, inwieweit Konzepte von Männlichkeit nicht nur historisch sondern auch situativ und persönlich variabel sind, wobei Letzteres wohl darauf zurückzuführen ist, dass es einen Unterschied macht, ob über den eigenen Körper oder den eines anderen gesprochen wird. Dennoch: Das Beispiel der Kastration regt zumindest dazu an, die Kohärenz von biologischen Geschlechtsmerkmalen und der Geschlechtsidentität differenzierter zu betrachten. Worum es dabei geht, verdeutlich vor allem das Stigma-Management, zu dem die Hodenprothesen ebenso zählten wie das Mindestkastrationsalter von 25 Jahren. Denn letztlich wurden die sichtbaren sekundären Geschlechtsmerkmale wie der Körperbau, der Haarwuchs und die Stimmlage als wesentlich bedeutsamer für das ‚Mannsein‘ erachtet als die Funktionsweisen der männlichen Keimdrüsen. Inwieweit diese Sichtweise der Experten vor allem strategisch war, weil eine Bedrohung der Geschlechtsidentität ‚Mann‘ das Zustandekommen des Gesetzes womöglich verhindert hätte, muss offen bleiben. In jedem Fall war – zumindest im offiziellen Diskurs – die heteronormative Zusammenschau von männlicher Geschlechtsidentität, Reproduktionsfähigkeit und Triebintensität aufgelöst, woran die Tatsache, dass die Betroffenen selbst die Kastration zumeist als „Entmannung“ erlebten, weil sie ihre Vorstellung von Männlichkeit an die Funktionsweisen ihres biologischen Geschlechts knüpften, nichts ändern sollte. Literaturhinweise Eghigian, Greg, Science, Medicine, and the Convict in Twentieth-Century Germany, Ann Arbor 2015. Martschukat, Jürgen; Stieglitz, Olaf, Geschichte der Männlichkeiten, Frankfurt am Main 2008. Sammet, Kai, Mehr Freiheit wagen? Cyproteronacetat, Sexualstraftäter und das „Gesetz über die freiwillige Kastration und andere Behandlungsmethoden“ 1960–1975, in: Medizinisch Historisches Journal 40 (2005), S. 51–78.
40 Zu den „Geschlechtscharakteren“ grundlegend Hausen, Karin, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“ – eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Conze, Werner (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, S. 363–393. Siehe auch Frevert, Ute, „Mann und Weib, und Weib und Mann“. GeschlechterDifferenzen in der Moderne, München 1992, S. 13–60 und S. 133–165.
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Q Quelle Auszuug des Gesetzentwurfs üüber die freiiwillige Kasttration und aandere Behandlungsm methoden (8. Januar 1969)41
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Entwurf eiines Gesetzes über die freiiwillige Kastraation und and dere Behandlun ungsmethoden,, 8. Januar 1969, Drucksachee V/3702, S. 11–26, hier S. 1–3, 1 URL: (27.11.20177). Die Quellee ist online erscchienen im Thhemen-portal EuE ropäische Geschichte, G UR RL: .
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„DENEN MUSSTE ES MAL GEZEIGT WERDEN“ ANTITERRORPOLITIK ALS POLITIK DER MÄNNLICHKEIT1 Gabriele Metzler Am 24. April 1975 drangen sechs Mitglieder der Roten Armee Fraktion (RAF) in das Botschaftsgebäude der Bundesrepublik in Stockholm ein. Mit zwölf Geiseln in ihrer Gewalt forderten sie die Bundesregierung ultimativ auf, ihre inhaftierten Gesinnungsgenossen – 26 verurteilte oder angeklagte RAF-Mitglieder wurden genannt, unter ihnen Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und Jan Carl Raspe – freizulassen. Andernfalls, so ihre Drohung, würden sie im Gebäude mehrere Tonnen TNT zur Explosion bringen. Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen und den Ernst ihrer Absichten zu unterstreichen, verletzten sie den deutschen Militärattaché Andreas von Mirbach so schwer, dass er noch am selben Tag seinen Verletzungen erlag; als die Bundesregierung auch dann eine Freilassung ablehnte, erschossen sie den Wirtschaftsattaché Heinz Hillegaart. Kurz bevor die schwedische Polizei das Gebäude stürmen konnte, explodierte die mitgebrachte Sprengladung, einer der Geiselnehmer, Ulrich Wessel, starb an Ort und Stelle, ein weiterer, Siegfried Hausner, zehn Tage später.2 Anders als noch im Vormonat, als sie angesichts der Entführung des CDUPolitikers Peter Lorenz die Forderungen der linksextremistischen „Bewegung 2. Juni“ nach Freilassung inhaftierter Terroristen erfüllt hatte, zeigte sich die Bundesregierung im Fall der Botschaftsbesetzung unnachgiebig.3 Insbesondere Bundeskanzler Helmut Schmidt gab in aller Deutlichkeit zu verstehen, dass an Verhandlungen mit den Geiselnehmern nicht zu denken sei, und an ein Einlenken seitens der Regierung schon gar nicht. Vier Tage nach dem Ende des Stockholmer Dramas erschien im Nachrichtenmagazin Der Spiegel ein Interview mit Schmidt, in dem er die Richtigkeit dieses Kurses betonte und ihm eine „mutige Entscheidung“ zugrunde liegen sah. Mit dem Fall Lorenz sei die Geiselnahme in der Botschaft nicht zu vergleichen, erläuterte er, aus operativen Gründen nicht und weil zudem nun die Freilassung der ersten Garde der RAF erpresst werden sollte, von der noch immer eine „Gefährdung der Allgemeinheit“ ausgehe. Das Vorgehen der schwedischen Sicherheitsorgane sei völlig richtig gewesen, vor allem aber habe die Bundesregierung einen Erfolg errungen: „Denen [diesen intellektuellen Ver-
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Essay zur Quelle: Spiegel-Interview mit Bundeskanzler Helmut Schmidt (April 1975). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Zu den Stockholmer Ereignissen ausführlich: März, Michael, Die Machtprobe 1975. Wie RAF und Bewegung 2. Juni den Staat erpressten, Leipzig 2007, S. 71–117. Ebd., S. 118–120; Dahlke, Matthias, Demokratischer Staat und transnationaler Terrorismus. Drei Wege zur Unnachgiebigkeit in Westeuropa 1972–1975, München 2011, S. 160.
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brechern] mußte doch mal gezeigt werden, daß es einen Willen gibt, der stärker ist als ihrer.“4 Mit dieser Deutung hob der Kanzler den Konflikt von Stockholm von der Ebene eines notwendigen Polizeieinsatzes auf jene eines Willenskampfes, in dem am Ende der Stärkere obsiegt. Hier wie in den folgenden Jahren bis hinein in den „deutschen Herbst“ von 1977 war die Rhetorik der Anti-Terror-Politik nun geprägt von Leitvokabeln wie „Härte und Entschlossenheit“, „Unnachgiebigkeit“, „Pflicht“ und „Pflichtbewusstsein“, aber auch „Opferbereitschaft“, die sich in diesem Interview mit Blick auf Beamte und „herausgehobene Politiker“ bereits andeutet. Es war eine Sprache von Männern, männlichen Werten und Tugenden, die den politischen Diskurs angesichts der Eruption politischer Gewalt kennzeichnete, eine Sprache, die ihre Entsprechung schließlich auch in Habitus und Lebensform der Anti-Terror-Akteure fand. Die seit einigen Jahren florierende zeithistorische Terrorismus-Forschung hat ihr Augenmerk bereits auf wesentliche Gender-Dimensionen des Themas gerichtet, insbesondere die Diskurse über Terroristinnen und die mit ihnen verbundenen Konstruktionen von Weiblichkeit und Sexualität haben das Interesse der Forschung gefunden. Dieser Perspektive lag die unausgesprochene Annahme zugrunde, dass die Existenz weiblicher Gewaltakteure besonders erklärungsbedürftig ist – zugespitzt ließe sich sogar argumentieren, dass eine auf weibliche Gewalt fokussierte Forschung die Rollenzuweisung „friedlicher Frauen“ fortschreibt.5 Gleichwohl hat die zeithistorische Forschung zum Phänomen der ‚Terroristin‘ wesentliche Erkenntnisse befördert: Zeitgenössisch wurde es weithin als Ausdruck einer Krise einerseits der Geschlechterordnung gedeutet – erkennbar im nachgerade zum Klassiker arrivierten Diktum, der Terrorismus spiegle einen „Exzess der Befreiung der Frau“6 –; andererseits schrieb man den Täterinnen eine von den hegemonialen Normen abweichende Sexualität zu, die sie als aggressivheterosexuell oder homosexuell erscheinen ließ.7 Vor Gericht sprach ihnen die Anklage „eigenverantwortliches Handeln“ ab, vielmehr seien sie aufgrund von Liebesbeziehungen zu männlichen Extremisten „in den Untergrund geschlittert“.8 Angesichts der beachtlich hohen Zahl weiblicher Mitglieder in der RAF (wie im übrigen auch in anderen linksterroristischen Gruppierungen wie den italienischen Brigate Rosse oder den US-amerikanischen Weatherman) ist es wenig verwunder4 5
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Vgl. die zu diesem Essay veröffentlichte Quelle: „Denen mußte es mal gezeigt werden“. Spiegel-Interview mit Bundeskanzler Helmut Schmidt, in: Der Spiegel (1975), H. 18, S. 26. So die kluge Beobachtung von Schraut, Sylvia; Weinhauer, Klaus, Terrorism, Gender, and History – Introduction, in: dies. (Hgg.), Terrorism, Gender, and History. State of Research, Concepts, Case Studies, in: Historical Social Research 39 (2014), H. 4, Special Issue, S. 7– 45, hier S. 17f. Nollau, Günther, 1972–1975 Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, zitiert nach: Ausbruch in Berlin: „Das ist eine Riesensache“, in: Der Spiegel (1976), H. 29, S. 21. Balz, Hanno, Von Terroristen, Sympathisanten und dem starken Staat. Die öffentliche Debatte über die RAF in den 70er Jahren, Frankfurt u.a. 2008, S. 203–208. Diewald-Kerkmann, Gisela, Frauen, Terrorismus und Justiz. Prozesse gegen weibliche Mitglieder der RAF und der Bewegung 2. Juni, Düsseldorf 2009, S. 277.
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lich, dass die Frauen mit der Waffe in der Hand die besondere Aufmerksamkeit sowohl der Zeitgenossen als auch der historischen Forschung gefunden haben. Von den Männern der RAF ist bislang nur Andreas Baader aus einer GenderPerspektive analysiert worden, dessen männliche, ja machistische Ausstrahlung seine herausgehobene Position in der Gruppe mit erklären soll.9 Gar nicht thematisiert wurde bislang hingegen, dass auch auf Seiten der Anti-Terror-Akteure (Politiker, Kriminalisten, Polizisten) über Geschlechterordnungen verhandelt wurde, dass sie sich mit ihren Redeweisen und Narrativen, ihren performativen Akten und ihrer Selbstinszenierung in eine bestimmte Geschlechterordnung hineinstellten; und dass sie damit nicht nur eine Gegenposition zu den Terroristinnen formulierten, sondern sich auch von einer spezifischen, neuen Form von Männlichkeit abgrenzten. Gesprochen wurde nach der Stockholmer Wende zur „Unnachgiebigkeit“ eine Sprache von Männern, ja eine soldatisch codierte Sprache. Helmut Schmidt zeigte im Spiegel-Interview seine Vertrautheit mit militärischer und waffentechnischer Terminologie („das umliegende Gelände mit Maschinenwaffen mühelos zu bestreichen“). In den kommenden Jahren sprach er wie andere maßgebliche Akteure davon, im „Krieg“ gegen den Terrorismus zu stehen, in einem Krieg, in dem keine Handbreit Boden der demokratisch-freiheitlichen Grundordnung mehr preisgegeben werden durfte.10 Der BKA-Beamte Alfred Klaus fühlte sich im Angesicht der RAF „wie vor einem Sturmangriff“, dem es standzuhalten gelte, hätte doch ein „Nachgeben vor dem Feind Feigheit bedeutet“.11 Es waren schließlich die Sprache und die Denkweise ehemaliger Wehrmachtoffiziere, die einzelne Mitglieder des Bonner Krisenstabs während der Schleyer-Entführung im Herbst 1977 den Gedanken erwägen ließ, exemplarisch einzelne der RAF-Gefangenen, die freigepresst werden sollten, hinzurichten, solange bis das Leben des Entführten gesichert wäre.12 Hier hallten die Erfahrungen der Partisanenbekämpfung an der Ostfront noch deutlich nach, wobei den Beteiligten nur allzu bewusst war, wie inopportun es war, dies öffentlich zur Diskussion zu stellen. Bis zum heutigen Tag halten sich die Krisenstäbler weitgehend an ein – wohl unausgesprochenes – Schweigegelübde. Der Große wie auch der Kleine Krisenstab, die während der Schleyer-Entführung die politischen Fäden in der Hand hielten, waren exklusive Zirkel von Männern,13 zu dem Frauen allenfalls als Sekretariatskräfte Zutritt hat9 10
11 12 13
Vgl. Wieland, Karin, Andreas Baader, in: Kraushaar, Wolfgang (Hg.), Die RAF und der linke Terrorismus, 2 Bde., Bd. 2, Hamburg 2006, S. 332–349. Musolff, Andreas, Bürgerkriegs-Szenarios und ihre Folgen. Die Terrorismusdebatte in der Bundesrepublik 1970–1993, in: Kraushaar (Hg.), RAF, Bd. 2, S. 1171–1184; ders., Krieg gegen die Öffentlichkeit. Terrorismus und politischer Sprachgebrauch, Opladen 1996; Balz, Von Terroristen, S. 286–293. Zitiert nach Diewald-Kerkmann, Frauen, S. 280. de Graaf, Beatrice, Theater van de angst. De strijd tegen terrorisme in Nederland, Duitsland, Italië en Amerika, Amsterdam 2010, S. 61. Siehe dazu auch die biografischen Skizzen in Scheiper, Stephan, Innere Sicherheit. Politische Anti-Terror-Konzepte in der Bundesrepublik Deutschland während der 1970er Jahre, Paderborn 2010, S. 54–103.
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ten; von politischen Akteuren, die „erwachsene Männer waren und keine Jugendlichen“, weil sie alle die Erfahrung der „Kriegsscheiße“ einte. Darin klangen männerbündische Formen der Vergemeinschaftung an. Tatsächlich waren bis auf zwei alle zehn Mitglieder der „Kleinen Lage“ im Krieg gewesen, sie teilten die „Erfahrung der Todesgefahr“ und des Getötethabens, aber auch und vor allem die Erfahrung, „in der Gefahr nicht den Verstand zu verlieren“.14 Die (auch nachträgliche) Betonung eines aus der Kriegserfahrung rührenden „erhebliche[n] Maß[es] an Gelassenheit bei gleichzeitiger äußerster Anstrengung der eigenen Nerven und des eigenen Verstandes“15 implizierte eine männlich markierte Gegenposition zum Diskurs über weiblich konnotierte Emotionalität und Kopflosigkeit bis hin zur Hysterie. Der im Angesicht der Stockholmer Ereignisse angesprochene „Wille“ richtete sich obendrein gegen „diese intellektuellen Verbrecher“, deren „ausgeklügelten Plänen“ sich die Bundesregierung entgegengestellt habe, betonte Schmidt im Interview und stellte damit (effeminierte?) Intellektuelle und willensstarke Männer einander gegenüber. Freilich scheint zwischen den Zeilen auch ein Kontrast zwischen willensstarken, soldatischen deutschen Männern und schwedischen Bürokraten auf, deren Bedenken und Regeleinhaltung entschlossenes Handeln eher verzögert hätten. Die Relationalität von Männlichkeitskonstruktionen tritt hier offen zutage, ging es doch nicht allein darum, radikalisierter Weiblichkeit entgegenzutreten, sondern die handelnden Männer in Bonn positionierten sich auch gegen alternative Entwürfe von Männlichkeit.16 Ausnahmslos waren es Männer, die vor die Mikrofone traten und die Öffentlichkeit an ihrer Sorge um das Land teilhaben ließen, aber auch an ihrem besonderen Verantwortungsbewusstsein und ihrer Bereitschaft, dem Terrorismus mit aller Härte zu begegnen – auch wenn es sie das eigene Leben kosten mochte. Nicht nur der Bundeskanzler hinterlegte während des „Deutschen Herbstes“ eine Weisung, im Falle seiner Geiselnahme durch Terroristen auf keinen Fall ihren Forderungen nachzugeben, wohl wissend, dass er mit diesem Papier im Zweifelsfall seine eigene Ermordung sanktionierte.17 Der dem Kanzler und anderen hohen Repräsentanten von Staat und Wirtschaft seit der Lorenz-Entführung zugebilligte Personenschutz war tatsächlich keine Lebensversicherung, wenn es darauf ankam, wie die kaltblütige Ermordung der Begleiter Schleyers wie zuvor auch schon jener Siegfried Bubacks durch die RAF aller Welt vor Augen führte. Im Bundeskriminalamt drängte Horst Herold in der Folgezeit bis auf die Abteilungsleiterebene alle Mitarbeiter dazu, sich selbst zu bewaffnen; auch er führte – wie auch Bubacks Nach14 Zitat Helmut Schmidt, aus: „Ich bin in Schuld verstrickt“, in: Die Zeit, 30.8.2007. Die Bedeutung der Kriegserfahrung betont auch Richter, Maren, Leben im Ausnahmezustand. Terrorismus und Personenschutz in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt u.a. 2014, S. 207f. 15 Ich bin in Schuld verstrickt“, in: Die Zeit, 30.8.2007. 16 Die Relationalität von Geschlechterbildern betonen Martschukat, Jürgen; Stieglitz, Olaf, Es ist ein Junge! Einführung in die Geschichte der Männlichkeiten in der Neuzeit, Tübingen 2005, S. 9; vgl. auch dies., Geschichte der Männlichkeiten, Frankfurt u.a. 2008. 17 „Ich bin in Schuld verstrickt“, in: Die Zeit, 30.8.2007; Richter, Leben im Ausnahmezustand, S. 206f.
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folger im Amt, Kurt Rebmann – selbst eine Pistole mit sich, um im Moment einer Attacke selbst zur Waffe greifen zu können.18 Öffentlich einzugestehen, dass sie Angst um ihr Leben und das Leben ihrer Familien hatten, wäre den maßgeblichen Akteuren in der Zeit akuter Bedrohung nie in den Sinn gekommen. Zu diesem Opfer zeigten sie sich bereit, solange sie dadurch die Existenz des (Rechts-) Staates sichern konnten. Von „Angst“ sprachen sie nicht, allenfalls von „Sorge“, nicht um sich selbst, sondern um das Gemeinwesen und die freiheitliche gesellschaftliche Ordnung. Wie viel sie zu opfern bereit waren, zeigten sie öffentlich; ja die Einsatzbereitschaft rund um die Uhr, die gerade die Mitglieder der Krisenstäbe bisweilen an die Grenzen ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit führte, wurde öffentlich sichtbar gemacht und wurde auf diese Weise zu einem wesentlichen Element einer Inszenierung, die den nicht minder inszenierten, symbolischen und performativen Akten der Terroristen Substantielles entgegenzusetzen suchte.19 In der eigenen Aufopferung, der eigenen Erfahrung physischer und psychischer Grenzen, spiegelte sich ein nachgerade soldatisches Pflichtethos, das die Sache des Staates mit beglaubigen sollte. Die männlich codierte Sprache und der soldatische Habitus, den die führenden Protagonisten der Anti-Terror-Politik der 1970er-Jahre an den Tag legten, fundierten die Sagbarkeitsregeln im politischen Raum jener Jahre. Breiter Konsens herrschte in der politischen Elite des Landes, dass man über Emotionen schwieg. Wer Ängste aussprach oder Unsicherheit zuließ, galt rasch als „überfordert“ und als ungeeignet für ein hohes politisches Amt.20 Der „emotionale Habitus“ wirkte auf die politische Elite vergemeinschaftend, wobei freilich, folgt man Maren Richter, eine generationelle Differenzierung notwendig ist: Denn während für die Älteren ihre Kriegserfahrung handlungsleitend war, folgten die Angehörigen der Nachkriegsgeneration unter den Anti-Terror-Politikern der Zeit eher dem Ideal des rational handelnden, kühle Souveränität ausstrahlenden Machers.21 Beides galt als Maßstab eines spezifisch männlichen Verhaltens. Die Vorstellungen von Männlichkeit, die im Kampf gegen den Terrorismus aktiviert und propagiert wurden, entsprangen der „Kultur der organisierten Moderne“, in der sich das männliche Subjekt als „radikal entemotionalisiert“, als „sachlich-rationale wie kollektiv-orientierte Persönlichkeit“ manifestierte.22 Durchaus bemerkenswert ist, wie die Nachwirkungen soldatisch geprägter Männlichkeit amalgamierten mit den Affektstrukturen der „Angestelltenkultur“, in der 18 19 20 21
Richter, Leben im Ausnahmezustand, S. 202. De Graaf, Theater, S. 142. So ein anonymisiertes Beispiel bei Richter, Leben im Ausnahmezustand, S. 246. Richter, Leben im Ausnahmezustand, S. 238f. (zum „Modell des emotionalen Habitus“), S. 244–248 (zu Rationalität und Souveränität). De Graaf, Theater, ordnet auch Schmidt dem ‚rationalen Typus’ zu und hält in seinem Fall die Kriegserfahrung für weniger wirkmächtig (dies., Theater, S. 61). 22 Reckwitz, Andreas, Umkämpfte Maskulinität. Zur Historischen Kultursoziologie männlicher Subjektformen und ihrer Affektivität vom Zeitalter der Empfindsamkeit bis zur Postmoderne, in: Borutta, Manuel; Verheyen, Nina (Hgg.), Die Präsenz der Gefühle. Männlichkeit und Emotion in der Moderne, Bielefeld 2010, S. 57–77, hier S. 69.
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Aggressivität und der Rekurs auf körperliche Gewalt unterdrückt wurde.23 Damit spiegelte sich bei den männlichen Angehörigen der politischen Elite der 1970erJahre einerseits ein Lernprozess wider, wie ihn Till van Rahden als Einübung in die Demokratie gefasst hat.24 Dass mit diesem Lernprozess auch eine Transformation soldatischer Ideale einhergegangen war,25 blieb den alten Wehrmachtsoldaten in den Krisenstäben zwar nicht verborgen, es spielte für ihren Rekurs auf ihre Kriegserfahrung freilich keine Rolle. Andererseits grenzten sich die Anti-TerrorAkteure mit ihren Männlichkeitsvorstellungen radikal ab von den Leitbildern des „neuen Mannes“, wie sie in Folge der soziokulturellen Umbrüche in den 1970erJahren breit diskutiert wurden. Die zeitgenössische linke, ‚männerbewegte‘ Kritik an der männlichen „Gefühlskälte“ konnte ohne weiteres auch auf die führenden Männer in Bonn bezogen werden.26 Wärme, Sensibilität und Emotionalität galten in der linken Szene als zukunftsweisende Orientierungsmarken für männliche Subjektivität, während man „ein bloß dressierendes Verhältnis zum Körper, soldatische Härte im Umgang mit sich und anderen, heroisierendes Beschützerverhalten gegenüber Frauen“ überwinden wollte.27 Eine relational verstandene männergeschichtliche Analyse der Anti-TerrorPolitik der 1970er-Jahre eröffnet vielfältige neue Perspektiven. Zum einen erweitert sie unser Wissen über die komplexen Interaktionen zwischen ‚Terroristen‘, ‚Terroristinnen‘ und den staatlichen Akteuren, die einander gegenüberstanden. Gerade in der Bundesrepublik, aber auch in Italien und den USA berührte der Terrorismus der 1970er-Jahre immer auch die bestehende Geschlechterordnung, die es aus Sicht staatlicher Akteure (und des Mainstreams der Medien) zu verteidigen galt. Zum anderen erlaubt diese Perspektive differenzierte Einblicke in die Spezifik jener Umbruchszeit, in der sich soziale und kulturelle Entwicklungen dynamisierten, zugleich aber auf ältere Erfahrungsschichten stießen, die in dieser Situation nochmals expliziert und aktualisiert wurden. Das männlich codierte, soldatisch geprägte Ethos der Anti-Terror-Politiker ist hierfür nicht das einzige, wohl aber das markanteste Beispiel. Es zeigt, dass nicht allein binäre Geschlechterordnungen irritiert waren, sondern dass es auch um Deutungskonflikte über Vorstellungen von Männlichkeit ging. Die Anti-Terror-Politik der 1970er-Jahre kann somit gleichsam wie unter einem Brennglas belegen, wie sehr vielschichtige Geschlechterordnungen in politische Ordnungsvorstellungen eingeschrieben sind und wie wirkmächtig Konflikte um sie auf politische Debatten in Krisenzeiten ausstrahlen.
23 Allgemeiner: Reckwitz, Umkämpfte Maskulinität, S. 70. 24 van Rahden, Till, Wie Vati die Demokratie lernte: Religion, Familie und die Frage der Autorität in der frühen Bundesrepublik, in: Fulda, Daniel et al. (Hgg.), Demokratie im Schatten der Gewalt. Geschichten des Privaten im deutschen Nachkrieg, Göttingen 2010, S. 122–152. 25 Siehe dazu das Promotionsprojekt von Brühöfener, Friederike, Defining the West German Soldier – Military, Society and Masculinity in West Germany, 1945–1989, Univ. of North Carolina, Chapel Hill. 26 Reichardt, Sven, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Frankfurt am Main 2014, S. 700. 27 Ebd.
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Literaturhinweise Diewald-Kerkmann, Gisela, Frauen, Terrorismus und Justiz. Prozesse gegen weibliche Mitglieder der RAF und der Bewegung 2. Juni, Düsseldorf 2009. Martschukat, Jürgen; Stieglitz, Olaf, Es ist ein Junge! Einführung in die Geschichte der Männlichkeiten in der Neuzeit, Tübingen 2005. Richter, Maren, Leben im Ausnahmezustand. Terrorismus und Personenschutz in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt u.a. 2014. Schraut, Sylvia; Weinhauer, Klaus (Hgg.), Terrorism, Gender, and History. State of Research, Concepts, Case Studies, Historical Social Research 39 (2014), H. 4, Special Issue.
Quelle „Denen mußte es mal gezeigt werden“. Spiegel-Interview mit Bundeskanzler Helmut Schmidt (April 1975)28 SPIEGEL:
Herr Bundeskanzler, Sie sind der erste deutsche Regierungschef, der eine Entscheidung über Leben oder Tod zu treffen hatte. Es hat drei Tote gegeben in Stockholm, und es hätte mehr Blut fließen können. Warum war Ihnen dieses Risiko nicht zu hoch?
Schmidt:
Sie haben recht, man mußte das Risiko für das Leben einer Reihe von Menschen, die dort in diesem Botschaftsgebäude als Geiseln gehalten wurden, abwägen. Man mußte auf der anderen Seite abwägen, daß die Gefährdung des Lebens für eine viel größere Zahl von Personen dann eingetreten wäre, wenn wir tatsächlich auf die Forderungen dieser Verbrecher eingegangen wären und 26 Gewaltverbrecher aus deutschen Gefängnissen in die Freiheit entlassen hätten. Wenn man beide Rechtsgüter gegeneinander abwägt, dann mag man auch zu anderen Ergebnissen kommen. Die Bundesregierung jedenfalls ist zu dem mutigen Ergebnis gekommen, daß die Aufrechterhaltung der Schutzfunktion des Staates Vorrang haben mußte.
SPIEGEL:
Sie haben sich im Fall Peter Lorenz zumindest anfänglich für Härte eingesetzt. Hätte Unnachgiebigkeit in Berlin möglicherweise den Fall Stockholm verhindert, oder gibt es keine Abschreckung?
Schmidt:
Leute, die bewußt ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen, sind so leicht nicht abzuschrecken. Tatsächlich lag der Fall Lorenz insofern leichter, als die damals zur Freigabe verlangten Inhaftierten nicht entfernt dieselbe Gefährdung der Allgemeinheit darstellten,
28 „Denen mußte es mal gezeigt werden“. Spiegel-Interview mit Bundeskanzler Helmut Schmidt, in: Der Spiegel (1975), H. 18, S. 26, URL: (18.10.2017). Transkription durch die Redaktion des Themenportals Europäische Geschichte. Die Quelle ist zudem online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .
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auch von ihren Straftaten her. Er lag aber auch ungünstiger, weil man nicht wußte, wo die Geisel Lorenz sich befand, wo man sie vielleicht hätte befreien können, man auch nicht wußte, wo die Entführer waren, die man vielleicht hätte überwältigen können. Im Falle Lorenz wäre wahrscheinlich eine andere als die damals getroffene Entscheidung mit einem sehr viel höheren Risiko für das Leben der einen Geisel verbunden gewesen, als die gestern im Falle Stockholm getroffene Entscheidung mit Risiko für die zehn oder elf Menschen – wie viele es genau waren, wußten wir ja nicht – in dem Augenblick bedeutet hat. SPIEGEL:
Hat eine Rolle gespielt, daß es sich bei der Geisel in Berlin um einen Politiker handelte und bei den Geiseln in Stockholm um Beamte und Angestellte? Gibt es eine Treuepflicht des Beamten bis zur existentiellen Aufopferung?
Schmidt:
Es gibt ganz sicher eine besondere Pflicht des Beamten. Aber diese Pflicht gilt nach meiner festen Überzeugung ebenfalls für Politiker, jedenfalls so herausgehobene Politiker, wie zum Beispiel Herr Lorenz auch einer ist.
SPIEGEL:
Welchen Einfluß hat die Bundesregierung auf die Vorgänge in Stockholm genommen?
Schmidt:
Ministerpräsident Palme und ich waren uns völlig darüber klar: Seit wir in der Bundesregierung die Entscheidung getroffen haben, die Forderungen der Verbrecher abzulehnen, daß damit die deutsche Verantwortung endete und daß alles, was nun mehr geschah oder nicht geschah, ausschließlich nach den Vorschriften der schwedischen Verfassung, der schwedischen Gesetze und nach der Verantwortung der schwedischen Regierung zu geschehen hatte.
SPIEGEL:
Sind Fehler gemacht worden? Die Terroristen in der Botschaft haben von der Ablehnung ihrer Forderungen erfahren, ohne daß gleichzeitig eine Aktion zur Befreiung der Geiseln einsetzte, sei es durch Verhandlungen über freies Geleit, sei es durch einen Sturm auf die Botschaft.
Schmidt:
Ich kann diese in der Frage verborgene Kritik an dem Verhalten der schwedischen Behörden in keiner Weise teilen. Von den oberen Stockwerken des Hauses aus ist das umliegende Gelände mit Maschinenwaffen mühelos zu bestreichen. Infolgedessen bedurfte gewiß die Vorbereitung einer Erstürmung des Gebäudes sehr sorgfältiger Überlegungen. Die konnte auch nur bei völliger Dunkelheit durchgeführt werden. Und um für ein mögliches polizeiliches Vorgehen dieser Art Zeit zu gewinnen, war es notwendig, vom Ablauf ihres sogenannten Ultimatums an mit den Verbrechern in Kontakt zu treten, zum Beispiel, um ihnen gewisse Angebote zu machen. Dies alles ist geschehen.
SPIEGEL:
Also, keiner hat Fehler gemacht?
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Schmidt:
Ich kann von Bonn aus in dem Verfahren der schwedischen Regierung und ihrer Sicherheitsorgane überhaupt keinen Fehler entdecken. Das schließt nicht aus, daß vielleicht doch ein Fehler gemacht worden ist, auch auf unserer Seite.
SPIEGEL:
Warum haben Sie nicht einen Bonner Minister nach Stockholm entsandt?
Schmidt:
Was hätte dieses wohl nützen sollen? Wir haben Kriminalbeamte, Spezialisten auf ihren Gebieten, im Laufe des frühen Nachmittags nach Stockholm entsandt. Wir haben auch einen hohen Beamten des Innenministeriums und des Auswärtigen Amtes geschickt. Im übrigen haben Herr Palme und ich, zum Teil mit Abständen von 20 Minuten, miteinander direkt telephoniert. Wenn wir einen Minister dorthin entsandt hätten, hätte ich erst mit dem telephonieren müssen, der hätte mit Herrn Palme sprechen müssen. Dieses hätte überhaupt keinen Sinn ergeben.
SPIEGEL:
Entgegen den Erwartungen waren die Täter von Stockholm nicht bereit, ihr eigenes Leben zu opfern, um sich der Festnahme zu entziehen. Erleichtert diese Erkenntnis in Zukunft die Lösung solcher Probleme?
Schmidt:
Das kann so sein, das müssen Polizeifachleute beurteilen. Mit Sicherheit haben die Täter sich nicht vorstellen können, daß die deutsche Bundesregierung anders handelte, als sie es sich in ihren erklügelten Plänen ausgedacht hatten. Und infolgedessen waren diese intellektuellen Verbrecher völlig fassungslos, als der schwedische Justizminister ihnen am Telephon mitteilte, Bonn habe ihre sogenannten Forderungen abgelehnt, und ab sofort hätten sie es nur noch mit der schwedischen Regierung zu tun. So war es verabredet, so geschah es. Denen mußte doch mal gezeigt werden, daß es einen Willen gibt, der stärker ist als ihrer.
„MEIN NAME IST AHMET GÜNDÜZ, LASS MICH ERZÄHLEN EUCH“ MIGRATION, MÄNNLICHKEIT UND DIE DIASPORISCHEN URSPRÜNGE VON HIPHOP IN DEUTSCHLAND UND EUROPA1 Pablo Dominguez Andersen „Mein Name ist Ahmet Gündüz, lass mich erzählen euch. Du musst die schon gut zuhören, ich kann nix sehr viel Deutsch. Ich komm von die Türkei, zwei Jahre her. Und ich viel gefreut, doch Leben hier ist schwer.“2
Die ersten Zeilen des Songs „Ahmet Gündüz“ markieren die Geburtsstunde des deutschsprachigen Rap. Vorgetragen in gebrochenem Gastarbeiterdeutsch und untermalt von einer türkischen Saz-Melodie, erzählt der Arbeiter Ahmet die Geschichte seiner Auswanderung in die Bundesrepublik. Gerappt wurden die Zeilen von Tahir Cevik alias Tachi, einem von drei MCs der Gruppe Fresh Familee. 1989 gegründet, spielte die Crew 1991 die Hauptrolle in der ersten deutschen HipHop-Dokumentation Fresh Familee – Comin’ from Ratinga. Den Gewinn eines städtischen Nachwuchspreises nutzte die Band im selben Jahr zur Finanzierung ihres gleichnamigen Debütalbums Coming from Ratinga, das sie kurz darauf im Eigenvertrieb veröffentlichte. Der Song „Ahmet Gündüz“ war sowohl auf dieser Platte als auch auf dem 1993 vom Label Phonogramm veröffentlichten Album Falsche Politik enthalten und gilt damit vielen als erste deutschsprachige Rapveröffentlichung. Angeführt von den drei MCs Tachi mit türkischen, Suli mit mazedonischen und Higgi mit marokkanischen Wurzeln, entstammte die Band der migrantischen Jugendkultur der postindustriellen Trabantensiedlung Ratingen West bei Düsseldorf, welche den damaligen Medien vor allem aufgrund des hohen Anteils „ausländischer“ Bewohner_innen als Problembezirk und sozialer Brennpunkt galt.3 1 2
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Essay zur Quelle: Fresh Familee: Ahmet Gündüz (1993) Der Essay ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Fresh Familee, Ahmet Gündüz (vom Album Falsche Politik, Phonogramm, 1993). Der komplette Songtext ist einsehbar unter der URL: (14.11.2017). Für eine Soundversion des Liedes vgl. Youtube, URL: (18.10.2017). Vgl. Pennay, Mark, Rap in Germany: The Birth of a Genre, in: Mitchell, Tony (Hg.), Global Noise: Rap and Hip Hop Outside the USA, Middletown 2002, S. 111–133; Elflein, Dietmar, From Krauts with Attitudes to Turks with Attitudes: Some Aspects of Hip-Hop History in
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Während der Hit „Die Da?!“ der aus dem bürgerlichen Stuttgart stammenden Die Fantastischen Vier den deutschsprachigen HipHop 1992 in den medialen und musikalischen Mainstream katapultierte, waren Die Fantastischen Vier keineswegs wie oft behauptet die Erfinder des deutschen Rap.4 Diese verbreitete Entstehungsgeschichte des Genres entspringt vielmehr einer nationalen Erfolgs- und Reinheitsphantasie, welche den engen Zusammenhang zwischen HipHop und migrantischer Jugendkultur unsichtbar macht. So fasste ein typischer Artikel in Die Zeit im Jahr 2000 zusammen: „Seit Smudo alias Michael Schmidt und die Fantastischen Vier den HipHop der amerikanischen, schwarzen Gettos in die mittelständischen Vororte deutscher Städte transformierten, hat die deutsche Sprache endlich zu ihrer Musik gefunden.“5 Als erster deutschsprachiger Rap-Song offenbart „Ahmet Gündüz“ dagegen die migrantischen und transnationalen Ursprünge des wenig später in den nationalen Musik-Kanon inkorporierten Genres. Wie Fatima El-Tayeb in ihrem Buch European Others betont, hat der europäische HipHop als zentraler Teil eines politisch-kulturellen Aktivismus europäischer Minderheiten maßgeblich zur Herausbildung einer widerständigen „postethnic European of color identity“ beigetragen. Diese fluide, prozesshafte und nichtessentialistische Form der Identität wird laut El-Tayeb von all jenen geteilt, welche der hegemoniale weiße Rassismus in Europa zu „Anderen“ macht und so ausgrenzt.6 „Ahmet Gündüz“ ist Ausdruck dieser diasporischen und post-nationalen Form des antirassistischen Kampfes in Deutschland und Europa. Gleichzeitig erzählt der Song von der Marginalisierung migrantischer Männlichkeit in der deutschen Einwanderungsgesellschaft und dokumentiert eine kreative Form des Widerstands gegen diese. Migrantische Jugendkultur: HipHop im Deutschland der 1980er-Jahre Rap war als Teil der HipHop-Kultur in den späten 1970er-Jahren in der New Yorker Bronx entstanden. Bestehend aus den drei Säulen Breakdance, Graffiti und
4
5 6
Germany, in: Popular Music 17 (1998), H. 3, S. 255–265; Verlan, Sascha; Loh, Hannes, 25 Jahre HipHop in Deutschland, Höfen 2006, S. 208; von Dirke, Sabine, Hip-Hop Made in Germany: From Old School to the Kanaksta Movement, in: Müller, Agnes C. (Hg.), German Pop Culture: How American is it? Ann Arbor 2012, S. 96–112. So – trotz gegenteiliger Tendenzen – auch bei Jacob, Günther, HipHop in Deutschland: Krauts With Attitudes, in Agit-Pop: Schwarze Musik und weiße Hörer, Berlin u.a. 1992, S. 206–226, hier S. 213. Vgl. auch Templeton, Inez H., Was ist so deutsch daran? Kulturelle Identität in der Berliner HipHop-Szene, in: Bock, Karin; Meier, Stefan; Süss, Günter (Hgg.), HipHop meets Academia: globale Spuren eines lokalen Kulturphänomens, Bielefeld 2007, S. 185–198; Caglar, Ayse, Verordnete Rebellion: deutsch-türkischer Rap und türkischer Pop in Berlin, in: Mayer, Ruth; Terkessidis, Mark (Hgg.), Globalkolorit: Multikulturalismus und Populärkultur, Wien 1998. Die Zeit 2/2000, zitiert nach Loh, Hannes; Güngör, Murat, Fear of a Kanak Planet: HipHop zwischen Weltkultur und Nazi-Rap, Höfen 2002, S. 124. Vgl. El-Tayeb, Fatima, European Others: Queering Ethnicity in Postnational Europe, Minneapolis 2011, S. 7.
HipHop in Deutschland und Europa
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Rap – letzteres zusammengesetzt aus DJing (Plattenauflegen) und MCing (Sprechgesang) – unterlief HipHop als Melange vor allem afroamerikanischer, afrokaribischer und hispanoamerikanischer Elemente schon zum Zeitpunkt seiner Entstehung kulturelle und nationale Grenzen. Das Breakdancing (der auch als BBoying bekannte, akrobatische und kompetitive Tanzstil der HipHopper) wurde von puerto-ricanischen und afroamerikanischen Jugendlichen entwickelt, welche laut Pionieren wie Richard „Crazy Legs“ Colón sowohl vom Tanzstil James Browns als auch von asiatischen Kampfkunst-Filmen beeinflusst waren. DJing und MCing wiederum hatten ihre Wurzeln sowohl in der jamaikanischen Kultur der Soundsystems und dem dazugehörigen Sprechgesang, dem Toasting, als auch in afroamerikanischen Traditionen wie der religiösen Gesangspraxis des Call and Response, dem Signifyin’ (also dem spielerischen Umgang mit unterschiedlichen Wortbedeutungsebenen) oder dem kompetitiven Wortspiel des Dozens, welches Rapper in der Praxis des Dissens (der gekonnten Beleidigung) und im Genre des Battlerap zu einer eigenen Kunstform verfeinerten. Gleichzeitig sampelten HipHop-DJs Versatzstücke aus Soul, Reggae, Jazz, Rock und Country. „Musically speaking“, fasst Terence Kumpf treffend zusammen, „hip-hop is transcultural by nature.“7 Ihren Weg nach Deutschland fand die HipHop-Kultur zunächst über das Kino, durch Dokumentarfilme wie Beat Street (1984) und Wild Style (1983). Vor allem der Breakdance-Film Beat Street hinterließ bei deutschen Jugendlichen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs einen bleibenden Eindruck und führte zur Entstehung erster Breakdance-Crews in Städten wie Frankfurt, Berlin, Düsseldorf, Hamburg, Heidelberg und Dresden. Während der Breakdance-Hype in den folgenden Jahren merklich abebbte, bildete sich in mehreren urbanen Zentren und in der Nähe britischer und US-amerikanischer Kasernen eine lebhafte HipHopSubkultur aus B-Boys und B-Girls, Sprayern, DJs und MCs, die abseits des Mainstreams ein informelles Netzwerk aus Jams, Contests, überregionalen Kontakten und seit Ende der 1980er-Jahren auch Plattenaufnahmen schufen. Auf Basis dieser gewachsenen Szene, der auch die Band Fresh Familee entstammte, konnte sich das, was in den 1990er-Jahren als deutscher Rap dann zu einer tragenden Säule einer der größten nationalen Musikindustrien der Welt werden sollte, erst entwickeln.8 7
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Kumpf, Terence, Beyond Multiculturalism: The Transculturating Potential of Hip-Hop in Germany, in: Nitzsche, Sina A.; Grünzweig, Walter (Hgg.), Hip-Hop in Europe: Cultural Identities and Transnational Flows, Wien u.a. 2013, S. 207–226, hier S. 209. Vgl. auch Strick, Simon, Competent Krauts: Following the Cultural Translations of Hip-Hop to Germany, in: Raussert, Wilfried; Miller Jones, John (Hgg.), Traveling Sounds: Music, Migration, and Identity in the U.S. and Beyond, Berlin 2008, S. 265–288, hier S. 265. Wald, Elijah, The Dozens: A History of Rap's Mama, Oxford 2012. Zu Breakdance vgl. Banes, Sally, Physical Graffiti: Breaking is Hard to do, in: Village Voice vom 22. April 1981, repr. in: Cepeda, Racquel (Hg.), And It Don’t Stop: The Best American Hip-Hop Journalism of the Last 25 Years, New York 2004, S. 7–11. Vgl. Verlan; Loh, 25 Jahre HipHop in Deutschland, S. 168–173. Zu HipHop in der DDR vgl. Schmieding, Leonard, „Das ist unsere Party“: HipHop in der DDR, Stuttgart 2014.
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Die HipHop-Szene der 1980er-Jahre wurde maßgeblich von migrantischen Jugendlichen getragen. Wie Hannes Loh von der Gruppe Anarchist Academy betont, hatte HipHop „von Beginn an eine besondere Anziehungskraft auf die Söhne und Töchter der zweiten Migrantengeneration. Weit über die Hälfte der HipHops waren junge Türken, Kurden, Jugoslawen, Griechen, oder Italiener. […] in Beat Street und Wild Style begegneten ihnen Charaktere, die ein Leben führten, das dem ihren nicht unähnlich war.”9 Die Songs von US-Rappern der ersten Generation wie Grandmaster Flash und Afrika Bambaataa handelten von einem oft trostlosen Leben in Armut und erzählten Geschichten von rassistischer Ausgrenzung und Diskriminierung. Gleichzeitig formulierten Songs wie „The Message“, „Renegades of Funk“ oder „Fight the Power“ von Public Enemy ein widerständiges schwarzes Selbstbewusstsein, das sich neben gemeinsamen Diskriminierungserfahrungen auch aus dem Gemeinschaftsgefühl der HipHop-Kultur speiste. Getragen vom Wettbewerbscharakter der einzelnen HipHop-Elemente entstand auch in Deutschland eine transnationale Jugendkultur, in der zunächst jeder – unabhängig von Herkunft oder sozialer Schicht, nicht aber von Geschlecht – die Chance hatte, sich durch sein Können künstlerisch auszudrücken und gegenüber anderen zu behaupten. Wie Tachi von der Fresh Familee betont, habe man sich „gerade als Ausländer in einem sozialen Brennpunkt automatisch mit HipHop identifiziert.“10 Tatsächlich bestand die frühe HipHop-Kultur in Deutschland zu einem Großteil aus migrantischen Jugendlichen. Migrantische HipHop Crews wie Fresh Familee, Advanced Chemistry, Islamic Force, Da Crime Posse, Microphone Mafia oder die Asiatic Warriors rappten nicht nur auf Deutsch, sondern auch auf Englisch, Italienisch, Spanisch, Arabisch, Türkisch, Kurdisch, Mazedonisch und in vielen weiteren Sprachen mit dem erklärten Ziel, von ihrer migrantisch geprägten, transnationalen Community verstanden zu werden. Das Rappen in unterschiedlichen Sprachen war zudem Ausdruck einer Mehrsprachigkeit, die für viele Jugendliche aus migrantischen Familien selbstverständlicher Alltag war und die im HipHop nun zu einer Quelle der Gemeinschaft und des Stolzes wurde. Vom Gastarbeiter zum Ausländer: Migration, Rassismus, Jugend und Geschlecht Als jugendliche Migranten der zweiten Generation waren die Protagonisten der frühen HipHop-Szene in mehrfacher Hinsicht gesellschaftlich marginalisiert. Schon ihre Eltern hatten mit rassistischer Diskriminierung in Form von schlechten Wohnbedingungen, harter körperlicher Arbeit bei besonders niedrigen Löhnen, sozialer Ausgrenzung und fehlender politischer Teilnahme und Repräsentation zu kämpfen gehabt. Viele der jugendlichen Migranten waren zwar in Deutschland geboren und aufgewachsen, hatten aufgrund ihres Aussehens, ihres Namens oder ihrer Staatsangehörigkeit aber genau wie ihre Eltern kaum Aussicht, als gleich9 Verlan; Loh, 25 Jahre HipHop in Deutschland, S. 162–163. 10 Güngör; Loh, Fear of a Kanak Planet, S. 92.
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wertige Mitglieder der Gesellschaft behandelt und anerkannt zu werden. Denn das auf Herkunft basierende Nationsverständnis jener Jahre sah für Menschen mit erkennbar migrantischen Wurzeln keine Möglichkeit vor, ein Teil des deutschen Kollektivs zu sein oder zu werden. Während der Anwerbestopp von 1973 einen Versuch darstellte, die Migration nach Deutschland zu beenden, führte der folgende Familiennachzug mittelfristig dazu, dass die Zahl der Migrantinnen und Migranten stattdessen weiter anwuchs. Zu diesem Zeitpunkt löste die Figur des Ausländers die des Gastarbeiters ab und der Begriff der Integration begann seinen Siegeszug als neues Paradigma der staatlichen Kontroll- und Ausgrenzungspolitik. Parallel zu diesen Entwicklungen wurde gerade die Figur des männlichen jugendlichen Migranten gegen Ende der 1970er-Jahre immer häufiger als personifizierte Bedrohung der sozialen und nationalen Ordnung imaginiert. Während alarmierte Expert_innen aus Soziologie, Pädagogik, Rechtswissenschaft, Psychologie und Kriminologie die angeblich überproportional hohe Kriminalitätsrate unter Gastarbeiterkindern als „tickende soziale Zeitbombe“ analysierten, warnte der Spiegel in einer Titelstory über „Gettos in Deutschland“ reißerisch: „Die Türken kommen – rette sich, wer kann.“11 Während schon vor dem Beginn der Anwerbeverträge durchaus auch viele Frauen nach Deutschland eingewandert waren, waren es in erster Linie migrantische Männer, die in den deutschen Medien als symbolische Repräsentanten für das System der Gastarbeit herhalten mussten.12 Hierbei taten sich die deutschen Medien durch eine beständige Infantilisierung und Exotisierung der männlichen Gastarbeiter hervor. Aller Vielfalt zum Trotz changierten die Stereotype migrantischer Männlichkeit in der deutschen Öffentlichkeit im Kern zwischen zwei Polen. Auf der einen Seite stand die Figur des grundanständigen, wohlangepassten und fleißigen – wenn auch etwas nachlässigen – Gastarbeiters. Dieser paternalistischen Phantasie nach waren südeuropäische Immigranten der ersten Generation im Kern brave und freundliche Werktätige, die aufgrund ihrer beinahe kindlichen Naivität als grundlegend harmlos, dabei schlimmstenfalls als ein wenig einfältig galten. Komplementär hierzu etablierte sich schon früh ein anderes Bild, welches den männlichen Gastarbeiter als Gefährdung der sozialen und nationalen Ordnung imaginierte. Nach diesem Stereotyp, das im Laufe der 1970er-Jahre immer domi11 Der Spiegel, 30.07.1973. Vgl. Geißler, Rainer und Norbert Marißen, Kriminalität und Kriminalisierung junger Ausländer. Die tickende soziale Zeitbombe: ein Artefakt der Kriminalstatistik, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 42 (1990), S. 663–687; Terkessidis, Mark, Die Banalität des Rassismus: Migranten zweiter Generation entwickeln eine neue Perspektive, Bielefeld 2004; Bojadžijev, Manuela, Die windige Internationale: Rassismus und Kämpfe der Migration, Münster 2007; dies.; Perinelli, Massimo, Die Herausforderung der Migration: Migrantische Lebenswelten in der Bundesrepublik in den 1970er Jahren, in: Siegfried, Detlef; Reichardt, Sven (Hgg.), Das Alternative Milieu: Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968–1983, S. 131–145, Göttingen 2010. Karakayali, Serhat, Gespenster der Migration: Zur Genealogie illegaler Einwanderung in der Bundesrepublik Deutschland, Bielefeld 2008, S. 153. 12 Vgl. Mattes, Monika, „Gastarbeiterinnen“ in der Bundesrepublik: Anwerbepolitik, Migration und Geschlecht in den 50er bis 70er Jahren, Frankfurt am Main 2005.
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nanter wurde und bald in besonderem Maße mit türkischen Männern assoziiert wurde, waren migrantische Männer vor allem aggressiv, kriminell, triebhaft, aufbrausend, chauvinistisch und anpassungsunwillig.13 Migrantischen Männern blieb angesichts dieser verbreiteten Stereotype und wegen der herrschenden ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Diskriminierung der Zugang zu den symbolischen und materiellen Ressourcen hegemonialer Männlichkeit weitgehend versperrt. Wenn Raewyn Connell hegemoniale Männlichkeit als die zu einem bestimmten Zeitpunkt gesellschaftlich dominante Idealvorstellung von Maskulinität bezeichnet, dann müssen migrantische Männer in Deutschland nach 1945 als Beispiel einer marginalisierten Form von Männlichkeit gelten. Einen besonders gewichtigen Aspekt dieser Marginalisierung stellte dabei die fehlende Möglichkeit zur medialen und kulturellen Selbstrepräsentation dar – die deutsche Öffentlichkeit sprach viel über migrantische Männer, selten aber mit ihnen.14 „Arschloch nix verstehen“: Marginalisierung, Ethnic Drag und männlicher Protest Diese Marginalisierung von Migranten der ersten und der zweiten Generation fand ihren direkten Ausdruck im Gründungsdokument des deutschsprachigen Rap: in Fresh Familees „Ahmet Gündüz“. In der ersten Strophe des Songs schildert MC Tachi aus der Sicht eines Gastarbeiters der ersten Generation die Diskriminierung und die Zumutungen, mit denen sich Migranten in Deutschland tagtäglich konfrontiert sahen. „In Arbeit Chef mir sagen: Kanacke hey wie geht’s? Ich sage Hastirlan, doch Arschloch nix verstehen. Mein Sohn gehen Schule, kann schreiben jetzt, doch Lehrer ist ein Schwein, er gibt ihm immer Sechs. Gestern ich komm von Arbeit, ich sitzen in der Bahn. Da kommt ein besoffen Mann und setzt sich nebenan. Der Mann sagt: Öhf, du Knoblauch stinken! Ich sage: Ach egal, du stinken von Trinken!“
13 Eine systematische Analyse des Zusammenhangs von Rassismus, Migration und Männlichkeiten in Deutschland nach 1945 steht noch aus. Für erste Anhaltspunkte vgl. Schönwalder, Karen, Einwanderung und ethnische Pluralität: Politische Entscheidungen und öffentliche Debatten in Großbritannien und der Bundesrepublik von den 1950er bis zu den 1970er Jahren, Essen 2001; Bojadžijev, Windige Internationale, S. 229. Sala, Roberto; Janz, Oliver (Hgg.), Dolce Vita? Das Bild der italienischen Migranten in Deutschland, Frankfurt am Main u.a. 2011. 14 Vgl. Connell, Raewyn, Masculinities, Berkeley 2005; Martschukat, Jürgen; Stieglitz, Olaf, Geschichte der Männlichkeiten, Frankfurt am Main 2008.
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In der zweiten Strophe, zu welcher der Beat einsetzt, wechselt Tachi dann in ein akzentfreies Hochdeutsch, das seinen vorherigen Rap zunächst als ein ironisches Spiel mit dem Stereotyp des sprachunfähigen Gastarbeiters erkennbar werden lässt. Gleichzeitig erlaubt dieses Spiel Tachi, der ersten Einwanderergeneration eine widerständige und selbstbewusste Stimme zu verleihen. Ahmet Gündüz benennt die für ihn alltäglichen rassistischen Zumutungen, Ungerechtigkeiten und Beschimpfungen und wehrt sich gegen sie, indem er den ahnungslosen Chef als Arschloch und den Lehrer als Schwein tituliert. Die im Song zur Sprache kommenden Erfahrungen waren vielen jungen migrantischen Hörer_innen des Songs zweifellos bekannt. Hierdurch schuf der Track ein Gemeinschaftsgefühl unter all jenen, die unter rassistischer Diskriminierung litten und vermittelte ein Gefühl der Stärke und des widerständigen Stolzes. Im Rest des Songs forderte Tachi seine Hörer_innen auf, Vorurteile abzubauen und Migranten wie ihm (und Ahmet) endlich mit Respekt gegenüberzutreten. Wie der Text deutlich macht, erfuhr Ahmet gesellschaftliche Ausgrenzung auf mehreren Ebenen. Diskriminierungen und Beschimpfungen fanden an einer Vielzahl von Orten statt und durchzogen so den Alltag vieler Migrant_innen in Deutschland. So erlaubten es die bestehenden Machtverhältnisse dem Chef offensichtlich, seinen Angestellten ungestraft als „Kanaken“ zu beschimpfen. Die widerständige Geste („Hastirlan“) entgeht dem Chef zwar, sie erlaubt Ahmet aber, der empfundenen Kränkung etwas entgegenzusetzen. Die Nacherzählung der Szene im Song schafft dann eine symbolische Gemeinschaft der Marginalisierten, für die solche Gängelungen Alltag waren und die sich hier über den rassistischen und ahnungslosen Chef erheben können. Die folgende Zeile entlarvt den strukturellen Rassismus des deutschen Schulsystems, in dem migrantische Kinder schlechte Noten bekamen, egal ob sie schreiben konnten oder nicht. Die Episode mit dem Betrunkenen in der Bahn schließlich macht deutlich, dass die Ablehnung der Mehrheitsgesellschaft sich auch in Beleidigungen manifestierte, die sich auf Körperlichkeit, in diesem Fall den Körpergeruch bezogen. Auch diese Beleidigung gibt Ahmet in einer widerständigen Geste zurück und behauptet so seine abgewertete Männlichkeit – er mag zwar nach Knoblauch stinken, aber wenigstens ist er im Gegensatz zum Betrunkenen nüchtern und damit im Vollbesitz seiner (männlichen) Kräfte.15 Zur Zeit der deutschen Wiedervereinigung und noch vor der Pogromwelle der 1990er-Jahre16 dokumentierte „Ahmet Gündüz“ den Alltagsrassismus in der Mitte der westdeutschen Gesellschaft. Nicht von mordenden Skinheads und brennenden Flüchtlingsunterkünften erzählte der Song, sondern von strukturellen Benachteiligungen, Gängelungen und Beleidigungen durch Institutionen, Chefs, Lehrer und 15 Vgl. Manalansan, Martin F. IV, Immigrant Lives and the Politics of Olfaction in the Global City, in: Drobnick, Jim (Hg.), The Smell Culture Reader, Oxford u.a. 2006, S. 41–52; Classen, Constance., The Odor of the Other, in: Ethos 20 (1992), H. 2, S. 133–166. 16 Vgl. Dostluk Sinemasi (Hg.), Von Mauerfall bis Nagelbombe. Der NSU-Anschlag im Kontext der Pogrome und Anschläge der neunziger Jahre, Berlin 2014; Dokumentarfilm: The Truth lies in Rostock. Die Wahrheit liegt (lügt) in Rostock, BRD/ Großbritannien 1993.
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Passanten. Schon in den 1980er-Jahren hatte sich die Rhetorik gegen sogenannte Ausländer deutlich verschärft. Die Wiedervereinigung war für viele Migrant_innen deshalb kein Anlass zum Feiern, sondern eher ein Grund zur Sorge. Sie befürchteten, dass der Fall der Mauer den grassierenden Nationalismus weiter befeuern würde. Tatsächlich wurde die Neuverhandlung deutscher Identität auf dem Rücken von Migrant_innen ausgetragen, die nun noch stärker als zuvor aus dem nationalen Kollektiv ausgeschlossen wurden.17 Vor diesem Hintergrund ist Ahmet Gündüz auch als migrantischer Kommentar zum wachsenden Nationalismus und Rassismus des wiedervereinigten Deutschlands zu sehen. Die Art und Weise, wie der Song mit verbreiteten Klischees vom türkischen Gastarbeiter spielte, ist auch deshalb bedeutsam, weil ein solches performatives Spiel mit ethnischen Identitäten in der deutschen Kulturlandschaft und Öffentlichkeit bis dato nahezu ausschließlich weißen deutschen Männern vorbehalten war. Wie Kathrin Sieg anhand von Reportagen wie Gerhard Kromschröders Als ich ein Türke war oder Günter Wallraffs Ganz Unten gezeigt hat, war das sogenannte ethnic drag nach 1945 gerade für deutsche Linke ein willkommenes Mittel, sich im Rahmen der „Vergangenheitsbewältigung“ mit einer marginalisierten ethnischen Minderheit zu identifizieren, ohne sich mit dem gegenwärtigen Rassismus und den davon Betroffenen tatsächlich auseinander setzen zu müssen. Ethnic drag bezeichnet laut Sieg eine alltagskulturelle Form der Maskerade, welche weißen (meistens: männlichen) Deutschen über einen „spielerischen“ Umgang mit „rassischen“ Zuschreibungen und Stereotypen eine Neuverhandlung deutscher Identität erlaubte. Dabei waren jedoch, allen vermeintlich guten Absichten zum Trotz, die Rollen klar verteilt. Deutsche verfügten über das kulturelle Kapital, um für marginalisierte Türken und andere Migrant_innen zu sprechen und sich hierüber medial zu profilieren, während es für die Betroffenen selbst ungleich schwerer war, eine ähnliche Öffentlichkeit zu mobilisieren. Wie Sieg zu Recht kritisiert, verkleideten sich Deutsche lieber als Türken, als mit Türken zu sprechen – mit dem Effekt, dass die subalternen Migrant_innen weiterhin ihrer Stimme beraubt blieben. Mit MC Tachi war es in „Ahmet Gündüz“ dagegen eine von Rassismus unmittelbar betroffene Person, welche in einem widerständigen Akt die Stimme eines Gastarbeiters der ersten Generation annahm und diesen so zum Sprechen brachte. Gleichzeitig ließ Tachi durch seinen abrupten und überraschenden Wechsel ins Hochdeutsche seine vorherige Performance als ein ironisches Zitat eines rassistischen Klischees hörbar werden, ein Klischee, welches in diesem Moment seine naturalisierende Wirkung einbüßte, weil es als Konstrukt sichtbar wurde.18 17 Vgl. Cil, Nevim, Topographie des Außenseiters: Türkische Generationen und der deutschdeutsche Wiedervereinigungsprozess, Berlin 2007; Räthzel, Nora, Zur Bedeutung von Asylpolitik und neuen Rassismen bei der Reorganisation der nationalen Identität im vereinigten Deutschland, in: Butterwege, Christoph; Jäger, Siegfried (Hgg.), Rassismus in Europa, Köln 1992, S. 213–229. 18 Vgl. Sieg, Kathrin, Ethnic Drag: Performing Race, Nation, Sexuality in West Germany, Ann Arbor 2002, S. 25; Wallraff, Günter, Ganz Unten: Mit einer Dokumentation der Folgen, Köln 1988; Kromschröder, Gerhard, Als ich ein Türke war, Frankfurt am Main 1983; Gutiérrez Rodríguez, Encarnación, Repräsentation, Subalternität und postkoloniale Kritik, in: ders.;
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Auch über den Song „Ahmet Gündüz“ hinaus zeichnete sich die migrantische HipHop-Kultur der 1980er- und frühen 1990er-Jahre durch einen spielerischen und transgressiven Umgang mit Identitäten aus. Tatsächlich gehörte die kreative Neukombination von Namen, Begriffen und Bezeichnungen aus unterschiedlichen Sprachen zu den wichtigsten Pfeilern der HipHop-Kultur insgesamt. Als Crews, Breaker, Writer, MCs oder DJs gaben sich HipHopper_innen neue, selbstgewählte Künstlernamen, die immer auch einen Bruch mit oder eine Neuerfindung ihrer vorherigen Identität bedeuteten. Während viele migrantische Jugendliche gerade durch ihre in den Ohren der Mehrheitsgesellschaft fremd klingenden Namen automatisch aus dieser Gesellschaft ausgeschlossen blieben, wurden sie durch die Annahme einer neuen Identität Teil einer transkulturellen und inklusiven Gemeinschaft. Die häufig englisch klingenden Künstlernamen konnten einerseits die oft als stigmatisierend empfundene ethnische Markiertheit des ursprünglichen Namens verwischen oder ganz unsichtbar machen. So wurde aus Tahir Cevik von Fresh Familee Tachi bzw. Tachiles, Toni Landomini von Advanced Chemistry verwandelte sich in Toni L (ebenfalls bekannt unter den Pseudonymen „Toni der Koch“ und „Funkjoker“), und aus Kofi Yakpo (ebenfalls Advanced Chemistry) wurde Linguist. Andererseits konnte, wie bei den Crews Asiatic Warriors, Islamic Force oder Sons of Gastarbeita eine in der deutschen Mehrheitsgesellschaft abwertend gebrauchte Bezeichnung innerhalb der HipHop-Kultur zu einer Quelle des Selbstbewusstseins und Stolzes umgedeutet werden. Aller grundsätzlichen Inklusivität und Offenheit zum Trotz war HipHop in Deutschland eine männlich dominierte Subkultur. Auch die Fresh Familee war eine rein männliche Crew, welche in ihren Texten und ihrem Auftreten eine teilweise aggressive und stellenweise auch deutlich frauenfeindliche Form von Männlichkeit inszenierte. Im Track „Ratingen West“ auf dem Album Falsche Politik etwa, der als eine der frühesten Vertreter des Gangster Rap gelten kann, stellte die Fresh Familee ihre Härte, Gewaltbereitschaft („Ich bin der Härteste im Hochhaus, klatsch jeden an die Wand“) und hyperaktive Sexualität zur Schau: „Die Weiber […] machen dann gleich für mich die Beine breit, der Rest ist dann für mich ne Kleinigkeit. Direkt danach muss sie wieder gehen. Da hilft kein Flehen, auf Wiedersehen.“
Im Vergleich zu den detaillierten Vergewaltigungsphantasien späterer GangsterRapper muten solche Zeilen zwar gerade in ihrer Schablonenhaftigkeit und sichtbaren Bemühtheit um maskuline Potenz vergleichsweise harmlos an. Dennoch schränkte die Marginalisierung von Frauen innerhalb der HipHop-Szene das poliSteyerl, Hito (Hgg.), Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik, Münster 2012, S. 17–37; für eine alltägliche Form von ethnischer Performanz durch Migrantinnen und Migranten vgl. Möhring, Maren, Fremdes Essen: Die Geschichte der ausländischen Gastronomie in der Bundesrepublik Deutschland, München 2012, S. 262–270.
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tisch progressive und transgressive Potential der Kultur deutlich ein.19 Gleichzeitig wird die große Bedeutung von männlicher Härte, Wehrhaftigkeit, Zusammenhalt, Potenz und Durchsetzungskraft auch im frühen Rap nur verständlich, wenn man sie vor dem Hintergrund der entmännlichenden Diskriminierung junger Migranten in der Bundesrepublik als Form männlichen Protestes versteht. „Protest masculinity“ so definiert Raewyn Connell, „is a marginalized masculinity, which picks up themes of hegemonic masculinity in the society at large but reworks them in a context of poverty.“20 Laut Connell neigen viele Männer, welche aufgrund von sozialem Ausschluss nicht oder kaum an der patriarchalen Dividende teilhaben, zu einer exzessiven Zurschaustellung von als konventionell männlich definierten Verhaltensformen wie Gewalttätigkeit, Misogynie, Homophobie und zwanghafter Heterosexualität. Die reale Erfahrung von Machtlosigkeit kompensieren viele Männer, so Connell, durch die symbolische Inszenierung und manifeste Ausübung von Macht gegenüber schwächeren oder als schwächer titulierten Personen oder Personengruppen. Die Geschlechterdynamik innerhalb der HipHop-Kultur in Deutschland lässt sich also nur kritisch analysieren, wenn Formen rassistischer Diskriminierung und Klassenunterschiede ebenfalls in den Blick genommen werden.21 Ausblick: Rap, Minderheiten und diasporische Identitäten im postnationalen Europa Die 1990er-Jahre brachten zeitgleich zum kommerziellen Durchbruch von Rap in Deutschland auch dessen Nationalisierung. Im Zuge des nationalistischen Trubels während und nach der deutschen Wiedervereinigung entledigte die Musikindustrie im Tandem mit den deutschen Medien HipHop seiner migrantischen Wurzeln, um die Musik als „neuen deutschen Sprechgesang“ zu einer jugendlich-flotten Nationalkultur umzudeuten und kommerziell verwertbar zu machen. Vor dem Hinter19 Es gab im deutschen HipHop auch viele Frauen, die sich gegen diese Marginalisierung wehrten. Vgl. etwa El-Tayeb, Fatima, Medien, Machos und Mädchenrap: Die Musikgruppe Tic Tac Toe, in: Online-Dossier Afrikanische Diaspora in Deutschland, Bundeszentrale für politische Bildung, URL: (18.10.2017). Zu den USA: Jeffries, Michael P., Thug Life: Race, Gender, and the Meaning of Hip-Hop, Chicago 2011. 20 Connell, Masculinities, S. 114. Vgl. auch Ege, Moritz, „Ein Proll mit Klasse:“ Mode, Popkultur und soziale Ungleichheiten unter jungen Männern in Berlin, Frankfurt am Main 2013, S. 177, 354. 21 Vgl. Dietrich, Marc; Seeliger, Martin (Hgg.), Deutscher Gangsta-Rap: Sozial- und kulturwissenschaftliche Beiträge zu einem Pop-Phänomen, Bielefeld 2012; Rose, Tricia, The HipHop Wars: What We Talk About When We Talk About Hiphop and Why it Matters, New York 2008, S. 113–132; White, Miles, From Jim Crow to Jay-Z: Race, Rap, and the Performance of Masculinity, Chicago 2011; Friedrich, Malte, Der Klang des Männlichen: Sexismus und Affirmation im HipHop, in: Gerards, Marion; Loeser, Martin; Losleben, Katrin (Hgg.), Musik und Männlichkeiten in Deutschland seit 1950: Interdisziplinäre Perspektiven, München 2014, S. 161–180.
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grund der rassistischen Pogrome von Solingen, Rostock, Mölln und Hoyerswerda und der Abschaffung des Grundrechts auf Asyl gelangten zwar Bands wie die Fresh Familee und Advanced Chemistry aufgrund ihrer explizit antirassistischen Texte kurzzeitig zu einer gewissen Prominenz. In der Folge setzte sich aber der betont unpolitisch daherkommende Party-HipHop von Bands wie Der Tobi und Das Bo, Fettes Brot oder Blumentopf durch. Erst mit dem Aufkommen von Gangster- und Battlerap in den 2000er-Jahren wurden migrantische Stimmen wieder federführend im deutschen Rap. Heute sind Künstler wie Bushido, Kool Savas oder Haftbefehl die kommerziell erfolgreichsten Rapper. Begleitet wird dieser Erfolg von einem alarmierten medialen Diskurs, welcher die gewaltverherrlichenden, frauenfeindlichen und homophoben Texte der migrantischen Rapper beklagt und als Folge ihrer angeblichen kulturellen Andersartigkeit festschreibt. Entgegen solchen essentialisierenden Vorstellungen beschreibt Fatima ElTayeb in European Others einen neuen kulturellen und politischen Aktivismus europäischer Minderheiten, die geeint seien durch ihren Ausschluss aus hegemonialen Vorstellungen von europäischer Identität. Migrantinnen und Migranten der zweiten und dritten Generation teilten gerade aufgrund ihrer gemeinsamen Rassismuserfahrungen eine fluide und postethnische „European of color identity“, welche sich vor allem in widerständigen kulturellen und politischen Praktiken artikuliere. El-Tayeb folgt mit ihrer Analyse dem Aufruf von Autoren wie Paul Gilroy und Etienne Balibar, eine neue, minoritäre und demokratische Geschichte Europas von unten zu schreiben, in deren Zentrum die Auseinandersetzung mit und der Widerstand gegen den europäischen Rassismus stehen müsse. Der frühe HipHop als Ausdruck der bisher weitgehend unerforschten migrantischen Jugendkultur in Deutschland nach 1945 zeigt: Die diasporische Erfahrung europäischer Minderheiten hat nicht nur eine Gegenwart und eine Zukunft, sondern auch eine Geschichte, die noch ihrer Erzählung harrt.22 Literaturhinweise Bojadžijev, Manuela, Die windige Internationale: Rassismus und Kämpfe der Migration, Münster 2007. Connell, Raewyn, Masculinities, Berkeley 2005. El-Tayeb, Fatima, European Others: Queering Ethnicity in Postnational Europe, Minneapolis 2011. Loh, Hannes; Güngör, Murat, Fear of a Kanak Planet: HipHop zwischen Weltkultur und Nazi-Rap, Höfen 2002. Rose, Tricia, The HipHop Wars: What We Talk About When We Talk About HipHop and Why it Matters, New York 2008.
22 Vgl. El-Tayeb, European Others; Balibar, Etienne, We, the People of Europe? Reflections on Transnational Citizenship, Princeton 2004; Gilroy, Paul, Migrancy, Culture, and a New Map of Europe, in: Raphael-Hernandez, Heike (Hg.), Blackening Europe: The African American Presence, New York u.a. 2004, S. XI–XXII. Hall, Stuart, Europe’s Other Self, in: Frangenberg, Frank (Red.), Projekt Migration, Köln 2005, S. 182–187.
4. KÖRPER UND SEXUALITÄTEN
„SCHWARZ-WEIßE LIEBE“ DIE (POST-)KOLONIALE „MISCHEHENFRAGE“ IM DEUTSCHEN SEXUALREFORMDISKURS DER ZWISCHENKRIEGSZEIT1 Judith Große Unter den veröffentlichten Leserbriefen an die Redaktion der Zeitschrift Die Ehe. Monatsschrift für Ehewissenschaft, -Recht und -Kultur findet sich im Jahrgang 1929 die Anfrage einer Leserin „in einer Sache […], die so eigenartig ist, daß es sich wohl lohnt, sie den Lesern vorzulegen.“2 Die anonymisierte Verfasserin des Briefes bittet um Antwort auf die Frage, „ob moralische oder gesetzliche Bedenken gegen die Ehe einer Weißen mit einem Neger existieren“. Eine Freundin der Verfasserin, die als Wirtschafterin auf einem Gutshof tätig sei, hege die Absicht, einen aus Kamerun stammenden Hausdiener zu heiraten und mit ihm das Gut zu verlassen. Der Heiratskandidat sei 1913 als Junge von dem Rittergutsbesitzer aus der Kolonie nach Deutschland mitgenommen worden. Als besorgte Freundin frage sie sich nun, „ob man davon abraten [solle] und mit welcher Begründung“. Die im Brief geschilderte Begebenheit stellte für die Zeitgenossen offenbar ein ungewöhnliches Ereignis dar. Dies erklärt sich zunächst aus der Tatsache, dass die Einwanderung aus den Kolonien in Deutschland mit seinem kurzlebigen (1884–1919) und vergleichsweise kleinen Kolonialreich, anders als etwa in Frankreich und England, ein marginales Phänomen war.3 Die fast ausnahmslos männlichen Migranten waren als Seeleute, Kaufleute und Sprachlehrer, als Personal der sogenannten Völkerschauen, zur Ausbildung oder als Dienstboten in Deutschland tätig und lebten überwiegend in den großen Städten.4 So gering die Zahl kolonialer Migranten auch war, ihre symbolische Bedeutung ist nicht zu unterschätzen: Nicht nur machten sie die (ehemaligen) Kolonien im ‚Mutterland‘ sichtbar, auch sie selbst befanden sich in einer exponierten Position, in einem Zustand erhöhter 1 2 3
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Essay zur Quelle: „Schwarz-weiße Liebe“, Leserbriefe aus „Die Ehe“ (1929/1930). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . „Schwarz-weiße Liebe“, Leserbriefe aus der Rubrik „Liebe Leser“, in: Die Ehe 4 (1929), H. 10, S. 27; H. 11, S. 30; 5 (1930), H. 1, S. 28 f.. Im Folgenden stammen alle Quellenzitate, soweit nicht anders ausgewiesen, aus den hier mit veröffentlichten Quellenausschnitten. Grosse, Pascal, Zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. Kolonialmigration in Deutschland, in: Kundrus, Birthe (Hg.), Phantasiereiche. Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus, Frankfurt am Main 2003, S. 91–109. Grosse geht von etwa 500 erfassten Kolonialmigranten in Deutschland aus. Als ausführliche Studie über afrikanische Kolonialmigranten insbesondere aus Kamerun vgl. Aitken, Robbie; Rosenhaft, Eve (Hgg.), Black Germany. The Making and Unmaking of a Diaspora Community, 1884–1960, Cambridge u.a. 2013.
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Sichtbarkeit, was sich in der Quelle im Hinweis auf das „Sensationsbedürfnis“ des Dienstherren widerspiegelt. Das für die Briefautorin eigentlich Irritierende an diesem Fall war aber die Eheschließung eines „Negers mit einer Weißen“. Die Wortwahl ist ein deutlicher Indikator dafür, dass die vermeintliche ‚Rassenzugehörigkeit‘ der beiden Partner im Zentrum der Frage stand.5 Sie verweist auf den Umstand, dass Menschen afrikanischer Herkunft, wenn sie nach Europa kamen, oft primär als ‚schwarz‘ wahrgenommen wurden. Über die Hautfarbe als ein am Körper sichtbares Zeichen der vermeintlichen ‚rassischen‘ Differenz wurde also eine künstliche Homogenität dieser nach Sprache, Religion und Herkunft disparaten Gruppe erzeugt.6 Tatsächlich stellte die Frage der sogenannten „Mischehen“ für den modernen Kolonialismus ein bedeutendes Problem dar.7 Waren intime Beziehungen und Eheschließungen zwischen ‚weißen‘ männlichen Kolonisten und einheimischen Frauen seit Beginn der europäischen Expansion gängige Praxis, begann sich ihre Wahrnehmung im Verlauf des 19. Jahrhunderts mit der Formalisierung der Kolonialherrschaft und dem wachsenden Einfluss der seit der Aufklärung bestehenden anthropologischen Rassentheorien zu ändern. Das herrschaftspragmatische Bedürfnis nach einer deutlichen Abgrenzung und Hierarchisierung von Kolonisierenden und Kolonisierten nach ‚rassischen‘ Kategorien führte zu einer immer stärkeren Regulierung und Diskriminierung solcher Beziehungen. Nicht nur die Intimität einer sexuellen Beziehung, sondern vor allem die Existenz ‚gemischtrassischen‘ Nachwuchses stellte eine unzulässige Überschreitung dieser wissenschaftlich autorisierten Grenzziehungen dar. Dabei kreuzten sich Ängste um die ‚rassische Reinheit‘ und das Prestige der ‚weißen Rasse‘ als überlegene und darum zur Herrschaft berechtigte Gruppe mit Bedenken um den rechtlichen Status dieses Nachwuchses. Da die Staatsangehörigkeit über den Vater vererbt wurde, konnte eine ‚gemischte‘ Bevölkerungsgruppe die rechtliche Unterscheidung zwi-
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Zur Problematisierung und historischen Einordnung dieses rassistischen Begriffs vgl. Arndt, Susan, „Neger_in“, in: dies; Ofuatey-Alazard, Nadja (Hgg.), Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk, Münster 2011, S. 653–657. Um diese Konstruiertheit zu markieren, werden die Bezeichnungen ‚schwarz‘ und ‚weiß‘ ebenso wie ‚Rasse‘ in Anführungszeichen gesetzt. Zum Umgang und der Aneignung dieser Zuschreibung durch betroffene Personen vgl. Rosenhaft, Eve, Afrikaner und „Afrikaner“ im Deutschland der Weimarer Republik. Antikolonialismus und Antirassismus zwischen Doppelbewusstsein und Selbsterfindung, in: Kundrus (Hg.), Phantasiereiche, S. 282–301. Unter „Mischehen“ verstand man im Deutschland des 19. Jahrhunderts in erster Linie katholisch-protestantische Ehen, mit der Einführung der Zivilehe 1875 vor allem die vormals verbotenen jüdisch-christlichen Ehen. Im Gefolge der Rassenanthropologie und der Verschärfung des Antisemitismus wurden Letztere zunehmend als „rassische Mischehen“ interpretiert. Zu den Parallelen und Unterschieden zwischen christlich-jüdischer und kolonialer „Mischehendebatte“ in Hinblick auf die NS-Rassengesetze vgl. Kundrus, Birthe, Von Windhoek nach Nürnberg? Koloniale „Mischehenverbote“ und nationalsozialistische Rassengesetzgebung, in: dies. (Hg.), Phantasiereiche, S.110–131.
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schen europäischen Kolonialherren und „Eingeborenen“ unterlaufen.8 In der deutschen Debatte, die kurz vor dem Ersten Weltkrieg ihren Höhepunkt erreichte, stand die Verhinderung „farbiger Reichsangehöriger“ sogar im Zentrum der Argumentation der Befürworter eines „Mischehenverbots“.9 Die durch die lokale Kolonialbürokratie angeordneten Verbote in mehreren Kolonien stießen nicht nur auf verwaltungsinternen Widerstand aus der Metropole, sondern wurden 1912 auch kontrovers im Reichstag verhandelt. Die breite öffentliche Debatte darüber zeigt, dass die Verbote nicht nur massive Auswirkungen auf den Alltag in den Kolonien hatten, sondern auch ein einschneidendes Ereignis im deutschen Kolonialdiskurs darstellten. Dass dieser Diskurs mit der offiziellen Abtretung der deutschen Kolonien im Versailler Vertrag keineswegs zu einem Ende kam, demonstriert unter anderem die hier vorgestellte Leserkorrespondenz. Das Publikum, welches der Herausgeber der Zeitschrift Die Ehe, der renommierte Sexualforscher Ludwig Levy-Lenz, ansprechen wollte, kam aus der Arbeiterschaft und dem Kleinbürgertum – inwieweit er Erfolg hatte, ist schwierig einzuschätzen.10 Die Ehe war im Umfeld der Sexualreformbewegung angesiedelt und sprach insofern ein liberal bis gemäßigt sozialistisch gesinntes Publikum an. Diese Bewegung war ein loses Bündnis von Vertretern der Sexualwissenschaft, Vertreterinnen des radikalen Flügels der Frauenbewegung und anderen sozialpolitischen Aktivistinnen und Aktivisten, die sich bereits seit der Jahrhundertwende für eine tolerantere Sexualmoral einsetzten und so diverse Themen wie Geburtenkontrolle, Geschlechtergleichheit, die Liberalisierung des Eherechts und den Kampf gegen die Kriminalisierung gleichgeschlechtlichen Verkehrs abdeckte.11 Levy-Lenz leitete ab 1925 am Berliner Institut für Sexualwissenschaft die Eheberatungsstelle und verstand die Zeitschrift als ein Medium der „seriösen populärwissenschaftlichen“ Aufklärung über sexuelle Fragen im Sinne der ‚progressiven‘ Sexualreformbewegung.12 Diesem diente auch die Beantwortung von Leserbriefen durch Redaktion und Leserschaft in der Rubrik „Liebe Leser“, „die vom Publikum am höchsten geschätzt und am meisten gelesen wurde“.13 Ratgeberrubriken zu sexuellen Themen kamen in den 1920er-Jahren als neues Genre in Zeitungen und Zeit8
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Obwohl die rechtlichen Regelungen in den diversen europäischen Kolonien sich unterschieden, kann doch ein ähnlicher Diskurs über die „Mischehe“ ausgemacht werden, vgl. Stoler, Ann Laura, Sexual Affronts and Racial Frontiers. European Identities and the Cultural Politics of Exclusion in Colonial Southeast Asia, in: Comparative Studies in Society and History 34 (3) 1992, S. 514–551. Vgl. zum Verlauf der Debatte und den Auswirkungen in Deutsch-Südwestafrika Kundrus, Birthe, Moderne Imperialisten. Das Kaiserreich im Spiegel seiner Kolonien, Köln 2003, S. 234–279. Levy-Lenz, Ludwig, Erinnerungen eines Sexual-Arztes, Baden-Baden 1954, S. 281–283. Die Zeitschrift erschien von 1926 bis 1933 und hatte nach seinen Angaben vor ihrer Einstellung 1933 eine Auflage von fast 10.000 erreicht. Grossmann, Atina, Reforming Sex. The German Movement for Birth Control and Abortion Reform, 1920–1950, New York 1995; Sigusch, Volkmar, Geschichte der Sexualwissenschaft, Frankfurt am Main u.a. 2008. Levy-Lenz, Ludwig, Erinnerungen eines Sexual-Arztes, Baden-Baden 1954, S. 282. Ebd., S. 287.
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schriften auf.14 Bemerkenswert an der Zeitschrift Die Ehe ist, dass man es hier mit einem Format zu tun hat, bei dem sich ‚der Experte‘ als normative Instanz nicht in jedem Fall öffentlich zu Wort meldete – so wurde auch zu der unter der Überschrift „Schwarz-weiße Liebe“ veröffentlichten Anfrage keine Antwort der Redaktion abgedruckt. Laut Levy-Lenz wurden nur die „interessantesten“ Fälle veröffentlicht, zu denen dieser Brief augenscheinlich gehörte. So wenig die Leserkorrespondenz auch über die Perspektive des betroffenen Paares aussagt,15 so bietet sie doch die Gelegenheit, sich der Haltung der selbsternannt progressiven, linken Kreise zur (post-)kolonialen „Mischehenfrage“ in der Zwischenkriegszeit zu nähern. Die Quelle liefert insofern eine Ergänzung zur bestehenden Forschung über die Kontinuitäten des kolonialen Denkens in der Weimarer Republik, als sich diese eher auf den Kolonialrevisionismus im rechtskonservativen Spektrum konzentriert.16 Die Leserin, Marie Sn., gibt sich in ihrem Brief als weltgewandte Großstädterin und regelmäßige Leserin der Zeitschrift aus und möchte sich aufgrund dieses doppelten Wissensvorsprungs gegenüber ihrer auf dem Land lebenden Freundin „für sie etwas umtun“.17 In Hinblick auf die geplante Eheschließung fragt sie konkret nach „moralischen und gesetzlichen Bedenken“. Letztere werden im Brief nicht weiter ausgeführt, können aber mit der erwähnten „Mischehendebatte“ in Verbindung gebracht werden. Da die Verbote lokal begrenzte Verwaltungsanordnungen waren, hatten sie keinerlei Wirksamkeit im Reichsgebiet. Dennoch ergaben sich für Kolonialmigranten, die deutsche Frauen heirateten, massive juristische Hürden – und diese Geschlechterkonstellation war anders als in den Kolonien bei im Reich geschlossenen „Mischehen“ der Normalfall.18 In der Kolonialzeit hätte die Ehefrau zwar ihre Reichsangehörigkeit behalten können, die Kinder wären jedoch unter der Schutzgebietsangehörigkeit ihres Vaters registriert wor14 Vgl. zum Medium der sexuellen Ratgeberliteratur und ihrer Bedeutung für die Ausverhandlung von Normen und Selbstbildern Bänziger, Peter-Paul; Duttweiler, Stefanie; Sarasin, Philipp, Fragen Sie Dr. Sex! Ratgeberkommunikation und die mediale Konstruktion des Sexuellen, Berlin 2010. 15 Zur Perspektive der afrodeutschen Bevölkerung in Deutschland vgl. Aitken; Rosenhaft, Black Germany sowie Campt, Tina, Other Germans. Black Germans and the Politics of Race, Gender, and Memory in the Third Reich, Ann Arbor 2004. 16 Vgl. dazu aktuell Krobb, Florian; Martin, Elaine (Hgg.), Weimar Colonialism. Discourses and Legacies of Post-Imperialism in Germany after 1918, Bielefeld 2014; eine ähnliche Schwerpunktsetzung findet sich auch in den Sammelbänden: Kundrus (Hg.), Phantasiereiche; Ames, Eric; Klotz, Marica; Wildenthal, Lora (Hgg.), Germany‘s Colonial Past, Lincoln u.a. 2005. 17 Der soziale Hintergrund der Schreibenden lässt sich nicht zuverlässig ermitteln. Im Fall der Fragestellerin könnte die Freundschaft zu besagter Hauswirtschafterin allerdings auf eine ähnliche soziale Herkunft und ihre Berufstätigkeit schließen lassen. Hausangestellte stammten in der Regel aus der Arbeiterschicht oder den ländlichen Unterschichten, wobei junge Frauen aus dem großstädtischen, aufstiegsorientierten Arbeitermilieu in der Weimarer Republik langfristig eine besser bezahlte Anstellung in Industrie, Handwerk oder Handel anstrebten; vgl. Hagemann, Karen, Frauenalltag und Männerpolitik, Alltagsleben und gesellschaftliches Handeln von Arbeiterfrauen in der Weimarer Republik, Bonn 1990, S. 384–393. 18 Kundrus, Moderne Imperialisten, S. 224.
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den.19 Zudem wurde den betroffenen Paaren die Rückreise in die Kolonien massiv erschwert, was die Unerwünschtheit solcher Verbindungen seitens des Kolonialamtes unterstreicht.20 Ähnliche Hürden bestanden auch noch nach 1919: Da die Kolonialmigranten in Deutschland nun staatenlos waren, wurden Eheschließung und Rückreise wiederum als Sonderfälle behandelt, was die betroffenen Männer und damit auch ihre (zukünftigen) Ehefrauen der Willkür der Behörden aussetzte. Es ist andererseits auch möglich, dass Marie Sn. bei dieser Frage an das Verbot von „Rassenmischehen“ in den USA dachte, deren rigide Segregationspolitik insbesondere in den Südstaaten in der linken deutschen Presse kritisch verhandelt wurde – ohne dass dabei notwendigerweise Parallelen zum Rassismus in Deutschland gezogen wurden.21 Ihre „moralischen Bedenken“ paraphrasiert Marie Sn. in der Frage „Steigt eine Frau herab, wenn sie ein solches Verhältnis eingeht?“. Dass die sittlichen Normen, auf die sie damit abhebt, geschlechtsspezifisch aufgeladen waren, klingt in ihrer Formulierung bereits an. Die vorherrschende sexuelle Doppelmoral für die Geschlechter spiegelte sich nicht zuletzt eindrücklich in der Bewertung von ‚gemischtrassigem‘ Sex: So sehr sexuelle Beziehungen deutscher Männer mit kolonisierten Frauen, vor allem in der gesetzlich sanktionierten Form der Ehe, als unerwünscht galten, so erschien ein Verbot vielen doch als unzulässiger Eingriff in das patriarchale Recht und die sexuelle Autonomie des ‚weißen‘ Mannes. Zusätzlich gestützt wurde diese Haltung durch die medizinische Lehrmeinung eines stärkeren männlichen Sexualtriebes. In Polarität zum Mann als dem ‚aktivschöpferischen Kulturträger‘ wurde die Frau nach der gängigen Geschlechterordnung als passiv und naturnah bzw. von ihrem Körper determiniert beschrieben, was ihre gesellschaftliche Aufgabe auf die Mutterschaft reduzierte.22 In dieser Funktion kam ihr im Zuge der sich im späten 19. Jahrhundert formierenden „Rassenhygiene“ bzw. Eugenik auch eine besondere Verantwortung als ‚Hüterin der Rasse‘ zu. Entsprechend wurden etwa Versuche unternommen, gezielt ‚weiße‘ Frauen in den Kolonien anzusiedeln.23 Doch auch in der Metropole galt ‚gemischter‘ Sex als Verunreinigung eines als homogen und weiblich imaginierten nationalen ‚Volkskörpers‘. Da ein Verbot im Reichsgebiet nicht bestand, kam die öffentliche Missbilligung dieser Verbindungen in Form sozialer Ausgrenzung und Diskreditierung von betroffenen Frauen zum Ausdruck. Die Beziehungen wurden als moralisches Versagen der Frau verurteilt, als „Ehrverlust“ und „Erniedrigung“, entsprechend spricht auch Marie Sn. von einer „unmoralischen Tat seitens der Frau“.
19 Vgl. dazu El-Tayeb, Fatima, Schwarze Deutsche. Der Diskurs um „Rasse“ und nationale Identität 1890–1933, Frankfurt am Main u.a. 2001, S. 144–148. 20 Kundrus, Moderne Imperialisten, S. 225 f. 21 Rosenhaft, Afrikaner und „Afrikaner“, S. 290–296. 22 Vgl. zur Formierung dieser naturalistisch begründeten Geschlechterordnung um 1800: Honegger, Claudia, Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib, 1750–1850, Frankfurt am Main u.a. 1991. 23 Wildenthal, Lora, German Women for Empire, 1884–1945, Durham 2001.
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Die moralische Beurteilung wurde also immer stärker von der Frage der biologisch-‚rassischen‘ Verantwortung überlagert. Im Brief tritt die biologische Dimension dementsprechend auch bei der Frage nach dem möglichen Nachwuchs des Paares explizit in Erscheinung: „Sind etwaige Kinder als Mischlinge minderwertig oder ist man heute und in Europa anderer Ansicht?“ Mit der Formulierung „heute“ und „in Europa“, distanziert sich die Verfasserin von einem nicht näher erläuterten „Früher“ und stellt Europa vermutlich den USA gegenüber. Beide Abgrenzungen implizieren die eigene Fortschrittlichkeit im Sinne einer weniger rassistischen Haltung. Ob sich das „Früher“ dabei nur auf die Kolonialzeit oder die zu diesem Zeitpunkt erst wenige Jahre zurückliegende rassistische Kampagne gegen die so genannte „Schwarze Schmach“ bezieht, bleibt offen. Tatsächlich fand diese Hetzkampagne der deutsch-nationalen Presse gegen den Einsatz afrikanischer Soldaten aus den französischen Kolonien bei der Besetzung des Rheinlandes nach dem Ersten Weltkrieg eine große Resonanz in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung.24 Die Besetzung durch „farbige Soldaten“, wie es im zeitgenössischen Diskurs hieß, wurde dabei nicht nur als nationale Demütigung inszeniert, es war die vermeintliche sexuelle Bedrohung der ‚weißen‘ deutschen Frauen, die im Zentrum stand. Stärker noch als die imaginierte Penetration des „Volkskörpers“ wog auch hier die Frage des Nachwuchses. Nicht nur die Mütter afrodeutscher Kinder aus diesen Verbindungen wurden für ihre „Rassenschande“ verurteilt, insbesondere die als „Rheinlandbastarde“ gebrandmarkten Kinder waren der Diskriminierung ausgesetzt.25 Es ist durchaus möglich, dass die Leserin sich von dieser offen rassistischen Kampagne zu distanzieren versuchte. Sie hebt auf den biowissenschaftlichen Diskurs der ‚Rassenmischung‘ als vermeintlich objektive Richtschnur über die Frage der „Minderwertigkeit des Nachwuchses“ ab und hofft auf weitere Aufklärung durch die Leserinnen und Leser: „Wenn es stimmt, was die Zeitungen berichten, dann ist man ja doch gerade dabei, die weiße, degenerierte Rasse durch anderes Blut aufzufrischen.“ Eine positive Wertung der ‚Rassenmischung‘ im Sinne einer „Blutauffrischung“ existierte zwar in Teilen der anthropologisch-biologischen Forschung, als Beispiel bringt die Leserin allerdings die Experimente des russisch-französischen Chirurgen Serge Voronoffs mit der Transplantation von Affenhoden und -ovarien an Menschen. Diese Operationen standen, ebenso wie die von ihr erwähnten Hybridisierungsexperimente von Mensch und Affe durch den Experimentalbiologen Ilya I. Iwanow, im Kontext der medizinischen Erforschung der menschlichen Sexualhormone – nicht jedoch im Zusammenhang der ‚Rassenmischung‘. Gerade in Hinblick auf den ihnen nachgesagten verjüngenden Ef24 Vgl. dazu ausführlich: Koller, Christian, „Von Wilden aller Rassen niedergemetzelt“. Die Diskussion um die Verwendung von Kolonialtruppen in Europa zwischen Rassismus, Kolonial- und Militärpolitik (1914–1930), Stuttgart 2001; Maß, Sandra, Weiße Helden, schwarze Krieger. Zur Geschichte kolonialer Männlichkeit in Deutschland 1918–1964, Köln 2006, S. 71–120. 25 Unter den Nationalsozialisten wurden sie in den 1930er-Jahren systematisch zwangssterilisiert. Vgl. zu diesem Themenkomplex ausführlich Campt, Other Germans; El-Tayeb, Schwarze Deutsche.
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fekt wurden diese Experimente in der europäischen und US-amerikanischen Presse kolportiert und fanden Eingang in die Populärkultur der 1920er-Jahre.26 Das erklärt ihre Erwähnung im Brief, doch in der Deutung der Leserin wird ein Zusammenhang zwischen individueller Verjüngung und der Degenerierung der ‚weißen‘ Rasse hergestellt, die ein wichtiges Bedrohungsszenario im europäischen „rassenhygienischen“ Diskurs darstellte.27 So sehr Marie Sn. also im Interesse ihrer Freundin auf eine wissenschaftliche Legitimierung der ‚Rassenmischung‘ hofft, so sehr bleibt sie der Logik der chauvinistischen Rassentheorien verhaftet. Dies wird besonders an der Gleichsetzung von Afrikanern und Affen deutlich, die sie mit ihrer Deutung der VoronoffExperimente vornimmt, und die spätestens mit der Durchsetzung der Evolutionstheorie zum Standardrepertoire des europäischen Rassismus gehör(t)en. Die Prominenz dieses Motivs im Alltagsrassismus wird auch in ihrer Schilderung von früheren Begegnungen mit dem jungen Mann ersichtlich, bei denen sie sich „über den Schwarzen halb tot gelacht“ hätten, wenn ihr „z. B. seine affenartige Gelenkigkeit bei allen Hantierungen so recht ins Auge fiel, oder wenn er sich Sonnabends unter großem Aufwand von Seife wusch und doch nicht weiß wurde und dann mit seiner Schwärze und die Zähne fletschend Sonntags die Dorfschönen erschreckte.“ Nicht nur die „affenartige Gelenkigkeit“, auch das Zähnefletschen wird hier als Attribut angeführt, um seine Nähe zum Tier und die ‚Wildheit‘ zu unterstreichen, die seit der Aufklärung als Gegenpol zur europäischen Zivilisiertheit und Kulturfähigkeit gesetzt wurde. Wie stark sich ihre Darstellung auf Stereotype stützt, zeigt auch die Episode des ‚Weißwaschens‘ mit Seife, das ein häufiges rassistisches Motiv in der Populärkultur, etwa Kinderbüchern und der Werbung, darstellte.28 Auffällig ist außerdem, dass sich all ihre Beobachtungen auf den Körper konzentrieren. Dazu gehören vor allem die formelhaften Verweise auf sein Schwarzsein, das zum allein determinierenden Merkmal und zugleich zum Marker seines Andersseins wird. Die Beschreibung des ‚schwarzen‘ Männerkörpers pendelt zwischen Lächerlichkeit, Bedrohung und Faszination – auch im erotischen Sinne. Immerhin scheinen die beiden Freundinnen den Jungen beim Waschen beobachtet zu haben. Im europäischen kolonialen Diskurs war es in der Regel der weibliche ‚schwarze‘ Körper, der zum Gegenstand sexueller Imaginationen wurde, wobei dieses Begehren stets ein ambivalentes war, das jederzeit in eine Abwehrhaltung kippen konnte.29 Der männliche ‚schwarze‘ Körper wurde eher mit Gefahr assoziiert, gerade im sexuellen Sinne, wie die „Schwarze Schmach“26 Stoff, Heiko, Ewige Jugend. Konzepte der Verjüngung vom späten 19. Jahrhundert bis ins Dritte Reich, Köln 2004, besonders S. 122–124. 27 Zur Entstehung und Wirkung dieses soziobiologischen Konzepts vgl. Pick, Daniel, Faces of degeneration. A European disorder, 1848–1918, Cambridge u.a. 1989. 28 Vgl. für das britische Empire McClintock, Anne, Imperial Leather. Race, Gender and Sexuality in the Colonial Contest, London 1995, S. 207–231; vgl. für Deutschland Ciarlo, David, Advertising Empire. Race and Visual Culture in Imperial Germany, Cambridge 2011, S. 239– 245. 29 Gilman, Sander L., Rasse, Sexualität und Seuche. Stereotype aus der Innenwelt der westlichen Kultur, Reinbeck 1992, S. 119–154.
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Kampagne eindrücklich belegt. Der Topos der ‚wilden‘, bedrohlichen Sexualität klingt auch bei dem Erschrecken „der Dorfschönen“ im Brief an, doch überwiegt in der Beschreibung die Lächerlichkeit. Man kann dies als Strategie deuten, um sich von der erotischen Faszination, die offenbar bei der Freundin überwog und als klarer Grenzverstoß gewertet wird, zu distanzieren. Die Leserin erhielt zwei Antwortbriefe, die beide von der geplanten Eheschließung abraten und sich in ihrer Argumentation stark ähneln. Der erste Brief ist mit dem Kürzel „Dr. W.“ unterzeichnet, wobei die Erwähnung des akademischen Titels wohl zur Markierung des Expertenstatus dienen sollte.30 Dr. W. erläutert unter Bezug auf den anthropologischen Forschungsstand, dass ‚Mischlinge‘ keineswegs prinzipiell eine biologische Minderwertigkeit aufwiesen, sondern vielmehr die Gesundheit der Eltern ausschlaggebend sei.31 Dass der Fokus auf die individuelle Erbmasse statt der ‚Rassenzugehörigkeit‘ gelegt wird, verweist auf den Standpunkt einer eugenischen Fortpflanzungsbiologie, die im Sinne einer genetischen ‚Höherentwicklung‘ der gesamten menschlichen Art – nicht einzelner ‚Rassen‘ – argumentierte. Die Frage der biologischen ‚Qualität‘ ist im Brief allerdings deutlich von einer Logik der sozialen Klasse durchzogen: Es seien eben gerade die „untersten Schichten von Schwarz und Weiß“, die sich „über die bestehenden Vorurteile leichter hinwegsetzen“. Da die Mehrzahl der Mischlinge also von sozial „minderwertigen Eltern“ stamme, könne kein „erstklassiges Zuchtmaterial“ zu erwarten sein. Für die Zeit keineswegs ungewöhnlich, wird hier aus einer bürgerlichen Perspektive den unteren sozialen Schichten eine moralische Minderwertigkeit zugeschrieben, die als vererbbar galt. Während diese als problematisch wahrgenommene Verschränkung von ‚Weißsein‘ und Klassenzugehörigkeit im ersten Brief am Beispiel eines „weißen Vagabunden“ als Vater erläutert wird, konzentriert sich der zweite Brief auf den vorliegenden Fall und urteilt: „nur minderwertige Menschen, vor allem Mädchen in gedrückten sozialen Verhältnissen werden [den] gesellschaftlichen Bedenken zum Trotz eine solche Ehe eingehen.“ Diese Einschätzung korrelierte ebenfalls mit der gängigen Lehrmeinung, dass ‚Mischehenpartner‘ eine psychische Abnormität und geringe Sittlichkeit aufweisen würden, die gerade in den unteren Schichten häufiger anzutreffen sei.32 So sei es zwar wenig überraschend, wenn besagte Bekannte, die als Dienstbotin in „ungünstigen sozialen Verhältnissen“ lebe, eine solche Ehe einzugehen gedenke, doch es sei ihr dringend abzuraten. Einig sind sich die beiden Briefe auch in ihrer Einschätzung, dass das Hauptproblem weniger in der Biologie als in der sozialen Diskriminierung des Paares und des möglichen Nachwuchses liege, wobei die eigene Haltung als ‚fortschrittlich‘ und nicht-rassistisch gekennzeichnet wird. So resümiert der/die zweite BeantworterIn mit gewissem Bedauern: „Wir sind heut30 Im Fall der Antwortbriefe ist das Geschlecht der Schreibenden nicht rekonstruierbar. Der akademische Titel lässt auf einen bürgerlichen Hintergrund schließen. 31 Vgl. zum damaligen Forschungsstand zur ‚Rassenmischung‘ am Beispiel der jüdischchristlichen „Mischehen“ Lipphardt, Veronika, Biologie der Juden. Jüdische Wissenschaftler über „Rasse“ und Vererbung 1900–1935, Göttingen 2008, S. 152–160. 32 Ebd., S. 160.
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zutage noch lange nicht soweit, dass eine derartige Ehe in unserer Gesellschaft als gleichberechtigt anerkannt würde.“ Die soziale Ächtung und Isolation werde die Liebe des Paares auf eine harte Probe stellen und auch die wirtschaftlichen Aussichten des Paares schätzt er/sie aufgrund der Vorurteile möglicher Arbeitgeber pessimistisch ein.33 Tatsächlich war die Situation auf dem deutschen Arbeitsmarkt für afrodeutsche Männer jenseits gewisser Nischen schwierig, gerade in den Krisenjahren der Weimarer Republik.34 Als noch problematischer wird von beiden das „soziale Fortkommen“ der Kinder aufgrund der herrschenden Vorurteile eingeschätzt: „Der Mischling wird auch bei uns immer eine Sonderheit, eine Abnormität sein.“ Eine Überwindung der „Rassenkämpfe“, nicht zuletzt durch „Kreuzung“, wird zwar von Dr. W. als prinzipielles Ziel benannt, bleibt aber ein Zukunftsprojekt. Im zweiten Brief wird noch eindringlicher von der Ehe abgeraten, wiederum unter Betonung der eigenen vermeintlich antirassistischen Einstellung: „Ich betone ausdrücklich und bitte mich nicht falsch zu verstehen, dass ich den Neger als Menschen durchaus nicht unbedingt als minderwertig gegenüber der weißen Rasse hinstellen möchte.“35 Trotz einer gewissen Skepsis gegenüber der Hierarchisierung der ‚Rassen‘ und einem Vorrang sozialer Argumente vor biologischen, zeigt sich deutlich, dass die Logik der Rassenbiologie – ebenso wie andere biologistische Denkmuster, etwa die Eugenik – auch in dieser vermeintlichen Kritik des Rassismus bestehen blieb. Der hier untersuchte Leseraustausch gibt insgesamt Aufschluss darüber, dass sich die koloniale ‚Rassenfrage‘ auch in einer vermeintlich auf innereuropäische Befindlichkeiten konzentrierten Bewegung wie der Sexualreform niederschlug. Die vielfältige Verflochtenheit von kolonialer Peripherie und europäischer Metropole ins Zentrum der historischen Analyse zu rücken, ist ein wichtiges Anliegen der neueren, kritischen Kolonialgeschichte.36 Indem man Kolonie und ‚Mutterland‘ als einen gemeinsamen Interaktionsraum konzipiert, wird die klassische Erzählung der europäischen Moderne von der imperialen Moderne abgelöst. Ohne die reale Ungleichverteilung der Macht zu relativieren, können aus einer solchen Perspektive die Rückwirkungen der Kolonien auf Europa sichtbar gemacht werden. Wie die Historikerin Antoinette Burton betont, lässt sich diese Geschichte nicht nur als eine des Austauschs von Gütern und Ideen, sondern auch von Körpern erzählen, die durch eben diese imperiale Weltordnung in Bewegung und
33 Vgl. zum Alltagsrassismus gegenüber afrikanischen Männern und ihren deutschen Partnerinnen den autobiografischen Roman: Misipo, Dualla, Der Junge aus Duala, hrsg. v. Lilyan Lagneau-Kesteloot, Nendeln 1973. 34 Vgl. dazu Aitken; Rosenhaft, Black Germany, Kapitel 4. 35 Hervorhebung von mir. 36 Wegweisend dafür Cooper, Frederick; Stoler, Ann Laura (Hgg.), Tensions of Empire. Colonial Cultures in a Bourgeois World, Berkeley 1997; Conrad, Sebastian; Randeria, Shalini, Geteilte Geschichten. Europa in einer postkolonialen Welt, in: dies.; Sutterlüty, Beate (Hgg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main u.a. 2002, S. 9–49.
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Kontakt geraten – wie im vorliegenden Fall.37 Körper sind Träger bestimmter Merkmale, die in einem historischen Prozess zu vermeintlich fixen, naturgegebenen Kriterien von Unterscheidungen gemacht werden, wie hier am Beispiel der Hautfarbe angedeutet wurde. So wurden den Körpern die wissenschaftlich begründeten und sozial wirkmächtigen Kategorien von ‚Rasse‘, Geschlecht und Sexualität, aber auch von Klasse eingeschrieben. Folgt man, wie hier, den Spuren eines spezifischen ‚kolonialen Körpers‘ und beobachtet das Unbehagen und die Abgrenzungsbemühungen, die er in der Metropole auslöste, dann wird deutlich, wie sehr diese Kategorien in den Kolonien und Europa aus einer Logik imperialer Macht geformt wurden. Diese stützte sich auf ein Regime symbolischer Grenzziehungen zwischen Herrschenden und Beherrschten, aber unterwarf auch reale Körper einer zunehmenden Kontrolle und Regulierung, wie das Beispiel der „Mischehen“ demonstriert. Der Blick auf den Körper rückt außerdem die realen Verstrickungen dieser Unterscheidungskategorien in den Fokus und kann ein vielschichtigeres Bild ihrer konkreten Wirkungsweise vermitteln – so war die „Mischehe“ nicht nur eine Frage der ‚Rasse‘, sondern auch der Geschlechterkonstellation und Klassenzugehörigkeit. Wie oben gezeigt, konnte sich in der Beurteilung eines konkreten Falls die ‚Rasse‘ der Beteiligten mit ihrer (niedrigen) sozialen Herkunft überlagern, sodass sich beide Kategorisierungen im Sinne einer doppelten Diskriminierung wechselseitig verstärkten. Gleichzeitig waren die Sprechenden darum bemüht, sich mit ihrem Fokus auf die ‚Klassendimension‘ und die soziale Diskriminierung von der vorherrschenden biologistischen Betrachtungsweise der „Mischehenfrage“ abzugrenzen. Doch auch in dieser gemäßigten, den Rassismus als soziales Phänomen kritisierenden Haltung wurde die Logik der ‚Rasse‘ letztlich nicht aufgegeben. Literaturhinweise Aitken, Robbie; Rosenhaft, Eve (Hgg.), Black Germany. The Making and Unmaking of a Diaspora Community, 1884–1960, Cambridge u.a. 2013. Krobb, Florian; Martin, Elaine (Hgg.), Weimar Colonialism. Discourses and Legacies of PostImperialism in Germany after 1918, Bielefeld 2014. Kundrus, Birthe, Moderne Imperialisten. Das Kaiserreich im Spiegel seiner Kolonien, Köln 2003. Maß, Sandra, Weiße Helden, schwarze Krieger. Zur Geschichte kolonialer Männlichkeit in Deutschland 1918–1964, Köln 2006. Stoler, Ann Laura, Foucaults „Geschichte der Sexualität“ und die koloniale Ordnung der Dinge, in: Conrad, Sebastian; Randeria, Shalini (Hgg.), Jenseits des Eurozentrismus: postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2002, S. 313– 335.
37 Burton, Antoinette, „The Roots that Clutch“. Bodies, Sex and Race since 1750, in: Toulalan, Sarah; Fisher, Kate (Hgg.), The Routledge History of Sex and the Body. 1500 to the Present, Abingdon u.a. 2013, S. 511–525.
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Quelle „Schwarz-weiße Liebe“, Leserbriefe aus „Die Ehe“ (1929/1930)38 „Schwarz-weiße Liebe“, Leserbrief aus der Rubrik „Liebe Leser“ (1929) Mein Interesse an der „Ehe“ beschränkte sich bis heute darauf, daß ich sie sehr gern las und nie versäumte, mir die neueste Ausgabe zu kaufen. Heute nötigen mich die Verhältnisse in einer Sache an Sie zu schreiben, die so eigenartig ist, daß es sich wohl lohnt, sie den Lesern vorzulegen. Es handelt sich darum, ob moralische oder gesetzliche Bedenken gegen die Ehe einer Weißen mit einem Neger existieren. Meine langjährige Bekannte, sozusagen Freundin, scheint eine solche eingehen zu wollen, und da sie ziemlich einsam auf dem Lande lebt, ich dagegen in einer Großstadt, so möchte ich mich dieserhalb ohne ihr Wissen für sie etwas umtun. Im Jahre 1913 brachte ein Rittergutsbesitzer, bei dem meine Bekannte als Wirtschafterin angestellt war, einen Negerknaben aus Kamerun nach Deutschland. Der Junge war seinem Herrn treu ergeben, hatte dort wohl keine Angehörige, und da er ein munterer, anstelliger Bursche war und seitens des Herrn auch wohl ein kleines Sensationsbedürfnis vorlag, kam er als Diener in das herrschaftliche Haus, wo er bis heute, allerdings unter anderer Herrschaft noch ist. Auch meine Bekannte ist noch dort und wenn ich sie früher einmal besucht habe, haben wir uns manchmal über den Schwarzen halb tot gelacht; wenn uns z. B. seine affenartige Gelenkigkeit bei allen Hantierungen so recht ins Auge fiel, oder wenn er sich Sonnabends unter großem Aufwand von Seife wusch und doch nicht weiß wurde und dann mit seiner Schwärze und die Zähne fletschend Sonntags die Dorfschönen erschreckte. Inzwischen ist die Zeit vergangen und er ist jetzt ein Mann von 30 Jahren geworden. Ob das genau stimmt, weiß freilich niemand. Auf dem Gut sind große Veränderungen vorgekommen. Der alte Herr ist gestorben, und die Erben haben das ganze Anwesen verkauft. Nun soll es nochmals verkauft werden, und aus diesem Anlaß will meine Bekannte das Haus verlassen. Wie ich aus den Briefen in letzter Zeit herauslese, will auch der schwarze Diener mitgehen und es scheint eine eheliche Verbindung geplant zu sein. Soll man davon abraten und mit welcher Begründung? Meine bekannte ist 9 Jahre älter als der Schwarze und da sie sehr tüchtig und vielseitig ist, und auch der Neger, eben weil er ein Neger ist, doch wohl überall eine Anstellung findet, würden wirtschaftliche Bedenken nicht vorliegen. Aber wie ist es sonst? Steigt eine Frau herab, wenn sie ein solches Verhältnis eingeht? Sind etwaige Kinder als Mischlinge minderwertig oder ist man heute und in Europa anderer Ansicht? Wenn es stimmt, was die Zeitungen berichten, dann ist man ja doch gerade dabei, die weiße degenerierte Rasse durch anderes Blut aufzufrischen. Professor Voronoff hat doch sogar schon versucht, eine Aeffin mit menschlichem Samen zu befruchten und zugleich wird mitgeteilt, daß die Sowjetregierung den erfolgreichen Spezialisten für künstliche Befruchtung, Iwanoff zur Anstellung derartiger Versuche nach Afrika geschickt habe. Sind das alles nur wissenschaftliche Experimente und bleibt die eventuell 38 „Schwarz-weiße Liebe“, Leserbriefe aus der Rubrik „Liebe Leser“, in: Die Ehe 4 (1929), H. 10, S. 27; H. 11, S. 30; 5 (1930), H. 1, S. 28 f. Transkription durch Judith Große. Die Quelle ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .
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beabsichtigte Vereinigung von einem Neger und einer Weißen eine unmoralische Tat seitens der Frau? Würden mir vielleicht die lieben Leser hierzu ihre Ansicht mitteilen? Marie Sn. „Schwarz-weiße Liebe“, Antwortbrief aus der Rubrik „Liebe Leser“ (1929) Die Frage, die Sie stellen, hat mehrere Seiten, von denen jede gleich wichtig ist. Das einfachste ist noch zu sagen, wenn Ihre Bekannte gesund ist und dies auch bei dem Neger der Fall ist, daß dann für die Wertigkeit der Kinder keine Befürchtungen zu hegen sind. Mischlinge von Schwarz und Weiß haben sich stets als ausgezeichnet erwiesen. Wenn zahlreiche Aussagen anders lauten, so liegt das entweder daran, daß die Eltern minderwertig waren, denn es ist einleuchtend, daß sich gerade die untersten Schichten von Schwarz und Weiß über die bestehenden Vorurteile leichter hinwegsetzen und daß auch der Kinderreichtum bei den untersten Schichten am größten ist. Es ist auch seltener, daß der gebildete weiße Mann eine Schwarze heiratet, um mit ihr Kinder zu zeugen, häufiger dagegen, daß ein weißer Vagabund mit einer Schwarzen kopuliert. Daß aus solcher Verbindung nicht erstklassiges Zuchtmaterial entsteht, ist selbstverständlich. Oder aber die Mischlingskinder werden von Schwarz und Weiß gleichmäßig hintenan gesetzt und rutschen so die soziale Stufenleiter von selbst herab. Also unter gleichen Voraussetzungen sind die Kinder von Schwarz und Weiß gleich wertvoll. Jetzt kommt die zweite Seite der Frage. Wie ist das soziale Fortkommen dieser Kinder in unseren Breiten? Und hier ist mit Entschiedenheit der Kopf zu schütteln. Der Mischling wird auch bei uns immer eine Sonderheit, eine Abnormität sein; er wird immer aus der Menge herausfallen und schon dadurch wesentliche Schwierigkeiten in seinem Fortkommen haben. Ich jedenfalls wünsche keine Kinder zu haben, die Mischlinge wären, da ich mir über ihre Zukunft zu große Sorgen machen müsste. Und drittens ist es sehr fraglich, daß Ihre Freundin mit dem Neger glücklich werden wird. Nicht nur, daß sie älter ist, Sie schreiben aber selbst, daß über den Neger in dem Dorfe viel gelacht und gealbert wird, und so ist zu bedenken, ob es Ihrer Freundin lange Freude machen wird mit diesem Mann zusammen zu leben. Ist allerdings ihre Liebe sehr groß, so soll sie ruhig heiraten, es aber vermeiden, Kinder zu zeugen. Die ist mein Rat in Ihrem speziellen Fall. Generell ist natürlich gegen eine Kreuzung von Schwarz und Weiß nicht das geringste einzuwenden, im Gegenteil sogar sehr zu wünschen, da so am besten die Rassenkämpfe aus der Welt geschafft werden. Dr. W. „Schwarz-weiße Liebe“, Antwortbrief aus der Rubrik „Liebe Leser“ (1930) Wenn Sie für Ihre Freundin so besorgt sind, und um ihr Wohl und ihre Zukunft bangen, so möchte ich Sie zunächst einmal auf Ihr Gewissen fragen, ob Sie selbst bereit wären, einen Neger zu heiraten. Ich glaube ganz bestimmt nein. Sie wollen moralische und gesetzliche Gründe wissen, die dagegen sprechen oder nicht. Zunächst sei festgestellt, daß gesetzlich einer Verbindung mit dem Neger nichts im Wege steht. Moralisch aber ist eine solche Ehe unter allen Umständen zu verwerfen, d.h. von Seiten ihrer Freundin aus. Wir
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sind heutzutage noch lange nicht soweit, daß eine derartige Ehe in unserer Gesellschaft als gleichberechtigt anerkannt würde. Trotz aller noch so schönen Vorsätze, aller noch so großer Liebe, muß man auch die Vernunft walten lassen. Ich behaupte, daß nur minderwertige Personen hier zu einer solchen Ehe bereit sind. Mögen die ungünstigen sozialen Verhältnisse, in denen ihre Freundin lebt, dies entschuldigen, um so mehr ist sie aufzuklären und zu warnen. Sie schildern so wahr, wie der Neger durch seine „affenartige“ Gelenkigkeit, sein Aussehen, seine Gebärden usw. das Gelächter der Umgebung herausforderte, oder Furcht und Schrecken einjagte. Nun stellen Sie sich Ihre Freundin als Gattin an der Seite dieses Mannes vor. Wird die Liebe, deren Entfaltung bis jetzt doch wohl nur innerhalb jenes Gutes möglich war, standhalten, wenn das junge Paar nach einem anderen Wohnort übersiedeln muß? Es wird im Leben nicht immer möglich sein und wird von den Gatten mit der Länge der Zeit sogar als eine Qual empfunden werden, wenn sie ganz abgeschlossen von allem Verkehr für sich leben wollten. Oder wie stellen Sie sich den Besuch von Kinos, Theatern, Bällen, Vereinsvergnügungen usw. vor? Wird nicht eines Tages das Erwachen bei Ihrer Freundin kommen, wird sie nicht einsehen, daß es viel tausend andere Männer gegeben hätte, mit denen sie unbehelligt hätte ausgehen und sich mit ihnen mit Stolz hätte sehen lassen können? Nie wird der Rausch der Liebe ein Leben lang anhalten, wenn solche Widerwärtigkeiten möglich sind. Die rauhe [sic] Wirklichkeit macht alles noch so gute Wollen oft jäh zunichte. Darum: gesellschaftlich wird das Paar bestimmt geächtet sein, zumal in einem Dorf oder in einer kleinen Stadt. Stellen Sie es sich einmal vor, wie beide Arm in Arm durch die Straße gehen. Sie lachen, und sagen, das sei nicht nötig. Da haben wir‘s was ich behaupte: Nur minderwertige Menschen, vor allem Mädchen in gedrückten sozialen Verhältnissen werden diesen gesellschaftlichen Bedenken zum Trotz eine solche Ehe eingehen, an das schöne Wort glaubend: Raum ist in der kleinsten Hütte für ein glücklich liebend Paar. Und hinaus aus unseren vier Pfählen brauchen wir nicht. Auch muß ich widersprechen, wenn Sie annehmen, daß ein Neger überall sofort Anstellung findet. Im Gegenteil, ich möchte behaupten, daß sogar der größte Teil aller Arbeitgeber sich scheuen wird, einen Neger aufzunehmen, namentlich in kleineren Orten. Ich betone ausdrücklich und bitte mich nicht falsch zu verstehen, daß ich den Neger als Menschen durchaus nicht unbedingt als minderwertig gegenüber der weißen Rasse hinstellen möchte. Und ich verstehe sehr wohl, daß jener Mann, fern der Heimat, ohne Angehörige, so mutterseelenallein seit frühester Kindheit verschlagen, das Bedürfnis hat, sich ein Heim zu gründen. Da bleibt ihm ja hier nur der Weg zu einer Weißen, namentlich in den engen Verhältnissen auf dem Lande. Aber, wieder auf Ihre Freundin bezogen, und der wollen Sie doch beistehen, kann man fast bestimmt annehmen, daß diese im Kampf gegen die Vorurteile und Widerstände eines Tages unterliegen wird. Ebenso schwer würden es die Kinder haben, die aus dieser Ehe hervorgehen könnten. Sie haben mit Ihren Ausführungen auf biologischem Gebiet recht, es läßt sich diesbetreffend nichts gegen die Mischehe sagen und die Kinder können als Mischlinge sehr wohl auch moralisch auf hoher Stufe stehen. Doch solange Kinder aus Mischehen noch Seltenheit sind, sich nicht mit anderen derselben Abstammung zusammenschließen können, solange werden sie als Kuriosität wohl angestaunt und bewundert, vielleicht aber auch schon als Kind geächtet und verspottet. Und welche Charaktereigenschaften dann aus dem beleidigten Wesen hervorbrechen, kann man vorher nicht sagen. Wer Kinder zeugt, soll sich doch der hohen Aufgabe bewußt sein, ihnen nicht nur die wirtschaftli-
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chen Lebensbedingungen zu garantieren, sondern vor allem auch die sittlichen und moralischen. Man kann also einer Ehe wie der ev. geplanten nicht das Wort reden. Tun Sie alles, um Ihre Freundin von der Unklugheit ihrer Absichten zu überzeugen. In einer neuen Stellung wird sie sich von dem bisher Geliebten trennen, gar bald wird sie ihren Irrtum erkennen und Ihnen Dank wissen dafür, daß Sie ihr den Weg zu einem wirklich ungestörten Eheglück geebnet haben. N. B.
DIE VERSCHRÄNKUNG VON GESCHLECHT UND DIS/ABILITY DAS BLICKREGIME DES PROPAGANDASPIELFILMS „ICH KLAGE AN“ IM KONTEXT DER NS-„EUTHANASIE“1 Stefan Offermann Die sogenannte „Aktion T4“ war die erste systematisch durchgeführte Massenvernichtungsaktion des „Dritten Reiches“. Zwischen Januar 1940 und August 1941 wurden mindestens 70.000 Menschen mit psychischer Erkrankung oder geistiger Behinderung in Gaskammern getötet.2 Der Selektionsprozess und damit die Frage, was genau in den Augen des Anstaltspersonals und der Gutachter „lebensunwertes Leben“ eigentlich ausmachte, stellen einen zentralen Gegenstand der historischen Forschung zur NS-„Euthanasie“ dar.3 Diese Frage soll im vorliegenden Beitrag an den Spielfilm Ich klage an gerichtet werden.4 Ziel der historisch kontextualisierenden Filmanalyse ist es dabei nicht, die einzelnen Kriterien „lebensunwerten Lebens“, die im Selektionsprozess angewendet wurden, im Film ausfindig zu machen. Vielmehr geht es darum, grundlegende und hinter den einzelnen Kriterien stehende Normen und Dispositionen mithilfe des Films sichtbar 1 2
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Essay zur Quelle: Film „Ich klage an“ (1941). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: < www.europa.clio-online.de/essay/id/artikel4402>. Für einen Forschungsüberblick vgl. Schmuhl, Hans-Walter, „Euthanasie“ und Krankenmord, in: Jütte, Robert et al. (Hgg.), Medizin im Nationalsozialismus. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen 2011, S. 214–255; als einschlägige sowie neuste Literatur sei genannt: Hohendorf, Gerrit, Der Tod als Erlösung vom Leiden. Geschichte und Ethik der Sterbehilfe seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland, Göttingen 2013; Rotzoll, Maike et al. (Hgg.), Die nationalsozialistische „Euthanasie“-Aktion „T4“ und ihre Opfer. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart, Paderborn 2010; Süß, Winfried, Der Volkskörper im Krieg. Gesundheitspolitik, Gesundheitsverhältnisse und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland 1939–1945 (Studien zur Zeitgeschichte; 65), München u.a. 2003; Burleigh, Michael, Tod und Erlösung. Euthanasie in Deutschland 1900–1945, Zürich u.a. 2002 [1995]; Friedlander, Henry, Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, Berlin 1997 [1995]. Für die Selektion waren jeweils drei Gutachter verantwortlich. Ihre Entscheidung trafen sie auf der Grundlage eines einseitigen Fragebogens. Dieser „Meldebogen“ wurde bezugnehmend auf die Krankenakte vom Personal in den psychiatrischen Anstalten ausgefüllt und in die Organisationszentrale in der Berliner Tiergartenstraße 4 – daher der Name „T4“ – geschickt. Vgl. Lilienthal, Georg, Wie die T4-Aktion organisiert wurde. Zur Bürokratie eines Massenmordes, in: Hamm, Margret (Hg.), Lebensunwert – zerstörte Leben. Zwangssterilisationen und „Euthanasie“, Frankfurt am Main 2005, S. 143–157; Harms, Ingo, Die Meldebogen und ihre Gutachter, in: Rotzoll, „Euthanasie“, S. 259–271. Vgl. die zu diesem Essay mit abgedruckten Filmstills aus „Ich klage an“, Deutschland 1941, Regie: Wolfgang Liebeneiner (117‘). Die digitale Fassung des Films ist einsehbar auf der Webseite archive.org, URL: (04.07.2017).
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zu machen. Die Stärke des Spielfilms als Quelle besteht darin, dass sich wirkmächtige Imaginationen dieser Normen in die Gestaltung seiner Bilder eingeschrieben haben und sie so der historischen Forschung noch immer zugänglich sind. Durch eine detaillierte Analyse des Blickregimes ausgewählter Szenen möchte ich zeigen, wie die Filmbilder simultan entlang der Kategorien Geschlecht und dis/ability strukturiert wurden. Die spezifische Organisation von Imaginationen im Jahre 1941, die auf diese Weise rekonstruierbar ist, stellte – so die These – einen notwendigen Baustein für die Herstellung „lebensunwerter“ Subjekte bereit und ist somit von großer Relevanz für die Geschichte der NS-„Euthanasie“.5 Ein solcher Ansatz geht über eine instrumentelle Sichtweise des Films hinaus, durch die sich die Forschungen von Karl Ludwig Rost und Karl Heinz Roth auszeichneten, die auf breiter Quellenbasis detailliert die Entstehungsgeschichte des Films rekonstruierten.6 In dieser Perspektive wird die Frage nach der Sinnstruktur des Films stets ausgehend von den Wirkungsintentionen der Urheber_innen gestellt.7 Auf diese Weise geraten jedoch subtextuelle und auf der Ebene von Diskursen und Imaginationen angesiedelte Bedeutungsschichten, die nicht in von Filmschaffenden oder Rezipient_innen in Parallelquellen artikulierten Deutungen aufgehen, schwerlich in den Blick. „Man muß [sic] vom Bild ausgehen und es nicht nur als Illustration, Bestätigung oder Dementi einer anderen Art von Wissen, der der schriftlichen Tradition, auffassen“8, so die nach wie vor aktuelle Forderung des französischen Sozialhistorikers Marc Ferro. Diesen Weg beschritt insbesondere die Film- und Medienwissenschaftlerin Ursula von Keitz, die zudem eine
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Vgl. zum Ansatz der Subjektanalyse Reckwitz, Andreas, Subjekt, Bielefeld 32012; Wiede, Wiebke, Subjekt und Subjektivierung, in: Docupedia-Zeitgeschichte. Begriffe, Methoden und Debatten der zeithistorischen Forschung, URL: (04.07.2017); Hayward, Susan, subject/subjectivity, in: dies, Cinema Studies – The Key Concepts (Routledge Key Guides), London u.a. 22000, S. 375–377. Vgl. Rost, Karl Ludwig: Sterilisation und Euthanasie im Film des „Dritten Reiches“. Nationalsozialistische Propaganda in ihrer Beziehung zu rassenhygienischen Maßnahmen des NSStaates, Husum 1987, S. 85–218; Roth, Karl Heinz, Filmpropaganda für die Vernichtung der Geisteskranken und Behinderten im „Dritten Reich“, in: Aly, Götz et al. (Hgg.), Reform und Gewissen. „Euthanasie“ im Dienst des Fortschritts (Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik; 2), Berlin 1985, S. 125–193. Dieser Perspektive folgte ebenfalls Sybille Hachmeisters Dissertation von 1992. Ihre Analyse des Films stellte insofern eine wichtige Erweiterung der bisherigen Forschungen dar, als sie die propagandistische Instrumentalisierung von „Ich klage an“ auf der Grundlage einer detaillierten Rekonstruktion der rhetorischen Argumentationsverfahren des Films nachwies. Auf diese Weise bediente sie sich jedoch eines am Medium der Sprache entwickelten Ansatzes, was dazu führte, dass sie sich vor allem mit der Dialogebene auseinandersetzte und andere, medienspezifische Verfahren der Sinnproduktion kaum in den Blick gerieten. Vgl. Hachmeister, Sybille, Kinopropaganda gegen Kranke – Die Instrumentalisierung des Spielfilms ‚Ich klage an’ für das nationalsozialistische „Euthanasieprogramm“ (Nomos Universitätsschriften: Kulturwissenschaften; 2), Baden-Baden 1992, insbes. S. 121–201. Ferro, Marc, Der Film als „Gegenanalyse“ der Gesellschaft, in: Bloch, Marc et al. (Hgg.), Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, Frankfurt am Main 1977 [1976], S. 247–271, hier S. 254.
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geschlechtergeschichtliche Perspektive verfolgte.9 Mit einem vielschichtigen narratologischen Zugriff nahm sie die Konstruktionsmechanismen „lebensunwerten Lebens“ in den Blick.10 Dabei illustriert ihr Beitrag, wie fruchtbar dezidiert filmwissenschaftliche Ansätze für eine historische Analyse filmischer Quellen sein können, gerade dann, wenn die Untersuchung auf die genannten Bedeutungsschichten abzielt.11 Die Funktion des Blickregimes für die Konstruktion „lebensunwerter“ Subjekte bleibt jedoch auch bei ihr unberücksichtigt. Die Forschungen zum Entstehungsprozess sind insofern für die Argumentation dieses Beitrags unerlässlich, als sie es gestatten, den Erkenntniswert von Ich klage an für die vorliegende Fragestellung präzise einzuschätzen. Denn ein Blick auf den Produktionsprozess ermöglicht es, die Position der filmischen Darstellungen „lebensunwerten Lebens“ im Archiv der Imaginationen und Diskurse der nationalsozialistischen Gesellschaft zum Zeitpunkt der „Aktion T4“ genauer zu verorten. Diesem Argumentationsschritt ist eine kurze Inhaltsangabe vorangestellt. Anschließend werden die wichtigsten Ergebnisse der neusten Forschungen zu den Selektionskriterien vorgestellt, um zum einen die Bedeutung von Geschlecht und dis/ability zu belegen. Zum anderen ist dieser Schritt notwendig, um in der Lage zu sein, am Ende des Beitrags Überlegungen anzustellen hinsichtlich einer Zusammenführung der bisher getrennten Forschungen zu Ich klage an einerseits und zum „T4“-Selektionsprozess andererseits. Um schließlich das Blickregime untersuchen zu können, sind der Filmanalyse einige (film)theoretische Erläuterungen vorangestellt. Diese sollen zum einen die Bedeutung von Blickweisen für die Entstehung und Evidenz von Wissen und Imaginationen herausarbeiten, zum anderen sollen sie darlegen, auf welche Weise die verschiedenen Blickrelationen des Mediums Film zusammenhängen und interagieren. Ich klage an erzählt die Geschichte der jungen Hanna Heyt, die mit dem Medizinprofessor Thomas in glücklicher Ehe lebt. Als Hanna an Multipler Sklerose 9
Vgl. von Keitz, Ursula, Vom weiblichen Crimen zur kranken Frau. Narration und Argumentation zu „Abtreibung“ und „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ im Film der Weimarer Republik und der NS-Zeit, in: Linder, Joachim; Ort, Claus-Michael (Hgg.), Verbrechen – Justiz – Medien. Konstellationen in Deutschland von 1900 bis zur Gegenwart (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; 70), Tübingen 1999, S. 357–386, insbes. S. 374–381. Als weitere anregende geschlechtergeschichtliche Lektüre des Films vgl.: Traudisch, Dora, Mutterschaft mit Zuckerguß? Frauenfeindliche Propaganda im NS-Spielfilm (Frauen in Geschichte und Gesellschaft; 23), Pfaffenweiler 1993, S. 101–131. 10 An von Keitz‘ Perspektive einer Analyse der narrativen Verfahren – insbesondere der Funktion narrativer Räume für die Figurenentwicklung – schloss ich an anderer Stelle an. Dabei habe ich unter anderem herausgearbeitet, wie sich in die Figur Hanna eugenische Konzepte von „minderwertigem Erbgut“ eingeschrieben haben, die eine wichtige Grundlage darstellten für die Vorstellung von „lebensunwertem Leben“. Vgl. Offermann, Stefan, Die biopolitische Produktion „lebensunwerter” Subjekte im Rahmen der „Aktion T4“. Eine Re-Lektüre von Ich klage an, in: Sudhoffs Archiv – Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte 97 (2013), H. 1, S. 57–80. 11 In diesem Zusammenhang ebenfalls lesenswert ist die kurze Analyse des Filmwissenschaftlers Karsten Witte. Vgl. Witte, Karsten, Die Wirkgewalt der Bilder – Zum Beispiel Wolfgang Liebeneiner, in: Filme – Neues und Altes vom Kino 8 (1981), S. 24–32.
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erkrankt, versucht Thomas vergeblich, ein Heilmittel zu finden. Schließlich wird Hanna auf eigenen Wunsch hin von ihrem Mann „erlöst“, der im Anschluss verhaftet und angeklagt wird. Bernhard Lang, ein Freund des Ehepaars und Hannas behandelnder Arzt, verurteilt zunächst Thomas‘ Tat. Doch die Konfrontation mit der kleinen Trude Günther, deren Hirnhautentzündung er erfolglos behandelte und die als „lebensunwertes Leben“ nun in einer Anstalt „dahinvegetiert“, ändert seine Überzeugung und er sagt bei Gericht zugunsten von Thomas aus. Bereits in der Phase des Aufbaus der „T4“-Infrastruktur seit Ende 1939 wurde von führenden Organisatoren wie Viktor Brack, Leiter des Hauptamtes II der Kanzlei des Führers, oder Paul Nitsche, „T4“-Obergutachter und ärztlicher Leiter der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein, ein Filmprojekt zur propagandistischen Wegbereitung der „Euthanasie“ ins Auge gefasst.12 Zunächst war ein Dokumentar- und Kulturfilm geplant, der en détail den institutionellen Ablauf der „Aktion T4“ darstellen und letztlich jene Argumente für die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ liefern sollte, die auch die „T4“-Organisatoren antrieben. Hintergrund dieser Pläne war die Einschätzung, dass das Publikum der „Euthanasie“ überwiegend aufgeschlossen gegenüberstünde und es lediglich weiterer argumentativer Aufklärung bedürfe, um es von der Notwendigkeit und Legitimität der Tötungen zu überzeugen. Diese Pläne wurden im Dezember 1940 zugunsten eines – so die Überlegung – indirekter und subtiler verfahrenden Spielfilmprojektes auf Eis gelegt. Grund dafür war die misslungene Geheimhaltung der Tötungen, die seit Herbst 1940 zu ersten Protesten führten – oft in unmittelbarer Nähe der Tötungsanstalten. Mit der Hinwendung zum populären Unterhaltungsfilm wurde das „lebensunwerte Leben“ im Alltag von Kleinfamilie und Paarbeziehung verortet und schien somit wesentlich anschlussfähiger an die Lebenswelt des Publikums zu sein. Zugleich vollzog sich mit der Umorientierung hin zum Spielfilm eine Professionalisierung der Stoffentwicklung, an der nun die Tobis-Filmgesellschaft sowie der erfahrene und bekannte Regisseur Wolfgang Liebeneiner maßgeblich beteiligt waren. Die von Rost und Roth ausführlich untersuchte Phase der Vorproduktion lässt sich als ein kontinuierlicher Aushandlungs- und Übersetzungsprozess beschreiben, in dem die professionellen Filmemacher_innen die expliziten Propagandaintentionen der „T4“-Akteure immer wieder in Narrative und Bilder transformierten, die sie meinten, einem primär auf Unterhaltung ausgerichtetem Publikum präsentieren zu können. Dieses Schema scheint sich während der Phase der Dreharbeiten und der Postproduktion, mit der sich Rost und Roth leider nur sehr knapp beschäftigen, fortgesetzt zu haben. Darüber hinaus zeichnet sich laut Siegfried Kracauer, einem Pionier der historischen Filmanalyse, ein auf die breite Masse abzielender Spielfilms dadurch aus, dass er das Produkt eines Kollektivs sei. Daraus folgert er, dass die Dynamik der arbeitsteiligen Teamarbeit tendenziell die
12 Vgl. zu den Filmplänen von „T4“ und zur Entstehungsgeschichte von „Ich klage an“ Rost, Euthanasie im Film, S. 121–190; Roth, Filmpropaganda, S. 129–166.
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„willkürliche Handhabung des Filmmaterials“ ausschließt und „individuelle Eigenheiten zugunsten jener [unterdrückt], die vielen Leuten gemeinsam sind.“13 Die erste Schnittfassung dieses kollektiven Produkts war wohl Anfang Mai 1941 fertiggestellt und passierte Mitte Juli die Zensur. Doch vor seiner Premiere am 29. August sollte Ich klage an ein zweites Mal die Zensur durchlaufen. Denn am 3. August 1941 hielt der Münsteraner Erzbischof Graf von Galen eine Predigt, die erstmals deutlich und öffentlich die „Euthanasie“ verurteilte. Ihre beunruhigende Wirkung auf die NS-Führung konnten Galens Worte vor allem deshalb entfalten, da sie als Kopie in vielen katholischen Gemeinden im Reich verbreitet wurden. Diese Form des kommunikativen Widerstandes war möglich, weil sich die katholische Kirche innerhalb der Herrschaftsordnung des nationalsozialistischen Staates eine relativ autonome Teilöffentlichkeit bewahren konnte.14 Im Kontext einer innenpolitischen Situation, die aufgrund des Verlaufs des Russlandfeldzuges und des verschärften Bombenkrieges bereits angespannt war, entschied sich Hitler für einen taktischen Rückzug.15 Dies bedeutete nicht nur, dass die Vergasungen gestoppt wurden, sondern auch, dass Ich klage an ein weiteres Mal überarbeitet werden musste. Es wurden alle Szenen und Dialogpassagen aus dem Film entfernt, die man glaubte dem Publikum nicht mehr zumuten zu können: das Gespräch auf Thomas’ Berufungsfeier über einen Patienten, der nach einem Schädelbasisbruch leider nicht gestorben sei und nun „ganz sinnlos“ lebe; ein Dialog zwischen Thomas und Professor Schlüter, in dem Thomas’ Tat durch die moralische Instanz des weisen Mentors zwar abgelehnt, aber durch das höhere Gut der medizinischen Forschung – der Suche nach einem Heilmittel der Multiplen Sklerose – relativiert wird; und schließlich die offen ökonomisch-utilitaristische Argumentation für den „Gnadentod“ von Seiten einzelner Geschworener bei Thomas‘ Gerichtsverhandlung. Die Widerstände gegen die „Euthanasie“ verschoben Schritt für Schritt die Grenzen des öffentlich Sag- und Zeigbaren. Dieser Prozess wurde von den Urheber_innen des Films aufmerksam registriert und führte dazu, dass ideologische Spitzen in der Darstellung „lebensunwerten Lebens“, die in anderen Formen der Propaganda noch deutlich hervorstachen, abgeschliffen wurden. Diese Entwicklung sowie die Eigenlogiken der Produktionspraktiken eines populären Spielfilms bewirkten, dass die Darstellungsweise zunehmend subtiler und das Dargestellte sukzessive entschärft wurden. Doch diese Dynamik ging nur genau so weit, wie die Filmschaffenden und „T4“-Akteure annehmen konnten, dass der Film weiterhin ihre spezifische propagandistische Botschaft würde vermitteln können. Das heißt, der Film inszenierte in seiner finalen Form genau jene Grundlagen, auf die man nicht verzichten konnte, wenn man der Subjektform des „lebensunwerten 13 Kracauer, Siegfried, Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films, Frankfurt am Main 1979 [1947], S. 11. 14 Vgl. Kuchler, Christian, Bischöflicher Protest gegen nationalsozialistische „Euthanasie“Propaganda im Kino: „Ich klage an“, in: Historisches Jahrbuch 126 (2006), S. 269–294. 15 Die momentan detaillierteste und überzeugendste Rekonstruktion des Entscheidungsprozesses findet sich bei Süß, Volkskörper im Krieg, S. 127–150
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Lebens“ eine minimale Evidenz und Überzeugungskraft verleihen wollte. Demnach setzte der Film die Grunddispositionen bzw. den kleinsten gemeinsamen Nenner dessen, wie „lebensunwertes Leben“ imaginiert wurde, ins Bild. Den kleinsten gemeinsamen Nenner der explizit und bewusst angewendeten Selektionskriterien versuchte ein bis 2006 laufendes Forschungsprojekt um Gerrit Hohendorf, Maike Rotzoll und Petra Fuchs zu finden.16 Mithilfe statistischer Methoden wurde überprüft, welche Kriterien der Patient_innen tatsächlich signifikante Bedeutung hatten für eine Kategorisierung als „lebensunwert“.17 Als Quellengrundlage nutzten die Historiker_innen des Projekts eine repräsentative Stichprobe der circa 30.000 Krankenakten von Opfern, die Anfang der 1990er-Jahre im Archiv des Ministeriums für Staatssicherheit wiederentdeckt wurden.18 Die Befunde dieser Akten wurden mit einer repräsentativen Stichprobe von Krankenakten von „T4“-Überlebenden verglichen. Auf diese Weise konnte die von der älteren Forschung bereits vermutete Bedeutung der Arbeitsunfähigkeit als primäres Kriterium bestätigt werden.19 Des Weiteren konnte nachgewiesen werden, dass bei allen Opfern die Einstufung der jeweiligen Erkrankung als „unheilbar“ notwendig war, damit die Arbeitsunfähigkeit als Selektionskriterium wirksam werden konnte. Geschlechtliche Differenzierungen zeigten sich darin, dass die ausnahmslos männlichen Gutachter der Arbeit von Frauen einen grundsätzlich geringeren Wert zuschrieben als der von Männern. Dies belegt der signifikant höhere 16 Darüber hinaus zielte das von der DFG geförderte und an der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg angesiedelte Projekt auf eine weitere Differenzierung der zeitlichen, räumlichen und bürokratischen Abläufe der „Aktion T4“ sowie auf eine Stärkung der Patient_innenperspektive durch die Rekonstruktion einer Kollektivbiografie und die Erstellung individueller Kurzbiografien. Die perspektivische Akzentuierung und Stärkung der agency der Opfer stellt meines Erachtens nicht nur eine fruchtbare Erweiterung der bisherigen Forschungen dar, sondern bedeutet auch eine äußerst wichtige Intervention in aktuelle, immer noch stark ableistsiche Repräsentationen von Menschen mit psychischer Erkrankung oder geistiger Behinderung. Vgl. Rotzoll, Maike; Hohendorf, Gerrit; Fuchs, Petra, Die nationalsozialistische „Euthanasie“-Aktion T4 und ihre Opfer. Von den historischen Bedingungen bis zu den Konsequenzen für die Ethik in der Gegenwart. Eine Einführung, in: Rotzoll, „Euthanasie“, S. 13–22, hier S. 17f. 17 Statistische Methoden zielen auf den Nachweis von Wahrscheinlichkeiten. Ein Zusammenhang zwischen zwei Variablen ist dann signifikant, wenn die Irrtumswahrscheinlichkeit, dass es sich um einen zufälligen Zusammenhang handelt, unter 5% liegt. 18 Vgl. zur Überlieferungsgeschichte Sander, Peter, Schlüsseldokumente zur Überlieferungsgeschichte der NS-„Euthanasie“-Akten gefunden, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 51 (2003), S. 285–290. 19 Vgl. zu den Ergebnissen Hohendorf, Gerrit, Die Selektion der Opfer zwischen rassenhygienischer „Ausmerze“, ökonomischer Brauchbarkeit und medizinischem Erlösungsideal, in: Rotzoll, „Euthanasie“, S. 310–324; Rauh, Philipp, Medizinische Selektionskriterien versus ökonomisch-utilitaristische Verwaltungsinteressen. Ergebnisse der Meldebogenauswertung, in: Rotzoll, „Euthanasie“, S. 297–309; Rotzoll, Maike, Wahnsinn und Kalkül. Einige kollektivbiographische Charakteristika erwachsener Opfer der „Aktion T4“, in: dies., „Euthanasie“, S. 272–286; Rotzoll, Maike et al., Frauenbild und Frauenschicksal. Weiblichkeit im Spiegel psychiatrischer Krankengeschichten zwischen 1900 und 1940, in: Brand-Claussen, Bettina; Michely, Viola (Hgg.), Irre ist weiblich. Künstlerische Interventionen von Frauen in der Psychiatrie um 1900, Heidelberg 2004, S. 45–52.
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Anteil an Frauen, deren Arbeitsleistung zwar als „produktiv“ eingeschätzt wurde, die jedoch trotzdem getötet wurden. Zudem wirkte sich mittelbar auf die Selektion aus, dass bestimmte Arbeiten entweder als primär männliche oder weibliche Tätigkeiten angesehen wurden. Geschlechtliche Zuschreibungen führten dazu, dass Männer verstärkt in der anstaltseigenen Landwirtschaft oder den Werkstätten eingesetzt wurden, wohingegen Frauen besonders häufig mit Wasch-, Bügel- und Näharbeiten beschäftigt wurden. Den männlich markierten Tätigkeitsbereichen wurde von Seiten des Anstaltspersonals und der „T4“-Gutachter – auch bei mitunter geringer eingeschätzter Arbeitsleistung – eine höhere Wertigkeit zugeschrieben, was sich signifikant auf die Überlebenschancen der Patienten auswirkte. Eine als produktiv eingeschätzte Arbeitsleistung konnte bei Männern und Frauen durch einen als übermäßig wahrgenommenen Pflegeaufwand oder ein als störend angesehenes Verhalten relativiert werden. Doch konnte nachgewiesen werden, dass sich Begriffe wie „störend“, „gefährlich“ oder „unruhig“ wesentlich häufiger in den Akten von getöteten Frauen finden. Davon ausgehend, dass dieses Ungleichgewicht keine Abbildung tatsächlich existierender geschlechtlich differenzierter Verhaltensweisen darstellt, verweist es auf eine psychiatrisch-institutionelle Ordnung, die für Frauen rigidere Verhaltensregeln vorsah als für Männer. Da Frauen entsprechend der hegemonialen bürgerlichen Geschlechterstereotype normativ auf Eigenschaften wie „Passivität“, „Freundlichkeit“ und „Anpassung“ festgelegt waren, wurden aktive, „unruhige“ Handlungen, die eben keine „Anpassung“ an die Regeln anzeigten, bei Frauen stärker als „störend“ oder „gefährlich“ wahrgenommen als bei Männern.20 Dabei wurde das auf diese Weise diskursivierte Verhalten immer auch vom disziplinierenden Anstaltsraum selbst produziert, denn das, was „störende“ Patient_innen störten, war die institutionelle Ordnung der Anstalt. Ohne das Reale der Krankheiten verleugnen zu wollen21, belegen diese Ergebnisse, dass das Anstaltspersonal sowie die „T4“-Gutachter die Patient_innen nicht nur an der biopolitischen Norm der ability22, der geistigen und körperlichen 20 Vgl. Meier, Marietta; Bernet, Brigitta, Grenzen der Selbstgestaltung. Zur „Produktion“ der Kategorie Geschlecht in der psychiatrischen Anstalt, in: Brand-Claussen; Michely, Irre ist weiblich, S. 37–44. 21 Der Historiker Philipp Sarasin verwendet Jaques Lacans Konzept des Realen, wenn er argumentiert, dass sich körperliche (und psychische) Erfahrungen – und damit auch Krankheiten und Behinderungen – nicht vollständig in Diskursen und Repräsentationen auflösen lassen. Sarasin, Philipp, „Mapping the body“. Körpergeschichte zwischen Konstruktivismus, Politik und „Erfahrung“, in: ders., Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt am Main 2003, S. 100–121, insbes. S. 114–121. 22 Die dis/ability studies perspektivieren ‚Behinderung‘ (als umfassender Begriff, der auch psychische Erkrankungen einschließt) nicht als zu bearbeitendes Problem oder Krankheit im medizinischen Sinne, sondern als konstruierte Abweichung von einer machtvollen soziokulturellen Norm. Die critical ability studies gehen einen Schritt weiter und untersuchen die grundsätzliche Bedeutung von ability/Befähigung für Selbst- und Fremdverhältnisse sowie für die Ordnung moderner Gesellschaften. Vgl. Mackert, Nina, „I want to be a fat man / and with the fat men stand“. U.S.-Amerikanische Fat Men’s Clubs und die Bedeutungen von Körperfett in den Dekaden um 1900“, in: Body Politics – Zeitschrift für Körpergeschichte 2 (2014), H. 3, S. 215–243; McRuer, Robert, Compulsory Able-Bodiedness and
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Befähigung, ausrichteten, sondern auch an normativen bürgerlich-patriarchalen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit.23 Der Entscheidung, ob jemand als „lebenswert“ oder „lebensunwert“ kategorisiert wurde, lagen somit spezifische Blickweisen auf Anstaltspatient_innen zugrunde, die bestimmte diskursive Wahrheiten und imaginäre Bilder von diesen generierten. Im Anschluss an Michel Foucault untersuchen die dis/ability studies die Macht des klinischen Blicks, der ‚Behinderung‘ zuallererst hervorbringt. Laut Anne Waldschmidt, einer Wegbereiterin der dis/ability studies in Deutschland, verweist der Begriff auf die grundsätzliche „Bedeutung des Sehens für die Konstruktion von ‚Behinderung‘, [auf] den Stellenwert von Visibilität und [der] Wahrnehmbarkeit von Merkmalen, die zumeist erst dann, wenn sie dem Auge des Betrachters zugänglich gemacht werden, als Zeichen einer Behinderung gedeutet werden können.“24 Somit stellt der Blick keine rein visuelle Operation dar, sondern bezeichnet im umfassenden Sinne den epistemischen Zugriff von Ärzt_innen auf Patient_innen. Der institutionell gerahmte klinische Blick konstituiert seinen Gegenstand, indem er ihn signifiziert, ihm eine Bedeutung zuweist und ihn dadurch als Subjekt kulturell verständlich macht. Der klinische Blick benötigt bzw. generiert demnach zwei komplementäre Subjektpositionen, denen ein grundverschiedenes Maß an agency zukommt. Binär und daher vereinfacht ausgedrückt besteht diese Konstellation aus einem aktiv blickenden Subjekt und einem passiv angeschauten. Diese hierarchische Blickkonstellation war nicht nur für die Praktik der Selektion unabdingbar, sondern hat sich – so die These – im Verlauf des Produktionsprozesses auch in die Blickführung des Films eingeschrieben. Eine mit der subjektivierenden Funktion des klinischen Blicks korrespondierende Blickordnung war ein Kernelement jener Grunddispositionen, auf die letztlich nicht verzichtet werden konnte, wenn „lebensunwertes Leben“ dargestellt werden sollte. Der Film lässt sich folglich als eine audiovisuelle Quelle begreifen, die das über Leben und Tod (mit)entscheidende Blickregime selbst sichtbar macht und so für die historische Forschung beobachtbar. Eine Filmanalyse kann die subjektkonstituierende Funktion von Sehen und Angesehen-Werden in den Blick nehmen. Im UnterQueer/Disabled Existence, in: Garland-Thompson, Rosemarie (Hg.), Disability Studies. Enabling the Humanities, New York 2002, S. 88–99. 23 Vgl. zur theoretischen Fundierung des Intersektionalitätsansatzes in den dis/ability studies Raab, Heike, Intersektionalität in den Disability Studies. Zur Interdependenz von Disability, Heteronormativität und Gender, in: Schneider, Werner; Waldschmidt, Anne (Hgg.), Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld (Disability Studies; 1), Bielefeld 2007, S. 127–148. 24 Waldschmidt, Anne, Macht – Wissen – Körper. Anschlüsse an Michel Foucault in den Disability Studies, in: dies.; Schneider, Disability Studies, S. 55–77, hier S. 64. Die Verknüpfung von dis/ability studies einerseits und Visual Studies, Medien- und Filmgeschichte andererseits ist in der deutschsprachigen Forschung noch weniger ausgeprägt als im angloamerikanischen Kontext. Vgl. Ochsner, Beate; Grebe, Anna (Hgg.), Andere Bilder. Zur Produktion von Behinderung in der visuellen Kultur (Disability Studies; 8), Bielefeld 2013; Garland-Thomson, Rosemarie, Extraordinary Bodies. Figuring Physical Disability in American Culture and Liturature, New York 1997.
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schied zur Fotografie besteht ein Film aus einer sequentiellen Abfolge von Einzelbildern, wodurch er es gestattet, die Anordnung von Blicken in ihrer Dynamik zu untersuchen. Zudem entsteht aus der kontinuierlichen Abfolge von Bildern die filmische Narration, welche die Figurenentwicklung organisiert. Diese wiederum lässt sich als Prozess der Subjektkonstitution und -neukonstitution interpretieren. Die Filmtheorie unterscheidet drei Blickrelationen, die bei jedem (Kino)film zum Tragen kommen: erstens der Blick der Figuren untereinander oder auf Objekte innerhalb der filmischen Welt (Diegese), zweitens der Blick der Kamera auf die Figuren und die Handlung sowie drittens der Blick der Zuschauer_innen auf die Kinoleinwand.25 Die einzelnen Blickrelationen und deren Verhältnis zueinander können auf sehr unterschiedliche Art und Weise gestaltet werden. Mit dem zuerst in Hollywood etablierten Continuity-System entwickelte sich eine filmische Form, die weltweit zur Norm des klassischen Kinos avancierte und der auch Ich klage an unterlag und folgte.26 Dieses zielte auf die räumliche und temporale Kontinuität und Abgeschlossenheit der Diegese. Um diese zu bewerkstelligen, musste das Continuity-System die Anwesenheit der Kamera bei der Aufnahme sowie die Ausrichtung des Films auf ein Publikum verleugnen. Besonders augenscheinlich wird dies anhand des zu vermeidenden Blicks der Figuren in die Kamera. Dieser würde das Gefühl, angesehen zu werden, bei den Zuschauer_innen evozieren und so auf den Apparat – die Kamera – und die dispositive Anordnung als Publikum im Kino aufmerksam machen. Stattdessen wurden die Kameraeinstellungen und -bewegungen sowie die Montage – die Verknüpfung der einzelnen Einstellungen – so gestaltet, als würden sie sich ‚neutral‘ und ‚automatisch‘ – genau wie die vermeintlich natürliche Bewegung des menschlichen Auges – an den Blickrichtungen und Bewegungen der Figuren orientieren. Die Filmtheorie spricht daher von der „motivierten Kamera“ und vom durch die Figuren motivierten und damit „unsichtbaren Schnitt“. Diese filmische Form soll anhand einer zunächst harmlos erscheinenden Szene verdeutlicht werden.27 Zu sehen ist Bernhard, wie er das Medikament für Hanna in ein Glas tropft. Als Establishing Shot, der die Sequenz eröffnet, zeigt diese Einstellung den Raum und die darin agierenden Figuren. Nun bewegt sich Bernhard im Raum auf die sitzende Hanna zu, um ihr das Glas zu reichen, und gibt so den Blick auf sie frei. Die Kamera behält die Einstellung bei, die gesamte Szenerie ist jetzt etabliert und die konventionalisierte Abfolge der Einstellungen sieht vor, dass die Kamera nun näher an die Figuren heranrückt. Der folgende Dialog wird im für das Continuity-System typischen Schuss/Gegenschuss-Verfahren aufgelöst. Nachdem zunächst beide sich unterhaltenden Figuren zu sehen sind, wird auf eine nahe Einstellung umgeschnitten, die nur die jetzt sprechende Hanna zeigt. Sie stellt Bernhard eine Frage und schaut ihn dabei an. Virtuell ihrer Blickachse folgend wird nun auf ihn gegengeschnitten, um zu sehen, wie er antwortet. 25 Vgl. Elsaesser, Thomas; Hagener, Malte, Filmtheorie zur Einführung, Hamburg 2007, S. 118. 26 Vgl. zum Continuity-System Bordwell, David; Thompson, Kristin, Film Art. An Introduction, New York 82008, S. 231–251. 27 Timecode (TC) 0:46:08–0:48:20.
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Die psychoanalytisch orientierte Filmtheorie hat die Metapher der „Suture“, der Naht, verwendet, um die spezifische Anordnung von Film und Publikum zu beschreiben, die durch das Continuity-System hergestellt wird.28 Vereinfacht besagt dieser Ansatz, dass das kontinuierliche Zerschneiden des Raumes durch den Schnitt immer wieder durch das gleichsam kontinuierliche Aneinanderfügen räumlich konsistenter Einstellungen in der Montage vernäht wird. Dabei wird der Blick der Zuschauer_innen, der den Blicken der Figuren durch den filmischen Raum folgt, in eben diesen hineingenäht. Die erste Einstellung einer Schuss/Gegenschuss-Konstellation eröffnet durch die Blick- und Handlungsrichtung einer Figur ins filmische Off hinein – den Raum außerhalb des aktuell zu sehenden Bildes – eine Leerstelle, die als Mangel wahrgenommen wird: Die Zuschauer_innen wollen sehen, wie die angespielte Figur reagiert oder wer oder was überhaupt angeblickt und angespielt wird, um (wieder) das befriedigende Gefühl der Kohärenz zu erfahren. Somit bedient das Continuity-System das für die Psychoanalyse charakteristische Zusammenspiel von Mangel und Begehren und kann auf diese Weise eine Sogwirkung entfalten, die das Publikum in die Bildfolge hineinzieht. Für radikale Vertreter_innen des „Suture“-Ansatzes konstituiert ein dem Continuity-System folgender Film ein zuschauendes Subjekt mit einer grundsätzlich affirmativen Haltung. „By the means of suture, the film-discourse presents itself as a product without a producer, a discourse without an origin. It speaks. Who speaks? Things speak for themselves and of course, they tell the truth.“29 Zurecht wiesen Filmwissenschaftler_innen darauf hin, dass der Kamerablick den Blick der Zuschauer_innen und damit deren Wahrnehmung keineswegs vollends vorsehen und determinieren könne.30 Vielmehr eröffnet ein Film stets vielfältige Rezeptionsmöglichkeiten. Ich klage an bot den Zuschauer_innen die Gelegenheit, einmal ganz konkret den (Alb)Traum eines „lebensunwerten Lebens“ zu träumen; eine Möglichkeit, die bis Ende des „Dritten Reiches“ circa 18 Millionen Menschen nutzten.31 Dabei brachten sie eigene und ganz unterschiedliche Erfahrungen und Imaginationen mit ins Kino, die sich mit den Bildern auf der Leinwand amalgamierten. Das Leben der Zuschauer_innen verlieh den Bildern Sinn und die Bilder dem Leben. Wir verfügen über unterschiedliche Quellen, die Hinweise liefern auf die Rezeptionsaktivitäten des Publikums.32 Doch können diese 28 Vgl. Hayward, Suture, in: Dies, Cinema Studies, S. 378–385; Silverman, Kaja, The Subject of Semiotics, Oxford 1983, S. 194–236; Winkler, Hartmut, Der filmische Raum und der Zuschauer. ‚Apparatus‘ – Semantik – ‚Ideology‘ (Reihe Siegen Beiträge zur Literatur-, Sprachund Medienwissenschaft; 110), Heidelberg 1992, S. 54–62. 29 Dayan, Daniel, The tutor-code of classical cinema, in: Nichols, Bill (Hg.), Movies and methods. Bd. I, Berkley u.a. 1976, S. 438–451, hier S. 451. 30 Vgl. Anmerkung 28 sowie Koch, Getrud, Was ich erbeute, sind Bilder. Zum Diskurs der Geschlechter im Film, Basel u.a. 1989, S. 15–21. 31 Damit war „Ich klage an“ einer der meistgesehenen Filme des Nationalsozialismus. Vgl. Kuchler, Bischöflicher Protest, S. 276. 32 Filmkritiken sind unter den diktatorischen Herrschaftsbedingungen des Nationalsozialismus von sehr begrenzter Aussagekraft, da das Propagandaministerium dem Wortlaut sehr klare
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Quellen für die weitere Argumentation keine Rolle spielen. Zunächst würde deren systematische Berücksichtigung eine umfangreiche Quellenkritik erfordern, da sie die Reaktionen des Publikums mitnichten einfach abbilden. Vielmehr waren die Quellen jeweils in spezifische kommunikative Zusammenhänge eingebunden und deren Autor_innen verfolgten in der Regel ganz eigene Interessen.33 In der Hauptsache jedoch soll es an dieser Stelle nicht darum gehen, in irgendeiner Weise die Wirkung des Films abzuschätzen oder seine genauen Sinngehalte über die Reaktionen einzelner Zuschauer_innen zu rekonstruieren. Vielmehr verstehe ich den Film – wie die Untersuchung des Entstehungsprozesses gezeigt hat – selbst als eine Reaktion auf spezifische Diskurse und Imaginationen, die er aufgriff und denen er eine bestimmte Form gab. Und zwar dadurch, dass er sie durch eine besondere Blickordnung strukturierte, die für die Wahrnehmung und Anschlusskommunikation der Rezipient_innen ausgewählte Sehweisen vorsah und privilegierte, andere jedoch auszuschließen versuchte. Gerade die Strategie des Ausschlusses zeigt sich deutlich in jener Szene, in der Bernhard die kleine Trude Günther in der Anstalt besucht, in der ihre Eltern sie angesichts der Verschlechterung ihrer Symptome untergebracht haben.34 Im Gespräch mit dem Anstaltsleiter macht Bernhard deutlich, dass seine Einstellung zur Tötung Hannas und darüber hinaus sein ärztliches Selbstverständnis als „Diener des Lebens“35 von seinem Blick auf Trude und der damit einhergehenden Begutachtung und Bewertung ihres „Lebenswertes“ abhängt. Zuvor bereits hat der Film auf Dialogebene eine Analogie zwischen beiden Fällen hergestellt. Hanna hat mit den Begriffen „taub, blind und idiotisch“36 jenen „lebensunwerten“ Zustand beschrieben, auf den sie niemals herabsinken wollte. Trude ist von ihrem Vater unmittelbar vor Bernhards Besuch in der Anstalt auf die gleiche Weise beschrieben worden: „Sie ist blind, kann nichts hören und ist ganz idiotisch.“37 Da-
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und enge Grenzen gesetzt hatte. Darüber hinaus existieren Berichte über Publikumsreaktionen des Sicherheitsdienstes der SS sowie der NSDAP-Gaustellen. Des Weiteren sind katholische Predigten und Hirtenbriefe sowie interne Dokumente erhalten, die zeigen, dass die katholische Kirche nicht nur gegen die Tötungen Widerstand leistete, sondern auch gegen „Ich klage an“. Insgesamt belegen die Quellen, dass die propagandistische Absicht erkannt wurde. Tendenziell konstatieren die Berichte, dass die Haltung des Films – außer in stark katholisch geprägten Gegenden – hinnehmende bis zustimmende Reaktionen hervorrief. Die ablehnenden Reaktionen in katholischen Gegenden und Milieus werden in der Forschung auch auf die kontinuierlichen Warnungen der Gläubigen durch katholische Geistliche vor der suggestiven Kraft des Films zurückgeführt. Vgl. Kuchler, Bischöflicher Protest, S. 276–278 und 282–294; Rost, Euthanasie im Film, S. 208–219; Roth, Filmpropaganda, S. 167–170. So war der Sicherheitsdienst der SS selbst tief in die „Aktion T4“ verstrickt. Die Darstellungen der Publikumsreaktionen, in denen eine Zustimmung zur staatlichen „Euthanasie“ oft an bestimmte Bedingungen hinsichtlich der konkreten Durchführung geknüpft war, lassen sich daher auch als eigene, mit dem Publikumswillen legitimierbare Forderungen lesen. Vgl. Roth, Filmpropaganda, S. 169f. Weniger zurückhaltend: Rost, Euthanasie im Film, S. 211. TC 1:37:24–1:39:50. TC 0:54:12–0:54:15. So bezeichnet sich Bernhard, als Hanna ihren Wunsch nach Sterbehilfe äußert. TC 0:58:13–0:58:17. TC 1:36:19–1:36:25.
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mit wird auf bestimmte Kernelemente der damaligen Vorstellung von „lebensunwertem Leben“ abgehoben. Als diese galten ein vermeintlich mangelndes oder fehlendes Bewusstsein der eigenen Person sowie die auf dieser Grundlage zugeschriebene Unfähigkeit, rational und (selbst)kontrolliert zu denken, zu handeln und die Welt wahrzunehmen.38 Genau diese Vorstellung eines grundsätzlich nichtbefähigten Subjekts inszeniert der Film auch durch die Form seiner Blickführung in dieser Szene. Als Bernhard den Raum, in dem sich Trude befindet, betreten hat, schließt sich die Tür hinter ihm und der Blick der Kamera verweilt für zwölf Sekunden auf der Tür mit der Aufschrift „Kinder-Abteilung“.39 Als Bernhard den Raum wieder verlässt, fährt die Kamera ohne Schnitt zurück und schaut auf seinen entsetzten Blick, der seinen Sinneswandel anzeigt.40 Er wird nun direkt zum Gericht fahren, um bei der parallel stattfindenden Verhandlung zu Thomas‘ Gunsten auszusagen. Die Einstellung auf die Tür verweigert dem Publikum den Blick auf Trude. Dadurch wird sowohl ein Mangel als auch zugleich das Begehren konstituiert, diesen auszugleichen. So imaginieren die Zuschauer_innen mit Bernhards Blick, der sich hinter der Tür befindet und daher in der Lage ist, das entstandene Begehren zu befriedigen, das Objekt seines Blickes. Da die Zuschauer_innen dabei auf die Tür blicken, wird diese zur Projektionsfläche ihrer Imaginationen „lebensunwerten Lebens“. Regisseur Wolfgang Liebeneiner gab während des Nürnberger Ärzteprozesses 1946/47, bei dem mit Karl Brandt und Viktor Brack auch zwei der Hauptorganisatoren der „Aktion T4“ zum Tode verurteilt wurden, als Zeuge zu Protokoll, dass Brack ihm vorgeschlagen habe, an dieser Stelle dokumentarische Aufnahmen von „zutiefst erschütternden mißgeborenen [sic] Kindern“ hineinzuschneiden. Liebeneiner habe entgegnet, dass dadurch der „Stil des Kunstwerks“41 durchbrochen würde, und konnte sich mit diesem Argument offenbar durchsetzen. Auch wenn Liebeneiner dies in der Absicht aussagte, sich selbst zu verteidigen, indem er sich als Filmkünstler inszenierte, der sich gegen den Einfluss Bracks zur Wehr setzte, so scheint diese Episode doch zu bestätigen, worauf die vorgetragene Darstellung des Produktionsprozesses abzielte. Die Expert_innen der Filmbranche sorgten für eine kontinuierliche Übersetzung der Propagandaintentionen der „T4“-Akteure in die Darstellungslogiken populärer Spielfilme und auf diese Weise für eine subtile und zurückgenommene Inszenierung „lebensunwerten Lebens“. Dabei konnte zwar auf explizite Bilder von „zutiefst erschütternden mißgeborenen [sic] Kindern“ verzichtet werden, nicht jedoch auf eine spezifische Form der Blickführung. Diese bediente sich zugleich indirekt der von Brack vorgeschlagenen Bilder, denn 38 Vgl. Roelcke, Volker, Sterbebegleitung – Leidminderung – Tötung. Zur Entwicklung des Begriffs der Euthanasie, ca. 1880 bis 1939, in: Kumbier, Ekkehardt; Teipel, Stefan J.; Herpertz, Sabine C. (Hgg.), Ethik und Erinnerung. Zur Verantwortung der Psychiatrie in der Vergangenheit und der Gegenwart, Lengerich 2009, S. 15–28. 39 Vgl. Quelle: Filmstill 1. 40 Vgl. Quelle: Filmstill 2. 41 Liebeneiner, Wolfgang, Eidesstattliche Versicherung vom 28.4.1947, Nürnberger Ärzteprozess, Nachtrag III, Brack Dokument Nr. 46, zit. nach: Roth, Filmpropaganda, S. 165.
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diese zirkulierten 1941 bereits in großem Umfang in der visuellen Kultur des Nationalsozialismus und konnten daher die Phantasie des Publikums in dieser Szene anregen.42 Doch um die visuelle Leerstelle wirklich zu vernähen, den Mangel an Sichtbarkeit zu beheben, bedurften die Zuschauer_innen des Gegenschusses auf Bernhards Blick. Sein Gesichtsausdruck muss ihre Imaginationen des ‚Monströsen‘ bestätigen, um wieder Kohärenz herstellen zu können. Diese Konstellation hat einen weiteren Effekt. Die feministische Filmwissenschaftlerin Laura Mulvey hat zwei Formen der Schaulust unterschieden, durch die sich die Richtung des Einnähens des Blicks der Zuschauer_innen in die intradiegetischen Blicke der Figuren und damit deren Positionierung genauer bestimmen lässt.43 Einerseits können sich Zuschauer_innen in Figuren in idealisierter Form wiedererkennen und sich so mit ihnen identifizieren. Andererseits können die Blicke der Zuschauer_innen Figuren formieren, objektivieren, kontrollieren und imaginär von ihnen Besitz ergreifen. Die beschriebene Blickinszenierung zielt darauf ab, es dem Publikum unmöglich zu machen, sich mit Trude zu identifizieren, da es sie niemals sieht, nie sieht, wie sie zurückblickt. Der Film verweigert Trude die agency des aktiven Blickens, spricht ihr so eine eigene Perspektive auf die Welt (des Films) ab und damit symbolisch ein eigenes rationales Bewusstsein. Zugleich sieht die Blickinszenierung eine Identifizierung mit Bernhard vor, wodurch und indem sich die Zuschauer_innen seinen objektivierenden ärztlich-klinischen Blick auf Trude zu eigen machen. Die Vernähung in das Blickregime dieser Szene erfolgt also maßgeblich über den Blick eines befähigten männlichen Arztes auf ein Mädchen mit geistiger Behinderung. Die Bedeutung der Vergeschlechtlichung des Blicks wird auf Dialogebene zudem expliziert, als sich beide Männer über die Perspektive der Krankenschwester auf Trude unterhalten. Der Anstaltsleiter argumentiert, dass diese – im Unterschied zu Bernhard – den Anblick von Trude nur deshalb immer wieder ertragen könne, da sie eine Frau sei.44 Der weibliche Blick auf das Mädchen ist Gegenstand eines Gesprächs unter Männern, aber gerät nicht selbst ins Blickfeld der Kamera und kann so auch keine Möglichkeit der Identifikation herstellen. Der Blick der Kamera sowie die Blicke und Bewegungen der Figuren produzieren also ein Machtverhältnis, das simultan durch die Kategorien Geschlecht und dis/ability strukturiert wird. Die Verfahren des Continuity-Systems zielen darauf ab, den Kamerablick so erscheinen zu lassen, als würde er ‚neutral‘ und ‚natürlich‘ dem 42 Dieses ‚Angebot‘ hatten vor allem die Sterilisationspropagandafilme geschaffen. Vgl. Rost, Euthanasie im Film, S. 59-84; Roth, Filmpropaganda, S. 129–132. 43 Vgl. Mulvey, Laura, Visuelle Lust und narratives Kino [1973], in: Albersmeier, Franz-Josef, Texte zur Theorie des Films, Stuttgart 52003, S. 389–408, hier S. 393–396; Mulvey wurde von anderen feministischen Filmwissenschaftler_innen u.a. dafür kritisiert, dass sie die Macht des „männlichen Blicks“, den weiblichen Körper auf der Leinwand zu signifizieren und zu objektivieren, verabsolutiere und zugleich die Möglichkeiten – auch subversiver – weiblicher Schaulust und Identifikation unterschätze. Vgl. zur Diskussion im Anschluss an Mulvey de Lauretis, Teresa, Ödipus interruptus, in: Frauen und Film, 48 (1990), S. 5–29. 44 TC 1:39:28–1:39:38. Bernhard: „Sagen Sie! Wie hält die Schwester das aus?“ – Anstaltsleiter: „Die Schwester? Tja. Sehen Sie, das ist eben eine Frau. Die liebt alles, was hilflos ist.“
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Geschehen folgen. Nur so kann er unsichtbar gemacht und die Vernähung des Publikums in den Film sichergestellt werden. Doch folgen nicht nur die Blicke und Bewegungen der Figuren den machtvollen Logiken der Kategorien dis/ability und Geschlecht. Auch die Perspektivierung dieser Handlungen durch die Kamera ist durch diese Logiken bestimmt. Daraus ergibt sich, dass die Erzeugung filmischer Kohärenz und die Vernähung des Publikums im Falle von Ich klage an augenscheinlich ein bestimmtes Blickregime benötigte, und zugleich betrieben die Verfahren des Continuity-Systems eine Naturalisierung dieses Regimes und der damit verbundenen Subjektkonstellation. Diese heteronormativ-patriarchale und zugleich ableistische Macht- und Blickkonstellation findet sich ebenfalls in anderen wichtigen Szenen des Films. So ist es im Verlauf der Szene in Bernhards Arztpraxis sein diagnostischer Blick, der Hanna für die Zuschauer_innen als krankes Subjekt konstituiert.45 Sie selbst bleibt von diesem Blick und dem damit verbundenen Wissen ausgeschlossen. Dabei verfolgt der Film eine doppelte Strategie. In drei Einstellungen – davon zweimal in Großaufnahme – präsentiert die Kamera dem Publikum Bernhards geschockten und damit vielsagenden Gesichtsausdruck. Einerseits wird dieser Blick durch die Kameraführung vor Hanna verborgen, denn in einer Einstellung befindet sie sich hinter Bernhard, in einer anderen schaut sie an ihm vorbei.46 Doch während der Augenspiegelung andererseits, der ersten und längsten Einstellung auf Bernhards erkennenden und schockierten Blick, sitzen sich beide gegenüber und Hanna schaut Bernhard direkt an. Sie hat also die Möglichkeit, seinen Blick zu deuten, doch sie übersieht oder verkennt ihn. Lustvoll ironisiert sie Bernhards visuelle Diagnose noch als „Blick in den Abgrund“ und fragt, ob er denn „etwas Schönes“ gesehen habe. Hanna denkt, sie sei endlich schwanger, und erklärt sich damit ihre körperlichen Ausfallerscheinungen. Mit dieser verfehlten Selbstwahrnehmung – so die Inszenierung des Films – geht ihre Unfähigkeit einher, Bernhards Gesichtsausdruck als Hinweis auf eine Erkrankung zu deuten. Demnach verschränkt der Film die Unfähigkeit zum erkennenden Blick mit einer dysfunktionalen bürgerlichen Weiblichkeit. Hanna zeigt zwar jene Begehrensstrukturen, die dieser Norm entsprechen, doch verfügt sie nicht über die Befähigung, diese auch zu verwirklichen. Mit ihrem starken Wunsch, endlich zur Mutter zu werden, strebt Hanna danach, sich als ein dieser Ordnung entsprechendes Subjekt zu konstituieren. Doch genauso wie sie bei diesem Vorhaben scheitert, scheitert sie auch dabei, Bernhards Blick richtig zu lesen. Das Publikum jedoch wird durch die Kameraführung dazu befähigt und aufgefordert, genau dies zu tun. Erneut lädt die Kamera- und Blickführung die Zuschauer_innen dazu ein, sich Bernhards Blick zu eigen zu machen. Anstatt sich primär mit Hanna und ihrer verfehlten Freude zu identifizieren, sieht der Film vor, sie mit Bernhards Augen schockiert und bedauernd anzuschauen. Dabei verstärkt das Erkennen von Hannas lustvollem Verkennen letztlich die signifizierende Macht von Bernhards Blick. Gerade dieser Kontrast verleiht der Szene ihre besondere Tragik. 45 TC 0:24:57–0:30:47. 46 Vgl. Quelle: Filmstills 3 und 4.
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Später beschließen Bernhard, Thomas und der hinzugerufene Experte Professor Werther in paternalistischem Gestus, Hanna den Zugang zum Wissen über ihre Krankheit auch weiterhin zu verweigern – eine Form der filmischen Informationsverteilung, die ebenfalls eine Identifikation mit den männlichen Ärzten und ihrem Blick auf Hanna begünstigt.47 Angesichts dieser Situation versucht sie, den erkennenden und signifizierenden Blick des Arztes auf sich nachzuahmen.48 Zunächst blickt Hanna in einen großen Kommodenspiegel, dann in einen Handspiegel, um zu sehen, was Bernhard sah.49 Sie sucht nach (Selbst)Erkenntnis im Medium des auf sie gerichteten Blicks des männlichen Arztes. Da in dieser Szene lediglich Hanna zu sehen ist und zugleich die Blicke einer anderen Figur nur imaginär präsent sind, lädt der Film zu einer Identifizierung mit Hanna ein. Doch ist es eine Form der Identifikation, die eine Verinnerlichung fremder und zwar ärztlich-klinischer Blicke auf das Selbst einschließt. Die Asymmetrie eines Blickregimes wurde von der feministischen Filmwissenschaft nicht nur anhand einer Analyse der zwei unterschiedlichen Formen der Schaulust rekonstruiert, sondern auch anhand der ungleichen Beweglichkeit der Figuren und dem damit verbundenen Verhältnis zur Kamera.50 Dieser Zusammenhang zeigt sich in der bereits beschriebenen Szene, in der Bernhard Hanna ihre Medizin verabreicht. Hier findet sich nicht nur eine Asymmetrie aufgrund der vertikalen Blickachse – Bernhard setzt sich nie hin und blickt daher stets auf Hanna herab –, es ist zudem erneut Bernhards Körper, der als Träger des Kamerablicks fungiert. Erst als er sich bewegt, kann die Kamera auch Hanna erblicken. Erst diese Bewegung lässt die erste Einstellung der Szene wirklich zu einem Establishing Shot werden. Erst durch seine Bewegung wird der Weg frei für den konventionellen Fluss der nun näher an die Figuren heranrückenden Einstellungen. Und nicht zuletzt ist es Bernhard, der die Kamera zu einer leichten Neigungsbewegung zwingt, als er zu Hanna herantritt. Es ist also ein männlicher Körper, welcher der Kamera ihre Bewegungen vorgibt und den Rhythmus der Montage bestimmt. Und es ist der Körper der kranken Frau, der das starre Bezugsobjekt der aktiven Bewegungen des männlichen Arztes durch den Raum darstellt. Doch wurde Hannas Körper erst im Verlauf des Films mit den fortschreitenden Symptomen der Multiplen Sklerose stillgestellt und kontrastiert mit ihren dynamischen Bewegungen zu Beginn des Filmes. Direkt in seiner ersten Sequenz inszeniert der Film Hanna als ein Subjekt, das mit einem gesunden und sehr gut funktionierenden Körper ausgestattet ist.51 Sie geht zum Gartentor des von ihr, Thomas und der Haushälterin Berta bewohnten Hauses, um die Post entgegenzunehmen. Nachdem sie erkannt hat, dass der Brief von der Universität München 47 48 49 50
TC 0:37:20–0:37:50. TC 0:35:34–0:36:13. Vgl. Quelle: Filmstill 5. Vgl. Mulvey, Visuelle Lust, S. 397–399; Perinelli, Massimo, Fluchtlinien des Neorealismus. Der organlose Körper der italienischen Nachkriegszeit 1943–1949 (Histoire; 6), Bielefeld 2009, S. 98–103. 51 TC 0:01:50–0:02:52.
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stammt und daher wahrscheinlich das Berufungsschreiben für Thomas enthält, rennt Hanna wieder in Richtung Haustüre, um mit Berta den Brief zu öffnen. Nach einem kurzen Gegenschuss auf den Postboten läuft Hanna aus dem Bildausschnitt heraus ins Off und wird von der Kamera im Flur des Hauses empfangen. In der folgenden Einstellung, die fast vierzig Sekunden lang ist, hat die Kamera einen festen Standpunkt. Hannas Körper bewegt sich in drei Achsen dynamisch durchs Bild: nach links und die Treppe hoch zu Berta, nach rechts zur Haustür und schließlich von der Kamera weg ins Wohnzimmer. Dabei wird sie von der Kamera in schnellen Schwenk- und Neigungsbewegungen verfolgt. Ihre Bewegungen sind dermaßen dynamisch, dass die Kamera sie zweimal teilweise und einmal komplett aus dem Blick verliert. In dieser Szene ist es eine gesunde Frau, die der Kamera ihre Bewegungen vorgibt und so zur Trägerin des Blickes der Zuschauer_innen werden kann. Diese Befähigung und die damit verbundene agency der gesunden Hanna hegt der Film jedoch zugleich in grundsätzlicher Weise ein, indem er ihren Bewegungsradius symbolisch am Gartenzaun enden lässt.52 Hanna ist entsprechend der herrschenden bürgerlich-patriarchalen Geschlechterordnung auf den häuslichen Raum mitsamt der dazugehörenden Hausarbeit und Mutterschaft festgelegt. Doch innerhalb dieses Raumes stellt Hanna auch im direkten Verhältnis zu den beiden Männern und Ärzten zunächst die maßgebliche Figur dar. In der Hausmusikszene auf der Berufungsfeier spielt Hanna Klavier und es sind wiederholt ihre Blicke, die Thomas und Bernhard den Moment ihres Einsatzes signalisieren.53 Doch lässt der Film genau dieses Blickregime jäh zusammenbrechen, als die Dysfunktion der linken Hand Hannas Spiel beendet. Direkt im Anschluss kehrt sich die Blickformation um. Nun stellen die dysfunktionale Hanna und ihre Hand die Objekte der begutachtenden Blicke der Ärzte dar.54 Die vorgetragene Filmanalyse hat gezeigt, dass Ich klage an das Werden eines „lebensunwerten“ Subjekts auch über die formale Anordnung der Blicke inszeniert. Der aktive, machtvolle und signifizierende Blick symbolisiert das befähigte „lebenswerte“ Subjekt. Hannas sukzessiver Verlust ihrer ability, ihrer Gesundheit geht mit einer Verschiebung ihrer Position im Blickregime des Films einher. Sie wird zunehmend zum stillgestellten Objekt des dreifachen Blicks von Ärzten, Kamera und Publikum. Die nicht sichtbare Trude repräsentiert den Fluchtpunkt dieser Entwicklung. Die geschlechtliche Verteilung der Rollen belegt eine spezifische Ausrichtung des klinischen Blicks, der ‚Behinderung‘ zuallererst hervorbringt, zur Zeit der „Aktion T4“. Während Befähigung insbesondere mit einer hegemonialen Form von Männlichkeit verbunden war, artikulierte sich der Verlust von ability in erster Linie über eine dysfunktionale bürgerliche Weiblichkeit. In einem populären Spielfilm, der nur noch die grundlegenden Imaginationen „lebensunwerten Lebens“ ins Bild setzte, konnte demnach allein eine weibliche Figur diese Subjektform verkörpern. Die analysierten Szenen zeigen, wie sehr 52 Vgl. von Keitz, Vom weiblichen Crimen, S. 378. 53 TC 0:16:52–0:20:20. 54 Vgl. Quelle: Filmstill 7.
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dis/ability und Geschlecht sich gegenseitig hervorbrachten. Es handelte sich also weniger um zwei distinkte Differenzkategorien, die sich an ihren Kreuzungspunkten gegenseitig verstärkten. Vielmehr bedingten sie sich gegenseitig und drückten sich über einander aus.55 Daraus kann sich eine Neuperspektivierung der institutionellen Praxis des „T4“-Selektionsprozesses ergeben. Geschlecht sollte weniger als Leitdifferenz innerhalb der einzelnen Selektionskriterien in den Blick geraten. Vielmehr gilt es, Geschlecht als eine Kategorie zu perspektiveren, die sich mit den in den Kriterien zum Vorschein kommenden Formen der dis/ability in einem komplexen und wirkmächtigen gegenseitigen Konstitutionsverhältnis befand. Im Hinblick auf einen solchen Zugang ist es äußerst fruchtbar, Diskursivierungen und Imaginationen „lebensunwerten Lebens“ enger zusammenzudenken. Die sozialgeschichtlichen Forschungen zu den Akteur_innen und zum organisatorischen Ablauf der Selektion sowie die diskursgeschichtlichen Forschungen zum Konzept „lebensunwerten Lebens“ sollten stärker mit Forschungen zur visuellen Kultur der „Euthanasie“ zusammengeführt werden. Die Gutachter trafen ihre Selektionsentscheidung auf der Grundlage der diskursiven Beschreibungen der Patient_innen in den Meldebögen, sie nahmen sie nicht selbst in Augenschein. Nichtdestotrotz visualisierten, ja imaginierten sie die von ihnen begutachteten Subjekte. Die Art und Weise, wie dies vonstattengehen konnte, versuchte dieser Beitrag anhand einer Analyse des Blickregimes von Ich klage an zu skizzieren. Doch gilt es weiter zu erforschen, welche Bilder und Blickkonstellationen, in denen sich Gutachter und Anstaltspersonal selbst als Subjekte verorteten, der Imagination zur Verfügung standen – und welche nicht. Und es gilt zu fragen, wie diese Dimension die Entscheidung über Leben und Tod beeinflusste. Literaturhinweise Creed, Barbara, Film and psychoanalysis, in: Hill, John; Church Gibson, Pamela (Hgg.), The Oxford Guide to Film Studies, Oxford 2002, S. 77–90. Roth, Karl Heinz, Filmpropaganda für die Vernichtung der Geisteskranken und Behinderten im „Dritten Reich“, in: Aly, Götz u.a. (Hgg.), Reform und Gewissen. „Euthanasie“ im Dienst des Fortschritts (Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik; 2, Berlin 1985, S. 125–193. Rotzoll, Maike u.a. (Hgg.), Die nationalsozialistische „Euthanasie“- Aktion „T4“ und ihre Opfer. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart, Paderborn 2010.
55 Für ein solches Verständnis von Intersektionalität vgl. Bell, Vikki, On Speech, Race and Melancholia. An Interview with Judith Butler, in: Theory, Culture & Society 16 (1999), H. 2, S. 163–174, hier S. 167f.; Raab, Heike, Intersektionalität und Behinderung. Perspektiven der Disability Studies, in: portal-intersektionalität, URL: (04.07.2017).Vgl. zudem die aktuelle und programmatische Re-Lektüre eines der Gründungstexte einer intersektionalen Analyseperspektive Mackert, Nina, Kimberlé Crenshaw: Mapping the Margins (1991) Oder: Die umkämpfte Kreuzung, in: Stieglitz, Olaf; Martschukat, Jürgen (Hgg.), race & sex: Eine Geschichte der Neuzeit – 49 Schlüsseltexte aus vier Jahrhunderten neu gelesen, Berlin 2016, S. 50–55.
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voon Keitz, Ursuula, Vom weiiblichen Crim men zur krank ken Frau. Narration und Arrgumentation zu „Abtreibunng“ und „Verrnichtung lebeensunwerten Lebens“ im Film F der Weiimarer Repub blik und der NS S-Zeit, in: Lin nder, Joachim m; Ort, Claus-M Michael (Hgg.), Verbrechenn – Justiz – MeM dien. Konsstellationen in n Deutschland von 1900 bis zur Gegenwaart (Studien unnd Texte zur SoS zialgeschicchte der Literaatur; 70), Tübiingen 1999, S. S 357–386.
Q Quelle 56 Film: IIch klage an (1941) (
Filmstill 1
566 Filmstills aus „Ich klaage an“, Deuutschland 19441, Regie: Wolfgang W Liebbeneiner (1177‘). päiDie Quellle ist mit weiiteren Abbilddungen onlinee erschienen im Themenpportal Europ sche Gescchichte, URL L: . Die diigitale Fassuung des Film ms ist einsehhbar auf der Webseite arrchive.org, U URL: (04..07.2017).
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SEXUALIMAGES US-AMERIKANISCHER, FRANZÖSISCHER UND SCHWEDISCHER FRAUEN IN ÖSTERREICHISCHEN UND WESTDEUTSCHEN MEDIEN DER 1950ERUND 1960ER-JAHRE1 Franz X. Eder Sexualität und Geschlechterrollen zählten zu jenen soziokulturellen Feldern, die in der BRD und in Österreich in den Nachkriegsjahren besonders heftig diskutiert wurden.2 Mehr oder weniger Konsens bestand darüber, dass die NSGeschlechterimages und die mit ihnen einhergehende pro- und antinatalistische Sexualideologie nur mehr zwecks Abgrenzung aufgerufen werden konnten. Sollte man also bei der Etablierung eines ‚neuen‘ Männer- und Frauenbildes und entsprechender Sexualformen an die Tradition der Weimarer Republik oder sogar des Kaiserreichs in der BRD bzw. an den Ständestaat oder die Erste Republik in Österreich anknüpfen?3 Eine solche Wiederbelebung hatte angesichts des unüberbrückbaren nationalsozialistischen ‚Kulturbruches‘ und der nicht zu verleugnenden ‚Neuen Zeiten‘ keine Chance. In den späten 1940er-Jahren nahm man deshalb Sexual- und Geschlechterimages anderer Länder und Kulturen in den Fokus. Der in Zeitungen und Zeitschriften, aber auch in Film und Radio ausgetragene Diskurs changierte in der Folge zwischen dem ‚Eigenen‘ und ‚Fremden‘ bzw. ‚Anderen‘, das man in diesen ‚Bildern‘ zu erkennen glaubte. Auch wenn der diskursive 1 2
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Essay zur Quelle: Die Wahrheit über die Pin-up-Girls (Cocktail, 1951). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Einen Überblick über die Literatur geben mehrere Beiträge in Paulus, Julia; Silies, EvaMaria; Wolff, Kerstin (Hgg.), Zeitgeschichte als Geschlechtergeschichte. Neue Perspektiven auf die Bundesrepublik, Frankfurt am Main u.a. 2012; Eder, Franz X., Die lange Geschichte der ‚Sexuellen Revolution‘ in Westdeutschland (1950er bis 1980er Jahre), in: Bänziger, Peter-Paul; Eder, Franz X.; Eitler, Pascal; Beljan, Magdalena (Hgg.), Sexuelle Revolution? Zur Geschichte der Sexualität im deutschsprachigen Raum seit den 1960er- Jahren, Bielefeld 2015, S. 25–61; Liebeknecht, Moritz, Sexualität als Gegenstand der Zeitgeschichtsforschung und der Sexualwissenschaft in der frühen Bundesrepublik, in: Zeitschrift für Sexualforschung 28 (2015), S. 132–148; Bänziger, Peter-Paul; Stegmann, Julia, Politisierungen und Normalisierung. Sexualitätsgeschichte des 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum, in: H-SozKult, URL:
(18.10.2017). Vgl. Eder, Franz X., „Auf die ‚gesunde Sinnlichkeit‘ der Nationalsozialisten folgte der Einfluss der Amerikaner“. Sexualität und Medien vom Nationalsozialismus bis zur Sexuellen Revolution, in: zeitenblicke 7 (2008), Nr. 3, URL: (18.10.2017); Heineman, Elizabeth D., Sexuality in West Germany. PostFascist, Post-War, Post-Weimar, or Post-Wilhelmine?, in: Kießling, Friedrich; Rieger, Bernhard (Hgg.), Mit dem Wandel leben. Neuorientierung und Tradition in der Bundesrepublik der 50er und 60er Jahre, Köln 2011, S. 229–245.
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Mainstream in den 1950er- und frühen 1960er-Jahre einem konservativchristlichen Familien- und Sexualideal folgte, entwickelte sich der hier sichtbare Sexualdiskurs vielfältiger als dies viele der politischen und kirchlichen Akteure propagierten.4 Der vorliegende Text zeigt anhand von illustrierten Magazinen, Ratgeberliteratur und Filmen, wie die Amerikanisierung und Westernisierung von Sexualität und Geschlechterrollen in der BRD und in Österreich mittels US-amerikanischer, französischer und schwedischer Images diskutiert wurde.5 Unter „Image“ werden dabei Vorstellungen, Einstellungen und Gefühle verstanden, die mit einem (meist bildlichen) Objekt erzeugt werden (sollen); gleichzeitig wird darunter aber auch (im Sinn des englischen „image“) das mentale Bild gemeint, das damit hergestellt wird bzw. hergestellt werden soll. Wobei eine rigorose Trennung von physischem und mentalem Bild (picture und image) sowohl in praktischen Bildakten wie auch in der wissenschaftlichen Analyse und Interpretation nicht möglich und sinnvoll erscheint.6 Konstruktionen von Andersartigkeit und Fremdheit erfolgen dabei nicht bloß in Gegenüberstellung von positiven (zumeist den eigenen) und negativen (zumeist dem fremden/anderen) Eigenschaften, sondern in einem vielstimmigen Prozess der Problematisierung – hier der eigenen und fremden Geschlechterund Sexualitätsimages.7 Auch wenn die Männerbilder in diesem Diskurs ebenfalls zur Disposition standen, gehörte die Aufmerksamkeit doch eindeutig den Images von Frauen. In den 1950er- und 1960er-Jahren bediente man sich recht unterschiedlicher visueller und textlicher Strategien, um erotisierte und sexualisierte Frauen und mit ihnen die Geschlechterrollen anderer bzw. fremder Kultur zu problematisieren und sie mit den eigenen zu vergleichen.8 In der Frühphase geschah dies wohl am häufigsten mittels US-amerikanischer Pin-up girls und Hollywood Starlets. Beide Frauentypen wurden fotografisch oder mittels Zeichnungen visualisiert und meist als naive junge Frauen charakterisiert, die ihren aufregenden erotischen Körper einsetzten, um beim Film Karriere zu machen oder sich einen reichen Mann zu angeln. Die Meinungen und (moralischen) Wertungen der Autoren – fast ausschließlich Männer – blieben dabei recht ambivalent: Einerseits versprachen diese 4
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Vgl. Eder, Franz X., Kultur der Begierde. Eine Geschichte der Sexualität, München 22009, S. 216 ff; Herzog, Dagmar, Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2005; Heineman, Elizabeth D., Before Porn was Legal. The Erotica Empire of Beate Uhse, Chicago 2011. Vgl. Doering-Manteuffel, Anselm, Amerikanisierung und Westernisierung, in: DocupediaZeitgeschichte, URL: (18.10.2017). Vgl. Eder, Franz X.; Kühschelm, Oliver, Bilder – Geschichtswissenschaft – Diskurse, in: dies.; Linsboth, Christina (Hgg.), Bilder in historischen Diskursen, Wiesbaden 2014, S. 22. Zu Othering und Exotismus/Orientalismus vgl. Jensen, Sune Qvotrup, Othering, Identity Formation and Agency, in: Qualitative Studies 2 (2011), H. 2, S. 63–78; Varisco, Daniel Martin, Reading Orientalism. Said and the Unsaid, Seattle 2007. Weitere Strategien siehe in Eder, Franz X., National and Racial Images of the Sexual ‚Other‘ in the German-Speaking Countries (1950s–1970s), erscheint in: Sexuality and Culture (2016); Teile dieses Beitrages sind auch dort zu finden.
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verführerischen Frauen potentielle Liebes- und Heiratskandidatinnen zu sein, andererseits konnte man ihren Versprechungen nicht wirklich trauen. Womöglich waren die Pin-up girls und Schauspielerinnen überhaupt nicht für ein Dasein als treue Gattin geeignet, weil sich ihr überbordender „Sexappeal“ kaum in eheliche Bahnen und eine stabile Wiederaufbaufamilie kanalisieren ließ. In einem Artikel aus dem in Österreich erschienenen illustrierten Magazin Cocktail, konnte man im Jahr 1951 „Die Wahrheit über die Pin-up-Girls“ lesen: „Der normale Durchschnittsmensch macht sich über die geistige Primitivität der ersten Schönheiten dieses Kontinents [der USA] ein völlig unzutreffendes Bild. Insbesondere die Super-Pin-up-Girls – die Fotomodelle und Filmstars – sind sehr problematische Ehefrauen und es ist keineswegs ein Zufall, dass in Hollywood dreimal mehr Ehen auseinandergehen, als in jeder anderen Stadt Amerikas. […] Liebe ist eine Nebenbeschäftigung und auch die Ehe wird nicht ernstgenommen. Diese Frauen, die einem unbegrenzten Individualismus huldigen, haben es vollständig verlernt, ihren Ehemännern auf halbem Weg entgegenzukommen. Nur das eigene Ich ist wichtig.“9 US-amerikanische Frauentypen wie diese schätzte man zwar wegen ihrer Erotik, doch bestand auch hier die Befürchtung, dass sie sich nicht in die Rolle der lebenslangen Kameradin, umsichtigen Hausfrau und liebevollen Mutter einpassen würden. Die unterlegten konservativen Ehenormen kamen im Quellentext beim Thema der gelungenen Hollywood-Ehen zum Vorschein: „Natürlich gibt es auch sehr glückliche Ehen in Hollywood. Aber mit wenigen Ausnahmen sind es solche, in denen die Frau die Rolle des stillen Teilhabers übernommen hat. […] Ihre außergewöhnliche Intelligenz veranlaßte sie im richtigen Augenblick auf den äußeren Erfolg zu verzichten, um dafür etwas einzutauschen, was mit allem Ruhm dieser Welt nicht erkauft werden kann: eine glückliche Ehe.“10 Die abgebildete „‚Cocktail‘ Reportage aus Hollywood“ entsprach in vielem den Text- und Bildgattungen, mit denen man sich solchen fremden Frauenimages in den späten 1940er- und in den 1950er-Jahren näherte: Die (männlichen) Autoren ließen sie in Reportagen, (Reise-)Berichten und ‚Surveys‘ inmitten angeblich authentischer ‚Stories‘ auftreten und reflektierten dabei die gesellschaftlichen Konsequenzen ihrer Andersartigkeit. Wie im obigen Beispiel dienten die Abbildungen meist dazu, die textlichen Konnotationen zu verstärken: In Cocktail konkurrierte das „seriöse“ Pin-up-Girl (S. 26) mit dem „Super-Atom-Girl“ (S. 25), das sich durch seine „Schönheit, Aufmachung und Sex-appeal“ abhob und dabei um einiges mehr nackte Haut zeigte. Auch der Hinweis auf die ‚unzeigbaren‘ Pinups, die man wegen des österreichischen Strafrechts nicht abdrucken konnte, animierte die Fantasie der Leser (S. 26).11 Ikonisch betrachtet mutierte der weibliche 9 Cocktail (1951), H. 11, S. 25. 10 Ebd. 11 Zum Genre vgl. Buszek, Maria Elena, Pin-Up Grrrls: Feminism, Sexuality, Popular Culture, Durham u.a. 2006; Hanson, Dian, The History of Girly Magazines. Pin-ups from the 19th Century to the 1960s. Hongkong u.a. 2006; Sadeler, Jessica Leila, Pin-Ups. Eine vergleichende Analyse von US-amerikanischen und österreichischen Pin-Ups der 1930er und 1950er Jahre. Diplomarbeit Univ. Wien 2012.
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Körper bei diesen ‚Busen- und Bein-Schönheiten‘ zu einem sexualisierten Konsumobjekt, welches das Begehren anregen sollte und dessen man sich bedienen konnte. Das ‚Mädchen von Nebenan‘ erschien so als eine unkomplizierte ‚Puppe‘, deren erotisches Angebot man auch im durchschnittlichen Ehebett nachfragen und erwarten konnte.12 Durch den Objekt- und Warencharakter unterschieden sich die Pin-up-Figuren elementar von den ‚starken‘ Hollyood-Diven à la Rita Hayworth (S. 24) und Jane Wyman (S. 24), die als Subjekte auftraten, ihre laszive Ausstrahlung selbstbewusst einsetzten und als komplizierte Persönlichkeiten kommuniziert wurden. Beide Images waren in einen interpikturalen Diskurszusammenhang eingeschrieben, der hier ebenfalls aufgerufen wurde:13 Die Pin-up-Inszenierung kannte man spätestens seitdem dieses Genre von amerikanischen Soldaten nach Kriegsende zusammen mit Schokolade und Nylonstrümpfen unter die Leute gebracht wurde. Kaum eine Publikumszeitschrift kam seither ohne diese immer lächelnden, halbnackten Mädchenfiguren mit ihren teils skurrilen Körperverdrehungen und künstlichen Settings aus – diese wurden oftmals durch unbekannte österreichische und deutsche Starlets nachgestellt. Dasselbe galt für die Ikonografie posender Schauspielerinnen, welche sich weniger durch nackte Haut auszeichneten als vielmehr durch die (Film-)Rollen, die man mit ihnen assoziierte und durch das glamouröse Hollywoodleben, das sie angeblich führten. Angeschlossen wurde auch an die ‚lange‘ Fototradition der (halb-)nackten ‚fremden‘ Frau/en – exemplarisch sei hier auf die Reportagefotos von als ‚wild‘ und naturnahe beschriebenen Nackttänzerinnen in der Zwischenkriegszeit und die Inszenierung von nackten schwarzen Frauen bei Völkerschauen und in ethnologischen ‚Dokumentationen‘ um 1900 verwiesen.14 In Cocktail warfen diese Frauen auch auf textlicher Ebene ihren erotischen „Köder nach einem heiratsfähigen Mann“ aus und wollten ihn vor den Traualtar bringen, bevor er erkannte, dass sie „aussen mondän und raffiniert zurechtgemacht (waren), innen aber hohl und oberflächlich“ (S. 24). Für eine gelingende Ehe erwarteten zeitgenössische Männer hingegen eine „Frau und Kameradin“ (S. 24) und tendierten dazu, „die schöne Frau zu bewundern, und das normale Mädel mit gesundem Menschenverstand zu heiraten“ (S. 26). Schwer zu domestizierende Frauen galten für sie als Hauptgrund, warum „glückliche Ehen“ – genauso wie die 12 Bauer, Ingrid; Huber, Renate, Sexual Encounters Across (Former) Enemy Boderlines, in: Bischof, Günter; Pelinka, Anton; Herzog, Dagmar (Hgg.), Sexuality in Austria (=Contemporary Austrian Studies 15 (2007), S. 88 f. 13 Eder; Kühschelm, Bilder, S. 3–44. 14 Vgl. Dreesbach, Anne, Kolonialausstellungen, Völkerschauen und die Zurschaustellung des „Fremden“, in: Europäische Geschichte Online (EGO) (2012), URL: (18.10.2017); Levine, Philippa, Naked Truths: Bodies, Knowledge, and the Erotics of Colonial Power, in: Journal of British Studies 52 (2013), H. 1, S. 5–25; Steiger, Ricabeth; Taureg, Martin, Körperphantasien auf Reisen. Anmerkungen zum ethnographischen Akt, in: Köhler, Michael; Barche, Gisela (Hgg.), Das Aktfoto. Ansichten vom Körper im fotografischen Zeitalter. Ästhetik, Geschichte, Ideologie, München 1985, S. 120–140.
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Konsum- und Wohlstandsgesellschaft – noch als ein (zukünftiges) Ideal gesehen wurden, das angesichts nach wie vor hoher Scheidungs-, Illegitimitäts- und Abtreibungsraten und prekärer Einkommens- und Wohnverhältnisse kaum zu realisieren war.15 Das Cocktail-Magazin (1949–1952, Metropol Verlag Wien) gehörte zu den zahlreichen – großteils noch unerforschten – populären Zeitschriftenformaten, welche in diesen Jahren mit einem Mix aus Reportage, Karikaturen, erotischen Fotos, Fortsetzungsromanen, Rätseln, Witzen, Reiseberichten und anderen publikumswirksamen Text- und Bildgattungen auf den Markt kamen. Für drei Schilling oder 0,80 DM war es relativ günstig und konnte per Abo-Versand und am Kiosk erworben werden. Nach dem Inkrafttreten der „Schmutz- und Schundparagrafen“, verschwand es wie Dr. Faust. Zeitschrift für Probleme des Lebens, Wiener Melange, Mephisto und andere Magazine, die mit erotischen und sexuellen Themen um Käufer und Käuferinnen kämpften, rasch wieder von der Bildfläche.16 Zu den Redaktionsstrategien gehörte es, dass die Autorenschaft verdeckt blieb (wie im vorliegenden Fall mit „WPS“) und damit rechtliche Schritte erschwert wurden. Notwendig wurde eine solche Vorgangsweise in Österreich aufgrund des 1950 beschlossenen „Gesetz[es] über die Bekämpfung unzüchtiger Veröffentlichungen und den Schutz der Jugend gegen sittliche Gefährdung“. Seitdem wurden Zeitschriften durch Kommissionen in den Bundesländern und in der Kirche verschärft zensuriert. Wobei es nicht nur um den Schutz der Jugend ging, sondern auch um ein „schweres Unrecht“, weil man „den Erhaltungs- und Fortpflanzungstrieb des Menschen zum Ausgangpunkt des schnöden Erwerbs“ mache. Als „unzüchtig“ sollte jede Handlung gelten, durch „welche die Sittlichkeit in geschlechtlicher Beziehung verletzt wird“, wobei von Fall zu Fall entschieden werden musste, ob und wie dies geschah – etwa auch, weil das Sexuelle in einem (populär-) wissenschaftlichen Werk in einem unsittlichen Kontext dargestellt wurde.17 Für die Produzenten solcher Publikationen stellte sich also nicht primär die Frage, ob ihre Werke erotisch oder pornografisch waren, sondern ob sich die Zensur im obigen Sinn gegen ihr Produkt aussprechen würde. In Zeitschriften wie Cocktail konnte man in diesen Jahren auch auf die Kinsey-Reports und ihre Aufsehen erregenden Statistiken über das Sexualleben der amerikanischen Frauen stoßen.18 Die Mediziner Leo Dembicki und Willy Feyerabend brachten sie 1954 sogar in einem eigenen Band Die Sexualität der 15 Zu den Scheidungsraten vgl. Statistik Austria, URL: (18.10. 2017); zu den Illegitimitäts- und Abtreibungsraten vgl. Weigl, Andreas, Demographischer Wandel und Modernisierung in Wien, Wien 2000, S. 316 ff.; zu den Einkommens- und Wohnverhältnissen vgl. Eder, Franz X., Vom wirtschaftlichen Mangel zum Konsumismus. Haushaltsbudgets und privater Konsum in Wien, 1918–1995, in: Dippelreiter, Michael et al. (Hgg.), Wien. Die Metamorphosen einer Stadt, Wien u.a. 2013, S. 218 ff. 16 Blaschitz, Edith, Der „Kampf gegen Schmutz und Schund“. Film, Gesellschaft und die Konstruktion nationaler Identität in Österreich, 1946–1970, Wien u.a. 2014, S. 38 f. 17 Blaschitz, Kampf gegen Schmutz, S. 82 f. 18 Vgl. Eder, Die lange Geschichte, S. 26 ff.
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Frau. Eine Auseinandersetzung mit Kinsey auf den Markt. Demnach seien die amerikanischen Ehen und Beziehungen seit dem Zweiten Weltkrieg von „sexuelle[r] Fitneß“19 geprägt. Durch den materiellen Wohlstand und die fortschreitende Emanzipation der Frau hätten die ehelichen Gemeinschaften dort „einen provisorischen, spielerischen und auf die Sexualität bezogenen Charakter“20 erhalten. USVerhältnisse könnte man – bei fortschreitender Amerikanisierung der europäischen Kultur – in naher Zukunft auch bei deutschen und österreichischen Frauen (und Männern) erwarten. In den USA könne man sehen, dass sich die „‚Sexualtechnik‘ gerade in den oberen Sozial- und Bildungsschichten immer mehr durchsetzt und dabei alle Momente persönlicher Liebesbeziehungen und Erotik zu verdrängen droht“.21 Statistische Vergleiche des Sexual- und Liebeslebens von US-Amerikanerinnen und westdeutschen sowie österreichischen Frauen – bei letzteren beiden musste man sich mangels Umfragen und Studien zumeist auf ‚Hochrechnungen‘ und Schätzungen stützen – eigneten sich bestens, um die Vor- und Nachteile der amerikanischen Sexualkultur zu bespiegeln.22 Im österreichischen Ehe- und Lebensratgeber 1x1 des glücklichen Lebens konnte man dazu folgende Gegenüberstellung finden: „Nur 22 Prozent der amerikanischen jungen Mädchen erreichen durch die vorehelichen Liebesspiele (petting) oder durch Onanie den Orgasmus, während diese Zahl nach verläßlichen Untersuchungen in der Steiermark und in Wien höher liegt (42 Prozent).“ Hingegen schnitten österreichische Frauen bei der Orgasmushäufigkeit in der Ehe schlechter ab, was den Autor Stefan Neiger zu dem Schluss kommen ließ: „Nach Kinsey sind aber die vorehelichen Orgasmuserfahrungen der Frau für die Orgasmusfähigkeit auch in der Ehe sehr wichtig! Das heißt, daß die österreichische Frau mit besseren Vorbedingungen in die Ehe kommt, aber dann vernachlässigt wird.“23 Solche mit Bewertungen und Prognosen gespickten Gegenüberstellungen führten dazu, dass auch hier die amerikanische Frau als das Andere der deutschen und österreichischen Frau und gleichzeitig als deren Zukunft gesehen wurde. Anhand der Statistiken ließ sich auch trefflich über die generelle politische, gesellschaftliche und kulturelle Situation und die zukünftige Ausrichtung diskutieren. Letztendlich gingen die Meinungen dann aber in ein und dieselbe Richtung: Sollten sich der American way of life und die Konsumgesellschaft durchsetzen, konnte man in Sachen Sexualität und Geschlechterrollen ebenfalls bald amerikanische Verhältnisse erwarten. ‚Fremde‘ Frauenimages fand man in den 1950er-Jahren nicht nur jenseits des Atlantiks, dazu konnte man auch auf die ‚laszive‘ Französin Brigitte Bardot zu19 Dembicki, Leo; Feyerabend, Willy, Die Sexualität der Frau. Eine Auseinandersetzung mit Kinsey, Stuttgart 1954, S. 191. 20 Ebd., S. 198. 21 Ebd., S. 259 f. Diese Meinung fand sich auch bei Popularisierern und Kommentatoren in anderen europäischen Ländern, vgl. Herzog, Dagmar, The Reception of the Kinsey Reports in Europe, in: Sexuality & Culture 10 (2006), H. 1, S. 40. 22 Vgl. Eder, Auf die ‚gesunde Sinnlichkeit‘, S. 38 ff. 23 Fischhof, Georg; Oerley, W. A. (Hgg.), 1x1 des glücklichen Lebens. Ein praktischer Wegweiser zum Erfolg im Alltag, Liebe und Erziehung, Frankfurt am Main 1956, S. 273.
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rückgreifen, die im deutschsprachigen Raum ebenfalls auf enormes Medieninteresse stieß: 1956 verkörperte sie in … und immer lockt das Weib (Et Dieu … créa la femme; F 1956; R: Roger Vadim) das 18-jährige Waisenmädchen Juliette, das von ihren sexuellen Begierden zu allen möglichen Exzessen getrieben wurde. Bardot stand für einen Frauentyp, der durch seine aktive Sexualität und überbordende Lebenslust permanent in Konflikte mit dem patriarchalen System geriet und trotzdem – oder gerade deswegen – die Männer reihenweise ins Verderben stürzte. Während die Pin-up girls und Hollywood Starlets letztendlich im Ehehafen landeten, war BB aber nicht für die Monogamie geeignet. An ihr ließ sich auch die Kluft zwischen christlichem Eheideal und der neuen „sexy“ Frau problematisieren: Letztere hatte wenig im Sinn mit den vier ‚Ks‘ – Kinder, Kirche, Küche, Konsum –, welche man den Ehegattinnen auferlegte. Genauso wenig entsprach sie den kirchlichen Imperativen der vor- und außerehelichen Enthaltsamkeit, der Einhegung der Sexualität in der Ehe und der Erfüllung des Fortpflanzungsimperativs. Im deutschsprachigen Raum repräsentierte ‚die‘ Französin Eigenschaften, die sie schon im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zum Ideal der ‚modernen‘ Frau gemacht hatten: Sie galt als selbstbewusst und ‚emanzipiert‘, konnte Haushalt und Beruf vereinigen, pochte in der Ehe auf ihre Rechte und besaß Erfahrungen in Verhütungsfragen – all dies brachte sie auf Augenhöhe mit ihrem Gatten und führte zur Realisierung der ‚französischen (Zwei-Kind-)Familie‘. Es verwundert nicht, dass man dieses Image in den 1950er-Jahren reaktivierte und die Femme fatale à la Brigitte Bardot als seine, wenn auch extreme Ausprägung interpretierte. Im Vergleich mit deutschen Frauen erschien es äußerst bedrohlich – etwa 1955 in einem Praline-Artikel, in dem es um weiblichen Charme im europäischen Vergleich ging: „Deutschen Charme und Innigkeit verkörpert Maria Schell, die in ihren Rollen stets das Herz und die Seele in den Vordergrund stellt. Sie ist die Idealfigur der jungen deutschen Bilderbuch-Frau mit viel Gemüt, Nettigkeit und einem Schuß Hilflosigkeit und Kameradschaft […]. Ihr krasses Gegenstück ist die skandalumwitterte Eva Bartok, die ihr Temperament, ihre Weiblichkeit spielen lässt. Sie ist ein burschikoser Vamp, eine, um französisch zu werden, femme fatale auch in ihrem Privatleben. Aber, Hand aufs Herz, so ein Pin-up-Bild schaut sich jeder gerne an, wenn sie gut gewachsen ist, die Dame, und nett aussieht. Sie muß aber mehr verspüren lassen, als nur Schönheit, und hier kommt’s auf den Charme an.“24 Bezeichnend war an dieser Passage nicht nur der Kurzschluss zwischen Vamp und Pin-up girl, sondern auch die Tatsache, dass man das französische Stereotyp problemlos auf die ungarisch-englische Schauspielerin Eva Bartok übertragen konnte. In den frühen 1950er-Jahren trat eine weitere ‚fremde‘ Frau auf die mediale Bühne Westdeutschlands und Österreichs: die Schwedin. Die Basis für das Image der sexuell „freien“ bzw. „freizügigen“ schwedischen Frau wurde mit Filmen wie Arne Mattssons Sie tanzte nur einen Sommer (Hon dansade en sommar; S 1951) und Ingmar Bergmans Die Zeit mit Monika (Sommaren med Monika; S 1952) gelegt. Beide Streifen zeigten nackte und sexuell aktive junge Frauen (und Männer), 24 Praline (April 1955), S. 39.
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die in Konflikt mit den rigid-konservativen Eltern(-Generationen) gerieten (im ersteren Fall) und sich mit den Schwierigkeiten von Elternschaft und Ehe (im zweiten) auseinandersetzen mussten. Besonders die Nacktbadeszenen in Mattssons Film wurden heftig debattiert. Für die Kommentatoren galten sie als Ausdruck des freien schwedischen Sexual- und Liebeslebens, das der menschlichen Natur ihren Lauf ließ und in das kaum durch gesetzliche und moralische Sanktionen eingegriffen wurde. Wenn sich in Mittel- und Westeuropa die gesetzlichen Rahmenbedingungen in diese Richtung veränderten, hätte man mit ähnlichen Verhältnissen zu rechnen. Das Time-Magazin veröffentlichte im April 1955 einen Artikel „Sin and Sweden“, in dem über die „offene“ Sexualaufklärung in Schweden und die frühen sexuellen Kontakte unter Jugendlichen berichtet wurde.25 Ab diesem Zeitpunkt mutierte Schweden zum sexuellen ‚Traumland‘ europäischer Journalisten, welche die (angeblich) freizügige Sexualkultur als direkte Auswirkung des „hohen“ Lebensstandards interpretierten. Einen weiteren Schritt zur Sexualisierung ‚der‘ Schwedin trug 1963 Ingmar Bergman mit seinem Film Das Schweigen (Tystnaden; S 1963) bei. Dort wurde die Sexualität als Substitut für mangelnde Liebesund Familienbeziehungen in einer kalten, beziehungslosen Welt inszeniert.26 Ein Gutteil der 10,5 Million deutschen Kinogänger, die den Streifen in den ersten 19 Monaten sahen, wollten aber vor allem die kurzen ‚Sexszenen‘ bestaunen – Episoden in einer Kirche und in einem Kino sowie das Gesicht einer masturbierenden Frau.27 Mit Verweis auf die schwedische Gesellschaft ließen sich die langfristigen Konsequenzen des liberalen Sexualstrafrechts genauso diskutieren wie die sexuellen Folgen des Wohlfahrtsstaates und der (Massen-)Konsumgesellschaft. Auch wenn die „freizügige“ Schwedin ein Stereotyp und die schwedische Gesellschaft der frühen 1960er-Jahre in Sachen Sexualität keineswegs liberal, sondern eher konservativ ausgerichtet war, galt „sexuelle Freiheit“ fortan als typisch schwedisches Markenzeichen.28 In einem Artikel der Neuen Illustrierten wurden 1965 die diesbezüglichen deutschen Sehnsüchte und Ängste artikuliert: „Wie frei sind Schwedens Frauen? Wenn das Wort ‚Schweden‘ oder gar ‚Schwedin‘ fällt, dann horchen viele Deutsche auf. Für die einen sind es Warnungssignale, für die anderen verführerische Musik. Der Durchschnittsdeutsche denkt an Nacktbaden, Un25 Vgl. Hale, Frederick, Time for Sex in Sweden. Enhancing the Myth of the „Swedish Sin“ during the 1950s, in: Scandinavian Studies 75 (2003), H. 3, 354 ff. 26 Vgl. Blaschitz, Kampf gegen Schmutz, S.132 ff. 27 Vgl. Faulstich, Werner, Das Schweigen. Ein Film schockiert Deutschland, in: Paul, Gerhard (Hg.), Das Jahrhundert der Bilder. 1949 bis heute, Göttingen 2008, S. 292; Steinbacher, Sybille, Sexualmoral und Entrüstung. Der Skandal um Ingmar Bergmans ‚Das Schweigen‘, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 38 (2010), S. 230 ff. 28 Vgl. Marklund, Carl, Hot Love and Cold People. Sexual Liberalism as Political Escapism in Radical Sweden, in: Nordeuropaforum. Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur 19 (2009), H. 1, S. 83 f.; Schröder, Stephan Michael, Mehr Spaß mit Schwedinnen? Funktionen eines deutschen Heterostereotyps, Humboldt-Universität zu Berlin 1996, Arbeitspapiere „Gemeinschaften“, Bd. 3.
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moral, Sex-Besessenheit, Alkoholmißbrauch, Herrschaft der Frauen, Flucht der Männer.“29 Worauf zielte der skizzierte Diskurs über die Images der ‚anderen‘ bzw. ‚fremden‘ Frau – der US-Amerikanerin, der Französin und der Schwedin? Erstens konnte man mit diesen Images ein gutes Stück weit über die ‚eigene‘ Sexual- und Geschlechterkultur hinausblicken. Unter Hinweis auf die ‚Andere‘ ließen sich halbnackte Frauenkörper in die Zeitschriften und auf die Kinoleinwand bringen sowie erregende Geschichten über ihr Verhältnis zu Männern erzählen. All das verkaufte sich hervorragend, und um Umsatzzahlen ging es bei diesen Medienprodukten zuallererst. Zweitens verhinderten die „Schmutz- und Schundgesetze“ bis Mitte der 1970er-Jahre, dass „unzüchtige“ Texte, Bilder und Filme offiziell in die Zeitschriftenläden, Buchgeschäfte und Kinos kamen. Indem man in ‚objektiven‘ Reports, Umfragen und Studien über ausländische und fremde Sexualpraktiken berichtete und dabei keine allzu explizit sexuellen, geschweige denn pornografischen Anspielungen machte, konnte man auf diesem Wege der Strafverfolgung entgehen. Auch unter dem Deckmantel der (sexuellen) Aufklärung und eines medizinisch-pädagogischen Impetus konnten dann Themen angesprochen werden, die sich knapp an der Zensurgrenze bewegten. Drittens kreiste der vorgestellte Diskurs nur vordergründig um ‚fremde‘ bzw. ‚andere‘ Frauenimages. Eigentlich ging es den Diskursproduzenten um die Sexualität und Genderrollen der deutschen und österreichischen Frauen und um ihren Platz in Partnerschaft, Ehe und Familie sowie um ihren Anteil am Arbeitsleben, an der Öffentlichkeit und Gesellschaft. Anhand der (stereo-)typisierten USamerikanischen, französischen und schwedischen Frauenimages konnte man durchspielen, wohin die Entwicklung führte, wenn sich auch hierorts Wirtschaftswunder und Wohlstandsgesellschaft durchsetzten und es zur Emanzipation der Frau kam. Wobei sich die (männlichen) Diskursträger durchaus gespalten zeigten: Einerseits befürchteten sie durch Emanzipation und Sexualisierung bedeutende Nachteile für das eigene Geschlecht. Die moderne Frau sei zu selbstbestimmt und egozentrisch, wenig liebes- und familienorientiert, sie bestünde auf ihrer Berufstätigkeit und sähe im Mann einen Partner auf gleicher Augenhöhe. All dies galt in den 1950er- und frühen 1960er-Jahren als bedrohliches Szenario für die (klein-)bürgerliche Familie und patriarchale Vorrechte. Auf der anderen Seite konnten die Autoren kaum den erotischen und sexuellen Verlockungen dieser imaginierten Frauentypen widerstehen und ließen ihren Fantasien in Bildern und Texten (fast) freien Lauf. Wohl unbeabsichtigt trugen sie auf diesem Wege dazu bei, dass sich diese sexuellen Images und Geschlechterrollen in den späten 1960er- und vor allem in den 1970er-Jahren (zumindest teilweise) realisierten. Die (west-)europäischen Dimensionen der hier für den deutschsprachigen Raum diskutierten ‚fremden‘ Sexual- und Frauenimages sind nicht zu übersehen.30 Anhand solcher Images wurde in den 1950er- und 1960er-Jahren auch über 29 Liffers, D., Wie frei sind Schwedens Frauen, in: Neue Illustrierte (1965), H. 19, S. 12. 30 Vgl. Herzog, Dagmar, Sexuality in Europe. A Twentieth-Century History, Cambridge 2011, S. 96 ff.
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die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der europäischen Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme, über deren Wertekanon und Vorbildcharakter debattiert – und auch über die Vor- und Nachteile der US-amerikanischen Kultur und den American way of life. Am deutlichsten kam dies wohl in der Diskussion über die „Schwedische Sünde“ zum Ausdruck, die in vielen westeuropäischen Ländern geführt wurde.31 Schweden galt als das Land, in dem besonders viele sexuell permissive Frauen lebten – eine Entwicklung, die in anderen Ländern, die diesen Pfad einschlugen, ebenfalls erwartet bzw. befürchtet wurde. Italien, Spanien, Portugal und Österreich wiederum standen für Kulturen, die man nach wie vor unter dem Einfluss der katholischen Kirche sah – auch wenn man sich im Sexualdiskurs, wie das vorgestellte Quellenbeispiel demonstriert, schon längst Gedanken über neue Geschlechterrollen und Sexualimages machte. Nationale Zuschreibungen von sexuellen Stereotypen wie der ‚prüden Engländerin‘ und der ‚toleranten Holländerin‘ bauten dabei auf teils jahrzehnte-, wenn nicht jahrhundertealte Traditionen auf und wurden nach dem Zweiten Weltkrieg europaweit diskutiert. In England und der Bundesrepublik Deutschland hielt sich nach dem Krieg das relativ junge Image des übersexualisierten US-amerikanischen Soldaten – er galt als „overpaid, oversexed, and over here“32 – und führte dazu, dass man die KinseyReports genauso kritisch beäugte wie die „cheesecake photos“ (Pin-up-Fotos), die mit Magazinen wie Razzle, Flirt und bald auch Playboy über den Atlantik schwappten.33 Debatten wie diese fanden primär in den westeuropäischen Ländern statt bzw. in jenen Ländern, die unter dem Einfluss der Westernisierung und Amerikanisierung standen. Selten, aber doch tauchten dabei auch Frauenimages aus anderen ‚Kontinenten‘ auf – beispielsweise die ‚schwarze Frau‘, die mit den Verheißungen einer naturnahen, atavistischen Sexualität winkte und gleichzeitig Assoziationen mit einer kulturlosen und außer Rand und Band geratenen Gesellschaft hervorrief, die man noch aus den Kriegs- und Nachkriegsjahren kannte. Eine markante Leerstelle des Diskurses sollte dabei nicht übersehen werden: Wenn in den westeuropäischen Medien dieser Zeit über aktuelle und zukünftige Frauen- und Sexualimages diskutiert wurde, spielten die sozialistischen und kommunistischen Länder Ost- und Südosteuropas mehr oder weniger keine Rolle. Verirrte sich dennoch einmal eine „Arbeiterin“ aus der DDR oder der Sowjetunion in ein Magazin, wurde sie einer ‚ethnografischen‘ Betrachtung unterzogen, die klarmachte, dass es sich hier um keine ‚realistische‘ Option für die Frauen (und Männer) im ‚Westen‘ handelte.
31 Vgl. Lennerhed, Lena, Friheten att njuta. Sexualdebatten i Sverige på 1960-talet, Stockholm 1994; Hale, Time for Sex in Sweden. 32 Hall, Lesley A., Sex, Gender and Social Change in Britain since 1880, London 2000, S. 127. 33 Meyerowitz, Joanne, Women, Cheesecake, and Borderline Material. Responses to Girlie Pictures in the Mid-Twentieth-Century U.S., in: Kennedy, Kathleen; Ullman, Sharon R. (Hgg.), Sexual Borderlands. Constructing an American Sexual Past, Columbus, Ohio 2003, S. 320 ff.
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Literaturhinweise Buszek, Maria Elena, Pin-Up Grrrls: Feminism, Sexuality, Popular Culture, Durham u.a. 2006. Eder, Franz X., Die lange Geschichte der ‚Sexuellen Revolution‘ in Westdeutschland (1950er bis 1980er Jahre), in: Bänziger, Peter-Paul; Eder, Franz X.; Eitler, Pascal; Beljan, Magdalena (Hgg.), Sexuelle Revolution? Zur Geschichte der Sexualität im deutschsprachigen Raum seit den 1960er Jahren, Bielefeld 2015, S. 25–61. Heineman, Elizabeth D., Before Porn was Legal. The Erotica Empire of Beate Uhse, Chicago 2011. Herzog, Dagmar, Sexuality in Europe. A Twentieth-Century History, Cambridge 2011.
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Q Quelle „Die Wahrheit übber die Pin-uup-Girls“ (1 1951)34
344 Die Wahrrheit über diee Pin-up-Girl s, in: Cocktaiil (1951), H. 11, S. 24–266. Die Quelle ist online erschienen im Themenporta T al Europäisch he Geschichte, URL: .
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ROTE LIPPEN SOLL MAN KÜSSEN DEUTUNGEN EUROPÄISCHER SCHÖNHEITSPRAKTIKEN UM 19601 Detlef Siegfried Eine der vielen Analysen des Konsumverhaltens, wie sie der kombinierte Aufstieg von Massenkonsum und empirischer Sozialforschung in den 1960er-Jahren hervorbrachte, widmete sich unter anderem dem Gebrauch von Schönheitsmitteln im europäischen Vergleich. Wie so häufig wurde auch diese Konsumstudie von einer Zeitschrift in Auftrag gegeben, um gezielter Werbeanzeigen akquirieren zu können. Da es hier um das Kerngeschäft der Kunden ging, war Verlässlichkeit wichtig, sodass derartige Studien, durchgeführt von etablierten Meinungsforschungsinstituten, in der Regel keine Reliabilitätsprobleme aufwiesen. Wie die großen Untersuchungen etwa im Auftrag des Spiegel oder der BRAVO erfassten sie zumeist das Konsumverhalten im nationalen Maßstab, da nahezu alle Publikumszeitschriften an den Grenzen ihrer Länder endeten.2 In diesem Falle allerdings war sie von einem der wenigen internationalen Massenblätter in Auftrag gegeben worden, der Zeitschrift Reader’s Digest, die seit 1922 zunächst in den USA, seit 1938 in Europa (in Großbritannien, ab 1946 in Dänemark, ab 1948 unter dem Titel Das Beste aus Reader’s Digest in der Bundesrepublik Deutschland und der Schweiz, ab 1952 in Österreich) und darüber hinaus verlegt wurde. Anfang der 1960er-Jahre, als die Untersuchung erschien, gab es 40 nationale Ausgaben dieses Periodikums in 13 Sprachen, es war die meist verbreitete Zeitschrift unter anderem in Kanada, Mexiko, Spanien und Schweden mit 23 Millionen Exemplaren Auflage weltweit.3 In ihrer „Sieben-Länder-Untersuchung“, vorgenommen im Auftrag von Reader’s Digest London, wurde im Januar und Februar 1963 vergleichend in Belgien, der Bundesrepublik, Frankreich, Holland, Italien, Luxemburg und England das Konsumverhalten der Bevölkerung und speziell der Reader’s-Digest-Leser untersucht.4 Erfragt wurden, differenziert nach Bildung, Beruf, Alter und Geschlecht, 1 2 3
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Essay zur Quelle: „Sieben-Länder-Untersuchung“ der Zeitschrift Reader’s Digest (1963). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Vgl. z.B. Spiegel-Verlag (Hg.), Männer und Märkte. Besitz, Konsum und Informationsverhalten der männlichen Bundesbevölkerung, Bde. 1–5, Hamburg o.J. [1969]; BRAVO-EinkaufsPanel. Jahresband 1968/69, München 1969. Sharp, Joanne P., Condensing the Cold War. Reader’s Digest and American Identity, Minneapolis u.a. 2000; Segal, David, A Reader’s Digest That Grandma Never Dreamt of, in: The New York Times, 19.12.2009, online verfügbar unter der URL: (02.11.2017). Gedruckte Zusammenfassung auf Deutsch: Noelle-Neumann, Elisabeth, Sieben-LänderUntersuchung, Düsseldorf 1963; Detaillierte Daten finden sich in: Das Beste aus Reader’s
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zum Beispiel Besitzstände und Verwendung von Fahrzeugen, elektronischen Geräten, Fotoapparaten, absolvierte und geplante Reisen, Kinobesuch – und die Verwendung von Kosmetika, die im Folgenden im Mittelpunkt stehen soll. In diesem Segment wurden Besitz und Gebrauch von Gesichts- und Hautcremes, Puder, Parfum, Mundwasser, Deodorant etc. erhoben. Ich konzentriere mich auf den Lippenstift, weil er in diesen Jahren im Mittelpunkt einer kontroversen, aber national offenbar unterschiedlich stark ausgeprägten Debatte um die Legitimität körperlicher Schönheit insbesondere junger Frauen stand. Hier sind die Ergebnisse der „Sieben-Länder-Untersuchung“ tatsächlich erstaunlich: Lippenstift benutzten 73 Prozent der Engländerinnen, 66 Prozent der Luxemburgerinnen, 62 Prozent der Holländerinnen, 58 Prozent der Französinnen, 51 Prozent der Belgierinnen, aber nur 38 Prozent der westdeutschen Frauen, die lediglich von den Italienerinnen mit 25 Prozent noch unterboten wurden.5 Differenziert man nach sozialem Hintergrund, dann zeigt sich, dass, entgegen einem verbreiteten Vorurteil, „untere Schichten“ schlechter ausgestattet waren als „obere“ – lediglich in Frankreich spielte die soziale Lage keine Rolle. Differenziert man nach dem Alter, dann wird sichtbar, dass die jüngeren Befragten – hier wurde das 40. Lebensjahr als Grenze genommen – zu erheblichen Teilen stärker Lippenstift benutzten als die über 40-jährigen, nämlich um die 30 Prozent mehr, mit Ausnahme von Italien, wo der Unterschied sehr viel geringer war, nämlich 24 Prozent bei den älteren, 29 Prozent bei den jüngeren Frauen. So zeigt sich auch hier, dass der Wandel der Einstellungen zum Konsum in Europa oftmals als „Generationsgegensatz erfahren“ wurde.6 Dennoch blieben nationale Unterschiede beim Anteil der Nutzerinnen von Lippenstift auch innerhalb der jüngeren Befragtengruppe erhalten – mit England (93 Prozent) an erster, der Bundesrepublik (64 Prozent) an vorletzter Stelle. Wie kamen derartige Diskrepanzen zustande? Großbritannien war zur Speerspitze von Jugendmode und moderner Jugendkultur in Europa schon in den 1950er-Jahren geworden, nicht zuletzt, weil junge Frauen in sehr viel stärkerem Maße als zuvor in die neu entstehenden Jobs in Büros und Konsumgüterindustrie einrückten und ihr neues Selbstbewusstsein auch in ihren kulturellen Präferenzen öffentlich zum Ausdruck brachten. In seiner bekannten Studie von 1965 konstatierte Peter Laurie7, die eigentliche Triebkraft der „Teenage Revolution“ sei das anonyme „Teenage girl“ gewesen, denn die Konsumgüterindustrie stellte ihr Warenangebot für „Bekleidung, Schallplatten und Kosmetik“ in erster Linie auf die gut verdienenden jungen Frauen ab.8 Dass der in Großbritannien früh aufkommende weibliche „Teenager“ als Idealtypus des konsumorientierten Gegenwartsjugendlichen betrachtet wurde und sich unter anderem durch den Gebrauch von Kosmetik auszeichnete, legt eindrucksvoll eine Deutung
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Digest (Hg.), Menschen und Märkte. Expertenband mit ergänzenden Tabellen und Kommentaren zur „Sieben-Länder-Untersuchung“, o.O. 1964, Fundort: Zentralarchiv für empirische Sozialforschung, Köln, Digital Optic Identifier: 10.4232/1.0122. Noelle-Neumann, Sieben-Länder-Untersuchung, S. 5. Kaelble, Hartmut, Sozialgeschichte Europas. 1945 bis zur Gegenwart, München 2007, S. 94. Laurie, Peter, The Teenage Revolution, London 1965. Zitiert nach Osgerby, Bill, Youth in Britain since 1945, Oxford 1998, S. 52.
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im New Statesman von 1964 nahe, in der eine konservative Stimme die Massen weiblicher Fans beim Auftritt der Beatles beschrieb: „Große Gesichter, aufgebläht von billigen Süssigkeiten und eingeschmiert mit Discounter-Makeup, die offenen, durchhängenden Münder und glasigen Augen, die Hände stumpfsinnig zur Musik trommelnd, die abgebrochenen Stiletto-Absätze, die schäbigen, gleichförmigen angesagten Kleider: hier zeigt sich offensichtlich ein kollektives Bild einer von einer kommerziellen Maschine versklavten Generation.“9 Derartige Vorurteile, die in Großbritannien allmählich in die Minderheit gerieten, beherrschten in Italien noch weit in die 1960er-Jahre hinein die öffentliche Meinung. Aufgrund der begrenzten Industrialisierung, des Nord-Süd-Gefälles und der bedeutenden Rolle der katholischen Kirche lag das Land im europäischen Vergleich weit zurück und erlebte eine nachholende Modernisierung nicht nur im Hinblick auf die Versorgung mit Konsumgütern, sondern auch in den kulturellen Präferenzen erst im Laufe der 1960er-Jahre. Ein Faktor dafür war, dass der große Einfluss der katholischen Kirche auf den Alltag und die Erziehungsstile der Bevölkerung restriktivere Verhaltensnormen beförderte. Zwar konstatierte das italienische Magazin Epoca 1961, dass sich die „Gebräuche, Ideen und Bekleidung“ wandelten und postulierte: „Tabus fallen: Die italienische Frau hat den Sex entdeckt“, doch galt das nicht für den Süden des Landes und ebenso wenig für Teenager.10 Mitte der 1960er-Jahre hatten Tabus und Vorurteile innerhalb der noch mit starker Bindekraft ausgestatteten traditionellen sozialmoralischen Milieus in Familie, Dorf und Religionsgemeinschaft erheblichen Einfluss auf das Leben von Jugendlichen, selbst wenn auch unter ihnen die Abenteuerlust zunahm. Schon anhand dieser knappen Skizzen wird sichtbar, dass die Zahlen der empirischen Sozialforschung Anhaltspunkte zur Gewichtigung von Zeiterscheinungen geben können. Sie sind eine wichtige Quelle, um deren gesellschaftliche Relevanz erfassen zu können, wobei auch hier quellenkritische Vorbehalte zu berücksichtigen sind: Wer fragt? Welche impliziten Annahmen steuern die Fragen? Was wird nicht gefragt und gerät daher gar nicht erst in den Blick? Dennoch handelt es sich um unverzichtbare Quellen, um die Verbreitung sozialer Praktiken zu rekonstruieren. Allerdings können sie sie nicht erklären. Im Folgenden soll am Beispiel der Bundesrepublik anhand anderer quantitativer sowie qualitativer Quellen die Vielschichtigkeit der möglichen Einflussfaktoren etwas genauer bestimmt werden. In Westdeutschland repräsentierten weibliche Teenager als Konsumentinnen das hedonistisch konturierte Gegenmodell zum allgemein propagierten Ideal der 9
Zitiert nach ebd., S. 59. Zum Begriff des „Teenagers“ für die USA siehe Douglas, Susan J., Where the Girls Are. Growing Up Female with the Mass Media, New York 1994; Palladino, Grace, Teenagers. An American History, New York 1997; für Großbritannien Savage, John, Teenage. The Creation of Youth Culture, London 2007; für die Bundesrepublik Maase, Kaspar, BRAVO Amerika. Erkundungen zur Jugendkultur der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren, Hamburg 1992, S. 158 ff.; Poiger, Uta G., Jazz, Rock, and Rebels. Cold War Politics and American Culture in a Divided Germany, Berkeley u.a. 2000, S. 190 ff. 10 Zitiert nach Marwick, Arthur, The Sixties, Cultural Revolution in Britain, France, Italy, and the United States, c.1958–c.1974, Oxford 1998, S. 93. Das Folgende S. 389.
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Wirtschaftswunder-Verbraucherin – jener rational konsumierenden Hausfrau, die den Verführungen des Wohlstands durch Kontrolle entgegentrat und ihr Potential auf die Familie konzentrierte.11 Im Gegensatz zu Hausfrauen, die durch Ehe und Mutterschaft gebunden waren, zeichneten sich Teenager durch relative Freiheit und die Erwartung sexueller Verfügbarkeit aus. Dieses Merkmal war durch ihren gesellschaftlichen Status bedingt, spielte aber auch in den Zuschreibungen durch Erwachsene, Medien und Politik ebenso wie in der Selbstwahrnehmung eine zentrale Rolle.12 Kosmetik und Kleidung dienten dazu, körperliches Kapital möglichst optimal zur Geltung zu bringen, ohne die Grenzen des Akzeptablen allzu weit zu überschreiten. Wie sehr die „Lifestyle Revolution“ die Lebensbedingungen von Mädchen veränderte, ohne dass dieser Vorgang eine im klassischen Sinne politische Dimension hatte, erkannte schon die zeitgenössische Sozialforschung. In ihrer 1964 veröffentlichten Untersuchung über 14- bis 18-jährige Mädchen sprach Edith Göbel von einer „Revolution”, „die jedoch weniger durch laute Proteste und Opposition hervorgerufen wurde als vielmehr durch das Aufgreifen der Möglichkeiten, die die veränderten Umweltverhältnisse den Mädchen heute bieten”.13 Dieser Emanzipationsvorgang ging als allmählicher Übergang vonstatten, bei dem die Bindekraft der Tradition noch stark war und eher Mischungsverhältnisse als klare Sprünge zu verzeichnen sind. Während junge Frauen zunehmend eine Berufsausbildung planten und in ihrer Freizeit allmählich selbstständiger agierten, übten sie gleichzeitig traditionelle Rollenmuster im Geschlechterverhältnis ein und sparten für die Aussteuer. Die Ergebnisse der zeitgenössischen empirischen Sozialforschung zeigen, dass Mädchen sehr viel stärker als Jungen unter der Kontrolle des Elternhauses standen und Emanzipationskonflikte auszutragen hatten. Häufiger als ihre männlichen Altersgenossen sahen sie die häusliche Stimmung als „gespannt” an.14 Göbels Untersuchung lässt keinen Zweifel, dass die zentrale Konfliktlinie in der Beziehung zum männlichen Geschlecht und ihren möglichen Folgen lag. In dieser Frage waren Eltern am unzugänglichsten – der Zwang zur Häuslichkeit und Interventionen an der äußeren Erscheinung leitet sich unmittelbar aus dem Bedürfnis ab, außerhäusliches Vergnügen und attraktive Körperlichkeit einzudämmen.15 Andererseits nahmen Teenager die Brüchigkeit des Normensystems wahr, mit dem die Nachkriegsgesellschaft den sozialen und kulturellen Umwälzungen begegnete. Göbel registrierte eine hohe Sensibilität für „die Verlogenheit einer Moral, die sich nach außen hin tugendhaft gebärdet, im Innersten aber doch Unbeherrschtheit und Sittenlosigkeit birgt”.16 Ein genauerer Blick zeigt, dass die Konflikte über äußeres Erscheinungsbild und Ausgehzeiten nach dem 11 Carter, Erica, How German Is She? Postwar West German Reconstruction and the Consuming Woman, Ann Arbor 1997, S. 232 ff. 12 Grace Palladino, Teenagers: An American History, New York 1997. 13 Göbel, Edith, Mädchen zwischen 14 und 18. Ihre Probleme und Interessen, ihre Vorbilder, Leitbilder und Ideale, und ihr Verhältnis zu den Erwachsenen, Hannover 1964, S. 20. 14 Pfeil, Elisabeth, Die 23jährigen. Eine Generationsuntersuchung am Geburtsjahrgang 1941, Tübingen 1968, S. 102 f. 15 Göbel, Mädchen, S 361 ff. 16 Ebd., S. 366.
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Alter und dem Grad der formalen Bildung erheblich variierten. Kürzere Schulbildung und finanzielle Unabhängigkeit im jungen Alter bescherten insbesondere ungelernten Arbeiterinnen, die nach dem Hauptschulabschluss eine Erwerbstätigkeit aufnahmen, schon als Teenagern frühe Selbstständigkeit, während sich im anderen Extrem Gymnasiastinnen und Studentinnen häufig noch bis zur Heirat in familiärer Abhängigkeit bewegten. Typisch für die sozialen Diskrepanzen sind zwei Interviewaussagen, die Carola Atkinson 1964 unter 23-jährigen Frauen aufzeichnete. Während eine ungelernte Arbeiterin betonte, ihre Mutter sei froh gewesen, als sie „selbstständig wurde. Sie behandelte mich ab 16–17 Jahre als Erwachsene”17, hatten die größten Probleme bei der Emanzipation vom Elternhaus Studentinnen, die bei Atkinsons Befragung zu zwei Fünfteln über Behinderungen klagten. Eine Studentin erinnerte sich, dass es seit ihrem 17./18. Lebensjahr Konflikte gegeben habe: „Ich wollte nicht bevormundet werden; wollte auf eigenen Füßen stehen, für mich selber sorgen; mein Leben selber aufbauen, mich selber einrichten mit meinen Interessen, wollte ein eigenes Zimmer haben.” Das Emanzipationspotential, das die Konsumgesellschaft jungen Frauen zur Verfügung stellte, lässt sich genauer ausloten anhand des Gebrauchs von Kosmetik und modischer Kleidung, die „die Tendenz nach sozialer Egalisierung mit der nach individueller Unterschiedenheit und Abwechslung in einem einheitlichen Tun zusammenführt[e]“.18 An diesen Konsumgegenständen waren junge Frauen besonders stark interessiert, und weil die häufig ungelernt erwerbstätigen weiblichen Teenager mehr verdienten als ihre mehrheitlich in der Berufsausbildung befindlichen männlichen Altersgenossen, tat sich hier für die Konsumgüterindustrie ein vielversprechender Markt auf. Für die Modeindustrie war Alter ein wesentliches Kriterium. Sie versuchte ihren Absatz zu steigern, indem sie Jugendlichkeit herausstellte. Während der traditionelle Begriff von Schönheit an sozialen Status und Reichtum gekoppelt war, der rein körperliche Aspekt hingegen als oberflächlich galt, stieg physische Schönheit seit den 1950er-Jahren zu einem autonomen Statusmerkmal auf, das die Grenzen von Geschlecht, sozialer Lage, ethnischem Hintergrund oder Bildungsstand tendenziell überstieg.19 Dieser durch die Kulturindustrie vermittelte Wandel begünstigte die jungen Altersgruppen ganz besonders, weil verbesserte Ernährung und Gesundheitsfürsorge ein gedeihliches Körperwachstum beförderten – ein Faktum, das unter dem biologistisch diskutierten Begriff der körperlichen „Akzeleration“, also der Entwicklungsbeschleunigung bei Jugendlichen, im Zentrum der bis weit in die 1960er-Jahre hinein virulenten Bedrohungsdiskurse stand.20 Kosmetik und Kleidung waren Mittel, auf diesem Gebiet zu reüssieren und jene körperlichen Attribute besonders zur Geltung zu bringen, die als vorteilhaft galten. Auf den Gebieten von Schönheit und Sexualität 17 Dies und das Folgende: Pfeil, 23jährige, S. 107. 18 Simmel, Georg, Philosophie der Mode (1905), in: Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd. 10, Frankfurt am Main 1995, S. 9–37, hier S. 11. 19 Dazu ausführlich Marwick, Sixties, S. 404 ff. 20 Vgl. den zeitgenössischen Forschungsüberblick: Lenz, Widukind; Kellner, Hellmut, Die körperliche Akzeleration, München 1965.
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konnte Körperkapital durch Auswahl und Stilgefühl nicht mehr nur bei festlichen Gelegenheiten, sondern in den sozialen Nahräumen des Alltags ausgespielt werden – in der Schule und am Arbeitsplatz. Angebotsvielfalt und finanzielle Ausstattung boten grundsätzlich die Möglichkeit, sich im Alltag einer Conny Froboess, Jean Seberg oder Twiggy anzuverwandeln. Figurbetonte Kleidung und die Akzentuierung von Augen und Lippen hoben bestimmte körperliche Merkmale hervor, allerdings zumeist so dezent, dass ein Vergleich mit stark sexualisierten Medienstars wie Marilyn Monroe oder Brigitte Bardot ausgeschlossen war. Doch wirkten in Deutschland noch Traditionen nach, die dem Schminken ablehnend gegenüber standen. Sie waren nicht nur kirchlichen Ursprungs, sondern kamen auch etwa aus der Jugendbewegung, und im „Dritten Reich“ hatte die NSDAP-Parole „Die deutsche Frau schminkt sich nicht!“ eine ästhetische Norm gesetzt.21 In den 1960erJahren kam eine europäische Vergleichsuntersuchung zu dem Ergebnis, dass deutsche Mädchen Make-up häufig ablehnten und „Natürlichkeit” forderten.22 Gerade weil selbst eine sachte Variation des in Deutschland besonders verbreiteten Natürlichkeitspostulats oft lautstarke Kritik hervorrief, bot die gemäßigte Verwendung von Kosmetika und modischer Kleidung minderjährigen Frauen eine Möglichkeit, ihrer Sexualität Ausdruck zu verschaffen. Insbesondere in den frühen 1960er-Jahren barg die Frage, ob und zu welchen Gelegenheiten minderjährige Mädchen sich schminken durften, erheblichen Konfliktstoff im Elternhaus ebenso wie in der Öffentlichkeit. Geschminkte Augen und Lippen, lackierte Fingernägel galten als Signalement der sexuellen Verführung, als Statement gegen die Ideologie des Aufsparens, an ihnen machte sich in einer spezifisch deutschen Optik die Differenz von „Kultur“ und „Zivilisation“ fest. Ebenso wie die Usancen der Bekleidung war auch der Gebrauch von Kosmetika abhängig von Sozialfaktoren wie Einkommen, Region und Alter. Auch auf diesem Gebiet kollidierten die Bedürfnisse und Anforderungen von Hausfrauen, deren sozialer Raum in erster Linie die Familie darstellte, mit denen des Teenagers, der sich in der Schule oder am Arbeitsplatz täglich der Konkurrenz der Stile ausgesetzt sah. Erst seit der Mitte der 1960er-Jahre wurde in der Bundesrepublik das Natürlichkeitsideal ernsthaft in Frage gestellt – vor allem durch den erfolgreichen Emanzipationskampf junger Frauen, der an dieser Stelle auf stärksten Widerstand stieß. Neben Musik war Kosmetik noch vor der Bekleidung das wichtigste Terrain für die Herausbildung eines spezifisch jugendlichen Stils, aber im Gegensatz zur Musik fochten junge Frauen auf diesem Gebiet weitgehend allein. Das Alter war eine wesentliche Scheidelinie für die Benutzung von Schönheitsmitteln. Die Kosmetikindustrie stellte sich auf den jungen Markt ein, indem sie spezielle Produkte für junge Frauen anbot – leicht parfümierte und in sehr hellen Farben gehal21 Der Spiegel, 4.3.1968; vgl. Poiger, Uta G., Fantasies of Universality? Neue Frauen, Race, and Nation in Weimar and Nazi Germany, in: Weinbaum, Alys Eve et al. (Hgg.), The Modern Girl Around the World. Consumption, Modernity, and Globalization, Durham u.a. 2008, S. 317–346. 22 Lutte, Gérard et al., Leitbilder und Ideale der europäischen Jugend, Ratingen u.a. 1970, S. 134 ff.
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tene Lippenstifte etwa, die Jugendlichkeit betonten und sexuelle Konnotationen zurücknahmen.23 Gut zehn Jahre später war der Gebrauch von Kosmetika auch unter ganz jungen Frauen nicht mehr nur Ausnahme, sondern gehörte zum allgemein üblichen Repertoire der Selbstdarstellung. 1974 verwendeten 83 Prozent der 14- und 15-jährigen Mädchen Lippenstift – davon 28,6 Prozent täglich –, im Alter von 20 bis 22 Jahren lag der Anteil bei 91,8 Prozent, unter ihnen waren 51,7 Prozent tägliche Benutzerinnen.24 Dass mit dem Gebrauch „überflüssiger“ Kosmetika nicht nur ein kommerzieller Markt stimuliert und Stilbildung betrieben, sondern auch ein anthropologisches Ideal infrage gestellt wurde, zeigten nicht zuletzt die ambivalenten Reaktionen der Gesellschaft. Sie lassen sich an einem Vorgang veranschaulichen, der 1963 eine bayerische Kleinstadt in Aufregung versetzte und von einem Blatt des Jugendschutzes zu einem repräsentativen Kulturkampf aufgewertet wurde.25 Die Schulkonferenz der Regener Mittelschule hatte die Verwendung von Schminke, Lippenstift und Nagellack verboten, begründet mit der angeblich ökonomisch verursachten Konkurrenzsituation, die derartige Praktiken unter den Schülerinnen schaffen würden: Lippenstift und Make-up waren Statusmerkmale, die über soziale Chancen in der Schülergruppe entschieden und das Sachlichkeits- und Gleichheitspostulat der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ unterliefen. „Unsere Tochter wollte schon gar nicht mehr zur Schule gehen, weil sie sich immer zurückgesetzt fühlte. Dabei haben wir doch wirklich kein Geld für diesen Firlefanz!“, erklärte eine Verteidigerin dieses Beschlusses, während Kritiker meinten, die Schule behinderte die freie Entfaltung der Persönlichkeit und verstieße damit gegen das Grundgesetz. In diesem mit viel Verve ausgetragenen Streit zwischen einem gemeinschaftlichen und einem individualistischen Ideal, „innen-“ und „außengeleitetem“ Individuum, Rationalismus und Hedonismus schälten sich die Grenzen des Akzeptablen deutlich heraus: Während für die einen die freie Entfaltung ihrer Töchter im Mittelpunkt stand, verkörperte das Ideal der anderen jener Teenager, der „flott“ und „adrett“, aber nicht geschminkt war und Individualismus über „innere Werte“ und „natürliche“ Ausstrahlung ausdrückte. Für sie waren Lippenstift und Lidschatten als Alltagskosmetika höchstens akzeptabel, wenn sie nach dem Abschluss von Schule und Berufsausbildung in den Bewährungsräumen der Erwachsenenwelt, am außerhäuslichen Arbeitsplatz, eingesetzt wurden. Für Schülerinnen jedoch wurden sie bestenfalls bei ganz besonderen Anlässen in kontrollierten Situationen zugelassen – etwa in den Tempeln der Hochkultur, wie der Ruf ins Volk, die Zeitschrift des Jugendschutzes, eine 16-jährige Ria verkünden ließ: Schminke „natürlich nur abends. Wenn ich mit meinen Eltern ins Theater fahre, hat niemand etwas dagegen“. Wie umstritten der Gebrauch von Kosmetika war, wie massiv manche Eltern – speziell Väter – dagegen vorgingen, zeigen Aussagen von Töchtern, die im Rahmen konsumpsychologischer Untersuchungen 23 Heinig, Joachim, Teenager als Verbraucher, Diss., Nürnberg 1962, S. 120. 24 Institut für Jugendforschung, Bravo Jugend-Panel. Langzeituntersuchung. Ergebnisse einer Marktuntersuchung, Bd. 1, München 1974, S. 23 ff. 25 Ruf ins Volk. Monatsschrift für Volksgesundung und Jugendschutz, (1963), H. 12, S. 1 ff.
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aufgenommen wurden: „Mutter hat geschimpft, Vater hat mich deswegen geschlagen“, „Vater hat mich acht Tage nicht angeschaut wegen dem Lippenstift“, und „Vater wollte deswegen meine Bürostelle in der Stadt kündigen“.26 Trotz derartiger Repressionen gewann die von traditionalistischen Kritikern so verachtete „Oberfläche“ der körperlichen Schönheit im Laufe der 1960er-Jahre immer mehr Bedeutung als autonomes Statusmerkmal. Nicht nur die enorme Zuwachsquote bei der Produktion von Kosmetika, die in der Bundesrepublik zwischen 1963 und 1968 75 Prozent betrug, ist ein Indikator für diesen Wandel.27 Gleichzeitig differenzierte sich das Spektrum dessen, was als „schön“ erachtet werden konnte, so weit aus wie nie zuvor. Auch das wachsende Selbstbewusstsein, mit dem Teenager ihr Äußeres modifizierten, verweist nicht nur auf gewandelte subjektive Darstellungsbedürfnisse, sondern auch auf die zunehmende gesellschaftliche Akzeptanz hedonistischer Elemente, darunter auch Sexualität. 1967 erklärten 78 Prozent von ihnen, sie legten „viel Wert darauf, sich schick zu machen“, während „Natürlichkeit“ als Autostereotyp mit 31 Prozent abgeschlagen, aber auch alles andere als irrelevant war.28 Selbst die Entscheidung gegen das „Schicke“ und für einen „authentischen“ Stil, wie er in der Alternativkultur als Kritik am überkommenen Formalismus und dem vermeintlichen Diktat der Konsumindustrie bevorzugt wurde, war eine von vielen Varianten ästhetischen Individualismus’. Dies zeigte sich auch in der Frauenbewegung der 1970er- und 1980erJahre, wo zwar zeitweise massive Vorbehalte gegen den Gebrauch von Kosmetika zum guten Ton gehörten, gleichzeitig aber, wie Uta Poiger jüngst gezeigt hat, aggressives Schminken im Kielwasser des Punk à la Nina Hagen auch als Ausdruck weiblichen Selbstbewusstseins bewertet wurde.29 Schminken ist also nicht per se „emanzipatorisch“ oder „affirmativ“, sondern die damit verbundenen Bewertungen und Praktiken resultieren aus zeit- und gruppenspezifischen Bedürfnissen und unterliegen damit einem historischen Wandel. Sie geben Aufschluss darüber, was in welchen Zirkeln aus welchen Gründen zu einem bestimmten Zeitpunkt als „befreiend“ oder „repressiv“ angesehen wurde. Im Laufe der 1960er-Jahre entstanden immer mehr Felder, auf denen sich junge Frauen als eigenverantwortlich handelnde Subjekte profilieren konnten. Am sichtbarsten wurde dies auf dem Gebiet der Sexualität, wo die Anti-Baby-Pille als Möglichkeit, Sexualität und Fortpflanzung zuverlässig zu trennen, seit etwa 1966 gegen starke Widerstände nicht mehr nur von verheirateten, sondern auch von nicht verheirateten Frauen genommen wurde. Ein sehr viel unproblematischer zu eroberndes Terrain bot seit der „Beatlemania“ englischsprachige Populärmusik als 26 Hambitzer, Manfred, Jugendliche und Konsumverhalten, in: Bergler, Reinhold (Hg.), Psychologische Marktanalyse, Bern u.a. 1965, S. 61–85, hier S. 79. 27 BRAVO-Einkaufs-Panel. Jahresband 1968/69, München 1969, S. 249. 28 Institut für Demoskopie, Allensbach, Das andere Geschlecht, August 1967, Bundesarchiv Koblenz, Zsg. 132/1441. 29 Poiger, Uta G., Das Schöne und das Hässliche. Kosmetik, Feminismus und Punk in den siebziger und achtziger Jahren, in: Reichardt, Sven; Siegfried, Detlef (Hgg.), Das alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968–1983, Göttingen 2010, S. 222–243.
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Massenkultur, die schon jungen Mädchen zahlreiche Gelegenheiten verschaffte, öffentlichen Raum zu erobern, Expressivität auszudrücken und durch Identifikation mit ihren Stars sexuelle Sehnsüchte zu artikulieren, die (noch) nicht in praktische Handlungen mündeten.30 Zunehmende Berufstätigkeit junger Frauen, Medialisierung – und damit Konfrontation mit Werbung – und Wertewandel hin zu einem individualistischen Ideal griffen hier als Gründe für den Wandel europäischer Schönheitspraktiken ineinander – lange bevor die Studentenbewegung diesen soziokulturellen Prozess auf eine politische Ebene heben wollte. Allerdings waren die materiellen und kulturellen Rahmenbedingungen für derartige Emanzipationsprozesse in den europäischen Gesellschaften unterschiedlich ausgeprägt, sodass auch auf diesem Gebiet ungleichmäßige Entwicklungsgeschwindigkeiten und unterschiedliche Entwicklungspfade zu verzeichnen sind – insbesondere in der Etablierungsphase derartiger Kulturtechniken als Massenphänomene. Sie verliefen auch nicht ungebremst oder unwiderrufbar, wie in der Bundesrepublik etwa sexualpolitische Rückschläge, die Idealisierung der Mutterschaft in einem Teil der Frauenbewegung oder lange Persistenz der Norm der heterosexuellen Kernfamilie auf Basis des Ernährer-Hausfrau-Modells demonstrieren. Literaturhinweise Marwick, Arthur, The Sixties. Cultural Revolution in Britain, France, Italy, and the United States, c.1958–c.1974, Oxford 1998. Siegfried, Detlef, Time Is on My Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 22008. Weinbaum, Alys Eve et al. (Hgg.), The Modern Girl Around the World. Consumption, Modernity, and Globalization, Durham u.a. 2008.
Quelle „Sieben-Länder-Untersuchung“ der Zeitschrift Reader’s Digest (1963)31 Körperpflege der Frauen, Schönheitspflege Fragetext in Interview: »Können Sie mir sagen, was von dieser Liste hier Sie persönlich manchmal verwenden, und was davon Sie zur Zeit benutzen?«
30 Vgl. zu diesem Emanzipationsvorgang nach wie vor die luzide Analyse von Ehrenreich, Barbara et al., Girls Just Want to Have Fun, in: dies. (Hgg.), Re-Making Love: The Feminization of Sex, Garden City u.a. 1986, S. 10–38. 31 „Sieben-Länder-Untersuchung“ der Zeitschrift Reader’s Digest. Segment Besitz und Gebrauch von Kosmetika. Körperpflege der Frauen, Schönheitspflege. Eine Zusammenfassung findet sich in Noelle-Neumann, Elisabeth, Sieben-Länder-Untersuchung, Düsseldorf 1963, hier S. 5. Transkription der Quelle durch die Redaktion des Themenportals Europäische Geschichte. Die Quelle ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .
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„LÄNGST KEIN PRIVILEG DER MÄNNER MEHR“? DIE FRAUENHOSE IN DER EUROPÄISCHEN MODE AM BEISPIEL DER DDR (1949–1965)1 Susanne Oesterreich Der für die europäischen Nachkriegsgesellschaften charakteristische Widerstreit zwischen tradierten und modernen Orientierungs- und Ordnungsmustern manifestierte sich auch im Rahmen der Etablierung der Hose in der europäischen Damenmode nach 1945. Mit ihrem Eingang in die Damenfreizeitmode entwickelte sich eine Kleiderpraxis, die mit den herkömmlichen Wahrnehmungsmustern von Weiblichkeit brach und die Symbolik sowie den Bezugsrahmen der vestimentären Geschlechterkonstruktion in Frage stellte. Dagegen veranschaulicht sich in den Entwürfen der zeitgenössischen Tages- und Festmode das von wertkonservativen Einstellungen gekennzeichnete Bestreben, die in der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit aus den Fugen geratenen Geschlechterverhältnisse und -rollen wieder in gewohnte Bahnen zu lenken. Die für die europäische Nachkriegsmode prägende Modelinie New Look des französischen Modeschöpfers Christian Dior entwarf ein Weiblichkeitsbild, welches durch die Akzentuierung der sekundären Geschlechtsmerkmale in der Tradition der vestimentären Geschlechterinszenierung des 19. Jahrhunderts stand. Wadenlange, „weite Röcke, Wespentaillen, enge Oberteile, gepolsterte Hüften und schmale abfallende Schultern“2 konstituierten einen stark idealisierten weiblichen Geschlechtskörper, mittels dessen die Geschlechterdifferenz den gesellschaftlichen Vorstellungen entsprechend performativ zur Darstellung gebracht wurde. Während die Bekleidungsgestalt der konventionellen Damenmode den weiblichen Körper in scharfem Kontrast zum männlich definierten Geschlechtskörper modellierte und den Unterleib sowie Gesäß und Oberschenkel großzügig verhüllte und unsichtbar erscheinen ließ, brach die Hosenmode mit dieser stilisierten Vorstellung von Weiblichkeit und machte die tabuisierten Körperregionen deutlich wahrnehmbar. Damit ergaben sich innerhalb der Damenmode zwei konkurrierende, ausgesprochen divergente Körperbilder, die sich aufgrund der verknüpften Bedeutungsgehalte konsolidierend respektive destabilisierend auf die binäre Geschlechterkonstruktion auswirkten. Seit dem ausgehenden Mittelalter waren der Besitz und das Tragen von Hosen im westlichen Kulturkreis ein Symbol für Männlichkeit und soziale Vormachtstellung. Als Kennzeichnung des männlichen Geschlechts nach dem Pars-Pro-Toto1 2
Essay zur Quelle: Mode ist kein Zwang, sondern eine Erlaubnis (1964). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Lehnert, Gertrud, Geschichte der Mode des 20. Jahrhunderts, Köln 2000, S. 43.
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Prinzip wurde die Hose in der Folge zum männlichen Privileg und geschlechtsspezifischen Distinktionsmittel, das bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts Bestand hatte.3 Zwar traten Hosen zuvor bereits als zweckmäßige Sport- und Arbeitsbekleidung sowie vereinzelt als modische Extravaganz von Schauspielerinnen und Künstlerinnen in Erscheinung, als allgemein üblicher Bestandteil der Damenoberbekleidung konnten sie sich allerdings erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges durchsetzen. Innerhalb weniger Jahre avancierte die Hose nun zu einem unentbehrlichen weiblichen Kleidungsstück für Strand, Wanderausflüge und kühlere Urlaubstage. In Zeitschriften dominierte sie die Modeseiten zu Freizeit- und Urlaubsgarderobe. Trotz zahlreicher länderspezifischer Unterschiede weisen die grundlegenden Entwicklungslinien des Etablierungsprozesses der Frauenhose nach 1945 in den europäischen Staaten grundlegende Ähnlichkeiten auf, so dass die modehistorisch relevanten Befunde zur Etablierung der Hose in der weiblichen Freizeitmode der DDR exemplarisch die gesamteuropäische Entwicklung repräsentieren.4 Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich die verknüpften Diskurse und Debatten entsprechend der jeweiligen nationalen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prädispositionen begünstigend respektive hemmend auf die Durchsetzung der Hosenmode auswirkten. So ergab sich beispielsweise aus der offiziellen Auffassung der DDR-Führung zur kulturpolitischen Bedeutung der Mode ein sich auf die Etablierung der Frauenhose stark befördernd auswirkendes Umfeld. Aufgrund der symbolischen Aufladung der Hose und ihrer damit verknüpften Funktion für die Geschlechterdistinktion waren für den Gebrauch der Frauenhose zunächst noch spezielle soziale Regulierungsprozesse erforderlich. Diese fanden sowohl in der ausführlichen Gebrauchsnormierung der Frauenhose als auch deren spezifischer ästhetisch-stofflicher Bekleidungsgestalt Ausdruck. Ihre Rekonstruktion gibt zum einen Aufschluss über den Grad der gesellschaftlichen Akzeptanz sowie den symbolischen Gehalt des Kleidungsstückes. Zum anderen veranschaulichen sie angesichts der Erosion der traditionellen binären Geschlechterkonstruktion mittels Kleidung neue Strategien zur vestimentären Modellierung des weiblichen Geschlechtskörpers, um dessen performative Darstellung in der sozialen Praxis aufrechtzuerhalten.
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Vgl. Wolter, Gundula, Hosen, weiblich. Kulturgeschichte der Frauenhose, Marburg 1994. Metken, Sigrid, Der Kampf um die Hose. Geschlechterstreit und die Macht im Haus. Die Geschichte eines Symbols, Frankfurt u.a. 1996. Dies bestätigen die Ergebnisse einer inhaltsanalytischen Untersuchung bundesrepublikanischer Frauenzeitschriften für den Zeitraum 1949–1975. Sie zeigen signifikante Parallelen hinsichtlich der Durchsetzung der Hose in der Damenmode in der Bundesrepublik Deutschland und in Frankreich. Dies betrifft neben den einzelnen Phasen des Etablierungsprozesses und der Entwicklung der stofflich-ästhetischen Bekleidungsgestalt der Frauenhose auch ihre Gebrauchsnormierung und gesellschaftliche Akzeptanz. Aufgrund ihrer ausgeprägten Vorreiterrolle gingen von der französischen Mode, die für die west- wie osteuropäische Modeentwicklung – in unterschiedlicher Ausprägung – als Referenzpunkt diente, maßgebliche Impulse für die Etablierung der Hose in der europäischen Mode aus.
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In der DDR wurden die entsprechenden Regeln, Auflagen und Normen vor allem mittels Ratgeberjournalismus und -literatur verbreitet.5 Vor allem Frauenzeitschriften vermittelten im Rahmen sogenannter Moderatgeber kontinuierlich die vielfältigen und umfangreichen Vorgaben und Anleitungen rund um das neue Kleidungsstück der weiblichen Freizeitgarderobe. Zudem erörterten die zeitgenössische Anstandsliteratur, die im Sinne einer normativen Autorität auf die Vermittlung der in einer Gesellschaft als Ideal geltenden Wert- und Moralvorstellungen sowie Verhaltensnormen abzielte, wie auch allgemeiner angelegte Ratgeber mit explizit weiblichem Adressatenkreis zum Teil bis in die Mitte der 1970er-Jahre Reglementierungen und Empfehlungen zum richtigen Umgang mit der Frauenhose. Gesichert wurde die Einhaltung von Bekleidungsregeln durch die Verknüpfung des Kleidungsverhaltens mit Moral und Anstand. Geschmackvolle und passende Kleidung galt als Ausdrucksmittel guten Benehmens und „Ausweis von moralischer Integrität und Anpassungswilligkeit“6. Deviantes Kleidungsverhalten wurde dagegen als ästhetische Beleidigung sowie als Zeichen für moralisches Versagen interpretiert. Vereinzelt wurden die „richtigen Formen des Auftretens und gutgewählter Kleidung“7 auch explizit als staatsbürgerliche Pflicht der weiblichen Bevölkerung der DDR definiert.8 Insbesondere in den 1950er-Jahren häuften sich auf dem Buchmarkt der DDR Neuerscheinungen von Anstands- und Benimmbüchern, die „Herr und Frau Jedermann“9 zu Lebensstil und Moral der sozialistischen Gesellschaft unterweisen sollten. Üblicherweise verfügten sie über ausgedehnte Kapitel zum Thema angemessener Bekleidung. Allerdings blieben die neuen Benimmfibeln in der Regel weitgehend den bürgerlichen Normen und Wertvorstellungen verhaftet, während am vermeintlich proletarischen Gebaren und Kleidungsstil massiv Anstoß genommen wurde.10 Sowohl im journalistischen als auch gebrauchsliterarischen Kontext wurden häufig Negativbeispiele herangezogen, um die vorgebrachten Argumente mittels entsprechender Ausführungen und Abbildungen zu veranschaulichen und zu bekräftigen. Dabei bewegten sich die Reaktionen auf fehlerhaftes Bekleidungsverhalten in der Regel zwischen harscher Kritik und beißendem Spott. Dies gilt insbesondere, wenn das Tragen von Hosen den Anlass lieferte – wie die zugehörige 5
In der Bundesrepublik waren diese Vermittlungswege für die Gebrauchsnormierung der Frauenhose ebenfalls bestimmend. Es ist davon auszugehen, dass dieser Befund auch zutreffend ist für andere europäische Länder. 6 Ernst, Anna-Sabine, Vom „Du“ zum „Sie“. Die Rezeption der bürgerlichen Anstandsregeln in der DDR der 1950er Jahre, in: Mitteilungen aus der Kulturwissenschaftlichen Forschung 16 (1993), H. 33, S. 190–209, 169. 7 Uhlmann, Irene (Hg.), Kleine Enzyklopädie. Die Frau, Leipzig 1963, S. 36. 8 Vgl. Uhlmann, Frau, S.36. 9 Ernst, Anstandsregeln, S. 193. 10 Vgl. Röseberg, Dorothee, Wider den Proletkult. Anstandsbücher in der DDR zwischen Epochenumbruch und Erbaneignung, in: Krauss, Henning (Hg.), Psyche und Epochennorm. Festschrift für Heinz Thoma zum 60. Geburtstag, Heidelberg 2005, S. 449–468.
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Quelle in Text und Bild beispielhaft aufzeigt. In der Diktion moralischer Belehrung beurteilen die Autoren des erfolgreichen Benimmbuches Guten Tag, Herr von Knigge die Nicht-Einhaltung der bestehenden Reglementierungen als Verstoß gegen die gesellschaftlichen Umgangsformen und geben die Protagonistin der beschriebenen Szenerie der Lächerlichkeit preis.11 Dies wird mit der Begleitillustration nochmals unterstrichen. Die Zeichnung zeigt zwei nebeneinander gehende Frauen unterschiedlicher Statur, die beide mit dreiviertellangen Hosen bekleidet sind. Während die schlanke Frauenfigur mit ihrem Erscheinungsbild als positives Beispiel dient, wird ihr die korpulente und auf die im Text beschriebene Protagonistin rekurrierende Frauenfigur mittels einer karikativ anmutenden Überzeichnung als Negativbeispiel gegenübergestellt. Die satirisch-humoristisch gestaltete Zuspitzung auf der Text- und Bildebene ermöglichte es, die mit normativem Anspruch dargelegten Bekleidungsregeln auf für die Leserschaft unterhaltsame Weise zu vermitteln. Zugleich diente die pointierte Darstellung aber auch der Verdeutlichung der inhaltlichen Botschaft, indem das angestrebte sowie das unerwünschte Bekleidungsverhalten klar herausgestellt wurden. Dabei nehmen die Autoren explizit Bezug auf Auflagen und Richtlinien aller vier Kategorien der umfangreichen Gebrauchsnormierung der Frauenhose: Reglementierungen zu Trageanlass und -situation, Reglementierungen zur Kombination mit anderen Kleidungsstücken und Accessoires sowie Reglementierungen zu Figur und Alter der Trägerin. Bis Ende der 1950er-Jahre nahmen besonders die Darstellung und Diskussion der Reglementierungen zu Trageanlass und -situation breiten Raum ein. Ausführlich wurde erörtert, zu welchen Anlässen das neue Kleidungsstück ohne Bedenken getragen werden könne und wann es besser durch Röcke oder Kleider ersetzt werden sollte. Zunächst war das Tragen von Frauenhosen vor allem auf sportlichaktive Freizeitunternehmungen wie Klettern, Wandern oder Rad fahren beschränkt. Aber auch als Hausbekleidung, für die Fahrt mit dem Auto oder Motorroller sowie den Aufenthalt am Strand oder auf dem Campingplatz galt die Hose als passende Kleidung. Außerhalb dieser Sphären war ihr Gebrauch allerdings stark eingeschränkt. Für weniger sportlich-aktive Freizeitbereiche wie den CaféBesuch oder Stadtbummel im Urlaubsort wurden Kombinationen aus Hosen und einem darüber getragenen, abnehmbaren Rock empfohlen. Als Bestandteil der weiblichen Tages- und Straßenmode war die Hose zu diesem Zeitpunkt noch undenkbar. Die Reglementierungen zur Kombination mit anderen Kleidungsstücken und Accessoires betrafen vor allem Elemente der weiblichen Standard- und Festgarderobe. Das Tragen von Schuhen mit Absätzen zu Hosen galt als Modesünde: Lediglich flache Schuhe stellten eine angemessene Kombination dar. Ebenso waren elegante Blusen, Handtaschen, taillierte Mäntel und Schmuck ausgeschlossen. Sowohl die situative Begrenzung als auch die Kombinationsverbote zeugen von 11 Vgl. die zu diesem Essay mit veröffentlichte Quelle Mode ist kein Zwang, sondern eine Erlaubnis, in: Schweikert, Walter K.; Hold, Bert, Guten Tag, Herr von Knigge. Ein heiteres Lesebuch für alle Jahrgänge über alles, was „anständig“ ist, Berlin 1964, S. 80–85.
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dem Bemühen, die Frauenhose als ein vornehmlich sportlich konnotiertes Kleidungsstück zu begründen, das ausschließlich im informellen, semi-öffentlichen Raum der Freizeit getragen werden sollte. Dies blockierte den Eingang der Hose in die Tagesmode bis Mitte der 1960er-Jahre. Allerdings weisen zeitgenössische Medienberichte darauf hin, dass sich die tatsächliche Hosenpraxis in der ersten Hälfte der 1960er-Jahre zunehmend von der proklamierten Gebrauchsnormierung emanzipierte. Die Reglementierungen zu Figur und Alter der Trägerinnen besaßen zu Beginn der Etablierungsphase der Frauenhose ebenfalls eine starke normative Geltung. Zunächst wurde das Tragen von Hosen in der Freizeit nur jungen und schlanken Frauen zugestanden; Ältere und Mollige sollten besser auf Röcke und Kleider zurückgreifen. Die Einschränkungen verdeutlichen, dass das offizielle Schönheitsideal in der DDR an der jungen, aktiven, schlanken Frau orientiert war. Übergewicht widersprach der sozialistischen „Gesundheitspflicht“12 und galt als persönliches Versagen, dem jeder Mensch in jedem Alter vorbeugen könne. Um zu verhindern, dass der als unästhetisch empfundene mollige Frauenkörper durch Hosen besonders hervorgehoben wird, waren übergewichtige Frauen von ihrem Gebrauch zunächst grundsätzlich ausgeschlossen. Denn die modischen Hosen mit schmalem, die Körperform nachzeichnendem Schnitten waren deutlich weniger figurverhüllend als Röcke, welche die Beine auch oberhalb des Knies verdeckten und die Gesäßregion weniger stark unterstrichen. Dieses Deutungsmuster manifestiert sich auch bildhaft in der Begleitillustration der zugehörigen Quelle. Ende der 1950er-Jahre kam es zu ersten Lockerungen der figurbezogenen Reglementierungen, wobei jedoch das Ideal der schlanken Frau weiterhin Bestand hatte. Etwas fülligeren Frauen wurde nun das Tragen von Hosen zugestanden, wenn sie bestimmte Auflagen in Bezug auf Schnitt der Hose und Kombination mit anderen Kleidungsstücken befolgten und die als unästhetisch empfundenen Körperregionen beispielsweise durch längere Oberteile verdeckten. Da die offiziellen Kleidungsvorstellungen der DDR forderten, dass sich Frauen mit zunehmendem Alter weniger figurbetont und zurückhaltender, beziehungsweise eleganter in Farbe und Schnitt kleiden sollten, galten Hosen für ältere Frauen als unpassend. Aus diesem Grund empfahlen Frauenzeitschriften und Ratgeberliteratur der Frau ab 35 Jahren, die Hose gegen seriösere Kleider einzutauschen. Erst als im Verlauf der 1960er-Jahre die strikte Gliederung der Frauenmode nach Lebensalter zunehmend an Bedeutung verlor, lockerten sich auch die mit dem Hosentragen verknüpften Altersbeschränkungen. Durch die umfangreichen Bekleidungsregeln zur weiblichen Freizeithose fand die Hose in den 1950er- und frühen 1960er-Jahren zunächst nur in engen Grenzen und sehr beschränktem Umfang Eingang in die Damenmode. Doch in dem Maße, in dem die Hose ihre geschlechtsspezifische Konnotation sukzessive einbüßte und zu einem selbstverständlichen Kleidungsstück für beide Geschlechter wurde, ver12 Budde, Gunilla-Friederike, Der Körper der „sozialistischen Frauenpersönlichkeit“. Weiblichkeitsvorstellungen in der SBZ und frühen DDR, in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft 26 (2000), H. 4, S. 602–628, 613.
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loren die spezifischen mit dem Hosentragen verbundenen Reglementierungen zunehmend ihre Gültigkeit – bis gesonderte Bekleidungsregeln schließlich vollständig hinfällig waren. Damit einher ging eine grundlegende Modifikation des Bedeutungsgehalts der Hose, die maßgeblich durch ihre stofflich-ästhetische Bekleidungsgestalt in der weiblichen Freizeitmode bedingt wurde. Ein charakteristischer Schnitt kennzeichnete das neue Kleidungsstück explizit als Frauenhose und grenzte es zunächst deutlich von Männerhosen und der vestimentären Modellierung des männlichen Geschlechtskörpers ab. So war die Freizeithose für Damen bis Mitte der 1960er-Jahre durchweg schmal geschnitten und verfügte über einen seitlichen oder rückwärtigen Verschluss. Auch durch die verwendeten Materialien, weiche, leicht fallende Stoffe in dezenten Farbtönen, unterschied sich die neue Hosenform von ihrem als männlich markierten Pendant. Neben langen Hosen waren dreiviertel- und siebenachtellange Hosen die häufigsten Erscheinungsformen. Über diese als explizit weiblich definierten Elemente konstituierte sich eine spezifische Bekleidungsgestalt, die ein neues mittels Kleidung modelliertes Körper- und Geschlechterbild hervorbrachte. Dieses erweiterte die in der sozialen Praxis maßgebenden Darstellungs- und Wahrnehmungsmuster von Weiblichkeit entscheidend, indem es die Geschlechterdifferenz auch abseits der über Jahrhunderte ritualisierten ideellen Formung des weiblichen Geschlechtskörpers mittels den Unterleib und die Beine verhüllender Kleidung performativ zur Darstellung brachte. In diesem Sinne führte die erhebliche Irritation der binären Geschlechterkonstruktion, welche die weibliche Hosenmode durch die Abkehr vom tradierten vestimentären Weiblichkeitsleitbild induzierte, zu Umdeutungsprozessen, in deren Verlauf wesentliche Gestaltungselemente der Freizeithose verbindlich als eindeutige Bedeutungsträger für Weiblichkeit respektive das weibliche Geschlecht definiert wurden, um die textile Wahrnehmbarkeit der Geschlechterdifferenz weiterhin aufrechtzuerhalten. Da die Freizeithose damit wiederum stabilisierende Wirkung auf die binäre Geschlechterkonstruktion hatte, war sie auch nie dem Vorwurf der Vermännlichung ausgesetzt. Anders als beispielsweise im Bereich der weiblichen Arbeitsbekleidung, deren Bekleidungsgestalt im Wesentlichen dem männlich konnotierten Vorbild entsprach, wurde die Hose in der Freizeitmode nicht direkt mit deren Maskulinität verkörpernden Attributen konfrontiert, sondern als spezifisch weibliche Variante eines Kleidungsstückes aufgefasst. Dagegen setzten die als Niethosen bezeichneten Jeans, welche in den 1950erJahren zunehmend die männliche wie weibliche Jugendfreizeitmode eroberten, einen wesentlich nachhaltigeren Erosionsprozess der vestimentär vermittelten Geschlechterdifferenz in Gang. Indem sich ihre stofflich-ästhetische Bekleidungsgestalt geschlechterunabhängig am Schnitt einer Herrenhose orientierte, stellten Jeans die augenfällige geschlechtsspezifische Zuordnung der Hose in Frage. Weiterhin sorgte die sehr enge, körperbetonte Passform mit röhrenförmigen Hosenbeinen in weiten Teilen der Gesellschaft für moralische Entrüstung. Von der Staatsführung der DDR wurde die jugendliche Jeansmode zudem aufgrund politisch-ideologisch motivierter Vorbehalte als Symbol der US-amerikanischen respektive westlichen Jugendkultur missbilligt, diskreditiert und sanktioniert, wes-
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halb es Jugendlichen beider Geschlechter vielfach bis in die 1970er-Jahre strikt untersagt war, in der Schule und auf Veranstaltungen der FDJ Jeans zu tragen.13 Damit sahen sich weibliche Jugendliche, die Jeans als Freizeit- und Alltagsgarderobe nutzten, nicht nur dem Vorwurf einer fragwürdigen weltanschaulichen Orientierung ausgesetzt. Interpretiert als Bedrohung der etablierten Geschlechterordnung und den damit verknüpften Vorstellungen von Weiblichkeit galt diese unisexuelle Bekleidungspraxis als Symptom einer alarmierenden Entwicklung innerhalb der sozialistischen Jugend. In der zeitgenössischen Frauenpresse zeichnen sich vielfach die Bemühungen ab, geschmacksbildend auf das jugendliche Bekleidungsverhalten einzuwirken. Dabei wurden den geltenden Bekleidungskonventionen entsprechend Modelle der konfektionierten Jugendmode empfohlen, welche die als männlich und weiblich attribuierten Geschlechtscharaktere abbildeten und voneinander abgrenzten. Auf diese Weise würden nach Ansicht der Frauenzeitschrift „Sibylle“ aus den Jeans tragenden, „raubeinigen, einige Nuancen zu burschikosen ‚schauen Puppen‘ […] hübsche, moderne, nette Mädchen“14. Wie sich anhand der differenten Auswirkungen der Freizeithose und der Jeans auf die soziale Geschlechterkonstruktion deutlich zeigen lässt, fungierte die Hose seit ihrem Eingang in die weibliche Freizeitmode Mitte der 1950er-Jahre nicht mehr per se als Marker zwischen den Geschlechtern. Ihre Geltung als Distinktionsmittel ergab sich nun aus der Beschaffenheit der Hose, anhand derer die sozialen Kategorien Männlichkeit und Weiblichkeit in der Alltagsinteraktion repräsentiert und ausgehandelt wurden. Dass die Hose nicht mehr prinzipiell als Bedeutungsträger für Männlichkeit diente, zeigt auch der massenhafte Eingang der behosten Frau in die Printwerbung der 1950er-Jahre. In einem spezifisch weiblich konnotierten Kontext wurde das Hosentragen nun als modern und fortschrittlich, als Ausdruck eines von Unternehmungslust, Agilität und Selbstbewusstsein bestimmten Lebensgefühls interpretiert. Ob für Gesichtscreme, Hygieneartikel, Motorroller oder Fotofilme: Die weiblichen Werbefiguren trugen nun in der Regel die schmalen, figurbetonten Freizeithosen, wobei auch hier stets an der engen situativen Begrenzung der Hose festgehalten wurde. In diesem Sinne geben die entsprechenden Anzeigen Aufschluss über den Etablierungsgrad der Frauenhose und deren fortschreitende gesellschaftliche Akzeptanz in den 1950er-Jahren. Mit der fortschreitenden Verbreitung der Frauenhose in den 1960er-Jahren nahmen Anzahl und normativer Anspruch der Reglementierungen sukzessive ab. Als die Hose im Herbst 1965 in Form des Hosenanzuges Eingang in die Tagesmode der DDR fand, wandelten sich neben den Richtlinien zu Trageanlass und -situation auch die Reglementierungen zu Figur und Alter der Trägerin deutlich. Durch die Ausdifferenzierung in verschiedene Grundschnitte entstanden Modelle für unterschiedliche Figurtypen und Altersgruppen. Nun waren nur noch kleine Frauen mit breiten Hüften und sehr kurzen Beinen vom Hosentragen ausgeschlos13 Vgl. Menzel, Rebecca, Jeans in der DDR. Vom tieferen Sinn einer Freizeithose, Berlin 2004; Janssen, Wiebke, Halbstarke in der DDR. Verfolgung und Kriminalisierung einer Jugendkultur, Berlin 2010, S. 118–127. 14 Sibylle (1958), H. 2, S. 32.
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sen. Zum anderen veränderte sich mit dem Hosenanzug gänzlich die ästhetischstoffliche Bekleidungsgestalt der Frauenhose. Die neuen Modelle waren durch ihren geraden Schnitt weniger figurbetonend und verfügten über einen deutlich weiteren Fußsaum sowie einen Verschluss an der Vorderseite. Auch die verwendeten Materialien wie Kord und Tweed grenzten den Hosenanzug von der Freizeithose ab und näherten die Frauenhose wieder dem männlichen Vorbild an. Dass in der Tagesmode sowohl weitschweifige Reglementierungen als auch eine spezifisch weiblich konnotierte Variante der Hose obsolet wurden, ist auf den zunehmenden Abbau beziehungsweise den Verlust der tradierten mit der Hose verknüpften Sinn- und Vorstellungsgehalte zurückzuführen. Da sie ihre geschlechtsspezifische Konnotation und ihre Distinktionsfunktion bereits weitestgehend verloren hatte, kam der Hose für die performative Darstellung der sozialen Geschlechterkonstruktion keine maßgebliche Bedeutung mehr zu. Mit dem Eintritt der Frauenhose in die Festmode um 1970 war die Hose schließlich in allen Bereichen des weiblichen Kleiderspektrums vertreten. Seitdem galt sie als ein selbstverständliches Kleidungsstück für beide Geschlechter, dessen Gebrauch keiner besonderen Reglementierung bedurfte. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Körperbilder der zeitgenössischen Damenmode erheblich pluralisiert: Sowohl die Hosenmode als auch die Mini-, Midi- und Maxi-Mode hatten Bekleidungsgestalten hervorgebracht, die nebeneinander bestanden und den weiblichen Adressatinnen Wahlmöglichkeiten offerierten. Da auch die „Mode in der DDR kein politikfreier Raum“15 war, sind die dargelegten Entwicklungen der Damenmode der DDR ohne die Berücksichtigung politisch-ideologischer Einflussnahmen nur unvollständig. Nach Auffassung der politischen Führung der DDR manifestierte sich in der Mode nicht nur die materielle und kulturelle Prosperität von Staat und Gesellschaft, sondern sie fungierte „in Erfüllung kulturpolitischer und ökonomischer Aufgaben gleichzeitig als Instrument der Weiterentwicklung der sozialistischen Gesellschaft“16 und sollte im „Wettbewerb mit dem Kapitalismus, vor allem im Wettstreit mit Westdeutschland […] den Beweis der Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaft erbringen"17. In diesem Sinne wurde die Etablierung der Frauenhose als Ausdruck des gesellschaftlichen Fortschritts, als Beleg der vollzogenen sozialen Gleichberechtigung der Frau in der DDR interpretiert und forciert. Diese politisch-ideologische Instrumentalisierung diente nicht zuletzt der Abgrenzung von der Bundesrepublik Deutschland und der Demonstration der Überlegenheit der DDR über den deutschen Nachbarstaat.
15 Ernst, Anna-Sabine, Von der Bekleidungskultur zur Mode. Mode und soziale Differenzierung in der DDR, in: Landeszentrale für politische Bildung Baden Württemberg (Hg.), Politische Kultur in der DDR, Stuttgart 1989, S. 158–179, S. 158. 16 Ernst, Anna-Sabine, Mode im Sozialismus. Zur Etablierung eines ‚sozialistischen Stils‘ in der frühen DDR, in: Mänicke-Gyöngyösi, Kriztina; Rytlewski, Ralf (Hgg.), Lebensstile und Kulturmuster in sozialistischen Gesellschaften, Köln 1990, S. 73–94, 84. 17 Deutsches Modeinstitut: Die Bedeutung der Mode in der DDR und die Aufgaben des DMI, Berlin 1962, Stadtmuseum Berlin SM 8-4, Bl. 2.
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Allerdings offenbart der Etablierungsprozess der Hose in der Damenmode auch Grenzen des umfassenden Gestaltungs- und Herrschaftsanspruchs der SED. Dass dieser hinsichtlich der privaten Lebenssphären bisweilen ins Leere lief, zeigen Diskrepanzen zwischen den medial und gebrauchsliterarisch reproduzierten Reglementierungen zu Trageanlass/-situation und der tatsächlichen Bekleidungspraxis. So verfolgte und kommentierte die Frauenpresse der DDR mit Sorge und Entrüstung, dass die Freizeithose das weibliche Bekleidungsverhalten in der ersten Hälfte der 1960er-Jahre trotz ihrer strikten Reglementierung hinsichtlich des Trageanlasses immer häufiger auch jenseits sportlich-aktiver Freizeitaktivitäten bestimmte. Damit traten mit Hosen bekleidete Frauen vermehrt im öffentlichen Straßenbild in Erscheinung und zwar bevor die Hose offiziell als Tagesgarderobe in den Modekanon aufgenommen wurde. In der ostdeutschen Frauenpresse erntete dieses den geltenden Konventionen widersprechende Bekleidungsverhalten harsche Kritik und Missbilligung.18 Wie das Beispiel zeigt, unterhöhlten Frauen die rigide und moralisch-ideologisch unterfütterte Gebrauchsnormierung zum Teil durch eigensinniges vestimentäres Verhalten entgegen der geltenden und gewünschten Bekleidungsregularien, indem sie sich ihr selbstbestimmt entzogen respektive sie bewusst verweigerten. Literaturhinweise Budde, Gunilla-Friederike, Der Körper der „sozialistischen Frauenpersönlichkeit“. Weiblichkeitsvorstellungen in der SBZ und frühen DDR, in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft 26 (2000), H. 4, S. 602–628. Ernst, Anna-Sabine, Von der Bekleidungskultur zur Mode. Mode und soziale Differenzierung in der DDR, in: Landeszentrale für politische Bildung Baden Württemberg (Hg.), Politische Kultur in der DDR, Stuttgart 1989, S. 158–179. Ernst, Anna-Sabine, Mode im Sozialismus. Zur Etablierung eines ‚sozialistischen Stils‘ in der frühen DDR, in: Mänicke-Gyöngyösi, Kriztina, Rytlewski, Ralf (Hgg.), Lebensstile und Kulturmuster in sozialistischen Gesellschaften, Köln 1990, S. 73–94. Menzel, Rebecca, Jeans in der DDR. Vom tieferen Sinn einer Freizeithose, Berlin 2004. Wolter, Gundula, Hosen, weiblich. Kulturgeschichte der Frauenhose, Marburg 1994.
18 Vgl. Für Dich. Illustrierte Zeitschrift für die Frau (1963), H. 25, S. 47.
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Q Quelle „Mode ist kein Zwangg, sondern eiine Erlaubnis“ (1964)19 Um es vorwegg zu sagen: Mode M ist nichht der „letztee Schrei“, üb ber den man morgen sch hon läccheln kann. Mode ist eine sich allgeemein durch hsetzende, geeschmacklichh ausgewogeene unnd dem gedaachten Zwecck entsprecheende Note, die d keinesfallls unpersönllich angewan ndt weerden darf, sondern s ganzz individuell angepaßt weerden muß. Die Dame, die im letzzten Sommerr unter dem spöttischen Lächeln derr Kurgäste üb ber diie Promenadde von Bad Elster E im weiißen, mit gro oßen Ornam menten durchhwirkten Pullloveer, eng anliegenden Ho osen und eeleganten Laackschuhen mit den m modisch-hoheen, scchlanken Abssätzen spazieerte, hatte grrundlegende Fehler gemacht: Erstenns trägt man als Frrau zu Hosen n grundsätzllich nur Spo rtschuhe mit flachen Ab bsätzen, und zweitens zieeht m man keine engganliegenden n Pullover uund Caprihossen an, wenn n man, wie uunser Kurgaast, guute zwei Zen ntner wiegt, eine e stark auusgeprägte Hüftpartie H bessitzt und höcchstens 1,50 m grroß ist. Aller moddischer Zaub ber verwandeelt sich in ko omiscchen Spuk, alller weiblicher Charme inn drollige Cllowneerie, wenn in i sklavischer Abhängiggkeit das, „was „ m man heute träägt“, am unp passenden M Model exemp plifizieert wird. Zuudem war es ein sonnigeer Sommernaachm mittag, das Kuurorchester spielte, s und aalle Welt macchte diiese Stunde zu z einem gesselligen Trefffen der Kurrgäste. Zu dieser Tageszeit T ab ber und in diieser Umgeb bung träägt man, wiee wir wissen, als Dame keeine Hosen. Damit sin nd wir bei deer wichtigen, doch leider viel zuu wenig beacchteten Hoseenfrage angellangt. Bitte, vereehrte Damen n, prüfen Siee sich genau, seienn Sie zu sich h selbst so unerbittlich in Ihrer Krritik, wiie Sie es Ih hrer bösesteen Feindin ggegenüber sind! s N Nur ausgespro ochen schlan nke, hüftschhmale junge Dam men sollten Hosen, in nsbesonderee Caprihoseen20, traagen. Diese Spezies weeiblicher Anm mut sieht dafür daarin besondeers liebreizeend aus, vorrausgesetzt, daß siee für die Ho ose keine allzzu grellen F Farben oder auffaallende Dessiins benutzt, einen flacheen Sportschuh trägt und d genau weißß, wann sie die d H Hosen anhabeen darf: näm mlich am Vorrmittag im Haus, H zum Einkauf und iim allgemein nen zuum Sport. Eine andeere Frage ist das Tragen des hohen Absatzes, A derr bei besagter er Dame in Bad B Ellster, die un nser Mißfalleen erregte, ggerügt wurdee, und zwar nicht nur al als Attribut der d H Hose. So schö ön und schlaank ein Frauuenbein im Schuh S mit ho ohem Absatzz wirken kan nn, soo häßlich sieeht ein solch her Kothurnn aus, wenn seine Trägeerin korpulennt ist oder aus a 199 Schweickeert, Walter K.; K Hold, Berrt, Guten Taag, Herr von Knigge. Einn heiteres Leesebuch für alle a Jahrgängee über alles, w was „anständ dig“ ist, Berlin n 1964, S. 80––85. Die Queelle ist onlin ne erschien nen im T Themenportaal Europäische Gescchichte, UR RL: . 200 Caprihoseen sind dreiviiertellange, köörperbetontee, am Saum geschlitzte g Daamenhosen, die sich in derr Freizeitmod de der 1950err-Jahre großer Beliebtheit erfreuten.
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welch immer geartetem Grund darin schlecht laufen kann. Hohe Absätze im Produktionsbetrieb verbieten sich von selbst; auf Ausflügen sind sie bald eine lästige Fußbekleidung; im allgemeinen wird man sie nur anziehen, wenn man weiß, daß man nicht längere Zeit stehen oder gehen muß. Abgesehen davon, daß diese Absätze bei solchen Gelegenheiten gesundheitsschädlich sind, daß sie das Entstehen von Krampfadern und schlimmeren Krankheiten begünstigen, sind sie für alle, die die Qualen einer auf hohen Absätzen schreitenden (gehen kann man dann meistens nicht mehr sagen!) Dame beobachten müssen, ein unerfreulicher Anblick. Also: Mag der hohe Absatz noch so modern sein, die Dame zieht einen solchen Schuh nur bei passender Gelegenheit an und auch nur dann, wenn sie das Gefühl hat, auf hohem Kothurn sicher, natürlich und elegant gehen zu können. Nehmen wir noch einmal den weiblichen Kurgast von Bad Elster aufs Korn. Sie, kluge Leserin, werden schon ahnen, daß wir nun den Pullover schmähen wollen. Natürlich kann eine mollige Frau ihre weiblichen Rundungen einem Pullover anvertrauen; doch muß sie sich vor großen Ornamenten und sinnig eingestrickten Figuren hüten. Der Pullover soll möglichst einfarbig oder dezent und klein gemustert sein. Alle großflächigen Muster sind weder ästhetisch schön noch geeignet, einen glücklichen Blickfang abzugeben.
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FRAUENSPORT UND MÄNNERWELT IM KALTEN KRIEG1 Stefan Wiederkehr Im Vorfeld der Olympischen Spiele von 1972 veröffentlichte die Medizinische Kommission des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) ein zweisprachiges Faltblatt unter dem Titel „Le contrôle de féminité/Sex control“2, das die in Sapporo und München durchzuführenden Geschlechtertests reglementierte. Die Medizinische Kommission des IOC unter dem Vorsitz des belgischen Adeligen Alexandre de Merode (1934–2002) war 1967 ins Leben gerufen worden. Sie bildete das Resultat mehrjähriger Debatten innerhalb der IOC-Gremien, wie dem Problem des Dopings im olympischen Sport zu begegnen sei.3 Kurzfristig wurde die Medizinische Kommission mit einer zusätzlichen Aufgabe betraut: Sie sollte durch Kontrollen sicherstellen, dass die Teilnehmerinnen bei Frauenwettbewerben tatsächlich Frauen sind. In der Folge fanden bei den Olympischen Spielen von 1968 bis 1998 systematische Labortests statt, die das – wie sich zeigen wird – illusorische Ziel hatten, das Geschlecht der untersuchten Sportlerin als eindeutig weiblich zu bestimmen und dies durch Ausgabe eines Zertifikats zu bestätigen. Diesen Tests hatten sich sämtliche Olympiateilnehmerinnen unter Androhung der Disqualifikation zu unterziehen. Das Faltblatt, das die 1972 anzuwendenden Methoden zur Feststellung des – chromosomalen – Geschlechts erläuterte und die Bedingungen, unter denen die Athletinnen zum Test zu erscheinen hatten, sowie die Voraussetzungen für die Anerkennung früherer Testresultate regelte, wurde sämtlichen Nationalen Olympischen Komitees frühzeitig zugestellt. Mit dieser Maßnahme reagierte die Medizinische Kommission des IOC auf Vorwürfe, vor den Spielen 1968 habe es an Transparenz über die zu erwartenden Tests gemangelt. Im vorliegenden Essay frage ich nach den Gründen, weshalb es zur Einführung der diskriminierenden Praxis der Geschlechtertests im Sport kommen konnte, und lege dar, welche Aporien sich aus dem Versuch ergaben, das chromosoma-
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Essay zur Quelle: International Olympic Committee, Sex Control (1972). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Die englischsprachige Version bildet die Quelle zum vorliegenden Essay: International Olympic Committee. Medical Commission (Hg.), Sex Control, Lausanne 1972. Dirix, Albert; Sturbois, Xavier, The First Thirty Years of the International Olympic Committee Medical Commission, 1967–1997, revidierte und korrigierte Ausgabe, Lausanne 3 1998; Wrynn, Alison, The Human Factor. Science, Medicine and the International Olympic Committee, 1900–70, in: Sport in Society 7 (2004), S. 211–231.
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le Geschlecht festzustellen und auf diese Weise zu definieren, wer „olympisch gesehen eine Frau“4 sei. In der Blockkonfrontation des Kalten Krieges nahm die Instrumentalisierung des Sports für die politische Propaganda eine zuvor ungekannte Intensität und Dauerhaftigkeit an.5 Auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs wurde das bessere Abschneiden in der Nationenwertung bei Olympischen Spielen als Indikator für die Überlegenheit des jeweiligen politischen Systems interpretiert. Entsprechend kam es zu einem Wettrüsten im Bereich des Sports – zum Aufbau von Talentförderungssystemen, zur Verwissenschaftlichung der Trainingsmethoden und auch zur, zumindest in den sozialistischen Ländern staatlich organisierten, Indienstnahme der (Sport-)Medizin für immer ausgefeilteres Doping. Dabei standen insbesondere die beiden Supermächte USA und Sowjetunion sowie die Bundesrepublik und die DDR in direkter Konfrontation. Beim jährlichen Treffen der Vorsitzenden der Sportorganisationen der sozialistischen Länder von 1975 drückte der sowjetische Vertreter dies wie folgt aus: „Im Westen ist man sich bewusst, dass große Sportveranstaltungen, insbesondere die Olympischen Spiele, heutzutage ein Kriterium sind, mit Hilfe dessen die Weltöffentlichkeit […] die gesellschaftlich-wirtschaftliche Überlegenheit des einen oder anderen Gesellschaftssystems beurteilen kann. Es ist kein Zufall, dass der gegenwärtige Anführer der größten kapitalistischen Macht, Gerald Ford, bekannte, dass ‚bei der heutigen Bedeutung von Massenveranstaltungen ein sportlicher Triumph ein ebenso wichtiges Mittel zur Hebung des Nationalstolzes ist wie der Sieg auf dem Schlachtfeld‘. […] Die enormen Erfolge der Sportler aus den sozialistischen Staaten auf der internationalen Sportbühne bringen die westlichen Ideologen in eine schwierige Situation.“6 Auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs kommentierte die Schweizer Boulevard-Zeitung Blick die Olympischen Sommerspiele 1968 mit unverhohlener Schadenfreude: „Der Kreml ist muff [Helvetismus für ‚verärgert‘] darüber, wie das Sowjetteam in Mexiko von den amerikanischen ‚Kapitalisten‘ geradezu deklassiert wird: 88 US-Medaillen, davon 37 Gold, gegen nur 53, davon 16 Gold für die Sowjetunion […]. Seit die USA so weit voran sind, werden in den SowjetZeitungen […] keine Medaillenspiegel mehr abgedruckt.“7
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Diese Formulierung legte das Schweizer Boulevard-Blatt „Blick“ in einem Bericht über die Olympischen Sommerspiele 1968 dem amerikanischen Sportarzt Bill McCarty in den Mund: Blick, 18.10.1968, S. 16. Balbier, Uta A., Kalter Krieg auf der Aschenbahn. Der deutsch-deutsche Sport 1950–1972, Paderborn 2007; Malz, Arié; Rohdewald, Stefan; Wiederkehr, Stefan (Hgg.), Sport zwischen Ost und West. Beiträge zur Sportgeschichte Osteuropas im 19. und 20. Jahrhundert, Osnabrück 2007; Wagg, Stephen; Andrews, David L. (Hgg.), East Plays West. Sport and the Cold War, London 2007. Speziell zum Doping: Latzel, Klaus; Niethammer, Lutz (Hgg.), Hormone und Hochleistung. Doping in Ost und West, Köln 2008. Archiwum Akt Nowych (Warschau), Główny Komitet Kultury Fizycznej i Turystyki, 18/41 (Übers. S. W.). Blick, 26.10.1968, S. 11.
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Neben anekdotischer Evidenz dieser Art existieren auch Studien mit wissenschaftlichem Anspruch, deren Autoren versuchten, „sportliche Leistung (bzw. Nicht-Leistung) als Ergebnis wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Bedingungen aufzufassen“8, und entsprechend sportliche Erfolge zum Maßstab für die Bewertung politisch-gesellschaftlicher Systeme machten. Im Kalten Krieg prallten aber nicht nur zwei politische Blöcke aufeinander, sondern auch unterschiedliche Wertsysteme und Vorstellungen von Weiblichkeit. Die Frauendisziplinen waren für die sportliche Systemkonkurrenz von nicht zu unterschätzender Bedeutung. In diesem Zusammenhang ist zunächst festzuhalten, dass für den Frauensport seit seinen Anfängen ein komplexes Wechselspiel von Inklusion und Exklusion kennzeichnend ist: Bot der Sport Frauen durchaus ein emanzipatorisches Potential, so bildete er doch stets ein Feld der Inszenierung von Geschlechtsunterschieden.9 In vermutlich keinem anderen gesellschaftlichen Bereich ist die binäre Geschlechterordnung bis heute so vollständig verwirklicht wie im Leistungssport. Das offizielle Frauenbild in den sozialistischen Staaten war während des Kalten Krieges offenkundig ein anderes als zur selben Zeit in Westeuropa und den USA: Die bürgerliche Frau erfüllte in den 1950er- und frühen 1960er-Jahren die Rollenerwartungen in erster Linie als familienorientierte Hausfrau, die sozialistische Frau hingegen war gemäß Propaganda emanzipiert, leistete gleichberechtigt Erwerbsarbeit und handelte im öffentlichen Raum. Natürlich wäre es naiv, das Frauenbild der Propaganda mit der Wirklichkeit des sozialistischen Alltags gleichzusetzen. Die Familienverantwortung oblag auch hier fast ausschließlich den Frauen, die die Doppelbelastung durch Familie und Beruf allein zu bewältigen hatten.10 Gleichwohl stieß der Frauenleistungssport in den sozialistischen Staaten auf geringeren Widerstand von Vertretern traditioneller Weiblichkeits- und Schönheitsideale, als dies in den kapitalistischen der Fall war. Die Tatsache, dass ihre Funktionäre und Trainer geringere mentale Barrieren gegen den Frauenleistungssport aufwiesen, erleichterte es den sozialistischen Staaten, diesen gezielt zu fördern, um in der Nationenwertung bei Großereignissen besser abzuschneiden. Diese Strategie hatte bei Olympischen Spielen, Welt- und Europameisterschaften spürbare Auswirkungen. In den amerikanisch-sowjetischen Leichtathletikbegegnungen, die seit 1958 unter großer Aufmerksamkeit des Publikums stattfanden, ging dies sogar so weit, dass die Sowjetunion regelmäßig den Ge8
Pfetsch, Frank R. et al., Leistungssport und Gesellschaftssystem. Soziopolitische Faktoren im Leistungssport. Die Bundesrepublik Deutschland im internationalen Vergleich, Schorndorf 1975, S. 1. 9 Guttmann, Allen, Women’s Sport. A History, New York 1991; Terret, Thierry et al. (Hgg.), Sport et genre, 4 Bde., Paris 2005; Hartmann-Tews, Ilse; Rulofs, Bettina (Hgg.), Handbuch Sport und Geschlecht, Schorndorf 2006. 10 Kraft, Claudia, Geschlecht als Kategorie zur Erforschung der Geschichte des Staatssozialismus in Mittel- und Osteuropa. Zur Einführung, in: dies. (Hg.), Geschlechterbeziehungen in Ostmitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg, München 2008, S. 1–21. Für einen Vergleich zwischen den beiden deutschen Staaten: Budde, Gunilla-Friedericke (Hg.), Frauen arbeiten. Weibliche Erwerbstätigkeiten in Ost- und Westdeutschland nach 1945, Göttingen 1997.
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samtsieg davontrug, obwohl die US-amerikanischen Männer die sowjetischen besiegt hatten.11 Einen Ausweg aus dem Dilemma, das in der frühen Nachkriegszeit noch weitgehend intakte Ideal der häuslichen und familienorientierten Frau verteidigen und gleichzeitig in den weiblichen Disziplinen Erfolge feiern zu wollen, fanden die westlichen Akteure darin, die gegnerischen Athletinnen abzuwerten. So machte sich in der westlichen Sportpresse seit den 1950er-Jahren das Stereotyp der „vermännlichten Ostblockathletin“ breit, die „eigentlich gar keine Frau“ sei.12 Die weit überwiegend männlichen (Sport-)Journalisten in den kapitalistischen Staaten schürten das Feindbild des Sozialismus, indem sie den Ostblockstaaten unterstellten, die Virilisierung (Vermännlichung der äußeren Erscheinung) von Frauen für den sportlichen Erfolg zu riskieren und so deren Menschenwürde leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Dem politischen Gegner wurde zugetraut und bisweilen offen unterstellt, auf widernatürliche Weise das Geschlecht von Athletinnen bzw. Athleten zu manipulieren, um sich im sportlichen Systemwettstreit illegitime Vorteile zu verschaffen: „Dr. Nahum Sternberg, a medical advisor to the Soviet Ministry of Sports from 1956 to 1965, told Leo Heiman of Copley News Services some time ago that the Russians have used hormones to change boys into girls and to make women athletes more masculine.“13 In der Art, wie die Los Angeles Times dieses Zitat argumentativ einsetzte, kam ein häufiges Missverständnis zum Ausdruck. Denn Hormondoping, wie es im Übrigen nicht nur im Ostblock praktiziert wurde, kann zwar bei Frauen zur Virilisierung und im Extremfall zur Änderung der psychischen Geschlechtsidentität führen. Zur Identifizierung von Dopingsünderinnen und -sündern tragen die Geschlechtertests, die das Reglement von 1972 vorsieht, aber nicht das Geringste bei. Denn Doping hat keinen Einfluss auf die mit diesen Methoden analysierten Geschlechtschromosomen. Der Sexchromatintest, der auf das chromosomale Geschlecht abzielt, schlägt bei einem Individuum das ganze Leben lang gleich aus, auch wenn dieses systematisch dopt oder gar eine operative Geschlechtsumwandlung vollziehen lässt. Zum Nachweis von Hormon- und anderem Doping sind Dopingkontrollen mit ganz anderen Methoden notwendig. Hinzu kommt, dass die zeitgenössische Presse nicht zwischen Personen, die ihrem Körper (verbotenerweise) bewusst leistungsfördernde Substanzen von außen zuführten, und interse-
11 Turrini, Joseph M., „It Was Communism Versus the Free World“. The USA-USSR Dual Track Meet Series and the Development of Track and Field in the United States, in: Journal of Sport History 28 (2001), S. 427–471, hier S. 432–435; Riordan, James, Sport in Soviet Society. Development of Sport and Physical Education in Russia and the USSR, Cambridge 1977, S. 315–324; ders., The Rise, Fall and Rebirth of Sporting Women in Russia and the USSR, in: Journal of Sport History 18 (1991), S. 183–199; Pfister, Gertrud, Frauen und Sport in der DDR, Köln 2002, S. 88–103. 12 Wiederkehr, Stefan, „We Shall Never Know the Exact Number of Men who Have Competed in the Olympics Posing as Women“. Sport, Gender Verification and the Cold War, in: International Journal of the History of Sport 26 (2009), S. 556–572. 13 Los Angeles Times, 2.3.1968, S. A1.
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xuellen Individuen unterschied, die aufgrund angeborener Eigenschaften außerhalb des binären Geschlechtersystems standen. Ungeachtet solcher analytischer Differenzierungen aus heutiger Perspektive wurden in der frühen Nachkriegszeit Sportlerinnen aus dem Ostblock wegen ihres „männlichen Aussehens“ zur Zielscheibe westlicher Journalisten. Dies gilt insbesondere für die in den frühen 1960er-Jahren erfolgreichen sowjetischen Athletinnen Tamara und Irina Press. Ihre Physis galt als „boyish“14; sie wurden als „too mannish“15 charakterisiert oder schlicht als „Press brothers“16 bezeichnet. Der amerikanische Trainer Dick Bank führte 1970 die von ihm konstatierte Unterentwicklung der Frauenleichtathletik in den USA direkt auf die abschreckende Wirkung der körperlichen Erscheinung von Tamara Press zurück: „One thing that held back women’s track […] was the image given to the sport by such athletes as Tamara Press of the Soviet Union. In some ways […] she obviously had more male characteristics than female. Parents in this country would see pictures of her and decide that if that was the kind of people they had in women’s track they would get their daughters to go swimming or something else.“17 Nicht nur die US-amerikanischen, sondern auch die westeuropäischen Sportjournalisten entwickelten in den 1960er-Jahren eine eigentliche Obsession für das Thema von „Frauen, die keine Frauen sind“18 und verlangten, „echte Frauen gegen die Schmutzkonkurrenz von falschen“19 zu schützen. Wie eng dies mit traditionellen Vorstellungen von weiblicher Schönheit zusammenhing, belegt das folgende Zitat aus dem Munde von IOC-Präsident Avery Brundage. Dieser zog vier Jahre nach der Einführung der Geschlechtertests bei Olympischen Spielen gegenüber der Los Angeles Times eine positive Bilanz: „They are more feminine now“, lautete sein Urteil und die Journalistin fügte hinzu: „And he’s right. This year’s Olympic roster will bulge with beauties.“20 In der historischen Konstellation des Kalten Krieges stellte der Erfolg einer Athletin aus einem sozialistischen Staat eine doppelte Provokation dar, die von den Medien dankbar aufgenommen und verstärkt wurde:21 Erstens drang sie als Frau in die kulturell männlich codierte Sphäre des Leistungssports ein und stellte auf diese Weise die traditionelle Geschlechterordnung in Frage. Zweitens bedrohte der Sieg einer Repräsentantin des Ostblocks das Selbstwertgefühl der westlichkapitalistischen Welt.
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New York Times, 29.5.1977, S. 155 [über Irina Press]. Los Angeles Times, 2.7.1970, S. E2 [über Tamara Press]. Are Girl Athletes Really Girls?, in: Life, 7.10.1966, S. 63–66, hier S. 64. Los Angeles Times, 2.7.1970, S. E2. Sportillustrierte, 29.1.1968, S. 15. Blick, 18.10.1968, S. 16. Los Angeles Times, 13.8.1972, S. W21. Zur Rolle der Sportmedien vgl. Hartmann-Tews, Ilse; Rulofs, Bettina, Zur Geschlechterordnung in den Sportmedien. Traditionelle Stereotypisierungen und Ansätze ihrer Auflösung, in: Schierl, Thomas (Hg.), Handbuch Medien, Kommunikation und Sport, Schorndorf 2007, S. 137–154.
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In dieser Situation einer doppelten Herausforderung führten die aus Männern bestehenden Gremien der westlich dominierten internationalen Sportverbände in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre Geschlechtertests im Spitzensport ein. Die ersten derartigen Tests, die bei den British Empire and Commonwealth Games 1966 in Kingston (Jamaika) und bei den Leichtathletik-Europameisterschaften desselben Jahres in Budapest unter der Ägide des Internationalen Leichtathletikverbandes IAAF stattfanden, beruhten auf der äußerlichen Untersuchung der Athletinnen durch eine medizinische Kommission. Die negativen Erfahrungen mit diesem Verfahren, an dem sowohl Athletinnen als auch Ärzte den tiefen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte kritisierten, flossen in die olympische Regelung der Geschlechtertests ein. Diese basierte nicht mehr auf der Annahme, Geschlecht lasse sich anhand der äußerlich sichtbaren Geschlechtsteile bestimmen, die in der medizinischen Fachliteratur schon vor 1900 zugunsten einer Definition von Geschlecht über die Keimdrüsen aufgegeben worden war,22 sondern definierte Geschlecht nunmehr als chromosomales Geschlecht. Der bereits bei den Spielen von 1968 angewandte Sexchromatintest und die im Reglement für 1972 erwähnten zusätzlichen Methoden waren zwar nicht unproblematisch, worauf noch einzugehen ist, aber für die Athletinnen doch weit weniger entwürdigend als die Entblößung vor einem Ärztegremium. Denn sie beruhten darauf, dass ein Mundschleimhautabstrich bzw. Haarwurzeln der Testperson im Labor analysiert wurden. Eine zweite Lehre aus der Vergangenheit, die das Reglement von 1972 direkt widerspiegelte, war die an prominenter Stelle festgehaltene strikte Geheimhaltung der Resultate der Geschlechtertests unter ausdrücklicher Berufung auf die Menschenrechte der betroffenen Individuen. Dieser Passus ist eine offensichtliche Reaktion auf das mediale Fiasko im Zusammenhang mit dem ersten negativen Geschlechtertest der Sportgeschichte, dem die polnische Weltklassesprinterin Ewa Kłobukowska im September 1967 beim Leichtathletik-Europacup in Kiew zum Opfer gefallen war.23 Kłobukowska war nicht ein in Betrugsabsicht verkleideter Mann, sondern intersexuell. Bei intersexuellen Individuen stimmen genotypisches und phänotypisches Geschlecht nicht überein und/oder ihre mehrdeutigen äußeren Genitalien lassen keine eindeutige Zuordnung zu einem Geschlecht zu. Oft weicht auch die Konstellation der Geschlechtschromosomen, der so genannte Karyotyp, von den typischen Fällen (XX für Frauen, XY für Männer) ab, indem etwa nur ein Geschlechtschromosom vorhanden ist oder aber drei und mehr.24 Bei den Leicht22 Voß, Heinz-Jürgen, Making Sex Revisited. Dekonstruktion des Geschlechts aus biologischmedizinischer Perspektive, Bielefeld 2010, S. 200–209. 23 Zu Kłobukowska vgl. Cole, Cheryl L., One Chromosome Too Many?, in: Schaffer, Kay; Smith, Sidonie (Hgg.), The Olympics at the Millennium. Power, Politics, and the Games, New Brunswick 2000, S. 128–146; Wiederkehr, Stefan, „Unsere Mädchen sind alle einwandfrei“. Die Kłobukowska-Affäre von 1967 in der zeitgenössischen Presse (Polen, BRD, Schweiz), in: Malz; Rohdewald; Wiederkehr (Hgg.), Sport zwischen Ost und West, S. 269–286. 24 Lang, Claudia, Intersexualität. Menschen zwischen den Geschlechtern, Frankfurt am Main 2006; Groß, Dominik; Neuschaefer-Rube, Christiane; Steinmetzer, Jan (Hgg.), Trans-
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athletik-Europameisterschaften in Budapest 1966 hatte Kłobukowska die physische Inspektion als Frau passiert. Nach ihrem Rücktritt vom Spitzensport, zu dem das Testresultat von 1967 sie zwang, lebte sie als Frau weiter. Auch die Tatsache, dass Kłobukowska mehrfach und zunächst ohne Feststellung einer Anomalie getestet worden war, reflektierte das Reglement von 1972 unmittelbar: Mit der Ausgabe eines Zertifikats durch autorisierte sportmedizinische Gremien sollten Mehrfachtests ein und derselben Person für die Zukunft ausgeschlossen werden. In krasser Verzerrung des komplexen medizinischen Befundes und ohne Rücksicht auf die individuelle Tragödie der ahnungslosen Sportlerin, der eine äußere Instanz ihr weibliches Geschlecht absprach, stellten die westlichen Zeitungen 1967 Kłobukowska an den Pranger und berichteten in großen Lettern und mit billigen Wortspielen über ihren Ausschluss. So hieß es etwa im bereits zitierten Blick „Die blonde Polin Eva Klobukowska (21) wurde zum ‚Adam‘“25, und die Washington Post titelte „Klobukowska Misses Test For Misses“26. Die Frankfurter Allgemeine konstatierte „Die Polin Ewa Klobukowska […] ist keine Frau“ und räsonierte in einem langen Kommentar über Betrug und die „große Lüge […], die der Frauen-Leichtathletik […] Schaden zugefügt hat.“27 Im Schweizer Fachblatt Sport, das in seinem Textteil vergleichsweise differenziert über die Gründe für Kłobukowskas Disqualifikation berichtete, erschien kurz nach dem Kiewer Wettkampf in der beliebten Serie „Tschutti“ eine Karikatur des Künstlers Franco Barberis28, die die Geschlechterstereotype im Sport und die mediale Verzerrung der Geschlechtertests in kaum übertrefflicher Weise verdichtet (Abb. 1).
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sexualität und Intersexualität. Medizinische, ethische, soziale und juristische Aspekte, Berlin 2008; Klöppel, Ulrike XX0XY ungelöst. Hermaphroditismus, Sex und Gender in der deutschen Medizin. Eine historische Studie zur Intersexualität, Bielefeld 2010; Voß, Making Sex Revisited; Nussberger, Erika, Zwischen Tabu und Skandal. Hermaphroditen von der Antike bis heute, Wien 2014. Blick, 16.9.1967, S. 1. Washington Post, 15.9.1967, S. D1. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.9.1967, S. 11. Spahr, Jürg, Barberis, Franco, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 11.02.2005, (07.11.2017). Der Name der Sportlerfigur „Tschutti“ leitet sich von Schweizerdeutsch „tschutte“ für „Fußball spielen“ ab.
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Abb. 1: Der errste negative G Geschlechtertesst der Sportgesschichte im Blilick des Karikaturisten Franco Barberis (Spo ort [Zürich], 22 2.9.1967, S. 21) 1).
W Weiblichkeit wird in dieeser Karikattur mit trad ditionell verrstandener SSchönheit und u Ä Ästhetik gleichgesetzt, während w derr muskulösee Körperbau u einer Athlletin, auf deem ettwa im Fallee einer Kug gelstoßerin die sportlicche Leistung gsfähigkeit basiert, ein nen Zw weifel an deren Geschlecht begrüündet. Bezeiichnend ist auch die Daarstellung der d A Angst vor Mäusen M als ty ypisch weibblich, währeend mit derr Rekrutensschule auf das d M Militär als männlich m cod dierte Domääne rekurrieert wird. Als unmännlicch charakteerisiert wird schhließlich Ho omosexualittät, auf die mit den beiden sich küüssenden Fu ußbaallern angesspielt werdeen dürfte. A Auf engstem m Raum reprroduziert diiese Karikattur H Heteronormaativität im Sinne S von Juudith Butlerr, also den Zwang Z zur K Kohärenz von v Seex, Gender und Begeh hren. Dies aalles läuft unter u dem Titel T „Bioloogie“, obwo ohl beei einer gennaueren Betrrachtung – bbereits auf dem d damaliigen Standee von Biolog gie unnd Medizinn – gerade das Beispieel Kłobukow wska deutliich machenn würde, daass sich einzelnee Individuen n der bipollaren Gesch hlechterordn nung auf dder Ebene des d biiologischen Geschlech hts Sex (veerstanden im m Sinne deer älteren ffeministisch hen Foorschung alls Gegensatzz zum soziaal konstruierrten Genderr) entziehenn. Mit anderren W Worten: Es isst noch nich ht einmal nöötig, auch das d biologische Geschllecht (Sex) als a soozial konstrruiert und historisch h w wandelbare Kategorie zu betrachhten, wie diies neeuere feminnistische un nd Queer-T Theorien tu un, um das disjunktivee System der d Zw weigeschlecchtlichkeit ins Wankeen zu bringen. Vielmeehr war es spätestens zu
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Beginn der 1960er-Jahre ein medizinischer Gemeinplatz, dass Intersexualität existiert.29 Diese Problematik bringt das Reglement von 1972 ungewollt zum Ausdruck: Während gemäß der französischen Version „Weiblichkeit“ kontrolliert („contrôle de féminité“) und zertifiziert („certificat de féminité“) wird, ist im englischen Text nur die Rede vom (biologischen) Geschlecht – heißt es doch an den entsprechenden Stellen „sex control“ und „sex control certificate“. Die Zertifikate der Olympischen Sommerspiele 1968 in Mexiko, die vier Jahre später anerkannt werden sollten, bescheinigten im Übrigen nicht mehr, als dass ein Sexchromatintest durchgeführt worden sei und keine Anomalie gezeigt habe.30 Diese und weitere terminologischen Varianten in Quellen und Forschung (dt.: Sex-Kontrolle, Geschlechtsbestimmung, frz.: détermination de sexe, engl.: sex determination, gender verification) spiegeln die Unsicherheit der Schreiber darüber wider, was genau mit Hilfe dieser Tests getan wird und wie ihre Resultate zu interpretieren sind: Geht es um Geschlecht im Allgemeinen oder um Weiblichkeit im Besonderen? Wie werden intersexuelle Individuen zugeordnet, solange das disjunktive System der Zweigeschlechtlichkeit verbindlich bleibt: Ist jede Nicht-Frau ein Mann oder jeder Nicht-Mann eine Frau? Geht es um Sex oder Gender? Der kanadische Sportsoziologe Ian Ritchie legte 2003 dar, wie die internationalen Sportverbände entgegen ihrem Anspruch, das biologische Geschlecht zu testen, Geschlecht im Sinne von Gender sozial konstruieren, und brachte dies auf die griffige Formel „Sex Tested, Gender Verified“.31 Damit widersprach er der biologistischen Auffassung von Geschlechterdifferenzen, die im Sport besonders naheliegend zu sein scheint. Das gängige Argument lautet ja, die Trennung von Frauen und Männern im Sport beruhe auf naturbedingten Unterschieden der körperlichen Leistungsfähigkeit und diene dem fairen Wettkampf, weil so gleiche Ausgangsbedingungen für die Startenden entstünden. Dieses Argument wurde von der sportwissenschaftlichen Genderforschung der letzten Jahre jedoch dekonstruiert.32 Es mag nicht einleuchten, weshalb die Trennung nach Geschlecht fairere Ausgangsbedingungen schaffen soll als beispielsweise diejenige nach Gewichtsklassen, wie sie in den meisten Kampfsportarten üblich sind. In zahlreichen Disziplinen wird zudem die Ungleichheit der Geschlechter inszeniert, indem nicht nur Frauen und Männer getrennt voneinander antreten, sondern auch unterschiedliche Regelwerke für die beiden Geschlechter gelten. So wird etwa der BodyCheck, der im Männereishockey ein zuschauerwirksames Spielelement ist, im Fraueneishockey mit einer Zeitstrafe belegt. Ebenso wenig mit fairem Wettkampf, sondern allein mit der sozialen Konstruktion von Geschlecht zu tun hat die Tatsache, dass in bestimmten Sportarten olympische Wettkämpfe für das eine Ge29 Overzier, Claus (Hg.), Die Intersexualität, Stuttgart 1961. 30 „On the Occasion of the XIX Olympic Games on the athlete […] the sexual chromatine investigation vas [sic] made, the result proved no abnormality.“ Bundesarchiv Berlin, DR 510/862. 31 Ritchie, Ian, Sex Tested, Gender Verified. Controlling Female Sexuality in the Age of Containment, in: Sport History Review 34 (2003), S. 80–98. 32 Hartmann-Tews, Ilse et al., Soziale Konstruktion von Geschlecht im Sport, Opladen 2003.
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schlecht reserviert sind. Beispiele sind das Synchronschwimmen und der Stufenbarren für die Frauen oder das Ringturnen für die Männer. Damit sind einige der wesentlichen Probleme und Widersprüchlichkeiten benannt, die sich mit der Praxis der Geschlechtertests verbinden. Obwohl diese von Anfang an aus unterschiedlicher Perspektive auf Kritik stießen, wurden sie erst 1999 vom IOC versuchsweise ausgesetzt, nachdem bei den Olympischen Winterspielen von Nagano ein Jahr zuvor nochmals 679 Tests durchgeführt worden waren. Neben der bereits dargestellten kulturwissenschaftlich fundierten Kritik an der biologistischen Auffassung von Geschlecht und der Ausblendung anderer geschlechtsbestimmender Faktoren als den Chromosomen gab es von medizinischer Seite Einwände gegen die konkrete Testmethode und deren Fehleranfälligkeit.33 Einige Sportmediziner wiesen darauf hin, dass einerseits bestimmte Formen von Intersexualität keinen Vorteil im Frauensport bieten, während andererseits chromosomal weibliche Individuen aufgrund von Besonderheiten ihres Hormonhaushalts tatsächlich einen Vorteil gegenüber anderen Frauen besitzen können, den Sexchromatintest aber problemlos bestehen. Auf diese Weise führten sie das Fairnessargument zur Begründung der Testpraxis ad absurdum.34 Die Geschlechtertests im Sport wurden außerdem mit juristischen und philosophischen Argumenten als diskriminierend und unethisch angegriffen: Männer mussten sich dem Test, der tief in die Persönlichkeitsrechte des Individuums eingreift, nicht unterziehen, sondern ausschließlich Frauen. Außerdem war die Unschuldsvermutung aufgehoben, weil jede für einen Frauenwettbewerb angemeldete Person bis zum Beweis des Gegenteils als Betrüger(in) galt. Im Laufe der Jahrzehnte wurde als immer fragwürdiger empfunden, dass die Sportverbände für sich in Anspruch nahmen, mit naturwissenschaftlichen Methoden das Geschlecht eines Individuums – im Zweifelsfall auch gegen dessen Selbstdefinition – „objektiv“ bestimmen zu können. Nach der Jahrtausendwende wurden die einschlägigen Regelungen mehrfach geändert, wobei der Umgang mit den hier aufgeworfenen Fragen differenzierter und die selbstgewählte Geschlechtsidentität eines Individuums stärker in Rechnung gestellt wurden. Allerdings handelt es sich keineswegs um einen gradlinigen Prozess zum Besseren, denn auch die neuen Reglements konnten und können das Problem nicht lösen, die Vielfalt der Geschlechtsidentitäten fair auf genau zwei Startkategorien zu reduzieren. Dies zeigt nicht zuletzt das Urteil des internationalen Sportgerichtshofs CAS, der im Juli 2015 nach einer Klage der indischen Sprinterin Dutee Chand die Regelungen für die Teilnahmeberechtigung von Frauen mit Hyperandrogenismus für zwei Jahre außer Kraft setzte, die IAAF und IOC 33 Simpson, Joe Leigh et al., Gender Verification at the Olympics, in: JAMA 284 (2000), S. 1568f., hier S. 1569; Ljungqvist, Arne, Gender Verification, in: Christensen, Karen; Guttmann, Allen; Pfister, Gertrud (Hgg.), International Encyclopedia of Women and Sports, 3 Bde., New York 2001, Bd. 1, S. 447–451, hier S. 447f.; Reeser, J[onathan] C., Gender Identity and Sport. Is the Playing Field Level?, in: British Journal of Sports Medicine 39 (2005), S. 695–699, hier S. 696. 34 Genel, Myron, Gender Verification No More?, in: Medscape Women’s Health 5/3 (2000), S. E2; früh bereits Bausenwein, Ingeborg, Intersexualität und Frauenleistungssport, in: Sportarzt und Sportmedizin 19 (1968), S. 269–273, hier S. 272.
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2011 bzw. 2012 als Reaktion auf die umstrittene und letztlich wieder rückgängig gemachte Disqualifikation der Südafrikanerin Caster Semenya bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften 2009 erlassen hatten. Die Herkunft der Protagonistinnen der jüngsten „Fälle“ macht zugleich deutlich, dass sich mit dem Ende des Kalten Krieges die imaginären Konfliktlinien von Ost vs. West hin zu Süd vs. Nord verschoben und das Stereotyp der „vermännlichten Frau“ heute zumeist auf Athletinnen aus der „Dritten Welt“ projiziert wird.35 Weshalb wurden trotz all dieser Gegenargumente dreißig Jahre lang Sportlerinnen systematisch auf ihr chromosomales Geschlecht hin untersucht? Es waren, so lässt sich zusammenfassen, männliche Funktionäre in den westlich dominierten Sportverbänden, die im von der Presse zusätzlich aufgeheizten Klima des Kalten Krieges Athletinnen laborgestützten Geschlechtertests unterwarfen, um dem Feindbild der sozialistischen Siegerin entgegenzutreten. Je länger desto deutlicher trat dabei zu Tage, dass die Evidenz der Kategorie Geschlecht nur eine vermeintliche war. Denn der Versuch des IOC, Weiblichkeit für sportliche Zwecke in ein Reglement zu fassen, führte zu immer komplexeren Diskussionen und tieferen Widersprüchen. Die Reduktion von Geschlecht auf das chromosomale Geschlecht griff offensichtlich zu kurz. IAAF und IOC diskutierten jahrelang über die gegenseitige Anerkennung der von der anderen Seite ausgestellten Weiblichkeitszertifikate. Noch 15 Jahre nach dem ersten Geschlechtertest bei Olympischen Spielen bestanden Differenzen zwischen den beiden Organisationen, sodass der Vorsitzende der Medizinischen Kommission des IOC, de Merode, bei einer Zusammenkunft während der Leichtathletik-Weltmeisterschaften 1983 entschuldigend einräumte, „according to scientific papers, the IOC was not strict enough in its definition of feminity [sic]“.36 Ein eindrücklicherer Beleg dafür, dass Geschlecht im Sport sozial konstruiert wird, ist kaum zu haben.
35 Wiederkehr, Stefan, Jenseits der Geschlechtergrenzen. Intersexuelle und transsexuelle Menschen im Spitzensport, in: Feministische Studien 30/1 (2012), S. 31–43; Pieper, Lindsay Parks, Sex Testing and the Mainenance of Western Femininity in International Sport, in: International Journal of the History of Sport 31 (2014), S. 1557–1576; Bohuon, Anaïs, Gender Verifications in Sport: From an East/West Antagonism to a North/South Antagonism, in: International Journal of the History of Sport 32 (2015), S. 965–979; Müller, Marion, Constructing Gender Incommensurability in Competitive Sport. Sex/Gender Testing and the New Regulations on Female Hyperandrogenism, in: Human Studies 39 (2016), S. 405–431. DOI: 10.1007/s10746-016-9397-1. 36 Meeting between Representatives of the IOC Executive Board and of the IAAF Council, Helsinki 7.8.1983, IOC Archives/International Association of Athletics Federations – meetings with the IOC 1976–1983.
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Stefan Wiederkehr
Literaturhinweise Guttmann, Allen, Women’s Sport. A History, New York 1991. Lang, Claudia, Intersexualität. Menschen zwischen den Geschlechtern, Frankfurt am Main 2006. Malz, Arié; Rohdewald, Stefan; Wiederkehr, Stefan (Hgg.), Sport zwischen Ost und West. Beiträge zur Sportgeschichte Osteuropas im 19. und 20. Jahrhundert, Osnabrück 2007. Ritchie, Ian, Sex Tested, Gender Verified. Controlling Female Sexuality in the Age of Containment, in: Sport History Review 34 (2003), S. 80–98. Wagg, Stephen; Andrews, David L. (Hgg.), East plays West. Sport and the Cold War, London 2007.
Quelle International Olympic Committee. Medical Commission (Hg.): Sex Control (1972)37 The sex control of all the competitors participating in the women’s sporting events in the 1972 Olympic Games will be carried out in accordance with the decisions and instructions of the Medical Commission of the International Olympic Committee. Neither the fact of this examination nor its results will be made public out of deference to the human rights of the individual. Competitors who have been registered as being female must take a sex control examination within one or several days after entering the Olympic village. The examination of all competitors in this category will be completed prior to the beginning of the events. The test will be set up in the women’s quarters of the Olympic Village and carried out in the examination room in the presence of members of the I.O.C. Medical Commission. Each team will be notified of the day and time of the test by the Sex Control Head Office in the name of the Medical Commission. The women competitors of teams who have been notified will report to the examination room with their I.D. cards at the appointed time and day. Women competitors who have taken a sex control test in past competitions and who have a sex control certificate issued either from the I.O.C. Medical Commission or from International Federation [sic] during world championships or continental championships proving their sex which the I.O.C. deems valid, will be exempted from the examination upon presenting that certificate. The identity of the competitors appearing for the examination will be confirmed on the basis of their I.D. cards. As a screening test, a sex chromatin test for X-chromosomes and a fluorescent body test for Y-chromosomes will be conducted. Should the above method be inconclusive, the examinee’s karyotype (chromosome map) will be examined. The samples will be taken from the buccal mucous membrane or hair roots.
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International Olympic Committee. Medical Commission (Hg.), Sex Control, Lausanne 1972 (IOC Archives / Medical commission – publications 1966–1972). Abdruck mit freundlicher Genehmigung der International Olympic Committee Historical Archives. Die Quelle ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .
Frauensport und Männerwelt
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The results of the examination will be reported to the chairman of the Medical Commission or his appointed representative only. Should the results of the examination prove irregular, the chairman will call a meeting of the Medical Commission in the presence of a physician from the team and a representative of the International Federation concerned. The Medical Commission will issue a medical certificate to those competitors whose test results prove normal. Those competitors who fail to take this examination for no justifiable reason will be disqualified from taking part in the events. The Chairman of the I.O.C. Medical Commission: Prince Alexandre de Merode Lausanne
1972
AUTORINNEN UND AUTOREN Pablo Dominguez Andersen Dr., de Gruyter-Verlag, Berlin Felix Axster Dr., Zentrum für Antisemitismusforschung, Technische Universität Berlin Gisela Bock Prof. em. Dr., Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin Chiara Bonfiglioli Dr., Gender and Women’s Studies, University College Cork Maria Bühner M.A., Institut für Kulturwissenschaften, Universität Leipzig Belinda Davis Prof. Dr., Rutgers University, New Brunswick Franz X. Eder Prof. Dr., Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien Judith Große M.A., Institut für Geschichte, ETH Zürich Kirsten Heinsohn PD Dr., Forschungsstelle für Zeitgeschichte, Hamburg Margareth Lanzinger Univ. Prof., Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien Relinde Meiwes Dr., Freiberufliche Historikerin und Autorin, Berlin Christiane Mende M.A., Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam Gabriele Metzler Prof. Dr., Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin Maren Möhring Prof. Dr., Institut für Kulturwissenschaften, Universität Leipzig Ruth Nattermann Dr., Historisches Institut, Universität der Bundeswehr München Susanne Oesterreich M.A., Institut für Kulturwissenschaften, Universität Leipzig
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Autorinnen und Autoren
Stefan Offermann M.A., Institut für Kulturwissenschaften, Universität Leipzig Annelie Ramsbrock Dr., Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam Detlef Siegfried Prof. Dr., Department of English, Germanic and Roman Studies, University of Copenhagen Stefan Wiederkehr Dr., ETH-Bibliothek, ETH Zürich
Geschlecht und Sexualität sind konstitutiv für die Geschichte der europäischen Moderne. Wie sehr die historische Gesellschaftsanalyse von einer konsequenten Einbeziehung der Kategorie » Geschlecht « profitieren kann, demonstrieren die Autorinnen und Autoren dieses Bandes. Der Fokus liegt auf der Geschichte der europäischen Neuzeit, insbesondere des 20. Jahrhunderts. Anhand der Themenfelder Feminismus, Frauenarbeit, Männlichkeiten sowie Körper und Sexualitäten werden zum einen zentrale theoretische und methodische Weichenstellungen der Frauen- und Geschlechtergeschichte nachgezeichnet und zum anderen die große Bandbreite an Themen und Per-
ISBN 978-3-515-12138-5
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7835 1 5 1 2 1 385
spektiven verdeutlicht, welche die Geschlechtergeschichte bietet. Als Studien- und Lehrbuch konzipiert, führen alle Beiträge eine intensive quellenkritische Analyse des Untersuchungsmaterials durch, das von der » Erklärung der Rechte der Frau « von Olympe de Gouge aus dem Jahre 1791 bis zum Rap-Song » Ahmet Gündüz « von Fresh Familee aus dem Jahre 1990/91 reicht. Der Band ist ein Plädoyer für Methoden- und Perspektivenvielfalt, um die Entwicklung der europäischen Geschlechterordnung(en) der Neuzeit in ihrer Mannigfaltigkeit und auch Widersprüchlichkeit aufzuzeigen.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag