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German Pages 243 [244] Year 2003
Ethisierung - Ethikferne
Herausgegeben von Katja Becker, Eva-Maria Engelen und Milos Vec
Eine Veröffentlichung der Arbeitsgruppe „Ethik in den Wissenschaften" der Jungen Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina Gefördert von der VolkswagenStiftung und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung
Ethisierung - Ethikferne Wie viel Ethik braucht die Wissenschaft?
Herausgegeben von Katja Becker, Eva-Maria Engelen und Milos Vec
Akademie Verlag
Einbandgestaltung unter Verwendung eines Plakatmotivs von Ruth Tesmar/Hans Spörri
ISBN 3-05-003855-1 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2003 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: Ingo Scheffler, Berlin Satz/Lektorat: Tobias Jentsch, Berlin Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany
Inhalt
Katja Becker/Eva-Maria Engelen/Milos Vec Einleitung
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1. Teil: Prämissen und Grundprobleme der Ethisierung Andreas Brenner (Basel) Politische Ethik in den Zeiten der Biopolitik
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Nikola Biller-Andorno (Göttingen) Bioethik zwischen Fundamentalkritik und Anwendungsfragen
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Eva-Maria Engelen (Konstanz) Zeit und Norm. Evolution und Historizität der Werte in den Disziplinen Medizin und Biologie
35
Volker Hess (Berlin) Evolution und die Normen des Lebens
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Thomas Potthast (Tübingen) Moral der Experten und Experten der Moral. Zum Ethikdiskurs in der „grünen Gentechnik"
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Alexandra M. Freund (Evanston, Illinois) Wer sind die Experten der Wissenschaftsmoral?
71
Claudia Stellmach (Bonn) Wer Heilung verspricht, erhält (Völker-)Recht? Die Bioethikkonvention im Widerstreit von Ethiken und gesellschaftlichen Interessen
76
Axel W. Bauer (Heidelberg) Wer Heilung verspricht, erhält (Völker-)Recht? Kommentar zu dem gleichnamigen Beitrag von Claudia Stellmach
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Inhalt
2. Teil: Konvergenz und Divergenz wissenschaftsethischer Standards Hans-Jochen Diesfeld (Heidelberg) „Nord-Süd-Konflikt" in Bezug auf Ethik und Forschung
99
Milos Vec (Frankfurt am Main) Divergenter Wohlstand, dissonante Ethik. Die mehrfach fragmentierte Weltgesellschaft und die Dogmatik des Patentrechts
110
Heiner Schirmer (Heidelberg) Moral und Verteilungsethik des medizinischen Fortschritts
119
Cornelius Borck (Weimar) Was lehrt das Beispiel der Schlafkrankheit über die Ethik der Wissenschaft und die Moral der Welt?
132
Gertrude Hirsch Hadorn (Zürich) Risiken der technologischen Zivilisation als wissenschaftsethisches Problem
138
Rainer Maria Kiesow (Frankfurt am Main) Das Risiko der Ethik
153
Katja Becker (Gießen) Ethische Blitzlichter. Fragen an die Wissenschaftsfotografie
157
Wiebke Leister (London) Ethik im Menschenbild
160
3. Teil: Der normierte Wissenschaftler Wilhelm Krull (Hannover) Das Gute und das Rechte tun. Ethische Probleme und Herausforderungen in der interdisziplinären Nachwuchsförderung
181
Sybille Reichert (Zürich) Das Gute und das Rechte lehren
192
Inhalt Klaus Günther (Frankfurt am Main) Ethische Selbstkontrolle statt Recht? Regulierungsprobleme des Wissenschaftssystems
196
Maria-Sibylla Lotter (Erlangen-Nürnberg) Was für eine Ethik braucht die Wissenschaft? Einige Betrachtungen zu Klaus Günthers Unterscheidung von Recht und Moral
207
Volker Gerhardt (Berlin) Wahrheit verpflichtet
217
Holmer Steinfath (Regensburg) Wissenschaftsinterne Normen und Moral
229
Milos Vec (Frankfurt am Main) Schlusswort: Wie viel Ethik braucht der Mensch?
233
Hinweise zu den Autoren
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Einleitung
Im Jahr 2000 wurde Die Junge Akademie, eine Institution zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses, unter dem Dach der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina gegründet. Die Junge Akademie will unter anderem in enger Kooperation unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen Themen an der Schnittstelle von Wissenschaft und Gesellschaft aufgreifen. Gerade unter dieser Zielsetzung veranstalteten die drei Herausgeber dieses Bandes, in ihrer Funktion als Gründungsmitglieder der Jungen Akademie, im Oktober 2001 in Berlin ein zweitägiges Symposium mit dem Titel „Ethisierung - Ethikferne. Wie viel Ethik braucht die Wissenschaft?" Die Referentinnen und Referenten dieser Tagung, deren Beiträge in dem vorliegenden Buch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, gehörten den unterschiedlichsten Fachdisziplinen an. Unter ihnen finden sich Juristen, Mediziner, Biologen, Philosophen, Soziologen, Historiker und auch eine Fotografin. Auf der Basis dieser Vielfalt hoffen die Herausgeber, das Thema „Ethik in den Wissenschaften" transdisziplinär betrachten und interdisziplinär diskutieren zu können. Systematisch wird das Thema „Ethik in den modernen Wissenschaften" dabei immer wieder grundsätzlichen Perspektivwechseln unterzogen: Von der Ethik des einzelnen Forschers zu der einer Gruppe, von der Geschichte ethischer Standards zu den gegenwärtigen Normen, von disziplinübergreifenden Fragen zu spezifisch disziplinaren Problemen. So wird Gemeinsames und Trennendes der gegenwärtigen Probleme in den modernen Wissenschaften sichtbar gemacht. Für die Veranstaltung sowie für den vorliegenden Band wurden drei inhaltliche Schwerpunkte gesetzt. In dem grundlegenden ersten Teil werden die Leistungen und Grenzen von Ethik betrachtet. Vor dem Hintergrund der nachgerade modischen Diskussion ethischer Fragen in den Biowissenschaften wird gefragt, ob und inwiefern diese Diskussion als Modell für andere Wissenschaften dienen kann. In den Biowissenschaften sind Fragen nach der Relevanz und dem Bedarf an ethischer Bewertung nicht zuletzt durch Innovationen veranlasst, durch welche sich neue Perspektiven für die Forschung ergeben. Allenthalben werden sowohl die neuen Entdeckungen als auch menschliche Interventionsmöglichkeiten in bisher unberührte Bereiche in ihren praktischen Konsequenzen auf das Leben des Einzelnen und der Gesellschaft durchdacht. Zugleich werden die neuen Entwicklungen auf breiter fachwissenschaft-
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Einleitung
licher und publizistischer Basis ethisch durchleuchtet. Dabei erweist sich nach Ansicht vieler Beobachter, dass die derzeitigen wissenschaftlichen Fortschritte so grundlegend sind, dass sie auch grundsätzlich neue ethische Probleme aufwerfen. Das bisherige ethische Instrumentarium scheint demnach inadäquat, die aufkommenden Fragen sachgerecht zu beantworten. Diese unter großer Beteiligung vieler Fachgelehrter geführte Debatte hat wichtige Fragen angerissen und Anstöße gegeben, zugleich aber anderes weitgehend ausgeblendet. So ist bislang völlig unklar, ob auch in anderen Wissenschaften ein vergleichbarer ethischer Normierungsbedarf besteht. Welche ethischen Fragen diskutiert man auf den verschiedenen Forschungsfeldern? Scheint anderen Disziplinen „Ethisierung", also die Produktion und Implementation ethischer Normen, überhaupt ein erfolgversprechender Ansatz für die Lösung der gegenwärtigen Probleme zu sein? Oder wären aus ihrer Sicht andere Steuerungsmodelle, andere normative Systeme sinnvoller als der Rückgriff auf ethische Normen? Der zweite Schwerpunkt des Buches betrifft die Kommerzialisierung und Privatisierung von Wissen und Wissenschaft, die man als Ergebnis der Annäherung von Wissenschaft und Gesellschaft interpretieren kann. Mit ihr hängt auch das Problem der Verteilung von Forschungsgeldern, der ungleichen Möglichkeiten des Zugriffs auf Wissensressourcen und deren Nutzbarmachung in einer spätmodernen Weltgesellschaft zusammen. Auch die neuen Medien haben schließlich den Wissenstransfer einschneidend neugestaltet. Inwieweit ändern sich durch diese neuen wirtschaftlichen und technischen Rahmenbedingungen-derzeit ethische Anforderungen an die Wissenschaften? Kann die Gesellschaft etwa durch die Technikfolgenabschätzung den Risiken angemessen begegnen? Besonders offenkundig werden die Auswirkungen von Kommerzialisierung und Privatisierung des Wissens und der Wissenschaft im globalen Vergleich. Statt wie - lange erhofft eine Konvergenz der Standards zu erreichen, sieht man sich heute immer stärker mit dem Problem konfrontiert, dass der Trend zur Divergenz anhält, ja sich womöglich noch verschärft hat. Der dritte thematische Schwerpunkt von Ethisierung - Ethikferne liegt bei der Frage nach der persönlichen Verantwortlichkeit der einzelnen Wissenschaftlerin und des einzelnen Wissenschaftlers. In drei Artikeln und Kommentaren wird dem Problem nachgegangen, wie sich in den Einzelwissenschaften eine spezifische Wahrnehmung ethischen Verhaltens herausbildet. Wann kommt es überhaupt zu der Entstehung ethischer Normen, wann erscheinen sie notwendig, und in welchen internen und externen Faktoren hat der Bedarf an ethischen Normierungen seinen Ursprung? Ist dies ein irreversibler Prozess, der ständig weitere ethische Normen produziert oder gibt es jenseits dessen auch eine „Ent-Ethisierung"? Die zweiundzwanzig Beiträge des Symposiums „Ethisierung - Ethikferne" sind in diesem Band zusammengefasst. Die Veranstaltung wurde in Form eines Kommentatorenmodells durchgeführt, so dass jeder Vortrag von einem - idealerweise - kritischen Kommentar begleitet wurde. So wird auch der Leser in diesem Buch immer „Tandems" aus Vortrag und Kommentar vorfinden.
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Der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften sei an dieser Stelle für ihre logistische Hilfe gedankt, dem Bundesministerium für Bildung und Forschung, der Fritz Thyssen Stiftung sowie der VolkswagenStiftung für ihre finanzielle Unterstützung. Herzlich danken möchten wir weiterhin Frau Dr. Elisabeth Hamacher und Herrn Tobias Jentsch für ihre Unterstützung und wertvolle Mitarbeit.
Frühjahr 2003
Katja Becker
Eva-Maria Engelen
Milos Vec
Prämissen und Grundprobleme der Ethisierung
Andreas Brenner
Politische Ethik in den Zeiten der Biopolitik
1. Das Verhältnis von Ethik und Politik Das Verhältnis von Ethik und Politik ist immer prekär gewesen. Historisch mäandert es zwischen völliger Einheit (Piaton) und absoluter Trennung (Machiavelli), um sich in der Gegenwart im ruhigen Wasser einer weitgehend entmoralisierten Politik, die auf einem kaum hinterfragten Minimal-Fundament aufruht, einzupendeln. Mit dieser Ruhe ist es seit wenigen Jahren vorbei. Der erste Sturm, der die Gemüter und die ruhige Lage in Kontinentaleuropa aufwirbelte, fegte im Sommer 2000 über den Ärmelkanal und wurde verursacht durch die Ankündigung der britischen Regierung, das therapeutische Klonen zu erlauben, kurz darauf folgte die nächste Aufregung mit der Meldung, das menschliche Genom sei entschlüsselt. Seit diesen Ereignissen ist das mühsam austarierte und in ein vermeintliches Gleichgewicht gebrachte Verhältnis von Ethik und Politik durcheinander geraten. In der Bundesrepublik zeigt sich diese Erschütterung besonders vehement, sind doch mit Embryonenschutzgesetz (EschG) und § 218 StGB zwei Gesetze berührt, die, das gilt besonders für den § 218, nur mit großer Mühe politische Wünsche und ethische Forderungen in eine pattähnliche Ruhestellung bringen konnten. Der von Wissenschaftlern und Wissenschaftsorganisationen ausgeübte Druck zur Aufhebung der im EschG festgelegten Schutzbestimmungen zu Gunsten des Embryos und die gesellschaftliche Diskussion der Frage des therapeutischen Klonens sowie, nachdem diese anfangliche Bescheidung des Forschungsziels erwartungsgemäß von einigen Wissenschaftlern aufgegeben worden war, der Frage des Humanklonings, findet ihren Niederschlag in der politischen Institutionalisierung von Ethikkommissionen, allen voran der prominentesten, dem Nationalen Ethikrat beim Bundeskanzleramt. Damit hat bei erster Sicht der Dinge die Ethik eine Bedeutung wiedererlangt, die unter Berücksichtigung der historischen Entwicklung des Verhältnisses von Ethik und Politik durchaus überrascht: Auf die Phase des zunehmenden Rückzugs der Ethik aus dem Bereich des Politischen und einer damit einhergehenden Entmoralisierung des Politischen, folgt die Umkehrung und die Wiederannäherung von Ethik und Politik, welche sich zu Gunsten der Dominanz der Ethik zu vollziehen scheint - soweit die erste Bestandsaufnahme zum Zu-
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Andreas Brenner
stand von Ethik und Politik nach den epochalen biotechnologischen Durchbrüchen. Bevor wir die Rolle der Ethik in dieser Situation genauer ansehen, sollen die gesellschaftlichen Systeme Wissenschaft und Politik in ihren Bewegungen betrachtet werden.
1.1 Die Rolle der Wissenschaft Wenn hier von Wissenschaft geredet wird und die Biowissenschaften gemeint sind, macht man sich einer Vereinfachung schuldig, die so tut, als gäbe es den monolithischen Block eines biowissenschaftlichen Komplexes, der ein Ziel und eine Methode verfolge. Dem ist natürlich nicht so. Wie in jeder Wissenschaft, so gibt es auch in den Biowissenschaften unterschiedliche Erkenntnis- und Anwendungsziele, die mit unterschiedlichen Methoden angegangen werden. Und so gibt es in dem besonders brisanten Bereich der humanen Genforschung Forscher und Forscherinnen, die verbrauchende Embryonenforschung betreiben und Humankloning anstreben - dieses nenne ich das progressive Forschungsziel - und solche, die dies entschieden ablehnen - dieses Forschungsziel nenne ich, weil es keinen vergleichbaren Qualitätssprung bedeutet, das konservative Forschungsziel. Eine Quantifizierung dieser Positionen, nach der sich sagen ließe, wie viel Prozent der in der Biowissenschaft tätigen Forscher und Forscherinnen ein progressives und wie viele ein konservatives Forschungsziel anstreben, lässt sich mangels entsprechender Erhebungen (und nicht, weil die Übergänge fließend und daher unscharf wären) nicht angeben. Zur Beschreibung der Positionierung der Biowissenschaft im gesellschaftlich-politischen Feld ist diese Kenntnis indes auch nicht nötig und die Homogenität unterstellende Rede von der Biowissenschaft hinnehmbar. Es sind nun die im genannten Sinne progressiven und nicht die konservativen Forscher und Forscherinnen, die die Ethik herausfordern. Dies ist, wie wir noch sehen werden, keineswegs selbstevident, so wie es auf Seiten der Ethik keineswegs evident ist, dass sie im Hinblick auf die mögliche Veränderung der Lebenswelt eine konservative Position bezieht, sondern hat vielmehr mit der Typologie des progressiven Forschungsziels zu tun. Die Biowissenschaft, das heißt deren progressive Kohorte, welche Embryonenforschung und Humankloning anstrebt und, darin nicht nur wissenschaftliches, sondern auch menschheitsgeschichtliches Neuland betretend, auf zu erwartende Widerstände stößt, welche man, wenn man sich für ethische Argumente unempfänglich zeigt, auch als Beharrungskräfte bezeichnen könnte, versucht diesen Widerständen argumentativ zu begegnen. Das stärkste Argument bei der Verteidigung der eigenen Position und Widerlegung von Einwänden ist der Hinweis auf den therapeutischen Nutzen beabsichtigter Forschung, fast ebenso wichtig ist das Argument der Individualfreiheit, die ein angestrebtes Forschungsziel zu befördern geeignet sei. Das erste Argument, das sich ja schon im Begriff des „therapeutischen" Klonens findet, ist nicht schon deshalb so stark, wie es sich in der konkreten Debatte erwiesen hat, weil Therapie oder Heilung ein Akt des Wohlwollens wäre. Das alleine enthält noch keine starke normative Kraft, denn Wohlwollen ist eine zu wünschende Haltung, zu der jedoch nicht gezwungen werden kann. Zu Wohlwollen kann man niemanden zwingen, so wenig wie man von jemandem die Freundschaft erzwingen kann - und dort kommt nach
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Aristoteles ja auch das Wohlwollen in seiner reinsten Form vor.1 Therapie oder Heilung soll dagegen im Sinne der progressiven Biowissenschaftler und Biowissenschaftlerinnen von ihrem Ergebnis her verstanden werden: Erfolgreiche Therapie eliminiert oder mindert zumindest den Schaden, den ein Mensch in Form einer Krankheit oder einer Dysfunktion erleidet. Da die Wissenschaft die Möglichkeit zur Schadensminderung zu haben oder doch sich verschaffen zu können glaubt, stellt der Verzicht auf die entsprechende Forschung, so das Argument, eine Schädigung von Menschen dar.2 Damit kommt das Neminem-LaedePrinzip, und damit das wohl unstrittigste ethische Prinzip, in Geltung, das fur sich genommen in der Tat zwingenden Charakter hat. Dem Zwang dieses Arguments kann sich keine Minimalethik entziehen. Und es hat sich diesem Argument auch niemand entzogen, sowohl Max-Planck-Gesellschaft3 wie auch DFG4 haben diesem Argument entsprochen und ihre Forschungsrichtlinien auf Position der progressiven Forscher und Forscherinnen gebracht. Wie tief verankert das Neminem-Laede-Prinzip ist, zeigt sich daran, dass das Therapieversprechen, das den Schluss auf dieses Prinzip vollzog, in jeder Hinsicht unhinterfragt blieb, also sowohl hinsichtlich der objektiven Möglichkeit, das Versprechen auch einlösen zu können, wie auch hinsichtlich der Zulässigkeit, Unterlassen als ein Tun zu betrachten. Das erste Manko, also die mangelnde Kritik der Erfolgsaussicht, kann ich nicht beurteilen, jedoch feststellen, dass es innerhalb der Naturwissenschaft Stimmen gibt, die Zweifel an den Therapieversprechen äußern, die zu nennen ein Gebot wissenschaftlicher Redlichkeit wäre. Tun, und das betrifft den zweiten Teil des ersten Arguments, ist aber nicht in jedem Falle identisch mit Unterlassen. Das zweite Argument, das der Individualfreiheit, welche unter Verzicht auf eine Forschung beeinträchtigt würde, taucht beispielsweise in der Rechtfertigung von Humanklonplänen auf als Freiheit der Selbstbestimmung der Fortpflanzungsart.5 Auch in diesem Falle nutzt die Wissenschaft das Image eines kulturell hochdotierten Begriffs als Argument, ohne den Erweis seiner sachlichen Begründetheit zu erbringen.
1.2 Die Rolle der Politik Die Politik, die zu Beginn der biowissenschaftlichen Offensive gut gerüstet dastand, das heißt über ein angemessenes Embryonenschutzgesetz und einen den Rechtsfrieden gewährenden § 218 verfugte, beginnt diese Positionen zur Disposition zu stellen und damit aufzugeben. Neben den ökonomischen Erwartungen, die an die neuen Forschungen gerichtet sind, sind es vor allem die ethischen Argumente, denen sich auch jene Politiker und Politikerinnen, die sich den ökonomischen Kalkülen weniger aufnahmebereit zeigen, glauben 1 Aristoteles: Nikomachische Ethik, IX, 5. 2 Vgl. Brüstle2000,41. 3 Markl 2001. 4 DFG 2001. 5 Siehe beispielsweise Benford 2001,41.
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Andreas Brenner
beugen zu müssen; also die der Therapiemöglichkeit und die der Gewährung der Freiheit. Und so räumt die Politik Bastionen des Rechts und macht der progressiven Wissenschaft Platz. Zu dieser Kurskorrektur sieht sich die Politik, wenn man einmal die ökonomischen Gewinnerwartungen beiseite lässt, welche bei einigen Politikern und Politikerinnen gerade keine dominante Rolle zu spielen scheinen, aus ethischen Gründen genötigt: Neminem laede und Autonomie des Einzelnen sind die tragenden Prinzipien. Auch hier zeigt sich also wieder der dominante Einfluss der Ethik. Oder etwa nicht?
2. Die Funktion des Ethikdiskurses Bereits die Verteidigungsstrategie der progressiven Wissenschaft, wie auch die der im Sinne dieser Wissenschaft forschungsfreundlichen Politik, argumentiert ethisch. Die gegenwärtige Präsenz der Ethik im öffentlichen Diskurs ist in diesem Ausmaß historisch selten. Denkt man an eine ähnlich heftig erstrittene und umstrittene technologische Innovation des letzten Jahrhunderts, nämlich die Kernkraft, so bedienen sich dort fast ausschließlich die Gegner dieser Technologie des ethischen Arguments. Auf Seiten der Befürworter werden dagegen höchstens ethische Argumente zweiter Dringlichkeit verwandt, etwa das Saubere-LuftArgument, das insofern sekundär ist, als nach dem damaligen Kenntnisstand das ganze Ausmaß der Gesundheitsschädigung durch verunreinigte Luft noch nicht bekannt war. Und so waren es vor allem ökonomische Argumente, mit denen die Anhänger der Atomtechnologie, wie sich zeigen sollte, sehr erfolgreich für die Durchsetzung dieser Technologie warben. Ethik blieb den Gegnern des jeweiligen Fortschritts, den „Fortschrittsfeinden" also, vorbehalten,6 die den Lauf der Dinge zwar manches Mal aufhalten, aber nicht stoppen konnten. Was waren die Gründe für den mangelhaften Erfolg? Bedienten sich die Atomtechnologiekritiker des falschen Sprachspiels, oder zwar des richtigen, wandten dieses jedoch im Einzelfall und in der Hitze ihres Abwehrkampfes fehlerhaft an? Und wie argumentiert „Ethik" heute? Ethisch argumentieren und über ethische Kenntnisse verfügen kann jeder, in diesem Sinne ist Ethik kein exklusives Projekt. Wenn im Folgenden Ethik als Institution betrachtet wird, sind damit jene ethischen Stellungnahmen gemeint, die von Autoren und Autorinnen stammen, die, im Unterschied zu den progressiven Forschern und Forscherinnen nicht in die zur Diskussion stehenden Forschungsprojekte direkt involviert sind und also eine relative Distanz zu diesen einzunehmen in der Lage sind. Die Natur der Sache bringt es mit sich, dass die ethischen Stellungnahmen zur Biowissenschaft selten vermittelnden Charakter haben und nach einer Entweder-Oder-Ordnung die in Frage stehenden Forschungen entweder ethisch argumentativ stützen oder ablehnen.
6 Zur ethisch diskursiven Begleitung von Technikinnovationen siehe Sieferle 1984 und MeyerAbich/Schefold 1986, Kap. 2.
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2.1 Ethik ohne Einfluss? Betrachtet man die Wirkung der beiden Gruppen, so fällt ihre relative bis absolute Einflusslosigkeit auf. Dieses Ergebnis ist angesichts der zuvor festgestellten neuen öffentlichen Beachtung des ethischen Arguments überraschend. Indes zeigt sich, dass die Befürworter der biowissenschaftlichen Innovationen die von den progressiven Forschern und Forscherinnen vorgebrachten Argumente lediglich bestätigen und kein neues Element in den Diskurs implementieren und daher folgenlos bleiben. Alleine die Kritiker und Gegner dieser Innovationen erlangen mit ihren Argumenten eine relative Wirksamkeit, insofern ihre Kritik zu der bereits genannten Institutionalisierung der Ethik beigetragen hat. Obwohl die Kompetenz dieser Kommissionen fast ausschließlich in der Expertise liegt und zum Teil, wie im Falle des Nationalen Ethikrats sogar ein Referatsrecht, das Recht also, bei der Stiftungsstelle der Ethikkommission Bericht zu erstatten, fehlt, haben die Kommissionen indirekt, nämlich durch den politischen Willen, ihre Arbeit nicht durch die Schaffung vollendeter Tatsachen zu brüskieren, zu einer Entschleunigung der Anwendungen beigetragen. Wenn im Folgenden nach den Gründen für den bescheidenen Erfolg der Ethik im biopolitischen Diskurs gefragt wird, richtet sich diese Frage an die kritische Ethik, da alleine von ihr eine sichtbare Wirkung zu erwarten wäre; denn die Position der die biowissenschaftlichen Innovationen befürwortenden Ethik realisiert sich auch ohne deren Engagement, alleine durch die Überzeugungskraft der progressiven Forschung.
2.2 Warum hat die kritische Ethik in der Debatte um die Biopolitik nur geringen Einfluss? Fragt man nach der relativen Einflusslosigkeit der kritischen Ethik, so scheidet eine denkbare Antwort aus: die Taubheit gegenüber dem ethischen Argument. Denn eine solche Annahme wird durch den politischen Erfolg der progressiven Forschung, die sich ja, wie gesehen, ethischer Argumente bedient, widerlegt. Im Vergleich zur Argumentation der progressiven Forschung fallt indes ein struktureller Unterschied auf: Während die progressive Forschung mit dem Heilungsversprechen und der Ausgestaltung eines Freiheitsideals in den neuen Zeiten ihrer technischen Ermöglichung neue Räume vorzuzeichnen unternimmt, macht die kritische Ethik den gehetzten Eindruck dessen, der immer nur hinterherrennt. Dass die Angewandte Ethik die verspätete Ethik ist, ist schon früh im Diskurs der Angewandten Ethik festgestellt worden. Wenn die Angewandte Ethik sich aber in ihrer Aufgabe als „Reparaturethik"7 erschöpft, dann wird sie zur Sklavin der Ereignisse und hat im Grunde keine Chance mehr.8
7 Mittelstraß 1989. 8 Zur „Chance" der Ethik siehe den frühen Sammelband von Wils/Mieth 1989.
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Andreas Brenner
Bevor ich einen innovativen Ethikansatz vorstellen möchte, der gestaltend statt „reparierend" sein kann, möchte ich an einem kritischen Ethikansatz erläutern, wie das „Hinterherlaufen" aussieht und es zum Zuspätkommen kommt. Ich wähle dazu die Position von Robert Spaemann. Spaemanns biowissenschaftskritische Ethik eignet sich deshalb besonders für diesen Nachweis, da sie in nahezu jedem Punkt die biowissenschaftliche Forschung kritisch begleitet und sich dabei auf eine beeindruckende theoretische Vorarbeit stützen kann.9 Als für unsere Thematik bedeutendstes Ergebnis kann Spaemanns umfassender Begriff der menschlichen Person gelten. Umfassend ist dieser Begriff insofern, als er nicht an die Qualifikation durch Kriterien gebunden ist und daher nicht auf die zeitlich bedingte Realisierung dieser Kriterien angewiesen ist. Entsprechend heißt es bei Spaemann und in ausdrücklicher Gegnerschaft zu den Positionen von Peter Singer und Norbert Hoerster: „Die Anerkennung als Person kann nicht erst die Reaktion auf das Vorliegen spezifisch personaler Eigenschaften sein, weil diese Eigenschaften überhaupt erst auftreten, wo ein Kind diejenige Zuwendung erfahrt, die wir Personen entgegenbringen."10 Die auch forschungspolitisch bedeutsame Folge dieser Feststellung lautet: „Wir haben nie das Bewußtsein, Personen zu machen. Personsein ist vielmehr im eminenten Sinn Existieren-aus-eigenem-Ursprung, das allem Herstellen von außen entzogen ist"11. Oder: „Person ist der Mensch und nicht eine Eigenschaft des Menschen"12. Forschungspolitisch relevant sind diese Festlegungen deshalb, weil das Mensch- und damit das Personsein für Spaemann zum frühest möglichen Zeitpunkt beginnt und damit bereits dem Embryo Personen- und das sind Menschenrechte zukommen. Diese Festlegungen beinhalten evidentermaßen ein Verbot der Embryonenforschung in all ihren möglichen Varianten. Diese Position sieht sich zwei Einwänden ausgesetzt: Der eine kommt als Vorwurf daher, letztlich sei die grundgelegte Personentheorie religiös begründet.13 Dieser Einwand kann sich dabei sogar auf Spaemann selber berufen, der einen solchen Begründungsboden seiner Theorie nicht leugnet und keinen anderen für denkmöglich hält,14 ja bereits den Verzicht auf eine solche Begründung als unverantwortlich erachtet - unverantwortlich im doppelten Sinne: zum einen wegen der erst im Gedenken Gottes möglichen Entlastung der Verantwortung15 wie, zum anderen, auch der erst durch Gott möglichen Begrenzung menschlicher Willkür, wäre doch, so Spaemann, wenn es Gott nicht gäbe, „alles erlaubt".16 Der zwei-
9 Besonders die Arbeiten Spaemann 1989 und 1996. 10 Spaemann 1996, 256. 11 Ebd., 257. 12 Ebd., 264. 13 So Hoerster 2001, siehe auch ders. 1995, Kap. 9. 14 Spaemann 1996,27 u. 103. 15 Ebd., 106-109. 16 Ebd., 105.
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te Einwand gegen diese Theorie hält die Kosten dieser Theorie für zu hoch, stellte sie sich doch zu erwartenden Therapiemöglichkeiten in den Weg. Dieser Einwand bietet indes kein neues Argument, bekräftigt er doch lediglich die Opposition gegen einen religiös begründeten Unverfugbarkeitsanspruch menschlichen Lebens. Der Kern des Streits, der in der Bioethik-Debatte von den Vertretern und Vertreterinnen der Philosophie ausgetragen wird, dreht sich also letztlich um die Säkularisierung der Ethik. Und diese Frage stand bereits am Beginn der Angewandten Ethik. Das Argument einer a-religiösen, vollkommen säkularisierten Ethik ist Dreh- und Angelpunkt der Grundlegungsschrift der Angewandten Ethik, der Practical Ethics von Peter Singer. Die Argumentation bei Singer enthielt noch einen Zweischritt: Wenn die Menschenwürde und alle mit ihr verbundenen Schutzstandards religiös begründet sind, dann zählt dieses Argument nicht17 und wir müssen Ausschau nach einer neuen Begründung halten. Mittlerweile scheint sich die Ansicht der religiösen Begründetheit der Menschenwürde und aller mit ihr verbundener Schutzstandards zumindest in Fragen der Bioethik und Biopolitik weitgehend durchgesetzt zu haben, weswegen die Verteidiger der religiösen Position so sehr ins Hintertreffen geraten sind. Aus der so entstandenen Frontstellung lässt sich bioethisch nicht mehr viel erstreiten, müsste doch zunächst einmal der weitaus anspruchsvollere Grundlegungsstreit um das Fundament der Ethik ausgetragen werden. Die Exponenten der kritischen Ethik, allen voran Spaemann und Vittorio Hösle18, sekundiert von katholischen Theologen, scheinen die biowissenschaftlichen Innovationen zum Anlass für eben diese Grundsatzdebatte nehmen zu wollen. Diese Ambition wirkt sich indes fatal aus: Die kritische Position, die bedingt durch ihre reaktive Haltung („Reparaturethik", „Hinterherlaufen der Ethik") ohnehin bereits im Rückstand liegt, verliert weiter an Boden. Nun ist die Frage, ob eine und welche nicht-religiöse Begründung der Ethik möglich ist, ohne Zweifel eine der herausragenden philosophischen Fragen der näheren Zukunft, aber es ist nicht die primäre Frage der Bioethik. Das heißt nicht, dass die Beantwortung dieser Fundamentalfrage, sofern sie denn möglich sein sollte, nichts zur Bioethik beitragen könnte, das Gegenteil dürfte der Fall sein. Jedoch zeigt sich, dass wir zur Zeit mit der Beantwortung dieser Frage keine wesentlichen Fortschritte machen. Und das ist schlimm in einer Situation, in der fast wöchentlich biowissenschaftliche Quantensprünge erfolgen, zu denen zu verhalten wir uns genötigt sehen. Daher scheint es ratsam, dieses Feld der ethischen Untersuchung nicht weiterhin für die Austragung bioethischer Debatten zu beackern und sich einem neuen Gebiet zuzuwenden. Es gilt also, die bioethischen Fragen nicht länger als Herausforderung einer ethischen Fundamentalkritik zu begreifen, sondern diese Fragen dort zu beantworten zu versuchen, wo sie nach ihrer Geburt im Privaten auftauchen: nämlich im Öffentlichen. Und zur Beantwortung dieser Frage kann unter den geltenden theoretischen Bedingungen die Politische Ethik mehr leisten als die ethische Fundamentalkritik.
17 Singer 1979, 150. 18 Hösle 2001.
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Andreas Brenner
3. Kritische Ethik muss Politische Ethik sein 3.1 Was Politische Ethik nicht meint Gerade in Verbindung mit einer wissenschaftsdiktierten ethischen Frage liegt die Vermutung nahe, Politische Ethik sei eine der Regelung der politischen Institutionen und Verfahren, hier also im besonderen eine Beurteilung der Freiheit der Forschung. Solchermaßen wird der Begriff der Politischen Ethik neuerdings verstanden.19 Ethik in diesem Sinne ist jedoch in nur eingeschränkter Weise politisch und sollte eher als „Ethik politischer Institutionen" oder „Ethik der Regime" betrachtet werden. Und wie für die Angewandte Ethik insgesamt, so besteht auch fur die Institutionen- oder Regime-Ethik die Gefahr, hinter den Entwicklungen hinterherzulaufen und dabei ihren Rückstand um so mehr zu vergrößern, wie sie Anschluss an eben diese zu halten versucht. Das ethische Paradox ähnelt strukturell dem zerrinnenden Neuigkeitswert von Moden: Nichts wirkt so altbacken wie die Mode von gestern. Und auch Ethiken, die sich heute noch erfolgreich um die größtmögliche Nähe zum Objekt ihrer Kritik bemühen, können, wenn auf diesem Wege zu viel historisch geronnener Reflexionsballast abgeworfen wurde, gerade deshalb morgen bereits besonders alt aussehen. Ballast kann also durchaus von Vorteil sein und einer Theorie Gewicht verleihen. Politische Ethik, wie sie hier gemeint und gesucht wird, nimmt demgegenüber anthropologische Konstanten in den Blick, so wie sie unabhängig von den mehr oder weniger zufällig gebildeten technologischen oder wissenschaftlichen Rahmenbedingungen einer regionalen Gesellschaft Bedeutung haben. Auf eine dieser Konstanten nimmt, wie bereits erwähnt, auch die progressive Forschung indirekten Bezug: Menschen fliehen den Schmerz. Menschen dürfen daher einander keinen Schmerz, oder besser, keinen Schaden zufügen. Neminem laede wird, so die progressive Forschung, aber gerade dann verletzt, wenn man auf mögliche Heilungsmethoden verzichtet. Dass Menschen den Schmerz, oder besser, den Schaden meiden, kann mit demselben Recht als universale anthropologische Konstante bezeichnet werden, wie Neminem laede ein ethisches Grundprinzip ist.
3.2 Was Politische Ethik sein soll Politische Ethik verfolgt nun nicht allein das Ziel, Schädigungen zu vermeiden, sondern arbeitet an Bedingungen menschlichen Seins, in denen gleichsam als Nebeneffekt Schädigungen nicht vorkommen. Hauptziel ist indessen nicht das negative der Vermeidung unerwünschter Folgen, sondern das positive der Gestaltung eines öffentlichen Raumes, in dem Menschen in einem möglichst umfassenden Sinne Partizipationsfahigkeiten entfalten können.
19 Beispielsweise bei Chwaszcza 1996, Kesselring 1996 und Nida-Rümelin 1996, kritisch hierzu Brenner 2002.
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Dieser Raum ist für Menschen unverzichtbar, außerhalb desselben sind sie zum Untergang verdammt.20 Und zwar nicht allein der Schutzlosigkeit wegen, deren Opfer sie werden könnten, sondern weil die Gemeinschaft mit anderen eine identitätsstiftende Bedeutung hat, weswegen man sagen kann, dass Menschen erst in diesem Raum werden, was sie geworden sind, nämlich Wesen, die sich in Projekten engagieren, die über ihre eigenen primären Interessen hinausgehen. Im Streit um die Bioethik beweisen die meisten Teilnehmer eben dies: Sie sind nicht direkt von den biowissenschaftlichen Möglichkeiten betroffen, engagieren sich aber in ihrer jeweiligen Weise aus Sorge um das Gemeinwesen. Da wir uns nicht frei von diesem Gemeinwesen definieren können, ist Teil dieser Sorge auch die Sorge um sich. Vorrangig geht es jedoch nicht um mich oder den anderen, sondern um die Bedingungen, in denen sowohl ich als auch die anderen miteinander leben können und werden. Diese Bedingungen möglichst optimal zu gestalten, ist das Ziel des staatlichen Gemeinwesens.21 Ungeachtet der genannten anthropologischen Konstanten unterscheiden sich moderne staatliche Gemeinwesen von früheren, wobei der Unterschied vor allem einer der auf entwickelte Ansprüche zurückgehenden Differenz ist. So zählen die Menschenrechte heute zu den unverzichtbaren Mindestbedingungen für das Gelingen von Gemeinwesen. Der weiteren Differenzierung ist es zu danken, dass neben dem Schutzanspruch auf körperliche und geistige Unversehrtheit, der sich aus der Würde des Menschen herleitet, eine weitere Sorge getreten ist, welche die Würde weiterbegreift. Die Arbeit an Bedingungen, die sich der Entfaltung der Würde nicht entgegenstellen, wird somit zur Aufgabe der Politischen Ethik, die sich auf Dauer um den Rahmen sorgt, innerhalb dessen Menschen sein können, was sie geworden sind, nämlich Wesen, die sich selbst und andere achten können und einen wichtigen Teil der Selbstachtung aus der Haltung ziehen, gegenüber den Verhältnissen des Gemeinwesens nicht gleichgültig zu sein.
4. Bausteine einer in Zeiten von Bioethik und Biopolitik angemessenen Politischen Ethik Ethik ist eine intellektuelle Haltung des Engagements, die sich gegen habituelle Vergleichgültigung wendet. Politische Ethik sorgt sich in diesem Sinne um die Aufmerksamkeit für Gefährdungen von Selbstachtungsmöglichkeiten. Mit dieser Aufgabe bleibt Politische Ethik hinter dem Anspruch einer „Politik der Würde" wie Avishai Margalits' Buch The Decent Society im Deutschen heißt, zurück. Eine Politik der Würde bzw. eine Politik des Anstands begründet, wie es auch Margalits Anliegen ist, eine Politische Ethik im Sinne der Institutionen- oder Regime-Ethik.22 20 Aristoteles: Politik, I, 1253a2-29. 21 Ebd., III, 1280b39. 22 So lautet ja auch Margalits Untersuchungsfrage, wann politische Institutionen Würde verletzen bzw. demütigen, siehe Margalits 1996.
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Eine solche Regime-Ethik macht ausfuhrliche Analysen konkreter Politiken notwendig. Sowohl Intention wie normativen Rückhalt können diese Untersuchungen nur in einer Politischen Ethik im primären Sinne finden. Wenn im Sinne Aristoteles' das gute Leben Ziel des staatlichen Gemeinwesens ist,23 so hat die Politische Ethik den Diskurs über das gute Leben, dort, wo er einzuschlafen droht, in Gang zu halten und dort, wo dieses Ziel Gefahr läuft aus dem Blick zu geraten, aufzuklären. Beide Elemente sind im aktuellen Bioethik-Diskurs festzustellen. So bemühen sich sowohl Vertreter der progressiven Position wie auch der negativen Kritik, in Erinnerung zu rufen, dass die biowissenschaftlichen Fortschritte nicht um ihrer selbst willen, sondern um des Menschen willen zu begreifen seien und der Streit sich daher um die Frage drehe, was dem Menschen dient. Schon diese Frage lässt sich jedoch in verschiedener Weise begreifen, zum einen nämlich als Frage nach einem mehr oder weniger eindeutig angebbaren Nutzen für den Menschen und zum anderen als Teil der Eudaimonia, welche das gute Leben ausmacht.24 Während die erste Position sich dem Einwand aussetzt, von einer vorgefassten und ideologisch geprägten Bedeutung des für den Menschen Guten, im Sinne von Zweckdienlichem, auszugehen,25 so lautet der starke Einwand gegen die zweite Position, reales menschliches Leid zum Wohle eines idealistischen Konzepts in Kauf zu nehmen.26 Bereits der aufrichtig geführte Diskurs über diese Fragen ist Teil Politischer Ethik. Der beklagte Reflexionsrückstand der kritischen Ethik ist auf die lange, erst mit dem Erscheinen von John Rawls Gerechtigkeitstheorie erkannte und beendete Vernachlässigung der Politischen Ethik und Politischen Philosophie zurückzuführen. Dem Umstand der weitgehenden Ausblendung von Fragen Politischer Ethik aus dem Gesellschaftsdiskurs zu Gunsten von Fragen der Ethik politischer Institutionen oder Regime ist es geschuldet, dass die kritische Ethik auf der Ebene ihrer unmittelbaren Konsequenzen kritisiert wird und dort wenig entgegenzusetzen hat. Dabei verfügt die Philosophie durchaus über geeignete Instrumentarien, die in der Folge der Rawls-Kritik - und einer Renaissance der Philosophie Hannah Arendts - aufgekommen sind: Eine der Voraussetzungen ist die Wiedereinübung in Politisches Denken. Erst auf dieser Ebene lässt sich ein Fundament legen, dass gegen die Angriffe der progressiven Position ein höheres Maß an Erschütterungsresistenz besitzt, als dies bislang für die kritische Ethik der Fall ist. Im Folgenden sollen drei Bausteine dieses Fundaments vorgestellt werden.
23 Aristoteles: Politik, III, 1280b39. 24 Zur Eudaimonia, die sich einstellt, wenn das Leben gut ist (war), siehe Aristoteles: Nikomachische Ethik, I, 6. 25 Zugespitzt kann man den Einwand auf den Begriff vom „Heilen als Ideologie" bringen, wie ein Artikel von St. Sahm betitelt ist, siehe Sahm 2001. 26 In diesem Sinne Kuhlmann 2001a.
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4.1 Natalität Der biowissenschaftliche Diskurs dreht sich mehr oder weniger intensiv um Fragen von Leben und Tod.27 Der Lebensbeginn, der insbesondere durch die strittige Frage nach dem Status des Embryos berührt ist, findet indes merkwürdigerweise keine angemessene Berücksichtigung als urpolitisches Ereignis. Denn was Hannah Arendt 1958 noch im Konditionalis schrieb, dass es nämlich wohl sein könnte, „daß Natalität für politisches Denken ein so entscheidendes, Kategorien-bildendes Faktum darstellt, wie Sterblichkeit seit eh und je und im Abendland zumindest seit Plato der Tatbestand war, an dem metaphysisch-philosophisches Denken sich entzündete"28, kann man in den Zeiten der Biowissenschaft getrost im Indikativ schreiben. Wenngleich die Natalität noch nicht die diskursive Bedeutung erlangt hat, die Arendt vorschwebte, so wirken doch die Rahmenbedingungen der Natalität entzündlich. Die Bedingungen, die Biowissenschaft hier zu tangieren und zu verändern vermag, berühren, wie die kritische Ethik feststellt, die Würde des Menschen. Dieser intuitiv plausible Einwand erweist sich in der philosophischen Auseinandersetzung, das heißt einer mit größerem reflexivem Abstand geführten Diskussion jedoch als überraschend schwach. Den Hauptgrund für diese Schwäche sehe ich in den religiösen Momenten einer jeden anspruchsvollen Würdebegründung. Anspruchsvolle Würdebegründungen, also solche, die mit der Würde einen weitreichenden Anspruch verbinden, haben meiner Meinung nach ihren religiösen Ursprung nie wirklich hinter sich lassen können. Darin mag man ein weiteres Indiz für die Notwendigkeit einer Klärung der religiösen Gehalte säkularer Ethik sehen. Auf diese Klärung kann, wie bereits gezeigt, jedoch nicht gewartet werden. Die Situation des Menschen unter den Bedingungen der biowissenschaftlichen Forschung und unter seiner Conditio humana, die ebenso durch Mortalität wie durch Natalität ausgezeichnet ist, verlangen nach Handlung. Die Bedeutung der Natalität zu behaupten, stellt eine Handlung dar, ebenso, wie jedem neuen Menschen „die Fähigkeit zukommt, selbst einen neuen Anfang zu machen, d. h. zu handeln" (Arendt)29. Diese Fähigkeit zu hegen, ist eine Hauptaufgabe Politischer Ethik, deren andere und damit verknüpfte in einer Beschränkung oder Einschränkung des Politischen liegt. Dass gerade die Natalität einen Ort darstellt, an dem die Politik der modernen Biowissenschaft in ihre Grenzen verwiesen werden muss, machen staatliche Ein- und Übergriffe auf den Lebensbeginn deutlich, wie sie sich in öffentlich geforderten Forschungsprogrammen am Genom einer Bevölkerung oder den Möglichkeiten der Präimplantationsdiagnostik (PID) zeigen. Die Begrenzung des Politischen im Interesse der „Anerkennung der Besonderheit des Individuums" (Lahrem/Weißbach)30 rückt aber erst unter bestimmten naturwissenschaftlichen Möglichkeiten in
27 Kuhlmann redet in diesem Zusammenhang von der „Politik des Lebens und des Sterbens" (Kuhlmann 2001b). 28 Arendt 1958, 18. 29 Ebd., 18. 30 Lahrem/Weißbach 2000, 104.
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den Bereich des Denkmöglichen und erhält dann normativen Charakter. Da die neuen Technologien der Philosophie „einen öffentlichen Diskurs über das richtige Verständnis der kulturellen Lebensform als solcher" aufdrängt (Habermas),31 kann sie sich nun nicht länger ihrer ureigenen Aufgabe entziehen. Der Natalität als solcher kommt nach Hannah Arendt politischer Gehalt zu. Wenn unter dem Druck der neuen technologischen Möglichkeiten die große Egalität der Natalität schwindet, verlieren diese Technologien ihre ethische Neutralität. Wir brauchen also nicht mit den Mitteln einer religiös orientierten Ethik das schwer zu verteidigende Argument eines missachteten Schöpferwillens oder, als deren säkulare Variante, ein Contra-natura-Argument aufzubauen. Natalität unter den Bedingungen der weitgehenden Unverfügbarkeit gehört zur Conditio humana, deren egalitäres Moment ein starker Grund ist, nämlich der zwischenmenschlichen Solidarität. Die Solidarität der Geborenen speist sich bislang noch aus dem Wissen, selbst psychisch-physisch in der Position der am Schlechtestgestellten sein zu können. Das Wissen darum bietet die unter Menschen so rare Chance für einen Frieden mit den anderen. Wer diesen Frieden aufs Spiel setzen will, muss dafür Gründe beibringen. Der stärkste denkbare Grund ist ein möglicher therapeutischer Nutzen. Dieses Argument muss sich indes am zweiten fundamentalen Baustein Politischer Ethik messen lassen, der Selbstachtung.
4.2 Selbstachtung Zielt die Politische Ethik auf das gute Leben, so zeigt die Vorstellung der Selbstachtung die Dimension dieses Lebens, das gut sein soll: Es kann sich nicht in der Erfüllung äußerer Bedingungen erschöpfen, die den Einzelnen im Inneren unberührt lassen. Als „gut" erweist sich das Leben ja erst im eigenen Urteil, in dem ich durch die Anerkennung dieses Lebens als des meinigen auch mich anerkenne, als der, der dieses Leben als Teil seiner selbst betrachten kann. Es gibt daher kein gutes Leben, das einem selbst zwar als gut, aber nicht als achtenswert erschiene. Und so kann ein Leben, das nur unter der Verleugnung seiner selbst gelebt wird, nicht als gut gelten. Dieser Zusammenhang von „gutem Leben" und Achtung seiner selbst gilt unabhängig der Güte, die wir dem „guten Leben" oder der Selbstachtung beimessen, also selbst bei einem nicht näher qualifizierten Begriff des guten Lebens und einer ethisch kaum haltbaren Form der Selbstachtung. Nun ist aber die Vorstellung des guten Lebens, wie sie der Politischen Ethik zur Ausrichtung dient, keine beliebige, sondern fragt, wann „ein Mensch gut als Mensch ist" (U. Wolf)32. Ebenso ist auch die Selbstachtung keine beliebige Frage. Formal betrachtet ist Selbstachtung die Achtung des Selbst. Diese Achtung ist nur dort möglich, wo das Selbst sichtbar wird und bleibt. Solcher Wirkung sind Akte abträglich, die
31 Habermas 2001, 33. 32 Wolf 1999, 44.
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zu massiven Brüchen des Selbstbildes fuhren. Selbstachtung ist kein isolierter Terminus und kann sich nicht ungeachtet der Achtung vor anderen Menschen bilden. In der mit der Fremdachtung einhergehenden Selbstachtung werden ethische Minimalansprüche anerkannt, ohne die weder die Fremdachtung zu gewähren oder zu erhalten ist noch die Selbstachtung. Daher dienen diese Minimalansprüche dem Schutz der Integrität der Person. Dieser Schutz kann durch Praktiken, die den Minimalansprüchen zuwiderlaufen, beschädigt werden. Diese Beschädigung fuhrt, wenn sie auf Dauer gestellt und widerspruchslos hingenommen wird, zur Vernichtung der moralischen Persönlichkeit, die dann abgeschlossen ist, wenn die Persönlichkeit mit dem Sinn für ethische Minimalansprüche die Achtung ihrer selbst so weit eingebüßt hat, dass sie diesen Verlust nicht mehr als solchen wahrzunehmen vermag. Der Weg zu dieser Auflösung ist indes lang und schmerzhaft, weswegen niemand dort hineinschlittert, sondern, eine minimale Selbstreflexion vorausgesetzt, wie dies für Selbstachtung zu gelten hat, dem einzelnen einsehbar bleibt. Die Chancen der Intervention und des Widerspruchs bestehen also. Fälle solcher Interventionen wären beispielsweise Proteste gegen Forschungspraktiken, die körperlich-seelisches Leid - beispielsweise bei Nichteinwilligungsfähigen - oder die Vernichtung von menschlichem Leben - beispielsweise bei Embryonenexperimenten - in Kauf nehmen. Der hier tangierte ethische Minimalanspruch des Neminem laede gehört zu den unverzichtbaren Handlungsanteilen einer ethischen Persönlichkeit. Selbstachtung im ethischen Sinne kann auf solche Minimalansprüche nicht verzichten, wenn sie sich nicht selbst aufgeben will. Einsprüche gegen dermaßen formulierte Widerstände haben einen geringeren ethischen Stellenwert als die der Widerstände, insofern es die ethische Selbstachtung ist, die allererst Ausgangspunkt ethischer Reflexion sein kann. Daher scheiden als Einsprüche gegen die skizzierte Verteidigung ethischer Selbstachtung jene Argumente aus, die von sekundärem ethischem Wert sind, wie beispielsweise das Argument, durch die Förderung einer Forschungsrichtung Arbeitsplätze zu sichern und auszubauen. In Anerkennung der Zweitrangigkeit solcher Argumente bedient sich die progressive Forschung, wie gezeigt, des indirekten Neminem-Laede-Arguments. Als indirektes Argument des Typs, der Verzicht auf ein Tun bewirke eine schädliche Folge, ist dieses Argument indes schwächer als jenes, das ein Tun zu verhindern strebt, das an sich als Schaden angesehen wird. Das Argument zur Unterlassung ist dabei sogar doppelt begründet, da der NichtSchadens-Anspruch sich sowohl auf das Forschungsobjekt bezieht wie auch auf den daran Anstoß nehmenden Beobachter, der, indem er die Forschungspraxis widerspruchslos hinnähme, selber geschädigt würde. Letzteres zeigt den engen Zusammenhang von Selbstachtung und Tugend, als dem dritten Baustein.
4.3 Tugend Die Tugend ist eng mit der Selbstachtung verbunden, insofern man, wenn man den Sinn der Tugend eingesehen hat, nur unter Aufgabe der Selbstachtung die Tugenden völlig ignorieren könnte. Dieser Zusammenhang wird deutlich, wenn man mit Maclntyre als Tugend „eine
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erworbene menschliche Eigenschaft" bezeichnet, „deren Besitz und Ausübung uns im allgemeinen in die Lage versetzt, die Güter zu erreichen, die einer Praxis inhärent sind, und deren Fehlen wirksam verhindert, solche Güter zu erreichen."33 Bei dieser Definition liegt die Betonung auf „Ausübung" und meint damit also das Engagement, das eine bestimmte für gut erachtete Praxis zu erreichen trachtet. Tugenden sind nun für die Politische Ethik im primären Sinne unverzichtbar, als erst sie, und nicht die politischen Institutionen, eine ethisch integre Praxis bilden. Dieses Engagement ist der einzige Garant gegen die Korruption politischer Institutionen34 und schafft somit erst die Voraussetzungen für die Politische Institutionenethik. Der Zusammenhang von Tugend und Selbstachtung verweist zugleich auf die Würde. Würde, im Sinne eines aus dem Akt der Selbstachtung geschöpften Bewusstseins eigenen Wertes, kommt dabei nicht derselbe Stellenwert von Würde im Terminus der Menschenwürde zu. Im Unterschied zu diesem kommt er aber mit einem ungleich geringeren Begründungsaufwand aus und ist zugleich sehr leistungsstark. Denn auf Bedingungen zur Ermöglichung von Würde in diesem unemphatischen Sinne Anspruch zu erheben, kann man niemandem verwehren.
5. Bioethik als Politische Ethik Politische Ethik ist also unter den Möglichkeiten der Biowissenschaft besonders gefordert. Sie verteidigt den Öffentlichen Raum gegen die Vereinnahmungsbestrebungen einer Wissenschaft, die, da sie Leben verändern kann, Einfluss in nie gekannter Weise erlangt hat, und versucht in der gleichen Bewegung, eine Politik, die sich als Biopolitik zum verlängerten Arm der Wissenschaft macht, in ihre Schranken zu weisen, denn das Private ist hier die Grenze des Politischen. Die an sich bereits nicht leichte Aufgabe wird dabei noch dadurch erschwert, dass die Biowissenschaft gerade an der Grenze von privat und öffentlich ihr größtes Operationsfeld errichtet hat.
33 Maclntyre 1981,256. 34 Ebd., 261.
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Biopolitik
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Andreas
Brenner
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Nikola Biller-Andorno
Bioethik zwischen Fundamentalkritik und Anwendungsfragen*
Andreas Brenner plädiert für eine Bioethik, welche eine „Biopolitik" in ihre Schranken verweisen soll, die sich „zum verlängerten Arm der Wissenschaft macht" (28)'. Eine solchermaßen verstandene Politische Ethik möchte unter Bezugnahme auf universale anthropologische Konstanten zur Gestaltung eines öffentlichen Raumes beitragen, in dem Menschen miteinander leben und sich für die Gemeinschaft engagieren können (22). Nur in einem solchen Rahmen sei Selbstachtung möglich, die zumindest teilweise im Engagement für andere begründet liege. Selbstachtung wiederum ist, zusammen mit der Tugend und dem Konzept einer „Natalität unter den Bedingungen weitgehende(r) Unverfügbarkeit" (26) wesentlicher Baustein von Brenners Politischer Ethik. Während die skizzierten Elemente Natalität, Selbstachtung und Tugend - sicher noch von einer weiteren Ausarbeitung profitieren könnten, ist das Gesamtkonzept einer Politischen Ethik höchst aktuell und diskussionswürdig. Es weist zudem interessante Parallelen zu der kürzlich von Habermas projizierten „Gattungsethik" auf,2 welche „die anthropologischen Voraussetzungen dafür benennen [soll], dass Personen überhaupt moralisch urteilen und handeln können."3 Brenners Konzept basiert auf einer Analyse des gegenwärtigen Verhältnisses von Politik und Ethik, die zu dem Schluss kommt, die Ethik habe entgegen dem Augenschein eine schwache Stellung: Sie sei entweder überflüssig, wenn sie fiir biowissenschaftliche Innovationen argumentiere, da sich progressive Forschung aufgrund ihrer „Überzeugungskraft" (19) von selbst realisiere; oder sie sei kritisch, aber wirkungslos, da sie sich zu sehr auf Grundlagen- und Begründungsfragen kapriziere (vgl. 19-21). Ebenfalls nicht zufriedenstellend sei schließlich eine Ethik, die sich auf Fragen der Regelung politischer Institutionen und Verfahren beschränke (vgl. 22), und damit den gesellschaftlichen Rahmen selbst nicht kritisch betrachte. In der Tat hat Brenner treffsicher das Verhältnis von Politik und Ethik - besonders in ihrer Anwendung auf Problemstellungen aus dem Bereich der Biowissenschaften - , als ein zentrales Thema der gegenwärtigen Diskussion identifiziert. Dabei ist seiner Analyse ohne
* Kommentar zu dem Beitrag von Andreas Brenner: Politische Ethik in den Zeiten der Biopolitik. 1 Andreas Brenners Beitrag wird im Folgenden mit Seitenzahlen im Text zitiert. 2 Vgl. Habermas 2001. 3 Kuhlmann 2001, 55.
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weiteres zuzustimmen, dass Ethik sich nicht in der Reaktion auf Anwendungsfragen erschöpfen darf. Medizinisch-naturwissenschaftliche Entwicklungen müssen auch grundsätzlich, und nach Möglichkeit antizipativ, hinterfragt werden können. Ebenso zutreffend ist meines Erachtens die große Relevanz, die Brenner der Frage nach der Möglichkeit einer säkularen universellen Ethik beimisst - wenngleich er ihren Beitrag zur Lösung aktueller moralischer Konflikte eher zurückhaltend beurteilt. Allerdings überrascht bei seiner Behandlung der Frage einer säkularen Begründung der Menschenwürde (vgl. 25 f.) die Abwesenheit der Kantischen Moralphilosophie, die die Würde des Menschen in seiner Fähigkeit zur Sittlichkeit zu gründen sucht.4 Auch Brenners Einschätzung der Wirksamkeit moralischer Argumente im politischen Diskurs, sein Verständnis von Ethik sowie seine frontale Gegenüberstellung von „progressiven" Biowissenschaftlern und kritischen Ethikern bieten Ansatzpunkte für eine weitergehende Diskussion. So soll das Beispiel der Atomenergie die habituelle Erfolglosigkeit kritischer moralischer Argumente demonstrieren. Jedoch ist gerade in diesem Bereich im Laufe der letzten Jahrzehnte ein bedeutender Wandel in der Haltung von Öffentlichkeit und Politik eingetreten, mit der entsprechenden praktischen Konsequenz eines Ausstiegs aus der Nutzung in Deutschland. Das US-amerikanische Moratorium zur staatlichen Förderung verbrauchender Embryonenforschung ist ein anderes Beispiel dafür, dass moralische Einwände durchaus in forschungspolitische Prozesse Eingang finden können. Die Annahme, Ethik könne im besten Falle .entschleunigend' wirken (vgl. 19), scheint daher zu fatalistisch. Zudem sind auf der anderen Seite die Argumente des therapeutischen Nutzens und der Beförderung der Individualfreiheit (16), die häufig von den Befürwortern biowissenschaftlicher Forschung verwandt werden, nicht unumstritten. Wie die gegenwärtige Diskussion zur Präimplantationsdiagnostik oder zur Verwendung humaner embryonaler Stammzellen zeigt, wird die öffentliche Debatte inzwischen doch differenzierter gefuhrt. Der Soziologe Ulrich Beck beschreibt diese Tendenz mit dem Schlagwort der reflexiven Modernisierung: „Die wissenschaftliche Zivilisation ist in eine Entwicklung eingetreten, in der sie . . . zunehmend sich selbst, ihre eigenen Produkte, Wirkungen, Fehler verwissenschaftlicht." 5 Die Bioethik kann gerade zu dieser Professionalisierung der öffentlichen Debatte beitrag e n - ohne dass diese dadurch allein durch „Ethik-Experten" dominiert sein muss. Denn moralische Argumente kann in der Tat jeder vorbringen (vgl. 18). Allerdings heißt das nicht, dass jeder in gleichem Maße auch ethisch argumentieren kann. Denn die Ethik ist eine Wissenschaft - obgleich mit theoretischer und praktischer Dimension welche moralische Argumente auf einer Metaebene reflektieren soll. Sie ist jedoch nicht, oder doch zumindest nicht nur, eine „intellektuelle Haltung des Engagements, die sich gegen habituelle Vergleichgültigung wendet" (23). Es lässt sich zudem bezweifeln, ob Ethik nur aus der Distanz zur biowissenschaftlichen Forschung heraus betrieben werden kann (vgl. 18). Ob-
4 Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 435. 5 Beck 1986, 259.
Bioethik zwischen Fundamentalkritik und Anwendungsfragen
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wohl eine Fundamentalkritik aus der Nähe angesichts möglicher Adaptionsprozesse des Ethikers erschwert sein mag, so ist doch eine solche Nähe von Vorteil insofern, als sie eher eine Vergleichzeitigung ethischer Begleitforschung ermöglicht, die moralisch relevante Fragestellung einer wissenschaftlich-technischen Entwicklung präziser erfassen und daher mit mehr Resonanz bei den Biowissenschaftlern selbst rechnen kann. Es scheint in diesem Zusammenhang fruchtbarer, nicht so sehr auf eine quasi naturgegebene Gegnerschaft von „kritischer" Ethik und „progressiver" Biowissenschaft abzuheben. Zum einen handelt es sich um eine eigentümliche Engführung bei der Annahme, nur die „progressiven" Forscher, welche „verbrauchende Embryonenforschung betreiben und Humankloning anstreben" (16), forderten „die Ethik" heraus. Zwar trifft Brenners Argument zu, dass der Verzicht auf eine Forschung nicht schon einen Verstoß gegen das Nichtschadensprinzip darstellt; doch bedarf eben auch das Unterlassen durchaus der Rechtfertigung, so dass sich auch auf der befürwortenden Seite in manchen Fällen legitime Argumente für Forschung finden lassen können. Zum anderen übersieht eine Aufteilung der Ethiker und Biowissenschaftler in „Neinsager" und „Jasager", in „Bremser" und „Vorantreiber" die Dialogbereitschaft und moralische Sensibilität, die vielfach bei „kritischen" wie bei „progressiven" Stimmen zu finden ist. Das Phänomen des „Whistle blowing" oder das System von Expertise und Gegenexpertise sind überdies Zeugnis der Heterogenität innerhalb der Wissenschaftlergemeinschaft, so dass das mit kriegerischen Metaphern geschmückte Bild einer Politik, die vor der „Offensive" der Biowissenschaften durch entsprechende Gesetze „gerüstet" war und nun „Bastionen" räumen muss (17 f.), doch überzeichnet wirkt. Die Vorstellung, die Politik ginge einer durch progressive Biowissenschaftler instrumentalisierten Ethik auf den Leim, tut der gegenwärtig geführten Bioethik-Debatte in Deutschland unrecht. Ethik muss in der Tat immer kritisch sein, jedoch nicht im Sinne einer permanenten Opposition gegen wissenschaftliche Innovationen, sondern im Sinne einer kritischen Prüfung aller moralischen Argumente, pro und contra. Auf diese Weise ergibt sich ein Spektrum bioethischer Positionen, wobei sich zwischen den Extremen ewigen Bedenkenträgertums und vorauseilender Legitimationsinstanz eine Vielzahl diskussionswürdiger Beiträge findet. So ist es Aufgabe von Bioethik, ihre Positionierung selbstkritisch zu bestimmen und deren Vorteile und Grenzen aufzuzeigen. Das Begleitforschungsprogramm zu den ethischen, rechtlichen und sozialen Aspekten des US-amerikanischen Humangenomprojekts6, kurz ELSI, ist ein Beispiel für bioethische Forschung, die durchaus mit Absicht schwerpunktmäßig auf Anwendungsfragen ausgerichtet wurde. Die enge Anbindung der Ethiker an die National Institutes of Health, von wo aus die genetische Analyse des menschlichen Genoms durchgeführt bzw. gesponsert wird, hat einerseits eine grundlegende Infragestellung des Projekts erschwert, andererseits aber die gezielte Bearbeitung von angewandten Fragestellungen, zum Beispiel zur klinischen Anwendung genetischer Tests, ermöglicht. Diese
6 Vgl. Marshall 1996.
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Art ethischer Begleitforschung - gleichsam von der „Höhle des Löwen" aus - muss daher nicht verworfen werden; wichtig ist vielmehr, in einer kritischen Evaluation des Projekts die Ergänzungsbedürftigkeit solcher Beiträge zu bestimmen.7 Dabei müssen, und hierin ist Andreas Brenner völlig recht zu geben, gesellschaftliche und politische Faktoren in das Blickfeld rücken. Entsprechend bestimmen auch Lachmann und Meuter die Aufgabe von Ethik vornehmlich als „Analyse derjenigen Unternehmungen, sozialen Praktiken und Institutionen, in deren Rahmen die jeweils zur Diskussion stehenden verschiedenen Ziele und Verpflichtungen auftreten."8 Bioethik muss also eine politische Ethik ebenso wie eine kritische Ethik sein. Ihre Qualität lässt sich jedoch nicht danach bemessen, wie effektiv sie als „Entschleuniger" biowissenschaftlichen Tuns fungiert. Vielmehr geht es darum, moralische Positionen auf ihre Konsistenz und die ihnen zugrundeliegenden Wertvorstellungen hin zu analysieren, wobei ethische Forschung auch immer zugleich die Tatsache ihrer eigenen Positioniertheit mitzureflektieren hat. Die Ergebnisse können sodann der politischen Diskussion auf möglichst unparteiische Weise zur Verfugung gestellt werden. Nur so kann Bioethik als Wissenschaft wirksam werden und den differenzierten und respektvollen Austausch von Standpunkten fordern, statt sich selbst in Grabenkämpfen zu verlieren.
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7 Vgl. hierzu unter anderem Andrews 1999, Biller-Andorno 2001, Hanna 1995, Juengst 1996. 8 Lachmann/Meuter 1997, 135.
Eva-Maria Engelen
Zeit und Norm. Evolution und Historizität der Werte in den Disziplinen Medizin und Biologie
1. Wenn ethische Überlegungen in der Biologie und in der Medizin Berücksichtigung finden sollen, müssen sie mit methodischen Ansätzen der jeweiligen Disziplinen selbst verknüpft sein. Geschieht das nicht, werden die ethischen Überlegungen stets nachträglich, wenn die wissenschaftlichen Ergebnisse bereits vorliegen, an die Forscherinnen und Forscher herangetragen und muten auf diese Weise regulierend und bevormundend an. In dem vorliegenden Beitrag soll gezeigt werden, dass ethische und normative Überlegungen in der Medizin zur Bedeutung und dem Selbstverständnis der Disziplin dazugehören, während in der Biologie zentrale Begriffe der Biologie einen anderen Stellenwert erhalten müssen, um die Ebene der Reflexion auf die Normativität innerhalb der Disziplin zu stärken. Ernst Mayr schreibt in seinem Standardwerk Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt, dass die biologischen Phänomene Jahrtausende unter zwei Überschriften zusammengefasst worden seien: Medizin (Physiologie) und Naturgeschichte. Und obgleich eine solche Unterscheidung heute nicht mehr in dieser Weise vorgenommen wird, macht sie deutlich, dass der Faktor Zeit in der Biologie eine Rolle (ge-)spielt (hat). Ein weiteres Anliegen des vorliegenden Beitrags wird es sein, zu untersuchen, an welcher Stelle der Zeitfaktor im biologischen Denken heutzutage eine maßgebliche Funktion hat und inwiefern diese Funktion sich mit ethischen Anliegen in Verbindung bringen lässt. Hinsichtlich der Einteilung der Biologie läuft Mayrs eigener Vorschlag darauf hinaus, von der Aufteilung in Unterdisziplinen ganz abzurücken und an deren Stelle die Unterscheidung in qualitativ und funktional erklärende Ansätze vorzunehmen. Funktional erklärende Ansätze fragen nach unmittelbaren Ursachen eines biologischen Vorgangs und sind daher einer mechanistisch orientierten Funktionsbiologie zuzuordnen, während qualitativ erklärende Ansätze nach mittelbaren, evolutionären Ursachen fragen, die nur in der Zeit wirken. Obgleich Mayr zugibt, dass die beiden Biologien, denen die beiden unterschiedlichen Varianten der Kausalität zu Grunde liegen, „bemerkenswert eigenständig" seien, betont er doch ausdrücklich, dass jedes biologische Phänomen durch diese voneinander unabhängigen Arten der Kausalität bedingt sei (und gibt dafür auch anschauliche Beispiele1). Unter
1 Um zu erklären, ob ein Vogel ein Zugvogel ist oder nicht, reicht der Hinweis auf die klimatischen Bedingungen allein nicht aus; vielmehr wird der Genotypus, der bestimmt, ob eine Art sesshaft ist oder nicht, durch Evolution im Zeitraum von Jahrtausenden bestimmt. So mag die unmittelbare
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Funktionsbiologie fasst Mayr diejenigen Disziplinen innerhalb der Biologie, die sich im wesentlichen mit der Frage, wie etwas funktioniert, beschäftigen und mit der Wirkweise struktureller Elemente (von den Molekülen bis hin zu Organen und Individuen). Der Funktionsbiologe, dessen Arbeitsweise darauf abzielt, alle überflüssigen Variablen im Experiment auszuschalten, um das zu untersuchende Element vollständig unter Kontrolle zu bringen, vergisst dabei, dass jeder Organismus das Produkt einer langen Geschichte, ein Glied einer langen Evolutionskette ist - und das bedeutet, dass er in seiner Entstehungs- und Funktionsweise zeit- und raumgebunden ist. Die Beachtung der Zeit- und Raumgebundenheit fuhrt zu anderen Erklärungsansätzen und damit zu einem anderen Verständnis des zu untersuchenden Organismus, der dann nicht isoliert von seiner Umgebung und den ihn umgebenden Organismen verstanden wird, sondern in Abhängigkeit von diesen Faktoren. Diejenige Biologie, die derzeit im öffentlichen Bewusstsein und in der öffentlichen Diskussion fast ausschließlich eine Rolle spielt, ist die Funktionsbiologie. Der Umstand, dass die öffentliche Aufmerksamkeit sich zunehmend auf diesen Bereich der Biologie beschränkt, wäre vielleicht nicht unbedingt bedeutsam, wenn nicht auch Politiker, Mediziner und man bekommt den Eindruck, ein Gutteil der Biologenzunft selbst, die Biologie als Ganze auf diesen Bereich reduzierten, wodurch das zeitliche Element im biologischen Denken zurückgedrängt wird. Damit wird auch die Tendenz (die durch die jahrhundertelange Gleichsetzung von Physik und Wissenschaft entstanden ist) verstärkt, die Erklärungskraft qualitativ arbeitender Wissenschaften gering zu schätzen, und die qualitative Arbeitsweise der Evolutionsbiologie, die vielfach eine beschreibende ist und war, abzuwerten. Gegen diese Reduktion der Biologie auf eine Funktionsbiologie wendet sich Mayr mit dem Hinweis darauf, dass es in einem Organismus kaum eine Struktur oder Funktion gäbe, die man vollständig verstehen könne, solange man nicht den (natur-)geschichtlichen Hintergrund mit in Betracht gezogen habe. Er betont den erklärenden Wert historischer Darstellungen auch für die Biologie: „Historische Darstellungen besitzen einen erklärenden Wert, weil frühere Ereignisse in einer historischen Abfolge gewöhnlich einen kausalen Beitrag zu späteren Ereignissen leisten."2 Indem diese Art der Kausalität berücksichtigt wird, wird auch ein Erklärungsgewinn erzielt, da sich der kausale Beitrag in vielen Fällen eben nicht als ein unmittelbarer ermitteln lässt, weil er erst mittelbar wirksam und „sichtbar" wird. Mayr hebt hervor, dass alle biologischen Prozesse sowohl eine unmittelbare als auch eine mittelbare Ursache haben und dass, wenn es darum gehe, biologische Vorgänge vollständig zu erklären, beide Faktoren berücksichtigt werden müssten. Um diese Behauptung zu untermauern, wählt Mayr die verschiedenen Erklärungen der Funktion der Befruchtung: Funktionsbiolo-
Ursache für den Beginn einer Wanderbewegung die Reaktion auf den Photoperiodismus sein, der einsetzt, wenn die Anzahl der Tageslichtstunden abnimmt. Die unmittelbare Ursache mag aber die natürliche Auslese sein, die bewirkt, dass diejenigen Vogelarten, die in einer bestimmten Klimazone zu einer bestimmten Jahreszeit kein Futter finden, zu Zugvögeln werden müssen, um nicht zu verhungern (Mayr 1984, 56). 2 Mayr 1984, 59, Hervorhebung von mir.
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gen hatten sich zunächst vielfach mit der Erklärung zufrieden gegeben, dass der Zweck der Befruchtung das Auslösen der Entwicklung sei, die erst einsetzt, wenn das Ei, das zuvor im Ruhezustand war, befruchtet ist und eine erste Furchenteilung eintritt. Evolutionsbiologen kamen jedoch auf Grund der Beobachtung, dass bei parthenogenetischen Arten keine Befruchtung nötig sei, zu einem anderen Ergebnis. Zweck der Befruchtung ist nach diesem Erklärungsansatz die Neukombination der Gene, die zur genetischen Variabilität fuhrt. Letztere liefert das Material für die natürliche Auslese. Was bedeutet es nun, dass trotz aller Beachtung der Genetik in der Forschungspolitik woraus man unter Umständen eine Berücksichtigung der Evolution und damit der Zeitlichkeit schließen könnte - das Moment der Zeit zugunsten einem funktionsbiologischen Denken, in dem die Berücksichtigung mittelbarer Ursachen keine Rolle spielt, verschwindet? Es bedeutet, dass die biologischen Individuen zu Kultur Objekten werden. Damit lässt sich thesenartig schon einmal festhalten, dass im Falle der Biologie ein normativer Menschenbegriff eingeführt wird, ohne sich dessen und der damit einhergehenden Festschreibung auf ein zeitlich bedingtes Ideal bewusst zu sein. Im Falle der Medizin geht die Normativität (im Sinne einer Wertereflexion) hingegen zugunsten der Normativität eines angeblich natürlich vorgegebenen Sollzustandes verloren, womit die gedankliche Reflexion auf die erforderliche individuelle Entwicklung des Menschen, welche abhängig ist von einer Kultur, gleichfalls eingebüßt wird. Diese These soll im folgenden erläutert werden. In der Biologie wird das biologische Individuum zu einem Objekt einer spezifischen Kultur, die ihre Ideale zeit- und raumungebunden zu sein glaubt, obgleich jede Entscheidung für die Ausmerzung einer Genvariation, die für eine Krankheit verantwortlich gemacht wird, zugleich auch das Festlegen auf eine Norm bedeutet, die gesellschaftlich als akzeptiert gilt. Die genetisch gleiche Abweichung bei Down-Syndrom fällt phänotypisch beispielsweise so unterschiedlich aus, dass es Menschen mit diesem „Gendefekt" (Trisomie 21) gibt, die eine Fremdsprache erlernt haben und wiederum andere, die nicht sprechen lernen können. Als Beurteilungsmaßstab für Entscheidungen wird jedoch die gleiche genetische Abweichung herangezogen, wodurch sie eine Wertung erhält, die dem Erscheinungsbild auf der Phänoebene nicht entsprechen muss. Was in der phänotypischen Ausprägung als Krankheit oder Behinderung gewertet wird, hängt sehr stark von den unterschiedlichen Anforderungen in einer Gesellschaft ab und ist mithin durchaus kulturell bedingt. Diese kulturelle Norm wird unter zusätzlicher Ausschaltung des Gesichtspunktes der Zeit- und Raumgebundenheit biologischer Organismen dann zu einem zeitlos erscheinenden Ideal, obgleich das Ideal auf Grund der Vernachlässigung der Kontextgebundenheit der Auswahlkriterien, zeitlich gebundene Wertungen enthält, die auf Grund ihrer Idealisierung nicht mehr offensichtlich sind. Wenn hier von Zeit- und Raumungebundenheit respektive Gebundenheit die Rede ist, ist das also in einem doppelten Sinne zu verstehen und wirkt auch in diesem doppelten Sinne auf die beiden hier ins Auge gefassten Disziplinen zurück. Der in seiner Bewertung von einer Kultur abhängige Phänotyp (kulturelle Gebundenheit) wird an einen Genotyp rückgebunden, welcher dann unabhängig vom Phänotyp zu einem vermeintlich objektiven Ideal
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wird (Zeit- und Raumungebundenheit). Dieses Ideal ist somit ein kulturell und damit historisch bedingtes, ohne dass man sich der Historizität dieses Ideals bewusst wäre. Außer der kulturellen Historizität wird aber auch die naturgeschichtliche Historizität, welche sich in der Berücksichtigung der evolutionären Bedingtheit zeigt, ausgeblendet. In der Biologie wird die Dimension der Zeit fur die eigenen Erklärungsansätze insofern in doppelter Hinsicht verkannt. Übersehen wird, dass derzeitige Istzustände als Sollzustände ausgegeben werden und somit zeitgebundene Werte eingeführt werden. Zudem werden die Erklärungskraft und die Methode der eigenen Disziplin verzerrt, wenn einseitig die Erforschung der unmittelbaren Ursachen im Sinne einer Funktionsbiologie in den Forschungsvordergrund gerückt werden und die (natur-)geschichtlichen Bedingtheiten, die in der Berücksichtigung mittelbarer Ursächlichkeiten zum Tragen kommen, unberücksichtigt bleiben. Hinzu kommt, dass das bereits geschilderte implizit wertende Vorgehen unreflektiert bleibt. Auf den Umstand, dass biologische Theorien häufig wertbeladen sind, weil ihre Ergebnisse zu Schlussfolgerungen fuhren, die alles andere als wertfrei sind, gleichgültig wie objektiv die naturwissenschaftliche Forschung sein mag, hat bereits Ernst Mayr in anderem Zusammenhang (Intelligenzquotient, „Rassenfrage" usw.) seine Kollegen und Kolleginnen in der Biologie hingewiesen. Dieser Warnruf scheint jedoch zu wenig disziplinäre und öffentliche Wirkung gezeigt zu haben.
2. In die Medizin ist der Faktor Zeit dagegen ursprünglich in die Ausgestaltung der Disziplin als ethisches und damit kulturelles Moment insofern eingegangen, als die individuelle Entwicklung des Menschen im Sinne einer Selbstformierung im medizinischen Denken der Antike eine zentrale Stelle eingenommen hat. Erst mit dem aufkommenden Christentum verliert sich dieser Aspekt zunehmend. Damit war der Menschen im Verständnis der antiken Medizin ein Produkt der anhaltenden Pflege der eigenen körperlichen und geistigen Entwicklung, für welche die Medizin Regeln zur Verfugung stellt. Diese Regeln sind insofern auch als Regeln der Ethik zu verstehen, als es sich um Regeln handelt, deren Befolgung dazu beiträgt, zu einem guten Leben zu gelangen. Die Entwicklung zu einem sich um sich selbst sorgenden autonomen Individuum gehört zum Verständnis dessen, was die Medizin für den Menschen leisten soll, und damit zum Selbstverständnis der Disziplin dazu. Dieses Element verschwindet naturgemäß in einer Medizin, die sich allein auf die funktionale Wiederherstellung des Organismus konzentriert. Das Maßhalten, die Pflege, die Entwicklung eines Organismus, der mit sich und seiner Umgebung im Einklang steht, verliert hingegen an Bedeutung für wissenschaftliche medizinische Überlegungen und verkommt so zur Prophylaxe. Damit geht jedoch auch das Bewusstsein dafür verloren, dass der Mensch ein Produkt der geistigen Kultur und der Körperkultur ist und als solches der Pflege bedarf. Insofern es sich hierbei um eine selbstgesteuerte Entwicklung des eigenen Organismus und des
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eigenen Selbst hin auf ein bewertetes, nicht natürliches Ziel darstellt, lässt sich auch davon reden, dass das Individuum sich zu einem Kulturobjekt macht. Anders als im Falle der Biologie wird mit der Aufgabe dieses kulturell ausgerichteten Entwicklungsmomentes aber nicht auf eine Erklärungsdimension verzichtet. Der Zweck der Medizin verliert sich damit allerdings, weil die Reflexion darüber, was Gesundheit eigentlich ist, nicht mehr beantwortbar ist, wenn der Begriff seine Bedeutung als Merkmal störungsfrei funktionierender Organismen erhält. Obgleich vor nicht allzu langer Zeit noch ein Bewusstsein dafür vorhanden gewesen ist, dass die Bedeutung von .störungsfrei Funktionieren' in den Industrieländern insbesondere auf die Arbeitswelt (in Fabriken, Büros und in der Geschäftswelt im Falle der Männer und in Haushalt und Familie im Falle der Frauen) bezogen war, ist an die Stelle dieses für die Bestimmung der Bedeutung von .störungsfrei Funktionieren' wesentlichen Bezugspunktes .Arbeitswelt' zunehmend der der Biologie getreten. In Bezug worauf wir störungsfrei funktionieren sollen, wird mithin von Zeit zu Zeit unterschiedlich bewertet, womit erneut deutlich geworden sein sollte, dass es sich bei dem Begriff der Gesundheit um einen normativen und damit auch um einen kulturspezifischen Begriff handelt. Denn dass es sich bei den Idealen der Biologie auch nicht um kultur- und deutungsunabhängige Entitäten handelt, wurde bereits dargelegt. Indem in der modernen Medizin zunehmend die Vorstellung vorherrscht, es würden lediglich die biologischen Funktionen des Menschen wiederhergestellt, entwickelt sich die Medizin zunehmend zu einer Spezialdisziplin der Biologie, deren Disziplinenverständnis als wissenschaftliches Leitbild für die eigene Disziplin internalisiert wird. Das ursprüngliche Disziplinenverständnis der Medizin, das bereits in der Entstehung der Disziplin durch wertende ethische Momente (die in einem weiter zu erläuternden Sinne auch zeitliche Momente sind) bestimmt gewesen ist, ist hingegen fast zur Gänze in Vergessenheit geraten. Die Disziplinengrenze der Medizin ist nämlich selbst ein Resultat eines akzeptierten ethischen Diskurses gewesen. Ein solcher Diskurs schafft erst die Voraussetzungen dafür, dass sich eine Kunst entwickelt, welche sich primär auf den Menschen bezieht. Allein der Umstand, dass Gesundheit und Lebenslänge des Menschen zu einem Gut werden, das es auch über die biologische Reproduzierbarkeit hinaus zu erhalten oder zu erreichen gilt, ist auf ethische Überlegungen zurückzufuhren und hatte Auswirkungen für die Medizin als entstehende Disziplin. Dass dem so ist, ist durchaus nicht „natürlich", sondern spielt sich auf einer Bewusstseinsebene ab, die die Entstehung von Werten erst ermöglicht. Bei den Biowissenschaften sind solche ethischen Überlegungen für das Entstehen als Disziplinen hingegen nicht ausschlaggebend gewesen. Biologische Forschung wird gemeinhin erst dann mit ethischen Fragestellungen in Zusammenhang gebracht, wenn ethisch relevante Folgen der Forschung abzusehen sind oder befürchtet werden. Ethische Überlegungen werden also erst nachträglich an diese Wissenschaft herangetragen, stören so die Logik der innerwissenschaftlichen Diskurse und wirken lediglich regulierend und bevormundend. Da auch die medizinische Forschung heutzutage weitestgehend dem Vorbild der Biologie als Funktionswissenschaft folgt, in der die Frage nach dem Inhalt und der Ausgestaltung
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des mit ihrer Hilfe erstrebten Gutes, der Gesundheit, nicht mehr gestellt wird und Gesundheit somit in die Nähe eines unzeitlichen, das heißt nicht zu bestimmenden Ideals mit der derzeit geltenden Bedeutung gerückt wird, stellen sich auch in der medizinischen Praxis heutzutage ethische Fragen erst im Anschluss an eine Behandlung und werden nicht in den Fortgang der Behandlung mitaufgenommen- weder von medizinischer Seite noch von Patientenseite. Dieser Umstand zeigt vielleicht am deutlichsten, dass die Medizin als Kunst, deren Ziele und Regeln ein Leben lang zu befolgen sind, weil sie das Leben und das Lebe : wesen in einem fundamentalen Sinne bilden helfen, gänzlich verschwunden ist. Ursprünglich war dieser Aspekt allerdings untrennbar mit dem Verständnis dieser Kunst verbunden. Selbstverständlich ist Gesundheit auch in der Antike schon ein Ideal gewesen; dieses Ziel zu erreichen, reduzierte sich für den freien Bürger jedoch nicht auf die Einsatzfahigkeit zu Gunsten der Polis, sondern stellte lediglich eines der erstrebenswerten Resultate dar. Daneben galt die Kunst aber auch der bestmöglichen Entfaltung der eigenen Person oder des eigenen Selbst. Dieses Ziel sollte mit Hilfe des Arztes und mittels „der Sorge um sich selbst" erreicht werden. Der Gedanke der Entwicklung zu einem autonomen Wesen, das auf Grund seines Strebens um eigene Vervollkommnung auch medizinische Vorschriften einhält, ist allerdings schon lange verlorengegangen. Der Zweck der Medizin als Kunst wird in allen Schriften des Hippokratischen Corpus (zweite Hälfte des 5. Jhd. v. Chr.) mit dem Nutzen für die Kranken angegeben und ist mithin zweifelsohne ein Wert, der sich auf den Menschen bezieht.3 Dass eine solche Kunst jedoch nur auf den Menschen bezogen ist, setzt bereits eine bestimmte Reflexion des Menschen auf sich selbst und mithin eine philosophische Reflexion voraus. Erst ab der Mitte des 5. Jahrhunderts vor Chr. gewann die Betrachtung des Menschen als eigenständigem Wert Bedeutung - und damit setzt das Nachdenken des Menschen über sich selbst unter neuen Perspektiven ein, die seine Stellung in der Welt, in der Gesellschaft und seine Lebensführung betreffen. An dieser Entwicklung hatten insbesondere die Sophisten, Historiker sowie die Ärzte Anteil. Nachdem diese Entwicklung eingesetzt hatte, begann auch die Herausbildung einzelner technai, das sind Regelwerke für Künste wie die Medizin, die Diätetik4, welche eng mit der Medizin zusammenhängt, die Kochkunst, den Ringkampf, die Architektur, die Bildhauerei, die Malerei und die Musik. Das Regelwerk der Medizin wurde bekanntlich früh mit dem Namen des Hippokrates verbunden und uns als hippokratisches überliefert. Während in der Literatur zur Medizingeschichte überwiegend die Ansicht vertreten wird, dass die Heilkunst im Westen in großem Umfang zur Neudefinition des Menschen im Jahr-
3 Jouanna 1996, 29. 4 „Die Medizin ist folglich eine Art von auf das Individuum zugeschnittenen Küche. Das Vorhandensein der Medizin ist das Anzeichen für eine höhere Stufe des Humanismus, die im übrigen nicht alle Menschen erklimmen." (Jouanna 1996, 53.)
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hundert des Perikles beigetragen hat,5 möchte ich eher dafür plädieren, dass die Medizin dieser Zeit sich in ihrer Entstehung als Disziplin dem Aufkommen dieses neuen Menschenbildes verdankt. Dagegen wird auch die Auffassung vertreten, die Medizin verdanke ihren theoretischen Rahmen der Philosophie und erst mit Hilfe der philosophischen, theoretischen Überlegungen sei diese Disziplin über das Niveau überlieferter praktischer Anweisungen hinausgekommen. Dabei wird aber auch im Rahmen dieser Auffassung die Ansicht vertreten, dass das Interesse der Philosophen an der Medizin ursprünglich ethischen Anliegen entsprungen sein mag, ein gutes, gesundes Leben zu fuhren. 6 Man könne daraus schließen, dass das ethische Interesse der Philosophen dazu geführt habe, sich der Medizin als Disziplin mit theoretischen Anliegen zu widmen und sie so erst zu einer vollwertigen Kunst bzw. Disziplin werden zu lassen, da die theoretischen Überlegungen schließlich Auswirkungen auf die Arbeits- und Herangehensweise der Mediziner gehabt habe.7 Wichtig ist mir in dem hier erörterten Zusammenhang aber nicht, ob die Medizin ihre theoretische Neubestimmung aus den Reihen der Mediziner selbst erhalten hat oder durch Intervention von philosophischer Seite (eine Trennung, die sich in dieser Schärfe für die fragliche Zeit so auch gar nicht vornehmen lässt), sondern lediglich, dass dem Entstehen der Disziplin selbst ethische Reflexionen vorangegangen sind, die auf das Entstehen der Disziplin Einfluss genommen haben und bestimmend waren. Das aufkommende kulturelle Ideal der Selbstbestimmung, der Selbstwerdung oder, wie Foucault es genannt hat, der Sorge um sich selbst, macht eine Medizin erst erforderlich, die nicht nur auf Heilung und Instandsetzung abzielt, sondern auch auf die Sorge um die eigene körperliche Entwicklung im Einklang mit der Umgebung.8 Dabei handelt es sich weniger um die Frage der Beherrschung des eigenen Körpers als um die Pflege und Entwicklung des eigenen Körpers im Sinne einer Selbstbestimmung - die Abhängigkeit von der Natur, der Natur des Körpers und des Einflusses der Natur auf den Körper, nimmt in dem Maße ab, in dem die Selbstbestimmbarkeit zunimmt.9 Da die Natur, welche an Einfluss auf die Lebensgestaltung dadurch etwas an Bedeutung verliert, eine „gottdurchwirkte" ist, nimmt auf diesem Wege auch der Einfluss der Götter ab. 5 Jouanna 1996,49. 6 Vgl. beispielsweise Frede 1986,213 u. 218-219. 7 Die Debatte über die Abhängigkeiten von Medizin und Philosophie wurde bereits früh begonnen. So war Cornelius Celsus im ersten Jhd. nach Chr. der Ansicht, Hippokrates habe die Medizin begründet, indem er sie von der Philosophie abgespaltet hat, während Galen versuchte die Ähnlichkeiten zwischen Piaton und Hippokrates aufzuzeigen. 8 Mit .Umgebung' sind sowohl der Begriff des Makrokosmos angesprochen, im Verhältnis zu dem der Mikrokosmos Mensch verstanden wurde, als auch die geistige und soziale Umgebung. 9 Hier ist allerdings nicht daran gedacht, Foucaults starke These zu verteidigen, nach welcher die Diätetik ein ausgeklügeltes Regelwerk, eine Lebenskunst dargestellt habe, der man genauestens gefolgt sei, um sein Leben möglichst richtig zu leben und eine moralische Selbstformierung zu gewährleisten. Vgl. dazu und zur Kritik an Foucaults starker These Detel 1998, insbes. 125-129.
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Diese Entwicklung ist eine hin zu mehr menschlicher Freiheit, aber auch zu mehr Unsicherheit, weil die überlieferten Zusammenhänge verloren gehen. Die alte Ordnung wird daher durch neue Ordnungen ersetzt - die der Philosophie, aber auch die der technai,10 Selbstbestimmbarkeit und die Frage nach der richtigen Lebensführung sind jedoch letztlich zentrale Fragen der Ethik, die die Medizin als entstehende Disziplin beeinflussen.
3. Welche Rolle spielt nun der Faktor Zeit bei der Entwicklung zur Sorge um sich selbst bzw. zur Selbstbestimmung und damit in der Entwicklung zu einer Medizin, die im Kontext mit der Betrachtung des Menschen als eigenem Wert und seinem Verhältnis zur übrigen Welt entstanden ist? Hier wird unterstellt, dass ein Zusammenhang zwischen dem Begriff der Zeit, der Möglichkeit der Reflexion und dem Entstehen oder Vorhandensein von Werten existiert. Die entscheidende Frage, die es zu beantworten gilt, lautet daher: Inwiefern garantiert oder ermöglicht der Faktor Zeit ein Reflexionsniveau, das ohne ihn nicht gegeben wäre? Die Frage im Zusammenhang mit der Entwicklung eines Menschen zu einem Selbst zu beantworten ist einfacher als die nach der Berücksichtigung des Zeitfaktors in der Biologie respektive in der „Funktionsmedizin". Denn das Ziel, ein autonomes Selbst zu werden, das seine Fähigkeiten zur Entfaltung bringt, ist nur in der Zeit zu erreichen. Zudem stellt dieses Ziel in sich bereits einen Wert dar, der erst in einer bestimmten Kultur entstanden ist. Und letztlich ist Gesundheit ein normativ geprägter und damit kulturell bedingter Wert, was wiederum erst in einem diachronen und in einem synchronen Vergleich deutlich wird. Die Reflexion des Menschen auf sich selbst, so die Behauptung, ist also bereits insofern zeitlich strukturiert, als sie ein nicht endender Prozess ist. Das Selbst als ein angelegtes, aber unfertiges, erst werdendes bedarf der Setzung eines Ideals, auf das es sich hinentwickeln möchte, und damit der Zeit. Selbstreflexion ist in dieser Form mehr als eine indexikalische Beziehung. Zudem setzt die gedankliche Entwicklung des Menschen zu diesem spezifischen Selbstbewusstsein voraus, dass diese Art der Selbstreflexion in einer Kultur zu einem Zeitpunkt eingesetzt hat - sie ist nicht naturgegeben. In dieser Hinsicht ist Zeit eine fast schon triviale Voraussetzung für die Reflexion auf sich selbst.
4. Für die Biologie ist es weniger klar, welche Bedeutung die Berücksichtigung bzw. Vernachlässigung der Zeitlichkeit für diese Disziplin hat oder gegebenenfalls haben sollte.
10 Siehe auch Burkert 1962, 456.
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Es sei daran erinnert, dass sich ein kausaler Beitrag in vielen Fällen nicht als ein unmittelbar wirksamer ermitteln lässt, was bedeutet, dass er erst mittelbar sichtbar wird. Die Vernachlässigung bzw. Nicht-Berücksichtigung dieses Umstandes fuhrt dazu, dass die Biologie den Status quo der Jetztzeit festschreibt und zu Erklärungsansätzen kommt, die ausschließlich mittelbare Kausalansätze berücksichtigen. Dadurch werden aber die zu erklärenden Phänomene und die dafür zu betrachtenden Kausalitäten nicht zu kulturellen Phänomenen. Sie werden es erst dadurch, dass der herausgefundene Istzustand implizit zur Norm erhoben wird. Denn jede Entscheidung für die Ausmerzung einer Genvariation, die für eine Krankheit verantwortlich gemacht wird, bedeutet, wie bereits vermerkt, zugleich auch, sich auf eine Norm festzulegen, die gesellschaftlich als akzeptiert gilt. Die genetisch gleiche Abweichung bei Down-Syndrom wird auf der bio-medizinischen Ebene stets gleich behandelt, obgleich die phänotypische Ausprägung sehr unterschiedlich sein kann. Damit wird eine genotypische Norm geschaffen und festgelegt, die aber vor allem zur Vermeidung bestimmter Phänotypen herangezogen wird, wiederum aber einer kulturellen Norm folgt. Diese Vorgehensweise lässt sich auch hinsichtlich Nutzpflanzen, Nutztieren und all deqenigen Organismen feststellen, deren Funktionsweise einen Nutzeffekt für gegenwärtig verfolgte Zwecke verspricht. Die Reflexion auf den festgeschriebenen Zustand und damit vielleicht auch indirekt auf die implizit vorgenommene Normierung könnte in der Funktionsbiologie eingeholt werden, wenn der evolutionäre Gesichtspunkt, der die zeitliche Bedingtheit biologischer Lebewesen gerade auch zum Gegenstand hat, stärker berücksichtigt würde und die qualitativ beschreibende Biologie in einer Weise berücksichtigt würde, wie es allein nötig wäre, um zu vollständigen Erklärungen zu gelangen. Damit wäre zumindest die zeitliche Dimension der Naturgeschichte wieder stärker als Reflexionsebene nutzbar. Die naturgeschichtliche Historizität, von der bereits zu Beginn die Rede gewesen ist, würde somit ausreichend berücksichtigt, die Reflexion auf die kulturelle Historizität, die durch die implizite Normsetzung aufkommt, ist damit allerdings nicht unbedingt erreicht. Da jeder Organismus das Produkt einer langen Geschichte und Glied einer langen Evolutionskette ist, ist die Festschreibung auf die derzeitige Nutzbarkeit und/oder andere Normvorstellungen eine Festschreibung biologischer Objekte als Endprodukte einer bestimmten Zeit und in dem erläuterten Sinne einer bestimmten Kultur. Das kulturell ausgebildete Interesse, das damit zur Norm erhoben wird, führt zudem dazu, dass diese Objekte und ihre Funktionen nicht mehr in einem umfassenderen Sinne erklärt oder beschrieben werden. Dieses kulturbedingte Interesse bleibt innerhalb der Disziplin allerdings unreflektiert. Anders als im Falle der griechischen Ethik und ihres Einflusses auf die Medizin, in der das philosophische Moment der Reflexion und der Selbstbestimmung stets mitenthalten war, enthält diese Vorgehensweise in den „Funktionswissenschaften" kein Reflexionsmoment mehr. Die Festschreibung auf die Jetztzeit lässt das Moment der Kritik nur als nachträgliches zu. Fraglich ist nun, ob ein reflexives Element als bewusstes kulturelles Moment eingebaut werden sollte, damit die nachträgliche Kritik nicht als eine dogmatische Bevormundung hinterhergereicht wird. Oder ob die Beachtung des evolutionären Elements, die nach Mayr
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bereits aus wissenschaftsimmanenten Gründen erforderlich wäre, ein reflexives Moment bereithält oder ermöglicht. Hier wird nun behauptet, dass die Berücksichtigung des Konzepts der Evolution auch in der Funktionsbiologie nicht nur in wissenschaftsimmanenter Hinsicht einen Ansatz mit neuen, anderen Erklärungsmöglichkeiten bereithält, sondern es auch erlaubt, die kognitive Beschränktheit des Menschen einzusehen. Die mittelbaren Auswirkungen einer veränderten Funktionsweise eines Organismus oder auch nur der Festschreibung einer Funktionsweise für den Organismus selbst und für sein biologisches Umfeld lassen sich nicht prognostizieren, weil die Anzahl der zu berücksichtigenden Parameter zu groß und mutmaßlich unüberschaubar ist. Damit ist aber eine zur Arbeitsweise der Funktionsbiologie umgekehrte Situation gegeben, da in der Funktionswissenschaft alle überflüssigen Variablen im Experiment auszuschalten sind, um das zu untersuchende Element vollständig unter Kontrolle zu bringen. In einer so aufgebauten Wissenschaft gibt es in einer bestimmten Hinsicht keine kognitiven Beschränkungen, weil ja angenommen wird, dass alle Ursachen unmittelbare sind. Die Hinzunahme der mittelbaren Ursachen hat aber auch die Berücksichtigung der „Nicht-Nachvollziehbarkeit" von Ursachenzusammenhängen fur die Zukunft zur Folge und damit geht die vollständige Kontrollierbarkeit im Experiment verloren. Die gedankliche Ausweitung von Funktionswissenschaften auf das Geschehen außerhalb des Labors muss insofern anderen methodischen Grundsätzen folgen als die Untersuchung von Ursache- und Wirkzusammenhängen innerhalb des Labors, weil die Wirkweise eine andere sein mag und ihre Reichweite zudem nicht gänzlich vorhersagbar ist. Da es allerdings, um eine möglichst zutreffende Erklärung für biologische Phänomene zu erhalten, erforderlich ist, qualitative Überlegungen in die rein funktional orientierten Ansätze der biologischen Theoriebildung aufzunehmen, wird die naturgeschichtliche Historizität, wie bereits festgestellt, berücksichtigt. Damit wird freilich auch der Gesichtspunkt der Nützlichkeit, wenn es um Überlegungen zu evolutionär bedeutsamen Entwicklungen geht, aufgenommen. Dass es sich bei dem Begriff der Nützlichkeit um einen normativen Begriff handelt, sollte freilich Bestandteil jeder Methodenreflexion im Biologiestudium sein. Erst die weiterfuhrenden Überlegungen zu diesem Begriff könnten zur Reflexion auf die kulturelle Historizität in der Biologie fuhren, da Nutzen und Überlebenschancen nicht gleichbleibend feststehen, sondern situationsabhängig und damit fur uns unhintergehbar kulturabhängig sind. Das Konzept der Evolution, das die Reflexion auf die Jetztzeit als Jetztzeit (auch in kultureller Hinsicht) und auf die damit einhergehenden Beschränkungen erlaubt, ist mithin in der Biologie als Disziplin gegeben und fur das Verständnis der Disziplin, so wie wir sie heute kennen und betreiben, auch erforderlich. Es ermöglicht und erfordert letztlich nicht nur die Reflexion auf die naturgeschichtliche Historizität biologischer Organismen, sondern auch auf die kulturgeschichtliche. Wenn sich in der Biologie ein Verständnis dafür durchgesetzt haben wird, dass man mit der Tätigkeit im Labor nicht nur kulturunabhängige Forschung an der Natur betreibt, sondern selbst Normen setzt, muss eine Reflexion darüber
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einsetzten, welche Normen man setzen will und inwiefern dieses Tun verantwortbar ist und inwiefern nicht. Diese Reflexion muss einsetzen, weil man sich dann nicht mehr auf die Position des unbeteiligten Beobachters natürlicher Prozesse und Objekte zurückziehen kann. Der Rekurs auf das Konzept der Evolution ermöglicht es so, uns nicht den impliziten und expliziten Normen der Jetztzeit als alleinigem Maßstab ausliefern zu müssen und das Augenmerk darauf zu lenken, dass ethische Überlegungen auch innerhalb der Biologie nicht erst dann angestellt werden dürfen, wenn die Gesellschaft mit Fragen und Befürchtungen an die Forschergemeinschaft herantritt.
Literaturverzeichnis Burkert, W: Weisheit und Wissenschaft. Studien zu Pythagoras, Philolaos und Piaton, Nürnberg 1962. Detel, Wolfgang: Die wissenschaftliche Diät, in: Ders.: Macht, Moral, Wissen. Foucault und die klassische Antike, Frankfurt am Main 1998, 120-150. Frede, Michael: Philosophy and Medicine in Antiquity, in: Alan Donagan u. a. (Hrsg.): Human Nature and Natural Knowledge, Dordrecht 1986. Jouanna, Jacques: Die Entstehung der Heilkunst im Westen, in: Miro Drazen Grmek (Hrsg.): Die Geschichte des medizinischen Denkens. Antike und Mittelalter, München 1996,28-80. Mayr, Ernst: Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt. Vielfalt, Evolution und Vererbung, übers, von K. de Sousa Ferreira, Berlin u. a. 1984.
Volker Hess
Evolution und die Normen des Lebens*
Bei Gelegenheiten wie dieser kommt dem Kommentator nicht die Rolle des Panegyrikers zu. Seine Aufgabe ist vielmehr, „den Stachel zu locken". Ich will also weder lang noch breit meine Zustimmung zu Eva-Maria Engelens Beitrag bekunden, mich mit dem kritischen Unternehmen und seiner Notwendigkeit solidarisieren oder gar versuchen, ihre tiefgehenden Analysen durch noch weitergehende zu überbieten. Vielleicht liegt der Hintersinn der Organisatoren, den Kommentar ausgerechnet einem Medizinhistoriker zu überantworten, in der stillschweigenden Hoffnung, dieser könne von den angesprochenen Problembereichen sozusagen in Personalunion - als Historiker die Zeit und als Mediziner die Norm thematisieren. Zumindest will ich es probieren. Dabei werde ich zunächst die These - soweit ich sie verstanden habe - rekapitulieren. Anschließend werde ich die zentralen Argumente diskutieren, wobei ich nicht umhin komme - allein um sie nachvollziehen zu können - sie in ein mir vertrauteres Vokabular und Begriffsbesteck zu übersetzen. Abschließend möchte ich noch einen alternativen Zugang zum Verhältnis von Zeit und Norm zur Diskussion stellen. Weil in dem Beitrag eben jedoch soviel von Zeit in unterschiedlichen Dimensionen die Rede war, möchte ich als erstes eine terminologische Vereinfachung vornehmen: Den Aspekt der zeitlichen Verfasstheit kultureller Gemachtheit werde ich im folgenden durchgehend als „Historizität" bezeichnen. Als Historiker verstehe ich darunter die historische Bedingtheit und kulturelle Prägung des Phänomenbereichs, von dem wir jeweils reden.
1. Der Beitrag von Eva-Maria Engelen möchte der Biologie eine Perspektive aufzeigen, die es der Biologie erlaubt, die Historizität der ihr eigenen Wertverstellungen zu reflektieren. Eine solche Perspektive biete die Evolution. Das Argument ist, dass gerade diesem der Biologie vertrauten Begriff die Dimension zeitlicher Verfasstheit (nicht Historizität) eingeschrieben ist, die es nun zu explizieren und zu reflektieren gilt.
* Kommentar zu dem Beitrag von Eva-Maria Engelen: Zeit und Norm. Evolution und Historizität der Werte in den Disziplinen Medizin und Biologie. Der Kommentar bezieht sich auf den vorgetragenen Text; eventuelle Überarbeitungen wurden nicht berücksichtigt.
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Die Begründung der Argumentation ist bekannt und wird wohl von keinem ernsthaft in Abrede gestellt - zumal sie seit Jahrzehnten in unterschiedlichen Tonlagen und Phrasierungen auf dem Klavier der Wissenschafts- und Medizinkritik gespielt wird: Die modernen Laborwissenschaften - hier die „funktionalistische Biologie" - verfolgen eine kausalrelationale Faktorenanalyse, bei der die Historizität und der lebensweltliche Kontext der Untersuchungsobjekte außer Blick gerät. Eben weil deren historische Bedingtheit ausgeblendet wird (ergänzend möchte ich hinzufügen, auch die historische Kontingenz der analytischen Methoden und Heuristiken), schleicht sich - quasi durch die Hintertür - heimlich und leise genau diese Historizität wieder ins Denken und Handeln der Biologen ein: Wenn die Biologie ihre Gegenstände als rein biologische definiert, wird sie blind für kulturelle Wertvorstellungen, die in den Umgang mit diesen Gegenständen eingehen. Gerade damit aber macht die Biologie sie zu „kulturellen Objekten". Auf diese Weise legitimieren, sanktionieren und replizieren die Lebenswissenschaften in aller Objektivität und Wissenschaftlichkeit die historische Bedingtheit ihrer Untersuchungsgegenstände. Diese Kritik an dem naturalistischen Objekt- und Wissenschaftsverständnis gilt natürlich auch für die moderne Medizin, die durch ihre naturwissenschaftliche Ausrichtung auf dieses biologische Verständnis rekurriert. Allerdings ist die Medizin laut Eva-Maria Engelen gegenüber der Biologie prinzipiell im Vorteil. Als Handlungswissenschaft hat die Medizin nämlich immer die Situation eines individuellen Subjekts (nicht Objekt) zu einer gegebenen Zeit und zu gegebenen Umständen im Fokus der therapeutischen Bemühungen. Der Medizin stehe daher prinzipiell auch als Erkenntniswissenschaft die Möglichkeit offen, die Historizität der ihr eigenen Objekte zu reflektieren. Ob man dazu allerdings - diese Nebenbemerkung kann ich mir nicht verkneifen - ausgerechnet den Hippokratismus entstauben muss, halte ich für mehr als fraglich. Darunter verstehe ich jene rhetorische Figur, mit der die Medizin der Antike und der hippokratische Auftrag gegen aktuelle Entwicklungen mobilisiert wurden - und bis heute mobilisiert werden. So wurde in der langen Geschichte dieser Legitimationsstrategie die hippokratische Medizin eigentlich immer dann von den Vertretern der Ärzteschaft reklamiert, wenn es die Verwissenschaftlichung der Medizin zu bemänteln galt. Indikator dieser Haltung ist die Rolle und Bedeutung, die dem so genannten „Hippokratischen Eid" zugemessen wurde - und bis heute wird. Denn die dort angeblich1 ausformulierte ethische Verpflichtung des Arztes gegenüber den zu behandelnden Kranken wird als sozusagen „ur-ärztliche" Konstellation medizinischer Praxis angesehen, die in dieser Grundfiguration eine dyadisch verstandene Arzt-Patienten-Beziehung vor äußeren Einflüssen und Gefahren bewahrt. So wurde und wird der Hippokratische Eid gerne dann bemüht, wenn es gilt, ethische Implikationen sozialer, gesellschaftlicher oder naturwissenschaftlicher Entwicklungen gegenüber einer „eigentlich ärztlichen" Aufgabe herunterzuspie-
1 Textkritischer Analyse zufolge stellt der Hippokratische Eid einen Ausbildungsvertrag dar, der mit seiner Beschwörung die Rechte und Pflichten des auszunehmenden Schülers definiert. Als Überblick siehe Rütten 1996.
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len. Der Hippokratismus stellt somit alles andere als eine kritische Reflexion der handlungswissenschaftlichen Dimension der Medizin dar, wie sie neuere medizintheoretische Ansätzen bereitstellen.2 Im Gegensatz zur Medizin fehle der Biologie aber, so das Argument, ein solches „disziplinares Korrigans". Daher möchte Eva-Maria Engelen einen sozusagen „urbiologischen" Begriff fur die kritische Reflektion nutzbar machen. „Urbiologisch" deshalb, weil die Biologie eigentlich erst mit der Verzeitlichung - oder, um Kosellecks Terminus zu bemühen - mit der Temporalisierung einer ahistorischen Naturgeschichte als Disziplin entstand.3 Die zeitliche Dimension des Evolutionsbegriffs soll der Biologie dabei einen sozusagen archimedischen Punkt eines Reflexionsansatzes liefern. Der Rekurs auf das Konzept der Evolution bringe den Vorteil (jetzt muss ich doch zitieren), der Biologie, ohne „auf das Konzept einer Natur zurückgreifen zu müssen, das selbst ein kulturell geprägtes ist", eine Reflexionsebene zu eröffnen.
2. Davon abgesehen, dass ich als Historiker natürlich von Hause aus prinzipiell skeptisch bin, ob wir dieser Kulturfalle beziehungsweise der Historizität unserer Welt je entkommen werden:4 Um den Evolutionsbegriff fur ein solches Unterfangen zu „enthistorisieren", halte ich es auf jeden Fall für unumgänglich, vorab erst einmal zu klären, was wir eigentlich unter dem schillernden Begriff „Evolution" zu verstehen haben. Im vorliegenden Beitrag werden einige Facetten angeschnitten: Erstens hebt der Terminus auf die historische Entwicklung biologischer Objekte ab und konstituiert somit deren „Zeit- und Raumgebundenheit". Unter dieser Perspektive charakterisiert die Evolution die Historizität des Gegenstandsbereichs der wissenschaftlichen Disziplin. Zweitens wird die Evolution als analytisches Modell verstanden, mit dem der Vorgang der Genmischung bzw. die Aufrechterhaltung der genetischen Variabilität einer Population als Mechanismus einer „natürlichen Auslese" begriffen und beschrieben wird. Evolution stellt in diesem Verständnis das Erklärungsmodell fur den Motor oder die Triebkraft der historischen Entwicklung dar. Und drittens schimmert neben dieser mechanistischen Modellvorstellung aber immer auch ein idealistischer Telos durch, der die chronologische Dimension der Entwicklung von Flora und Fauna um ein temporalisiertes Verständnis von Zeit erweitert - nämlich um die Vorstellung eines historischen Progresses, das von einem irgendwie Niederen zu einem irgendwie Höherem strebt: Es mag richtig sein, dass „das Ziel, ein autonomes Subjekt zu werden, das seine Fähigkeiten zur
2 Wieland 1975. 3 Koselleck 1979 u. 1975, Lepenies 1976. 4 Vgl. hierzu Derrida 1976.
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Entfaltung bringt",5 sich nur in der Zeit erreichen (eigentlich: erfahren6) lässt. In dieser Engführung wird „Evolution" aber mit einem idealistischen Fortschrittsgedanken aufgeladen, der sowohl mit der Charakterisierung des Gegenstandsbereichs als auch mit dem analytischen Erklärungsrahmen dieses Begriffs erheblich interferiert. Genauer: „Zeit" meint im letztgenannten Fall eigentlich die Potentialität der Geschichte („offene Geschichte"), während Historizität hingegen Gegenwart als „vergangene Zukunft" begreift.7 Dieses Changieren zwischen naturalistischen und kulturalistischen Konnotationen verweist aber nicht nur auf die Historizität des Evolutionsbegriffs selbst. „Evolution" ist vielmehr ein Hybrid, ein sich äußerst naturalistisch gebendes Amalgam aus Natur und Kultur. Das ist beleihe kein Nachteil fur das von Eva-Maria Engelen ins Auge gefasste Unternehmen. Allerdings muss dabei das Werkzeug selbst der kritischen Reflexion unterzogen werden. Mit anderen Worten: Bevor man der Biologie die Evolution als Heilmittel zur Förderung kritischer Reflexion anempfiehlt, sollte man sich zuallererst sorgfältig Rechenschaft über diesen Begriff ablegen.
3. Als Medizinhistoriker kann ich dem Anliegen von Eva-Maria Engelen dennoch nur zustimmen. Schließlich gehört es doch zum sozusagen professionellen Selbstverständnis, den Wissenschaften des eigenen Gegenstandsbereiches die Notwendigkeit der Reflexion über historisch kontingente Verfasstheiten - als kontingente - näher zu bringen. Hierfür scheint mir die Fokussierung der Kritik gerade auf Zentralbegriffe der jeweiligen Disziplin ein vielversprechender Weg zu sein. Neben der „Evolution" bieten sich hier jedoch auch andere Begriffe an, um das Problem zu reflektieren, um das es hier geht. In dem Beispiel der Trisomie 21 wird das „naturalistische" Verständnis des Genotyps dem kulturellen Bedeutungsraum seiner Phänomenologie gegenübergestellt, um die Einschreibung gesellschaftlicher Wertvorstellungen in biologische Tatsachen zu plausibilisieren. Das Problem scheint mir dabei allerdings weniger der - oft unreflektierte - Determinismus der Genetik zu sein, als vielmehr jenes Ineinandergreifen von Normalität und Normativität, das für die Lebenswissenschaften charakteristisch ist. Ich möchte mit anderen Worten hier gerne Georges Canguilhem an Anschlag bringen.8 Ich halte seine Überlegungen aus zwei Gründen für hilfreich: Erstens macht der französische Mediziner und Philosoph darauf aufmerksam, dass jede Form einer Differenzierung auf dem 5 Engelen, in diesem Band 42. 6 Es wäre sicherlich lohnend, zur Differenzierung dieser verschiedenen Zeit-Konzeptionen einen Blick auf die derzeitige geschichtstheoretische Debatte um Erfahrung als Form konstruierter Wirklichkeit zu werfen. 7 Vgl. Anm. 3. 8 Canguilhem 1977.
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Feld des „Normalen" und „Pathologischen" immer mit normativen Wertungen durchsetzt ist. Sie beginnt quasi in dem Moment, wo messende oder quantifizierende Verfahren zur Beurteilung des Lebendigen herangezogen werden. Bleiben wir bei diesem Beispiel: Wenn die Biologen im Labor die genetische Grundlage dieser Krankheit untersuchen, so charakterisieren sie die Trisomie, wie die Bezeichnung besagt, als numerische Differenz. Sie bestimmt sich zunächst also lediglich als Abweichung von jenem Chromosomensatz, der sich im Labor als statistisch regelhaft erwiesen hat. Normativ ist die „statistische Normalität" von 23 Chromosomenpaaren eigentlich nur insofern, als sie die Bedingungen des Labors definiert, unter denen sich diese „Normalität" darstellen lässt.9 Erst in dem Moment, in dem die „Normalität" des Labors als biologische oder natürliche „Norm" begriffen wird, wird die numerische Aberration als pathologische Devianz aufgefasst und dieser Differenz jene normative Bedeutung mit all ihren Konsequenzen eingeschrieben, die Eva-Maria Engelen zu Recht beklagt. Es ist diese Vermengung von als natürlich angesehenen, von technischen, sozialen und gesellschaftlichen Normen, die der biologischen „Normalität" ihre merkwürdige Ambiguität verleiht. 10 Diese ist, worauf Canguilhem aufmerksam macht, aber nicht nur tief in der Epistemologie der modernen Lebenswissenschaften, oder sagen wir, der funktionellen Biologie, verwurzelt. Die normative Aufladung des „Normalen" lässt sich kaum, sozusagen nachträglich, herausoperieren. Oder mit anderen Worten: Biologische Objekte sind immer schon Kulturobjekte. Zum anderen aber bemüht auch Canguilhem in gewissem Sinne die Evolution, um die Leitdifferenz von „normal und pathologisch" produktiv aufzubrechen. Er bringt nämlich gegen die Gleichsetzung von normal und gesund bzw. anomal und pathologisch eine evolutionäre Perspektive ins Spiel, wenn er die Anpassung von Lebewesen an die „Unzuverlässigkeiten" der Umwelt und deren Bewältigung als entscheidendes Kriterium von „Gesundheit" definiert. Für ihn macht „Leben selbst und nicht erst das medizinische [oder biologische] U r t e i l . . . aus dem biologisch Normalen einen Wertbegriff'. 11 Der springende Punkt dabei ist, dass jeder Organismus, und erst recht der Mensch, auch dadurch normativ wird, indem er die Umwelt, und zwar die „biologische" ebenso wie die soziale oder kulturelle, den Bedürfnissen seines individuellen Lebens nach gestaltet. Daher stellen die Normen des Menschen „eher Handlungsmöglichkeiten eines Organismus in einer bestimmten gesellschaftlichen Situation dar als Funktionen eines Organismus im Sinne eines mit der physikalischen Umwelt verkoppelten Mechanismus". 12 Canguilhem nimmt damit eine andere Gewichtung zwischen dem Normalen des Labors und der Normativität des Lebens vor: Nicht
9 Deutlicher tritt diese Form von Normativität für die viele sogenannten „Normalwerte" wie Blutgaskonzentrationen oder Enzymparameter zu Tage, deren „Normalität" sich nur unter artifiziellen und daher standardisierten Laborbedingungen (Temperatur, pH-Wert usw.) beurteilen lässt. 10 Vgl. Hess 1999. 11 WieAnm. 8. 12 Ebd., 188.
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die „Objektivierung" des Normalen, sondern die Subjektivierung des Normativen stehe auf der Agenda einer wissenschaftstheoretischen Kritik.13 Daher hätte Canguilhem sicherlich auch dafür plädiert, dass sich die Biologie - gleich anderen Lebenswissenschaften - den Normen und Werten des Lebens zu stellen habe.
Literaturverzeichnis Canguilhem, George: Das Normale und das Pathologische, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1977. Derrida, Jacques: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen, in: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main 1976,422-442. Hess, Volker: Die moralische Ökonomie der Normalisierung. Das Beispiel Fiebermessen, in: Normalität und Abweichung. Studien zur Theorie und Geschichte der Normalisierungsgesellschaft, hrsg. von Werner Sohn/Herbert Mehrtens, Opladen u. a. 1999,222-243. Koselleck, Reinhart: Geschichte, Historie, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. von ders./Otto Brunner/Walter Conze, Bd. 2, Stuttgart 1975, 624-717. Ders.: Vergangene Zukunft, Frankfurt am Main 1979. Lepenies, Wolf: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, München/Wien 1976. Metreaux, Alexandre: Für eine andere Rezeption, Vortrag auf dem Workshop „Re-assessing Canguilhem" im Rahmen der 84. Jahrestagung 2001 in Hamburg, erscheint demnächst in: Cornelius Borck/Volker Hess/Henning Schmidgen [Hrsg.]: Der Eigensinn des Pathologischen (in Vorbereitung). Rütten, Thomas: Die Herausbildung der ärztlichen Ethik, in: Meilensteine der Medizin, hrsg. von Heinz Schott, Dortmund 1996, 57-66. Wieland, Wolfgang: Diagnose. Überlegungen zur Medizintheorie, New York/Frankfurt am Main 1975.
13 Metreaux 2001.
Thomas Potthast
Moral der Experten und Experten der Moral. Zum Ethikdiskurs in der „grünen Gentechnik"*
1. Vorbemerkung Für die Biowissenschaften des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts lassen sich Prozesse einer „Ethisierung" und zugleich Zustände der „Ethikfeme" konstatieren. Für Ersteres stehen zunehmende Institutionalisierungen von Ethikkomitees, Ethikcodices und zu ethischen Fragen forschenden Einrichtungen.1 Dieser Trend selbst kann als Reaktion auf die Wahrnehmung einer Ethikferne gelten. Gerade in den letzten Jahren zeigten sich Aufsehen erregende Fälle wissenschaftlichen Fehlverhaltens. 2 Dazu kommen strittige Versuche, scheinbar
überkommende
Ethiken
zu
ergänzen,
umzuformulieren
oder
gar
neue
(Bio-)Ethiken zu erfinden. 3 Aspekte der Ethisierung und Ethikferne werden im Folgenden mit Bezug auf einen Teilbereich der Biowissenschaften erörtert. Gegenstand sind deren agrarisch, forstlich und umweltbiotechnologisch ausgerichtete Forschung und Technik, also das, was unter dem Schlagwort „grüne" Gentechnik von einem „roten" humanmedizinischen
* Konstruktive Hinweise verdanke ich Rainer Hohlfeld und Mirjam Neusius, finanzielle Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (Förderinitiative Bioethik). Das Manuskript wurde im November 2001 abgeschlossen und eingereicht. 1 Deutsche Beispiele sind: Ethikbeirat des Bundesgesundheitsministeriums seit 1998, Enquetekommission Recht und Ethik der modernen Medizin des Deutschen Bundestages 2000-2002, Nationaler Ethikrat beim Bundeskanzleramt seit 2001; „Proposais for Safeguarding Good Scientific Practice" der Deutschen Forschungsgemeinschaft von 1988, „Rules of Good Scientific Practice" der Max-Planck-Gesellschaft von 2000. Eine Übersicht bioethischer Forschungseinrichtungen findet sich unter http://www.izew.uni-tuebingen.de/index_info.html (November 2001). International bedeutsam für die grüne Gentechnik sind das „Biosafety Protocol" zur UN-Konvention zur Biologischen Vielfalt von Rio de Janeiro 1992 und deren Folgekonferenzen sowie der Ethikkodex des Internationalen Instituts für pflanzengenetische Ressourcen http://www.ipgri.cgiar.org/policy/ethics.htm (November 2001). 2 Koenig 1997. 3 Diese Fragen stellen sich für die deutsche Öffentlichkeit - und zahlreiche Ethikkommissionen insbesondere hinsichtlich der Forschung an embryonalen Stammzellen und deren möglicher öffentlich-rechtlicher Forschungsförderung sowie der Klonierung menschlicher Lebewesen.
Moral der Experten und Experten der Moral
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Bereich unterschieden wird.4 Nach einem einleitenden kurzen Fallbeispiel der Debatte skizziere ich aus philosophiehistorischer Perspektive Elemente des Prozesses einer Ethisierung und ihrer Transformation. Dabei erweist sich die Moralisierung der Wissenschaft als keineswegs neues Phänomen, das sich allerdings erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts als Ethik ausdifferenziert. Derzeit vereint das Signum „Ethik und Wissenschaft" derart Heterogenes, dass eine Entdifferenzierung in der systematischen Analyse moderner (bio-)wissenschaftlicher Praxis droht. Vor dem Hintergrund dieser Befunde wird eine Positionsbestimmung vorgenommen, dass die Wissenschaft eine Ethik braucht, die sich als interdisziplinäre und kritische Reflexion gerade in den Wissenschaften versteht.5
2. Einleitende Fallskizze: Der Konflikt um den „Goldenen Reis" „Goldener Reis" ist ein transgenes Konstrukt der Reispflanze, welche ein mikrobielles Gen zur Synthese von Provitamin Α enthält. Das Reiskorn erhält dadurch eine gelbe Färbung, und bildete den Anlass fur die Namensgebung. Zu Beginn des Jahres 2001 gewannen der Goldene Reis und seine Protagonisten die Aufmerksamkeit internationaler Medien. Die zwei Feder fuhrenden Wissenschaftler Ingo Potrykus und Peter Beyer berichteten von der technischen Herstellung und der jüngst erfolgreichen Durchsetzung der rechtlichen Voraussetzungen für ihren Plan, den Reis ohne Patentgebühren fur Kleinbauern in der „Dritten Welt" zur Verfugung stellen zu wollen. Sie beendeten ihre heroische Geschichte, die vom Konflikt mit beteiligten Pharmakonzernen über die Patentbefreiung ebenso wie von der Auseinandersetzung mit Kritikerinnen der Gentechnik handelt, mit einer dramatischen Moral: Greenpeace und alle anderen Gegner machten sich bei einem erfolgreichen Widerstand gegen die Einführung „schuldig am voraussehbaren und vermeidbaren Tod oder der Erblindung von Millionen armer und unterprivilegierter Menschen, und das Jahr fur Jahr."6 Diese weit reichende ethisch-polemische Verantwortungszuschreibung entstand als Reaktion auf technische, politische und moralische Kritik am Projekt „Goldener Reis". Gegen 4 Die farbliche, sich auf die roten Blutkörperchen beziehende Trennung passt insofern nicht, als auch „rote" Tiere in der „grünen" Gentechnik eine Rolle spielen. Zudem überlappen sich die Bereiche zum Beispiel beim gene pharming, wo Tiere oder Pflanzen in der Landwirtschaft zur Produktion von Medikamenten für Menschen dienen sollen. Gleichwohl sei hier „grüne Gentechnik" als Kurzbezeichnung des nicht genuin humanmedizinischen Bereichs verwandt. 5 Meist wird „Wissenschaft" allein im partiellen Sinne von „Science" verstanden, obwohl auch die mögliche Ethisierung/Ethikferne der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften von Interesse sein sollte. De facto beziehen sich „Wissenschaftsethik" oder „Ethik in den Wissenschaften" fast nur auf die sciences. Zur Verhältnisbestimmung von (Natur-)Wissenschaft und Technik siehe unten. 6 Frankfurter Allgemeine Zeitung (Feuilleton) vom 22. Jan. 2001; vgl. auch New York Times vom 21. Nov. 2000.
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anders lautende Thesen der Industrie hatte die Umweltschutzorganisation Greenpeace darauf hingewiesen, dass der gentechnisch veränderte Vitamin-Α-Reis das Problem der Mangelernährung in armen Ländern nicht lösen könne. Eine erwachsene Person müsse das Zwölffache der täglich üblichen Reismenge, nämlich neun Kilogramm, zu sich nehmen müsste, um die Mindestversorgung mit Vitamin Α zu erhalten. Zusätzlich zu Fragen nach der Substanz faktischer Behauptungen ging es auch um die politische Funktion des „Goldenen Reises": Mittels der Behauptung der Nützlichkeit sowie der partiellen Freistellung von Patentrestriktionen für Kleinbauern fungiert der transgene Reis laut Greenpeace als trojanisches Pferd der Biotech-Industrie, „um mit überzogenen Werbemaßnahmen die Akzeptanz fur die Gentechnik zu steigern . . . Der Nutzen dieser Gen-Pflanze ist fragwürdig, ihre Risiken nicht absehbar. Das ist untragbar, denn auch beim Vitamin-A-Reis gilt: Wenn sich negative Auswirkungen zeigen, kann er nach seiner Freisetzung nicht wieder zurückgeholt werden. Es gibt viel versprechende Projekte, die ohne den Einsatz risikobehafteter Technologien auskommen. Studien in Indien und Südafrika kamen zum Beispiel zu dem Schluss, dass rotes Palmöl als Nahrungszusatz eine effektive Quelle fur Provitamin Α ist. Rotes Palmöl hat zudem den Vorteil, dass das für die Aufnahme so wichtige Fett ebenfalls enthalten ist."7 Im Fall „Goldener Reis" liegt eine typische Konstellation ethischer Diskurse um die grüne Gentechnik vor: Strittig sind sowohl der (fragliche) Nutzen als auch das (mögliche) Risiko. Das ethische Urteil stützt sich auf die Erhebung und Evaluation des wissenschaftlich-technischen „Sachstands" sowie auf meist implizite moralische Normen wie Schadensvermeidung und Gesundheitsforderung.8 Dissens besteht meist nicht in Bezug auf solche „mittleren Normen", sondern darüber, ob diese im Lichte der Interpretation der Sachlage für oder gegen gentechnische Maßnahmen sprechen. Jenseits der Einzelfallbewertung geht es um die grundsätzliche Fragwürdigkeit der Gentechnik als Lösungsweg aus bestimmten Problemlagen. Letzteres schürt die hitzigsten Debatten, da ein gesamter methodischer Zugang der Biowissenschaften einem ausgesprochen kritischen ethischen Urteil unterworfen wird. Diese Infragestellung der Praxis und - zuweilen - der damit verbundenen Motive auf einer gesellschaftspolitischen und sozialethischen Ebene wird oftmals als persönlicher Vorwurf (miss)verstanden. Die Reaktionen der beteiligten Biowissenschaftler betreffen zwar auch Sachfragen, oft jedoch darüber hinaus die als Anmaßung empfundene Ablehnung der biowissenschaftlichen Arbeit sowie ihrer humanistischen Motive als Ganzer. Insofern darf es nicht verwundern, dass die Fronten sich verhärten und zugleich die abschließende Replik des kritisierten Biologen im Falle „Goldener Reis" eine ethische ist: „Scientists are frequently reminded to take over responsibilities for their work. It is my believe that with the structures and collaborations being now in place we have done all that is possible to ensure the safe and cost-free introduction of Golden Rice to the benefit of people who most
7 Presse-Information Greenpeace vom 9. Feb. 2001. 8 Insofern redet man hier von „gemischten Urteilen"; vgl. Skorupinski 1995.
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urgently need it. In this context I also appreciate very much that Greenpeace seems to be willing now to take over similar responsibilities for their actions as well. This has not been evident in the past".9 Offenkundig hat der „Goldene Reis" nicht nur eine gentechnisch induzierte Eigenschaftsveränderung erfahren, sondern auch eine, gleichwohl ambivalente, öffentliche Moralisierung. 10 Zudem lebte eine abgeflaute Diskussion um die Möglichkeit der Linderung oder gar Überwindung des Hungers mittels verstärkter agroindustrieller Bemühungen zu Produktionssteigerung, nicht zuletzt der Gentechnik, wieder auf. Dieses unausweichlich moralische Argument erschien in den letzten Jahren weit gehend obsolet, da Hunger übereinstimmend als Resultat von Verteilungsproblemen und der Struktur des globalen Agrarmarkts gesehen wurde. Unlösbar erschienen vielen zudem die grundsätzlichen Probleme einer Implementierung hoch technisierter Landwirtschaft in den Ländern des Südens. 11 Dieser Konflikt ist in aller und alter Polemik zwischen den unterschiedlichen Protagonisten wieder ausgebrochen. 12
3. Wissenschaft und Wert-Kontexte: Vor der Ethisierung Die Betonung der moralischen Bedeutung von Wissenschaft ist kein Produkt des 20. Jahrhunderts. Sucht man nach philosophisch-wissenschaftlich-politischen Utopien, die moderne gentechnische Zugriffe auf die nicht-menschliche Natur und deren moralischen Kontext antizipieren, so findet man zuvorderst Francis Bacon (zitiert), der 1623 in seinem Werk Nova Atlantis die Rolle zukünftiger Wissenschaft beschreibt: „Wir bringen auch größere Bäume und Pflanzen hervor, als natürlich ist, größere und süßere Früchte, von ihrer gewöhnlichen Art unterschieden an Geschmack, Geruch und Farbe. Und viele davon bereiten wir so, dass sie zu medizinischen Zwecken geeignet sind . . . , und auch neue und unbekannte Pflanzen ziehen wir, die sich von den gewöhnlichen unterscheiden. Wir haben auch Käfige und Gehege für Säugetiere und Vögel aller A r t . . . Wir machen an diesen Tieren Versuche . . . Wir machen auch die einen künstlich größer und länger, als sie von Natur aus sind, andere wieder umgekehrt zwergenhaft klein und nehmen ihnen ihre natürliche Gestalt. Außerdem machen wir die einen fruchtbarer und mehrbäriger, als sie ihrer Natur nach sind, die anderen umgekehrt unfruchtbar und zeugungsunfähig. Auch in Farbe, Gestalt und Gemütsart verändern wir sie auf vielerlei Art und Weise. Wir sorgen ferner für Kreuzungen und Verbindungen von Tieren verschiedener Arten, die neue Arten hervorbringen, die trotzdem nicht unfruchtbar sind, wie die allgemeine Ansicht i s t . . . Jedoch tun wir das nicht aufs
9 Öffentlich zirkulierende Email von Ingo Potrykus vom 13. Feb. 2001. 10 Zur Moral und Politik des Goldenen Reis vgl. Pollan 2001. 11 Vgl. Mooney/Fowler 1991. 12 Trotz gegenteiliger Bekundungen nicht nur am Titel ablesbar bei Pinstrup-Andersen/Schioler 2001.
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Geratewohl, sondern wir wissen genau, welches Tier aus welchem Stoff hervorgebracht werden muß."13
Stellt die moderne Gentechnik einen Realisierungsversuch utopischer Phantasien zur Gestaltung der Natur dar, wie sie Bacon im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts entwarf? Besteht das Ziel in der Verbesserung einer hinsichtlich der Interessen des Menschen mangelhaften Natur? Ist dieses Ziel mittels immer weiter ausgefeilter Methoden der Biowissenschaften erreichbar? Ist die Manipulation auf der Ebene der DNA ein neuer, gleichsam natürlicher Schritt in der Evolution des Lebens, oder gerät damit die natürliche Stammesgeschichte in Gefahr? Bestehen größere, neuartige Risiken für Menschen und Umwelt bei der Freisetzung transgener Organismen? Besteht gar ein Tabubruch, weil eine Grenze der Manipulierbarkeit überschritten wird, jenseits derer es dem Menschen nicht gestattet ist zu agieren? Ist die Gentechnik in diesem moralischen Sinne natürlich oder widernatürlich? Solche Fragen an die Gentechnik werden seit etwa zwanzig Jahren insbesondere auch unter dem Signum der Ethik debattiert.14 Von Bacon können wir zweierlei lernen, was sich bezüglich der Wissenschaft seither ziemlich fest ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben hat: Erstens dient Wissenschaft dem Zweck, das Gut der Menschen zu vermehren. Dieses Gut ist sowohl materiell als auch durchaus moralisch zu verstehen. Wissenschaft schafft nicht nur Wissen als Gut (moralischer Selbstzweck der Erkenntnis), sondern auch gutes Leben, insofern sie mehr und neue Güter, mithin ein besseres, weil sorgenfreieres Leben ermöglicht. Das funktioniert zweitens aber nur, weil die Wissenschaftler wissen und kontrollieren können, was sie tun. Nur dann ist das Gut ihres Handelns gewährleistet, wenn nicht aufs „Geratewohl" neue Dinge hervorgebracht werden. Eine wissenschaftliche Elite fast brüderschaftlichen Zuschnittes soll das Wissen und seine angemessene Anwendung sichern. Der moralische Kontext naturwissenschaftlicher Praxis ist mithin alt. Er steht neben der seit Aristoteles am höchsten bewerteten kontemplativen, zweckfreien Erkenntnis über die Welt: die Nützlichkeit, die Zweckorientierung auf ein Gut für den Staat, für ein Gemeinwohl. Bacon prägt somit eine Heuristik und Ethik des wissenschaftlichen Machens: Wissenschaft schafft Wissen als Gut (moralischer Selbstzweck der Erkenntnis) und zugleich Gutes, materiell abgesichertes Leben. Wissenschaftler dienen dem Staat (allein) mit ihrer partiellen Expertise, und Wissenschaftler wissen und kontrollieren, was sie tun. Es sei ausdrücklich daraufhingewiesen, dass Bacon (s)eine Utopie beschreibt. Der Eliteentwurf und die Idee der autonomen Selbststeuerung werden heute noch von vielen Wissenschaftlerinnen - und zwar contrafaktisch - als alleinige Garanten zur Sicherung verlässlichen Wissens bezeichnet. Mit Bacon ist aber weder ein logischer noch ein historischer Grund für die Behauptung zu gewinnen, dass Wissenschaft und Demokratie inkompatibel
13 Francis Bacon: Neu-Atlantis, 207 f. [Orig.: New Atlantis: a work unfinished 1627/28], 14 Potthast 1999, Kap. 9.
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wären - und ebenso wenig für ihr Gegenteil, also Poppers These der freien Gesellschaft als einzig möglicher Form zur Sicherung wahrer Wissenschaftlichkeit und vice versa.15 Der bislang letzte große Utopiker der Philosophie, Ernst Bloch, würdigt Mitte des 20. Jahrhunderts Bacons Bedeutung: „Bacons Schrift [Nova Atlantis] i s t . . . die einzige Utopie klassischen Rangs, welche den technischen Produktivkräften des besseren Lebens entscheidenden Rang gibt"16. Bloch formuliert zur Energiepolitik ganz im Baconschen Geiste: „Wie die Kettenreaktionen auf der Sonne uns Wärme, Licht und Leben bringen, so schafft die Atomenergie, in anderer Maschine als der der [sie] Bombe, in der blauen Atmosphäre des Friedens, aus Wüste Fruchtland, aus Eis Frühling. Einige Hundert Pfund Uranium und Thorium würden ausreichen, die Sahara und die Wüste Gobi verschwinden zu lassen, Sibirien und Nordkanada, Grönland und die Antarktis zur Riviera zu verwandeln".17
Uns erscheinen solche Szenarien heute kurios, naiv, voller Hybris und nicht zuletzt auch moralisch suspekt. Der Grund für diesen moralischen Hautgout liegt im zumindest partiellen Verschwinden der von Bacon postulierten Sicherheiten: Zum einen ist bei heutigen Produkten wissenschaftlicher Praxis nicht selten strittig, ob sie wirklich ein erwünschtes und wünschbares Gut jenseits ihrer selbst befördern. Zum anderen ist klar geworden, dass Wissenschaftler die Folgen und Nebenfolgen ihres Handelns nicht (mehr) überblicken können, dass Wissenschaft niemals durch eine kleine Kaste Eingeweihter verantwortungsvoll kontrollierbar ist, wie dies Bacon und vielen seiner Nachfolger bis heute vorschwebt. Bei Bloch findet sich neben seiner Begeisterung für nicht-euklidische Wissenschaft18 und Technik des 20. Jahrhunderts zugleich eine deutliche marxistische Kritik an Bacon, der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Technik. Die Kritik besteht aus drei zentralen Argumenten: Das erste betrifft den fehlenden politischen Kontext: Bloch weist daraufhin, dass Bacon eigentlich mit Nova Atlantis zwei Fragen beantworten wollte, „die nach dem besten Forschungsinstitut, [und] die nach dem besten Staat. Die unvollendete Schrift [Bacons] beantwortet nur die erste Frage".19 Wenn man so will, fragt Bloch also nach dem politischen Kontext von Wissenschaft, um die Frage ihrer Angemessenheit beantworten zu können. Zweitens geht es um die fehlende Naturphilosophie: Bloch kritisiert zugleich den Mangel an Naturphilosophie in Bacons Naturwissenschaftsentwurf. Das Motto „Natura parendo vincitur" (Natur wird durch Gehorchen besiegt) sei bei Bacon und seinen Nachfolgern auf reine Ausbeutung der Natur reduziert worden:
15 Siehe dazu auch unten. 16 Ernst Bloch (1959): Das Prinzip Hoffnung, 765. Geschrieben wurde das Buch 1938-47 in den USA, durchgesehen 1953 und 1959 in Leipzig. 17 Ebd., 775. 18 Die Rede ist fast ausschließlich von (Relativitäts- und Quanten-)Physik sowie der synthetischen Chemie, nicht jedoch von der Biologie. 19 Bloch 1959, 763.
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„Auf diese Art entstand, neben allen Segnungen, ein so eigentümlich artifiziell-abstraktes Wesen an der bürgerlichen Technik, daß sie wohl auch, in manchen ihrer listigen Erfindungen, als noch [!] .unnatürlich' fundiert wirken kann und nicht nur als noch unmenschlich verwaltet. Das [Neu-Atlantische] ,Haus Salomonis', so scheint es, kommt doch nicht ohne Salomo aus, das ist ohne Naturweisheit".20
Bloch kontert Bacon utopisch: „Marxismus der Technik, wenn er einmal durchdacht sein wird, ist keine Philanthropie für mißhandelte Metalle, wohl aber das Ende der Übertragung des Ausbeuter- und Tierbändigerstandpunkts auf die Natur."21 Risiken durch Produkte der Wissenschaft sind das dritte Thema: Die bürgerliche Wissenschaft und die mittels ihrer Technik erzeugten praktischen Interventionen bergen nach Bloch Unfallgefahren, ebenso wie die Ökonomie unweigerlich Krisen erzeugt. Trotz aller Unterschiede „entsprechen sich beide Katastrophen tiefliegend, denn beide stammen letzthin aus einem schlecht vermittelten, abstrakten Verhältnis der Menschen zum materiellen Substrat ihres Handelns."22 Mit den Themen politischer Kontext der Wissenschaft, Naturphilosophie sowie Risiko sind die entscheidenden Diskussionsfelder der ethischen Debatte (nicht nur) um die Gentechnik benannt. Meine mit Bacon und Bloch nur skizzierte erste These lautet also, dass die Moralisierung im Sinne einer Erörterung über Gut und Böse in den Naturwissenschaften überhaupt nichts Neues unter der Sonne ist. Zur selben Zeit, als Ernst Bloch in den USA Das Prinzip Hoffnung schreibt, wird allerdings eine neue, seither bedeutungsvolle Komponente der Diskussion um die Moral in der Wissenschaft wirksam: Die Frage nach der - individuellen und kollektiven - Verantwortung der Naturwissenschaftler für die Folgen ihrer Praxis. Die entscheidenden Beiträge der zuvor oft als Esoteriker angesehenen theoretischen Physiker zur Entwicklung der Atombombe rückten auch die so genannte Grundlagenforschung ins Zentrum ethisch-politischer Fragen. Allerdings ging es vorwiegend um Aspekte der Rechtfertigung persönlicher Beteiligung an bestimmten Projekten. Gefordert wurde unter anderem ein Verhaltenscodex für (Atom-)Physiker in Analogie zum Hippokratischen Eid der Ärzte.23 Stabil blieb allerdings die Vorstellung von einer im Kern wertfreien, objektiven Wissenschaft, die lediglich in der „Anwendung", vor allem als so genannter „Missbrauch" ethische Relevanz erhält.24 An-
20 Ebd., 767. 21 Ebd., 813. 22 Ebd., 811 23 Schweber 2000, 11 u. 171 f. Schweber zeigt, welch entscheidende Rolle der politische Kontext des Kalten Krieges in den hochschul- und forschungspolitischen, aber auch den wissenschaftsethischen Debatten der Physik in den USA hatte. 24 Dabei bestehen aufschlussreiche Parallelen zu den zeitgenössischen moralischen und gerichtlichen Auseinandersetzungen um die Verantwortung von Wissenschaftlern im Nationalsozialismus; vgl. Weindling 2001.
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wendung als Technik (Technologie) bleibt dabei von der prinzipiell ethisch neutralen wissenschaftlichen (Grundlagen-)Forschung getrennt.25 Versteht man Ethisierung als Resultat der Einbeziehung explizit moralphilosophischer Expertise in die Debatten um moralische Aspekte der Wissenschaft, so ist selbstverständlich eine zweite philosophiegeschichtliche Linie zu konstruieren, die hier nur kurz erwähnt sei. Sie beginnt bei David Humes viel zitiertem Verdikt gegen den Fehlschluss vom Sein (deskriptive Sätze) auf ein Sollen (präskriptive Sätze). Daran schließen Anfang des 20. Jahrhunderts George Edward Moore mit seinen Überlegungen zum naturalistischen Fehlschluss sowie Max Weber in seinem Plädoyer gegen Sollensaussagen und Werturteile mit scheinbar empirisch wissenschaftlicher Legitimation an.26 Zusammenfassend für Abschnitt 3 sei die Genese des Wert-Kontexts der Wissenschaft in wissenschaftssoziologischen Kriterien noch einmal reformuliert: Das Modell des wissenschaftlichen Gesellschaftsvertrages ist der Staatsvertrag der Wissenschaft im absolutistischen England am Ende der republikanischen Reformbewegung. Die institutionalisierte Wissenschaft produzierte als Leistung sicheres und verlässliches Wissen als Basis fur Orientierung in der Welt und technische Beherrschung der Natur. Sie durfte das in eigener Regie (Autonomie) tun und erhielt dafür die staatliche (königliche) Erlaubnis und Anerkennung. Die interne Verfassung der Wissenschaft als Gelehrtenrepublik war demokratisch, die Beziehung zum politischen System, zur Gesellschaft und Öffentlichkeit elitär. Bezüglich des wissenschaftlich-technischen Wissens besaß diese Gelehrtenrepublik unbedingte Autorität. Aber alle Themen, welche die politischen und religiösen Streitfragen berührten oder berühren konnten, waren fur die Wissenschaft tabu; bei diesen war sie zu absoluter Neutralität verpflichtet. Die offenkundig massiven Eingriffe des Staates in die wissenschaftliche Autonomie durch die herrschende Partei im Nationalsozialismus sowie im Stalinismus veranlassten den Soziologen R. Merton 1942, ein Ethos freier Wissenschaft angesichts der demokratischen Gesellschaften des Westens herauszuarbeiten und seine Grundprinzipien zu definieren. Das Mertonsche Modell wurde insbesondere im Kalten Krieg zum Prototyp fur die Idee freier Wissenschaft und den demokratischen Gesellschaftsvertrag, der sich von den oben genannten Baconschen Prinzipien letztlich nicht unterscheidet. Für die Naturwissenschaften der Nachkriegszeit bis heute hat insbesondere der Philosoph Karl R. Popper diese Konzeption wertfreier Wissenschaft als Expertenkultur fur westliche Gesellschaften popularisiert.27
25 Zur ideologischen Funktion dieser vor allem nach dem 2. Weltkrieg konstruierten politischen und ethischen Strategie siehe Maier 2003. 26 David Hume: A treatise of human nature: being an attempt to introduce the experimental
method
of reasoning into moral subjects', George Edward Moore: Principia ethica\ Max Weber: Der Sinn der „ Wertfreiheit" der soziologischen 27 Vgl. Hohlfeld/Nötzold/Walther 2003.
und ökonomischen
Wissenschaften.
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4. Wissenschaft als moralisches Problem: Ethisierung ab 1970 Es sind die späten 1960er und frühen 1970er Jahre, in denen Bacon und Bloch, Hume, Weber und Moore im Kontext der Naturwissenschaften neu erörtert werden. Dabei beginnt der Prozess einer „Ethisierung". Der materielle Hintergrund ist oftmals skizziert worden: Die Entwicklung der molekularen Techniken und der ersten gentechnischen Experimente, die immense Zunahme medizinisch-technischer Interventionsmöglichkeiten und damit verbundener Fragen (beispielsweise der strittigen definitorischen Feststellung des Lebensbeginns oder des Todeszeitpunkts), die Wahrnehmung von Ressourcenknappheit und zunehmender Umweltverschmutzung, politische Protestformen in den Ländern der beiden großen Machtblöcke, und so fort. In provozierender Form hat der Philosoph Hans Jonas eine neue Sicht der Dinge in seinem Buch Das Prinzip Verantwortung formuliert.28 Es ist eines der wohl einflussreichsten technik- und wissenschaftsethischen Werke der Gegenwart. Und es ist kein Zufall, dass der Titel Assoziationen mit Blochs Prinzip Hoffnung weckt, denn er ist explizit dagegen gesetzt. Bloch ist nach Immanuel Kant und noch vor Marx der meistzitierte Autor in Jonas' opus magnum. Jonas' Kritik richtet sich gegen die Selbstverständlichkeiten in den Konzepten von Bacon, Descartes und auch Bloch, dass die Resultate von Wissenschaft und Technik im Prinzip das moralisch Gute befördern. Er widmet den Großteil seines Buches einer Kritik des falschen Naturverhältnisses und Technikverständnisses des Marxismus im Allgemeinen und Blochs Prinzip Hoffnung im Besonderen. Jonas wendet sich allerdings gegen jede „quasi-utopische" Heilsgewissheit der Technologie unabhängig vom Gesellschaftssystem. Von den drei oben entwickelten Aspekten adressiert er Fragen des politischen Kontexts der technischen Zivilisation lediglich ex negative, indem er die sozialistische Alternative nach sorgfaltiger Prüfung verwirft. Zur Frage der Gesellschaftsform, in der Jonas' eigenes Prinzip Hoffnung umsetzbar wäre, ist nichts zu erfahren. Die politische (Wissenschafts- und Technik-)Philosophie verschwindet zugunsten einer individuell-anthropologisch orientierten Ethik. Ausfuhrlicher setzt sich Jonas mit naturphilosophischen Fragen auseinander. Nicht zuletzt deswegen wurde er zu einem der meist rezipierten zeitgenössischen Biomedizin- und Umweltethiker, wobei er starke Zustimmung ebenso wie empörte Kritik geerntet hat. Der Grund fur die Heftigkeit der Reaktionen liegt nicht allein in seinen Thesen zu Wissenschaft, Ethik und Natur, sondern in seinem Versuch, bewusst die Brücke zwischen Sein und Sollen durch biologisch informierte Naturmetaphysik und -ethik zu überschreiten. Über die biologische Bedeutung hinaus erhält der Organismusbegriff einen normativen Aspekt, der nach Jonas nur zu gewinnen ist, wenn die Spaltung zwischen wertfreier Beschreibung (hier: Na-
28 Hans Jonas (1979): Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik fiir die technologische sation.
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turwissenschaiit) und Handlungsanweisung (Ethik) aufgehoben werden kann. Dann wird es möglich, einen moralischen Auftrag aus der Beschäftigung mit der Biologie zu gewinnen. Dazu muss allerdings Metaphysik - hier: Naturmetaphysik - betrieben werden, was innerhalb der Domäne der Naturwissenschaft ein unzulässiges Bemühen darstellt. Jonas' Argumentation verläuft in mehreren Schritten: Zunächst begründet er, dass bei Fragen des Naturverständnisses ein metaphysischer Standpunkt zumindest als Ausgangsposition unvermeidbar sei. Die Naturwissenschaft habe sich dabei William von Ockham verschrieben: In der wissenschaftlichen Betrachtung der Natur sei Metaphysik, also auch Reflexion auf Sinn und Zwecke der Natur nicht nur verzichtbar, sondern störend.29 Der zweite Schritt besteht darin, den Übergang von unbelebten zu belebten Einheiten in der Natur als qualitativen Schritt der Entwicklung der Welt zu interpretieren. Mit dem lebenden Organismus sei die Möglichkeit von Handlungsfreiheit gegeben, und in der Evolution entfalte sich diese weiter. Die beiden entscheidenden Charakteristika des Organismus - funktionelle und strukturelle Aufrechterhaltung sowie Reproduktionsfähigkeit - interpretiert Jonas als „fundamentale Selbstbesorgtheit allen Lebens, in welcher Notwendigkeit und Wille zusammengebunden sind".30 Im Lebewesen als Organismus sei Freiheit angelegt, im tierlichen Organismus bereits weit fortgeschritten. Die Zunahme von Freiheit sei eine Tendenz in der Evolution der Organismen. Freiheit ist dabei nicht die Unabhängigkeit von anderen Lebewesen, sondern die Erweiterung individueller Verhaltensmöglichkeiten, die oft gerade mit der Bindung an spezielle Umwelten erkauft wird. Mit „Bewegungsfähigkeit, Wahrnehmung, Gefühl" benennt Jonas zudem Kriterien für die abgestufte Freiheit innerhalb der Lebewesen.31 Offen spricht Jonas damit aus, was im Kontext der Bioeltethik meist wenig reflektiert wird: Das Naturverständnis bedingt eine metaphysische Fundierung des Moralprinzips, was wiederum Konsequenzen für die Verwertung als Handlungswissen hat. ,,[E]ine Ethik, die sich nicht mehr auf göttliche Autorität gründet, [muss] durch ein in der Natur der Dinge entdeckbares Prinzip begründet werden."32 Ein solches Prinzip zu finden, setzt eine in jedem Fall strittige ontologische Neuorientierung voraus. Seine eigenen metaphysischen Annahmen leitet Jonas aber gerade nicht aus naturwissenschaftlichen, sondern aus natur-ontologischen Positionen ab. Dies unterscheidet ihn von etlichen Autoren neuerer nordamerikanischer Naturphilosophie, die ihre (metaphysischen) Naturkonzepte direkt aus naturwissenschaftlichem Wissen ableiten wollen.33 Bei Jonas wird „Objektivität" im Sinne von Evidenz und Geltung auch moralischer Aspekte der
29 Jonas 1973, 52-55; ders. 1979, 92-95. 30 Jonas 1973, 185. 31 Ebd., 153. 32 Ebd., 341. 33 Insbesondere in der Folge von Aldo Leopold: A Sand County Almanack - with essays on conservation from round river [Orig. 1949: A sand county almanack, 1953: feayi], oder in der Soziobiologie.
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Natur aus der Naturmetaphysik gewonnen, während „Objektivität" allgemeingültiger Aussagen in den neuzeitlichen Naturwissenschaften dagegen allein in Abwesenheit von Metaphysik zu gewinnen ist. Man kann sich nun leicht ausmalen, Jonas' Position für Naturwissenschaftler und die meisten Wissenschaftsphilosophen inakzeptabel ist: Eine biozentrische Naturethik auf Basis einer Naturmetaphysik, die den Sein-Sollen-Fehlschluss hier explizit umgeht, da das Sollen bereits als Teil des Seins des Lebendigen zu verstehen sei.34 Jonas fungiert durch seine explizite Naturphilosophie als Gewährsmann für viele andere Kritikerinnen der „grünen Gentechnik". Insbesondere hinsichtlich der Fragen nach der (Un-)Natürlichkeit der Gentechnik argumentieren sie mit Jonas gegen die gentechnische Modifikation von Organismen, die damit ihrer natürlichen' organismischen Integrität und ihrer Evolutionspotentiale beraubt würden. Auch die ethische Debatte um die Freisetzung transgener Organismen besitzt eine naturphilosophische Komponente, wenn gefordert wird, Lebensgemeinschaften oder Ökosysteme als zeitlich langfristig entstandene Einheiten nicht durch transgene Organismen mit einem ganz anderen „Zeitschema" zu verändern.35 Aus der Perspektive der Moralphilosophie findet die biomedizinische Debatte um den Status und die Zuschreibung der Menschenwürde (oder des Personenbegriffs) in der Umweltethik ihre Parallele in der Frage nach dem Selbstwert von Organismen, Arten oder gar Ökosystemen, denn mit dem Selbstwert würden Natur-Stücke tatsächlich unmittelbare moralische Rechte erhalten. Ausgangspunkt dieser strittigen Selbstwertkonzepte der Natur ist nicht zuletzt die naturphilosophische Kritik an Baconschen und Cartesianischen Entwürfen der Natur in den Naturwissenschaften. Unter anderem in der Kritik an der „grünen Gentechnik" finden sich explizit Hinweise auf die naturzerstörerischen Effekte als Resultat der absoluten Subjekt-Objekt-Trennung, dem rein instrumenteilen Zugriff auf Natur sowie den Unterwerfungs- bzw. Ausbeuterstandpunkt ihr gegenüber. Die Ethik und Heuristik des Machens wird auch in heutiger Wissenschaftskritik ursächlich auf Bacon und Descartes zurückgeführt.36 Jonas' vielleicht wichtigster Beitrag zur Ethisierung ist jedoch sein Umgang mit der Frage nach den Risiken der Ergebnisse von Wissenschaft und Technik. Gegen das utopische Bloch'sche Prinzip Hoffnung auf eine zum Wohle der Menschen entfaltete Naturwissenschaft und Technik setzt Jonas den radikalen Zweifel seiner „Heuristik der Furcht" als Orientierung für die heutige technische Zivilisation. Das „Prinzip Verantwortung" gebietet, aus
34 Aus der Flut von kritischen Erwiderungen auf Jonas ,neue' Naturmetaphysik sei die differenzierte Studie von Schäfer 1993 genannt. 35 Die von Menschen früher vorgenommenen Änderungen der Kulturlandschaft werden als Teil dieses langfristigen Prozesses positiv(er) beurteilt. Die Gentechnik und die konventionelle industrialisierte Landwirtschaft der „Grünen Revolution" werden dagegen abgelehnt. Vgl. Chadarevian/Dally/Kollek 1991. 36 Einflussreich waren zum Beispiel Merchant 1987 und Fox Keller 1986.
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dem Sein des Lebens, das sich in Form der Organismenwelt als Resultat eines zunehmenden Differenzierungsprozesses darbietet, auf ein Sollen zu schließen, nämlich insbesondere „dass eine Menschheit sei". Mit Blick auf die Zerstörungspotentiale für die Umwelt und die menschliche Gattung seien daher zunächst die schlimmstmöglichen Folgen neuer Techniken zu reflektieren und im Zweifel gegen deren Ausbau zu votieren: Jn dubio contra projectum". Nicht nur die Naturphilosophie, sondern auch der Risikodiskurs ist mithin ein genuin ethischer geworden. Jonas' drei Elemente der Ethisierung der Kritik am Modell des Machens in Wissenschaft und Technik betreffen erstens die Politik: Statt Ideologiekritik und/oder Utopismus entwickelt Jonas eine anthropologisch orientierte Ethik. Zweitens wird die Naturphilosophie zurück gewonnen und aus ihr ein biozentrisches Wertmodell gewonnen. Drittens erfolgt eine Ethisierung des Risikos in Jonas' Heuristik der Furcht. Alle drei Aspekte sind seit Jonas Teil des Phänomens „Ethik" in Wissenschaft und Technik geworden.
5. Die Hybridisierung unterschiedlicher Ebenen in der ethischen Debatte Der Diskurs in den biomedizinischen Feldern der Gentechnik ist ein wenig anders verlaufen als in der „grünen Gentechnik". Gerade in der Medizin, aber auch der biologischen Anthropologie und der Genetik ist Jahrzehnte lang bei ethischen Fragen zumeist von Missbrauch geredet worden. Nicht die wissenschaftliche Praxis als solche, sondern lediglich missbräuchliche Grenzüberschreitungen oder so genannte pseudowissenschaftliche Verfälschungen wahrer Wissenschaftlichkeit hätten zu unmoralischen oder gar kriminellen Exzessen gefuhrt. Für Teile der Atomphysik und die Zweige der Biowissenschaften, die sich mit der Gentechnik nicht-menschlicher Organismen befassen, sind es dagegen auch Zweifel an der Verfasstheit der „normalen" Wissenschaft, die den ethischen Diskurs von Anfang an in Gang gesetzt haben. Selbst wenn Wissenschaftlerinnen ihre Forschung völlig regelgerecht- also entsprechend dem Berufethos- durchführen, müssen sie sich der Verantwortung für unmoralische Konsequenzen stellen, die durch ihre Wissenschaft entstehen. Der Prophet dieser Bewegung ist Hans Jonas, der wissenschaftliche Praxis aus der Perspektive von Naturphilosophie („biozentrische Wertethik") und Risiko („Heuristik der Furcht") ethisch kritisiert.37 Jonas Entwurf steht, ungeachtet aller Besonderheiten stellvertretend für zwei anfangs bereits erwähnte, zentrale Aspekte der Ethisierung der Naturwissenschaften. Eher implizit weist Jonas zum einen darauf hin, dass Wissenschaft im Sinne von „Grundlagenforschung" und deren Anwendung als „Technologie" oder „Technik" im Kontext der neuen Biowissenschaften praktisch nicht mehr zu trennen sind. Dies gilt insbesondere hinsichtlich ihrer Fol-
37 Bezüglich dieser Kritik gibt es keine Unterschiede zwischen „roter" und „grüner" Gentechnik.
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gen und damit der Verantwortlichkeit. Selbst wenn - bzw. gerade weil - die Zuschreibung individueller Schuld auf einzelne Wissenschaftlerinnen eher schwierig beziehungsweise völlig simplifizierend und im schlechten Sinne moralisierend ist, können sich die Forscherinnen nicht auf die alte .Küchenmesserethik' von Ge- und Missbrauch zurückziehen. Vielmehr wird nun der gesamte Zusammenhang von biowissenschaftlicher Forschung ein Gegenstand ethischer Beurteilung. Vielleicht noch drastischer oder problematischer sind die Konsequenzen aus der Kritik an den Baconschen Idealen. Die alten Werte des wissenschaftlichen Ethos gelten inzwischen nicht selten aufgrund ihrer Naturentfremdung und Zweckorientierung geradezu als Grund allen Übels. Zumindest werden sie als moralisch problematisch angesehen, während doch Forscherinnen selbst mit den besten Absichten zum Wohle des oder der Menschen arbeiten.38 Dies mag trivial oder simplifizierend klingen, macht jedoch die Schärfe und Emotionalität wissenschaftsethischer Debatten um die Gentechnik verständlich: Wenn, wie bei Bacon (und ebenso bei Popper), Wissenschaft qua Konstitution Gutes schafft, dann ist Kritik an der Gentechnologie, ausgenommen die wenigen auch seitens der wissenschaftlichen Gemeinde geächteten Missbräuche, geradezu infam. Umgekehrt kann Gentechnik nicht einfach als ein Erkenntnis- und Produktionsmodus der Wissenschaft akzeptiert werden, wenn die zugrunde liegenden Prinzipien in die Irre der Natur- und Menschlichkeitszerstörung leiten. Beide Sichtweisen haben erhebliche Konsequenzen fur die politische und ethische Urteilsbildung - und sie bergen Gefahren für persönliche Diffamierungen. Wer die Schärfe und den moralischen Rigorismus mancher Debatten um die Freisetzung transgener Organismen als „irrational" abtun will, übersieht die beiderseits vorhandene existentielle Dimension der Wahrnehmung des Problems.39 In der „grünen Gentechnik" haben Jonas und andere allerdings eine weitere praktische Konsequenz für die Struktur des Diskurses gezeitigt. Tendenziell verschwindet die Frage nach den allgemeinpolitischen und forschungspolitischen Kontexten der Gentechnik aus den nun entstehenden ethischen Erörterungen. Dies bedeutet nicht, dass über Politik nicht gesprochen würde, aber eine systematische Ausarbeitung der Rolle der Ethik fur die (Forschungs-)Politik und vice versa findet nicht (mehr) statt.40 Allerdings weisen zwei neuere Fallstudien zur „roten Gentechnik" auf, dass die Entscheidung fur technologiepolitische Entwicklungen nicht unabhängig vom Ethik- und Diskursverständnis gesehen werden kann und dass umgekehrt bestimmte Ethikentwürfe besonders gut zu bestimmten biopolitischen
38 Und dabei allerdings die De-Kontextualisierung ihres Handelns im Labor nicht selten übersehen; vgl. Bonß/Hohlfeld/Kollek 1992. 39 Moralisierung und Emotionalisierung können zugleich auch erfolgreiche politische Strategien sein; vgl. Kreß/Potthast 2000. 40 Es existieren zahllose politikwissenschaftliche oder soziologische Studien zur Gentechnik, die bemüht sind, ethische Fragen ausdrücklich nicht selbst zu diskutieren. Umgekehrt berücksichtigen Moralphilosophlnnen kaum die systematischen Analysen zu Machtfragen (in) der Politik. Analytische und normative Studien stehen so zumeist unvermittelt gegenüber.
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Optionen passen - und strategisch entsprechend eingesetzt werden.41 Auch die explizite Debatte über naturphilosophische Fragen und deren systematisch-ethische Dimension verschwindet aus dem Gentechnikdiskurs, weil diese Form offenkundig im mainstream von Naturwissenschaft, Wissenschaftsphilosophie und „rationalitätsorientierter" Ethik nicht satisfaktionsfähig erscheint. Die Folge ist, dass unter dem dritten der Blochschen Aspekte, dem Risiko, nun alle Elemente - meist wenig reflektiert und durcheinander - verhandelt werden. Der Soziologe Ulrich Beck, mit seiner Erfindung der „Risikogesellschaft" selbst einer der einflussreichsten Architekten der Risikodebatte, hat einige Jahre nach Jonas' Entwurf formuliert, dass es unter der Rubrik „Risiko" stets (auch) um Fragen des guten Lebens, der politischen und moralischen Entwürfe von Gesellschaft und Individuen geht.42 Die zahlreichen Veröffentlichungen und öffentlichen Verfahren zur Technikfolgenabschätzung (technology assessment, TA) des Risikos herbizidtoleranter Nutzpflanzen zeigen dies sehr anschaulich. Einerseits ergab sich ein so genannter „technikinduzierter" Expertinnendiskurs, in dem oft auf hohem Niveau über die gentechnische Methodologie, die Auswertung und Interpretation experimenteller Daten sowie die Prognosen möglicher ökologischer Effekte gestritten wurde. Gutachten und Gegengutachten stritten um die Deutungshoheit der naturwissenschaftlichen Grundlage.43 Auch die ethische Beurteilung, wie Arbeiten zur Ethik in der Naturwissenschaft zwischen 1985 und 1995 zeigen, folgt dem Zweischritt erstens der Sachstandserhebung und zweitens der Bewertung, also der klassischen Annahme, erst die Fakten zu kennen und konsensuell anzuerkennen, um sie darauf hin zu bewerten. Doch es zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass schon im ersten Schritt erhebliche Differenzen auftreten. Die Frage lautet, von welcher Art eigentlich die Fakten selbst sind, bzw. sein sollten. Bei der Beurteilung der Risiken transgener Organismen hat sich eine Opposition von „Reduktionismus" versus „Kontextualismus" (oder, eher unzutreffend, „Holismus") entwickelt. Diese wird auf unterschiedliche Naturverständnisse, sozusagen Bacon (Perspektive der Genetik) versus Anti-Bacon (Perspektive der Ökologie), zurückgeführt.44 Je nach Naturphilosophie und Ideologie, die der naturwissenschaftlichen Perspektive zugrunde liegt, existieren unterschiedliche Risiken. Die Moral der Experten war nicht eindeutig, weil die Moral der wissenschaftlichen Expertise bereits eine andere war.45 Gleichwohl firmiert dieser Streit
41 Braun 2000 sowie Brenner 2000. 42 Beck 1986. 43 Zum Zwecke der Zuspitzung rede ich vereinfachend von zwei Lagern, pro und contra Freisetzung transgener Organismen. Zur Veranstalterperspektive siehe van den Daele/Pühler/Sukopp 1996. 44 Regal 1996. 45 Hohlfeld 2000.
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als Debatte um die „wissenschaftliche" Begründung „objektiv" bestehender Risiken und ihrer ethischen Akzeptabilität.46 In den Hintergrund des Risikos rückte dabei zugleich die Dimension der „Chancen", die vielleicht bedeutsamer ist als manches strittige Detail von Risiko-Prognosen. Es handelt sich um die Fragen, welchen Zweck die gentechnische Lösung erfüllen soll, ob dieses Ziel erwünscht oder unerwünscht ist, ob die gewählte Methode akzeptabel ist und - vielleicht am wichtigsten - welche Alternativen, welche anderen Wege zur Erreichung des Zwecks vielleicht möglich sind. Im Falle der herbizidresistenten Pflanzen erwies sich der TA-Diskurs aus vielen Gründen als schwierig. Einer davon lag darin, dass der Einsatz von Herbiziden im Rahmen einer industrialisierten Landwirtschaft von manchen Gruppen als grundsätzlich moralisch inakzeptabel, also als prinzipiell falscher Weg der Entwicklung der Landwirtschaft und ihrer Wissenschaften angesehen wurde. Weiter blieb fraglich, ob der wirtschaftspolitische Kontext von Firmen, die zugleich das Saatgut und die Herbizide kontrollieren, wünschbar sei. Eine dritte Problematik bestand darin, dass die Nulloption eines Forschungsverzichts aufgrund laufender Freisetzungen faktisch nicht mehr bestand, was zum Teil heftig kritisiert wurde. All dies wurde entweder ignoriert oder unter dem unpassenden Signum „Risiko" verhandelt. Abschließend sei noch einmal auf die Experten der Moral eingegangen: Im Gegensatz zu den wirkungsvollen Interventionen von Ethikerlnnen in der biomedizinischen Ethikdebatte hat die „grüne Gentechnik" vergleichsweise sehr viel weniger Aufmerksamkeit erhalten. Neben der Nähe der biomedizinischen Aspekte zu klassischen Topoi der Philosophie (Anthropologie, Personenbegriff, Lebens- und Todeskonzepte) liegt das auch darin begründet, dass die experimentellen Praktiken mit Pflanzen und - allerdings ungleich weniger klar - Tieren nicht in derselben Weise Fragen nach deren Legitimität aufwerfen wie Experimente mit Menschen. Doch es gibt neben tierethischen Aspekten, die ich hier beiseite lasse, ein Thema, das zu Jonas zurückführt: Philosophen, Theologen und Naturwissenschaftlerinnen haben sich in Titanenschlachten um die Frage des Selbstwerts von nicht-menschlichen Lebewesen oder Ökosystemen geworfen. Die Debatte ist nur im akademischen Bereich abgekühlt. Sie erhitzt sich in der Umweltpolitik stets aufs Neue, beispielsweise an der Frage, wie natürlich oder unnatürlich transgene Organismen sind und wie groß daher [sie] ihr ökologisches Risiko ist. Ethisierung bedeutet hier, dass naturphilosophische und naturwissenschaftliche, politische und moralphilosophische Aspekte hybride Konstellationen eingehen.47 Meiner Meinung nach ist dies das konstitutive und unauflösbare Charakteristikum der ethischen Debatte (nicht nur) um die „grüne Gentechnik".
46 Zur Moralphilosophie der Risikoforschung siehe den Beitrag von Gertrude Hirsch in diesem Band, 138-152. 47 Handreichungen zur praxisorientierten Ethik der Gentechnik zeigen dies sehr eindrücklich, beispielsweise Danish Ministry of Trade and Industry: An ethical foundation for genetic engineering choices, Copenhagen 1999, http://www.em.dk/ (Rubrik: English Publications; November 2001).
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Doch wer dient mit welchem Wissen als „Experte" für die Wissenschaftsethik? Es scheint aus entwicklungspsychologischer Perspektive offenbar so zu sein, dass Expertise in einem Spezialgebiet keine Möglichkeit fur eine ebenso weit reichende Kompetenz in einem anderen lässt.48 Praktizierende Naturwissenschaftlerinnen bleiben hinsichtlich der Philosophie und der Gesellschaftswissenschaften auf die Expertise der anderen Wissenschaftlerinnen angewiesen und vice versa. Dennoch hat die Erfahrung mit fächerübergreifenden Problemen innerhalb der Wissenschaften, in Diskursverfahren und auch in der öffentlichen Diskussion gezeigt, dass eine unmoderierte Zusammenstellung unterschiedlicher Expertisen und ihrer Protagonisten wenig hilfreich ist. Zumindest zur Vermittlung der unterschiedlichen Sprachspiele und vielleicht noch mehr zur Analyse fachinterner Betriebsblindheiten sind Personen und Institutionen mit interdisziplinärer Kompetenz gefragt. Für die Wissenschaftsethik wären dies Expertinnen mit gemischter naturwissenschaftlicher und philosophischer Ausbildung. Diese ersetzen die Expertinnen der Einzelfächer nicht, sondern ergänzen sie. Dasselbe gilt übrigens für die Perspektive der von den Biowissenschaften unmittelbar betroffenen und moralisch reflektierenden Nicht-Expertinnen. Eine keineswegs unproblematische Mischung von Expertisen und Kompetenzen bildet gleichwohl die Grundlage einer angemessenen wissenschaftsethischen Urteilsbildung.
6. Schlussfolgerungen: Welche Ethik braucht die Wissenschaft? Eine nicht ganz neue Erkenntnis lautet, dass Ethik zugleich unterschätzt und überschätzt wird. Sie wird unterschätzt, wo sie als bloße Sortieranstalt fur eigentlich doch nicht kompatible und vor allem nicht konsensuell zusammenfiihrbare Positionen gilt oder als unverbindliche feierabendliche Besinnungskunde fur Grundpositionen der Moralphilosophie abgetan wird. Überschätzt ist sie dagegen als objektives Instrument ethischer Wahrheitsfindung über Gut und Böse bestimmter Wissenschaftsformen und ihrer Techniken. Ob Ethik de facto in den Wissenschaften eher Sand oder Öl im Getriebe der „grünen Gentechnik" ist und weiter sein wird, sei hier weder generell noch im Einzelfall diskutiert. Die Frage wird allerdings bedeutsam im Streit über die Einschätzung der Ethik als Akzeptanzbeschafferin versus ihrer Funktion zur Stützung wissenschaftsskeptischer Fortschrittsfeinde. Belege fur beides lassen sich derzeit leicht in den Debatten um die Biowissenschaften finden. Mein Vorschlag zur angemessenen Aufgabe der Ethik zielt auf eine Re-Komplexierung der Debatte auf mehreren Ebenen. Inhaltlich sollte sich die Ethik tatsächlich dem politischen Kontext und der Naturphilosophie als unhintergehbaren Grundlagen der Beurteilung von Risiken und Chancen widmen. Die analytische Trennung der Aspekte ist ebenso wie die Zusammenfuhrung in einer ethischen Bewertung ausgesprochen anspruchsvoll. Formal
48 Siehe den Beitrag von Alexandra Freund in diesem Band, 71-75.
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bedeutet dies, dass Ethik in den Wissenschaften kein Spezialzirkel von Philosophinnen sein kann, sondern dass sie Teil eines Reflexionsprozesses sein muss, der möglichst viele Expertisen und gesellschaftliche Perspektiven umfasst. Hier wende ich mich ausdrücklich gegen ein Verständnis von Ethikkommissionen als reine Fachzirkel der Philosophie. 49 Unstrittig bedarf jeder angemessene Ethikdiskurs der philosophischen Expertise. Diese allein reicht jedoch keinesfalls hin, um den Aufgaben gerecht zu werden, die in Ethikkommissionen und darüber hinaus unter dem Signum der Ethik heutzutage verhandelt werden. Naturwissenschaftliche und interdisziplinäre Kompetenz bleibt unerlässlich zur Erarbeitung der oben erwähnten „gemischten Urteile" als Charakteristikum ethischer Probleme der Wissenschaften. Aufgrund der politischen Komponente wissenschafts- und technikethischer Entscheidungen sind weiter die Vertreterinnen gesellschaftlicher Gruppen ein konstitutiver Bestandteil für solche Gremien. 50 Für die Ethik in den Wissenschaften
ergibt sich aus dem Dargestellten die Forderung
nach intensiver Beschäftigung mit den politischen, naturphilosophischen, wissenschaftstheoretischen und moralphilosophischen Grundlagen und Konsequenzen der eigenen Praxis. Meine vier Schlussthesen lauten daher: 1. Die Wissenschaft kann gar nicht genug Ethik in dem Sinne bekommen, dass Ethik die stets vorhandenen moralischen Grundpositionen und Implikationen wissenschaftlichen Handelns erstens sichtbar und zweitens argumentierbar macht, oder zumindest machen sollte. 2. Vorsicht mit der Ethik ist bei einer persönlichen Moralisierung geboten, aber auch eine professionalisierte Ethisierung sollte ihre Grenzen dort beachten, wo es vordergründig um moralische Prinzipien, eigentlich aber um genuin politische oder wissenschaftstheoretische Fragen geht. Allerdings sind solche Aspekte in die ethische Reflexion unbedingt einzubeziehen. 3. Ethische Reflexion in den Wissenschaften benötigt kritische Kompetenzen von außen. Dabei darf dies nicht zur Delegierung ethischer Fragen an philosophische und genauso wenig an naturwissenschaftliche Experten führen, sondern zu einem Prozess selbstreflexiver Verständigung über die moralischen Aspekte wissenschaftlicher Praxis. 4. Ethische Reflexion behindert die absolute Konzentration auf das eigene Fach. Sie kostet Zeit und sollte keine Feierabendbeschäftigung bleiben. Damit aber könnte Ethik in den Wissenschaften karrierehemmend wirken, weil sie Ressourcen der normalen Arbeit im Labor fordert. Ein Verzicht auf diese „Ablenkung" erschiene mir aber selbst unmoralisch,
49 So etwa Thiele 2001, 6: „Der Nationale Ethikrat i s t . . . im Gegensatz zu anfanglichen Planungen, mit Vertretern gesellschaftlicher Gruppen durchsetzt". Solch eine ausgrenzende Reinheitsrhetorik ist weder hilfreich noch zielführend. 50 Unbenommen ist die Verschiedenheit der Aufgaben und institutionellen Formen von „Ethikkommissionen". Viele klinische Ethikkommissionen sind vor allem juristisch beratende, interne Organe. Dagegen liefern sowohl die Bundestags-Enquetekommission als auch der Nationale Ethikrat öffentliche Empfehlungen zur rechtlichen Regelung sowie zur politischen Steuerung biomedizinischer Fragen. Keine dieser Kommissionen gibt rein philosophische Fachgutachten ab.
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weil dies der oft zurecht kritisierten Betriebsblindheit Vorschub leistet. In diesem Sinne sollte Ethik kritisch und interdisziplinär Sand ins Getriebe der wissenschaftlichen Routine streuen - zum Besten der Wissenschaft in einer demokratischen Gesellschaft.
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Wer sind die Experten der Wissenschaftsmo-
„Moral der Experten und Experten der Moral". Dieser Titel des Beitrags von Thomas Potthast dient als Ausgangspunkt meiner Überlegungen zur Ethik in der Wissenschaft. Im Mittelpunkt dieser Überlegungen steht der Versuch, die zentralen Begriffe des Titels - „Moral" und „Experten" - genauer zu fassen, mögliche Probleme der Wissenschaftsethik zu diskutieren und an einigen Stellen eine psychologische Betrachtungsweise anzubieten. Im Folgenden geht es sowohl um die Ethik als auch um die Moral von Wissenschaft und Wissenschaftlern. In der philosophischen Literatur besteht der Unterschied zwischen Ethik und Moral vor allem darin, dass moralische Forderungen, Ansprüche und Normen universelle Gültigkeit beanspruchen, während sich ethische Normen auf kleinere Gruppen von Menschen beziehen können. Diese klare Trennung von Ethik und Moral gibt es in der Psychologie nicht. Hier wird unter Moral zum einen eine Werthaltung verstanden. In diesem Fall ist Moral als Ausdruck persönlicher oder sozial definierter Vorlieben und Abneigungen anzusehen. Zum anderen kann Moral einen allgemein-verbindlichen, handlungsleitenden Kanon von Normen fur die Wissenschaft (Berufsethos) und den individuellen Wissenschaftler bezeichnen. Zum einen beanspruchen diese Normen Allgemeingültigkeit (wie der philosophische Begriff der Moral), zum anderen beziehen sie sich aber auch auf eine spezifische Subgruppe von Menschen, nämlich die der Wissenschaftler (wie der philosophische Begriff der Ethik). Es lassen sich also zwei Betrachtungsebenen voneinander unterscheiden: Die erste Ebene ist die Betrachtung des Berufsethos einer wissenschaftlichen Disziplin und dessen Beziehung zum Berufsethos anderer Disziplinen. Fragen, mit denen sich diese Ebene von Wissenschaftsethos befasst, sind: Gibt es allgemeine ethische Prinzipien wissenschaftlichen Forschens und Handelns? Wo liegen Unterschiede zwischen den Disziplinen, und warum? Eine weitere Frage ergibt sich daraus, dass wissenschaftliches Handeln immer auch individuelles Handeln ist und damit auch eine persönliche ethische Verantwortung von Wissenschaftlern impliziert. Auf der psychologischen Ebene ist hier zu bedenken zu geben, dass moralische Haltung und tatsächliches Verhalten leider nicht so hoch übereinstimmen, dass von der reinen Präsenz von Moralvorstellungen auf deren Einhaltung geschlossen werden
* Kommentar zu dem Beitrag von Thomas Potthast: Moral der Experten und Experten der Moral. Zum Ethikdiskurs in der „grünen
Gentechnik'.
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kann.1 Das Berufsethos einer Disziplin mit deren Regulationsmechanismen ist hier sicher maßgeblich. Die zweite Ebene, die Wissenschaftsethik, bezieht sich auf die Betrachtung der Beziehung zwischen allgemeiner Moral und dem Problem, wissenschaftliches Wissen zu generieren und anzuwenden. Die zentrale Frage, die sich auf dieser Ebene stellt, ist die nach den praktischen Konsequenzen technisch-wissenschaftlichen Wissens. Aber auch hier gilt, dass sich der Wissenschaftler als Mensch allgemeinen moralischen Grundsätzen und Forderungen stellen und sich ihnen gegenüber verantworten muss. Der Beitrag von Thomas Potthast befasst sich mit beiden Ebenen der Wissenschaftsethik und -moral und zeigt, dass diese beiden Ebenen nicht klar voneinander trennbar sind, dass sie sich wechselseitig beeinflussen. Wenn man an Gentechnik denkt, auch an ihre „grüne" Variante, treten für viele sicherlich Fragen der Folgen von wissenschaftlichem Wissen und insbesondere der Anwendung dieses Wissens, also den praktischen Folgen, stärker in den Vordergrund. Genau weil die Frage nach den praktischen Folgen im Fall der Gentechnik von immenser zeitlicher und geographischer Tragweite ist, ist es so vordringlich, wie die Inhalte einer handlungsleitenden Wissenschaftsethik und einer allgemein-verbindlichen Moral bestimmt werden können. Eine Antwort darauf könnte in dem zweiten zentralen Begriff des Titels von Potthasts Beitrag liegen, nämlich dem Begriff der Experten. Was sind Experten? Expertise wird in der Psychologie als hoch elaboriertes, sehr reichhaltiges und gut strukturiertes faktisches und prozedurales Wissen definiert. Faktisches Wissen bezieht sich hierbei auf den Inhalt (die „Fakten") und prozedurales Wissen auf den Prozess der Anwendung des Wissens (das „Wie"). Die psychologische Expertiseforschung zeigt, dass man nur mit viel Übung und expliziter Beschäftigung mit einem Thema - und eben nicht einfach nur so nebenbei Expertise auf einem Gebiet entwickeln kann. Diese Expertise ist hoch domänen-spezifisch und der Transfer auf andere Gebiete so gut wie nicht vorhanden.2 Warum sollten daher Forscher, die sich mit einem Gebiet wie der Gentechnik auseinandersetzen, Expertise in moralischen Fragen, mit denen sie sich nicht auseinandersetzen, erlangen? Wer sind also die Experten für Wissenschaftsethik? Sind das die Wissenschaftler, die über ein hohes Faktenwissen in ihrer Disziplin verfugen, aber über Moral so viel wissen wie jeder andere? Ein erneuter Blick in die psychologische Forschung zeigt, dass das Wissen über Ethik und Moral oder auch das moralisch-ethische Verhalten nicht etwas ist, was sich im Erwachsenenalter gewissermaßen natürlicherweise weiterentwickelt. Im Kindesalter vollzieht die moralische Entwicklung rasche und tiefgreifende Veränderungen - von einer rigiden Anwendung von Regeln, die nicht hinterfragt werden, zu einer eher relativistischen Sichtweise, die den historischen und sozialen Kontext mit einbezieht. Im Erwachsenenalter
1 Manstead 2001. 2 Ericsson 1996.
Wer sind die Experten der Wissenschaftsmoral?
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ist jedoch keine systematische Entwicklung erkennbar. 3 Bloß weil renommierte Wissenschaftler häufig auch älter sind, ist dies also kein Garant für deren höhere moralische Entwicklung. Oder sind vielleicht Moralphilosophen die Experten für Wissenschaftsethik, obwohl sie nicht über das Wissen innerhalb einer Disziplin verfügen? Oder sind es die von der Wissenschaft und ihren Folgen betroffenen Personen, also die gesamte Gesellschaft? Eine der möglichen Antworten auf die Frage „Wer sind die Experten der Wissenschaftsethik?" wurde im Rahmen der Einrichtung des Expertengremiums des Nationalen Ethikrates gegeben. Ich zitiere: „Der Nationale Ethikrat soll den interdisziplinären Diskurs von Naturwissenschaften, Medizin, Theologie und Philosophie, Sozial- und Rechtswissenschaften bündeln. Er wird Stellung nehmen zu ethischen Fragen neuer Entwicklungen auf dem Gebiet der Lebenswissenschaften sowie zu deren Folgen für Individuum und Gesellschaft." Die Mitglieder des Ethikrates sind Natur- und Geisteswissenschaftler. Der „Mann auf der Straße" ist nicht vertreten. Allerdings soll der Ethikrat den Dialog mit diesem suchen. Hier ein Zitat der Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder in der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften zur Einsetzung des Nationalen Ethikrates im Juni 2001, das das Rationale hinter der Zusammensetzung des Ethikrates verdeutlicht: „Es ist deutlich geworden, dass wir, national wie international, einer Entwicklung gegenüber stehen, die in immer kürzeren Zyklen neue Erkenntnisse und Verfahren produziert. Ich bin nicht sicher, ob all diejenigen, die darüber reden, schreiben oder senden, immer auf der Höhe der Zeit sind, was diese Erkenntnisse angeht. Also: Der Rat ist auch das Gremium, das helfen soll, den Stand der Wissenschaft zu erkennen. Denn nur wenn das geschieht, kann man auch Folgerungen daraus ziehen."
Und weiter: „Ich betone: Nur eine Gesellschaft, die Bescheid weiß, kann offen und dann auch öffentlich über Optionen diskutieren. Nur sie ist in der Lage, Entscheidungen über eine Zukunftsfrage wie die Nutzung der Bio- und Gentechnik zu treffen und mitzutragen. Deshalb betone ich so sehr, dass die Information und die Verbreitung von Informationen über den Stand der Wissenschaft einer der wesentlichen Punkte sein wird, mit denen sich der Rat zu beschäftigen haben wird."
Hier wird also ein Modell vorgeschlagen, durch sozialen Konsens zu moralischen und ethischen Inhalten zu kommen. Um über Inhalte entscheiden zu können, müsste jedoch zuvor die Frage nach der Gewinnung oder der Begründung von Kriterien von Ethik - oder sogar Moral - geklärt werden. Ohne einen Abriss der Moralphilosophie zu versuchen, sollen hier - aus der Perspektive der moralphilosophischen Laien - einige Grundpositionen kurz dargelegt werden, ohne das Glatteis von Letztbegründungen zu betreten.
3 Colby u.a. 1983.
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Als eine Art minimaler moralischer Verpflichtung von Wissenschaft und Wissenschaftlern könnte man vielleicht die bezeichnen, nicht zu schaden. Das klingt zunächst sehr minimal und einfach, wirft bei näherem Hinsehen jedoch ein Problem auf: Da jedes Verhalten potentiell auch schaden kann, könnte man gar nichts mehr tun und würde damit alle potentiellen Nutzen ausschließen oder gar Schaden durch Unterlassung anrichten. Denn moralisch ist nicht nur das Handeln, sondern auch das Nicht-Handeln. Wenn man über die Schadensverhinderung hinaus auch den Nutzen in die Bestimmung von Kriterien von Wissenschaftsmoral einbeziehen will, kann man, in Anlehnung an den Utilitarismus, als Kriterium für moralisches Handeln in der Wissenschaft die Maximierung des Nutzens (Gewinns) bei gleichzeitiger Minimierung der Kosten (Risiken) heranziehen. Aber wie können Nutzen (Gewinn) und Kosten (Risiken) überhaupt bestimmt werden? Hier sind folgende Probleme zu bedenken: 1. Problem der (langfristigen) Abschätzbarkeit.
Hier ist die grüne Gentechnik ein sehr gutes
Beispiel, denn die besorgte Öffentlichkeit fragt sich, ob die langfristigen Folgen der Verwendung von Genmanipulation beim gegenwärtigen Wissensstand und prinzipiell überhaupt jemals abschätzbar sind. 2. Problem der Kommensurabilität.
Man könnte sich beispielsweise fragen - es handelt sich
zugegebenermaßen um eine sehr hypothetische Frage
ob der Verlust der Schönheit der
Natur auf derselben Skala gemessen werden könnte wie der Gewinn von Nahrungsmitteln. 3. Historische,
kulturelle und individuelle Abhängigkeit
der Bestimmung und Gewichtung
von Kosten und Nutzen (Relativität von Werten). 4. Kosten und Nutzen fiir wen? Will man wiederum den Utilitarismus heranziehen, so könnte man rein quantitativ argumentieren, dass es sich um den größtmöglichen Nutzen für möglichst viele Menschen und den geringstmöglichen Schaden für möglichst wenige Menschen handeln müsse. Verfechter einer deontologischen Moral würden hierauf jedoch mit Grauen reagieren, da unter Umständen bei diesem Kriterium der Tod von wenigen Menschen mit der Rettung vieler verrechnet würde.
In Anbetracht dieser Probleme wird immer wieder vorgeschlagen, die Kriterien für moralisches wissenschaftliches Handeln über sozialen Konsens zu bestimmen. Dieser Auffassung zufolge kann es keine Moral mit absolutem Geltungsanspruch geben, sondern ausschließlich eine Ethik im Sinne einer gesellschafitlich-konsensuellen Haltung darüber, was „gut und richtig" ist. Und da Wissenschaft in die Gesellschaft eingebettet ist, muss sie diese Haltung nicht nur in einer individuellen Entscheidung des Wissenschaftlers in Erfahrung bringen, sondern sich der gesellschaftlichen Debatte stellen. Wie aber kann sich eine solche gesellschaftliche Haltung bilden? Hieraus ergeben sich zwei Desiderate, die auch in der oben zitierten Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder anklangen, nämlich ein Informationsgebot (die Gesellschaft muss gut informiert werden) und ein Diskursgebot (dessen Regeln selbst wiederum viele Probleme aufwerfen würden, denn wie ein solcher Diskurs stattfinden soll, ist bisher unklar). Dieser Diskurs kann sich
Wer sind die Experten der
Wissenschaftsmoral?
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nicht nur auf die Folgen von Forschung beziehen, sondern müsste an folgenden Stellen ansetzen, die hier abschließend aufgeführt werden sollen: 1. Was wird erforscht? Welche Themen sollen durch aus Steuermitteln oder privaten Quellen stammenden Forschungsmitteln gefördert werden? Darf die Forschung in einer Weise reglementiert werden, dass nur bestimmte Forschungsfragen gestellt werden dürfen? Dies kann langfristig äußerst negative Folgen für die notwendige Vielfalt in der Forschung haben, die zu unvorhergesehenen Ergebnissen führt, die in keiner Weise vorhersagbar waren, als die Forschungsfrage formuliert wurde. 2. Wie wird geforscht (Methoden)? Sich dem deontologischen Prinzip Kants anschließend, muss die Handlung ebenfalls einer moralischen Prüfung unterzogen werden. Diese Diskussion ist insbesondere im Bereich der „roten Genforschung" auch in der Öffentlichkeit am Beispiel der embryonalen Stammzellenforschung entbrannt. Wie diese Diskussion zeigt, besteht keineswegs ein sozialer und politischer Konsens über die Angemessenheit von Forschungsmethoden. 3. Wie soll welche Auswahl an Ergebnissen interpretiert und publiziert und in der Öffentlichkeit dargestellt werden? Diese Fragen werden hier nur aufgeworfen, Antworten kann ich nicht anbieten. Zum Glück gibt es ja den Nationalen Ethikrat.
Literaturverzeichnis Colby, A./L. Kohlberg/J. Gibbs/M. Liebermann: A longitudinal study of moral judgment, in: Mon. Soc. of Research in Child Development 48 (1983), 1-96. Ericsson, Κ. Α.: The road to excellence: The acquisition of expert performance in the arts and sciences, sports, and games, Mahwah NJ 1996. Manstead, A. S. R.: Attitudes and Behavior, in N. J. Smelser/P. B. Baltes (Hrsg.): International encyclopedia of the social and behavioral sciences, Vol. 2, Oxford 2001, 909-913.
Claudia Stellmach
Wer Heilung verspricht, erhält (Völker-)Recht? Die Bioethikkonvention im Widerstreit von Ethiken und gesellschaftlichen Interessen Wenn eine Regierung eine langjährig international ausgehandelte Kohvention aufgrund heftiger öffentlicher Diskussion nicht unterzeichnet, nachdem eine regierungsseitig ernannte Verhandlungsdelegation an der Aushandlung aktiv beteiligt war und es bis zur öffentlichen Diskussion keinen Anlass zu der Vermutung gab, die Regierung unterstütze das Verhandlungsmandat nicht, dann war die öffentliche Diskussion relativ stark gegenüber Regierung und Verhandelnden. Ich spreche von der Europarats-Konvention über Menschenrechte und Biomedizin, der Bioethik-Konvention (BEK).
1. Sachverhalt: Der Konflikt um Artikel 17 Absatz 2 der Bioethik-Konvention Mindestens auf den ersten Blick handelt es sich um einen ethischen Streitfall; einen zweiten Blick werde ich hiermit auf ihn werfen. Wie bei vielen internationalen Regelungswerken hatte der Anstoß, ein Beschluss der Justizminister der Mitgliedsstaaten des Europarats von 1989, zunächst keine öffentliche Resonanz; erste Entwürfe wurden vertraulich entwickelt. Ein Resonanzboden entstand, nachdem 1994 vier Bundesbürgerinnen und -bürger den damaligen Entwurfsstand veröffentlichten, sich verschiedenste Initiativen gründeten und letztlich mehr als anderthalb Millionen Unterschriften gegen die Konvention sammelten, unter anderen die der damaligen Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth. 1999 trat die Konvention nach der erforderlichen Zeichnung und schließlichen Ratifizierung durch fünf Mitgliedsstaaten des Europarats in Kraft. Die Bundesrepublik Deutschland hat sie bis heute nicht gezeichnet. Die deutlichsten der Nicht-Zeichnung der Konvention zu Grunde liegenden Konflikte sind zum einen die Zulässigkeit von Embryonenforschung bis zum vierzehnten Tag und das Verbot nur des „gezielten" Eingriffs in die menschliche Keimbahn, die dem deutschen Embryonenschutzgesetz widersprechen, zum anderen die Eröffnung der Möglichkeit zu fremdnütziger Forschung an zustimmungsunfahigen Menschen, die bis dato als unzulässig erachtet worden war. Diesen zweiten Konflikt, enthalten in Art. 17 Abs. 2 der Konvention, und die Frage, wohin ethische Diskurse ihn steuerten, behandele ich im Folgenden. Dieser Artikel eröffnet die Möglichkeit, in bestimmten Fällen medizinische Experimente an Patientinnen und Patienten durchzufuhren, die solchen Versuchen nicht selbst zustimmen
Wer Heilung verspricht, erhält (Völker-)Recht?
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können, etwa Neugeborene oder Kinder in einem Alter, das noch keine eigene Einsichtsfähigkeit verbürgt, oder demenzkranke alte Menschen. Der Artikel bedeutet zweierlei: Erstens geht es um experimentelle medizinische Forschung an Menschen, die nicht der Behandlung (oder dem Behandlungsversuch) der Erkrankung genau dieser Menschen dient („nicht-therapeutische Forschung"). Qua Definition dient sie wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung, nützt insofern anderen und ist daher „fremdnützig". Zweitens soll gemäß diesem Konventions-Artikel ein solches Experiment an einem Menschen unter bestimmten Bedingungen nicht seiner eigenen, freiwilligen und informierten Zustimmung bedürfen, was bisher Konsens zu sein schien. Art. 17 Abs. 2 der BEK lässt dies zwar nur fur „Ausnahmefälle" zu; Bedingungen dafür sind, dass eine Erkrankung nur an selbst Erkrankten bzw. gleichen Altersgruppen bzw. Menschen „in demselben Zustand" beforscht werden könne; dass der Versuch nur ein so genanntes minimales Risiko und minimale Belastung haben dürfe; dass das „Ziel" vorliege, eine „wesentliche Erweiterung des wissenschaftlichen Verständnisses" der Erkrankung zu erreichen; dass die einwilligungsunfähige Versuchsperson „nicht ab[lehnt]", dass ihre rechtliche Vertretung ebenso zugestimmt habe wie allgemein die „zuständige Stelle". Dies mag auf den ersten Blick wie ein intensiver Schutz gegen missbräuchliche medizinische Experimente an Menschen, auch an einwilligungsunfähigen, wirken. Dieser Schutz der Versuchspersonen wurde freilich seit dem ersten bekanntgewordenen BEK-Entwurfsstand von einer sich rasch verbreiternden Bewegung von Kritikerinnen und Kritikern der BEK bezweifelt.
2. Der Pro- und der Contra-Diskurs, die Beteiligten, Diskursentwicklung und -merkmale Es entwickelte sich im Folgenden eine öffentliche Debatte für bzw. gegen die BEK insgesamt und speziell gegen den Art. 17 Abs. 2. Sie weist deutliche Pro- und Contra-Lager zur Zulässigkeit fremdnütziger Forschung an einwilligungsunfähigen Menschen auf. Der Pround der Contra-Diskurs lassen sich nach den jeweils Beteiligten, den Begründungen und Zielen, die sie für ihre Position angeben, und nach inhaltlichen Diskurs-Merkmalen unterscheiden.
2.1 Beteiligte Pro äußern sich vor allem Professionelle: Fachmediziner/-psychiater, Medizinrechtler, Vertreter der Exekutive, die Zentrale Ethik-Kommission der Bundesärztekammer (ZEKO), Parlamentarierinnen und Parlamentarier aller Fraktionen; anfangs auch Vertreter beider christlicher Kirchenleitungen. Auf der Contra-Seite fanden sich zunächst hauptsächlich Laien: bürgerrechtsbewegte Gruppen und Organisationen (wie das Komitee für Grundrechte und Demokratie), Selbsthilfegruppen und Selbstvertretungen von Menschen mit Behinderungen und „Basisorganisati-
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onen", zunehmend auch Professionelle: Parlamentarierinnen und Parlamentarier aller Fraktionen, Vertreterinnen und Vertreter beider Kirchen und von Trägern ihrer Sozialeinrichtungen. Die folgende Darstellung bezieht sich in erster Linie auf die jeweils ursprünglichen Diskursteilnehmerinnen und -teilnehmer.
2.2 Begründungen und Ziele Pro fremdnützige Forschung an Einwilligungsunfähigen wird geäußert „unabweisbarer Forschungsbedarf' 1 an erkrankten Zustimmungsunfähigen selbst, da es um die Linderung der Leiden der Kranken und der Belastung der Angehörigen ebenso gehe wie um die Verhinderung einer „Demenzepidemie"2 und eine - auch ökonomische - Entlastung der Gesellschaft.3 Der Kraft des logischen Zwangs dieses Arguments, bestimmte Krankheiten oder Zustände seien eben nur an Kranken selbst zu beforschen, scheint man schwer zu entkommen. Als Verfahren schlugen Exponenten des Diskurses zum einen schon früh Skalen zur Messung des Grades der Demenz bzw. der Einwilligungsfahigkeit, der Risiken der Forschung und des Forschungsnutzens vor4; diese seien jeweils gegeneinander abzuwägen. So entsteht eine Übergangszone zwischen der rechtlichen Unerlaubtheit des Experiments hin zur gewünschten graduell skalierten Erlaubtheit; gleichsam eine neue Normierung und Normalität. Zum anderen werden, wie auch in der BEK vorgesehen, Genehmigungsverfahren vorgeschlagen - durch Ethikkommissionen durchzufuhren. Die Zentrale Ethikkommission der Bundesärztekammer unterstützte dies später mit der ,,ethische[n] Überzeugung, einer Person geringfügige Risiken zumuten zu dürfen, wenn anderen damit eine große Hilfe erwiesen wird".5 Die Notwendigkeit dieser Forschung für künftige therapeutische Möglichkeiten gilt demnach als höherer Wert. Der Contra-Diskurs argumentiert nicht zu Einzelheiten oder Verfahren des Schutzes konkreter Versuchspersonen bei solchen Experimenten. Sein Hauptargument ist, unverfügbare Grundrechte dürften nicht zum Gegenstand des Aushandelns werden, sonst sei „ihre Unverfügbarkeit bereits verletzt".6 Auch beschädige fremdnützige Forschung an Einwilligungsunfähigen deren Menschenwürde, da sie diese gegenüber Einwilligungsfähigen herabstufe, und stelle so ihre unverfügbaren individuellen Menschenrechte in Frage. Konkretisierende Vorschläge zur Durchführung solcher Experimente seien daher Kosmetik. Der wissenschaftlich in sich stimmig erscheinenden starken Zwangslogik, bestimmte Erkrankungen könnten nur an Erkrankten selbst beforscht werden, stellt dieses Argument ein Meta1 Helmchen 1989,495. 2 Helmchen/Kanowski 1993, 569. 3 Helmchen/Lauter 1995,1 f. 4 Helmchen/Kanowski/Koch 1989, neuerdings Nachvollzug bei Vollmann 2000. 5 Bundesärztekammer 1997, B-811 f. 6 Braun 2000, 178.
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Argument entgegen. Zu Grunde liegt dem die zunächst eher intuitiv begründet scheinende Prämisse eines machtgestützten Vorrangs von Forschungsinteressen gegenüber unveräußerlichen und unantastbaren Individualrechten und deren negative Bewertung. Art. 17 Abs. 2 BEK wird allerdings auch aus mehreren wissenschaftlichen Disziplinen mit Blick auf einen Vorrang von Forschungsinteressen kritisch gewertet. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages beurteilte die BEK unter anderem wegen dieser Klausel als nicht vereinbar mit dem Grundgesetz.7 Psychiatrisch-fachlich wird zum einen das Bedrohungsszenario einer Demenzepidemie kritisiert: Aus demografischen Gründen steige zwar der absolute, nicht aber der relative Anteil erkrankter alter Menschen. Zum anderen sei das Krankheitskonzept, das der Forderung nach Forschung an Einwilligungsunfahigen zu Grunde liegt, mechanistisch, da es die Erkrankungen auf hirnphysiologische Prozesse reduziere und den sozialen Kontext der Erkrankung, der Kranken selbst und ihrer Versorgung vernachlässige. Die größte Beängstigung Demenzkranker und ihrer Angehörigen sei, isoliert und verlassen zu werden; der akuteste Bedarf bestehe daher in Versorgung und Pflege.8 Zum Problem der Genehmigung medizinischer Forschungsvorhaben durch Ethikkommissionen- dem seltenen Fall übrigens, dass eine Berufsgruppe überhaupt ihre eigenen ethischen, para-rechtlichen Maßstäbe entwickeln kann - liegen empirische Studien9 vor, die zeigen, dass die Verfahren, deren Beratungsergebnis die Antragstellerinnen und Antragsteller im Übrigen nicht bindet, eher prozedurale als ethisch-moralische Legitimationen erbringen. Die „parteiliche" „Geschäftsgrundlage" der Kommissionen sei das Motto .Forschung tut Not' (35)10. Die Zusammensetzung der Kommissionen sei dominiert durch Medizinvertreter, eine echte Laienvertretung sei nicht gewährleistet. Das Verfahren sei „intransparent"; Sanktionen bei Verletzung eventuell gesetzter Bedingungen seien nicht vorgesehen; Kontrolleure und zu Kontrollierende seien zudem institutionell verflochten, was Interessenidentität nahe lege (24 ff.). Schon vor der öffentlichen Debatte über fremdnützige Forschung an Einwilligungsunfähigen, also fern jeden Verdachts, durch sie beeinflusst zu sein, wird konstatiert, die Ethikkommissionen beklagten ,,mangelnde[n] Altruismus" potentieller Versuchspersonen (37) und gingen von einer Art Sozialpflicht der Teilnahme an Forschung als Versuchspersonen aus: „Unabweisbarer Forschungsbedarf' werde „schon mal als hinreichende Rechtfertigung angesehen, um bewusstlose Patienten ohne Einwilligung in Projekte miteinzubeziehen" (36). Die Vermutung einer pro-domo-Forschungslogik findet hier Unterstützung. Die politische Vermutung eines machtgestützten Forschungsvorrangs im Cowira-Diskurs erhält nicht zuletzt Nahrung dadurch, dass die Exponenten der seit mittlerweile mehr als zwanzig Jahren vertretenen Forderung nach Forschungsmöglichkeiten an (alters-)dementen
7 Wissenschaftlicher Dienst 1996 und 1997,4. 8 Leidinger 1998; Alzheimer Gesellschaft 1999; Deutscher Bundestag 1995; BAG Psychiatrie 1997. 9 Van den Daele/Müller-Salomon 1990; vgl. auch die Beiträge in Toellner 1990. 10 Vgl. van den Daele/Müller-Salomon 1990, 35, im Folgenden mit Seitenzahlen im Text.
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Menschen zwar nur wenige sind - einige Psychiater. Dafür sind es Psychiater mit einschlägiger Spezialisierung in pharmakologisch spezialisierter Geroniopsychiatrie. Sie sind hoch angesehen ebenso wie die weitere Handvoll Exponenten des aktiven Pro-Diskurses, die allgemeine Pharmakologie und Medizinrecht vertreten, ausgestattet mit wissenschaftlichinstitutionellen Leitungsfunktionen, teilweise mit Fachverbandsfunktion; bei einschlägigen Gelegenheiten fungierten sie als Berater für politische und Verbandsleitungsgremien und leisten seit Jahren gegenseitige Beiträge zu Publikationen der jeweils anderen, üblicherweise Zitierkartell genannt. Vermutlich nicht mehr als andere, aber immerhin nachweislich, publizierten sie auch in Veröffentlichungsreihen von Pharmaunternehmen. Im Windschatten des mittlerweile europäisches Recht gewordenen Art. 17 Abs. 2 haben sich ihrer Forderung weitere Wissenschaftler angeschlossen. Die politische Kritik eines machtgestützten Vorrangs von Forschungsinteressen gegenüber Individualrechten, die der Contra-Diskurs äußerte, lässt sich insofern verdichten, etwa mit einem der Habermas'sehen DiskursethikKriterien als Wirken sozialer Macht; oder mit den Foucault'sehen diskurstheoretischen Kriterien als Machtdispositiv.11
2.3 Merkmale des Diskurses Der Pro-Diskurs ist hinsichtlich Gegenstand und Beteiligten auf den ersten Blick fachwissenschaftlich, seine Rationalität eine wissenschaftliche, verfahrensbezogene; er stützt sich auf die Freiheit der Bearbeitung des wissenschaftlichen Gegenstands. Zugleich ist er sich früh der kontroversen Positionen bewusst. Diese charakterisiert er als „nicht sachkundig, wenn nicht demagogisch",12 als „Barrieren unberechtigter Widerstände", die „ausgeräumt werden müssen",13 als „unzureichende Kenntnisse, Fehlinformationen oder Missverständnisse".14 Auch dass er sich an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik bewegt, da es ihm um eine Veränderung der Rechtslage geht, sieht er und konzipiert hierfür Gesprächsschritte.15 Als ethischer Diskurs kennzeichnet er sich selbst seit den achtziger/neunziger Jahren. Der Confra-Diskurs argumentiert demgegenüber politisch, grundrechte- und demokratiebezogen. Er spricht von den Art. 1 und 2 (2) des Grundgesetzes, der unveräußerlichen Menschenwürde und dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gerade besonders Schutzbedürftiger, weil Zustimmungsunfähiger; von Menschenrechten, die zur Disposition gestellt würden durch eine zunächst „unter Ausblendung der öffentlichen Diskussion" ent-
11 Stellmach 2000,44-55 und 22 f. 12 Helmchen/Deutsch 1978, Einleitung, VI. 13 Helmchen/Kanowski/Koch 1989, 97. 14 Helmchen/Kanowski 1993, 577. 15 Heimchen/Deutsch 1978, 137; Helmchen 1991, B-399; Helmchen/Kanowski 1993, 575.
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wickelten Konvention, die 320 Millionen Bürgerinnen und Bürger betreffe, 16 von einer „Expertenethik" ohne Einbeziehung Betroffener. Sein Rationalitätskonzept ist weder rational im Sinn von Verfahrensrationalität noch wissenschaftlich im Sinn fachlicher Argumentation. So appelliert er durchaus an Gefühle wie das Mit-Leid mit bedrohten Schutzlosen; setzt auf Intuition - so auf die Vermutung, alleiniges Motiv sei wohl nicht allein das medizinische Ethos des Heilens - , und kritisiert Sprachgebräuche wie „Forschung mit Einwilligungsunfähigen" statt „an ihnen". Früh operiert er jedoch mit historischen Verweisen, so zur NS-Medizin 17 und zur Geschichte der Verwässerung der internationalen Medizinforschungs-Kodices. 18 Tatsächlich bedeutet die mit der BEK völkerrechtlich fixierte Möglichkeit, medizinische Experimente ohne Zustimmung der Versuchspersonen und gerade an Zustimmungsunföhigen durchzufuhren, einen Paradigmenwechsel im internationalen medizinischethischen Selbstverständnis und einen endgültigen Tabubruch. Er markiert den Niedergang eines halben Jahrhunderts Probandenschutz im medizinischen Experiment. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges hatte es weltweit keinerlei Regulierungen des medizinischen Versuchs am Menschen gegeben (mit Ausnahme zweier deutscher Regelungen aus dem Kaiserreich und der Weimarer Republik: der preußischen Verwaltungsverordnung von 1900, die nach anrüchig gewordenen medizinischen Experimenten an Menschen einschränkende Regelungen festgelegt hatte, und den Richtlinien des Reichsgesundheitsrates von 1931). Die Erfahrungen mit den Nazi-Menschenversuchen führten zur ersten internationalen Regelung: dem Nürnberger Kodex, entwickelt aus den „10 Punkten" von Nürnberg, einem Teil des Spruchs des Nürnberger Alliierten-Tribunals 1947 im NSÄrzte-Prozess. Punkt 1 des Nürnberger Kodex vom 20. August 1947 ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Die erste Zulässigkeitsbedingung für medizinische Experimente hieß: „Die freiwillige Zustimmung der Versuchsperson ist unbedingt erforderlich"19. Auch die Erklärungen des Weltärztebundes (WMA) von Helsinki (1964), die sich als Konkretisierung des Nürnberger Kodex verstand, und deren Revision in Tokio („HelsinkiTokio-Deklaration", 1975), ließen dieses Gebot - wenn auch mit einigen Aufweichungen -
16 Feyerabend u. a. 1994,41. 17 Arbeitskreis zur Erforschung der „Euthanasie"-Geschichte 1996, 56 ff. 18 Feyerabend u. a. 1994,42; Beiträge in Kolb/Seithe/IPPNW 1998, 305 ff. 19 Dem schließen sich folgende Präzisierungen an: „Das heißt, daß der Betreffende die gesetzmäßige Fähigkeit haben muß, seine Einwilligung zu geben; in der Lage sein muß, eine freie Entscheidung zu treffen, unbeeinflußt durch Gewalt, Betrug, List, Druck, Vortäuschung oder irgendeine andere Form der Beeinflussung oder des Zwanges; und genügend Kenntnis von und Einsicht in die Bestandteile des betreffenden Gebietes haben muß, um eine aufgeklärte Entscheidung treffen zu können. Diese letzte Bedingung macht es notwendig, daß der Versuchsperson vor der Annahme ihrer bejahenden Entscheidung das Wesen, die Länge und der Zweck des Versuches klargemacht werden; sowie die Methode und die Mittel, welche mit Fug zu erwarten sind, und die Folgen fur ihre Gesundheit oder ihre Person, welche sich aus der Teilnahme ergeben mögen".
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noch unangefochten. So muss sich gemäß der Helsinki-Deklaration beim nichttherapeutischen Versuch eine „rechtlich handlungsunfähige" Versuchsperson und „auch ihr gesetzlicher Vertreter. . . mit dem Versuch freiwillig einverstanden erklärt" haben und „muß sich in einem solchen geistigen, körperlichen und rechtlichen Zustand befinden, dass sie in der Lage ist, in vollem Umfang ihre freie Entscheidung zu treffen". 20 Die HelsinkiTokio-Deklaration spricht zwar schon von Versuchspersonen, die „nicht die volle Geschäftsfähigkeit" besitzen, enthält aber immerhin noch die Bestimmung, dass „die Sorge um die Belange der Versuchsperson immer Vorrang vor den Interessen der Wissenschaft und der Gesellschaft haben muß".21 Geschäftsunfähigkeit ist eine rechtliche Statusbestimmung und nicht identisch mit Zustimmungs(un)fahigkeit; von zustimmungsunfahigen Menschen wie in der BEK ist in keinem Dokument der internationalen Ärzteschaft die Rede. Noch deutlicher der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte, der die völkerrechtsverbindliche Schutzpflicht enthält, dass „niemand ohne seine freiwillige Zustimmung medizinischen. . . Experimenten unterworfen werden darf'. 22 Die Bundesrepublik ist seit einem Vierteljahrhundert Signatarstaat.
3. Schlussfolgerungen zum (ethischen) Diskurs So hätte eigentlich von Rechts wegen und nach Wortlaut und Geist der medizinischen Kodices Artikel 17 Abs. 2 der BEK gar nicht erst entstehen dürfen. Er entstand dennoch, begründet mit einem ethischen Diskurs und bestritten von einem anderen. Beide Diskurse sind ethische Diskurse, da sie von grundlegenden Werten ausgehen; sie benennen sie auch. Es sind freilich unterschiedliche, teils konträre bzw. konträr beurteilte Werte: Im Pro-Diskurs ist es die Forschung für künftige Kranke, für eine Entlastung ihrer Lage, der ihrer Angehörigen und nicht zuletzt der Gesellschaft - in dieser allgemeinen Formulierung unbestreitbar. Er nennt auch den Preis: eine prozedurale Graduierung von Risiken und Chancen fur die Versuchspersonen und des Experiments selbst. Nicht genannt wird die Qualität: Die Preisgabe der grundlegenden und bislang unveräußerlichen Setzung: des Rechtes, nicht ohne eigene Zustimmung zum Versuchsobjekt gemacht zu werden, die Preisgabe der Gleichachtung also mit anderen, nicht erkrankten Menschen. Gegen diese Preisgabe ein Kennzeichen utilitaristischer Bioethik, von Kathrin Braun „Diskurs als EthikManagement" benannt23 - stellt sich der Contra-Diskurs. Seine Prämisse ist zunächst die Unverhandelbarkeit des Individualrechts auf eigene Zustimmung zum Menschenversuch, eine übrigens selbst angelsächsisch geprägte Forderung. Er bestreitet damit fundamental wenn man so will: „fundamentalistisch" - schon die Legitimität des anderen Diskurses. 20 Bundesärztekammer/Kassenärztliche Bundesvereinigung 1964, 2534. 21 Bundesärztekammer/Kassenärztliche Bundesvereinigung 1975, 3163. 22 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dez.1966,1068. 23 Braun 2000, 181.
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Nehme ich den Hinweis ernst, dass sogar Versuche einer Festschreibung ethischer Grenzen des medizinischen Menschenversuchs wie eine Diskurs-Verflüssigung wirken und so zu seiner Rechtfertigung und Legitimierung beitragen können,24 dann fragt sich, ob (oder wie lange) die Behauptung der Unverhandelbarkeit von Grundrechten gerade in der mit sozialer Macht reichlich ausgestatteten Biomedizin ausreichen k a n n - wie richtig sie auch sein mag - , und ob sie nicht unfreiwillig zur „Normalisierung" der Verhandelbarkeit fremdnütziger Forschung an Zustimmungsunfähigen beiträgt. Währenddessen ist eine Entscheidung über die BEK nicht getroffen-jedenfalls keine über einen definitiven Nicht-Beitritt. Sie ist nur ausgesetzt. Ob dies so bleibt, und wie bzw. ob mithilfe der bisherigen ethischen Diskurse tatsächlich eine Steuerung der Entscheidung bewirkt werden könnte, ist unklar. Deshalb wäre eine Erweiterung der Auseinandersetzung anhand „härterer" Kriterien denkbar, die in ihr angelegt sind. Eines der mir relevant erscheinenden Kriterien sind die gesellschaftlichen Interessen, von denen die Pro- und Contra-Positionen geleitet sind. Ich betone: gesellschaftliche Interessen; selbstverständlich ist hier nicht der Interessebegriff von Peter Singer gemeint. Dieses Kriterium hat den Vorteil, nicht an die beiden Diskurse herangetragen werden zu müssen, sondern in ihnen enthalten zu sein, denn gesellschaftliche Interessen vertreten beide. Der Pro-Diskurs weist als sein gesellschaftliches Interesse aus, einer künftigen „Demenzepidemie" vermittels Forschung gegenzusteuern und Belastungen der Gesellschaft, künftiger Kranker und ihrer Angehörigen zu mildern, somit auch individuelle Interessen zu vertreten. Der Contra-Diskurs beansprucht, die Interessen der Bürgerinnen und Bürger an der öffentlichen Debatte und letztlichen Verhinderung drohender Verletzungen unveräußerlicher individueller Rechte zu vertreten. Insofern die Vertretung und Erhaltung individueller Grund-, Menschen- und Bürger-Rechte aber auch das gesellschaftliche Interesse aller sind und ihre Geiahrdung und Aufhebung auch eine demokratische und humanistische Gesellschaft gefährden, vertritt freilich auch er gesellschaftliche Interessen. Wird dieses Kriterium zusätzlich angelegt, dann unterscheiden sich die beiden Diskurse in drei weiteren Merkmalen. Erstens: Der eine Diskurs verspricht etwas für die Zukunft Therapiemöglichkeiten - , während der andere jetzt das tut, was er beansprucht: Er vertritt bedrohte individuelle Rechte. Zweitens: Der eine Diskurs nimmt die beteiligten Diskurssubjekte und ihre interessenbedingte Involvierung in das Versprechen aus dem Diskurs heraus; ihre auch partikularen, professionellen Interessen bleiben verborgen. Der andere Diskurs geht von den Diskursakteuren selbst aus und artikuliert ihre Interessen als selbst Betroffene, als Bürgerinnen und Bürger, als potenzielle Versuchsobjekte. Drittens: Der eine Diskurs artikuliert sich mächtig und als Macht, ohne aber diese Macht zu thematisieren; er inszeniert sich als politikfrei und politikfern, als einzig der Suche nach Heilungsmöglichkeiten hingegeben. Der andere thematisiert seine eigene geringe Macht gegenüber der Macht des anderen. Das Kriterium gesellschaftlicher Interessen lässt somit Hintergründe und Voraussetzun-
24 Maio 1996, 46.
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gen ethischer Diskurse sichtbar werden, die diese selbst in der Regel abweisen. Damit kann das „schwärmerische... Vertrauen ,in Ethik'" ebenso relativiert werden, wie damit dem ,,strukturelle[n] Konservativismus" zu begegnen wäre, von dem Kettner spricht: jenem ,,klammheimliche[n] Bündnis praktischer Ethik mit der Konservierung des gesellschaftlichen status quo", der Suche „nach der richtigen Handlungsweise nur unter denjenigen Handlungsweisen, die bei den gegebenen gesellschaftlichen Randbedingungen praktikabel" seien, „ohne diese Randbedingungen ihrerseits in die Fragestellung einzubeziehen", dem „[Akzeptieren der] Gesellschaft so, wie diese nun einmal ist" - oder gar des „Rückbaus" ihres Humanitätsgehalts.25 Das Eingeständnis relativer Ohnmacht scheint es im Übrigen gewesen zu sein, das den Contra-Diskurs trotz seiner geringen Macht so stark gemacht hat: das Anknüpfen an historisch begründete, gesellschaftlich alltägliche und immer wieder gemachte Erfahrung der geringen eigenen Macht, der Ohnmacht normaler Menschen, die Wahrnehmung vieler, sich durch eine Macht in ihren ureigensten Lebens- und Autonomieinteressen verletzt und bedroht zu sehen. Kleine, einfache Schritte auf dem den meisten bis dahin unbekannten Terrain der Biomedizin haben so ein zielgerichtetes und bis dato buchstäblich stilles Einverständnis zwischen Regierungsbeauftragung und -beauftragten zur Erarbeitung bis zur Ratifizierung einer Konvention still gestellt. Mit der Thematisierung asymmetrischer Machtverhältnisse wurde daraus auch ein klassischer gesellschaftlicher Interessenkonflikt. Entschieden ist er nicht. Wie er entschieden werden wird, wird nicht zuletzt davon abhängen, welche Elemente ihn tatsächlich steuern. Nach meiner These waren dies bisher nicht in erster Linie die medizinethisch kontroversen Implikationen im engen Sinn. Wären sie es gewesen, wäre die BEK vermutlich längst unterzeichnet, denn in diesen Zeiten gilt offenbar (und nicht nur hinsichtlich fremdnütziger Forschung an Einwilligungsunfahigen) Hufelands Wort Wer heilt, hat Recht, in der doppelt modifizierten neuen Fassung: „Wer Heilung verspricht, bekommt Recht" - Völkerrecht - und, nicht zu vergessen, Mittel. Gesteuert bzw. zunächst entwickelt haben ihn im Vorfeld Interessen an einer Veränderung der (bundes-)deutschen Rechtslage zur Forschung; mit der Veränderung der europäischen rechtlichen Rahmenbedingungen kam der offene Interessenkonflikt so heftig auf, dass die eigentlich im Fluss befindliche Entwicklungslogik unterbrochen wurde. Nach meiner These hat diesen Konflikt auch sein grundsätzlich kontroverser gesellschaftlicher Interessengehalt gesteuert. Zu hoffen ist, dass unterschiedliche gesellschaftliche Interessen in diesem und anderen ethischen Konflikten künftig deutlicher herausgearbeitet und ausgetragen werden. Weil dies an vorhandene, alltägliche Erfahrungen anschließt, könnte es dazu beitragen, dass sich mehr Menschen an der Austragung der Konflikte beteiligen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich zur BEK erst nach der Eröffnung der kontroversen Debatte aus der Gesellschaft heraus kritisch äußerten, haben hierzu eine Bringpflicht. Sie werden sie nur erfüllen können, wenn sie sich ihrer historischen, politi-
25 Kettner 1993, 20 ff.
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sehen und gesellschaftlichen Verantwortung bewusst sind und sich als Teil der Gesellschaft verstehen, nicht als ihr übergeordneter Souverän. Denn Interessen an einer Angleichung der deutschen an die europäische Rechtslage bestehen nach wie vor, und so sicher wie das Amen in der Kirche werden sie wieder lauter werden. Wie das geht, ist bekannt; sei es als mit-programmierte und dann erklärte Hilflosigkeit gegenüber globalem Dumping der rechtlich günstigsten Forschungsbedingungen, sei es mit dem Argument, die Anderen täten es halt auch, sei es im Wettbewerb um die preiswertesten Forschungsobjekte (embryonale Stammzellen für die australische Forschung etwa wurden in Singapur erstanden). Bei unseren niederländischen Nachbarn jedenfalls wird eine Demenzkrankheit mittlerweile als mögliche Begründung für aktive Sterbehilfe, das heißt für die Tötung der Kranken, diskutiert.26 Wie erleichternd wäre es demgegenüber, etwa aus der Jurisprudenz, der Mutterdisziplin ethischer Beiträge über fremdnützige Forschung an Einwilligungsunfähigen, vorausschauende Konzepte zu hören, die eine Entscheidung zur definitiven Nicht-Unterzeichnung der BEK positiv begründeten und umgekehrt den Schutz von Kranken in medizinischer Forschung so weit ausbauten, dass die Bundesrepublik ein weltbekannter Standort der Sicherheit für Versuchspersonen wird; wie erfrischend wäre es, wenn Gesundheitsökonomen uns vorrechneten, wie viel per Saldo eingespart würde, wenn ein paar der vorliegenden Versorgungsvorschläge realisiert, Demente weniger isoliert und in frühen Phasen ihrer Erkrankung etwa dazu motiviert würden, an der Aufklärung über einen sinnvollen Umgang zwischen erkrankten und nicht erkrankten Mitmenschen teilzunehmen. Wir hätten theoretischen und praktischen Diskussionsstoff, und vor allem humane Handlungsoptionen für Jahre.
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Axel W. Bauer
Wer Heilung verspricht, erhält (Völker-)Recht?*
Claudia Stellmach hat aus soziologischer Perspektive den ethischen Diskurs um die Zulässigkeit der so genannten fremdnützigen medizinischen Forschung an einwilligungsunfähigen Personen rekonstruiert, der in Deutschland vor allem durch die Bestimmungen von Artikel 17 Absatz 2 des Übereinkommens zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin (Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin) des Europarates vom 4. April 1997 ausgelöst worden ist. Die Referentin beschreibt diesen Diskurs als einen ethischen, der jedoch auf zwei gänzlich verschiedenen, nämlich konträren Ebenen geführt werde. Im Grunde lägen also zwei einander ausschließende ethische Diskurse vor. Als Kennzeichen fur den ethischen Diskurs nennt die Referentin das Kriterium der jeweils an fest vorgegebenen Werten orientierten Positionierung der Akteure. Diese Kriterien würden in dem vorliegenden Diskurs-Paar auch benannt: Während die Anhänger des ProDiskurses vom Wert der Forschung für künftige Kranke, für ihre Angehörigen und nicht zuletzt für die Gesellschaft ausgingen und sie deshalb eine prozedurale Graduierung von Chancen und Risiken für die Versuchspersonen in Kauf nähmen, bestehe die axiomatische Prämisse des Contra-Diskurses in der Unverhandelbarkeit des Individualrechts auf höchstpersönliche Zustimmung zu einem von den Forschern vorgeschlagenen Menschenversuch. Damit werde die Legitimität des Pro-Diskurses von den Vertretern der Contra-Position grundsätzlich in Frage gestellt. Claudia Stellmach zweifelt daran, dass allein mithilfe dieser bisherigen, inhaltlich aneinander vorbei laufenden ethischen Diskurse tatsächlich eine zielführende Steuerung d e r bislang ausstehenden - politischen Entscheidung über den möglichen Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zum Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin des Europarates bewirkt werden kann. Sie schlägt deshalb eine Erweiterung der Auseinandersetzung anhand „härterer" Kriterien vor, die implizit in den konträren ethischen Diskursen bereits enthalten seien, nämlich die Formulierung und Explizierung der jeweiligen gesellschaftlichen Interessen. Der Pro-Diskurs weise als sein gesellschaftliches Interesse aus, künftigen Krankheitsrisiken durch biologische Forschung entgegen zu steuern und Belastungen der Gesellschaft, * Kommentar zu dem gleichnamigen Beitrag von Claudia Stellmach.
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künftiger Kranker und ihrer Angehörigen zu mildern. Somit vertrete er auch individuelle Interessen. Der Contra-Diskurs beanspruche, die Interessen der Bürger an der öffentlichen Debatte sowie die Verhinderung von Verletzungen unveräußerlicher Individualrechte zu repräsentieren. Da die Vertretung und Erhaltung individueller Grund-, Menschen- und Bürgerrechte jedoch ebenso im gesellschaftlichen Interesse lägen und ihre Aufhebung die demokratische und humane Gesellschaft gefährde, beinhalte aber auch der Contra-Diskurs zugleich gesellschaftliche Interessen. Durch die externe Fokussierung der beiden Ethik-Diskurse unter der soziologischen Perspektive der gesellschaftlichen Interessen als eines Tertium comparationis gelingt es der Referentin, drei weitere Merkmale aufzuzeigen, in denen sich die Diskurse diametral unterscheiden: 1. Der Pro-Diskurs bezieht seine Legitimation durch den Verweis auf mögliche, aber ungewisse zukünftige Errungenschaften, während der Contra-Diskurs aktuell bedrohte Individualrechte verteidigt. 2.
Der Pro-Diskurs verschweigt die konkreten, in der Regel berufsbedingten Interessen seiner Protagonisten und spiegelt so eine philosophisch-ethische Neutralität vor, die in Wahrheit nicht gegeben ist, wohingegen der Contra-Diskurs die wirklichen Interessen seiner Akteure als selbst Betroffene, als Bürger oder als potenzielle Versuchsobjekte explizit artikuliert.
3.
Der Pro-Diskurs speist sich aus einer ökonomischen und politischen Machtposition, die jedoch ethisch nicht thematisiert wird, während der Contra-Diskurs seine zumindest vorgebliche Machtlosigkeit offen ins Spiel bringt, woraus gerade seine sekundäre Stärke resultiert.
Der soziologische Ansatz des Beitrags ermöglicht es Claudia Stellmach, strukturelle Voraussetzungen ethischer Diskurse sichtbar zu machen, die von philosophischer Seite durchweg geleugnet oder als kontingente Phänomene diskreditiert werden. Stellmach untergräbt auf diese Weise subversiv, aber elegant das mitunter naive Vertrauen in die geballte Lösungskompetenz der Bioethik bei der Suche nach der einzig „richtigen" Handlungsweise. Diese Warnung ist nur zu berechtigt, denn am Beginn des 21. Jahrhunderts hat die Ethik in den Wissenschaften Konjunktur. Ethik-Zentren, Ethik-Lehrstühle und Institute fur Technikfolgenabschätzung werden nach und nach an den Universitäten und Fachhochschulen etabliert. Ganz besonders boomt die Medizin- und Bioethik. Seit den späten 1990er Jahren vergeht kaum eine Woche, ohne dass im Deutschen Ärzteblatt, im Jahr 2001 kein Tag, ohne dass in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung das Stichwort Ethik im Titel mindestens eines Beitrags fallt. Wissenschaftsseiten und Feuilletons der Tages- und Wochenzeitungen quellen im Wettstreit mit den Talkshows des Fernsehens geradezu über von Beiträgen zum Themenbereich Biomedizinische Forschung und Ethik. Ist dies alles nun ein gutes Zeichen für den moralischen Zustand unseres Landes und unserer westlichen Zivilisation einschließlich ihrer wissenschaftlichen Reflexionskultur? Oder müssen wir uns womöglich im Gegenteil darüber Sorgen machen, dass eine in Wahrheit völlig amoralische Gesellschaft die Ethik als
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kompensatorisches Surrogat zur Beruhigung ihres zunehmend schlechten Gewissens instrumentalisiert? Schon ein flüchtiger Blick auf die bioethischen und biopolitischen Problemlagen der Gegenwart zeigt, dass im Rahmen ethischer Diskurse regelmäßig eine Fülle begrifflicher, methodischer und inhaltlicher Unklarheiten auftaucht. Dies beginnt schon bei den elementarsten Voraussetzungen: Nicht selten wird von Ethik gesprochen, wenn man in Wirklichkeit Moral meint. Unmoralische Verhaltensweisen werden oft fälschlich als unethisch kritisiert. Es entsteht der Eindruck, als sei Ethik lediglich die wissenschaftliche Bezeichnung für Moral und der Bioethiker demnach ein säkularer akademischer Moralprediger, zuständig für die eindeutige Beantwortung normativer Fragen in der Biopolitik. Um so größer sind dann die Enttäuschung bzw. das Entsetzen des Publikums über die mageren bzw. die nicht selten sogar erschreckenden Resultate dessen, was die Ethiker dann an konkreten Lösungsmöglichkeiten für moralische Probleme anzubieten haben. Woher kommen unsere moralischen Werte und Normen1 tatsächlich? Waren sie schon immer da, sind sie unveränderlich, und wie kann man sie sicher erkennen? Wer so fragt, der bewegt sich auf dem Gebiet der Metaethik. Nach der Theorie des sogenannten Institutionalismus, wie ihn der amerikanische Philosoph John R. Searle (geb. 1932) durch den Begriff der institutionellen Tatsache („institutional fact") eingeführt und der Schweizer Philosoph Rafael Ferber (geb. 1950) auf den Bereich der Ethik ausgedehnt hat2, sind moralische Tatsachen keine objektiven physischen oder metaphysischen Realitäten. Sie sind aber auch nicht bloß subjektive psychische Phänomene, die Andere allenfalls zur Nachempfindung oder zur Verhaltensimitation anregen können. Moralische Tatsachen müssen vielmehr als von Menschen historisch geschaffene soziale Institutionen angesehen werden, die innerhalb einer Kultur- und Sprachgemeinschaft nach bestimmten Regeln intersubjektiv konstituiert, stabilisiert, tradiert und modifiziert werden. Diese Regeln folgen der Struktur „A gilt als Β im Kontext der Gemeinschaft C". Daraus folgt, dass die Regeln, nach denen sich moralische Werte entwickeln, stets zugleich auch semantische Regeln sind: Dem Wort Α wird durch sie die Bedeutung Β im Kontext der Sprachgemeinschaft C zugeordnet. Da die zur Kommunikation benutzten Wörter einer Sprache Symbole sind, lässt sich deren Assoziation mit konkreten Bedeutungen als eine relativ flexible und im Laufe der Zeit graduell veränderliche Beziehung charakterisieren. Institutionelle Tatsachen sind auf eine bestimmte Art und Weise interpretierte natürliche Tatsachen („brute facts"), in ihnen gehen Lebens- und Sprachwelt eine bestimmte normative Verbindung ein, die freilich weder starr noch unauflöslich ist. Moralische Werte werden demnach soziokulturell als institutionelle Tatsachen entwickelt. Sie sind nicht von Natur aus objektiv vorgegeben, sondern werden von Menschen zu bestimmten Zeiten für bestimmte Zwecke geschaffen und von Menschen in konkreten Situationen interpretiert. Ihr ontologischer Status ist weder objektiv noch subjektiv, sondern in-
1 Die folgenden Überlegungen stützen sich im Wesentlichen auf Bauer 1998, 1-18. 2 Searle 1994a sowie Ferber 1988, 1993,1994 und 1999.
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tersubjektiv. Da solche intersubjektiven Werte labil sind, bedürfen sie zu ihrer Gültigkeit eines gesellschaftlichen Konsenses. Der aber entsteht erst im Laufe eines historischen Prozesses, und das heißt heute im Rahmen eines öffentlichen Diskurses. 3 Jeder einzelne Bürger hat also einen gewissen Einfluss auf die Gestaltung künftiger Werte und Normen 4 . Nicht nur aus sprachphilosophischen Gründen wird die Rolle der Ethik als einer auf lediglich rationalem Wege sichere Normen setzenden Entscheidungsinstanz in moralischen Konfliktsituationen durchaus prekär. Der Essener Kommunikationstheoretiker Norbert Bolz hat das legitimatorische Problem der Ethik pointiert und für viele Ethiker sicher schmerzhaft formuliert: Werte funktionierten als Stoppregeln der Reflexion; Moral fixiere, was nicht negiert werden dürfe; Werte seien demnach denkfeindlich. 5 Wenn diese Aussage mehr als nur ein Körnchen Wahrheit enthält, dann müsste daraus gefolgert werden, dass Ethik und Moral in Wahrheit gar nicht besonders gut miteinander verträglich sind: Während die Moral Werte und Normen zu fixieren und sie gegen Veränderung zu schützen suchte, entspräche es kontrastierend dazu den Aufgaben der Ethik, vorgefundene moralische Sicherheiten durch
3 In begrifflicher Anlehnung an die (dort allerdings primär deskriptive) Systematik des Ägyptologen Jan Assmann führt der Pathologe Uwe Bleyl bestimmte ethische Fundamentalnormen wie die Würde des Menschen nicht auf das im individuellen oder kollektiven Erfahrungs- und Erlebnishorizont einer Gemeinschaft verankerte kommunikative Gedächtnis, sondern auf das wesentlich stabilere kulturelle Gedächtnis zurück. Solche Normen würden aus oft lange zurückliegenden, fiktiven oder tatsächlichen geschichtlichen Ereignissen des kollektiven Gedächtnisses durch Deutung, Sinnerfüllung, Sinnstiftung, Semiotisierung sublimiert und zu kommemorativer, zu „erinnerter" Vergangenheit transformiert. Träger des kulturellen Gedächtnisses seien nicht alle Mitglieder einer sozialen bzw. politischen Gemeinschaft, sondern vielmehr wissenssoziologische Eliten (Assmann 1999, 48-56 und Bleyl 1999, 296-297). Eine uniforme Reaktion der wie auch immer zu definierenden wissenssoziologischen Eliten kann jedoch heute in einer wertepluralen Gesellschaft nicht mehr erwartet werden. Auch eine Norm aus kulturellem Gedächtnis bedarf also der aktualisierenden Auslegung am Einzelfall. 4 Nach Auffassung der Soziologen Jörg Bergmann und Thomas Luckmann ist Moral im Wesentlichen gelebte Moral, die in den Handlungen und Entscheidungen der Menschen, eben in ihren kommunikativen Akten existiere. Natürlich seien Menschen in der Lage, sich reflexiv den moralischen Aspekten ihrer Handlungen und Entscheidungen zuzuwenden, doch auch dies geschehe immer unter zeitlichen, örtlichen und sozialen Realisierungsbedingungen. Deshalb erscheine die Vorstellung von Moral als einem unabhängigen, hierarchisch aufgebauten System ethischer Maximen und Gesetze unter dem Gesichtspunkt der kommunikativen Realisierung von Moral als eine unhaltbare, weil dekontextualisierende Verkürzung. Individuen, die als sozial Handelnde moralische Urteile fällten, seien keine neutralen, distanzierten Beobachter, die ständig die Argumentationslogik und Kohärenz ihrer Entscheidungen und Stellungnahmen im Auge hätten. Es seien Individuen, die in die zu bewertende Angelegenheit emotional verstrickt seien und ihre moralischen Stellungnahmen kommunikativ realisierten, das heißt situativ modifizierten und auf die von ihren Handlungspartnern angezeigten Bewertungen abstimmen könnten; vgl. Bergmann/Luckmann 1999, 18. 5 Bolz 2000, 454.
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rationalen Diskurs zu erschüttern bzw. sie schließlich als nicht begründet zu verwerfen. Könnte es also am Ende sein, dass die Ethik die natürliche Gegnerin jeder gültigen Moral wäre? Die meisten Ethiker aus dem Bereich der Philosophie werden an dieser Stelle zweifellos Widerspruch einlegen, indem sie etwa Folgendes vorbringen: Es sei ja gerade das Bemühen der Ethik, an die Stelle emotional-unreflektierter, vorrational-intuitiver oder religiösdogmatischer Moralvorstellungen solche universalisierbaren Werte und Nonnen zu setzen, deren kategorische Geltung unabhängig von Zeit und Ort durch eine ausschließlich rationale, vernünftige und von jedermann nachvollziehbare Argumentation für alle Diskurspartner am Ende einsehbar nachgewiesen werden könne. Diesen Philosophen zu Folge soll - oft nur implizit aus ihrem Vorgehen erschließbar und nicht immer von ihnen explizit erläutert Ethik tatsächlich mehr leisten als nur die möglichst nüchterne Analyse von konkretem menschlichem Moralverhalten und von real existierenden Moralsystemen. Sie soll vielmehr positive Normen finden, deren Gültigkeit von niemandem mehr bezweifelt werden kann, das heißt sie soll ein eigenes Moralsystem konstruieren, und zwar lediglich mit den Mitteln der rationalen Argumentation. Dieser nicht eben bescheidene Anspruch erklärt zumindest partiell jene relativ geringe Wertschätzung, die philosophisch argumentierende Ethiker gegenüber Moraltheologen, Juristen, Soziologen, Psychologen oder Soziobiologen artikulieren, wenn es um die Begründung einer konkreten normativen Ethik geht: Viele Philosophen hegen den Verdacht, dass die Vertreter der genannten anderen Disziplinen nicht in der Lage seien, ein wirklich rationales Moralsystem zu etablieren, sondern dass diese stattdessen jeweils nicht universalisierbare Dogmen unterschiedlichster Provenienz zur unerschütterbaren, aber eben deshalb fehlerhaften Basis ihres Denkens machten. In Wahrheit ist - wegen des von Hans Albert schon 1968 beschriebenen MünchhausenTrilemmas6 - auch die Philosophie nicht in der Lage, ohne die axiomatische Setzung bestimmter Prämissen zu inhaltlich bedeutsamen Aussagen über moralische Sachverhalte zu gelangen. Denn wie John R. Searle herausgearbeitet hat, sind Logik und Rationalität rein formal. Logik sagt einem nicht per se, was man glauben soll. Sie sagt einem nur, was der Fall sein muss, vorausgesetzt die Annahmen sind wahr, und folglich was man zu glauben festgelegt ist, vorausgesetzt, dass man diese Annahmen glaubt. Logik und Rationalität liefern Standards für Beweis, Folgerichtigkeit und Vernünftigkeit, aber die Standards operieren nur auf der Grundlage einer vorgegebenen Reihe von Axiomen, Annahmen, Zielen und Zwecken. Rationalität als solche stellt keine inhaltlichen Behauptungen auf.7 Gerade im Rahmen des gegenwärtigen Bioethik-Booms wird von Ethik-Experten indessen mehr erwartet als „Begriffsklärungen", und nicht ungern geben die umworbenen und sich geschmeichelt fühlenden Experten diesen Erwartungen aus Politik und Öffentlichkeit
6 Vgl. Albert 1991, 15. 7 Vgl. Searle 1994b.
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nach: Sie konstruieren eine in Wirklichkeit zwar selbstverständlich axiomengebundene Moral, erklären diese sodann aber fur rein rational und wissenschaftlich abgesichert. Eine solche Vorgehensweise ist unredlich; sie verbirgt sich übrigens nicht zuletzt hinter so harmlos klingenden Ausdrücken wie „Klärung der Begriffe". Da es sich bei Begriffen als semiotischen Signifikaten stets um institutionelle, nicht jedoch um natürliche Tatsachen handelt, werden Begriffe nicht im objektiven Reich der Ideen gefunden, sondern sie werden vielmehr im gesellschaftlichen Diskurs erfunden. In jeder „Klärung" eines Begriffs steckt deshalb stets auch eine intellektuelle Konstruktion, die von demjenigen geleistet wird, der den Begriff gerade „klärt". Der professionellen Medizinethik fehlt es in Deutschland an der nötigen Unabhängigkeit und an der institutionellen Distanz zu denjenigen Bereichen der forschenden bzw. klinischen Medizin, die von ihr analysiert und gegebenenfalls kritisiert werden sollten. In diesem Dilemma taktieren die Medizinethiker und flüchten sich nicht selten in philosophische Gefilde, von denen nicht ohne Weiteres klar ist, ob es sich um geistige Tiefen oder Untiefen handelt. Wenn jedoch Ethik als ein beschwichtigender Tranquilizer, bestehend aus indifferenten, realitätsfernen Theorien oder aus mahnenden, aber substanziell folgenlosen Reden, eingesetzt wird, dann bildet sie nicht mehr einen Teil der Lösung, sondern einen Teil des Problems. Je häufiger, lauter und drängender nach mehr Ethik in der Medizin gerufen wird, desto unwahrscheinlicher ist es, dass die Situation, die man vorgeblich beklagt, wirklich durchgreifend verändert werden soll. Eine fiinktionalisierte Ethik wäre aber eine ernsthafte Bedrohung jeder glaubwürdigen Moral. Die im Prinzip zu fordernde Unabhängigkeit des Ethikers ist jedoch im wirklichen Leben generell nur äußerst schwer zu realisieren, denn jeder von uns steht unter dem Einfluss zahlreicher konkreter Eigeninteressen. Sie ist im Einzelfall auch kaum je positiv nachzuweisen, denn wir kennen niemals sämtliche Interessen unserer Mitmenschen, ja noch nicht einmal unsere eigenen Präferenzen bis ins letzte Detail. Es scheint, dass wir vor allem unsere gesunde Skepsis nicht verlieren dürfen, auch und gerade dann nicht, wenn neuerdings allzu schnell und allzu oft das Stichwort Medizin- oder Bioethik fällt. Probleme werden nicht schon dadurch leichter lösbar, dass man sie zu ethischen Problemen erklärt. Mitunter werden sie gerade dadurch erst perpetuiert. Zweifellos benötigt der Diskurs über Methoden, Ziele und Nutzen der modernen Medizin eine ethische Reflexion, doch gilt diese Forderung nach kontinuierlicher Überprüfung für die Medizin- und Bioethik selbst nicht minder. Hierbei kann die soziologische Perspektive, wie sie von Claudia Stellmach am konkreten Beispiel eingebracht wurde, sehr hilfreich sein.
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(Völker-)Recht?
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Konvergenz und Divergenz wissenschaftsethischer Standards
Hans Jochen Diesfeld
„Nord-Süd-Konflikt" in Bezug auf Ethik und Forschung
1. Einleitung Der erste Teil des Symposiums befasste sich mit dem aktuellen Problem der ethischen Bewertung lebenswissenschaftlicher Forschung und.ihrer Relevanz fur andere Wissenschaftsbereiche.1 Mir ist die Aufgabe zugefallen, zu untersuchen, wie sich diese Problematik auf die ethischen Grundsätze einer immer wichtiger werdenden „Nord-Süd"-Forschungskooperation auswirkt. Bevor ich den „Nord-Süd-Konflikt" als einen eigenen geo-politischen Gliederungspunkt der übergeordneten Frage des Symposiums akzeptiere, muss ich folgende Frage stellen: Hat Ethik nicht, ähnlich der UN-Deklaration zu den allgemeinen Menschenrechten von 1945, universelle oder, wie wir heute zu sagen pflegen, globale Gültigkeit? Wenn ja, warum dann diese geo-politische Differenzierung? Einige Autoren argumentieren, dass transkulturell angelegte Forschung auch einer transkulturellen Forschungsethik bedarf.2 Ich habe festgestellt, nicht nur bei der das Symposium vorbereitenden Lektüre, sondern auch während meiner eigenen Forschungserfahrung der letzten 35 Jahre (vornehmlich im „Süden" und im Diskurs mit „Südländern"), dass diese Differenzierung keineswegs selbstverständlich ist und zunehmend hinterfragt wird. Ich stelle also der Frage nach der „transkulturellen" Gültigkeit einer universellen, in unserem Falle medizinischen Forschungsethik die Forderung nach einer „lokalen", kulturspezifischen Ethik gegenüber.3 Auf der Suche nach Belegen hierzu stelle ich fest, dass es in allen Schrift-Kulturen analog zum „Hippokratischen Eid" eine, allerdings sehr viel ältere, ärztliche Berufs- oder Standesethik gibt. Das „nil nocere" als eine Art „Kant'scher Imperativ" des Arztes in Bezug auf seine Patienten findet seine Analogie in den traditionellen Schriften der chinesischen wie der indischen Medizin.4 Diese Codices stellen im Falle ihrer Befolgung auch eine Art berufsständische „Haftpflichtversicherung" und „Qualitätskontrolle" dar. Sie dienen somit mittelbar auch dem
1 Vgl. die Seiten 13-95 in diesem Band. 2 Levine 1991 und Stein 2001. 3 Vgl. Diesfeld 1987, Diesfeld 1998, Geertz 1973 sowie Tangwa 2001. 4 Christakis 1992.
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Schutz des Patienten und sie dürften sich in ihrer jeweiligen lokalen Ausprägung kulturgeografisch wie auch diachron bis in unsere Tage der Globalisierung überall finden. Diese Information hilft uns allerdings nicht, das hier anstehende Problem transkulturell zu beschreiben - und zwar aus zweierlei Gründen: 1. Das Konzept wissenschaftlich-experimenteller, am Wissenszuwachs orientierter Forschung einer zukunftsorientierten Medizin ist ausschließlich dem klassischen abendländischen Kulturkreis und seinem konzeptionellen und globalen Ausufern in die „Moderne" zu eigen. 2.
Das zweite Handicap ergibt sich im Unterschied zu diesen traditionellen ärztlichen Ethiken aus der Interdisziplinarität der modernen Biomedizin. Die Forschungsverantwortung der heutigen „Lebenswissenschaften" gegenüber Menschen reicht weit in andere, nicht ärztliche Wissenschaftsbereiche wie Physik, Chemie, Biologie oder Sozialwissenschaften hinein, die nicht a priori einem „ärztlichen Ethos" verpflichtet sind. Hierauf gründet der heute oft noch hochgehaltene Primat der Ärzteschaft gegenüber anderen Wissenschaftlern.
Erwin Chargaff ist der Auffassung, dass Bio-Ethik ohnehin erst aufkam, als Ethik verletzt wurde. Bio-Ethik sei ein Ausweg, all das zuzulassen, was ethisch nicht erlaubt ist.5 Zur Überbrückung dieser Kluft zwischen ärztlicher Handlungsethik und biomedizinischer Forschungsethik bietet der Weltärztebund seit 1964, zuletzt revidiert im Oktober 2000, mit der Deklaration von Helsinki einen ärztlichen und medizinisch-wissenschaftlichen Verhaltenskodex an.6 Diese Bemühung um eine Globalisierung ärztlicher und medizinisch-wissenschaftlicher Ethik hat allerdings nur standespolitischen Empfehlungscharakter. Die Helsinki Deklaration 2000 besitzt keine internationale oder nationale Gesetzeskraft. Da sie sich primär an Ärztinnen und Ärzte wendet, schließt sie nicht automatisch biomedizinisch oder gesundheitswissenschaftlich tätige Forscherinnen und Forscher anderer Disziplinen mit ein.7 Die Frage bleibt: Ist eine geo-politische Differenzierung einer a priori universell zu bewertenden Ethik der medizinischen Wissenschaften überhaupt gerechtfertigt ? Wenn ja, warum „Nord-Süd", einer der vielen politischen Euphemismen fur den machtpolitischen, wirtschaftlichen, bildungs- und wissenschaftspolitischen Dualismus und nicht West-Ost (kulturpolitisch hochaktuell), oder USA-Europa, wo es nachweislich Dissonanzen auch in der Einschätzung von Ethik gibt? Die Analyse dieser Differenzierung des Globus zeigt eigentlich schon, dass es neben einer globalen Ethik der bio-medizinischen Forschung eine „Sonder-Ethik" für die „NordSüd"-Forschungszusammenarbeit geben muss, mehr aus wissenschafts- und entwicklungspolitischen, weniger aus kulturanthropologischen Gründen, obwohl letzte häufig angeboten
5 Chargaff 2001. 6 World Medical Association 2001. 7 Stein 2001.
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werden. (Im Folgenden steht das synoptische Kürzel „Nord-Süd" für diesen Dualismus, es soll aber stets in seiner Komplexität verstanden werden.) Für die biomedizinische Forschung scheint die Differenzierung einfach zu sein. Seit dem Kommissionsbericht Health Research. Essential Link to Equity in Development8 unterscheidet die internationale biomedizinische Forschergemeinde zwischen „Global Research", das heißt Hochtechnologie-Forschung, die sich die Länder des Südens ohnehin nicht leisten können, und „Essential National Health Research" (ENHR), angewandter Forschung, die die Prioritäten und Möglichkeiten der Länder des Südens berücksichtigt- wieder eine neue, diskriminierende Unterteilung zwischen Nord und Süd im wissenschaftlichen Globalisierungsprozess. Die global players auf dem Gebiet der biomedizinischen Forschung sind andererseits längst nicht mehr nur die nordamerikanischen, europäischen, ostasiatischen und australischen Forschergruppen, sondern auch entsprechend potente Gruppen aus Lateinamerika, Asien und der Südafrikanischen Republik.9 So wie insgesamt wirtschaftspolitisch gibt es auch in der Welt der Forschung „industrialized countries", „newly industrialized countries", „developing-" und „under-developed countries". Nicht vergessen werden darf in diesem Zusammenhang das oft extreme Entwicklungsgefälle innerhalb der jeweiligen Länder und Regionen. In der biomedizinischen bzw. „gesundheits-" oder „lebenswissenschaftlichen" Forschungsethik geht es im Zusammenhang mit dem bisher skizzierten Forschungsumfeld und seiner Nord-Süd-Ausprägung um mehr als die ethische Verantwortung gegenüber irgendwelchen „Versuchsobjekten". Von einer Reihe von Autoren in internationalen Ethiksymposien, in Forschungsorganisationen oder etwa bei der WHO, der EU oder in der HelsinkiDeklaration 2000 und von ihren Kommentatoren wird darauf hingewiesen, dass die Ethikdiskussion im Nord-Süd-Spannungsfeld vor einer Reihe weiterer Probleme steht, für die es keine pauschale Lösung geben kann.10 Der erste Diskutant, der in der aktuellen Ethikdiskussion auf die Frage, welches „nach Überschreiten des (Winnackerschen) Rubikon" die Forschungsprioritäten seien, eine bisher völlig außer Acht gelassene Antwort gab, war Bundespräsident Johannes Rau in seiner „Berliner Rede" vom 18. Mai 2001. Er wies als bisher Einziger auf die zahlreichen, „diesseits des Rubikon" liegenden Forschungsprioritäten von wirklich globaler Bedeutung hin.11 Die Relevanz der Präimplantationsdiagnostik (PID) und allgemein der so genannten „Reproduktionsmedizin" für eine wohlhabende Minorität, die sich eine in-vitro-Fertilisation und vielleicht auch noch andere Manipulationen leisten kann und fur die Forschungsbedarf vordergründig formuliert wird, steht beispielsweise in keinem Verhältnis zu den Problemen der „reproduktiven Gesundheit" der übrigen Menschheit mit einer mehr als hundertfach höheren Mütter- und Säuglingssterblichkeit. 7 % aller Gesundheitsprobleme liegen in den 8 The Commission on Health Research for Development 1990. 9 World Health Organization 1996. 10 Idänpään-Heikkila 2001, Ijsselmuiden/Faden 1992 und Morales-Gömez 1992. 11 Rau 2001.
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Ländern des „Nordens", die hierfür 95 % der globalen Forschungsmittel aufwenden, während für 93 % aller Gesundheitsprobleme nur 5 % aller globalen Forschungsmittel zur Verfügung stehen. 12 Da vor allem aufgrund der unterschiedlichen wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Kapazität und nicht so sehr aus historischen Gründen die Forschungsinitiative und die Finanzkraft vorwiegend vom Norden ausgeht, muss über die individuellen und gesellschaftlichen forschungsethischen Aspekte hinaus auch die Verhaltensweise der Forscherinnen und Forscher einer kritischen Wertung unterzogen werden. Für die Ethik-Diskussion gesundheits- bzw. lebenswissenschaftlicher Forschung im Nord-Süd-Spannungsfeld lassen sich aus meiner Sicht daher folgende Problemfelder identifizieren: A. Die Rechte und Interessen der in Forschung einbezogenen Individuen und Bevölkerungsgruppen, insbesondere die -
Berücksichtigung ihrer sozialen, kulturellen oder religiösen Normen, Frage der Repräsentanz der Individuen und Gruppen durch wie immer legitimierte Vertreter bei der „informierten Zustimmung" („informed consent"), Auswirkungen der Forschung und der Forschungsergebnisse auf Individuen und Gruppen innerhalb ihres eigenen sozio-politischen Umfelds, vor allem dann, wenn die Forscher abgezogen sind, nachdem sie Probleme losgetreten haben.
B. Die Interaktion von Forscherinnen und Forschern, Geldgebern, politischen und gesellschaftlichen Entscheidungsträgern und damit zusammenhängende forschungsethische Probleme, wie die -
Definition von Forschungsprioritäten, Herstellung eines Konsens' zwischen „eigennützigen" und „fremdnützigen" Forschungsinteressen, Definition von Versuchs- und Kontrollgruppen und Placebo-Probleme im sozio-kulturellen Umfeld, Interaktion zwischen lokalen und auswärtigen Forschern, Verfugung über Forschungsdaten und Ergebnisse (ownership) im Prestigewettstreit zwischen Nord und Süd und zwischen Forschern und Sponsoren.13
C. Die Reaktion der scientific community auf die forschungsethischen Probleme im Nord-SüdSpannungsfeld und die -
Erarbeitung von funktionstauglichen ethischen Normen und Einrichtung von unabhängigen Ethik-Kommissionen in allen Ländern des Südens.
12 Diesfeld 1995. 13 Diese sich bis zu einem gewissen Grad überlappende Zweiteilung entspricht in etwa der im Beitrag von Andreas Brenner diskutierten Unterteilung in Bio-Ethik (entspr. A), in der der Mensch als Forschungsobjekt im Mittelpunkt steht, und Politischer Ethik (entspr. B), die die Ethik der Forschung an sich anspricht. Vgl. in diesem Band 15-30. Alexandra Freund unterteilt in ihrem Kommentar zu Thomas Potthasts Beitrag analog in eine Wissenschaftsmoral (entsp. A) und in Berufsethik (entsp. B). Vgl. in diesem Band 71-75.
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2. Die Rechte und Interessen der in Forschung einbezogenen Individuen und Bevölkerungsgruppen Sofern Personen bzw. Patienten Ärzten oder Ärztinnen als Forschungsobjekte dienen, so sollten diese im Prinzip schon durch das ärztliche Berufsethos des „nil nocere" geschützt sein. In den, dem „Nürnberger Kodex" von 1947 folgenden Editionen der HelsinkiDeklaration des Welt-Ärzte-Bundes wurde dies durch das „individuelle Recht auf Selbstbestimmung" ersetzt, und es wird eine persönliche informierte Zustimmung (informed consent) verlangt.14 Im Beitrag von Claudia Stellmach wird auf die Problematik der Rechtsverbindlichkeit der Europäischen Bio-Ethik-Konvention im Widerstreit von Ethik und gesellschaftlichen Interessen hingewiesen.15 Wie im „Norden" das Problem mit nicht entscheidungsfähigen Versuchspersonen, so gibt es im „Süden" zusätzlich das Problem der sprachlichen und kulturellen Kommunikationsbarrieren unter Berücksichtigung des Bildungs- und Informationsgefälles zwischen Forscher und Bevölkerung. Außer in der klinischen Forschung tritt das Problem des „informed consent" auch im Zusammenhang mit bevölkerungsbasierter Feldforschung zur Diagnose, Prävention und Bekämpfung von Krankheiten, in der Gesundheitssystemforschung oder bei sozialwissenschaftlichen, anthropologischen oder epidemiologischen Untersuchungen auf. Die Frage, wer im „Süden" anstelle der Versuchspersonen legitimiert ist, die Zustimmung zu geben, wird von Forschern des „Nordens" - aber auch des „Südens" - oft damit beantwortet, dass die Gruppe vor dem Individuum rangiere und dass es kulturspezifisch eine „Fremdbestimmung" des Individuums durch lokale traditionelle oder moderne Führer oder bei Frauen und Familienmitgliedern durch den Mann oder das männliche Familienoberhaupt gebe, die das Problem lösten. Dieses Argument wird aber mit zunehmender Emanzipation der Frau bzw. des Individuums und mit zunehmender Hinterfragung traditioneller Herrschaftsstrukturen als neo-kolonialistisch abgelehnt. Abgesehen von der sozial- und kulturanthropologischen Frage, wer in bestimmten Gesellschaften über wen bestimmt, erhebt sich die Frage, ob eine eventuell geübte lokale Praxis für einen Forscher aus dem „Norden" als bequeme Lösung dienen darf. Besonders bedeutsam wird die Frage im Zusammenhang mit der Definition von Forschungsprioritäten. Inwieweit wird das Selbstbestimmungsrecht von Individuen und Gruppen tangiert, wenn soziale oder religiöse Tabuzonen, wissentlich oder unwissentlich, überschritten werden? Inwieweit können Befragungsergebnisse, auch wenn sie individuell anonymisiert sind, in einer offenen Gesellschaft politisch oder anderweitig der befragten Gruppe oder auch dem Befragungsgegenstand, etwa bei der Patientenbefragung über die Qualität der Gesundheitsdienste, zum Nachteil gereichen?
14 Manderson/Wilson 1998. 15 Vgl. in diesem Band 76-88.
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Es bleibt ein Dilemma, ebenso wie die in der Helsinki-Deklaration diskutierte Frage der „Eigennützigkeit" versus „Fremdnützigkeit" von Forschung, sei es bei klinischen, diagnostischen oder technischen Forschungsfragen. Von Kritikern der Helsinki-Deklaration wird bezweifelt, dass es, wie in ihren Abschnitten 22 bis 26 gefordert, unter diesen Umständen überhaupt eine wahrhaft „freiwillige" Zustimmung gibt. Nicht nur kulturelle oder sprachliche Barrieren, auch die lokalen Machtverhältnisse und die sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen der Forschung, die gesundheitliche Infrastruktur, die Qualität der Informationsquellen und der Wissensstand der Betroffenen stehen einer sachgerechten Information als Grundlage für eine Zustimmung entgegen.
3. Die Interaktion von Forscherinnen und Forschern, Geldgebern, politischen und gesellschaftlichen Entscheidungsträgern in Bezug auf forschungsethische Probleme Eine Reihe grundsätzlicher forschungs-ethischer Probleme und Dilemmata ergibt sich aus dem Spannungsfeld zwischen Forschern aus dem „Norden" und aus dem „Süden", den Förderern und Auftraggebern von Forschung sowie den jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Entscheidungsträgem. Die Szenarien sind wohlbekannt und wurden Mitte des Jahres 2001 durch die Arzneimittelproblematik zur Behandlung von HIV/AIDS verdeutlicht. Die Fragen verdichten sich auf wenige Aspekte, vor allem seit die Helsinki-Deklaration und andere internationale und nationale Ethik-Kommissionen inzwischen sehr viel stärker auch in die Entscheidung über die Wahl des Forschungsgegenstandes eingreifen: Wer definiert Forschungsprioritäten und wer stimmt diesen zu? Forscher des „Nordens", von der Biomedizin bis zur Anthropologie, wollen aus, im günstigsten Fall legitimem, wissenschaftlichem Interesse bestimmte Bevölkerungsgruppen untersuchen. Die Forderung in Sektion 19 der Helsinki-Deklaration, medizinische Forschung sei nur gerechtfertigt, wenn eine vernünftige Chance besteht, dass die „beforschte" Bevölkerung hiervon gesundheitlichen Nutzen hat, könnte durchaus sinnvolle Forschungsfragen obsolet werden lassen. Die Helsinki-Deklaration 2000 geht so weit, festzustellen, dass Forschung nur gerechtfertigt sei, wenn sie sich aus lokalen Gesundheitsproblemen heraus ergibt. Viele „Grundlagenforscher" der „Global-Research-Fraktion" werden hiermit ihre Probleme haben, während anwendungsorientierte Forscher der „ENHR-Fraktion" dies nicht so sehr tangiert. Arzneimittelforschung durch internationale Pharmafirmen, selbst wenn sie in angeblicher Forschungspartnerschaft erfolgt, ist dann problematisch, wenn die Forschungsfrage aus Gründen den Opportunität, der geringeren Kosten oder aufgrund der geringeren AkzeptanzProbleme in ein Land des Südens verlegt wird, ohne dass für dieses Land oder die Versuchspersonen ein gesundheitlicher Nutzen entsteht. Die aktuelle HIV/AIDS-Forschung ist
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hierfür ein tragisches Beispiel.16 Obwohl der Forschungsbedarf enorm ist, dürften die Forschungsergebnisse kaum je den Patienten zur Verfügung stehen oder erschwinglich sein. Ist Forschung somit ethisch gerechtfertigt oder un-ethisch? Im Zusammenhang mit der HIV/AIDS- und Tuberkuloseforschung trat eine weitere Forderung der Helsinki-Deklaration (Sektion C 29) verstärkt in den Vordergrund der wissenschaftlichen Diskussion, die besagt, dass ein neues Medikament oder eine neue Methode nur dann getestet werden darf, wenn ihr potentieller Nutzen gegen das bestmögliche aller verfügbaren Mittel oder Verfahren getestet wird.17 So legitim, universell gültig und auch zum Schutz der Versuchspersonen berechtigt diese Forderung ist, würden doch hierdurch neue Medikamente oder Methoden, die von besonderer Relevanz für den „Süden" wären, diesen Ländern vorenthalten, da der „bestmögliche" Standard für diese Länder auf absehbare Zeit unerreichbar ist. Ein besonderes Problem stellt die Anwendung von Placebos dar, vor allem, wenn das Placebo eine NullMaßnahme wäre, weil dies unter den gegebenen Umständen der Regelfall wäre. Selbst die Verwendung der „bestmöglichen" Methode als Goldstandard wäre für die betreffende Kontrollgruppe inakzeptabel, weil nur für diesen besonderen Fall verfügbar. Im Editorial des New England Journal of Medicine vom 13. September 2001 haben sich die Herausgeber von dreizehn namhaften wissenschaftlichen Zeitschriften dem hochaktuellen ethischen Problem der Autorenverantwortung bei Auftragsforschung durch die Pharmaund medizintechnische Industrie geäußert.18 Sie berufen sich auf ein Dokument, das vom International Committee of Medical Journal Editors (ICMJE) als Grundlage für zukünftige Herausgeberentscheidungen erarbeitet worden ist und welches im Anhang an dieses Editorial angeführt wird. Das Editorial kritisiert insbesondere, dass in zunehmendem Maße anstelle akademischer, theoretisch unabhängiger Forschung private, nicht akademische Forschergruppen (das heißt contract research organizations, CRO's) für weniger Geld und mit weniger Skrupeln die klinische Forschungslandschaft beherrschen. Diesen Gruppen seien im Jahr 2000 in den USA 60 % aller Forschungsmittel der Industrie zugeflossen. Für Forschung in Entwicklungsländern dürfte diese Entwicklung von besonderer und gefährlicher Relevanz sein. Die Verfügbarkeit und Nutzung (ownership) von Forschungsergebnissen in Bezug auf Autorschaft und akademische Meriten und der tatsächliche Anteil der einzelnen lokalen und auswärtigen Forscher ist ein ständiger Streitpunkt, der meist zu Ungunsten der lokalen Forscher ausgeht. Da die Initiative und die finanzielle Ausstattung meist vom auswärtigen Forscherteam ausgeht, beansprucht dieses auch die Priorität der Autorschaft, wohingegen ohne die Einbindung der lokalen Forscher Feldforschung heutzutage überhaupt nicht realisiert werden könnte. Da aber ohne Erstautorschaft akademische Meriten nicht zu erwerben sind, sind die nachgeordneten lokalen Forscher immer im Nachteil. Dies entspricht überhaupt
16 Martin 1993, The Lancet, Editorial 1997 und Varmus/Satcher 1997. 17 Angell 1997, Bobadilla u. a. 1994 und Lurie/Wolfe 1997. 18 N e w England Journal o f Medicine, Editorial 2001.
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nicht der berechtigten Forderung und internationalen Bemühung um Aufbau von lokaler Forschungskapazität und ist somit im Sinne dieser erweiterten Forschungsethik un-ethisch. Es gibt allerdings auch Nord-Süd-Forschungspartnerschaften, wie etwa im „Arbeitskreis Tropenmedizinische Forschung" und dem DFG-Forschungsschwerpunkt „Tropische Infektionskrankheiten" der Universität Heidelberg oder in der Forschungspraxis der GTZ im Gesundheitsbereich, wo diese Fragen klar geregelt sind, weil explizit der Aufbau von Forschungskapazität Programm ist.
4. Die Reaktion der scientific community auf die forschungsethischen Probleme im Nord-Süd-Spannungsfeld Wie bereits angedeutet, enthalten die letzten Editionen der Helsinki-Deklaration des WeltÄrzte-Bundes Abschnitte, die auf die Probleme im Nord-Süd-Forschungsverbund eingehen. Es wurde klar, und einige Kommentatoren haben dies in letzter Zeit deutlich gemacht, dass manche dieser Empfehlungen oder ethischen Normen für diese Forschungen „tödliche" Annahmen sind und Forschung unmöglich machen, selbst wenn sie im wohlverstandenen Interesse der Länder wären.19 Die Weltgesundheitsorganisation gibt seit mehreren Jahren Empfehlungen zur Forschungsethik generell, wie auch unter Berücksichtigung der spezifischen Belange der Länder des Südens heraus, ebenso wie 1998 die International Epidemiological Association, European Group.20 Schon 1988 hat die WHO in Kooperation mit der IDRC und dem Royal Tropical Institute Amsterdam für die Gesundheitssystemforschung im südlichen Afrika Empfehlungen für ethische Normen erarbeitet und in Trainingsprogramme integriert. Es wurde hierin, wie es auch im Konzept der Gesundheitssystemforschung der Abteilung für Tropenhygiene und Öffentliches Gesundheitswesen der Universität Heidelberg enthalten ist, zu bedenken gegeben, dass Gesundheitssystemforschung implizit eine Intervention darstellt, deren Konsequenzen für die beforschte Gruppe und für die gesamte Gesellschaft oder politische Landschaft bedacht werden müssen.21 Die American Anthropological Association hat 1998 unter Hinweis auf jahrzehntelange Vernachlässigung des Themas einen eigenen ethischen Kodex für (kultur-)anthropologische, ethnologische und sozialwissenschaftliche Forschung herausgegeben, der sich an die Helsinki-Deklaration anlehnt, der aber bisherige Forschungsgepflogenheiten weitgehend unmöglich machen würde.22
19 The Lancet, Editorial 1997 und Varmus/Satcher 1997. 20 Council for International Organizations of Medical Sciences 1991 und World Health Organization 2000. 21 Diesfeld 1995. 22 American Anthropological Association 1998.
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Alle internationalen Forschungsförderer, wie das „Tropical Disease Research- and Training Programme" (TDR) der WHO oder das Programm „Forschung im Dienste der Entwicklung" (INCO-DEV) der Generaldirektion XII der Europäischen Kommission verlangen grundsätzlich eine ethische Prüfung von Forschungsanträgen und eine entsprechende Prüfung und Freigabe des Antrags durch nationale oder institutionelle Ethikkommissionen. Den jüngsten und sicher auch wichtigsten Beitrag hierzu leistete die erste Konferenz des „African Malaria Vaccine Testing Network" (AMVTN) im April 2001, die sich gezielt mit dem Thema „Health Research Ethics in Africa" befasste.23 Die Kritik der Konferenz richtete sich zunächst gegen bestehende internationale Empfehlungen und Kodizes, die die Problematik des Südens nicht ausreichend berücksichtigen und zu sehr auf die Bedürfnisse des Nordens abheben würden. Es wird festgestellt, dass die meisten afrikanischen Länder bezüglich der Erarbeitung eigener ethischer Normen oder der Einrichtung und Funktionsfähigkeit von Ethikkommissionen im Verzug sind. Übereinstimmend wurde beklagt, dass die Feststellung ethischer Unbedenklichkeit durch nicht-afrikanische Partnerinstitutionen einschließlich internationaler Organisationen unzureichend ist und diese durch lokale Ethikkommissionen bestätigt bzw. ergänzt werden muss. Forschungsethische Verantwortung wird nicht nur gegenüber den beforschten Menschen und Gruppen, sondern auch gegenüber Forschung und Wissenschaft im Ganzen und gegenüber der Öffentlichkeit eingefordert. Ein Thema, das die Biomedizin in Deutschland peinlich berührt. Da Forschung auf der Grundlage von schlechter Wissenschaft an sich schon unethisch sei, müssten in Verbindung mit Ethikkommissionen auch wissenschaftliche Review Kommissionen tätig werden. Für Ethikkommissionen wurde von der Konferenz des AMVTN eine Checkliste24 erarbeitet, um folgendes sicherzustellen: -
Capacity building of local researchers and institutions
-
Community awareness and participation in the proposed research
-
Sensitivity to local cultures and children's welfare
-
Protection of populations vulnerable to abuse by health research
-
Targeted dissemination and promotion of utilisation of the results, particularly by the beneficiary population
-
Agreement on ownership, use, and access to the research outputs by those in and outside the research partnership and medical profession
-
Procedures for obtaining and documenting informed consent
-
Compliance to the CIOMS WHO and „Good Clinical Practices" (GCP) Guidelines.
23 Rugemalila/Ki lama 2001. 24 Ebd., 9-10.
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Milos Vec
Divergenter Wohlstand, dissonante Ethik. Die mehrfach fragmentierte Weltgesellschaft und die Dogmatik des Patentrechts* In Hans Jochen Diesfelds Beschreibung und Interpretation des aktuellen Zustands in den „Ländern des Südens" prallt eine universalistische Ethik auf ein überaus komplexes System. Weil die Ethik scheinbar an diesem System scheitert, will Diesfeld sie an die bestehenden Umstände anpassen. Zugleich plädiert er für eine verstärkte Ethisierung unseres Zugangs zum Nord-Süd-Konflikt, weil er sich von ihr angemessene Lösungen erhofft. Ich möchte im Folgenden in sieben Punkten darlegen, was mir an dieser Analyse überzeugend und was mir fraglich erscheint. Als Ergebnis halte ich dabei weniger eine Ethisierung für erstrebenswert, als vielmehr eine Verrechtlichung des Globalisierungsprozesses.
1. Divergenzen Das komplexe System in Hans Jochen Diesfelds Zustandsbeschreibung ist die mehrfach fragmentierte Weltgesellschaft. Der Titel von Diesfelds Beitrag könnte daher noch erweitert werden. Zwar ist es im Grundsatz richtig, dass weiterhin ein Nord-Süd-Konflikt besteht. Schon die jeweiligen Problemlagen sind bezeichnend. Sie reflektieren ganz unterschiedliche Wohlstandsniveaus und abweichende Standards medizinischer Versorgung. Die westlichen Industriegesellschaften fragen, ob nicht unsere immer höher werdenden technischen Standards diskriminierende Nebeneffekte haben. Prägnant formuliert: „Wer einen Defekt beseitigt, schafft einen neuen Standard des Perfekten."1 Technische Innovationen in der Medizin wirken unfreiwillig normierend. Sie entwerfen neue Standards des Normalen und grenzen anderes als nunmehr Ab-Normal aus. Sie unternehmen einen weiteren Schritt in die „Normalisierungsgesellschaft" (Michel Foucault). Konsequent wird - um dem entgegenzuwirken - ein „Recht auf Unvollkommenheit gefordert".2 Dieser Konflikt ist sicherlich nicht das Hauptproblem der westlich-industriellen Medizin. Denn selbstverständlich stellt sich auch und gerade bei ihr die Frage nach der Finanzierbarkeit der medizini* Kommentar zu dem Beitrag von Hans Jochen Diesfeld: „Nord-Süd-Konflikt" und Forschung.
in Bezug auf Ethik
1 Rosenfelder 2001. 2 Deutsches Hygiene-Museum Dresden und Aktion Mensch (Hrsg.): Der imperfekte Mensch. Vom Recht auf Unvollkommenheit, Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung, Ostfilden-Ruit 2000.
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sehen Versorgung, nach allgemeinem und gleichem Zugang der Bevölkerung zu Medikamenten und Therapiemöglichkeiten. Aber der Konflikt ist auch nicht so marginal, dass er als Kuriosum einer Gesellschaft abgetan werden könnte, die eigentlich ganz andere Probleme hat. Die Probleme der Entwicklungsländer bzw. Schwellenländer lesen sich anders. Nicht die diskriminierenden Nebeneffekte medizinischer Hochtechnologie bieten dort Anlass zur Sorge. Vielmehr schafft man es hier nicht einmal, sterile Injektionen durchzufuhren: Nach Schätzungen der WHO werden jährlich vier Milliarden Injektionen ohne ausreichende Sterilisation durchgeführt, tendenziell im Süden.3 Die globale wirtschaftliche Ungleichheit führt also zu dramatischen medizinischen Versorgungsdifferenzen mit einem Nord-Süd-Gefälle. Zugleich wird dieser klassische und im Grundsatz fortbestehende Nord-Süd-Konflikt zunehmend überlagert durch den Globalisierungsprozess. Dieser zeichnet sich aber mitnichten durch eine bloße Konvergenz der sozio-ökonomischen Strukturen der verschiedenen Gesellschaften aus. Globalisierung bedeutet keineswegs die bloße Annäherung und Vereinheitlichung globaler Standards. Vielmehr entstehen neben funktional differenzierten globalen Sektoren auch eine Vielzahl von globalen Kulturen: Soziologisch gesprochen wird eine doppelte Fragmentierung der Weltgesellschaft sichtbar. Für den Nord-Süd-Konflikt bedeutet dieses, dass zugleich Konvergenz und Divergenz von Standards stattfinden.4 Also entwickeln sich auch innerhalb des Nord-Süd-Gefälles im Rahmen biomedizinischer Forschung weitere divergente Zustände innerhalb der Länder. In der Weltgesellschaft steht also nicht nur ein reicher Norden dem armen Süden gegenüber, sondern es entwickeln sich sogar auf lokaler Ebene Ungleichzeitigkeiten: Die Globalisierung schafft neue Differenzen. Hans Jochen Diesfeld beschreibt, welche neuen Entwicklungen die biomedizinische Forschung bestimmen. Sie profitiert von der Hochtechnologie. Die biomedizinische Forschung findet zunehmend in privater Regie statt. Das Wissen wird kapitalisiert. Es wird zum Privateigentum. Die Energie der biomedizinischen Forschung, ausgemünzt in der Währung „globale Forschungsmittel", gilt zu frappierenden 95 % den Ländern des Nordens. Die aber haben nur 7 % der Gesundheitsprobleme. So lautet die alarmierende Zustandsbeschreibung von Diesfeld: Divergenter Wohlstand, divergente Standards - und ich vermute, wir haben ihn alle verstanden und kaum jemand könnte ihm widersprechen.
2. Universalität Klarer noch könnten die Schlussfolgerungen von Diesfelds Beitrag sein. Der Text plädiert sowohl für die „universelle Gültigkeit forschungsethischer Normen" als auch „für eine Berücksichtigung einiger Besonderheiten". Doch wann die universalistische Regel, wann die 3 Jütte 2001. 4 Teubner 1998, 235.
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lokalspezifische Ausnahme gilt, wird nicht deutlich. Hans Jochen Diesfeld legt sich nicht fest, was das Verhältnis von Grundsätzlichem und Detail angeht. Hier würde ich mir noch mehr Konkretisierungen wünschen.
3. Übertragbarkeit Wir erfahren, dass für die scientific community „funktionstaugliche ethische Normen" in allen Ländern des Südens erarbeitet werden sollen. Diesfeld plädiert hier, an einer ganz zentralen Stelle, für eine Ethisierung der Forschung. Er stellt fest, dass die meisten afrikanischen Länder rückständig seien in der Erarbeitung eigener ethischer Normen. Doch nach welchem Kriterium befinden sie sich in Verzug? Zugleich irritiert mich die Vorstellung einer Rückständigkeit in der Produktion ethischer Normen. Wenn man Diesfelds grundlegender Analyse folgt, gründen sich die Verspätungen bei der biomedizinischen Forschung und bei der Implementation von Fortschritten auf die Wohlstandsdefizite im Süden. Auf die Ethik scheint mir diese Analyse gerade nicht analog übertragbar. Schwer einzuordnen sind schon die von Diesfeld angeführten Indizien. Ist der Süden deswegen verspätet, weil er keine Ethik-Kommissionen hat, wie dies in seinem Beitrag anklingt? Das erscheint mir ein kulturell fragwürdiger Maßstab, zumal aus historischer Perspektive. Nicht nur, dass eine Entwicklung der westlich-industrialisierten Welt hier zum Standard genommen wird. Auch wird die historische Bedingtheit dieser Entwicklung zu wenig hinterfragt. Könnte es nicht sein, dass die derzeitige Konjunktur der EthikKommissionen ihren Ursprung darin hat, dass der technische Fortschritt ein solches Maß erreicht hat, dass wir uns fragen müssen, ob wir seine Möglichkeiten ausschöpfen wollen? Oder nach Hermann Lübbes Theorem: Der Grenznutzen des wissenschaftlichen Fortschritts nimmt ab. Lübbe benennt drei Gründe für unsere gestiegene Empfindlichkeit gegen Fortschrittsverheißungen: Erstens wachsen mit dem Niveau wissenschaftsabhängiger Wohlfahrt die Empfindlichkeiten gegenüber unangenehmen Folgelasten genutzter Wissenschaft. Zweitens beschert uns die stetige Dynamik wissenschaftlichen Forschungsfortschritts Erinnerungsverluste. Bei unseren Urteilen über Nutzen und Nachteil unserer Gegenwartslage sinkt die Verlässlichkeit unseres Vergangenheitswissens. Drittens nehmen mit der Lebensweltferne wissenschaftlichen Wissens die Kosten akzeptanzerhaltender Aufklärung über den wissenschaftlichen Fortschritt zu. In der Summe steigert daher (paradoxerweise, wenn man will) erfolgreiche Forschung die Wissenschaftsskepsis und die Wissenschaftskritik wird größer.5 Die Wissenschaftsskepsis betrifft auch neue Verfahren der Medizin. Aus den von Lübbe genannten Gründen fragen wir kritisch, ob weitere Innovationen mit Verbesserungen gleich-
5 Lübbe 1997.
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zusetzen sind. Wir fragen die Politiker und diese münzen die Frage an die technischen Experten aus. Weil es dafür keine Institutionen und Verfahren gibt, werden neue Institutionen und Verfahren geschaffen. Diese Konstellation ist meines Erachtens ursächlich für die starke und bemerkenswerte Vermehrung der Ethik-Kommissionen gerade in gesellschaftspolitisch sensiblen Fragen. Ob sich diese Kommissionen allerdings bei ihrer Tätigkeit auf ihr programmatisches und konsensstiftendes Etikett beschränken, also rein auf der ethischen Ebene agieren, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden. Vielmehr drängt sich bei genauerer Betrachtung der Verdacht auf, dass sie in Wahrheit eigentlich rechtsähnliche Normen erzeugen.6 Denn wenn man unter tatsächlicher Perspektive die Zusammenhänge betrachtet, sieht man, dass die Produktion moralischer Normen durch Ethik-Kommissionen oft nur eine Camouflage der Produktion von Recht ist: Es geht materiell darum, bestimmtes Verhalten zu verbieten, wenn es gewisse Mindestanforderungen unterschreitet. Dieses Verbot setzt nicht wirklich auf den Druck des schlechten Gewissens, sondern auf ganz handfeste Zwänge, die institutionell abgesichert sind. Die Probleme der Dritten Welt sind offenkundig grundverschieden von der hier geschilderten Konstellation und den bisher eingeschlagenen Lösungsstrategien, und es hat einen gewissen Sinn, dass sie nicht durch Ethik-Kommissionen gelöst werden. Die Alltagsprobleme, die Ärzten und Forschern unter den Nägeln brennen, lösen sich nicht unter dieser Abwägungskonstellation des Westens auf. Diese Länder haben eine Ethik, aber sie ist nicht das Produkt von Ethik-Kommissionen. Die „Erarbeitung funktionstauglicher ethischer Normen" scheint mir daher in der avisierten Weise weniger hilfreich, da sie sich an einem spezifischen Modell orientiert und dessen soziale, technische und wirtschaftliche Entstehungsbedingungen nicht ausreichend berücksichtigt.
4. Dissonanzen Zugleich kritisiert Hans Jochen Diesfeld, dass bestimmte bestehende globale Formulierungen ethischer Standards „Killer-Annahmen" sind, sie also Forschung unmöglich machten. Mich irritiert der Begriff der „Funktionstauglichkeit" der ethischen Normen. Diese Ethik ist Herrn Diesfeld nicht geheuer, da sie für die Forschung prohibitiv wirkt. Ich finde das Verständnis von Ethik, das diesen Einwand durchdringt, problematisch. Die flexible Anpassung der Norm an den Tatbestand, wenn die Norm verletzt ist, scheint mir da zu willfährig. Die Ethik abzuschaffen, wenn sie dissonante Töne produziert, wäre in diesem Fall jedenfalls bedenklich. Wenn die Ethik auf divergente Wohlstandsstandards mit dissonanten Tönen reagiert, dann müssen wir das vielleicht aushalten.
6 Roellecke 2001; siehe insbesondere auch den Beitrag von Klaus Günther im vorliegenden Band, 196-206.
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5. Normdurchsetzung Fünftens und grundsätzlicher frage ich mich, ob die Probleme, die Diesfeld anreißt, überhaupt über Ethik gelöst werden können. Vielleicht kommt man hier mit dem Gegensatzpaar Ethisierung und Ethikferne, ja mit Ethik überhaupt, nicht weiter. Denn der machtvolle Akteur, der hinter Diesfelds sorgenvollen Beobachtungen über Nord-Süd-Schieflagen steht, ist die Wirtschaft. Sie hat die Kraft, biomedizinische Forschung und ärztliche Therapie global dermaßen ungleichgewichtig nach Zielen und nach Mitteln zu betreiben. Staatliche Mittel(um)verteilung kann hier nur Makulatur sein. Ethik könnte oder sollte die Moral des Individuums reflektieren. Sie könnte es ihrerseits moralisierend oder moralfrei tun. Doch kann man dieser Struktur, die den Nord-SüdKonflikt konstituiert, mit Reflexion über richtige Haltungen beikommen? Hilft die Betrachtung über die richtige Moral hier weiter? Ich meine, kaum. Und zwar schon deswegen nicht, weil die eigentlichen Nord-Süd-Probleme im Kern nicht ethischer, sondern ökonomischer und juristischer Natur sind.
6. Patentrecht Ein Beispiel zur Veranschaulichung. Das Nord-Süd-Verteilungsproblem ist zuletzt besonders kontrovers im Zusammenhang mit dem Zugang zu billigen Aids-Medikamenten diskutiert worden. 7 Viele der von Hans Jochen Diesfeld angesprochenen Punkte wurden hier musterhaft sichtbar. Denn die ethische Frage wurde in Form eines Konflikts um die Dogmatik des Patentrechts diskutiert. Nämlich: Was uns einst, im 19. Jahrhundert, als Fortschritt in Form einer Rechtsvereinheitlichung dünkte, wird nun als Teil des Problems begriffen und juristisch diskutiert. Das Problem mag als ethischer Missstand begriffen werden, die Lösungen werden auf juristischem Terrain gesucht. Ein weltumspannendes Patentrecht mit einheitlichen Schutzstandards zu schaffen, war die große historische Leistung der Nationalstaaten. Ein Patent gibt dem Inhaber das Recht, grundsätzlich jeden Dritten von der Benutzung der patentierten Erfindung auszuschließen (§ 9 des deutschen Patentgesetzes von 1981, Art. 64 des Europäischen Patentübereinkommens vom 5. Oktober 1973). Ohne die Zustimmung des Patentinhabers kann kein anderer das geschützte Produkt herstellen oder anbieten. Die Rechtsordnung verspricht sich hiervon Anreize fur Erfinder, sich um Innovationen zu bemühen, da ihnen im Erfolgsfall auch die wirtschaftlichen Vorteile zufließen werden. 8 Im Verlauf der Industrialisierung während des 19. Jahrhunderts schlossen sich immer mehr Nationalstaaten dieser Theorie an und verabschiedeten sich vom Dogma des Freihandels, das den Patentschutz ablehnte. Auf nationaler
7 Lindner 2001. 8 Kurz 2000.
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Ebene erließen sie die entsprechenden Patentgesetze.9 Auf internationaler Ebene bedienten sie sich der internationalen Abkommen und Verträge zur internationalen Rechtsvereinheitlichung.10 Diese internationalen Verträge behandelten die unterzeichnenden Staaten als autonome und gleichberechtigte Subjekte. Doch nun zeigt sich die Kehrseite. Die global einheitlichen Standards werden der zunehmenden ökonomischen Ungleichheit der Mitglieder nicht mehr gerecht. Die Einhaltung des Patentschutzes ist beispielsweise unbezahlbar für jene Länder des südlichen Afrika, die unter hohen Aids-Infektionsraten leiden. Sie können das Geld, das die Pharma-Unternehmen fur ihre Produkte verlangen, nicht aufbringen. Auch der Eigentumsbegriff wandelt sich. Wissen und Wissenschaft werden zunehmend privatisiert, kommerzialisiert und kostenpflichtig." Auch hier ist zu befurchten, dass sich die globale ökonomische Ungleichheit künftig noch weiter verstärkt. Das Patentrecht ist fur eine solche tatsächliche ökonomische Ungleichheit im Prinzip blind. Allerdings gibt es eine Ausnahme vom strikten Grundsatz des Schutzes geistigen Eigentums. Nach dem Abkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums vom 15. April 1994 (Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights; ,,TRIPS"-Abkommen)12 können Staaten ausnahmsweise den Patentschutz außer Kraft setzen und einheimischen Unternehmen gestatten, ein Produkt trotz bestehenden Patents herzustellen. Dies ist immer dann möglich, wenn entweder ein nationaler Notstand oder äußerste Dringlichkeit vorliegt und zudem ein öffentliches Interesse besteht. Als Folge eines solchen Verhaltens muss der Patentinhaber finanziell entschädigt werden. Dass für diese Zwangslizenzierung ein tatbestandlich ausgesprochen enger Rahmen gesteckt wurde, der aus guten Gründen nicht ausgeweitet werden sollte, ist zuletzt (Herbst 2001) auch im Rahmen des Streits um Milzbrand-Medikamente vom Patentrechtler Joseph Straus betont worden.13 Zugleich drängen die Entwicklungsländer schon seit längerer Zeit darauf, das TRIPS-Abkommen zu ergänzen, damit ihnen der Zugang zu preisgünstigen Arzneien erleichtert wird. Denn ob die enge TRIPS-Regelung eine Lösung für die hier beschriebenen medizinischen Probleme ist, scheint in der Tat im Grundsatz fragwürdig. Noch brechen die von Aids besonders heimgesuchten Staaten schlicht den Patentschutz (etwa Brasilien14). Erst eine Reform des Internationalen Patentrechts könnte ihren gesundheitspolitischen Zielen 9 Dölemeyer 1986a. 10 Dölemeyer 1986b. 11 Rötzer 2000. 12 Im Wortlaut bei http://www.wto.org/english/tratop_e/trips_e/t_agmO_e.htm. 13 So geht das nicht. Patentrechtler
Joseph Straus über den Streit um das
Milzbrand-Medikament
Ciprobay von Bayer, in: Die Zeit vom 25. Okt. 2001, 26; Bayer beugt sich dem Druck Washingtons. Die Regierung erhält Ciprobay zu Vorzugspreis/Der
Minister drohte, den Patentschutz
zu
brechen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. Okt. 2001, 17. 14 oe. Kostenlose Medikamente fiir Infizierte in Brasilien, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. April 2001, 13.
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Rechnung tragen. Diese müsste aber dogmatisches Neuland betreten und das Patentrecht um Aspekte der wirtschaftlichen Ungleichheit erweitern, die bisher ausgeblendet worden sind. Welche Rolle kommt hier der Ethik zu? Mir scheint, eine denkbar geringe. Als eine Rechtsethik15 könnte sie allenfalls danach fragen, welches Recht hier ein ethisch gerechtes Patentrecht wäre. Aber ich vermute, die ethischen Fragen des Nord-Süd-Konflikts liegen offen zutage, wir haben es vielmehr mit einem Durchsetzungsproblem der Norm zu tun. Die moralischen Maximen werden nicht gehört gegen die Vorgaben von politischer und wirtschaftlicher Seite. Ihre Empfehlungen können sich nicht gegen die machtvolleren Akteure Recht und Wirtschaft durchsetzen. Die Moral ist hier nicht durch institutionalisierten äußeren Zwang gesichert. Das ist die Durchsetzungsschwäche dieser Normen. Ethische Empfehlungen bleiben auf dieser Ebene bloße Empfehlungen.
7. Verrechtlichung der Globalisierung Daher scheint mir nur ein Zugang zu dem geschilderten Problem erfolgversprechend, der auf das Recht als einer mit institutionellem Zwang abgesicherten Norm zurückgreift. Die Globalisierung ist ein historisch neu auftretender Prozess, der neue Differenzen schafft (siehe oben, Abschnitt 1). Manche dieser Differenzen sind aus ethischer Perspektive fragwürdig, doch eine effektive Abhilfe wird nur um den Preis einer Verrechtlichung der Beziehungen zu haben sein. So wie die Staaten des 19. Jahrhunderts die „sociale Frage" auf nationaler Ebene mit der Entstehung des modernen Interventionsstaates angingen,16 müssten sie nun (gemeinsam mit anderen Akteuren) auf die neue Herausforderung der Globalisierung mit einer funktional äquivalenten, neuartigen Steuerung durch Recht antworten. Zu Recht ist hierzu von Seiten der Historiker die Parallele zur Entstehung des modernen Staates und zur Durchsetzung seines Gewaltmonopols gezogen worden. Denn die im Verlauf der Frühen Neuzeit mühsam erkämpfte staatliche Souveränität wird nun durch den Globalisierungsprozess in Frage gestellt. Grenzüberschreitende Finanztransaktionen, multinationale Unternehmen und der Zerfall von Staaten gehen mit dem Aufstieg von neuen Partikulargewalten einher.17 Sie lassen das Menetekel eines „Neuen Mittelalters" aufflammen.18 Die Erfolgsgeschichte der Verrechtlichung der politischen Herrschaft, die in der Konstitutionalisierung gipfelte und die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols erscheinen als Entwicklungslinien, die ihren historischen Zenit bereits überschritten haben.19
15 von der Pfordten 2001. 16 Stolleis 1989. 17 Reinhard 1999, Kap. 6: Krise und Transformation (480-536). 18 Borgolte 2000. 19 Vec 2001.
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Neue Zwischengewalten, neue Herrschaftsträger sind in der globalisierten Welt entstanden. Sie bringen autonom ihr eigenes Recht hervor.20 Sie stellen neue Herausforderungen. Nur wenn man bei diesen machtvollen und zugleich amorphen Akteuren ansetzt, scheint Abhilfe realistisch. Diese Aufgabe könnte wieder auf den Staat zukommen und ihn neu legitimieren als eine Instanz, die Freiheitsrechte sichert, Ordnung herstellt und Rechtsgleichheit verbürgt. Dies wären erneut jene Aufgaben, die dem Staat schon im Verlauf des Staatsbildungsprozesses teils zugewachsen sind, die er teils historisch an sich gerissen hat, um an ihnen zu wachsen. Gezähmt und enteignet werden müssten hingegen die bisherigen Machtträger der Globalisierung und die von ihnen appropriierten Rechte.21 Dieser Prozess der Herstellung materialer Gerechtigkeit verspricht außerordentlich kompliziert und vergleichbar mühsam wie seine historische Vorlage zu werden. Umso mehr ist er auf wirkungsvolle Instrumente angewiesen, an deren Spitze insbesondere das Recht stehen sollte. Die Globalisierung braucht keine Ethisierung, sondern eine Verrechtlichung.
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Heiner Schirmer
Moral und Verteilungsethik des medizinischen Fortschritts
1. Vorbemerkung Seit Ende des Zweiten Weltkriegs ist die Medizin in eine neue Ära eingetreten, sie ist eine weitgehend therapeutische Medizin geworden. In zunehmendem Umfang stehen uns Maßnahmen zur Verbesserung des Gesundheitszustandes sowie zur Bekämpfung und Linderung von Krankheiten zur Verfugung. Ethische Regeln zur Beherrschung dieses Angebots gibt es noch nicht. Als Arzt und Forscher ist mir aber bewusst, dass die Errungenschaften der Wissenschaft weltweit nur wenigen privilegierten Menschen zugänglich sein werden. Thematischer Schwerpunkt meines Beitrags ist deshalb die Verteilungsethik. Wem kommen Forschungsergebnisse zugute, insbesondere die wissenschaftlichen Errungenschaften der biomedizinischen Forschung? Sind sie - wissenschaftsethischen Maximen entsprechend - tatsächlich Allgemeingut der Menschheit? Wem werden segensreiche Forschungsergebnisse versagt? Lässt sich etwas gegen die damit verbundene unterlassene Hilfeleistung tun? Denn die unterlassene Hilfeleistung ist die moralische Fehlleistung mit der höchsten Wachstumsrate in der ärztlichen Kunst, aber auch in anderen Bereichen der angewandten Naturwissenschaften. 1
2. Hat Ethik als integraler Teil der Naturwissenschaften eine Überlebens-Chance? Beziehen werde ich mich im wesentlichen auf den klassischen Vortrag Scientific Ethics des Physiologen und Nobelpreisträgers Sir Archibald Vivian Hill, den er anlässlich des Symposions zu Ehren von Westinghouse im Jahre 1946 gehalten hat. 2 Bei diesem Symposion spra-
1 Der eilige Leser kann die Lektüre im Abschnitt 5, Krankheitsbedingte Menschheit fortsetzen.
Armut als Makel
der
2 „Can it be that the speed and intensity of scientific discovery, and its technical application without sufficient ethical restraint, have now reached the limit beyond which man - who is really just the same in physical, mental, and emotional make-up as thousands of years ago - will be unable to absorb and control them?" (Hill 1946, 1343.)
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chen auch prominente Physiker, Chemiker und Biologen, die an der Entwicklung apokalyptischer ABC-Waffen beteiligt gewesen waren und die sich jetzt, gewissermaßen nachträglich, den drängenden wissenschaftsethischen Fragen stellten. Gibt es noch die Wissenschaft als Einheit von Ethik und Forschung oder ist nicht der Zustand eingetreten, den Sir Archibald 1946 als drohende Möglichkeit darstellte? Er sagte: „Wenn in der Wissenschaft die Standards der Wahrhaftigkeit, Offenheit, und Integrität aus politischen, wirtschaftlichen oder militärischen Gründen gelockert werden, wenn Betrug und Verschleierung in der wissenschaftlichen Forschung nicht verurteilt werden, wenn wissenschaftliche Irrtümer nicht als solche anerkannt werden und aufgearbeitet werden, wenn Propaganda-Produkte als Fakten akzeptiert werden, wenn Geheimhaltung und Geheimniskrämerei als normales Verhalten der wissenschaftlichen Tätigkeit akzeptiert sind, wenn Wissenschaftler zulassen, daß sie für Zwecke der Machtpolitik oder für egoistische ökonomische Zwecke ausgenutzt werden und schließlich, wenn die Wissenschaftler die Verpflichtung verletzen, daß die Erträge wissenschaftlicher Entdeckungen als Vermächtnis und gemeinsames Gut der ganzen Menschheit gehören, dann wird die Wissenschaft unmöglich als Beruf für freie und anständige Menschen, während die Ausbeutung der Wissenschaft für egoistische Gruppeninteressen der Mächtigen zu Konflikten und zunehmendem Leid von Menschen durch Menschen führen muß, nicht aber zur Verbesserung der condition humaine. Das Wohl der Menschheit zu mehren und ihr nicht zu schaden, gehört zum Wesen der Wissenschaft... In diesem Sinne ist ein Hippokratischer Eid fur alle Wissenschaften anzustreben, nicht nur für die Medizin. Denn es gibt bereits Ansätze zu ethischem Verhalten in der Wissenschaft. Seit vielen Jahrhunderten entwickelt sich langsam, gestützt auf die Erfahrungen ethischer Notwendigkeiten der medizinischen Praxis und Erfahrung, der Hippokratische Eid. Substantieller Inhalt dieser Verpflichtung ist, daß der Arzt seine Wissenschaft und seine Kenntnisse nur zum Wohle des Patienten nutzen darf, nicht zu dessen Schaden, und daß dies für alle Patienten gilt, unabhängig von sozialer Klasse, Nationalität, Geschlecht oder A l t e r . . . Die Erfahrung gibt uns keinen Anlaß, auf die Illusion des unvermeidbaren Fortschritts zu vertrauen. Eine positive aktive Moralität und die Entschlossenheit, ihre Prinzipien in der Wissenschaft anzuwenden, sind die Garanten des Fortschritts der Menschheit und eine Versicherung gegen die Fortschreibung der Menschlichen Tragödie."3
3. Ist die weltweite Apartheid der medizinischen Forschung und Versorgung aufzuhalten? Die Medizin, die Hoffnungsträgerin der positiven aktiven Moralität in Praxis und Wissenschaft, muss sich gegenwärtig mit der Apartheid auseinandersetzen, um die globale Gültigkeit ihrer Prinzipien zu bewahren. Unter Apartheid im Gesundheitswesen versteht man die Polarisierung der Patienten in die Minorität der Wohlhabenden, also die reichen und gesun-
3 Hill 1946, 1344.
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den Menschen einerseits, und die nicht-privilegierte Mehrheit, die armen kranken Menschen4 andererseits. Das Problem ist offenkundig: 95 % der Kinder und ihre Eltern leben in Ländern der Dritten Welt. 7 % aller Gesundheitsprobleme liegen in den Ländern des Nordens, die hierfür mehr als 95 % der globalen Forschungsmittel aufwenden, während für die Gesundheitsprobleme im Süden weniger als 5 % aller globalen Forschungsmittel zur Verfügung stehen.5 Dies bedeutet, dass für die Bewältigung eines Gesundheitsproblems des Nordens 300 mal (also 30.000 %) mehr Forschungsgelder aufgewendet werden als für ein gleich großes Problem des Südens. Als Professor der Medizin sehe ich nicht nur akademische, sondern auch ethische Defizite, wenn wir unsere Studenten zum größten Teil auf dem Gebiet der Wohlstandskrankheiten ausbilden.6 Die globalen Krankheiten - und das sind vor allem die Krankheiten der Armut sind nicht prüfungsrelevant und deshalb offenbar auch nicht medizinisch relevant. Die Prüfungsrelevanz einer Disziplin in der Ausbildung zum Arzt und Wissenschaftler ist ein sehr wichtiges Kriterium, weil sie die Standards, auch die ethischen Standards, setzt.
4. Sind Ethik und humanitärer Fortschritt unbezahlbar? Auch wenn ich mir unter großen Summen nichts vorstellen kann, möchte ich zunächst das Problem der Kosten ansprechen.7 Die Frage, ob die Welt hoffnungslos übervölkert ist und auch mit Hilfe der Wissenschaft der humanitäre Fortschritt nicht alle Menschen einbeziehen kann, ist nicht leicht zu beantworten. Wenn alle Menschen die Lebensbedingungen der USA haben sollen, bietet die Erde nur vier bis fünf Milliarden Menschen Platz. Bei einem genügsamen Standard wie in Teilen Afrikas und Asiens wären es allerdings 30 Milliarden. Die Wahrheit liegt sicherlich irgendwo zwischen diesen Extremwerten. Zum gegenwärtigen Stand: Um die wichtigsten Bedürfnisse der Bevölkerung in den Entwicklungsländern zu befriedigen - Nahrung, Trinkwasser, Sanitäranlagen, Gesundheit und Erziehung - würden ungefähr 40 Milliarden Dollar zusätzlich im Jahr benötigt. Dies entspricht 4 % des angehäuften Reichtums der 225 weltgrößten Besitztümer oder 0,007 % des jährlichen Devisenhandels von 986 Billionen DM. Ist die sogenannte Tobin-Steuer wirklich undenkbar? Eine Steuer von 0,007 % wäre ethisch vertretbar und würde wohl nicht, wie oft befürchtet, zum
4 „Gesundheitsökonomisch lässt sich die Frage, ob die Menschen in Afrika südlich der Sahara oft krank sind, weil sie arm sind, oder ob sie arm sind, weil sie häufig krank sind, schwerlich eindeutig beantworten." (Schmidt/Würthwein 2001, 33.) 5 Vgl. den Beitrag von Hans Jochen Diesfeld in diesem Band, 99-109. 6 Schirmer/Becker 1995. 7 Horst Eichler vom Geographischen Institut der Universität Heidelberg hat mir folgende Daten zur Verfügung gestellt.
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Zusammenbruch der globalen Finanzmärkte führen. Diese sogenannte Tobin-Steuer zugunsten des Fortschritts für alle 8 könnte viele Probleme lösen. Auf die Rechtfertigung einer Luxus-Abgabe wie im Ancien Regime als Anerkennung fur die Wissenschaft, die den Lifestyle der wohlhabenden Minorität, der Happy Few, erst in diesem Ausmaß und dieser Form ermöglichen, komme ich noch zu sprechen. Am ehesten aber darf man auf die 4 % Jahreszinsen der 225 größten Vermögen hoffen. Es ist eine ehrwürdige Tradition der wirklich Vermögenden, mit einem Teil ihrer Zinsen eine philanthropische Stiftung ins Leben zu rufen. Diese Stiftungen haben in der Regel Ziele, bei deren Bearbeitung ethische und wissenschaftliche Maximen untrennbar zusammengehören. Vielleicht findet man den eigentlichen Wissenschaftler und damit die eigentliche Naturwissenschaft als reine Spezies in Zukunft nur noch in den Forschungsprogrammen der Philanthropischen Stiftungen wie der Rockefeller Foundation, der VolkswagenStiftung oder dem Wellcome Trust. Denn dort ist noch Wissenschaft als Koalition von Forschung und Ethik gefordert, gewissermaßen in einer nicht-öffentlichen Nische.
5. Krankheitsbedingte Armut als Makel der Menschheit Im Jahre 1998 starben über 40.000.000 Menschen vorzeitig an Mangelernährung und an anderen heilbaren Krankheiten wie Tuberkulose, Malaria und bakteriellen Pneumonien. Die Menschen sterben, weil es sich nicht lohnt, sie am Leben zu halten. Das möchte ich am Beispiel der Malaria verdeutlichen. Diese Krankheit führt bei vielen hundert Millionen zur Armut und hält die Armen in der Armut. 9 Armut bedeutet aber in aller Regel Verlust aller Menschenrechte, des Rechts auf Gesundheit, auf adäquate Nahrung, auf Bildung und auf eine irgendwie geartete Gerechtigkeit. Um einen moralisierenden Ausdruck zu verwenden nach Roosevelt ist die Existenz der Armut die größte Schande der Welt. 10 Diese Armut wütet wie eine Seuche vor allem in der Dritten Welt, breitet sich aber auch in den USA und anderen westlichen Ländern aus. Kann die Wissenschaft etwas gegen diesen Makel der Menschheit tun? Gehört vielleicht die Bekämpfung der Armutsursachen sogar zur Aufgabe der Wissenschaft wie Adolf von Hamack, Bertold Brecht" und Sir Archibald Hill, aber auch die Deklaration von Helsinki 12 verlangen? Ist nicht gerade die Medizin gefragt - als die Wissenschaft, in der Forschung und Ethik untrennbar sind?
8 Roosevelt 1937. 9 Becker/Schirmer 1999 und Schmidt/Würthwein 2001. 10 Roosevelt 1937. 11 „Ich halte dafür, dass das einzige Ziel der Wissenschaft darin besteht, die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtem." (Brecht, Leben des Galilei) 12 World Medical Association 2001.
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6. Forschungsprioritäten im Dienste der Medizin und des Lifestyles Von der Forschungsseite geschieht relativ wenig zur Bekämpfung der Krankheiten der Armut. Nur 1 % aller neuen Medikamente, die zwischen 1975 und 1997 auf den Markt kamen, wurden spezifisch für die Krankheiten entwickelt, unter deren Last die Dritte Welt sich beugt und quält.13 In Zahlen, weniger als 10 von 1223 Präparaten! Selbstverständlich helfen auch die übrigen 1215 Medikamente, menschliches Leiden zu mindern oder einen vorzeitigen Tod zu verhindern, aber man muss schon genauer hinsehen, was ihre Indikationen betrifft. Die Forschungsprioritäten in der Medizin beziehen sich nämlich immer weniger auf die Fragen von Leiden und tödlichen Bedrohungen und zunehmend auf die Entwicklung so genannter Lifestyle- und Performance-Präparate wie Viagra, Xenical, Propecia, Vaniqa und Botox.14 Dies sind sehr teure verschreibungspflichtige Heilmittel, die die Männer eines Tages von den Geißeln der erektilen Dysfunktion, des Übergewichts und der Kahlköpfigkeit sowie die Frauen von unerwünschten Härchen oder Falten im Gesicht befreien sollen. Zu den Lifestyle-Präparaten müssen auch die Medikamente zur Bekämpfung der Leiden der companion animals, der Tierkameraden des Menschen, gezählt werden. Beispiele sind das Chlomicalm gegen Trennungsängste oder Anipryl gegen die beginnende Vergesslichkeit bei Hunden. Selbstverständlich will keiner von uns, dass Männer in irgendeiner Situation Potenzschwierigkeiten haben oder dass Frauen über 50 Krähenfüße oder Härchen im Gesicht bekommen, und niemand möchte einen vernachlässigten Hund leiden sehen, aber es ist doch symptomatisch für die Prioritäten der Medizin als Wissenschaft, wenn für Forschung und Entwicklung im Bereich Lifestyle und companion animals jeweils mehr als eine Milliarde Mark im Jahr aufgewendet wird. Im Vergleich dazu kann man die Mittel der Forschungsforderung zur Bekämpfung und Behandlung der Großen Krankheiten wie Malaria, Tuberkulose und Bronchopneumonie als quantitds negligiables vergessen.
7. Zur Verteilungsethik bei Forschungsergebnissen. Das Beispiel des Eflornithin Die Defizite der Verteilungsethik in der Wissenschaft möchte ich am Beispiel des Eflornithin illustrieren, weil es repräsentativ ist und weil ich diesen schmerzhaften und noch sehr aktuellen Konflikt unmittelbar miterlebt habe.15 Im Jahre 1990 kündigte der Pharmakonzern Marion-Merrel-Dow an, dass er Eflornithin (DFMO) als Medikament produzieren werde.
13 Silverstein 1999. 14 Ebd. sowie Stich/Firmenich 2001. 15 Schirmer/Becker 1995 und Stich/Firmenich 2001.
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Dies war das erste neue Mittel gegen die Afrikanische Schlafkrankheit (ASS) seit vierzig Jahren! Die Bezeichnung Schlafkrankheit ist übrigens verharmlosend und verniedlichend, es handelt sich um eine entsetzliche Krankheit des Zentralnervensystems, die mit Sicherheit tödlich verläuft, wenn sie nicht behandelt wird. 16 Namensgebend war der Koma-ähnliche Zustand, in dem die Kranken verdursten und verhungern, wenn sie nicht bis zu ihrem Tode hingebungsvoll von ihren Familien gepflegt werden. Die WHO feierte Eflornithin als Auferstehungs-Medikament, als „Resurrection Drug". 17 Seit Lazarus, so hieß es in einem bewegenden Bericht aus einem Missionskrankenhaus, habe man keine so dramatische Wirkung bei todgeweihten Patienten gesehen. Das Handicap des Medikaments ist sein hoher Preis die Behandlung mit Eflornithin kostete 1990 zwischen 500 und 1000 Mark. Etwa zwei Jahre später kündigte der Konzern an, dass die Produktion von Eflornithin eingestellt werde. Unsere Arbeitsgruppe in Heidelberg beschloss daraufhin, wissenschaftsethisch und moralisch tätig zu werden. Die Legitimation war, dass wir eine Begründung für die besondere Wirksamkeit von Eflornithin gerade gegen die Schlafkrankheit beigetragen hatten: Eflornithin greift in den Trypanothion-Stoffwechsel ein, der bei den Erregern der Schlafkrankheit, nicht aber beim Menschen vorkommt. 18 Bei unserer weltweiten Suche nach Ansprechpartnern wurde Katja Becker, damals Mitglied meiner Arbeitsgruppe, im Bonner Ministerium fiir Wirtschaftliche Zusammenarbeit fundig, und wir entwarfen folgenden Brief:
7. März 1992 Ist Eflornithin, das neue Medikament gegen die Afrikanische Schlafkrankheit, ein wirkliches Dilemma? TDR-NEWS „Drug effective but too costly" (Anlage) Sehr geehrter Herr Minister Spranger! Im Interesse der Betroffenen bitte ich Sie dringend, sich eines aktuellen Problems anzunehmen. Der Sachverhalt ist folgender: Die gefluchtete Afrikanische Schlafkrankheit ist zur Zeit nicht besonders weit verbreitet und es scheint zum erstenmal die Möglichkeit zu bestehen, das erwartete Aufflammen dieser Tropenkrankheit zu verhindern. Mit weltweiten Anstrengungen und einem Aufwand von mindestens 100 Millionen Dollar wurde in den letzten Jahren das erste wirksame und gut verträgliche Mittel (Eflornithin) gegen die Schlafkrankheit entwickelt und (seit 1990) in Afrika erfolgreich eingesetzt. 19
16 Stich/Firmenich 2001, Zorn/Strohmeyer 2001, Godal 1992, Krauth-Siegel/Schirmer 1989 sowie Pschyrembel 2002. 17 Stich/Firmenich 2001. 18 Krauth-Siegel/Schirmer 1989. 19 Krauth-Siegel/Schirmer 1989.
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Wie in den TDR-News WHO dargestellt, soll dieses lang ersehnte Mittel wieder aus dem Handel gezogen werden, da es für die Betroffenen zu teuer ist. Für Forscher und Ärzte, die auf dem Gebiet der parasitären Tropenkrankheiten tätig sind, ist dieser Sachverhalt ebenso unverständlich wie deprimierend. Das Desinteresse an den Krankheiten der Dritten Welt fällt zeitlich mit dem Ende der sogenannten Stellvertreterkriege zusammen. Vorher wurden, auch zum Schutz der Soldaten aus den Industrienationen, Maßnahmen zur Bekämpfung und Erforschung der Tropenkrankheiten intensiv gefordert. Ihrem Ressort, Herr Minister, möchte ich im Sinne einer humanitären und zugleich extrem kostengünstigen Hilfe zur Selbsthilfe den Vorschlag unterbreiten, die Produktion von Eflornithin mit etwa 1,5 Millionen Dollar pro Jahr zu finanzieren und das Medikament den sonst hoffnungslos Kranken zur Verfügung zu stellen. Die Erwartung der WHO, Argentinien oder Indien könnten die Produktion von Eflomithin übernehmen, halte ich für illusorisch. Diese Länder sind nicht von der Schlafkrankheit betroffen und ohnehin mit eigenen Programmen überlastet. Für eine rasche hilfreiche Stellungnahme wäre ich Ihnen sehr dankbar. Mit vorzüglicher Hochachtung und freundlichen Grüßen R. Heiner Schirmer, Dekan der Fakultät für Naturwissenschaftliche Medizin, Universität Heidelberg
Hier drohte offenbar eine einmalige Leistung der Wissenschaft verloren zu gehen und die greifbare Möglichkeit verspielt zu werden, nach den Pocken eine weitere Große Krankheit der Menschheit auszurotten. Die ASS war natürlichen Rhythmen folgend - aber auch auf Grund der energischen Bekämpfungsmaßnahmen früherer Jahrzehnte- seit 1960 in einem historischen Tief ihrer Verbreitung und Aggressivität, breitete sich aber schon wieder zusehends aus. Mit dem neuen Medikament bot sich aus unserer damaligen Sicht die Chance, ein großes Problem der Menschheit mit wissenschaftlichen und logistischen Methoden zu lösen. Ein weiteres Motiv war die moralische Verpflichtung der Wissenschaftler, auch fur die Wirkung und Wirksamkeit ihrer Ergebnisse verantwortlich zu sein. In diesem Fall ging es um etwas eindeutig Positives; es ging darum, dass das wissenschaftliche Ergebnis, der Wirkstoff Eflomithin, auch dort eingesetzt werden musste, wo er eine medizinische Notwendigkeit war, eine Not wenden konnte. Zum erstenmal seit 1968 hatte ich wieder das Gefühl, dass Ethik nicht etwas Verbietendes, Passives, Lähmendes ist, sondern befreiend und bereichernd zu aktivem Handeln beflügelt- dies war die positive, die optimistischoffensive Moral der Wissenschaft, die Α. V. Hill20 meinte! Die Initiative kam aus bürokratischen ministeriellen Gründen nur langsam voran. Schließlich nach mehr als einem Jahr bot das Ministerium der WHO ein Außenhandelsgesetz-gestütztes Finanzierungsmodell für Eflomithin mit Vorfinanzierung durch die Gesundheitsposten in Afrika an, das wirklichkeitsfremd war und deshalb von der WHO und dem
20 Vgl. Anm. 2.
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Hersteller von Eflomithin kaum wahrgenommen wurde. Im Jahre 1999 wurden die letzten 10.000 Ampullen Eflomithin hergestellt, obwohl inzwischen auch die internationale Hilfsorganisation Medecins Sans Frontieres (MSF, Ärzte ohne Grenzen) den fairen Zugang zu Medikamenten gegen die Großen Infektionskrankheiten thematisierte.21 Wie mir ein Kollege vor einem Jahr aus Uganda schrieb, konnte man nur noch auf ein Wunder hoffen. In Angola, im Sudan und in Uganda war eine verzweifelte Situation entstanden.22 Der Markt, der Gesundheitsmarkt kann nicht alle Probleme lösen. Für mehr als eine Milliarde Menschen ist es schlimm, am Markt nicht teilnehmen zu können. Wer nicht zahlen kann, der stirbt, könnte eine Devise der Globalisierungsbewegung lauten, die wie die meisten erfolgreichen Bewegungen der Weltgeschichte oft eine ethikferne Herrenmoral zeigt.23 Lebensunwertes Leben in unserer Zeit ist, wenn der Träger dieses Lebens nicht die 300 Dollar fur das Eflomithin gegen die ASS oder nicht die eine Mark für das Chloroquin aufbringen kann, um sein malariakrankes Kind zu retten. Die Selektion der Armen zum Sterben - gibt es eigentlich ein Wort fur dieses kollektive Kapitalverbrechen unserer Gegenwart?
8. Ein modernes Märchen: Das entrückte Medikament wird zum Lifestyle-Kosmeticum Dann kündigte sich ein Wunder an; denn unbemerkt von der Fachwelt und den ASSExperten war eine neue Produktionsstätte fur Eflomithin aufgebaut worden. Ende 2000 überraschte der Pharmakonzern Bristol-Myers-Squibb mit dieser Neuigkeit. Zusammen mit dem Rasur-Riesen Gillette war das verschreibungspflichtige Kosmetikum VaniqaR als Gesichts-Enthaarungscreme für Frauen entwickelt worden. Vaniqa ist 13,9-prozentiges Eflornithin.24 Wie häufig bei potentiellen Rennern des Lifestyle-Marktes - man denke nur an Viagra! - durchlief das Präparat noch im Jahre 2000 das sonst zeitlich aufwendige Genehmigungsverfahren der amerikanischen Food-and-Drug-Administration (FDA) und die Zulassung durch die europäischen Gesundheitsbehörden steht unmittelbar bevor. Die wunderschönen aber auch grellen Werbespots für VaniqaR legen nahe, dass sich das Advertising in vielfacher Millionenhöhe lohnt. Allein in Amerika rechnet man mit 20 Millionen Patientinnen, die bereit sind, mehr als 50 Dollar Behandlungskosten pro Monat zu zahlen. Die rasche Einführung von Vaniqa ist übrigens auch darauf zurückzufuhren, dass im Rahmen der ASS-Forschung das Medikament intensiv auf seine Sicherheit und unerwünschte Nebenwirkungen geprüft worden ist. Die Einsparung all dieser Kosten in Höhe von min-
21 Stich/Firmenich (2001). 22 Ebd. 23 Grill 2001. 24 Hickman/Huber/Palmisano 2001.
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destens 100 Millionen Dollar sollte eine moralische Verpflichtung gegenüber den Wissenschaftlern, Ärzten und Patienten sein, die an diesen Studien beteiligt waren. Bisher hat der Konzern etwa 15 Millionen Mark für die Behandlung der ASS und wissenschaftliches Know-how in Aussicht gestellt.25 Auch ohne Moralist zu sein, muss man trotzdem feststellen, dass die ethisch begründete Forschung zur Therapie der ASS letztlich den rasanten Aufstieg eines Lifestyle-Produkts mit einem Milliardenmarkt geführt hat. Unter diesem Aspekt sind 15 Millionen für die eigentliche Zielgruppe, die todkranken Schlafkranken, nicht mehr als eine großzügige Geste - aber die Großzügigkeit ist oft der Beginn der Gerechtigkeit.
9. Zum Shareholder Value 2000. Immer mehr Aktionäre verlangen ethische Werte und ethische Präparate Es geht weiter. Im Mai 2001 nahm die Konkurrenz (Aventis, die gegenwärtige Eignerin von Marion-Merrel-Dow) wieder die Eflornithin-Produktion gegen die Schlafkrankheit auf, so dass die klinische Anwendung, aber auch die wissenschaftliche Bearbeitung dieses Wirkstoffs in Afrika wieder möglich wird.26 Es gibt sicher mehrere Gründe für dieses aus medizinischer und ethischer Sicht gute Zeichen. Der Druck durch WHO und Ärzte ohne Grenzen mag eine katalytische Rolle gespielt haben, die Perspektive, Eflornithin auch als EdelKosmetikum für einen Großgewinn-bringenden Markt herzustellen, war vielleicht ebenfalls ein Motiv.27 Zum anderen bestehen immer mehr Aktionäre vieler Pharma-Riesen immer nachdrücklicher darauf, dass ihr Konzern nicht nur durch schillernde Produktpaletten oder dunkle Schatten der Vergangenheit bekannt wird, sondern sich auch mit ethisch hochwertigen Leistungen, vielleicht sogar mit ethischen Präparaten, auszeichnen sollte. Ethische Präparate sind solche, die kein Geld einbringen, aber eine Notwendigkeit zur Bekämpfung der Krankheiten der Armut darstellen. Die Industrieforschung an ethischen Präparaten wurde zwischen 1990 und 2000 weltweit fast vollständig eingestellt. Einer der Mechanismen war, dass bei den großen Fusionen in der pharmazeutischen Industrie fast jedes Mal die Forschungs- und Produktionsabteilungen für ethische Präparate der Synergie zum Opfer fielen - eher unabsichtlich und unauffällig, aber sehr regelmäßig. Die Erklärung eines Forschungsleiters - die Rest-Ethik wurde weltweit einfach unbezahlbar - halte ich für maßlos übertrieben. Aber der mehr oder weniger bewusste Wunsch nach Entsorgung der Rest-Ethik oder der Moralreste scheint dem modernen Wissenschaftsbetrieb immanent zu sein. Nun gibt es ja auch positive Zeichen. Wie das Beispiel des Eflornithin zeigt, stehen 2001 die ethischen Präparate und damit vielleicht auch die wissenschaftliche Ethik vor einem
25 Zorn/Strohmeyer 2001. 26 Aventis Pharma: Press Release May 3, 2001, Aventis Pharma AG, 65926 Frankfurt, Deutschland. 27 Stich/Firmenich 2001 und Hickman/Huber/Palmisano 2001.
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Comeback und dürfen einen Aufschwung erwarten.28 Hoffentlich ist unser Optimismus berechtigt. Wenn hingegen längerfristig die Substanz nur als Kosmetikum, aber nicht gegen die tödliche Schlafkrankheit zur Verfugung steht, dann haben die Skeptiker recht, wenn sie auch für diesen Fall feststellen: Die Wissenschaft des 20. Jahrhunderts war maßgeblich daran beteiligt, die Ökonomie des Tötens zu perfektionieren, das 21. Jahrhundert drohtnoch umfassender - die Ökonomie des Sterbenlassens zu programmieren. Geblieben ist fur mich als Forscher die Erkenntnis, dass bei der Entwicklung von Medikamenten gegen die Krankheiten der Armut das wichtigste Kriterium der erschwingliche Preis des Wirkstoffs ist. Denn sonst sind Wissenschaft und Medizin zu unterlassener Hilfeleistung verurteilt und dem Wohlwollen von Mächten ausgeliefert, deren Stärke nicht gerade oder vielmehr gerade nicht auf der Ethik beruht. Mögliche medizinische Hilfe zu versagen, ist aber einer der schwersten Verstöße gegen die Hippokratische Medizin.
10. Wissenschaftsethische Aktivitäten gelten als Indiz für beginnenden Leistungsabfall und Senilität des Forschers Noch kurz zu unser eigenen Eflornithin-Geschichte. Bemerkenswert war die Haltung der scientific community. Kollegen und auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft wünschten im Jahre 1992 unserer moralischen Initiative Glück und sagten kollaterale Unterstützung zu, aber ich hatte ein ungutes Gefühl und habe deshalb auch die Korrespondenz offiziell alleine und ohne die eigentlichen Expertinnen Luise Krauth-Siegel und Katja Becker29 geführt. 1995 war tatsächlich alles vergessen. Bei einer Begutachtung hieß es, ich hätte offenbar versäumt, in den Jahren 1993 und 1994 in hochkarätigen Zeitschriften zu veröffentlichen und kompetitiv Forschungsgelder einzuwerben. Die 1,5 Millionen Dollar pro Jahr zählten natürlich nicht, weil sie weder kompetitiv eingeworben noch für die eigene Forschung beantragt seien. Einzelnen Persönlichkeiten wie Dr. Walther Klofat von der DFG und Professor Dr. Ernst Rietschel, Forschungszentrum Borstel, verdanke ich die so genannte Rehabilitation in meiner wissenschaftlichen Umgebung. Ich bin aber ziemlich sicher, dass jüngere Wissenschaftler sich wissenschaftsethische Eskapaden nicht leisten dürfen, ohne einen schweren Einbruch ihrer Laufbahn als Forscher zu riskieren. Wie Α. V. Hill sogar für eine Zeit moralischer Hochkonjunktur schreibt, werden ethisch begründete Aktivitäten eines Forschers oft als alters- oder drogenbedingter Ausstieg aus der echten Wissenschaft gewertet.30 Ethisch begründete Schwerpunkte in Forschungsanträgen werden zudem besonders kritisch betrach-
28 Stich/Firmenich 2001 sowie Aventis Pharma 2001 (wie Anm. 25). 29 Becker/Schirmer 1999, Krauth-Siegel/Schirmer 1989 und Krauth-Siegel/Coombs 1999. 30 Vgl. Anm. 2.
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tet; sie sind oft teuer, konzeptionell und zeitlich diffus und wenig absehbar erfolgversprechend, eben etwas, wo man als Forschungsförderer nicht investiert. Der modernen akademischen Wissenschaft entwachsen Technologieparks wie die Pilze - aber haben Sie schon einmal einen Ethikpark gesehen?
11. Was ist zu tun? Gemäß dem Prinzip Ethische Probleme erfordern in der Regel keine weiteren theoretischen Analysen, sondern moralisches Handeln (Marion Gräfin Dönhoff) habe ich praktische Vorschläge zu machen. Man sollte so bald wie möglich erwägen - und dies ist mein erster Vorschlag - , den Anspruch auf Einheit der Wissenschaft und der scientific community aufzugeben. Nur so lässt sich die Unsicherheit aufheben, die meines Erachtens zu einer immer stärker werdenden Verteilungs-Ungerechtigkeit von Forschungsförderung und Forschungsergebnissen fuhrt. Ich plädiere für eine offizielle Trennung der Wissenschaften in die zwei Kategorien, die eigentlich schon Realität sind. 1. Es sollte sich eine ethikferne oder ethikfreie Forschung definieren, die keine berufsspezifischen ethischen Imperative wie den Hippokratischen Eid hat. Auf die biomedizinische Forschung bezogen, wäre dies die Eliten-Forschung im Auftrag und zugunsten jener wohlhabenden Minoritäten, die sich vieles oder sogar alles leisten können, was Forschung und Technik und exotische Alternativmedizin auf den Gesundheitsmarkt und den LifestyleMarkt bringen können. Auf die Militärforschung bezogen, wäre es die Entwicklung von immer raffinierteren und verspielteren Waffensystemen. Wir vergessen oft, dass auch heute noch ein großer Teil der Wissenschaftler im oder für den militärischen Bereich tätig ist. 2.
Die ethiknahe Wissenschaft wäre die herkömmliche Forschung im Dienste der menschlichen Solidargemeinschaft oder der reinen Erkenntnis, also jene Wissenschaft, in der Forschung und Ethik eine untrennbare Einheit bilden.31 Betont sei, dass es auch im Rahmen der Militärforschung ethiknahe Bereiche gibt.
Diese transparente Klassen-Wissenschaft mit durchlässigen Grenzen kann eine Rückkehr der Medizin zu ethischen Standards mit globaler Gültigkeit im Sinne einer positiven Moralität ermöglichen. Wenn dies der Medizin in ärztlicher Praxis, in Lehre und Forschung überzeugend gelingt, dann werden die anderen Naturwissenschaften folgen. Wichtig dabei ist die Prioritätensetzung in der Forschungsförderung und der gerechten Verteilung und Anwendung der Forschungsergebnisse. Durch dynamischen und fortschreitenden Konsens wird dann eine Form des Hippokratischen Eides oder der Deklaration von Helsinki entstehen, die für alle Naturwissenschaften gelten kann. 31 Hill 1946, Bauer 2001 und Koski/Nightingale 2001, 138: „Our greatest challenge is to realize and fully accept that in all research involving human subjects, ethics and science are not separable a given study must conform to ethical standards or it should not be performed, and it must be scientifically sound or it cannot be ethical."
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Selbstverständlich liegt mir an der Stärkung der ethiknahen Forschung. Was könnten die Universitäten beitragen? Die akademische Ausbildung zum Wissenschaftler muss die Einheit von Ethik und Forschung in der Wissenschaft stärker betonen. Noch zur Zeit meines Studiums waren hippokratisch-ethische Maximen die selbstverständlichen stummen Zeugen in den Lehrveranstaltungen und Prüfungen. Die Physiker und andere naturwissenschaftliche Bereiche hatten das Philosophikum. In der Wissenschaft, vor allem in der Medizin, sollte die Ethik auch dadurch die ihr zustehende Bedeutung bekommen, dass sie prüfungsrelevant wird. Zur Zeit ist es möglich, glänzende Staatsexamina zu machen, ohne irgendeinen Bereich der medizinischen Ethik zu kennen geschweige denn zu beherrschen. Dies ist in den anderen Naturwissenschaften nicht anders. Sollte es nicht möglich sein, dass in einer Prüfung zu einer wissenschaftlichen Frage die fehlende Berücksichtigung ethischer Aspekte oder die überzeugende Darstellung der ethischen Implikationen bei der Benotung Eingang finden? Schließen möchte ich mit einem Zitat von Franklin D. Roosevelt über den Fortschritt, das auch für den wissenschaftlichen Fortschritt gilt: „The test for our progress is not what we can add to the affluence of those who have much, the test is how much we can supply for those who have too little of everything."32
Dieser Satz ist ebenso eindeutig wie faszinierend. Hier steht ein moralpolitisches Postulat, das zur Realisierung der Wissenschaft bedarf. Daraus folgt fur die Wechselwirkung von Ethik und Wissenschaft ein zum Thema dieses Tagungsbandes komplementärer Aspekt: Wie viel Wissenschaft braucht die Ethik, um moralisch wirken zu können?
Literaturverzeichnis Bauer, Α.: Fast 2400 Jahre alt und noch immer im Gespräch: Der Hippokratische
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1992, 1-2. Grill, B.: Wer nicht zahlen kann, stirbt. Pharmariesen verklagen Südafrika, in: Die Zeit 14 (2001), 2930. Hickman, J. G./F. Huber/M. Palmisano: Human dermal safety studies with eflornithine-HCl
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32 Roosevelt 1937.
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Krauth-Siegel, R. L./R. H. Schirmer: Redoxprozesse bei Malaria und Trypanosomiasis als Ansatzpunkte för die Chemotherapie, in: Nachrichten aus Chemie, Technik und Labor 3 (1989) 7, 10261034. [Vgl. auch FASEB Journal 9 (1995), 1138-1146 sowie Angewandte Chemie 107 (1995), 153-166.] Krauth-Siegel, R. L./G. H. Coombs: Enzymes of the parasite thiol metabolism as drug targets, in: Parasitology Today 15 (1999), 404-409. Pschyrembel, W.: Klinisches Wörterbuch, Berlin, 259. Aufl. 2002. Roosevelt, F. D.: Inauguration Speech as the President of the United States of America, Washington DC 1937. Schmidt, C. M./R. Würthwein: Arm und krank - reich und gesund?, in: Ruperto Carola (1) 2001, 3237. Silverstein, K.: Millions for Viagra, pennies for diseases of the poor. Research money goes to profitable lifestyle drugs, in: The Nation vom 19. Juli 1999,14-19. Schirmer, R. H./K. Becker: Zur Rolle der Biochemie für den praktischen Arzt - Bereicherung oder Ablenkung vom Wesentlichen?, in: Theorie der Medizin, hrsg. von A. Bauer, Leipzig 1995, 34-45. Stich, A./A. Firmenich: Afrikanische Schlafkrankheit. Die Karriere eines Medikaments, in: Deutsches Ärzteblatt 98 (2001), 1735-1738. World Medical Association (2001): Declaration of Helsinki. Ethical Principles for Medical Research Involving Human Subjects, in: Bulletin of the World Health Organization 79 (2001), 373-376. Zorn F./T. Strohmeyer: Reply to Sticher und Firmenich: Fakten zu Eflornithin, in: Deutsches Ärzteblatt 98 (2001), 1998.
Cornelius Borck
Was lehrt das Beispiel der Schlafkrankheit über die Ethik der Wissenschaft und die Moral der Welt?* Die Cambridge World History of Human Disease lässt gleich zu Beginn des Artikels über die Schlafkrankheit keinen Raum für Zweifel an den Thesen von Heiner Schirmer und bestätigt in ungewöhnlich harschen Worten das Menetekel einer verheerenden Verquickung von Armut, Krankheit und Verdrängung: „The chemotherapy to combat trypanosomiasis has remained archaic, with no significant advances made and, indeed, very little research done between the 1930s and the 1980s. Most of the victims are poor, rural Africans, which has meant that there is little or no economic incentive for pharmaceutical firms to devote research resources to the disease."1
Gerade in Zeiten, in denen die großen Debatten auf einige wenige Themen zusammenschnurren, wo es so scheint, als ginge es weltpolitisch nur noch um die Frage der Bekämpfung des Terrorismus und wissenschaftspolitisch ausschließlich um die Frage einer ethischen Zulässigkeit der Forschung an embryonalen Stammzellen, ist die Erinnerung an eigentlich längst bekannte, aber immer noch nicht angemessen wahrgenommene, geschweige denn adäquat bewältigte, Probleme von entscheidender Wichtigkeit. In ebenso klaren wie eindringlichen Worten erinnert Heiner Schirmer daran, dass eine globale Perspektive in Wissenschaft und Politik eben nicht nur heißen darf, so komplexe Probleme wie die weltweite Klimaveränderung oder die Folgen der Globalisierung zu diskutieren, sondern vor allem dazu führen muss, endlich eine Vielzahl drängender und obendrein einfach und zielstrebig zu bewältigender Probleme in Angriff zu nehmen, von denen die angemessene Behandlung der Schlafkrankheit nur ein Beispiel ist. Die Argumentationen und Winkelzüge, mit denen einige pharmazeutische Unternehmen die Herstellung dringend benötigter Medikamente blockieren, sind schlicht beschämend. Natürlich sind diese Unternehmen keine Wohlfahrtsinstitutionen, aber offenbar haben sie genügend Macht, wohlmeinende Initiativen sogar dann noch zu behindern, wenn ihnen nicht einmal ein finanzielles Risiko abverlangt wird. Noch bestürzender als diese Vorkommnisse ist allenfalls, wie wenig die Medien darüber berichten. Wann war - einmal abgesehen von
* Kommentar zu dem Beitrag von Heiner Schirmer: Moral und Verteilungsethik des Fortschritts. 1 Lyons 1993, 552.
medizinischen
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aktuellen Zahlen zur Prävalenz von HIV-Infektionen- zuletzt etwas über medizinische Probleme so genannter Entwicklungsländer zu hören? Wo ist von den gegenwärtigen Lebensbedingungen der übergroßen Mehrheit aller Menschen auf dieser Erde zu lesen? Wo sind die Foren, auf denen ihre Themen überhaupt zur Sprache kommen und von ihnen Notiz genommen wird? - Insbesondere Afrika und seine Probleme sind von der Weltkarte politischer Debatten beinahe vollständig verschwunden. Nahezu unbemerkt von der Weltöffentlichkeit ist ein ganzer Kontinent ins Abseits geraten. Heiner Schirmer hat nun gleich eine Palette an Ideen vorgebracht, was zu tun wäre, um vor allem die benötigten Finanzmittel zu akquirieren, mit denen sich weltweit eine bessere medizinische Versorgung aufbauen ließe - und damit eine gerechtere Teilhabe am wissenschaftlich-technischen Fortschritt. Die Sozialverpflichtung des Eigentums, der Gedanke, dass Eigentum und Vermögen nicht nur die Aufgabe habe, sich selbst zu vermehren, sondern auch im Sinne des Gemeinwohls wirksam werden müsse, steht zwar in unserem Grundgesetz,2 aber überhaupt daran zu erinnern, erscheint heute angesichts forcierter Debatten über erforderliche Steuersenkungen fast als ein Sakrileg. Heiner Schirmer fordert eine das wissenschaftliche Handeln leitende moralische Orientierung, eine „positive, aktive Moralität", weil nur so der wissenschaftliche Erkenntnisfortschritt tatsächlich auch zu einem Fortschritt der Menschheit führen könne. Charles Percy Snow hat denselben Gedanken 1960, also ein Jahr nach seinen berühmten Reed-Lectures über die zwei Kulturen,3 zum provokanten Titel eines Vortrags vor der American Association for the Advancement of Science gemacht. Er sprach dort über „The Moral Un-Neutrality of Science". Snow sah im Erkenntnisideal das gemeinsame Band aller Wissenschaften und lokalisierte im Willen zum Wissen eine den Wissenschaften inhärente moralische Orientierung: „There is a built-in moral component right in the core of the scientific activity itself. The desire to find the truth is itself a moral impulse, or at least contains a moral impulse."4
Snow sah deswegen keinen Bedarf für eine Steuerung oder Reglementierung von Wissenschaft, sondern fur Aufklärung über ihre genuin moralische Nicht-Neutralität: Echte Wissenschaft geschehe im Bewusstsein ihrer moralischen Prinzipien und führe deswegen zum Fortschritt: „Scientists know, and again with the certainty of scientific knowledge, that we possess every scientific fact we need to transform the physical life of half of the world. And transform it within the span of peoples now living. I mean, we have all the resources to help half the world
2 Grundgesetz fur die Bundesrepublik Deutschland, Artikel 14, Absatz 2: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen." 3 Snow 1959, deutsch zuerst als: Die zwei Kulturen: literarische und naturwissenschaftliche genz, Stuttgart 1967. 4 Snow 1981, 184, zuerst abgedruckt 1971 in Public Affairs.
Intelli-
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live as long as we do and eat enough . . . I cannot prove it, but I believe that, simply because scientists cannot escape their own knowledge, they won't be able to avoid showing themselves disposed to good."5
Heute wissen wir, dass der sogenannte wissenschaftlich-technische Fortschritt zwar in der Tat die Lebensbedingungen weltweit dramatisch verändert, aber mitnichten auch nur zu einer ausreichenden Versorgung mit Lebensmitteln geführt hat. Snows Thesen, die ja immerhin im Kalten Krieg und angesichts der Bedrohung durch die Atombombe geschrieben wurden, wirken mindestens in der Rückschau sentimental und naiv. Heiner Schirmer teilt durchaus, so scheint mir, Snows Anliegen einer moralischen Wissenschaft, aber nicht dessen Naivität. Schirmer hält eine Ethisierung der Wissenschaft gerade deswegen für nötig, weil sie von allein eben nicht zum Fortschritt der Menschheit fuhrt, wenigstens nicht in ihrer gegenwärtigen Allianz mit der Ökonomie. Deshalb brauche Wissenschaft leitende moralische Prinzipien. Das Modell dafür liefert ihm die Medizin, die nicht nur die älteste Wissenschaft sei, sondern schon seit der Antike ihr Handeln durch den Hippokratischen Eid moralisch eingegrenzt habe. Gerade dieses Modell stehe heute aber in Gefahr, moralisch ausgehöhlt zu werden, weil ökonomische Gesichtspunkte seine verbindliche Anwendung immer stärker unterliefen. Dass hier die Gefahr einer weiteren Verschärfung der Zwei-Klassen-Medizin besteht, wird kaum einer bestreiten. Ein Blick auf die Vereinigten Staaten zeigt, dass dies nicht nur ein Problem der Länder der Dritten Welt ist. Und gerade gegenwärtig bestimmen ähnliche Fragen auch die Diskussionen um die Zukunft des deutschen Gesundheitssystems. Dabei trägt der vermeintlich so positive medizinische Fortschritt selbstverständlich massiv zur Verschärfung des Problems bei, weil durch ihn die medizinische Versorgung immer perfekter, teurer und erstrebenswerter wird. Welche Standards - allein hier in Deutschland zukünftig hinsichtlich einer allgemein zu gewährleistenden medizinischen Versorgung gelten sollen, ist ein erst in Umrissen erkennbares, ebenso politisches wie ethisches Problem. Nur soviel ist schon jetzt abzusehen, dass der Hippokratische Eid hierzu keine ausreichende Anleitung liefert, weil es um politische Aushandlungsprozesse darüber geht, wo die Grenze zwischen medizinischem Standard und medizinischem Luxus verlaufen soll. Das Beispiel verdeutlicht zugleich, dass es dabei gar nicht um Fragen der Steuerung von Wissenschaft geht. Medizin ist zwar auch Wissenschaft, aber zum Glück ist medizinische Praxis nur höchst selten experimentell und trotzdem noch lange nicht unwissenschaftlich.6 Wissenschaftliche Forschung greift zwar permanent in medizinische Praxis ein; aber medizinische
5 Ebd., 188. 6 Mir geht es hier nicht etwa um den alten Streit, ob Medizin Wissenschaft oder Kunst sei; eine der produktiven Stärken der neueren Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsphilosophie liegt vielmehr gerade in der Überwindung solcher starren und monolithischen Dichotomien zugunsten komplexer Modelle heterogener wissenschaftlicher Praktiken, vgl. für die Medizin: Warner 1996.
Was lehrt das Beispiel der Schlafkrankheit?
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Praxis ist deswegen noch lange kein Modellfall von Wissenschaft, denn sie ist erfreulicherweise nur selten Forschung. Am Beispiel der Schlafkrankheit und ihrer Geschichte lassen sich noch einige weitere Beobachtungen zur Komplexität des Verhältnisses von Medizin, Wissenschaft, Politik und Ethik anstellen. Ganz im Gegensatz zur gegenwärtigen Verdrängung der Schlafkrankheit als akutem medizinischen Problem stand sie vor circa hundert Jahren im Zentrum der wissenschaftlichen und politischen Aufmerksamkeit im Zuge einer effizienten Einbeziehung der Kolonien in die Wirtschaftsstrukturen der europäischen Großmächte.7 Die Schlafkrankheit war ein wichtiger Wirtschaftsfaktor und eine konkrete Gefahr für die Kolonisatoren; besseres Wissen um diese Krankheit war deshalb von großer Bedeutung. In England, Frankreich und Deutschland wurden eigene Institute zur Erforschung der Tropenkrankheiten aufgebaut, was umgekehrt neue Karrierechancen fur eine Generation junger Mediziner bedeutete. Nicht erst heute, sondern auch vor hundert Jahren war Wissen eng verzahnt mit Politik und Ökonomie, das wenigstens lehrt dieses Beispiel.8 Reine Erkenntnis ist ein Phantasma - das ist eine immer wieder bestätigte Einsicht neuerer wissenschaftshistorischer und wissenschaftssoziologischer Arbeiten.9 Wissen entsteht in lokalen epistemischen, sozialen und historischen Kontexten, die seine konkrete Gestalt prägen. Und noch mehr lehrt das Beispiel: Die Kontrolle der Schlafkrankheit wiederum war mit ihren strengen Umsiedlungs- und Assanierungsprogrammen unauflöslich verschränkt mit dem Ausbau kolonialer Machtstrukturen, nachdem zuvor oft gerade die Kolonisierung zu neuen Epidemien geführt hatte.10 Das heißt, Wissen um die Schlafkrankheit war Herrschaftswissen, das auch da, wo es mit den moralisch besten Intentionen praktisch umgesetzt wurde, in den Dienst des Machterhalts trat. Eine Ethik der Krankheitsbekämpfung im Verbund mit dem medizinischen Wissen, was dafür zu tun sei, garantieren allein eben noch keinen humanitären Fortschritt. Ein weiteres, sehr viel jüngeres Detail aus der Geschichte der Erforschung der Schlafkrankheit weist noch auf andere als ökonomische Wissensdynamiken hin. Der im Zuge der Ablösung kolonialer Regimes nachlassende ökonomische Druck, die Schlafkrankheit zu beherrschen, führte tatsächlich zunächst auch zu einem Nachlassen der Erforschung ihrer Bekämpfung. Aber seit den 1980er Jahren traten die Trypanosomen (die Parasiten, die die Schlafkrankheit verursachen) aus ganz anderen Gründen in den Fokus einer verstärkten wissenschaftlichen Aufmerksamkeit, weil sich nämlich bei ihnen die komplexen Mechanis-
7 Zum Folgenden vgl. Lyons 1992. 8 Speziell zu Wissenschaft im kolonialen Kontext vgl. jetzt MacLeod 2000. 9 Zu den wichtigsten Arbeiten zählen: Latour/Woolgar 1979, Knorr-Cetina 1984, Shapin/Shaffer 1985, Rheinberger 2001. 10 In afrikanischer Perspektive wurde die Schlafkrankheit deshalb auch als eine „Kolonialisationskrankheit" aufgefasst, die vor allem administrative Auflagen mit sich brachte; vgl. Lyons 1993, 557-559.
Cornelius Borck
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men der Antigen-Variabilität studieren ließen.11 Paradoxerweise fehlt es immer noch an einer Etablierung adäquater therapeutischer Programme, obwohl die Trypanosomen zu den molekularbiologisch am besten charakterisierten Parasiten zählen. Bislang haben diese Forschungen vor allem zu „symbolischem Kapital" (Bourdieu) geführt, das heißt zu Publikationen in einschlägigen Zeitschriften, verbesserten Karrierechancen, neuen Forschungsoptionen, vermehrter Mittelzuweisung und wissenschaftlicher Anerkennung. Gleichwohl würde wohl kaum jemand diese Forschungen per se als unmoralisch ablehnen wollen. Nicht nur aus politisch-ökonomischen Gründen können Dinge der Natur also zu wissenschaftlich interessanten, epistemischen Objekten werden und ganze Forschungsrichtungen neu orientieren. Selbstverständlich müssen sich moderne Gesellschaften darüber verständigen, welche Formen von Forschung sie akzeptieren und finanzieren, und welche sie ablehnen wollen, ohne dass sie die Effekte dieser Forschungen dabei schon antizipieren könnten. Allein schon aufgrund der sich stetig verändernden Forschungskontexte und Forschungskulturen kann es dabei keine schnellen Antworten entlang ahistorischer und allgemeingültiger Entscheidungssätze geben. Der Hippokratische Eid bzw. die Deklaration von Helsinki spiegeln vielleicht einen common sense, welche ethischen Standards die Forschung in demokratischen Gesellschaften einhalten muss. Handlungsanweisungen, welche Forschungsrichtungen geboten und welche überflüssig oder gar abzulehnen sind, erwartet man von ihnen aber vergeblich. Solche Entscheidungen sind notwendigerweise Gegenstand politischer Aushandlungsprozesse. Wissenschaften gehorchen dem Markt und konkurrieren um knappe öffentliche Ressourcen. Das ist der real existierende Legitimationsdruck der Wissenschaften, der Interventionsmöglichkeiten in politischer, ökonomischer und ethischer Hinsicht eröffnet. Heiner Schirmers Forderung, Luxusmedizin fortan als „ethikfreie" Wissenschaft zu klassifizieren, ist in diesem Sinne eine clevere moralische Intervention auf der Agora der Wissenschaftspolitik.
Literaturverzeichnis Cross, G. Α.: African trypanosomes in the 21st century: what is their future in science and in health?, in: International Journal for Parasitology 31 (2001), 427-433. Knorr-Cetina, Karin: Die Fabrikation
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Naturwissenschaft,
Frankfurt am Main 1984. Latour, Bruno/Steve Woolgar: Laboratory
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London
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11 Rose/Mackay 2000 und Cross 2001.
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Gertrude Hirsch Hadorn
Risiken der technologischen Zivilisation als wissenschaftsethisches Problem
1. Einleitung: Handlungsbereiche der Wissenschaft Ethische Fragen stellen sich in Bezug auf Handlungen, bei denen klärungsbedürftig ist, ob sie gut sind - und zwar gut in einem ethischen Sinn. Worin dieser ethische Sinn von „gut" besteht, ist natürlich seinerseits wiederum klärungsbedürftig, doch werde ich darauf nicht eingehen. Wenn wir uns damit befassen, wie viel Ethik die Wissenschaft braucht, gilt es zunächst einmal zu festzustellen, welche Handlungen in der Wissenschaft ethisch gesehen klärungsbedürftig sind. Aufgrund der vielfaltigen Beziehungen zwischen Technik und Grundlagenforschung unterscheide ich im Folgenden nicht systematisch zwischen Wissenschaft und Technik, sondern schließe Technik ein, wenn ich von Wissenschaft spreche, und umgekehrt. Und mit „Handlungen" sind nicht nur ausgeführte Handlungen gemeint, sondern auch Unterlassungen. Es ist naheliegend, den ethischen Klärungsbedarf von Handlungen in der Wissenschaft von den sachlichen Problemkomplexen her anzugehen, in denen ethische Fragen prominent verhandelt werden - zu denken ist hier beispielsweise an die durch den Abwurf der Atombombe am Ende des Zweiten Weltkriegs ausgelöste Auseinandersetzung nicht nur unter Physikern über die Verantwortung von Wissenschaftlern oder an die gegenwärtig insbesondere auch öffentlich geführten Debatten über Risiken der Gentechnologie. Ich möchte einen anderen Weg einschlagen und von verschiedenen Handlungsbereichen der Wissenschaft ausgehen. Der Grund dafür ist, dass ich mich nicht inhaltlich mit den normativen Fragen spezifischer Risikobereiche befassen werde, sondern systematische Aspekte der Wissenschaftsethik ansprechen möchte. Im Anschluss an Kurt Bayertz unterscheide ich drei Handlungsbereiche von Wissenschaft: 1. Den Bereich der Forschung und Entwicklung, in welchem Wissenschaftler untersuchen, konstruieren, Forschungsgelder akquirieren, Wissenschaftspolitik betreiben usw., 2.
den Bereich der wirtschaftlichen Nutzung von Wissenschaft, in welchem Wissenschaftler
3.
den Bereich der Verbesserung der Gesellschaft, in welchem Wissenschaftler beispielswei-
in die Produktion von materiellen Gütern, Humanressourcen usw. eingebunden sind, und se als Experten im Prozess politischer Entscheidungsfindung aktiv sind.1 1 Bayertz verwendet eine andere Terminologie: (1) Wissenschaft und Technik als Praxis, (2) Wissenschaft und Technik als Produktivkraft und (3) Wissenschaft und Technik als soziale Autorität, siehe Bayertz 1991, 173-209.
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Dass es für die Handlungen der Wissenschaft in diesen verschiedenen Bereichen einen ethischen Klärungsbedarf gibt, ist erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem eigentlichen Thema sowohl in der Wissenschaft als auch in der Öffentlichkeit geworden. Zu Beginn der neuzeitlichen Wissenschaft stellte sich dieser Klärungsbedarf noch nicht. Zwar wird die neuzeitliche Wissenschaft von Francis Bacon in seiner 1620 erschienenen Schrift Novum Organon als eine scientia activa propagiert, doch ist der moralische Status einer Wissenschaft als Forschungshandeln fur Bacon ethisch nicht klärungsbedürftig, sondern klar. Bacon tritt in seiner wissenschaftspolitischen Schrift dafür ein, wissenschaftliche Erkenntnis durch Forschungshandeln zu gewinnen - und nicht wie im aristotelischscholastischen Wissenschaftsverständnis in kontemplativer Schau. Dies bedeutet, dass Wissen und menschliche Macht in demselben zusammenkommen - so dass berühmte Zitat im dritten Aphorismus2 - , und zwar im experimentellen Entdecken neuer Tatsachen aufgrund hypothetischer Theorien. Bacon setzt dabei voraus, dass sich Naturkausalitäten und die Regeln, denen Handlungen folgen, einander wechselweise zuordnen lassen; dass die Befolgung einer Handlungsregel zur Erkenntnis einer Naturkausalität fuhrt und dass umgekehrt aus der Erkenntnis einer Naturkausalität eine erfolgreiche Handlungsregel abgeleitet werden kann (Aphorismus 24). Nur deshalb ist dieses Wissen in Werke übersetzbar.3 Bacon hat auch bereits erkannt, dass mit dem Handlungsbereich der Wissenschaft als Forschung und Entwicklung auch die beiden anderen Handlungsbereiche für die Wissenschaft eröffnet sind, das heißt die wirtschaftliche Nutzung und die Verbesserung der Gesellschaft, und dass diese weiteren Handlungsbereiche zur Legitimation von Wissenschaft verwendet werden können. Er schreibt nämlich im Aphorismus 129: „Noch bleibt mir einiges über die Vortrefflichkeit des Zieles [d. h. mit dem neuen Organon große Fortschritte in den Lehren der Wissenschaft zu machen und zur Vermehrung der Werke beizutragen] zu sagen . . . Erstens scheint unter den menschlichen Handlungen die Einfuhrung bedeutender Erfindungen bei weitem den ersten Platz einzunehmen, so haben schon die früheren Jahrhunderte geurteilt. Man erwies nämlich den Entdeckern göttliche Ehren, denen aber, die sich in den politischen Dingen verdient machten, den Staaten- und Reichsgründern, den Gesetzgebern, den Befreiern des Vaterlandes von dauerndem Elend, denen, welche die Tyrannen veijagten und ähnlichen, zollte man nur die Ehren von Heroen. Man wird, wenn man die Sache gründlich erwägt, gewiss dieses Urteil der vergangenen Zeit gerecht finden. Denn die Wohltaten der Erfinder können dem ganzen menschlichen Geschlecht zugute kommen, die politischen hingegen nur den Menschen bestimmter Orte, auch dauern diese nur befristet, nur über wenige Menschenalter, jene hingegen für alle Zeiten. Auch vollzieht sich eine Verbesse-
2 Siehe für die folgenden Verweise Bacon 1620. 3 Die Differenzen des baconschen zum aristotelisch-scholastischen Wissenschaftsbegriff sind deshalb nicht bloß methodischer Art, das heißt die Auffassung der Induktion betreffend, sondern auch ontologischer und erkenntnistheoretischer Art. Zu dieser Thematik siehe auch die Einleitung von Wolfgang Krohn in Bacon 1620.
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rung des politischen Zustandes meistens nicht ohne Gewalt und Unordnung, aber die Erfindungen beglücken und tun wohl, ohne jemandem ein Unrecht oder ein Leid zu bereiten."
Bacons Vorstellung ist also, dass die wirtschaftliche Nutzung von Resultaten aus Forschung und Entwicklung zuverlässig und schmerzlos zur Verbesserung der Gesellschaft fuhrt, verstanden als Steigerung der Wohlfahrt aller. Wenn wir heute Bacons Vorstellung folgen wollen, dann sind Probleme der Verbesserung der Gesellschaft wie die Sicherung der Welternährung durch wirtschaftliche Nutzung von Forschungsresultaten zu lösen - in diesem Falle die Verwendung von gentechnisch veränderten Organismen in der Landwirtschaft-, was durch Fortschritte der gentechnischen Forschung und Entwicklung an Nutzpflanzen ermöglicht wird - und nicht durch politische Anstrengungen zur Umverteilung von Gütern. Für Bacon war das Handeln von Wissenschaft in diesen Bereichen ethisch nicht klärungsbedürftig, sondern klar. Dass wir heute einen ethischen Klärungsbedarf der Wissenschaft sehen, der sehr kontrovers beurteilt wird, hat mit der ihrerseits unbestrittenen Erfahrung zu tun, dass die Erfindungen nicht einfach nur beglücken und wohl tun, ohne jemandem ein Unrecht oder ein Leid zu bereiten. Bacon war beim Entwurf seiner utopischen Wissenschaftsgesellschaft Nova Atlantis nicht blind für mögliche Schäden im Gefolge der neuen Wissenschaft. Er erkannte gewisse Risiken im Bereich der Forschung und Entwicklung sowie im Bereich der wirtschaftlichen Nutzung und traf in seiner Utopie entsprechende Vorkehrungen.4 Um schlechte Forschung und ungenügendes Wissen über Prozesse, die durch die Erfindungen ausgelöst werden können, zu verhindern, sollten nur die Besten forschen und erfinden dürfen, und es sollte sichergestellt sein, dass sie mögliche Folgen von Werken vor der Nutzung hinreichend austesten. Gegen Missbrauch in der Nutzung traf er die Vorkehrung, dass in Nova Atlantis das Wissen in Forschung und Entwicklung Geheimgut einer kleinen geschlossenen Gemeinschaft von Forschenden war, die ihr Wissen nur in eigens bewilligten Ausnahmen allgemeinzugänglich machte, und dass die Nutzung nur im Rahmen einer feudalistisch geführten Planwirtschaft erfolgte. Die historische Entwicklung der technologischen Zivilisation verdankt sich nicht zuletzt der Tatsache, dass diese von Bacon vorgesehenen Vorkehrungen nicht getroffen wurden. Sie verdankt sich nämlich wesentlich der Entstehung einer kapitalistischen Wirtschaft und demokratischer Staaten, in denen wissenschaftliches Wissen ein öffentliches Gut ist. Den schon von Bacon zurecht vorhergesehenen Risiken wird auf andere Weise Rechnung getragen. Die Qualitätssicherung des Wissens erfolgt durch Standards und Kodizes der entsprechenden scientific community, und zur Verhinderung missbräuchlicher Nutzungen werden gesetzliche Mittel eingesetzt.5 Die Orientierung an wissenschaftsbasierten Lösungen zur Verbesserung der Gesellschaft - der Szientismus - ist trotz der inzwischen sehr ambivalen4 Siehe Bacon 1624, insbesondere 41 ff. 5 Das ist jedoch kein sicherer Schutz vor Missbrauch, wie die Verwendung von Technologien für gewalttätige Zwecke zeigt.
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ten Einstellung der Öffentlichkeit zur Wissenschaft auch heute eigentlich nicht ernsthaft umstritten, auch wenn sich der heutige Szientismus im Unterschied zu Bacon nicht als strenge Alternative zu politischen Anstrengungen versteht, sondern im Verein und Wechselspiel damit. Trotz dieser Vorkehrungen gilt Wissenschaft heute auch als Mitursache, und nicht nur als Definitionsmedium und Lösungsquelle von Risiken der Gesellschaft, wie Ulrich Beck konstatiert.6 Dass Wissenschaft zur Mitursache von Risiken geworden ist, ist weder einfach der Missachtung oder dem Ungenügen berufsethischer Standards und Kodizes noch dem Ungenügen oder einem Umgehen der gesetzlichen Vorschriften für die Nutzung wissenschaftlicher Resultate zuzuschreiben - obwohl auch das vorkommt. Es gibt noch ein weiteres Problem, das noch nicht im Horizont des neuzeitlichen Wissenschaftsbegriffes lag. Entsprechend hat es in der szientistischen Fortschrittsformel - dass die wirtschaftliche Nutzung von Resultaten aus Forschung und Entwicklung zuverlässig und schmerzlos zur Verbesserung der Gesellschaft führt - auch keine Beachtung gefunden. Das ist die prinzipielle Unsicherheit von Wissen über soziale und wirtschaftliche Folgen des Einsatzes von Technologien, über Veränderungen der Ökosysteme, des Klimas und so weiter. Auch die Unsicherheit des Wissens hat zur Folge, dass die wirtschaftliche Nutzung von Resultaten aus Forschung und Entwicklung nicht zuverlässig und schmerzlos zur Verbesserung der Gesellschaft fuhrt, sondern riskant ist. Meine wissenschaftsethischen Überlegungen betreffen diese Risiken. Im zweiten Teil meines Beitrags formuliere ich eine Forderung, die den Handlungsbereich von Forschung und Entwicklung angeht. Im dritten Teil befasse ich mich mit den Adressaten dieser Forderung und schließe dann mit einigen Bemerkungen zur Glaubwürdigkeit von Risikoforschung.
2. Risiken-eine Lücke in der szientistischen Fortschrittsformel mit wissenschaftsethischem Klärungsbedarf In der sozialwissenschaftlichen Risikoforschung bedeutet „Risiko" das Erzeugen und Handhaben von Unsicherheiten, um positiv bewertete Chancen wahrzunehmen, wobei immer auch Schäden möglich sind. Risiken umfassen hier die günstigen und die ungünstigen Handlungsfolgen, deren Eintreten unsicher ist.7 Die Begriffe Risiko und unsicheres Wissen hängen also eng zusammen. Probleme prinzipieller Unsicherheit von Wissen lagen noch nicht im Horizont des neuzeitlichen Wissenschaftsbegriffes. Dieser setzte darauf, dass Wissen über die Abhängigkeit 6 Beck 1986, 255. 7 Klassiker der Risikoforschung sind Jungermann/Rohrmann/Wiedemann 1990 sowie Bayerische Rückversicherung 1987.
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von Größen, welches unter kontrollierten Experimentalbedingungen gewonnen wird, über strenge Gesetze, denen das Eintreten von Ereignissen in der Welt folgt, Auskunft gibt wenn nur intelligent und intensiv genug darüber geforscht wird. Erst diese Annahme berechtigte zu der These, dass sich Naturkausalität und Handlungsregel einander wechselweise zuordnen lassen; dass die Befolgung einer Handlungsregel zur Erkenntnis einer Naturkausalität fährt, und dass umgekehrt aus der Erkenntnis einer Naturkausalität eine erfolgreiche Handlungsregel abgeleitet werden kann. Mit dem Fortschritt der „neuen Wissenschaft" in Forschung und Entwicklung wurde deutlicher, was es heißt, dass die Zuverlässigkeit wissenschaftlicher Resultate an kontrollierte Bedingungen gebunden ist. Die wirtschaftliche Nutzung wissenschaftlicher Resultate findet nämlich oft in Situationen statt, in denen weitere Faktoren unkontrolliert kausal relevant werden. Im Unterschied zur Forschungssituation in vitro können bei der Nutzung in vivo weitere Variablen mitspielen oder Parameter andere Werte haben, was dann bewirkt, dass Prozesse ganz anders ablaufen, als dies aufgrund von gesichertem Laborwissen zu erwarten gewesen wäre. Ein aktuell politisch brisantes Beispiel dafür ist die C 0 2 Abhängigkeit des Wachstums von Pflanzen. Pflanzen reagieren in ihrem Wachstum ganz unterschiedlich auf die C0 2 -Zunahme in der Luft, weil ihre Reaktion zudem von einer Vielzahl von Standortfaktoren beeinflusst wird. 8 Nur für Situationen, in denen die kausal relevanten Faktoren kontrolliert sind, sind aufgrund von experimentell geprüften Gesetzen auch zuverlässige Prognosen möglich. In allen anderen Situationen, also beim Transfer von Laborwissen auf natürliche Situationen oder von Wissen zwischen verschiedenen natürlichen Situationen, muss geprüft werden, welche kausal relevanten Faktoren vorliegen. Hält man an der wiederholbaren Überprüfung von allgemeinen Gesetzen fest, dann ist die Reduktion der Komplexität der Faktoren und die Festlegung der Parameterwerte unvermeidlich. Ob dies nun bedeutet, dass die Gültigkeit allgemeiner Gesetze auf experimentell erzeugte Phänomene eingeschränkt ist oder nur ihr Beschreibungsbereich, hängt von den metaphysischen Voraussetzungen des Gesetzesbegriffes ab.9 Der für das Folgende relevante Punkt ist davon nicht betroffen: die Unsicherheit von Prognosen für nicht kontrollierte Situationen. Risiken stellen also auch aus wissenschaftsmethodischen Gründen eine Lücke in der szientistischen Fortschrittsformel der Neuzeit dar. Sie sind nicht immer einem moralischen Versagen von Menschen in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik zuzuschreiben, obwohl auch das Gründe für Risiken bzw. eingetretene Schäden sind. Ist diese Lücke in der szientistischen Fortschrittsformel erkannt, dann ergeben sich daraus Aufgaben fur Forschung und Entwicklung, denen aufgrund des Vorsorgeprinzips nachzukommen ist. Wenn ich die Rolle der Wissenschaft in Forschung und Entwicklung betone, bedeutet das nicht, dass ich die
8 Siehe dazu Körner 2000. Es gibt zu diesen Fragen noch sehr wenig Forschung. Der Forschungsbedarf wurde erst im Zusammenhang mit klimapolitischen Diskussionen, zum Beispiel über Wälder als „Senken" für C 0 2 erkannt. 9 Siehe dazu Hüttemann 2000.
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ethischen Probleme des Erzeugens von Risiken in der technologischen Zivilisation als rein forschungsethische Probleme verstehe: Sie sind dies selbstverständlich nicht alleine, aber sie sind es auch. Im Folgenden werde ich eine darauf bezogene wissenschaftspolitische Forderung näher erläutern und begründen. Diese Forderung lautet, dass „klassische" Forschung und Entwicklung, welche der Verbesserung von spezialisierten Theorien und Methoden dienen und dabei Neues entdecken und schaffen, mit einer leistungsfähigen Forschung zu den Risiken der Nutzungsmöglichkeiten der Resultate in Wirtschaft und Gesellschaft sowie zu geeigneten Regelungen für Nutzungsmöglichkeiten zu verbinden ist. Das Prinzip der Forschungsfreiheit in der Wahl der Forschungsprobleme, das nicht zuletzt durch die Suche nach Neuem gerechtfertigt ist, bedarf in der technologischen Zivilisation des Schutzes einer begleitenden und die Nutzungsmöglichkeiten gestaltenden Risikoforschung. Welche Gründe sprechen für diese Forderung und inwiefern richtet sich diese Forderung an die Wissenschaft? Kurz gesagt lautet meine Antwort, dass diese Forderung sich aus dem Vorsorgeprinzip ergibt, im öffentlichen Interesse liegt und durch öffentlich geförderte Forschung einzulösen ist, deren Resultate ein öffentliches Gut sind.10 Aufgrund von Art und Ausmaß der Risiken der technologischen Zivilisation - Stichwort gobal change - liegt es im öffentlichen Interesse, Schäden zu vermeiden bzw. effektiv mit ihnen umzugehen. Mögliche Risiken liegen vielfach nicht auf der Hand, weil verschiedene Prozesse gleichzeitig ablaufen und sich überlagern können, weil es sich oft um kumulative Wirkungen handelt, die erst nach geraumer Zeit, räumlich weit entfernt, in völlig anderen natürlichen Systemen (Boden, Luft, Wasser, Lebensgemeinschaften) und sozialen Systemen auftreten können, wofür die Ozonschichtverdünnung, ihre Ursachen und Folgen, ein Lehrstück ist." Daher lassen sich die Risiken der Anwendung einer Technologie vielmals nicht in vitro, vor ihrer Anwendung, hinreichend abschätzen, und allfallige Schäden können ex post, nach der Einführung, oftmals nicht wieder gutgemacht werden. Deshalb braucht es eine begleitende Risikoforschung zu den Nutzungspotentialen wissenschaftlicher Resultate, was jedoch bislang kaum der Fall ist. Meist setzt die Risikoforschung erst ex post ein, wie im Falle der Nutzung fossiler Energieträger, bei der die Aufmerksamkeit der Forschung für die damit verbundenen Klimarisiken erst zu einem Zeitpunkt entstanden ist, als die Verfügbarkeit über fossile Energieträger den Lebensnerv der technologischen Zivilisation ausmachte. Dies sollte eine Lehre für den Umgang generell mit Nutzungspotentialen von Forschungsresultaten sein, beispielsweise der Gentechnologie: Sie ist an begleitende Risikoforschung zu binden. Da die ex ante- und die ex /»(»/-Perspektive ihre Schwächen haben, schlägt Günter Ropohl eine Kombination beider Perspektiven in einem iterativen Vorgehen vor, in welchem
10 Die Öffentlichkeit des Wissen über Risiken eröffnet natürlich wiederum Risiken, so das Risiko des Missbrauchs für terroristische Aktionen, siehe Grossman 1999. 11 Siehe dazu Grundmann 1998.
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sich Technikfolgenanalyse bzw. -prognose einerseits und Steuerung andererseits auf alle Phasen der Technikgenese, auch schon auf das Potential der Grundlagenforschung fur Innovation, erstrecken.12 Ob damit allerdings vermieden werden kann, dass sich Entwicklungen im Nachhinein als grundlegend korrekturbedürftig, aber nur sehr schwer korrigierbar erweisen, wie dies fur die Abhängigkeit der Zivilisation von fossilen Energieträgern gilt, ist nur eine Hoffnung. Denn auch die Resultate der Risikoforschung bestehen wiederum vielfach aus unsicherem Wissen. Im Wissenschaftssystem selbst gibt es wenig Anreize für solche Risikoforschung. Diese vielfach transdisziplinär anzulegende Risikoforschung zeichnet sich nicht besonders positiv aus, wenn sie an den Zielen und Standards disziplinarer communities gemessen wird. Sie liefert nämlich selten und oft eher zufällig einen innovativen Beitrag zur Entwicklung von Theorien und Methoden in den Disziplinen, was mit dem transdisziplinären Charakter der Forschung zu tun hat. Transdisziplinäre Forschung befasst sich mit lebensweltlichen Problemen, das heißt mit issues in einer Gesellschaft, deren Wissensgrundlagen unsicher sind, und von denen soziale Gruppen in unterschiedlicher Weise betroffen sind, so dass es dazu kontroverse Einstellungen in der Gesellschaft gibt.13 Das hat zur Folge, dass viele Selektionskriterien im akademischen Lehr- und Forschungsbetrieb dagegen sprechen, solche Risikoforschung zu betreiben. Dazu kommt, dass zusätzliche Forschungsvorhaben in der Regel selten durch zusätzliche Mittel, sondern meist durch Umverteilungen finanziert werden. Schließlich kann das Bekanntwerden von Risiken zu einer ernsthaften Behinderung der Grundlagenforschung in den entsprechenden Forschungsbereichen führen, und auch aus diesem Grund innerhalb der Wissenschaft auf Widerstand stoßen. Aus all diesen Gründen braucht es auch in der Wissenschaft besondere Anstrengungen, wenn der Forderung nach einer die Forschung und Entwicklung begleitenden und die Nutzungsmöglichkeiten gestaltenden Risikoforschung leistungsfähig nachgekommen werden soll. Wer ist dafür zuständig?
12 Rophl 1996, 256 ff. 13 Siehe insbesondere dazu Funtowicz/Ravetz 1993. Disziplinenübergreifende Forschung kann nicht nur durch wissenschaftsexterne lebensweltliche Probleme veranlasst sein, sondern auch wissenschaftsinteme Motive des Erkenntnisfortschritts haben (ζ. B. gegenwärtig in den Neurowissenschaften). Es können nur wenige relevante Disziplinen beteiligt sein (ζ. B. Neuroinformatik) oder es kann ein umfassender, holistischer Anspruch damit verbunden sein (ζ. B. der Syndromansatz des Potsdam Instituts für Klimafolgenforschung, PIK). Von manchen Autoren wird die wissenschaftsintern motivierte disziplinenübergreifende Forschung als interdisziplinär und die wissenschaftsextern motivierte als transdisziplinär bezeichnet, doch nennen sich auch einige wissenschaftsintern motivierte Ansätze transdisziplinär. Der holistische Anspruch als Unterscheidungsgesichtspunkt zwischen Inter- und Transdisziplinarität ist ebenfalls nicht allgemein akzeptiert.
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3. Verantwortung für Risikoforschung Wenn die Verantwortung der Wissenschaft fur Risikoforschung kein leerer Appell in Festtagsreden sein soll, dann muss sich mit dieser Formel ein präzisierbarer Sinn verbinden lassen. Es muss dann möglich sein zu umschreiben, wer hier Verantwortung trägt, worin diese Verantwortung besteht, wie ihr konkret nachzukommen ist, mit welchen Problemen sie verbunden ist und so fort. Ich beschränke mich im Folgenden auf verantwortungstheoretische Aspekte und gehe nicht auf die Konzeption der Risikoforschung selbst ein. Wir sagen, dass jemand für etwas vor jemand Verantwortung hat. Sanktion
Norm
Verantwortung hat
jemand
für e t w a s
Verantwortungssubjekt
Verantwortungsgegenständ
vor j e m a n d Verantwortungsinstanz
Handlung
Der Begriff Verantwortung kommt aus dem Rechtsleben und bezeichnet die Zuständigkeit, die Rechenschaftspflicht oder die Haftung eines Verantwortungssubjektes für ein Verantwortungsobjekt vor einer Verantwortungsinstanz. Diese drei Elemente müssen durch drei Beziehungen miteinander verbunden sein: 1. Durch eine Handlungsbeziehung, mit der das Verantwortungssubjekt auf das Verantwortungsobjekt einwirkt, 2. durch eine Norm, gemäß der eine Verantwortungsinstanz die Folgen der Handlung für den Verantwortungsgegenstand bewertet, und 3. durch die Möglichkeit von Sanktionen, welche die Verantwortungsinstanz gegenüber dem Verantwortungssubjekt ergreifen kann. Je nach Art der einzelnen Elemente und Beziehungen können verschiedene Verantwortungsarten unterschieden werden: Beispielsweise von der Rolle in Bezug auf das Verantwortungsobjekt her gesehen zwischen beruflicher und elterlicher Verantwortung, von der Norm ausgehend zwischen rechtlicher und moralischer Verantwortung, vom Verantwortungssubjekt herkommend zwischen individueller und kollektiver Verantwortung - und so fort. Die Verantwortung der Wissenschaft für Risikoforschung sehe ich als eine Zuständigkeits- oder Aufgabenverantwortung, die sich nicht auf einzelne abgrenzbare Handlungsfolgen einschränken lässt, sondern als eine dem Vorsorgeprinzip verpflichtete umfassende Zuständigkeit für die Betreuung dieses Aufgabenbereiches zu verstehen ist. Aufgabenverantwortung besteht allgemein gesagt darin, dass überhaupt erkannt wird, ob ein Handlungs-
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bedarf in Bezug auf ein bestimmtes Verantwortungsobjekt vorliegt, und dass dann das jeweils Nötige und Richtige dafür getan wird. Ein vertrautes Beispiel fur eine solche Aufgabenverantwortung ist die Verantwortung von Eltern fur ihre Kinder. Im Anschluss an die Zukunftsethik von Hans Jonas wird hier auch von Verantwortung als Sorge im Unterschied zur Handlungsfolgenverantwortung gesprochen, welche sich auf abgrenzbare, wissbare und zurechenbare negative Handlungsfolgen bezieht.14 Die Rezeption von Jonas' Werk hat gezeigt, dass die auf Zivilisationsrisiken bezogene Aufgabenverantwortung leicht als ein moralisierender Appell folgenlos in der harten Wirklichkeit verpufft. Um dies zu vermeiden ist es notwendig, sich mit der Spezifikation von Verantwortungssubjekten und konkreten Aufgaben zu befassen.15 Die Verantwortung speziell für Risikoforschung erstreckt sich auf Wissen über Zivilisationsrisiken als eine notwendige Voraussetzung, um Zivilisationsrisiken vermeiden oder mit ihnen effektiv umgehen zu können. Eine solche Forschung muss zunächst einmal initiiert werden, indem Ressourcen entsprechen verteilt werden und auch das Wissenschaftssystem in seiner internen Struktur sowie in seinen Beziehungen zu Wirtschaft und Gesellschaft dieser Aufgabe angepasst wird. Dies sind wissenschaftspolitisch zu erzielende Veränderungen, für die korporatives Handeln wichtig ist, obwohl auch Individuen und Kollektive Einfluss haben können. Korporationen sind rechtlich konstituierte Einheiten, welche ihre Mitglieder in Entscheidungs- und Ausführungsorgane einbinden, über Ressourcen verfügen usw., während Kollektive zufällige und unstrukturierte Aggregate von Menschen sind. In der Wissenschaft gibt es verschiedene Korporationen, so die Universitäten, wissenschaftliche Gesellschaften, Institutionen der Forschungsförderung, und andere. Wie lässt sich die Verantwortung von wissenschaftlichen Korporationen als wissenschaftspolitisch wichtigen Akteuren für Risikoforschung verstehen? Was bedeutet es insbesondere, wenn hier von einer moralischen Verantwortung der Korporationen gesprochen wird? Wer genau ist da moralisch verantwortlich? Wir sprechen im Alltag mit einer Selbstverständlichkeit davon, dass nicht nur eine bestimmte Person verantwortlich ist, sondern dass auch eine Menschenmenge, eine organisierte Gruppe, ein Unternehmen, eine Institution, der Staat und andere handeln und Verantwortung tragen. Kollektives Handeln, das heißt das Handeln einer Menge im Sinne eines unorganisierten Aggregates von Menschen, lässt sich distributiv verstehen. Wenn in einer Menge im Fußballstadion ein Gedränge entsteht, alle anfangen zu drängen und dabei ein Besucher erdrückt wird, dann sind all die Menschen in dieser Menge, die das Gedränge
14 Siehe Jonas 1979, Bayertz 1995. 15 Die verantwortungstheoretische Analyse der Zivilisationsrisiken von Jonas ist sehr knapp und systematisch unzureichend, obwohl seine Auseinandersetzung mit dem Verantwortungsbegriff durch die Risiken der Zivilisation motiviert ist. Er beschäftigt sich in erster Linie damit, Verantwortung im Rahmen einer ontologischen Ethik als normativen moraltheoretischen Grundbegriff zu entwickeln. Siehe dazu Hirsch Hadorn 2000a und 2000b.
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bildeten, für den Tod des Erdrückten moralisch verantwortlich. „Distributiv" meint, dass der Satz: „Die Menge ist für den Tod des Besuchers verantwortlich" so zu verstehen ist, dass jedes der Individuen, als Mitglied dieser Menge, für den Tod des Besuchers moralisch verantwortlich ist. Die distributive moralische Verantwortung ist jedoch nicht in Analogie zu einem Kuchen zu verstehen. Sie wird für die Einzelnen nicht in dem Maße kleiner, wie sie mit anderen geteilt wird.16 Zu diskutieren ist, ob immer alle Mitglieder eines Kollektivs für die Handlungsfolgen eines Kollektivs moralisch verantwortlich sind - und ob sie dies in gleichem Maße sind. Mellema vertritt dazu die Auffassung, dass ein Mitglied nur dann moralische Verantwortung haben kann, wenn es in diesem Zusammenhang eine dafür qualifizierende Handlung ausgeführt bzw. unterlassen hat.17 Wenn hingegen die USA das Kyoto-Protokoll nicht unterzeichnet haben, dann lässt sich dies nicht analog zum obigen Beispiel verstehen. Es ist damit nicht gemeint, dass alle USAmerikaner als Kollektiv mitwirkten, das Kyoto-Protokoll nicht zu unterzeichnen, und jeder US-Amerikaner nun dafür moralisch verantwortlich ist. In diesem Falle handelten die USA als eine Korporation.18 Peter French zufolge ist es irreführend, die moralische Verantwortung von Korporationen distributiv zu interpretieren und Korporationen moralisch einem Kollektiv gleichzusetzen, weil eine Korporation im Unterschied zu bloßen Aggregaten interne Entscheidungsstrukturen auf autoritativer Basis hat, so dass nur wenige Mitglieder der Korporation, beispielsweise das Direktorium, über das Handeln der Korporation bestimmen.19 Es wäre unangemessen, Mitgliedern der Korporation, die daran gar nicht beteiligt waren, gleichermaßen moralische Verantwortung für das Handeln der Korporation zuzuschreiben. French hat vorgeschlagen, die Korporation selbst als moralische Person zu verstehen. Er löst den Begriff der moralischen Person zu diesem Zweck von metaphysischen Voraussetzungen des Personseins wie einer gewissen Vernunftfähigkeit und bindet moralisches Personsein lediglich im Anschluss an Austin an die Möglichkeit intentionalen Handelns mit entsprechenden Verantwortungsbeziehungen. Solche Verantwortungsbeziehungen können durch Versprechen, Verträge usw. konstituiert werden. Korporationen erfüllen diese Bedingungen, weil sie interne Entscheidungsstrukturen haben, mittels derer sie ihr Handeln bestimmen. Deshalb kann die Intention der Korporation auch nicht auf die Intentionen, die die Individuen in der Korporation haben, reduziert werden. Für eine moralische Person ist French zufolge lediglich erforderlich, Träger eines Rechtes zu sein (subject of right X), nicht hingegen auch Ausführender eines Rechtes (administrator of right Χ).
16 Peter French (1991, 251) fuhrt in diesem Zusammenhang folgendes Zitat von Rudyard Kipling an: „The sin they do by two and two they must pay for by one and one." 17 Siehe dazu Mellema 1997, 105 ff., insbes. 111. 18 Aufgrund derselben Überlegungen können nicht alle Menschen islamischen Glaubens für die Terroranschläge am 11. September 2001 verantwortlich gemacht werden. 19 Siehe zum Folgenden Peter French: The Corporation as α Moral Person, in: Ders. 1991, 290-312.
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Gertrude Hirsch Hadorn
Ich halte diesen Begriff einer moralischen Person für unbefriedigend. Personsein als sozial konstituierte Entscheidungsstruktur auf der Basis eingegangener Autoritätsstrukturen kann ich nur als eine Rechtsperson verstehen, die verantwortlich im Sinne von haftbar ist beispielsweise kann ein Chemieunternehmen fur die Folgen eines Chemieunfalls in seinem Werk haftbar gemacht werden. Der moralische Charakter einer Person lässt sich meines Erachtens jedoch nicht auf sozial konstituierte Autoritätsstrukturen und rechtliche Haftbarkeit reduzieren. Er ist wesentlich auch daran gebunden, einsehen zu können, was gut ist, und das Handeln auf das, was als gut erachtet wird, auszurichten. Einem Unternehmen als Unternehmen kann ich dies schwerlich zuschreiben. Interne Entscheidungsstrukturen sind kein Äquivalent zur Vernunftfähigkeit natürlicher Personen, sondern sie organisieren das Wollen und Handeln ihrer Mitglieder, die als natürliche Personen vernunftfähig sind. Ich gehe mit French darin einig, dass natürliche Personen als Mitglieder einer Korporation in eine gemeinsame Willensbildung eintreten, die sich nicht auf die Menge der individuellen Intentionen reduzieren lässt. Ich sehe deshalb jedoch keine Notwendigkeit dafür, die Korporation selbst als eine moralische Person aufzufassen, jenseits von natürlichen moralischen Personen - so wie wir auch im Falle eines arbeitsteilig hergestellten Produktes nicht das Bedürfnis haben, einen überindividuellen Handwerker zu postulieren. Die moralische Verantwortung von Korporationen lässt sich meines Erachtens sinnvollerweise nur distributiv verstehen, wobei jedoch die interne Struktur der Korporation bestimmt, welche Personen innerhalb der Korporation - zum Beispiel die Mitglieder des Direktoriums, der Forschungseinheit, der Marketing-Gruppe - für bestimmte Fälle distributiv moralische Verantwortung tragen. Ich sehe keinen ontologischen Unterschied der Verantwortungssubjekte im Falle der moralischen Verantwortung einer Korporation und der von Individuen und Kollektiven. Korporationen unterscheiden sich meines Erachtens von Individuen und Kollektiven nicht dadurch, dass sie selbst ein moralisches Subjekt besonderer Art sind. Korporationen unterscheiden sich von Individuen und Kollektiven vielmehr durch ihre besondere Handlungsmacht und ihre Haftbarkeit, welche sie aufgrund ihrer sozialen Konstitution und Struktur haben. Den Grund dafür, weshalb wir Korporationen Verantwortung für die Zukunft zuschreiben, sehe ich in ihrer Handlungsmacht und Haftbarkeit. Dies bedeutet aber, dass die moralische Verantwortung der Mitglieder von Korporationen in den Funktionen, die sie innerhalb ihrer Korporation haben, besonders gefordert ist.20 Ich verstehe also die moralische Verantwortung einer Korporation als distributive Kollektiwerantwortung, wobei die Zuschreibung von moralischer Verantwortung an ihre Mitglieder an besondere, qualifizierende Bedingungen gebunden ist. Moralische Kollektiwerantwortung haben natürliche Personen, sofern sie Mitglieder einer bestimmten Gruppe sind und in Abhängigkeit davon, wie sie zur Entscheidungsbildung in der Gruppe beigetragen
20 Es gibt deshalb auch moralische Gründe, Institutionen zu schützen, wie Graham betont; doch sind sie als moral patients, das heißt als Objekt moralischen Handelns, nicht zugleich auch moral agents, d. h. selbst moralisch Handelnde, siehe Graham 2001.
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haben. Dass es sich dabei um eine Kollektivverantwortung handelt meint, dass diese Verantwortung mehreren Mitgliedern zukommt, sei dies aufgrund von abhängigen Handlungen oder von Handlungen, die unabhängig voneinander sind.21 Individualverantwortung hingegen ist eine alleinige Verantwortung. Sie gibt es auch in Korporationen und Kollektiven. Mit diesen begrifflichen Klärungen kann der moralischen Verantwortung der Wissenschaft für Risikoforschung ein etwas präziserer Sinn gegeben werden. Mit „moralischer Verantwortung" ist zunächst einmal gemeint, dass es moralische Gründe für eine Aufgabenverantwortung gibt, das heißt dafür, dass die Risiken der Nutzungsmöglichkeiten von Forschungsresultaten erforscht werden. Aufgrund ihrer beruflichen Kompetenz ist damit die Wissenschaft als Verantwortungssubjekt angesprochen. Sofern wissenschaftspolitisches Handeln gefordert ist, richtet sich diese Forderung nicht primär an eine Forscherin in ihrer persönlichen Forschungsplanung und auch nicht einfach an alle Wissenschaftler als Kollektiv, sondern an Korporationen im Wissenschaftsbereich mit entsprechenden wissenschaftspolitischen Handlungsmöglichkeiten. Träger der moralischen Verantwortung sind die in solchen Korporationen tätigen natürlichen Personen gemäß ihren Handlungsmöglichkeiten und gemäß ihrem konkreten Tun bzw. Unterlassen. Dies bedeutet, dass die Mitglieder von Korporationen in unterschiedlicher Weise moralisch verantwortlich dafür sind, ob und wie es Risikoforschung zu den Nutzungspotentialen von Forschungsresultaten gibt. Da die Wissenschaft demokratisch geführte Korporationen kennt - wie beispielsweise wissenschaftliche Gesellschaften - , die wissenschaftspolitisch aktiv werden können, hat im Prinzip jede Person, die wissenschaftlich tätig ist, die Möglichkeit, sich im Rahmen von Korporationen zu engagieren, beispielsweise als Mitglied mit Stimm- und Wahlrecht. So gesehen ist jeder Wissenschaftler moralisch für Risikoforschung verantwortlich- wenn auch nicht alle in gleicher Weise, sondern gemäß den jeweiligen Handlungsmöglichkeiten und gemäß der Art und Weise, wie diese ergriffen werden.
4. Wie glaubwürdig ist Risikoforschung? Risikoforschung ist notwendig, um bei der wirtschaftlichen Nutzung wissenschaftlicher Resultate zur Verbesserung der Gesellschaft Schäden vermeiden bzw. effektiv mit ihnen umgehen zu können. Was Risikoforschung beitragen kann, sind - einfach gesagt Ratschläge an die Adresse nicht-wissenschaftlicher Entscheidungsträger und an Akteure wie Unternehmen, Politiker, gesellschaftliche Bewegungen und andere, die in den Handlungsbereichen von Wirtschaft und Gesellschaft eine Rolle spielen. Wie glaubwürdig sind solche Ratschläge seitens der Wissenschaft?
21 Siehe zu diesen Bedingungen auch Mellema 1997, 105 ff., 119 ff. und 138 ff.
Gertrude Hirsch Hadorn
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Schon Aristoteles betont in seiner Rhetorik32, dass der Bedarf nach Beratung in Situationen entsteht, -
in denen verschiedene Entwicklungen möglich sind, über die es also nur unsicheres Wissen gibt,
-
deren Ursprung beim Menschen liegen und die mit Vorteilen bzw. Übeln behaftet sind, die also Risiken darstellen,
-
und in denen die Handelnden selbst nicht über das Wissen zur Beurteilung der Situation verfugen,
-
wobei es Rat bezüglich der Mittel und nicht bezüglich des Zieles braucht, welches in der Glückseligkeit besteht - im Falle der Risikoforschung dem Gemeinwohl.
Beratungsbedarf in Sachen Risiken der technologischen Zivilisationen ist mit Forschung nachzukommen. Risikoforschung kann das Wissen über Entwicklungs- und Handlungsmöglichkeiten verbessern, sie kann aber die prinzipielle Unsicherheit dieses Wissens nicht überwinden, wie die Klima- und die Klimafolgenforschung zeigen. Die Glaubwürdigkeit von Ratschlägen, die auf mehr oder weniger zuverlässigen Prognosen beruhen, ist deshalb ein ernstzunehmendes Problem. Aristoteles bindet die Glaubwürdigkeit von Ratschlägen an die Glaubwürdigkeit der Ratgeber, welche er von drei dafür notwendigen Faktoren abhängig macht, nämlich Einsicht, Tugend und Wohlwollen. Wir sagen heute, -
dass es eine hinreichende sachbezogene Kompetenz für Risikoforschung braucht (Einsicht),
-
dass die Forschung sorgfältig und umfassend genug durch gefuhrt werden muss (Tugend) und
-
dass die Motive, welche die Forschung leiten, wirklich die Vermeidung bzw. das Management von Risiken betreffen, das heißt auf das Gemeinwohl (Wohlwollen) gerichtet sind.
Hier sollen nicht andere Motive leiten, beispielsweise der Ausbau der bereits bestehenden Forschungsbereiche, deren Forschungsresultate nur bedingt zur Risikobeurteilung taugen. Dem Wohlwollen kommt insofern eine Schlüsselstellung zu, als Kompetenz und Sorgfalt in der Risikoforschung davon abhängen, ob es sich auch tatsächlich um Forschung über Risiken, ihre Vermeidung und Handhabung handelt. Die charakterliche Integrität von Wissenschaftlern ist im Zusammenhang mit Risikoforschung besonders gefordert, weil es im Wissenschaftssystem selbst wenig Anreize für eine letztlich transdisziplinär anzulegende Risikoforschung gibt, und weil der Ausbau von Forschungsrichtungen dadurch gefährdet sein kann. Welche Entscheidungen in der Forschungspolitik und in der Forschung hier richtig sind, ist von den beteiligten Korporationen, Kollektiven und Individuen nicht immer
22 Siehe für die folgenden Verweise Aristoteles: Rhetorik, insbes. Buch I, Kap. 3-6, Buch II, Kap. 1 und Buch III, Kap. 1.
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einfach zu erkennen. Eine Mindestanforderung an die fur Glaubwürdigkeit notwendige Integrität ist Transparenz hinsichtlich der involvierten Motive und Interessen. Ich habe mich auf wissenschaftsethische Aspekte von Zivilisationsrisiken im Bereich Forschung und Entwicklung beschränkt, um die Verantwortung, die speziell der Forschung hier zukommt, zu klären. Die Bereiche der wirtschaftlichen Nutzung und der Verbesserung der Gesellschaft sind für Risiken natürlich nicht minder wichtig als Forschung und Entwicklung, auch ist die Rolle nicht-wissenschaftlicher Entscheidungsträger und Akteure wie Unternehmen, Politiker oder gesellschaftliche Bewegungen nicht zu unterschätzen.
Literaturverzeichnis Aristoteles: Rhetorik, übers, und hrsg. von Gernot Krapinger, Stuttgart 1999. Bacon, Francis (1620): Neues Organon/Novum Organon, Hamburg 1990. Ders. (1624): Neu-Atlantis/Nova Atlantis, Stuttgart 1982. Bayerische Rückversicherung (Hrsg.): Gesellschaft und Unsicherheit, Karlsruhe 1987. Bayertz, Kurt: Wissenschaft, Technik und Verantwortung, in: Ders. (Hrsg): Praktische Philosophie. Grundorientierungen angewandter Ethik, Reinbek bei Hamburg 1991, 173-209. Ders.: Eine kurze Geschichte der Herkunft der Verantwortung, in: Ders. (Hrsg.): Verantwortung Prinzip oder Problem?, Darmstadt 1995, 3-71. Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 1986. French, Peter: The Spectrum of Responsibility, New York 1991. Funtowicz, Silvio O./Jerome R. Ravetz: Science for the post-normal age, in: Futures, Sept. 1993, 739777. Graham, K.: The Moral Significance of Collective Entities, in: Inquiry 44 (2001), 21-41. Grossman, Wendy M.: Cyberview: When Publishing could mean Perishing, in: Scientific American, Sept. 1999, 30-31. Grundmann, R.: The strange success of the Montreal protocol - Why reductionist accounts fail, in: International Environmental Affairs 10,3 (1998), 197-220. Hirsch Hadorn, Gertrude: Umwelt, Natur und Moral. Eine Kritik an Hans Jonas, Vittorio Hösle und Georg Picht, Freiburg 2000a. Dies.: Verantwortungsbegriff und kategorischer Imperativ der Zukunftsethik von Hans Jonas, in: Z. phil. Forschung 54,2 (2000b), 68-87. Hüttemann, Andreas: Natur und Labor. Über die Grenzen der Gültigkeit von Naturgesetzen, in: Philosophie naturalis 37,2 (2000), 269-285. Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt am Main 1979. Jungermann, H./B. Rohrmann/P. M. Wiedemann (Hrsg.): Risiko-Konzepte, Risiko-Konflikte, RisikoKommunikation, Jülich 1990.
* Für Kommentare und Hinweise danke ich Peter Baccini, Felix Bleisch, Holger Hoffmann-Riem, Marco Pautasso und Claude Theato.
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Gertrude Hirsch Hadorn
Körner, Ch.: Biosphere responses to C02 enrichment, in: Ecological Applications 10,6 (2000), 15901616. Mellema, Gregory F.: Collective Responsibility, Amsterdam 1997. Ropohl, G.: Ethik und Technikbewertung, Frankfurt am Main 1996.
Rainer Maria Kiesow
Das Risiko der Ethik*
Kein Zweifel: Die Zukunft ist unbekannt. Jedenfalls, wenn Sterndeutern, Fleischbeschauern und Vögelguckern nicht geglaubt wird. Wissenschaftlich gesehen - und nur darauf kommt es hier naturgemäß an - ist die Zukunft als etwas, das erst noch kommt, unbekannt. Was kommt, wissen wir nicht. Allenfalls ahnen wir, dass es häufig nichts Gutes sein wird, das uns bevorsteht. Die ständige Wiederkehr der menschlichen (und natürlichen) Unvernunft hatte bereits im Zeitalter der perfekten französischen Klassik die Idee der perfectio temporalisiert - auf Zukunft eingestellt. Die Perfektion abgestreift, die Perfektibilität, die immerwährende Vervollkommnung, angenommen, konnte die Menschheit wunderbar in das Licht fortschreiten. Oder in die Welt der Schatten. Die Zukunft hatte begonnen - und die Zukunft war unbekannt, denn Aufklärung bedeutete den Abschied von Glauben und Aberglauben. Mit der Zukunft kam die Geschichte, und nun konnte Nietzsche sein Urteil sprechen, dass das menschliche Dasein im Grunde „ein nie zu vollendendes Imperfectum" ist. Nur Tiere bleiben unhistorisch, gehen vollkommen in der Gegenwart auf. Die Zukunft ist also unbekannt. Wissenschaft und Technik waren zwar einst angetreten, uns die Welt zu erklären und sie möglichst gar besser zu machen, sie zu perfektionieren, die Bedingungen für eine bessere Zukunft zu schaffen - doch führte diese Diskriminierung der Gegenwart nicht selten zu gefährlichen, schädlichen und zerstörerischen Zukünften. Die Entdeckung, Erforschung und Anwendung der Elemente - Feuer, Wasser, Erde, Luft fuhrt seit jeher zu Leben und Tod. Die Eisenbahnen, Dampfkessel, Atomanlagen, Chemiewerke des industriellen Zeitalters töteten massenhaft. Die Zerstörungen der durch Wissenschaft und Technik seit Jahrtausenden perfektionierten Kriege - hier hatte sich die Idee einer stillstehenden Perfektion erstaunlicherweise nie durchsetzen können - sind ohnehin unzählbar. Angesichts dieser Schrecken ist es kein Wunder, dass die Folgen der vermeintlichen Ursachen in den Blick gerieten. Folgenabschätzung, Folgenorientierung, Folgenmanagement - da Wissenschaft und Technik offenbar auch schlimme, todbringende Folgen haben, konnten sie sich diesen Aufgaben nicht verweigern. Spätestens, seitdem die großen wissenschaftstechnologischen Innovationen mit Beginn des modernen Industriezeitalters die neue Rechtsfigur Gefahrdungshaf-
* Kommentar zu dem Beitrag von Gertrude Hirsch Hadorn: Risiken der technologischen Zivilisation als wissenschaftsethisches
Problem.
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Rainer Maria Kiesow
tung, also die Schadensersatzverpflichtung trotz rechtmäßigen Handelns, nach sich zogen spätestens also, als Folgekosten für den schuldlosen Verursacher entstanden, begannen die Verursacher sich für Folgen, fur Zukunft, zu interessieren. Technik und Wissenschaft waren am Beginn der Verursachung, doch war (und ist) es regelmäßig erst die Anwendung, die Applikation des wissenschaftlichen Wissens, das, was danach passiert, die Zukunft, die unmittelbar zum Schaden fuhrt. Diese potentiellen Schäden wurden im Laufe des 20. Jahrhunderts als immer näher bevorstehend oder als eine vielleicht ferner liegende, aber dafür gigantische Gefahr angesehen. Die Zukunft nahm eine bedrohliche, auf uns starrende Fratze an. Schon die angesichts der schrecklichen Weltenzukunft (Klimakatastrophe, Atomwinter, Cyberwelt) relativ kleinen, gewissermaßen lokalen letalen Schäden kamen die Wirtschaft (den Praxiskomplex der Wissenschaft) teuer zu stehen. Villa Parisi, Bhopal, Tschernobyl. Wie sollte den gigantischen Gefahren, die erst die Zukunft barg, begegnet werden? Die Antwort ist einfach: So, wie seit jeher, durch neugierige Erforschung der Möglichkeiten ein besseres Kennenlernen und Gestalten der Zukunft zu ermöglichen. Durch Erforschung der Zukunft also, die nichts anderes ist, als die Zeit zwischen Wissenschaft und Anwendung und zwischen Anwendung und Schaden. Hier klafft nämlich eine Wissenslücke - eigentlich klaffen hier natürlich zwei bis unendlich viele Wissenslücken eine Lücke, die „nur durch entsprechende Forschung zu schließen" sei, wie Gertrude Hirsch Hadorn keck behauptet. Natürlich weiß die Philosophin, dass Wissen prinzipiell unwissbar ist, dass die Zukunft nicht zu packen ist, und dass das Unwissen alle Versuche, es zu überwinden, von vornherein infizieren wird. Aber Unwissen ist, wenn von Wissenschaft die Rede ist, unschön, ein hässlicher Balg. Schon rhetorisch eignet sich die „prinzipielle Unsicherheit des Wissens" kaum zur Verbesserung der Gesellschaft, zur Perfektibilität. Also muss das Nichtwissen camoufliert werden. Da Wissen selbst nicht möglich erscheint, wird von Seinsfragen auf Sollensfragen umgestellt. Wir wissen zwar die Zukunft nicht, wir können sie nicht wissen, wir sollten aber gerade deshalb versuchen dieses Nichtwissen zu erforschen, damit wir vielleicht etwas mehr wissen im Meer des Nichtwissens, das nichts anderes ist als die Zukunft. So weit, so gut. Dagegen ist nicht das Mindeste einzuwenden. Auch nicht gegen die „Ratschläge", die aus dieser Beschäftigung mit prinzipiell Unwissbarem resultieren mögen. Die Wünschbarkeit der Gefahrenabschätzung schon bei der Grundlagenforschung mag in das modische Kleid von moralischer Verpflichtung gesteckt, und die Reflexion darüber mag in die Domäne der Ethik gefuhrt werden. Das Ergebnis der ethischen Reflexion über die Wünschbarkeit und Notwendigkeit von Risikoforschung mag - und wird bei jedem vernünftigen Menschen - zu einem positiven Ergebnis fuhren. Positiv dahingehend, dass diese Risikoforschung betrieben werden soll. Interdisziplinär, transdisziplinär, ja am besten totidisziplinär. Doch, was bedeutet das? Es bedeutet nichts anderes, als dass der Zukunft mit Zukunft begegnet werden soll. Wissenschaft ist immer zukunftsbezogen. Nichtwissen soll in Wissen überfuhrt werden. Wenn aber das Nichtwissen nicht in Wissen überfuhrt werden kann, da die Zukunft immer unbe-
Das Risiko der Ethik
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kannt ist, bleibt die „Entwicklung von universalisierbaren Theorien und Methoden" eine Chimäre. Ein Hirngespinst. Das Risiko bleibt, es ist nur jetzt verdoppelt. Durch das Risiko der Forschung zum Risiko. Und damit wird das Verhältnis von Risiko und Ethik umgekehrt. Nicht die Frage der ethischen (oder eher moralischen?) Gebotenheit der Erforschung der Risiken (oder eher Gefahren?) der Forschung steht im Vordergrund - diese Wissenschaftsfolgenabwägung ist kaum umstritten - , sondern das Risiko dieser Ethik selbst. Ein Risiko, dass unabwendbar ist - in einer Welt, in der nichts sicher gewusst werden kann, in der die inzwischen altgewordene Idee des Fortschritts bei den Akten der Historiker liegt, in der die Idee der Kausalität, mit der immerhin theoretisch die Zukunft vorausberechnet werden könnte, zerbrochen ist, in der zu viele Prämissen und zu viele Ereignisse und zu viele Rechenfehler die auf Gründen aufgebaute Welt zerstört haben, in der aufgrund von Entscheidungen auf allen Ebenen (vom Grundlagenwissenschaftler über den Terroristen bis zum Politiker) gehandelt wird. Entscheidungen, die gerade als Entscheidungen nicht mehr vom Wissen, sondern vom Unwissen getragen werden, denn sonst würden Erkennen und Anwenden ausreichen und eine Entscheidung gerade obsolet. Ethik und die daraus abgeleiteten „Ratschläge" verdoppeln also das Risiko der Wissenschaft. Wer weiß, ob Atomkraft ein Segen oder ein Fluch ist? Wer weiß, ob Embryonenforschung zu Heil oder Unheil fuhren wird? Wer weiß, ob die Konjunkturforschung gute oder schlechte so genannte Entscheidungsgrundlagen bietet? Die Wissenschaft ist heute eine unübersehbare Welt der Meinungen geworden. Wissenschaftler schaffen kein Wissen, sie schaffen Meinungen und bringen es manchmal zu Meinungsfuhrerschaft. Die Wissenschaft kann nicht mehr hoffen, wie einst zu Francis Bacons Zeiten, „auf richtiger, stetiger Stufenleiter erst zu den niedrigsten Grundsätzen, dann höher zu den mittleren und erst zuletzt zu den allgemeinsten" emporzusteigen. Allenfalls ein Altphilologe kann es sich noch leisten, Bacons klassischer Forschungsethik zu folgen: „Man soll also den menschlichen Geist nicht mit Schwingen beflügeln, sondern mit bleiernem Gewichte ihn zurückhalten von allem Sprunge".1 Und wem sollen die Ratschläge, die aus der Risikoforschung entspringen, Nutzen bringen? Den zukünftigen Generationen, ist immer wieder zu hören und zu lesen. Auch hier kommt also die unerbittliche Zukunft in die Quere. Und die Zukunft ist - so wissen wir schon - unbekannt. Wer weiß, was die zukünftigen Erdenmenschen genießen, verabscheuen und wünschen werden? Werden es überhaupt Menschen mit einem uns bekannten Fleisch und Blut und Geist und Gefühl sein? Hätte Newton, als ihm der Apfel in den Schoß fiel, in sich gehen und Risikoforschung betreiben sollen, um, ob der Gefahren, die etwa im 20. Jahrhundert im Gefolge des Nachdenkens über den Apfelfall zu erwarten gewesen wären, sich dann bis zum Tode dem Apfel in Garten und Küche zu widmen? Und die Verantwortung? Die kollektive Verantwortung für Risikoforschung, die Gertrude Hirsch Hadorn ins Feld fuhrt? Bäcker (so hoffen wir jedenfalls) fragen sich, ob das von ihnen gebackene Brot schmecken wird - sie werden also probieren, ob dies der Fall sein
1 Francis Bacon: Novum Organon, I, 104.
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Rainer Maria Kiesow
kann. Auch Herr Kalaschnikoff und seine Kollegen prüfen, ob beim Schießen das Gewehr nicht zerspringt und den Kopf des Schützen zerreißt- sie werden geeignete Materialien verwenden. Verliebte fragen sich, ob das Objekt der Begierde anbeißen wird - und wägen ab, wie sie am besten zum Ziel kommen, ohne dass die habituellen Lebensabschnittsgefährten etwas davon erfahren. Und natürlich wäre es wünschenswert, dass die Wissenschaft sich auch schadensabwendend verhält und um dies erfolgreich tun zu können, entsprechende Forschung betreibt. Die beiden hierfür von Hirsch Hadorn vorgeschlagenen ineinander verflochtenen Triaden „Verantwortungssubjekt, Verantwortungsobjekt, Verantwortungsinstanz" und „Handlung, Norm, Sanktion" entsprechen in ihrer scheinbaren Genauigkeit dem „echten Schein des Wissens" (Luhmann), den die zukunftsträchtige Forschung immer nur produzieren kann. Das Verantwortungsobjekt, die Risikoforschung, ist selbst ein Risiko. Das Verantwortungssubjekt- unabhängig davon, ob individuell oder kollektiv- ist als DIE Wissenschaft untrennbar mit der Gesellschaft, inzwischen Weltgesellschaft, als ganzer verwoben. „Wer wünscht was von wem" ist schon lange nicht mehr auszumachen, Wissenschaft von der Gesellschaft, von gesellschaftlichen Bedürfhissen, nicht zu trennen. Die Verantwortungsinstanz bleibt im Dunkel, auch wenn sie offenbar die Norm aufstellen und gleichzeitig die Sanktion aussprechen soll. Rechtsstaatlich wäre diese Verquickung von Gewalten jedenfalls nicht. Doch um Recht geht es ohnehin nicht, sondern - wie Gertrude Hirsch Hadorn notiert um „Moral", „Wohlwollen" .und „charakterliche Integrität" der wissenschaftlich Beteiligten. Allerdings: Welche Moral, das Wollen welchen Wohls, welcher Charakter? Auch die Taliban und die Wissenschaft der Taliban haben Moral. Eine andere. Wenn man nicht weiß, was kommt, wenn man nicht darauf bauen kann, dass alle sich „gut" benehmen und wenn der Blick fur Ursachen von Handlungen nur durch eine zersplitterte Fensterscheibe möglich ist - dann kommt die Stunde der Versicherungen. Der Versicherungen und Rückversicherungen, dass bei genauerem Hinschauen doch mehr zu sehen ist, das Risiko durch Erforschung des Risikos doch minimiert werden könnte. Die neuen Gefahren damals im 19. Jahrhundert haben neben der Gefährdungshaftung ebenfalls Versicherungen generiert. Versicherungsunternehmen, die Schäden, die die Zukunft bringt, aufgefangen haben. Diese Verbindung von Recht und Versicherung kostete Geld, war aber eine Bedingung dafür, dass Wissenschaft und Technik Risiken eingehen konnten. Moralische Versicherungen kosten zunächst kein Geld, sie sind billig, aber gerade deshalb wirkungslos. Eine Gesellschaft, die sich Wissenschaft leistet, setzt ihre Unterschrift auf einen Blankoscheck, der auf die Zukunft ausgestellt ist. Wissenschaft ist Risiko. Die Wissenschaft des Risikos der Wissenschaft ebenfalls. Der Grund dafür liegt in der Differenz zwischen Jetzt und Später. Die Zukunft ist unbekannt. Vielleicht sollte man sich dies zu Herzen nehmen und die Gegenwart rehabilitieren. Mehr Sein als Sollen. Dann ließe sich vielleicht sehen, dass geschieht, was geschieht. Dann würde man vielleicht erkennen, was Kleist am 21. Mai 1801 an seine Wilhelmine schrieb: „Für die Zukunft leben zu wollen - ach, es ist ein Knabentraum, und nur wer für den Augenblick lebt, lebt für die Zukunft".
Katja Becker
Ethische Blitzlichter. Fragen an die Wissenschaftsfotografie
Das Bild eines Menschen steht häufig im Zentrum wissenschaftsfotografischer Arbeiten. Dies beinhaltet Fotografien im Rahmen medizinischer, epidemiologischer, ethnologischer, aber auch psychologischer Studien. Nach meiner Erfahrung müssen auch Laien oft zur Kamera greifen, so beispielsweise Ärzte, die den Zustand, die Verfassung ihrer Patienten dokumentieren. Der Fotograf Sebastiäo Saigado befasste sich in den letzten Jahren intensiv mit der Migrationsproblematik und den dabei auftretenden ethischen Fragestellungen. Er kommentiert seine Arbeiten mit den Worten: „Sechs Jahre lang habe ich in vierzig Ländern diese Menschen photographiert, die aus ihrer Heimat geflohen sind - unterwegs, in den Lagern und in den städtischen Slums, oft die letzte Station ihrer Flucht. Für viele war es die schlimmste Zeit ihres Lebens. Sie waren verängstigt, unsicher und gedemütigt. Und doch ließen sie sich photographieren, weil sie, so glaube ich, auf ihre Misere aufmerksam machen wollten. Wenn ich konnte, erklärte ich ihnen, daß dies auch mein Anliegen war. Viele stellten sich einfach hin und fingen an zu erzählen, als wäre die Kamera ein Mikrofon."1
Mit diesen Worten führt der Fotograf die Subjekte seiner Arbeit, die Objekte seiner Kamera aus dem Zustand der Hilflosigkeit, aus der fotografischen Stummheit hinaus und macht sie zu aktiven Mitwirkenden in seiner Dokumentation. Dies ist, so denke ich, eine konstruktive, eine sehr positive Herangehensweise, die den Menschen das Wahren ihrer Würde ermöglicht, die allerdings auch die Realisierung eines überaus schwierigen Projekts überhaupt erst möglich macht. Denn - woher wissen wir, ob die Menschen sich fotografieren lassen, weil sie auf ihre Misere aufmerksam machen wollen, oder ob sie einfach keine Kraft mehr haben, sich gegen eine Kamera zu wehren? Woher wissen wir, ob nicht die Resignation in ihnen stärker ist als die Scham, die sie empfinden, wenn jemand ihnen die Ausweglosigkeit ihrer Situation dadurch aufzeigt, dass diese offenbar ein Foto wert ist? Wir wissen es nicht. Und die Antworten auf diese Frage würden im Einzelfall bestimmt auch sehr unterschiedlich ausfallen. Paul Lester, ein Fotograf, der sich mit ethischen Aspekten der Fotografie befasst, postuliert, die Fotografie sei oft eine Lehrstunde in Humanität:
1 Saigado 2000, 7.
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Katja Becker
„If the photographer produces a picture without a thought for the respective tragedy, the lesson is lost. But if the photographer cares for the loss and causes the readers to share in the grief, photography has reached its highest potential."2 So nachvollziehbar und moralisch gut gemeint dieses Postulat auch ist, so stellen sich dennoch zwei Fragen: Genügt es den Anforderungen einer tragischen, teilweise dramatischen oder sogar lebensbedrohlichen Situation, wenn man als wissenschaftlich arbeitender Fotograf der Tragödie, die sich vor den eigenen Augen abspielt, einen Gedanken opfert? Dies ist bestimmt besser, als wenn man keinen Gedanken opfert - aber reicht es aus? Meine zweite Frage ist: Hat die Fotografie wirklich ihr höchstes Potential erreicht, wenn der Fotograf emotional beteiligt ist und in dem Betrachter des Bildes ebenfalls Betroffenheit hervorruft? Antworten auf diese Fragen lassen sich nur schwer finden. So spielt in einer Tragödie jeder eine Rolle, seine Rolle. Die Rolle eines Wissenschaftlers oder Kriegsberichterstatters ist nicht die Rolle eines Sanitäters, eines Arztes oder eines Familienangehörigen von Betroffenen. Inwieweit kann man als Fotograf mit dieser Rolle leben? Inwieweit kann man die Tragödie, in der man gerade mitspielt, trennen vom wirklichen Leben? Man könnte die Frage also auch anders stellen: Wie verarbeitet es ein Fotograf, in einer tragischen Situation zu fotografieren, ohne dabei entweder seine Profession aufzugeben oder daran zu zerbrechen? Für einen Arzt ist diese Situation einfacher: Er darf helfen, er muss sogar helfen und oft kann er auch helfen. Für ihn jedoch tritt - ähnlich wie für den Fotografen - eine vergleichbare Situation ein Stück weiter den Weg hinunter auf: Beim Übergang vom Leben zum Tod. Nun ist der Arzt zum Helfen, zu seiner Profession, zum Verlängern eines Lebens verpflichtet, kann dies jedoch aus ethischen Gründen nicht immer guten Gewissens vertreten. Zurück zum Fotografen. Er muss also irgendwie lernen, mit diesem Zwiespalt umzugehen. Er spielt seine Rolle und bemüht sich, nicht seinen Beruf niederzulegen, nicht an dem Leid zu zerbrechen, gleichzeitig nicht zum Voyeur zu werden, nicht nur unbeteiligt zu dokumentieren und nicht zum Komplizen des Leids zu werden - denn immerhin hat er ja auch ein Interesse am Resultat seiner Arbeit. Dies fuhrt zu einer weiteren Frage. Ein Leitsatz der Fotografie lautet: Gute Wissenschaftsfotografie vereint wissenschaftliche Klarheit mit künstlerisch gestalteten Bildern. Wie künstlerisch gestaltet oder wie abschreckend darf oder muss beispielsweise das Bild eines hungernden Kindes sein, -
um um um um
ein gutes Foto zu sein, dem Fotografen Ehre zu machen, die Situation korrekt darzustellen, einen bestimmten Effekt zu erzielen?
2 Lester 1991, 162.
Ethische
Blitzlichter
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Dies bringt den Fotografen wiederum in eine schwierige Situation. Denn er muss (oder will) ja nicht nur das Leid dokumentieren, sondern er muss dabei auch noch ein gutes Foto produzieren. Der Abstand zum Objekt muss stimmen, die Beleuchtung, die Farbgebung, der Bildaufbau, und der Mensch, den er gerade fotografiert, muss idealerweise einen passenden Gesichtsausdruck haben. Bei der Wissenschaftsfotografie, wie sie in Industrienationen geprägt ist, ist dies sehr viel einfacher. Wissenschaft bedeutet hier insbesondere Technik: Die Macht der Technik, die Distanz zum Menschen, die Superlative, das Machbare - all dies beeindruckt, all dies resultiert in wunderbaren Fotos und in der Bewunderung der Wissenschaft. Beim Fotografieren von Menschen ist dies schwieriger. Und es wird noch schwieriger, wenn man überlegt, welchen Zweck solch ein Bild erfüllen soll. Ist es pure wissenschaftliche Dokumentation, soll der Informationsbedarf oder die Neugierde anderer Länder, anderer Menschen damit gedeckt werden, soll auf eine Situation aufmerksam gemacht werden, soll beispielsweise eine Spendenaktion damit eingeleitet werden oder repräsentiert das Bild sogar einen Teil einer Verkaufsstrategie? Geradezu schwindlig wird spätestens jetzt einem Fotografen. Spätestens jetzt muss er nämlich all seine ethischen Bedenken über Bord werfen und einfach seine Arbeit machen. Er avanciert vom Mit-Leidenden über den Mitspieler, zum Regisseur, zum Richter über eine Situation, zum Richter über die Bedeutung, die Tragweite und den eventuell daraus resultierenden kommerziellen Nutzen einer Tragödie. Wo bleibt der Ausweg? Nicht mehr fotografieren? Das wäre ein echter Verlust und ist wohl auch nicht zu realisieren. Wahrscheinlich kann nur jeder Fotograf seine individuellen Grenzen ziehen und seine Bilder für das einsetzen, wovon er wirklich überzeugt ist. Ein Stück Prostitution ist immer dabei, ebenso ein Stück individueller Profit - wie in jedem Beruf. Mein persönlicher Ausweg aus dieser Situation war oft das Wissen um den Ausgang der Tragödie. Das nimmt im positiven Fall - soweit das bei einer Tragödie überhaupt möglich ist - etwas von der Betroffenheit, etwas vom Komplizentum mit dem Leid. Nur - den Ausgang der Tragödie kennt der Betrachter eines Bildes meist nicht.
Literaturverzeichnis Ahlhauser, J.: A history of photojournalism ethics, in: P. Lester (Hrsg.): NPPA special report: The ethics of photojournalism, Durham NC 1990, 2-5. Lester, P. (Hrsg.): Photojournalism. An ethical approach, Hillsdale NJ 1991. Saigado, S.: Migranten, Frankfurt am Main 2000.
Wiebke Leister
Ethik im fotografischen Menschen-Bild. Verschiedene Visualisierungsversuche*
Meiner Überzeugung nach braucht jedes Fach seine Ethik. Im Zeitalter der modernen Medien und ihrer Bilderflut al auch die Fotografie, schließlich sind fotografische Bilder allgegenwärtig und beeinflussen uns in unseren Meinungen und unserem Tun. Basierend auf den Fragen, die Katja Becker in ihrem Beitrag formuliert hat, möchte ich aus der Sicht der Fotografin überlegen, was Ethik in der Fotografie ist und wie man Ethik visuell thematisieren kann. Hierbei muss im Voraus klar sein, dass ich nur eine kurze Einfuhrung in dieses umfangreiche Thema versuchen kann. Dabei werde ich zunächst den mehr theoretisch-fotografischen Kontext klären, um im Anschluss das Beschriebene beispielhaft an aktuellen Bildpositionen zu veranschaulichen.
1. Die großen Grundfragen der Ethik betreffen das so genannte Gute, das die Haltung des Menschen bestimmen soll, mit dem Ziel, Grundlagen für gerechtes Handeln und Zusammenleben aufzuzeigen. Ethik ist anthropozentrisch und berührt daher - auf die Fotografie übertragen - die Frage, wie man den Menschen darstellen darf und wie man Themen des Menschseins in Bilder fassen kann.
1.1 Philosophisch gehört die fotografische Darstellung zuerst einmal in den Bereich der Ästhetik. Die daraus resultierenden Fragen nach dem Schönen und seinen Erscheinungsformen im Bild stoßen sich oberflächlich betrachtet seit den Anfangen der Kunst mit ethischen Fragestellungen. Die Frage: „Wie schön darf ein Bild zu einem schrecklichen Thema sein?" hat demzufolge seine Wurzeln nicht erst im Medium Fotografie - auch wenn die Debatte mit der scheinbaren Wirklichkeitsnähe der fotografischen Abbildungsleistung gewiss verstärkt wurde - , sondern in dem inhaltlichem Konflikt um Ethik und Ästhetik, um Schönheit und Moral (Sittenlehre). * Kommentar zu dem Beitrag von Katja Becker: Ethische Blitzlichter. Fragen an die Wissenschaftsfotografie.
Ethik im fotografischen
Menschenbild
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Ästhetisch leitet sich von dem altgriechischen Wort für Wahrnehmung - aisthesis - ab und beinhaltet die sinnliche Erkenntnis. Nach Aristoteles sind Menschen „primär ästhetische Wesen"1, woraus sich unsere moralischen Vorstellungen dann sekundär ableiten. In den Worten von Joseph Brodsky ist „die Ästhetik... die Mutter der Ethik", denn als Kinder wüssten wir „instinktiv, was schön ist, und wir lernen erst danach, was gut und richtig ist".2 Damit hat das Bild einen durchaus nicht zu unterschätzenden Anteil an der Schaffung unserer ethischen Wertvorstellungen. Versucht man, sich auf der Suche danach, was ethische Fotografie sein kann, an Kants kategorischen Imperativ zu halten, hieße die Maxime auf die Frage: „Wie sollen wir fotografieren?" vielleicht: „Fotografiere so, dass du Art und Inhalt deines Bildermachens jederzeit als Richtschnur für menschliches Miteinander wollen kannst." Das betrifft die Verhaltensweise der Fotografin gegenüber dem Fotografierten, die Verantwortung, die man für den Menschen hat, der fotografiert wird - denn schließlich soll der Fotograf, wie es Katja Becker formuliert hat, weder zum „Komplizen des Leids" noch zum „Voyeur" werden. Eine ethische Einstellung des Fotografen wäre demnach der würdevolle Umgang mit dem Persönlichkeitsrecht des Abgebildeten und sein Eintreten für menschliche Werte (die von der Ethik festgelegt werden). Diese ethische Herangehensweise formuliert sich in der Haltung des Fotografen zu seinem Thema und im Bild als Wert in sich. Diese Haltung ist Hauptprägung eines fotografischen Werkes, die in Darstellungsstil, Themenwahl, Motivation und Vorgehensweise ihren subjektiven Ausdruck findet. (Klassisch: wen/was zeige ich, wie, mit welchen Mitteln, zu welchem Zweck?)
1.2 Die französische Fotografin Gisele Freund hat in ihrem Buch Photographie und Gesellschaft sehr einleuchtend argumentiert: „Obgleich sie ganz an die Natur gebunden ist, hat die Photographie nur eine scheinbare Objektivität."3 Und weiter: „Die Verwendung des photographischen Bildes wird zu einem ethischen Problem, wenn man sich seiner bedient, um absichtlich Tatsachen zu verfälschen."4 Das betrifft die Verantwortung der Fotografin gegenüber dem thematischen Kontext, für den das Bild im Endeffekt stehen wird. Denn Bilder können lügen - nicht nur, wenn sie in falsche Zusammenhänge gestellt werden, sondern auch dadurch, dass sie natürlich immer nur einen Ausschnitt und einen bestimmten Moment von einem Geschehen wiedergeben und sogar manipuliert sein können. Wie jede Form von Kommunikation ist auch jeder Bildbericht subjektiv, da er von einem Individuum mit subjektiver Sichtweise formuliert wurde. Auch gibt es keinen „neutralen"
1 Aristoteles,
Metaphysik.
2 Brodsky 1996. 3 Freund 1979, 6. 4 Ebd., 179.
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Betrachter - und genau darin sehe ich eine ungeheure Chance: Bildberichte sind die visuelle Form der Berichterstattung, in der andere Dinge angesprochen werden können als in Textbeiträgen. Die visuelle Erzählebene erreicht den Rezipienten auf einer direkteren Ebene, da Bilder zuerst emotional gelesen und nicht intellektuell gefiltert werden. Jeder Inhalt verlangt dabei, seine Haltung und Aussage ethisch vertretbar zu formulieren und - um nochmals auf den Ästhetik-Ethik-Konflikt zurückzukommen - jedes Bild muss lesbar sein und daher bestimmten Gestaltungsgesichtpunkten folgen, die sich aber nicht nach „schön/nicht schön" richten, sondern nach „angemessen/unangemesssen". Demnach sollte die Ästhetik eines Bildes seiner beabsichtigten Aussage entsprechen auch das beinhaltet fotografische Ethik (wenn nicht gerade mit künstlerischen Mitteln absichtlich ein Bruch herbeigeführt werden soll). Deshalb wird Sebastiäo Saigado, den auch Katja Becker zitiert, oft Überästhetisierung vorgeworfen - weil die von ihm verwendeten Mittel zum Teil übertrieben und dadurch unangemessen erscheinen.
2. Kommen wir also konkreter zu Bildbeispielen. Ethik kann in Fotografien meiner Meinung nach auf zwei Arten angesprochen werden: 1. Durch Vorhandensein von ethischen Normen und Werten und deren Positiv-Darstellung als Wertfulle (optimistisch-idealistisches Vorbild). 2.
Durch Nicht-Vorhandensein von ethischen Normen und Werten und deren NegativDarstellung als Wertmangel (pessimistisches bis kritisches Gegenbild).
In dieser zeitlichen Abfolge - von 1. nach 2. - hat sich die Motivation der Fotografen bei der Darstellung von Menschen auseinander entwickelt: Wie in anderen Bildgattungen gibt es auch in der Fotografie-Stilgeschichte zu unterschiedlichem Zeiten unterschiedliche Wertpyramiden, die sich in unterschiedlichen Visualisierungsversuchen äußern- in Stil und Haltung der Fotografen der jeweiligen Epoche (Wandel im Wertebewusstsein).
2.1 Das wohl berühmteste Beispiel, Ethik mit fotografischen Mitteln zu thematisieren, ist die 1955 von Edward Steichen fur das Museum of Modern Art in New York kuratierte Ausstellung The Family of Man, die den Höhepunkt der sogenannten humanistischen Fotografie markiert. 503 Bilder von 273 Fotografen aus 68 Ländern sollten beweisen, dass ,die Fotografie die Aufgabe hat, den Menschen über den Menschen und jeden einzelnen über sich aufzuklären'. Steichen wollte veranschaulichen, „daß die Menschheit ,eins' ist und dass alle Menschen, ungeachtet ihrer Schwächen und Niederträchtigkeiten, anziehende Geschöpfe sind."5 5 Sontag 1993, 36.
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Der optimistische Grundtenor, das Aufzeigen von Gemeinsamkeiten unter den Menschen und die Darstellung der Wertflille des Lebens luden den Betrachter zur Identifikation ein. Erfolge feierte die weltweit tourende Ausstellung durch den außergewöhnlich gestalteten Katalog und die eindrucksvolle Rauminszenierung, in der der Besucher „von allen Seiten mit Bildeindrücken bestürmt wird und durch den Wechsel seines Standortes immer neue Bildkombinationen wahrnehmen kann." Dadurch wurden „Bezüge hergestellt und gedankliche Assoziationen nahegelegt bzw. regelrecht aufgedrängt."6 Dieser anspruchsvolle Versuch, das Wesen der Menschheit in einer allgemein gültigen Weltsicht zu beschreiben, scheiterte vermutlich an der inhaltlichen Gleichsetzung der hauptsächlich journalistischen Porträts aus aller Welt. Ihre Zusammen- und Gegenüberstellung wirkt oft eher wie eine soziologische Gleichung. Daher wurde die Ausstellung auch bald als Gleichmacherei und sentimentale Nivellierung von unübersehbaren Unterschieden kritisiert. Steichens idealistischem Ansatz wird vorgeworfen, er verleugne den Einfluss der Geschichte auf den Menschen und entschärfe die unterschiedlichen Chancen und Lebensbedingungen in verschiedenen Erdteilen, durch die die Menschheit unübersehbar nicht „eins" ist.7
2.2 Steichens Versuch, den Menschen der Nachkriegszeit mit positiver Fotografie im Glauben an das Gute im Menschen moralischen Auftrieb zu geben, folgte ab 1960 eine neue Haltung in der humanistischen Fotografie, die seine ideologisch-vereinfachende Weltsicht von der „großen Familie der Menschheit" nicht mehr teilte. Stellvertretend nennen möchte ich nur Diane Arbus, Robert Frank und Robert Capa, die sich ähnlichen Themen mit anderen ästhetischen Wertvorstellungen widmeten. Sie entwarfen eher düstere Bilder über die Wirklichkeit und zeigten deprimierende Missstände auf.8 Diese zweite Etappe der humanistischen Fotografie war eher von einem pessimistischen Grundtenor geprägt, der das „Schiefe" in der Gesellschaft und den Wertemangel aufzeigen wollte.
2.3 Ein Gegenpol zu diesem uns heute fast klassisch anmutenden Schwarz-Weiß-Journalismus ist das voyeuristische und „ethiklose" Papparazzitum der Action-Presse. Ohne darauf Rücksicht zu nehmen, was man einem Betrachter zumuten kann, und ohne mir nachvollziehbare Motivation schießen diese Fotografen auf alles, was ein „spektakuläres" Bild hermachen könnte.9 Im Glauben, Mitleid im Betrachter zu erwecken, bewirken solche Schockfotogra6 Philipp 1987, 47 7 Vgl. Barthes 1976. 8 Vgl. Gautrand 1998. 9 In den Wochen nach dem 11. September 2001 haben wir anlässlich der Ereignisse in New York auf sämtlichen Kanälen eine solche Vielzahl dieser Schockbilder in Ost und West gesehen, dass
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fien jedoch meiner Ansicht nach oft das Gegenteil von Anteilnahme; sie stumpfen ab: „Fotos schockieren, insofern sie etwas Neuartiges zeigen . . . Aber je öfter man mit solchen Bildern konfrontiert wird, desto weniger real erscheint das betreffende Erlebnis . . . In den letzten Jahrzehnten hat die ,anteilnehmende' Fotografie mindestens ebensoviel dazu getan, unser Gewissen abzutöten, wie dazu, es aufzurütteln." 10 So Susan Sontag über die neutralisierende und distanzierende Wirkung von Mitleidsfotografie. Sie zieht in ihrem Buch Über Fotografie das Fazit, dass die ethische Aussage von Fotografien fragil ist und Fotografie, wenn sie bewegen will, ihre Schockleistung ständig erneuern muss. Aber Sontags Einstellung zur Fotografie muss man nicht teilen. Ihr berühmt gewordener Satz: „Wer sich einmischt, kann nicht berichten; und wer berichtet, kann nicht eingreifen" 11 zeugt geradezu von Bilderfeindlichkeit und wirkt wie eine Abrechnung mit einem Medium, das ganz gewiss andere Potentiale hat, als nur durch grauenvolle Abbildungen zu schockieren. Roland Barthes, ein weiterer Gegner der Schockfotografie, ermutigt Fotografen, andere Wege zu gehen: „Die wörtliche Fotografie fuhrt zum Skandal des Grauens, nicht zum Grauen selbst", da in diesen überdeutlichen Schockfotos - wie Barthes schreibt - dem Betrachter „nichts weiter gelassen [wird], als das Recht der geistigen Zustimmung." 12 Barthes plädiert für die „Doppeldeutigkeit" fotografischer Bilder, die uns als Betrachter zum Nachdenken und Urteilen anregt. Er argumentiert fur das offene Bild, das sich nicht aufdrängt, sondern gelesen werden will und im Betrachter Verantwortung und menschliches Wert- und Handlungsbewusstsein erweckt. Diese Einstellung, nicht alles dem Blick preiszugeben, führt zu Bildern, die andere Ziele haben, und hat viel für die von mir anfangs beschriebene ethischfotografische Haltung getan.
2.4 Seit Mitte der 70er Jahre gibt es mit der jungen, engagierten Dokumentarfotografie eine neue Position, die von Klaus Honnef als „Autorenfotografie" bekannt gemacht wurde. 13 Ihr kritisch-fragender Grundtenor leistet meiner Meinung nach das, was Barthes gesucht hat: Haltung, persönliche Meinung, individuelles Thema, subjektive Sichtweise und Umsetzung. Diese inhaltlichen Aspekte formulieren sich in einer neuen Form bildorientierter Darstellung, in deren Tradition ich auch meine eigenen Wurzeln als Fotografin sehe. Diese bildoriich mich einfach nicht dazu entschließen konnte, weitere Bilder des Grauens als Bildbeispiele einringen; - sie stehen uns allzu plastisch vor Augen. Die post-New York-Mediendebatte wird in den nächsten Monaten und Jahren dazu noch viel zu sagen haben, was mir an dieser Stelle zu weit vorgegriffen erscheint, wo wir nur gelähmt von der Bildermacht sind. 10 Sontag 1993, 25 f. 11 Ebd., 18. 12 Barthes 1999. 13 Vgl. Honnef 1999.
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entierte Darstellung zielt darauf ab, die Interpretation des Themas in einer eigenständigen Bildsprache zum Ausdruck zu bringen. Der Bildautor ist somit weniger der wahrheitsgetreuen Abbildung einer Begebenheit verpflichtet als der kommentierenden Umsetzung eines Themenkomplexes. Dadurch entsteht die Möglichkeit eines autonomen fotografischen Bildes, dessen Form nicht in erster Linie durch Repräsentationsleistung gekennzeichnet ist, sondern durch die Art und Weise, wie der Inhalt angesprochen wird. Außerdem zeichnet sich diese Fotografie dadurch aus, dass sie Fragen stellt; in Bezug auf ihr Thema wie gleichermaßen an ihr Medium und an den Betrachter. Derart prangern Fotografen heute Wertemängel der Gesellschaft an - aber im besten Sinne auf eine weder mitleidheischende, noch voyeuristische, noch sentimentale Art.
2.5 Abschließend werde ich an dieser Stelle vier aktuelle Fotoarbeiten zur Diskussion stellen, die an sehr unterschiedlichen Punkten mit den erörterten ethischen Fragestellungen in Berührung kommen. 2.5.1
Zuerst möchte ich die Arbeit Omega Suites der amerikanischen Fotografin Lucinda Devlin beschreiben: Auf ihren Bildern sieht man Hinrichtungszellen amerikanischer Gefängnisse Innenansichten von Todeszellen, die wir ohne diese Bilder wohl kaum zu sehen bekommen würden. Devlin beschreibt, dass sie diese Arbeit über die „letzten Räume" zu Anfang nicht polemisch gegen die Todesstrafe geplant hatte und sich erst während der ausfuhrlicheren Beschäftigung mit dem, was an diesen Orten passiert, eine ablehnende Meinung gebildet hat. Durch die fotografische Beschreibung der blitzblanken Architektur verweist sie auf die anonymen Rituale, die dort vollzogen werden. Sie konstruiert Bedeutungen. Gerade durch diese sehr kühle und distanzierte Fotografie wird der Betrachter meiner Meinung nach dazu aufgefordert, von den leeren Räumen auf ihre Benutzer zu schließen und dann selbst Stellung zu beziehen - zu den Tötungen, die dort im Namen der Gesellschaft ausgeführt werden.14 2.5.2
Der Berliner Fotograf Wolfgang Bellwinkel hatte bereits in einer früheren Arbeit den Krieg um Ex-Jugoslawien fotografiert. Ab Ende 1996 dokumentierte er unter dem Titel Nachkriegszeit den Friedensprozess in Bosnien. Seine Spurensuche an ehemaligen Kriegsschauplätzen ist eine vorsichtige Annäherung an eine andere Form der Kriegsberichterstattung, die meiner Ansicht nach ausgesprochen menschliche, nicht voyeuristische Züge trägt. Außerdem findet er eine universelle Sprache, die uns an weitere Bezüge außerhalb von Bosnien
14 Katalog: Lucinda Devlin: Omega Suites, hrsg. von Susanne Breidenbach, Göttingen 2000.
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denken lässt. Sein Blick zurück auf den Krieg veranschaulicht, dass die eigentliche Friedens· und Aufbauarbeit im Land erst beginnt, wenn die Verträge unterzeichnet sind - und wenn wir Medienbetrachter unsere Augen bereits wieder von den Trümmern zu einem anderen Schauplatz gewendet haben.15 2.5.3
Einer gänzlich anders gearteten Fotografie bedient sich der englische Künstler Richard Billingham. Seine schnappschussartigen Familienbilder, zusammengefasst unter dem Titel Ray 's a laugh, waren ursprünglich nicht fur die Augen der Öffentlichkeit bestimmt. Sie sind keine wertenden Sozial-Dokumente, sondern zeigen ganz privat den engsten Familienhintergrund Billinghams - hauptsächlich seinen Vater: Alkoholiker, arbeitslos, zu Hause. Die Fotografien sind demnach einerseits wohl als eigentherapeutischer Versuch zu verstehen, Familienzusammenhänge persönlich zu verarbeiten und sich von ihnen abzugrenzen, andererseits sind diese Fotografien aber vielleicht auch ein Schritt, sich der eigenen Familie wieder auf einer anderen Ebene zu nähern - mit der Kamera als Mittel, die einen abstraktanderen Blick ermöglicht. Dennoch sind die Bilder umso erschütternder, wenn man als Betrachter weiß, dass der Fotograf seine eigene Familie abgelichtet hat. Sie sind jedoch auf eine andere Weise zugleich humaner, weil Billingham als Sohn seinen Innenblick zeigt, der gar nicht objektiv sein kann und will. Billingham selbst betont, er wolle „nur emotionale und bewegende Bilder machen; niemanden bloßstellen". In jedem Fall sind es Bilder, die nur ein Fotograf machen kann, der den abgebildeten Personen und ihrem Alltag nahe steht. Bei einem von außen kommenden Fotografen würden wir solche Bilder gewiss anders bewerten.16 2.5.4
In meiner eigenen fotografischen Arbeit interessieren mich Bilder, die bildnishaft auf Zustände des Betrachters zurückreflektieren. In der Arbeit Eigenzeit (1999) habe ich mir die Frage gestellt, wie man mit Fotografie auf introvertierte Bewusstseinszustände des Menschen verweisen kann - obwohl Fotografie qua Medium immer aus der äußeren Erscheinungswelt schöpfen muss. In der Serie sectione (1997) habe ich mich mit den ersten Sekunden des menschlichen Lebens beschäftigt; mit der Geburt als archetypischem Urereignis. Die Arbeit „mit sich allein" reagiert darauf, indem sie die verschiedenen emotionalen Stadien einer Gebärenden veranschaulicht.17 15 Bilder aus der Serie „Nachkriegszeit" von Wolfgang Bellwinkel in: Die Welt als Ganzes, hrsg. von IFA/Ulf Erdman Ziegler, Ostfildem-Ruit 2000. Weitere Arbeiten in: Bosnia. Krieg in Europa, Wolfgang Bellwinkel/Peter Maria Schäfer, Berlin, 1994. 16 Katalog: Richard Billingham: Ray's a laugh, Zürich 1996. 17 Siehe die Reproduktionen auf den nachfolgenden Seiten; weitere Kataloge: Eigenzeit, in: Kodak Nachwuchs Förderpreis 1998-2000, Stuttgart 2000. Andere Porträtarbeiten zur Emotionsdarstellung in: Theaterszene Jahrbuch 2001, Sk Stiftung Kultur, hrsg. von Detlef Langer/Martin Burkert, Köln 2001.
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Literaturverzeichnis Aristoteles, Metaphysik, Reinbek bei Hamburg 1994. Barthes, Roland: Die große Familie der Menschen, in: Ders.: Mythen des Alltags, Frankfurt am Main 1976, 16-19. Ders.: Schockfotos, in: Wolfgang Kemp (Hrsg.): Theorie der Fotografie III, München 1999,107 f. Brodsky, Joseph: On Grief and Reason, New York 1996. Freund, Gisele: Photographie und Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg 1979. Gautrand, Jean-Claude: Der Blick der Anderen, in: Michel Frizot: Neue Geschichte der Fotografie, Köln 1998, 627-629. Honnef, Klaus: Thesen zur Autorenfotografie, in: Wolfgang Kemp (Hrsg.): Theorie der Fotografie III, München 1999, 204-210. Philipp, Claudia Gabriele: Die Ausstellung „ The Family of Man". Fotografie als Weltsprache, in: Fotogeschichte 23 (1987), 47. Sontag, Susan: Über Fotografie, Frankfurt am Main 1993. Steichen, Edward: The Family of Man, New York 1955.
Fotografien von Wiebke Leister
mit sich allein (Geburt I-V), 1997; Farbfotografien, Originalgrößen: 30 χ 30 und 20 χ 20 cm Seite 170-173 sectione (I-III), 1997; Farbfotografien, Originalgröße: 90 χ 90 cm Seite 174-175 ο. T. (Geburt VI), 1997; Farbfotografie, Originalgröße: 90 χ 90 cm Seite 176
Der normierte Wissenschaftler
Wilhelm Krull
Das Gute und das Rechte tun. Ethische Probleme und Herausforderungen in der interdisziplinären Nachwuchsförderung 1. Vorbemerkung Kein Zweifel: Ethik hat Konjunktur. Von der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Fragen zum Beispiel der Wirtschafts- oder Medizinethik, über die längst eingeleitete Herausbildung eines eigenen Diskursfeldes „Bioethik" und die immer häufigere Umwidmung von philosophischen, sozialpsychologischen oder medizinhistorischen Lehrstühlen in Ethikprofessuren, von der Erarbeitung politikorientierter Empfehlungen durch einen Nationalen Ethikrat über projektbezogene Prüfungsprozeduren zahlreicher Ethikkommissionen bis hin zu sich mehr und mehr ausdifferenzierenden, fachspezifischen Verhaltenskodices und Professionsethiken, der Erstellung von Leitlinien guter wissenschaftlicher Praxis sowie der Definition von ethischen Normen und Standards fur wissenschaftliches Publizieren reicht das Spektrum der Aktivitäten. Allenthalben werden pragmatisch-praktische Lösungen im Sinne von Gremienstrukturen, Verfahrensordnungen, Sanktionsandrohungen usw. entwickelt, die im Falle eines Falles rasche Abhilfe zu versprechen scheinen. Und doch bleibt beim nüchternen Betrachter des Geschehens ein Unbehagen zurück, ob angesichts des immer rascher voranschreitenden wissenschaftlich-technischen Fortschritts das Wettrennen zwischen oft langwierigen, Geduld und Präzision erfordernden moralphilosophischen Betrachtungen einerseits und zum Beispiel den neuen, scheinbar mühelos und immer schneller realisierbaren Produkten und Verfahren der modernen Biowissenschaften andererseits nicht längst dem Wettlauf zwischen Hase und Igel ähnelt, bei dem ja bekanntlich Meister Lampe „ein unerwartet tragisches, kardiogenes Ende" fand, wie es auch Axel W. Bauer hervorgehoben hat:' „Ehe ein Problem, das die Biowissenschaften aufwerfen, ethisch sorgfaltig ausdiskutiert werden konnte, präsentiert man uns schon das nächste Projekt. Eine seriöse, aufwerte und Folgen bezogene ethische Einschätzung ist daher kaum noch möglich. Es ist derzeit nicht die Ethik, sondern der globalisierte Markt, der entscheidet, was gemacht wird und was nicht. Unsere Moralvorstellungen passen sich manchmal allzu rasch und flexibel an. So ist die Lage, man sollte
1 Interview in: Die Rheinpfalz (Ludwigshafen) vom 31. Dez. 1999, Sonderbeilage 2000 „Die Rheinpfalz blickt in die Zukunft der Pfalz, 2.
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sich da keinen Illusionen hingeben. Von daher gesehen sind ethische Fragen stets auch politische Fragen, die nicht vom philosophischen Katheder aus zu entscheiden sind."
Ethische Wertvorstellungen werden als institutionelle Tatsachen von Menschen gemacht, von sozialen Gemeinschaften immer wieder neu entwickelt, bestätigt, modifiziert oder auch völlig aufgegeben. Mit Blick auf die heutige Gesellschaft bedeutet dies, dass uns zum Beispiel in weiten Teilen des Wirtschaftslebens vor lauter Fixierung auf den „shareholder value" das gemeinsame soziale Kapital an „shared values" abhanden zu kommen droht. In der Wissenschaft stellt sich angesichts des von neuem Wissen und wissenschaftsbasierten Technologien vorangetriebenen Wandels umso dringlicher die Frage, wie die Vermittlung zwischen dem, was wissenschaftlich geforscht und entwickelt, und dem, was gesellschaftlich fur notwendig oder doch fur wünschenswert gehalten wird, besser als bisher gelingen kann. Je höher die gesellschaftlichen Auswirkungen ihrer Forschungsarbeiten sind, umso mehr müssen auch die jeweiligen Wissenschaftler und ihre Institutionen bereit sein, die Verantwortung für die Folgen ihres eigenen Tuns nicht nur zu übernehmen, sondern auch gegenüber anderen darzulegen. Darüber hinaus stellt sich im innerwissenschaftlichen Prozess des Generierens von neuem Wissen die Frage, wie bei einer ständig steigenden Spezialisierung der Forschung, sich weiter erhöhendem Publikationsdruck und einer immer noch vorherrschenden Tendenz zur Diffusion von Verantwortung in den jeweiligen Institutionen ethische Normen und Standards wirkungsvoll implementiert werden können.
2. Anspruch und Wirklichkeit: Verhaltenskodices und Fehlverhalten in der Wissenschaft „Nenne dich niemals selbst einen Philosophen, und schwätze unter Ungebildeten nicht viel über die philosophischen Lehrsätze, sondern handele den Lehrsätzen gemäß." - So heißt es zu Beginn von Kapitel 46 in Epiktets Handbüchlein der Ethik. Doch dies ist gemeinhin leichter gesagt als getan. Fast zwei Jahrtausende später, in einer Zeit, in der die Entstehung, Aufbereitung und Vermittlung von neuem Wissen weitgehend simultan geschehen und wissenschaftsbasierte Technologien den Wandel in allen Bereichen immer schneller vorantreiben, gilt dies umso mehr. Wie neuere Umfragen 2 belegen, ist man sich unter Wissenschaftlern zum Beispiel in den USA und in Japan sogar weitgehend darüber einig, dass diese nach höheren ethischen Maßstäben agieren sollten als die übrige Bevölkerung. Bei weiteren Nachfragen zeigt sich jedoch, dass fast 50 % der befragten japanischen Wissenschaftler nicht daran glauben, dass ihre Kolleginnen und Kollegen tatsächlich höheren moralischen Ansprüchen gerecht werden als die übrige Bevölkerung. In amerikanischen Befragungen haben 8 % der Forscher eingeräumt, dass sie von Plagiats- oder Fälschungsfällen ihrer Kollegen wissen, 18 % haben gar
2 Vgl. dazu Nature, Vol. 398, 4. März 1999, 13-17.
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entsprechendes Fehlverhalten von Doktoranden beobachtet. In der klinischen Medizin hat die Hälfte der interviewten Forscher erklärt, dass ihnen Fälschungsfälle im Kollegenkreis nicht zuletzt unzulässige Manipulationen bei klinischen Tests von Medikamenten - bekannt seien. Schon ein Blick auf die Homepage des britischen Committee on Publication Ethics (COPE) genügt, um zu erkennen, dass nicht nur im Forschungsprozess selbst, sondern auch im Publikationskontext eine Fülle von Fälschungsfällen auftritt. Neben gravierenden Veränderungen von Daten, dem Übernehmen ganzer Textpassagen aus fremden Veröffentlichungen und ähnlichen Delikten scheint mittlerweile das mehrfache Veröffentlichen von ein und denselben Ergebnissen schon beinahe zum Alltag zu gehören. Laut COPE handelt es sich bei rund 13 % der in naturwissenschaftlich-medizinischen Zeitschriften veröffentlichten Artikel um bereits publiziertes Material. Immer mehr wissenschaftliche Fachgesellschaften, Förderorganisationen und Zeitschriftenredaktionen sind deshalb in den letzten Jahren dazu übergegangen, Leitlinien und Grundsätze für gutes wissenschaftliches Verhalten und für das Publizieren der Ergebnisse zu definieren. Dies scheint mittlerweile auch in Europa unverzichtbar zu sein; denn ein gemeinsames ethisches Grundverständnis („shared values") über die Ausübung des Wissenschaftlerberufs und vor allem ein entsprechendes Verhalten ist offenbar abhanden gekommen. Falscher Ehrgeiz und Wettbewerb um jeden Preis bestimmen auch den wissenschaftlichen Jahrmarkt der Eitelkeiten. Zweifellos verführen der stark gestiegene Publikationsdruck und die zunehmende Orientierung an so genannten „impact factors" den einen oder anderen Forscher dazu, bei der Präsentation seiner Ergebnisse mehr oder weniger stark nachzuhelfen. Wie der amerikanische Evolutionsbiologe Bradford A. Hawkins - wenn auch nur an einem sehr kleinen Sample - gezeigt hat, ist im Zeitverlauf eine klare Tendenz zu „More haste, less Science" zu erkennen. 3 Immer häufiger geraten damit Wissenschaftlerinnen und Wissenschafter auf die schiefe und rutschige Bahn vom Flüchtigkeitsfehler zur Fälschung. Auch in Deutschland haben die großen Wissenschaftsorganisationen, zum Beispiel die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Max-Planck-Gesellschaft, - nicht zuletzt auf Grund konkreter Fälschungsfälle - darauf längst mit Regeln guter wissenschaftlicher Praxis reagiert. Die Frage stellt sich jedoch: Kann ein solcher regulatorischer Rahmen die wissenschaftliche Praxis nachhaltig beeinflussen?
3. Interdisziplinarität: Chance und Risiko in Ausbildung und Forschung Das kritische Überprüfen bereits publizierten Wissens gehört zum elementaren Handwerkszeug des Forschers. Es handelt sich dabei freilich nur um eine notwendige, aber keineswegs um eine hinreichende Bedingung für ein erfolgreiches Wirken in der Wissenschaft. Denn
3 In Nature, Vol. 398 vom 5. Aug. 1999, 498.
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letztlich zählt nur die neu hervorgebrachte, bisher noch nicht ans Tageslicht beförderte Erkenntnis - oder wie es Albert Einstein formuliert hat: „Es kommt auf das Pionierwerk in der Wissenschaft an, das im Auffinden von neuen und unerwarteten Wegen besteht, auf die Abenteuer im wissenschaftlichen Denken, die zu immerfort wechselnden Bildern des Universums Anlass geben. Die ersten fundamentalen Schritte sind immer von revolutionärem Charakter."4 Meines Erachtens wird auch der schärfste Kritiker disziplinarer Spezialisierung oder gar Überspezialisierung nicht umhin können, den gerade dadurch möglich gewordenen enormen Wissenszuwachs über die letzten Jahrzehnte hinweg anzuerkennen. Mittels immer stärker fokussierter Forschung ist es gelungen, eine Fülle von Detailwissen über unsere natürlichen und gesellschaftlichen Umweltbedingungen anzuhäufen. Die arbeitsteilige Erzeugung neuen Wissens hat aber nicht nur zur Klärung von Einzelfragen gefuhrt, sondern zugleich - etwa in Medizin und Technik - zu einer enormen Verbesserung unserer Lebensqualität beigetragen. Der Preis einer solchen arbeitsteiligen Spezialisierung für den Einzelnen ist freilich hoch: Er weiß am Ende immer mehr über immer weniger. Während seine Fachkompetenz weiter wächst, besteht zugleich die Gefahr, dass er an Überblickskompetenz verliert. Indem solche inter- und transdisziplinären Forschungszusammenhänge immer mehr in den Vordergrund rücken, drängt sich zugleich die Frage auf, was denn der Einzelne heutzutage in der Wissenschaft noch zu leisten vermag. Kommt es nicht vielmehr darauf an, immer wieder - wie es B. C. Griffith und N. C. Mullins in ihrem Aufsatz über „Invisible Colleges" formuliert haben - „coherent and activist groups" zu bilden, um Ergebnisse zu erzielen, „which never could have been achieved without collaboration".5 Falls dies zutrifft, ist eine Konzentration auf die bislang überwiegend praktizierte, reputationsbezogene Förderung Einzelner schwerlich das richtige Vorgehen. Für das Funktionieren einer interdisziplinären Forschungsgruppe ist vielmehr zusätzlich eine ganze Liste von Merkmalen für die Mitwirkenden zu beachten, so unter anderem (vgl. dazu bereits 1958 Margaret B. Luszki6): -
die Akzeptanz der Führungspersönlichkeit,
-
Rollenflexibilität,
-
die Bereitschaft zur Entwicklung und Verwendung einer gemeinsamen Begrifflichkeit,
-
die Fähigkeit zur freien Kommunikation zwischen allen Teammitgliedern, zum freien Austausch von Informationen usw.,
-
Einverständnis mit der gemeinsamen Verwendung von Ideen, Daten usw. durch die Teammitglieder,
-
Bereitschaft zur Mitwirkung in einem andauernden Prozess des Lehrens und Lernens,
4 A. Einstein, zit. nach Max Planck-Gesellschaft (Hrsg.): Wissen für das 21. Jahrhundert. Der Beitrag der Grundlagenforschung zur Problemlösungskompetenz von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, München 1996, 18. 5 Griffith/Mullins 1972. 6 Luszki 1958, 125.
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die Fähigkeit zu problemorientierter, nicht an einzelnen Disziplinen oder Personen ausgerichteter Arbeit,
-
Bereitschaft zur Unterordnung der eigenen Methoden und Interessen unter das gemeinsame Projektziel.
Wenn man die „Misere der Spezialisierung" (Peter Weingart) und der Vereinzelung vermeiden will, tut man sicher gut daran, sich zuvor einen Eindruck von der .kommunikativen Kompetenz' und der Kooperationsbereitschaft der jeweiligen Wissenschaftlerpersönlichkeiten zu verschaffen. Es kann meines Erachtens keinen Zweifel geben, dass solche inter- und transdisziplinären Forschungsgruppen dringender denn je benötigt werden, wenn wir den nachfolgenden Generationen nicht einen Scherbenhaufen von ungelösten Problemen hinterlassen wollen. Gleichzeitig darf man aber nicht übersehen, dass fur die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in solchen Projekten ein erhöhtes Karriererisiko besteht. Indem sie die Kernbereiche ihrer jeweiligen Disziplinen verlassen und sich an deren Ränder oder gar darüber hinaus wagen, laufen sie zugleich Gefahr, bei allfälligen Neubesetzungen von Professuren, deren Denomination sich fast immer an einzelnen Fachgebieten orientiert, unberücksichtigt zu bleiben. Hier besteht - mehr in Deutschland als zum Beispiel in den USA oder in Großbritannien ein nicht zu vernachlässigendes Motivationsproblem für den wissenschaftlichen Nachwuchs. Zugleich rührt dieses Problem an ein anderes, sehr viel grundsätzlicheres: der vom wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt und den technologischen Innovationen selbst immer weiter beschleunigte Wandel und die sich daraus ergebenden Veränderungsnotwendigkeiten finden bislang kaum eine Entsprechung in der Veränderungsfähigkeit der eben diesen Wandel entscheidend mitvorantreibenden Institutionen, nicht zuletzt der Universitäten. Wissenschaftsförderung kann - jedenfalls auf mittlere Sicht - nicht ohne Wettbewerb auskommen. Der immer wieder zu erneuernde Zwang zur Auswahl des Besten ist geradezu eine Grundbedingung für den Erfolg. Dies gilt für einzelne Projekte ebenso wie für ganze Programme, erst recht aber für Personen. Dabei kommt es entscheidend darauf an, dass dies in für alle Beteiligten transparenten und nachvollziehbaren Verfahren, nach anerkannten Kriterien und nicht zuletzt in einem institutionellen Rahmen geschieht, der das volle Vertrauen der Antragsteller wie der Gutachter genießt. Bei dem notwendigen Wettbewerb um die knappen Forschungsmittel kommt es entscheidend darauf an, die Balance zu halten zwischen der notwendigen Freiheit des Denkens und der Erkenntnissuche, damit wirklich Neues entdeckt werden kann, und der ebenso notwendigen Auswahl der vielversprechendsten Projekte (das impliziert immer auch die Ablehnung einer erheblichen Zahl von Anträgen). Vordergründig betrachtet entsteht hier ein Widerspruch, den der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, Prof. Dr. Hubert Markl, so formuliert hat: „Wenn mit arg knappen Mitteln nur wirklich vielversprechende, innovationsverheißende Forschung gefördert werden soll, andererseits aber gerade bei den wirklichen Vorstößen ins Unbekannte niemand wissen kann, ob neue Ideen zum Ziel oder nur verschwenderisch in die Irre
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fuhren, weil erst post festum erkennbar ist, ob die Expeditionen all dieser Kolumbusse auf der Suche nach dem verheißungsvollen Indien dann wenigstens ein neues Amerika an Erkenntnissen entdeckt haben: wonach soll dann die Auswahl bei der Allokation von Forschungsressourcen erfolgen? Damit also die Auswahl ,des Besten' gelingt, wenn es der Wissenschaft auch bei intensivstem Bemühen immer erst hinterher gelingt, im kritischen Prüfungsverfahren die Spreu vom Weizen zu trennen?"7 Gerade mit Blick auf die originellsten Köpfe und deren Förderung kann ein Forschungssystem nicht darauf verzichten, ein möglichst breites und vielfältiges Förderangebot zu haben und auch immer wieder Korrekturmöglichkeiten einzubauen, die eine Durchlässigkeit gewährleisten, zum Beispiel für Talente, die zwar in der Reproduktion bekannten Wissens eher Schwächen zeigen, dafür aber bei der Entwicklung neuer Methoden oder deren Anwendung besonders kreativ sind. In einem Vortrag über „Die Auswahl des Besten - Methoden und Wirkungen" hat Hubert Markl dies wie folgt formuliert: „Deshalb sollten wir auch in einem straff auf Leistungsforderung, Leistungsförderung und leistungsbezogener Auslese ausgerichteten Ausbildungssystem immer Möglichkeiten fur jene offen halten, die - gleich aus welchem Grund, sei es als Spätentwickler oder weil sie erst auf Umwegen zu ihrer eigentlichen Berufung fanden - nicht auf dem geraden, sozusagen vorgeschriebenen Weg zur Forschung kommen. Die Geschichte der Wissenschaft ist voll von ausgefallenen Biographien ungewöhnlicher Frauen und Männer, und fast will es ja scheinen, als seien Normalität - von Ausbildungsweg, Berufskarriere, systemkonformem Erfolg und übrigens auch das häufig so oft gesetzte übertriebene Kriterium, wie schnell diese Leistungen erbracht wurden - und wissenschaftliche Ausnahmeleistung eigentlich ein Widerspruch in sich selbst. Wenn wir also die Auswahl der Besten wollen, die das Beste leisten sollen - und wir müssen sie ja im Interesse des Erkenntnisfortschritts wollen - , dann müssen wir gerade in einem leistungsorientierten Ausbildungssystem Seitenwege und Seitenzugangstüren fur die offen halten, die erst später (aber manches Mal auch unvorhergesehen verfrüht!), jedenfalls aber auf anderen als den genormten Wegen zu uns stoßen."8 Angesichts der Notwendigkeit, als Forscher in unbekanntes Terrain jenseits der Grenzen des verfügbaren Wissens vorzustoßen, stellt sich die Frage, wie denn die Erfolgsaussichten beurteilt werden können. Hier hat sich in der scientific community seit langem die Auffassung durchgesetzt, dass sich dies am besten mittels peer review, das heißt durch die Begutachtung wissenschaftlicher Leistungen oder künftiger Leistungsfähigkeit durch ausgewiesene Fachkollegen bewährt hat. Durch kein anderes Verfahren scheint in gleicher Weise sichergestellt werden zu können, dass die Auswahl von Bewerbern für leitende Wissenschaftlerstellen, von forderungswürdigen Stipendiaten oder Projektanträgen, von Zeitschriftenmanuskripten usw. nach wissenschaftlichen Qualitätsstandards vorgenommen wird. Ge-
7 H. Markl: Die Auswahl der Besten. Methoden und Wirkungen, in: Internationalität. Symposium der Max-Planck-Gesellschaft, Schloß Ringberg, 20.-22. Mai 1996, 282. 8 Ebd., 287 f.
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rade in den letzten beiden Jahrzehnten hat sich peer review als Verfahren der Qualitätsbewertung in immer weiteren Bereichen durchgesetzt, zum Beispiel bei der Beurteilung von Fachbereichen und Fakultäten, aber auch bei der Bewertung des Erfolgs ganzer Forschungsfelder oder -programme. Dieser positiven Sicht der Gutachterinnen und Gutachter als „Gralshüter der Wissenschaft" steht seit einigen Jahren jedoch auch zunehmende Kritik gegenüber, die der Selbststeuerung der Wissenschaft durch peer review vorwirft, sie sei unzuverlässig, nicht valide, unfair und schade vor allem der besonders originellen, innovativen Forschung. Untersuchungen in Nordeuropa und den USA haben bereits verschiedentlich gezeigt, dass peer review vor allem „main stream science" begünstigt. Daher wurde auch schon die Abschaffung des Gutachterwesens gefordert und stattdessen „peerless science" (so der Titel eines Buches von Chubin und Hackett aus dem Jahre 1990) im Sinne einer indikatorgesteuerten Mittelverteilung für zumindest annähernd genauso wirksam erklärt. Trotz eines gegenteiligen Verdikts von Arthur Schopenhauer zur Urteilsunfähigkeit seiner Kollegen, denen er bescheinigte, ihnen wohne so viel Urteilskraft inne „wie dem Kastraten Zeugungskraft", bin ich persönlich ganz und gar davon überzeugt, dass man in der Forschungsforderung ohne den gutachterlichen Rat von Experten nicht auskommen kann. Dies gilt insbesondere für die Bewertung einzelner Personen, Publikationen oder Projekte. Zwar gibt es mittlerweile auch eine Reihe allgemein anerkannter Indikatoren, an denen man die bisherigen Leistungen von Personen oder auch Institutionen ablesen kann. Sie stellen jedoch letztlich nur Näherungswerte dar und reichen keineswegs aus, um die tatsächliche Leistungsfähigkeit mit Blick auf das beantragte Vorhaben zuverlässig zu beurteilen. Freilich ist auch nicht zu übersehen, dass peer review primär ein Instrument der Qualitätssicherung ist und weniger eines der risikofreudigen Förderung von ganz neuen Ideen. Dies gilt insbesondere mit Blick auf inter- und transdisziplinäre Vorhaben, für die sich ein schriftliches Begutachtungsverfahren mit entsprechenden Stellungnahmen mehrerer Spezialisten aus dem Blickwinkel ihrer jeweiligen Disziplinen nicht bewährt hat. In der VolkswagenStiftung arbeiten wir daher immer mehr mit Gutachterkreisen, die wir in die Stiftung einladen und mit denen wir gemeinsam die Förderungswürdigkeit der einzelnen Anträge erörtern. Damit ist einerseits nicht ausgeschlossen, dass für die eine oder andere Spezialfrage zusätzliche Gutachten eingeholt werden, andererseits zeigt sich jedoch immer wieder, dass der Gedankenaustausch der Experten untereinander für eine faire Urteilsbildung essenziell ist. Erst in der Diskussion mit den Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Fachgebieten zeigt sich häufig, dass der Blickwinkel allein aus dem eigenen Fach heraus für eine angemessene Bewertung des gesamten Vorhabens nicht ausreicht. Wir hoffen zwar, dass es uns auf diese Weise gelingt, die besten und innovativsten Vorhaben und nicht zuletzt die originellsten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu fordern, absolute Sicherheit oder gar einen wirksamen Schutz vor Irrtümern gibt es jedoch nicht. Es bleibt einem letztlich nichts anderes übrig, als immer wieder zu versuchen, die Begutachtungsprozesse so fair wie möglich zu gestalten und sie in ihren einzelnen Verfahrensschritten zu optimieren.
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Wilhelm Krull
4. Zur Verantwortlichkeit wissenschaftsfördernder Institutionen Nicht nur die ethischen Herausforderungen der modernen Gentechnologie, sondern auch die wissenschaftsimmanenten Schwierigkeiten mit Blick auf das Einhalten von Standards und Verhaltenskodices rücken zunehmend ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Der Fall des Ulmer Medizinprofessors Hermann und viele andere, weniger spektakuläre Fälle haben uns in den letzten Jahren deutlich gemacht, dass „scientific misconduct" kein allein amerikanisches Phänomen darstellt, wie viele deutsche Wissenschaftler noch zu Beginn der 90er Jahre geglaubt haben, sondern auch in unserem Wissenschaftsalltag mehr als uns lieb sein kann präsent ist. Aber nicht nur mit Blick auf das Einhalten ethischer Normen und Standards im eigenen Forschungshandeln, sondern auch mit Blick auf die aus den Forschungsergebnissen resultierenden Konsequenzen ist eine verstärkte Reflexion gefordert. Je stärker wissenschaftliches Wissen und wissenschaftsbasierte Technologien unseren Alltag bestimmen, umso notwendiger wird auch eine Vermittlung zwischen dem, was wissenschaftlich geforscht und entwickelt wird, und dem, was gesellschaftlich für notwendig oder doch für wünschenswert gehalten wird. Mit dem Begriff des „socially robust knowledge", also des gesellschaftlich tragfähigen Wissens, haben Michael Gibbons, Helga Nowotny u. a.9 deutlich gemacht, dass Wissenschaftler sich nicht länger auf einen Dialog mit anderen Wissenschaftlern konzentrieren können, sondern dass sie sich in viel stärkerem Maße als bisher auf einen breit angelegten Diskurs über Ziel und Zweck ihrer jeweiligen Forschung einstellen müssen. Je höher die gesellschaftliche Relevanz ihrer Forschungsarbeiten ist, umso mehr müssen sie - wie oben dargelegt - auch bereit sein, die Verantwortung für die Folgen ihres eigenen Tuns nicht nur zu übernehmen, sondern gegenüber anderen transparent zu machen. Dem beschleunigten Wandel zur Wissensgesellschaft und den damit verbundenen Folgen fur unser aller Leben müssen sich sowohl die Institutionen (Hochschulen und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen, aber auch die großen Wissenschaftsorganisationen und die wissenschaftsfördernden Stiftungen) als auch die in Wissenschaft und Forschung tätigen Personen (die leitenden Wissenschaftler und Professoren ebenso wie der wissenschaftliche Nachwuchs) offen stellen. Letztere können sich nicht länger ins Schneckenhaus ihres jeweiligen Projekts oder Spezialgebiets zurückziehen. Und die Institutionen werden sich künftig viel stärker als bisher mit der Ambivalenz des wissenschaftlich-technischen Fortschritts auseinandersetzen müssen. Als forschungsfÖrdernde Institutionen können sie sich auch nicht länger damit begnügen, nur Stipendien oder Projektmittel für die jeweiligen Vorhaben bereitzustellen. Es gilt vielmehr, Möglichkeiten für weitergehende Reflexion und Diskussion zu eröffnen. Dabei wären auch die möglichen Konsequenzen des eigenen Förderhandelns zu erörtern. Wie dies aussehen könnte, möchte ich abschließend an zwei Beispielen aus der Fördertätigkeit der VolkswagenStiftung erläutern.
9 Nowotny/Gibbons/Scott 2001, 168.
Das Gute und das Rechte tun
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4.1 Die bedrohten Sprachen und ihre Dokumentation im world-wide web Experten schätzen, dass derzeit weltweit etwa 6.500 Sprachen gesprochen werden, von denen voraussichtlich nur ein Drittel die nächsten 100 Jahre überleben wird. Die übrigen werden einem sich immer weiter beschleunigenden Prozess kultureller Globalisierung zum Opfer fallen. Dieser setzt häufig bereits dann ein, wenn die elektronischen Medien eine abgelegene Region erreichen und die ausgestrahlten Programme nur in der offiziellen Landessprache - oftmals einer Fremdsprache - ausgestrahlt werden. Repressive staatliche Erziehungssysteme tun in vielen Regionen der Erde ein Übriges. Mit jeder Sprache stirbt auch eine bestimmte Weltsicht, eine Kultur, die uns ohne eine professionell aufbereitete Dokumentation für immer verloren geht. Ein Programm zur Dokumentation solcher, oftmals nur mündlich tradierter Sprachen kann natürlich die Entwicklung insgesamt nicht aufhalten, geschweige denn revidieren. Aber es kann ihr spurloses Verschwinden verhindern und, so hoffen wir, im Einzelfall auch durch die angestrebte umfassende, multimediale Dokumentation der jeweiligen Sprecher in ihrem kulturellen Umfeld dazu beitragen, den Prozess des Aussterbens der Minderheitensprachen zu verlangsamen (zum Beispiel durch gemeinsam von .native speakers' und Forschern entwickelte Kinderbücher, Unterrichtsmaterial und so weiter). Es ist beabsichtigt, alle Materialien über eine multimediale Internet-Datenbank10 zugänglich zu machen. Nun, werden Sie sich vielleicht fragen, wo liegt das ethische Problem? Die Feldforscher tun doch offenkundig etwas Gutes, indem sie ansonsten unwiederbringlich verloren gehende Kulturschätze retten. Und mit Hilfe der modernsten Technik wird es möglich, dies in einem so umfassenden Sinne zu tun, dass auch künftige Wissenschaftlergenerationen noch davon profitieren werden. Wer sollte also dagegen Bedenken erheben? Die Antwort kommt von den Betroffenen selbst, die keineswegs immer erfreut sind darüber, dass fremde Forscher mit „ihren Bildern" von dannen ziehen. Sie erreicht uns jedoch als forschungsfördernde Institution zumeist nur indirekt über interkulturell sensibilisierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die es für dringlich halten, mit der Vergabe von Forschungsgeldern zugleich auch die Verpflichtung zu verbinden, sich an im einzelnen noch zu definierende Normen und Standards bei der Erschließung, Aufbereitung und Verfiigbarmachung des jeweiligen Dokumentationsmaterials zu halten. Die Frage im „Endangered Language Fund Newsletter" lautet also: „How can we ethically put language on the web?" und es gilt demnach, unter anderem auf folgende Punkte eine Antwort zu finden: -
Die Rechte an Sprachdokumentationsmaterialien fallen unter das Recht am geistigen Eigentum. Sie schließen bisweilen auch Tanz, Musik und bildende Kunst mit ein. Wie lassen sich die „indigenous intellectual property rights"11 angemessen schützen?
-
Die Zustimmung der Betroffenen wird oft nur vom einzelnen Forscher beim jeweiligen Sprecher eingeholt. Sie basiert zumeist auf gegenseitigem Vertrauen. Wenn aber die Do-
10 www.mpi.nl/DOBES. 11 D . H . Whalen in: Endangered Language Fund Newsletter, 5,1 (2001), 1.
Wilhelm Krull
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kumentation nun über Internet zugänglich wird und damit ganz andere Zugriffs- und Verwendungsmöglichkeiten eröffnet werden, gilt dann auch hierfür die Zustimmung als erteilt? -
Mit der Dokumentation bedrohter Sprachen wird normalerweise kein Geld zu verdienen sein. Falls dies aber doch eintreten sollte, wie kann dann sichergestellt werden, dass die Vertreter der Ursprungskultur daran angemessen beteiligt werden?
Dies sind nur drei Fragen, die illustrieren sollen, wie sehr sich auch eine von besten Absichten und hehren Zielen getragene Forschungsforderung vor ethische Herausforderungen gestellt sieht, die nicht zuletzt in den neuen Möglichkeiten multimedialer Kommunikation ihren (doppelten) Ursprung haben.
4.2 Interdisziplinäre Nachwuchsförderung und ihre Institutionalisierung Sowohl in ihren thematisch fokussierten Schwerpunkten als auch in den strukturell angelegten Programmen, so zum Beispiel „Nachwuchsgruppen an deutschen
Universitäten",
„Schlüsselthemen der Geisteswissenschaften" und seit Juli 2001 auch das
„Tandem-
Programm zur Förderung der fachübergreifenden Zusammenarbeit von Postdoktoranden", versucht die VolkswagenStifiung
immer wieder, Impulse fur die inter- und transdisziplinäre
Zusammenarbeit zu geben, zumal diese im weitgehend interdisziplinär ausgerichteten Hochschulalltag zu kurz kommt. Die Förderangebote zielen also darauf ab, Nachwuchswissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler frühzeitig in die Lage zu versetzen, von ihnen selbst entwickelte Fragestellungen, fur deren Beantwortung eine allein disziplinar angelegte Herangehensweise nicht ausreicht, im Zusammenwirken mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Fächern mit Aussicht auf Erfolg angehen zu können. Zwar ist es wissenschaftspolitisch gesehen heute schon beinahe eine Binsenweisheit, dass sich die Forschung innerwissenschaftlich immer häufiger an den Rändern der herkömmlichen Fächer bewegt und außerhalb der Wissenschaft von ihr ein Beitrag zur Lösung von Problemen, zum Beispiel im Energie-, Umwelt- und Gesundheitsbereich, erwartet wird, der sich nicht an Fächer- und Disziplingrenzen halten kann, aber die Wirklichkeit innerhalb der Institution Hochschule sieht anders aus. Da ist es für den hochbegabten Jungforscher oder die Jungforscherin allemal weniger riskant, sich im Kernbereich der jeweiligen Disziplin weiter zu qualifizieren als sich an deren Ränder oder gar darüber hinaus zu begeben; denn nach wie vor werden Professuren in aller Regel im Kontext disziplinär orientierter Institute, Fachbereiche oder Fakultäten ausgeschrieben (und nur äußerst selten in transdisziplinären Zentren). Die individuellen Karrierechancen dürften sich also durch ein Engagement in inter- oder transdisziplinären Kooperationsvorhaben eher vermindern als erhöhen. Eine mit vergleichsweise bescheidenen Mitteln agierende private Förderinstitution kann dieses Dilemma allein nicht lösen. Sie kann aber immer wieder den Finger in die Wunde legen und auf die obige Diskrepanz zwischen wissenschaftspolitischen Lippenbekenntnissen und tatsächlichem Institutionenhandeln aufmerksam machen (und vielleicht auch auf allmähliche Besserung hoffen?). Sie darf als verantwortungsvoll handelnde Wissenschaftsför-
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Das Gute und das Rechte tun
derin aber nicht darauf warten, bis eines Tages die lange für wünschenswert erachtete Änderung eintritt, sondern muss selbst unterstützende Förderangebote entwickeln, die ein nachhaltiges Erreichen ihrer Förderziele sichern und zugleich für die Besten der von ihr bereits in der Postdoc-Phase geförderten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler reelle Berufungschancen eröffnen. Dafür ein richtiges Maß zu finden ist freilich keine einfache Aufgabe; denn wie immer man die Anforderungen an eine solche zweite Förderphase der institutionellen Implementationshilfe auch definieren mag, die Grenzen ihrer Reichweite w e r d e n - nicht zuletzt aus der Sicht der Betroffenen- umstritten bleiben. Um mit einer metaphorischen Selbstmystifikation der Wissenschaft zu schließen: Im Labyrinth der Forscher kann es nicht nur Sieger geben.
Literaturverzeichnis Griffith, Belver C./Nicholas Creed Mullins: Coherent Social Groups in Scientific Change, in: Sience, Vol. 177, 15. Sept. 1972, 959-964. Luszki/ Margaret B.: Interdisciplinary
Team Research - Methods and Problems, New York 1958.
Nowotny, Helga/Michael Gibbons/Peter Scott: Re-thinking Science. Knowledge and the Public in an Age of Uncertainty, Cambridge 2001.
Sybille Reichert
Das Gute und das Rechte lehren*
1. Wilhelm Krull macht in seinem Beitrag den Verlust gemeinsamer Werte, steigenden Konkurrenz· und Publikationsdruck und die stetig wachsende arbeitsteilige Spezialisierung für die gerade in den letzten Jahren augenscheinlich gestiegene Anzahl und die vielfach bekannt gewordenen Fälle wissenschaftlichen Fehlverhaltens verantwortlich. Vor diesem Hintergrund analysiert Krull, aus seiner Perspektive der Wissenschaftsforderung, welche Formen wissenschaftlicher Praxis begünstigt werden sollten. Seines Erachtens komme es darauf an, nicht nur den Anforderungen wachsendender Fachkompetenz Genüge zu leisten, sondern ebenso Sorge zu tragen, den drohenden Verlust an Überblickskompetenz zu kompensieren, ja letztere in gewisser Weise wiederzugewinnen. Nicht zuletzt im Wissen um wachsende gesellschaftliche Erwartungen und Problemstellungen an die Wissenschaft hält es Krull, der hier eine Formulierung von Griffith und Mullins aufgreift, fur notwendig, „coherent and activist groups" zu bilden und zu fördern, die gerade in ihrer Zusammenarbeit Ergebnisse erzielen, die ohne diese kooperationalen Strukturen kaum möglich gewesen wären. Da ich sowohl in der Diagnose wie auch, um bei der medizinischen Metapher zu verbleiben, im Therapievorschlag, nämlich der positiven Bewertung der genuinen Herausforderungen interdisziplinärer Forschergruppen, Krull nur beipflichten kann, werde ich weniger kritisch als ergänzend kommentieren.
2. Ich möchte Wilhelm Krulls Frage nach den Professionsnormen der Wissenschaft (und nach deren Verlust) noch einmal aufgreifen. Gerade die von Krull ins Feld geführte interdisziplinäre Forschergruppe bedarf ja, wie er richtig herausstellt, gewisser Voraussetzungen, um effektiv, glaubwürdig und innovativ arbeiten zu können. Diese Voraussetzungen allerdings,
* Kommentar zu dem Beitrag von Wilhelm Krull: Das Gute und das Rechte tun. Ethische und Herausforderungen in der interdisziplinären Nachwuchsförderung.
Probleme
Das Gute und das Rechte lehren
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von ihm zutreffend als verschiedene Ausbildungen kommunikativer Kompetenz- und Kooperationsbereitschaft bezeichnet, entscheiden auch sonst zum großen Teil über das Gelingen wissenschaftlichen Austauschs und wechselseitiger Anregungen in der Wissenschaftsgemeinschaft. Deshalb lässt sich die Frage nach den Herausforderungen der interdisziplinären Nachwuchsförderung letztlich zurückführen auf die Frage nach der Entstehung (oder besser: Bildung) der wissenschaftlichen Professionsnormen in der Nachwuchsförderung. Was wird eigentlich in unserem Wissenschaftssystem gegenwärtig getan, um diese Normen wissenschaftlicher Praxis zu reproduzieren? In hochschulpolitischen Debatten ist in zunehmendem Maße von Leistungsindikatoren und Leistungsmessung die Rede. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verweisen jedoch zurecht auf die Grenzen dieser Versuche, wissenschaftliche Leistung quasi objektiv messen zu wollen. Wie auch die Hochschulforscherin Ada Pellert anmerkt, ist es gerade die Eigenheit einer Expertenkommission, dass ihre Leistung (für Nicht-Experten) nur schwer nachvollziehbar, also messbar ist. Expertenkommissionen können daher, mit anderen Worten, kaum extern evaluiert werden und bleiben somit abhängig von der Überprüfung durch wiederum andere Experten.1 Das heißt aber, dass letztlich allein die Selbstkontrolle der Wissenschaftsgemeinschaft entscheidend ist und bleibt. Somit hängt jede qualitative Beurteilung von der Qualität der Beurteiler ab. Wir finden uns in dem wohlbekannten Expertendilemma wieder. Ist aber die Selbstkontrolle der Wissenschaft durch Wissenschaft entscheidend für ihre Glaubwürdigkeit als Wissenschaft (das heißt als einem System, das mit dem Begriff Wahrheit operiert), dann wird die Frage nach den Reproduktions- und Sozialisationsmechanismen um so dringlicher. Denn das Wissenschaftssystem kann nur so gut sein wie die Wissenschaftler, die dieses System konstituieren und kontrollieren. Auf diese zirkelhafte Binnenstruktur von Wissenschaft hat vor einiger Zeit auch Carl Friedrich Gethmann auf dem MaxPlanck-Symposium zum Ethos der Forschung hingewiesen: „Würde man zur Lösung der Glaubwürdigkeitskrise allein auf gesetzgeberische Maßnahmen setzen, wäre das Expertendilemma lediglich iteriert... Somit muß auf ein wenigstens partiell intaktes Ethos rekurriert werden. Ein Standesethos besteht nicht automatisch; es bedarf vielmehr der systematischen Ausbildung und der Unterstützung durch Staat und Gesellschaft."2 Gethmann beklagt aus diesem Grund den Verlust gemeinschaftsstiftender Symbole mit ihren Verpflichtungen auf das Ethos der Wahrhaftigkeit. Ob jedoch die institutionellen Lösungsansätze, die Gethmann vorschlägt, in die richtige Richtung zielen, scheint fraglich zu sein. Denn es wäre wesentlich wichtiger, im Forschungsalltag der Nachwuchswissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler anzusetzen und zu überlegen, was sich an der professionellen Betreuungswirklichkeit verbessern lässt. Hier muss die Fähigkeit erwachsen, jene Haltungen
1 Pellert 1999, 173. 2 Gethmann 2000, 38.
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Sybille Reichert
zu fordern und jene Professionsnorm zu bilden, die zugleich den größtmöglichen Raum für Originalität lässt und wissenschaftliche Glaubwürdigkeit schafft. Ein Katalog solcher Professionstugenden, oder sagen wir Bedingungen für Glaubwürdigkeit, enthielte meines Erachtens: -
den Willen zur gegenseitigen Anregung und die Anerkennung forschender „Konkurrenten",
-
die Beharrlichkeit geduldiger und hartnäckiger Erkenntnissuche, die auch Umwege nicht
-
die Fähigkeit, eigene Wissenslücken identifizieren und eingestehen zu können, um dieses
scheut, Unwissen in gezielte Fragen und Versuchshypothesen zu überführen, -
die Fähigkeit zur, auch öffentlichen, Selbstkritik und -korrektur,
-
die Fähigkeit, Widersprüche und Spannungen zwischen Hypothesen und Versuchsergebnissen nicht nur zu ertragen, sondern diesen auch gezielt nachzugehen und sie nicht aus Bequemlichkeit zu überdecken,
-
die Bereitschaft, den eigenen Wissenstand so zu vermitteln, dass er für ein größtmögliches (Fach-)Publikum nachvollziehbar wird.
Die erste und elementare Forderung aber an jene, die hauptamtlich mit der Sozialisation des wissenschaftlichen Nachwuchses befasst sind - seien es nun Assistenten, Dozenten oder Professoren - muss sein, dass sie nur so viele Nachwuchswissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler in ihre Obhut nehmen, wie sie anspruchsvoll und zeitoptimal betreuen können. Das Wissenschaftssystem sowie seine Institutionen und Organisationen sollten, das erscheint mir ein sinnvoller Anspruch zu sein, nur Nachwuchsbetreuung fordern und ermöglichen, die jenem Grundsatz gerecht wird, oder, das wäre das wenigste, diese zumindest nicht unterbinden.
3. Das Jeder-gegen-jeden-Syndrom, das sich im wissenschaftlichen Konkurrenzkampf allzu häufig beobachten lässt, ist letztlich zu einem nicht unbeträchtlichen Teil verantwortlich für die vielen bekannten und nicht bekannt gewordenen Fälle wissenschaftlichen Fehlverhaltens; darüber hinaus hemmt es auch, da starrköpfige Konkurrenz das kommunikative und kooperative Potential von Wissenschaft erheblich beeinträchtigt, den wissenschaftlichen Fortschritt. Diese Jeder-gegen-jeden-Symptomatik kann nur unterbunden werden, wenn so etwas wie Kooperationswille und Teamfähigkeit nicht nur in den Ingenieurwissenschaften als Schlüsselkompetenz herausgebildet wird, sondern im gesamten Fächerspektrum - selbstredend in einer je wissenschaftsspezifischen Form - von den lehrenden, betreuenden und begutachtenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gefordert und gefordert wird. Nachwuchswissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler müssen die Möglichkeit und Chance erhalten, in der täglichen Wissenschaftspraxis zu erfahren, dass Profilierungssucht oder zur Schau getragene eigene Erfolge auch und gerade für die Frage irrelevant sind, ob er
Das Gute und das Rechte lehren
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oder sie persönlich, finanziell, institutionell usw. gefordert wird. Wenn dagegen aber die tägliche Erfahrung fatalerweise lehrt, dass konkurrierendes anstelle kooperierendem oder solidarischem Kommunikationsverhalten in wissenschaftlichen Gemeinschaften nicht nur habituell vorherrschend ist, sondern sich zudem noch karrierefördernd auswirken kann, dann ist dies genau die Sozialisation, aus der in extremen Fällen Datenmanipulation und Fälschung hervorwachsen mag. Deshalb hat eine Betreuerin oder ein Betreuer nicht nur die vielleicht persönliche oder menschliche Verpflichtung, sondern eine nachgerade wissenschaftsethische Pflicht, durch die Art der Seminar-, Gruppen- oder Kolloquiumsleitung Professionstugenden wie die Solidarität der gemeinsamen Erkenntnissuche zu vermitteln, zu fördern und fühlbar zu machen.
4. Und schließlich eine letzte Forderung zur Wiederbelebung der Professionstugenden: Das Wissenschaftssystem muss, gerade wenn und weil in ihm ein unbestreitbar harter Wettbewerb um Stellen herrscht, in allerhöchstem Maß auf eine Qualitätsorientierung und die Transparenz seiner Auswahl- und Berufungsverfahren bedacht sein. Denn allein ein verlässlich auf die Qualität seiner eigenen Weiterentwicklung bedachtes System bleibt berechenbar - und damit nervlich (halbwegs) zumutbar für eine(n) werdende(n) Wissenschaftler/in. Ausschließlich dann aber ist er oder sie in der Lage, die hier eingeforderten Fähigkeiten zu Selbstkritik und kooperativem Verhalten ohne Schaden für die eigene Person und Karriere zu beherzigen. Das Wissenschaftssystem und seine Protagonisten täten gut daran, ihr genuines Interesse an dieser Vorstellung von Wissenschaft und universitärer Ausbildung zu erkennen. Denn nur ein solches System, das Professionsnormen achtet und pflegt, kann auch wieder Wissenschaftsgemeinschaften und Universitäten hervorbringen, die „gefährliche Brutstätten des aufmüpfigen Geistes" sind, um auf einem Wort Metternichs zu enden.
Literaturverzeichnis Gethmann, Carl Friedrich: Die Krise des Wissenschaftsethos. Wissenschaftsethische Überlegungen, in: Max-Planck-Gesellschafit (Hrsg.): Ethos der Forschung. Ringberg-Symposium Oktober 1999, München 2000, 25-41. Pellert, Ada: Die Universität als Organisation. Die Kunst, Experten zu managen, Wien 1999.
Klaus Günther
Ethische Selbstkontrolle statt Recht? Regulierungsprobleme des Wissenschaftssystems
Die Frage, wie viel Ethik die Wissenschaft brauche, ist an Juristen nicht unmittelbar adressiert, zumindest nicht insoweit, als sie Rollenträger innerhalb des Rechtssystems sind, sondern allenfalls in der Rolle als Teilnehmer an öffentlichen Debatten über ethische Fragen wie jeder/jede andere Bürger/-in auch. 1 Dann lässt sich aus juristischer Perspektive allenfalls fragen, warum von einer Ethik offenbar mehr oder anderes fur die Bewältigung regelungsbedürftiger Sachverhalte des Wissenschaftssystems erwartet wird als vom Recht. Ethik scheint sich als Alternative zum Recht anzubieten. Die Frage kann aber auch gleichsam als Vorfrage nach einer rechtlichen Regelung gemeint sein: Wenn man erst einmal eine Ethik für die Wissenschaft hätte, dann könnte man diese auch verrechtlichen, also in Rechtsform gießen. Damit stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Ethik und Recht mit Blick auf regelungsbedürftige Sachverhalte im Wissenschaftssystem.
1. Warum Ethik und nicht Recht? Der Versuch, diese Frage zu beantworten, führt auf einige begriffliche und empirische Unterscheidungen zwischen Ethik oder, wenn man einem Kantischen Sprachgebrauch folgen will, Moral und Recht. Rechtsnormen, soweit sie unmittelbare Verhaltensnormen, also Verbote, Gebote oder Erlaubnisse sind, regeln äußeres Verhalten unabhängig von der inneren Motivation des Adressaten. Aus welchen Motiven Bürger rechtliche Verhaltensnormen befolgen, ist dem Recht gleichgültig, solange sie nur äußerlich befolgt werden. Moral verlangt eine intrinsische Motivation; eine moralische Handlung verdient das Prädikat „gut" nur dann, wenn sie, in Kants Worten, „aus Achtung vor dem Gesetz" vollzogen wurde. 2
1 In Übereinstimmung mit dem wohl herrschenden Sprachgebrauch verwende ich im folgenden die Termini „Ethik" und „Moral" synonym. In anderen Kontexten würde ich unterscheiden zwischen ethischen Fragen, bei denen es um die Bewertung von Handlungen (bzw. Unterlassungen) oder Zuständen unter dem Aspekt des guten Lebens geht („Was ist gut für mich/uns?"; „Was für ein Leben will ich/wollen wir führen?"; „Wer will ich/wollen wir sein?"), und moralischen Fragen, bei denen es um alle Menschen gleichermaßen verpflichtende Handlungsnormen geht. Siehe dazu Habermas 1991, 100-118. 2 Siehe dazu vor allem Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Einleitung, 315 ff.
Ethische Selbstkontrolle statt Recht?
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Rechtsnormen verpflichten dagegen nur extern, das Verhalten seiner Adressaten wird fremdbestimmt (was nicht ausschließt, dass die Betroffenen sich die Normen zu eigen machen können, indem sie ihnen aus eigener Einsicht zustimmen). Moralisches Handeln bedarf der Selbstverpflichtung, des selbstbestimmten Urteilens und Handelns. Wegen seines äußerlichen, fremdbestimmenden Charakters wird das Recht üblicherweise mit Sanktionen fur den Fall seiner Verletzung verbunden. Zwar gibt es auch, vor allem stigmatisierende, soziale Reaktionen auf moralische Verfehlungen, aber sie unterscheiden sich in vielerlei Hinsichten von rechtlichen, insbesondere strafrechtlichen Sanktionen. Diese dürfen nur als Rechtsfolge eines vorher klar und vorhersehbar bestimmten Tatbestandes (vgl. Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz), nur nach der Feststellung dieses Tatbestandes, also der Zurechnung der Normverletzung zu einer Person (mit oder ohne Verschulden) in einem formalisierten, öffentlichen Verfahren, und nur von rechtlich dazu ermächtigten Personen verhängt werden. Empörungen über moralische Verfehlungen sind dagegen spontan, unvorhersehbar, in ihrer Intensität unberechenbar und können von jedem Dritten geäußert werden. Im Unterschied zum Recht verlangt die Moral allerdings wiederum, dass moralische Normen nicht aus Furcht vor den negativen Folgen der Empörung oder Missachtung nicht verletzt werden, während für die Rechtsbefolgung das Motiv der Furcht vor Strafe genügt. Diese geradezu klassischen Unterschiede zwischen Recht und Moral sind freilich umstritten und in ihrer Reichweite unbestimmt, nicht zuletzt deswegen, weil ihre Wurzel in einer bestimmten - Kantischen - moralphilosophischen Tradition liegt, die nicht von allen geteilt wird. Sie beziehen sich primär auf die Form und die Befolgungsweise, nicht auf die Norminhalte. Der Regelungsgehalt der meisten moralischen Gebote findet sich auch in den positiven Rechtsnormen wieder, aber es gibt einige moralische Normen wie das Verbot der Lüge, die nicht oder nur mit starken Einschränkungen (wenn ein Zeuge vor Gericht falsch aussagt oder die Lüge zu einem Vermögensverlust bei einem anderen fuhrt) auch als rechtliche Normen existieren. Umgekehrt gibt es sehr viele Rechtsnormen (zum Beispiel im Verwaltungsrecht, aber auch im Strafrecht: zum Beispiel § 284 Strafgesetzbuch - Unerlaubte Veranstaltung eines Glücksspiels; oder § 90a - Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole), die keine Moralnormen sind oder nur indirekt mit moralischen Geboten zusammenhängen. Auf das Problem, ob aus der vielfältigen inhaltlichen Übereinstimmung zwischen Rechts- und Moralnormen das Gebot folge, das Recht müsse stets mit der Moral übereinstimmen oder gar, dass die Geltung des positiven Rechts von seiner Übereinstimmung mit der Moral abhänge, gehe ich unten ein. Schließlich darf man jene Unterscheidungen auch nicht verabsolutieren: Dass es bei der Befolgung des Rechts nicht auf die Motive der Adressaten ankomme, bedeutet nicht, dass eine Rechtsordnung gänzlich ohne zustimmende Motive ihrer Adressaten wirksam sein könnte. Aber das Recht kann solche Motive nicht rechtlich bewirken, zum Beispiel durch Zwang. Schließlich bedeutet die motivationale Neutralität des Rechts auch nicht, dass Motive im Recht keine Rolle spielen würden. Die Tötung eines Menschen aus „niedrigen Beweggründen" ist Mord (§211 Abs. 2 StGB) und nicht Totschlag, aber solche Motive werden rechtlich erst im Falle der Verletzung einer
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Klaus Günther
Norm relevant. Wie der Adressat motiviert ist, wenn er oder sie das Recht tatsächlich befolgt, bleibt dagegen für das Urteil über die Rechtmäßigkeit der Handlung außer Betracht.3 Zu jenen Unterschieden sind inzwischen weitere hinzugekommen, die vielleicht die oben gestellte Frage beantworten helfen: Wegen des selbstverpflichtenden Charakters der Moral verspricht eine Ethisierung der Wissenschaft statt ihrer Verrechtlichung Selbstregulierung und Selbstkontrolle statt Fremdbestimmung und externe Kontrolle. Damit verbinden sich Hoffnungen auf mehr Autonomie und Eigenverantwortung der Wissenschafitler/-innen als unter einem Rechtsregime. Dieses würde den Konfliktfall ins Justizsystem verschieben oder zumindest wissenschaftsexterne juristische Experten in die Konfliktbewältigung einschleusen, während ein ethisches Regime von den Wissenschaftlern selbst angewendet wird. Ethik verspricht außerdem mehr Flexibilität und Sensibilität im Einzelfall als abstrakte und generelle Rechtsnormen. Schließlich wird auch immer wieder behauptet, dass ethische Selbstkontrolle durch Wissenschaftler „sachnäher" sei als eine externe, fremdbestimmende Kontrolle. Fraglich ist allerdings, ob sich diese Hoffnungen erfüllen lassen. Dagegen sprechen vor allem folgende Gründe: - Ein Versuch, Selbstregulierung und Selbstkontrolle zu ermöglichen, sind die nach dem Gesetz an Kliniken einzurichtenden Ethikkommissionen. Solche Ethikkommissionen bilden jedoch erstaunlich schnell wieder eine Routine mit formalisierten Abläufen aus, die es wiederum schwer macht, auf die besonderen Aspekte des Einzelfalls einzugehen. Ich selbst habe als Mitglied einer Ethikkommission für klinische Forschung, in der es vor allem um die nach dem Bundesarzneimittelgesetz vorgeschriebene Erprobung neu entwickelter Therapien und Diagnoseverfahren an Menschen ging, an der Erstellung von standardisierten Fragebögen mitgewirkt, die von den antragstellenden Ärzten ausgefüllt werden mussten. Die eigentliche Prüfung des Forschungsvorhabens beschränkte sich dann auf eine Plausibilitätsprüfung des Forschungsvorhabens, eine Abwägung zwischen dem zu erwartenden Nutzen und den dabei auftretenden Risiken für die Probanden sowie auf eine Prüfung der Einwilligungserklärung für die Probanden. Auf diese Weise entstand eine „Normalität", die dem Antragsverfahren bei einer Verwaltungsbehörde sehr ähnlich ist. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Da jeder Einzelfall anders und prinzipiell unendlich ist, sorgten Zeitknappheit, Entscheidungszwang und die Menge der zu erledigenden Anträge dafür, dass vom Einzelfall abstrahierende, allgemeine Kriterien der Beurteilung und Entscheidung entwickelt wurden. - Die Effektivität ethischer Selbstkontrolle hängt ab von der intrinsischen Motivation der handelnden Personen. Deswegen gilt sie ja gegenüber dem fremdbestimmenden, mit externen Sanktionsdrohungen verknüpften Recht als vorzugswürdig. Freilich ist die ethische
3 Auch hier gibt es freilich Ausnahmen, die aber Grenzfälle betreffen: Rechtsmissbräuchliches Handeln, das eigentlich schon eine Rechtsverletzung ist, zum Beispiel die absichtliche Provokation eines Angriffs mit dem Ziel, den Angreifer bei der Verteidigung („Notwehr") zu töten.
Ethische Selbstkontrolle statt Recht?
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oder moralische Motivation zugleich sehr anspruchsvoll und sehr schwach. Gute moralische Gründe und Einsichten garantieren noch kein entsprechendes Handeln. Ethische Selbstregulierung bedeutet daher auch in keinem Fall, dass die tatsächliche Befolgung ethischer Normen ins Belieben der Adressaten gestellt wird. Öffentliche Appelle helfen ebenfalls wenig. Im Wissenschaftssystem kommt vielleicht noch die Furcht vor Reputationsverlust in der scientific community oder in der Öffentlichkeit als sekundärer Normbefolgungsanreiz hinzu. Diese informellen Sanktionsdrohungen entbehren freilich der moralischen Qualität (es sind „heteronome" und nicht „autonome" Motive, würde Kant sagen) und sie sind wegen ihrer Informalität unberechenbar. In dem Maße jedoch, wie etwa durch Audit-Verfahren und formalisierte Sanktionen wie Disziplinierungsmaßnahmen, Drittmittelsperren, schwarze Listen usw. die Normbefolgung kontrolliert wird, nähert sich die ethische Selbstkontrolle wiederum dem Recht. Für Evaluations- und Audit-Verfahren ist bereits gezeigt worden, dass sie die Differenz zwischen innerer Motivation und äußerem Verhalten restaurieren: Wer evaluiert wird, inszeniert äußerlich etwas, um die Erwartungen zu erfüllen, ohne jedoch an seinem Verhalten, vor allem an seiner motivationalen Struktur, ernsthaft etwas zu ändern.4 - Keine Selbstkontrolle ohne Haftung: Eigenverantwortliche Selbstkontrolle muss fur den Fall einer Verletzung ethischer Standards Haftungen vorsehen. Ansonsten droht sie wirkungslos zu bleiben.5 In dem Maße jedoch, wie solche Haftungen eingeführt werden, bedarf es wiederum einer vorherigen allgemeinen Bestimmung der Haftungsvoraussetzungen sowie der Art und des Umfangs der Haftung. Damit bewegt man sich bereits wieder im Schatten des Rechts. In dem Maße, wie durch solche Haftungen in die Grundrechte des Betroffenen eingegriffen w i r d - und das dürfte zumindest beim allgemeinen Recht auf Handlungsfreiheit der Fall sein - , bewegt man sich dann schon wieder auf dem Boden des Rechts. - Wer hat die Kompetenz, ethische Normen zu setzen, zu ändern und anzuwenden? Die Rede von Selbstregulierung und Selbstkontrolle verdeckt das Problem, dass unklar bleibt, wer dazu autorisiert ist, ethische Normen zu setzen. Das Argument lebt von der evidenten Geltung, die allgemeine ethische Normen im Alltag besitzen, wobei auch dort schon oft übersehen wird, dass ihre Anwendung im Einzelfall zumeist strittig ist. Das Recht verfügt über eine Hierarchie von primären Verhaltensnormen und einem System sekundärer Normen, die sich auf die Setzung, Änderung und Anwendung primärer Normen beziehen.6 Über diese Fähigkeit zur Selbstaufstufung verfügt die Ethik aus guten Gründen nicht, weil hier ja gerade die moralische Person selbst ihr eigener Gesetzgeber und Richter sein soll, symbolisiert im forum internum des individuellen Gewissens. Wenn von Ethik in der Wissenschaft die Rede ist, geht es jedoch in der Regel nicht um die individuelle Gewissensmo-
4 Power 1997. 5 Siehe dazu am Beispiel der Forderung nach Selbstregulierung im Umweltschutz Lübbe-Wolff 1999. 6 Hart 1973, Kap. V.
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Klaus Günther
ral, sondern um allgemeine ethische Normen, die für alle Mitglieder des Wissenschaftssystems gleichermaßen verbindlich sein sollen. Dann entsteht sofort das alte Problem, dass niemand Richter in eigener Sache sein darf, dass es also Verfahren der verbindlichen Bestimmung, Setzung und Anwendung mit den entsprechenden Kompetenzen geben muss. Bei der Lösung dieses Problems nähert sich die Ethik zwangsläufig wieder dem Recht, wie sich an den ständischen berufsethischen Normen einiger Professionen (Ärzte, Anwälte) ablesen lässt, die sich in Kammern organisiert haben. Und es entsteht sofort das weitere Problem: Sollen die zur Normsetzung Ermächtigten ihrerseits einer Ethik unterworfen werden oder nicht? -
Zwischen ethischer Selbstregulierung und rechtlicher Fremdregulierung bleibt dann nur noch der Unterschied, dass es sich im einen Fall um sozialautonom gesetzte Normen handelt und im anderen Fall um staatlich gesetztes Recht. In dem Maße jedoch, wie man die Eigenschaft, staatlich gesetzt zu sein, nicht für eine konstitutive, sondern nur für eine kontingente Eigenschaft des Rechts hält (man denke an die vielen autonomen Rechtsgebilde im Mittelalter oder an die vielfältigen Erscheinungsformen nicht-staatlichen Rechts als Folge der Globalisierung7), verschwindet auch dieser Unterschied. Man kann dann von „spontanem Recht" des Wissenschaftssystems sprechen, von „Privatregime" und „Sozialverfassung".8 Damit würde die Unterscheidung zwischen sozialen (ethischen) und rechtlichen Normen an Schärfe verlieren - zugleich würden aber auch einige der Vorteile, die man sich von einer ethischen im Gegensatz zu einer rechtlichen Regulierung erhofft hatte, wieder verschwinden. - Schließlich bleibt die ethische Selbstregulierung auch deshalb stets im Schatten des Leviathan, weil dieser eine Art Ausfallbürgschaft für den Fall übernimmt, dass die ethische Selbstkontrolle versagt. Wie bei vielen anderen Fällen gesellschaftlicher Selbstregulierung auch, steht die ethische Selbstkontrolle der Wissenschaft unter der latenten Drohung, dass der Staat im Zweifelsfall interveniert- sei es, um drohende Katastrophen abzuwenden, eingetretene Katastrophen rechtlich zu regulieren oder um Grundrechtsschutz innerhalb der ethischen Selbstregulierung zu gewährleisten. - Das Argument der größeren Sachnähe ethischer Selbstkontrolle im Vergleich zum Recht ist zumindest zweischneidig. Auf der einen Seite ist zuzugeben, dass gerade die regelungsbedürftigen Materien des Wissenschaftssystems eine Komplexität aufweisen, die es jedem Laien schwer fallen lässt, sachadäquate Regelungen zu finden oder die entsprechenden Normen anzuwenden. Das erhellt aus einem bloßen Vergleich des Gesetzeswortlauts zwischen § 212 Abs. 1 StGB („Wer einen Menschen tötet...") und § 1 Abs. 1 Nr. 4 ESchG („Wer es unternimmt, durch intratubaren Gametentransfer innerhalb eines Zyklus mehr als drei Eizellen zu befruchten ..."). Freilich ist diese Komplexität kein spezifisches Problem der Wissenschaft. Es tritt auch in anderen regelungsbedürftigen Bereichen moderner Gesell-
7 Siehe dazu Günther/Randeria 2001. 8 Teubner 2000, 437 ff.
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Schäften auf, die ja unter anderem durch ihre Komplexität, das heißt vor allem durch ihre arbeitsteilige Differenzierung gekennzeichnet sind. Aber die Schwelle ist im Wissenschaftssystem vielleicht am höchsten. Wenn daraus nun gefolgert wird, dass man es deshalb den Mitgliedern des Wissenschaftssystems selbst überlassen sollte, im Wege ethischer Selbstregulierung sich selbst zu kontrollieren, so birgt das die Gefahr einer Expertokratie in sich. Damit hängt eine Reihe weiterer Probleme zusammen, insbesondere der Transparenz der Entscheidungsverfahren, der Verantwortlichkeit für Entscheidungsfolgen sowie der Repräsentation von mitbetroffenen Drittinteressen, die sich mit den Interessen der Experten nicht decken. Die Interessen der von den Folgen expertokratischer Entscheidungen betroffenen Laien werden entweder gar nicht oder nur in patemalistischer Weise wiederum durch wohlmeinende Experten zur Geltung gebracht.9
2. Gibt es eine Ethik des Rechts/sollte es eine Ethik des Rechts geben mit Blick auf regelungsbedürftige Probleme der Wissenschaft? Juristen sind keine besseren Menschen als andere auch - vielleicht sind sie moralisch sogar eher gefährdet, wie das alte Sprichwort „Juristen - schlechte Christen!"10 vermuten lässt und mancherlei historische Erfahrungen mit willfährigen und beflissenen, vorauseilenden Gehorsam praktizierenden Richtern und Verwaltungsjuristen in einem Unrechtsregime zumal in Deutschland beweisen. Wenn es also um individuell zu praktizierende ethische Tugenden geht, vermag eine Ethik bei Juristen nicht mehr oder weniger auszurichten als bei anderen Bürgerinnen und Bürgern. Allerdings haben Juristen in einigen Rollen, insbesondere als Richterinnen und Richter, vor allem in den Revisionsinstanzen und beim Bundesverfassungsgericht, faktisch eine größere Chance, ihre individuellen Tugenden oder Untugenden in einer rechtsverbindlichen Entscheidung wirksam werden zu lassen. Christliche Fundamentalisten können da ebenso zum Zuge kommen wie neoliberale Verteidiger des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Dieses letztlich unlösbare Problem im Verhältnis von Recht und Ethik taucht aber nicht nur bei regelungsbedürftigen Sachverhalten in der Wissenschaft, sondern auch in anderen Teilsystemen der Gesellschaft auf. Es wird vor allem durch Verfahrenstechniken neutralisiert, zum Beispiel die Einrichtung von Kollegialentscheidungen.
9 Die Gefahr einer Expertokratie besteht freilich nur dort, wo Kommissionen ein Beratungs- und Entscheidungsmonopol haben. Beratende Kommissionen innerhalb eines öffentlichen Meinungsund Willensbildungsprozesses können dagegen zu einer höheren demokratischen Legitimität beitragen. Siehe dazu Kuhlmann 2002. 10 Martin Luther, zit. nach Stammler 1928, 60.
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Ob das Recht selbst einen ethischen Gehalt habe und ob die Geltung des Rechts davon abhänge, ist eine umstrittene Frage.11 Dass ethische und rechtliche Normen sich, wie oben ausgeführt, inhaltlich vielfältig überschneiden, viele Moralnormen, aber nicht alle, zugleich Rechtsnormen sind, wird freilich von niemandem bezweifelt. Das hat auch weiter keine Folgen, weil der ethische Gehalt einer Rechtsnorm an dem Charakter dieser Norm, nämlich eine Rechts- und keine Moralnorm mehr zu sein, nichts ändert. Anders verhält es sich mit der Forderung, dass das Recht mit der Moral übereinstimmen sollte, und der damit zumeist verbundenen weiteren Forderung, dass Recht zu Unrecht werde oder dass das Recht seine Geltung verliere, wenn es mit der Moral nicht übereinstimme. Über diese Frage wird, meist unter dem Titel „Naturrecht oder Positivismus?", immer wieder gestritten - zuletzt anlässlich der Frage, ob die sogenannten „Mauerschützen" sich auf die Rechtfertigungstatbestände des DDR-Rechts berufen können - , ohne dass dieser Streit zu einem überzeugenden Ergebnis geführt hätte. In einem demokratischen Verfassungsstaat verliert dieser Streit freilich auch an Schärfe, weil positivierte Grundrechte und damit eine Normenhierarchie von Verfassungsrecht und einfachem Recht zumeist schon dafür sorgen, dass moralische Imperative innerhalb des positiven Rechts zur Geltung kommen, ohne dass sie als solche eigens thematisiert werden müssten. Das ändert freilich nichts daran, dass dann auf der Ebene der Grundrechtsauslegung, zum Beispiel durch ein Verfassungsgericht im Wege der Normenkontrolle, ethische Fragen wieder aufbrechen und damit auch wieder die Frage, ob das Recht der Moral folgen solle oder nicht. Dem Wortlaut des Menschenwürdesatzes des Art. 1 Abs. 1 GG lässt sich nicht unmittelbar entnehmen, ob Embryonen Menschenwürde haben oder nicht, ebenso wenig wie sich Art. 2 Abs. 2 GG entnehmen lässt, ob sie ein Recht auf Leben haben. Im „Normalbetrieb" der alltäglichen Gesetzgebung und Rechtsanwendung hat sich der Positivismus weitgehend durchgesetzt. Recht gilt, soweit es in den dazu vorgesehenen, rechtlich festgelegten Verfahren, also legal zustande gekommen ist, und es gilt solange, wie es nicht geändert wird. Positives Recht verhält sich daher gegenüber einer Ethik oder Moral neutral. Ethische Imperative können im Wege der Rechtssetzung Inhalt des Rechts werden. Aber auch moralwidrige Normen können auf diese Weise Rechtsgeltung erlangen. Welche Ethik Inhalt des Rechts wird, entscheidet nicht das Recht, sondern der rechtlich autorisierte Gesetzgeber. Insoweit sind ethische Fragen keine Angelegenheit des Rechts, sondern der öffentlichen politischen Auseinandersetzung im Vorfeld der Gesetzgebung. In dem Maße freilich, wie das Wissenschaftssystem sich expertokratisch selbst reguliert, werden die entscheidungsbedürftigen Fragen diesem Forum entzogen. In demokratischen Verfassungsstaaten ist die politische Gesetzgebung freilich wiederum der Verfassung, insbesondere den Grundrechten und hierzulande dem Menschenwürdesatz unterworfen. Das bedeutet im Extremfall, dass gewisse Ethiken nicht in die Gesetzgebung einwandern können - zum Beispiel eine fundamentalistische Ethik, die bestimmte Gruppen von Menschen wegen ihres Glaubens oder ihrer Rasse diskriminiert. Daraus lässt sich aber
11 Alexy 1992.
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nicht umgekehrt folgern, dass sich die Verfassung auf eine bestimmte Ethik festgelegt hätte. Die Rede von einem „Menschenbild des Grundgesetzes" ist höchst prekär. Dazu sind die Normen der Verfassung wiederum zu unbestimmt. Und sie muss in einer pluralistischen Gesellschaft auch verschiedene Ethiken nebeneinander zulassen. Welche Ethik letztlich zum positiven Recht wird, muss der politischen Diskussion und dem anschließenden Gesetzgebungsverfahren mit seiner Mehrheitsregel überlassen bleiben. Wenn es eine der Verfassung zugrundeliegende Ethik und ein entsprechendes Menschenbild geben sollte, dann müsste dieses so allgemein (und unbestimmt) sein, dass es eine Pluralität von Ethiken und Menschenbildern gewährleistet. Die ethische Neutralität des Rechts ist die Summe, die man aus den Erfahrungen der europäischen Religionskriege im 16. und 17. Jahrhundert gezogen hat.12 Gleichwohl ist die Verfassung so konstruiert, dass sie die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde trotz ihrer Unbestimmtheit für unverfugbar erklärt (Art. 79 Abs. 3 GG). Hier zeigt sich eine unvermeidliche Paradoxie aller Normenkonstruktionen dieser Art: Im positivistischen, nachmetaphysischen Zeitalter wissen wir, dass alle Normen von Menschen gemacht worden sind und daher von diesen auch wieder geändert werden können. Gleichwohl behandeln wir einige Nonnen so, als ob sie unverfugbar, in ihrer Geltung unantastbar wären. Gleiches gilt für Begriffe wie denjenigen der Menschenwürde: Die darin enthaltenen Bestimmungen des Menschen schreiben sich die Menschen selber zu, obwohl sie damit zugleich ausdrücken wollen, dass die Menschenwürde etwas ist, worüber kein Mensch und keine staatliche Gewalt verfugen dürften. Die Grundrechtsteile moderner Verfassungen und die Menschenrechtserklärungen bewegen sich auf einem verschlungenen Pfad von Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit. Das Verhältnis von Ethik und Recht besteht also weder in einer einfachen Abhängigkeit noch in einer völligen Unabhängigkeit des Rechts von der Ethik. Treffender ist daher die Rede von einem wechselseitigen Ergänzungsverhältnis oder von einer unvermeidlichen Zirkularität von Recht und Ethik. Unter diesen Voraussetzungen stellen sich Probleme im Verhältnis von Ethik und Recht angesichts der regelungsbedürftigen Sachverhalte des Wissenschaftssystems vor allem in vier Hinsichten: - Ethisierung des Rechts: Wo das Recht scheinbar nicht genügt, wird oft die Forderung erhoben, dass es unmittelbar ethischen Imperativen folgen müsse (Beispiel: Schwangerschaftsabbruch). Diese Forderung wird nicht nur von außen an das Recht herangetragen, sondern sie kann auch aus dem Recht selbst, zum Beispiel von Richtern bei der Rechtsanwendung, erhoben werden. Dies birgt offensichtlich die Gefahr in sich, dass die Grenze zwischen Ethik und Recht verwischt und der Weg der Rechtsänderung durch Gesetzgebung nach dem dafür vorgesehenen Verfahren umgangen wird.
12 Weshalb John Rawls eine politische und keine metaphysische Begründung der Grundprinzipien des gesellschaftlichen Zusammenlebens fordert, siehe Rawls 1993.
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- Ethische Überforderung des Rechts: Fragen, welche die Ethik nicht beantworten kann, kann auch das Recht nicht beantworten. Wird das Recht ethisch überfordert, kommt es zur Normderogation (wiederum als Beispiel: § 218 StGB). Recht kann nicht substantielle ethische Fragen beantworten, sondern vor allem prozedurale oder organisatorische Regelungen für den Umgang mit offenen ethischen Problemen entwickeln, die zu begrenzten Verboten oder Erlaubnissen mit Korrekturvorbehalten fuhren. Insoweit ist wiederum §218 ein Beispiel: Abtreibung ja, aber nur unter bestimmten Bedingungen und Einhaltung gewisser Verfahrensregeln. Ähnlich wird es im Ergebnis auch bei der Embryonenforschung sein: Keine generelle Erlaubnis, aber begrenzte Zulässigkeiten unter Einhaltung bestimmter Regeln mit Korrekturvorbehalt durch den Gesetzgeber innerhalb einer festgelegten Frist. - Definitionshoheit über Begriffe: Viele Rechtsbegriffe sind offen und unbestimmt. Es kommt daher darauf an, genügend öffentliche Sensibilität dafür zu entwickeln, wer die Hoheit über die Definition solcher Begriff besitzt und wie sie ausgeübt wird. Gegenwärtig dürfte die Unterscheidung „krank"/„gesund" mit Blick auf Präimplantationsdiagnostik, Gentherapie und Embryonenforschung ein wichtiges Beispiel sein: Was gilt als eine „Krankheit", die die Selektion eines Embryos durch PID oder einen gentechnischen Eingriff rechtfertigt? - Das Recht enthält Strukturen, die zu einer bestimmten Art des Umgangs mit den regelungsbedürftigen Problemen führten. Man könnte hier von einer Art „Binnenethik" des Rechts sprechen. Um dies an einem Beispiel deutlich zu machen: Das Embryonenschutzgesetz von 1990 ist ein Strafgesetz. Mit anderen Strafgesetzen teilt es die Struktur, die aus den Elementen der tatbestandlichen Beschreibung eines Tuns oder Unterlassens besteht und einer Rechtsfolge, in der Regel eine im Höchst- oder Mindestmaß explizit bestimmte Freiheits- oder Geldstrafe. Von vielen anderen Strafgesetzen unterscheidet sich das Embryonenschutzgesetz vor allem dadurch, dass es die Strafbarkeit vielfach nicht an einen so genannten Erfolg (Tod, Verletzung, Vermögensnachteil usw.) knüpft, sondern an die bloße Handlung, oder, noch weiter in das Vorfeld strafrechtlicher Bedeutsamkeit verschoben, an das schlichte Ansetzen zu einer Handlung: „Wer es unternimmt..." - zum Beispiel innerhalb eines Zyklus mehr als drei Embryonen auf eine Frau zu übertragen (§ 1 Abs. 1 Nr. 3 ESchG). 13 Das ist für ein modernes, flächendeckend zur symbolischen Regelung aller sozialen Probleme eingesetztes Strafrecht nicht ungewöhnlich. Dieses Strafrecht stellt zunehmend bloße (gefahrliche) Verhaltensweisen unter Strafe, unabhängig davon, ob dadurch ein Schaden unmittelbar einzutreten droht oder verursacht worden ist. Allerdings verweisen
13 Eine aus dem Wortlaut nicht unmittelbar ersichtliche, aber durch die allgemeine Regel des § 11 Abs. 1 Nr. 6 StGB festgelegte Konsequenz dieser gesetzlichen Formulierung besteht darin, dass bei „Untemehmensdelikten" der Versuch mit der Vollendung gleichgestellt wird. Ein Rücktritt vom Versuch (wie in § 24 StGB allgemein vorgesehen), ist damit nicht möglich. Vgl. dazu Keller/Günther/Kaiser 1992, Vor § 1 II Rn. 50 ff.; Tröndle/Fischer 2001, § 11 Rn. 37. Zur Kritik an der gesetzlichen Bestimmung des Unternehmensdelikts siehe Wolters 2001.
Ethische Selbstkontrolle statt Recht?
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auch diese Tatbestände auf weitere allgemeine normative Strukturen des Strafrechts, die im Gesetz nicht explizit formuliert sind. Dazu gehören insbesondere die Zurechnungsregeln. Die in den Tatbeständen des ESchG umschriebenen Handlungen müssen vorsätzlich begangen werden. Bei mehreren Beteiligten muss nach allgemeinen Regeln entschieden werden, wer Alleintäter, Mittäter oder mittelbarer Täter, wer Anstifter oder Gehilfe ist. Ähnlich verhält es sich im Zivilrecht, zum Beispiel im Deliktsrecht, wenn es um Schadensersatz fur deliktische Handlungen geht. Diese interne Logik, die bei jeder Regelung eines bestimmten Sachverhaltskomplexes gleichsam immer mitgeschleppt wird, stellt freilich keine unüberwindbare Schranke für verändernde Eingriffe dar. Die Binnenethik des Rechts ist nicht veränderungsresistent. Obwohl zum Beispiel das Prinzip, dass es keine Strafe ohne Schuld geben dürfe, Verfassungsrang besitzt, lässt es sich natürlich durch geschickte Formulierungen umgehen. Wie biegsam diese Logik ist, zeigt die berüchtigte Regelung des § 218 StGB, wonach ein Schwangerschaftsabbruch rechtswidrig ist, aber gleichwohl straflos bleibt. - Eines der wichtigsten Merkmale der Binnenethik des Rechts markiert zugleich seine Grenze im Umgang mit den regelungsbedürftigen Problemen: Das Recht personalisiert. Es abstrahiert die regelungsbedürftigen Probleme aus seinen sozialen Kontexten und reduziert sie - zumindest im Strafrecht - auf individuell zurechenbare Handlungen verantwortlicher Personen. Auf diese Weise bleiben bestimmte wichtige Aspekte vollständig unberücksichtigt - zum Beispiel die interne Verflechtung von Wissenschaft und Ökonomie und die sich daraus ergebenden Handlungszwänge, aber auch die komplexen, arbeitsteiligen Handlungsketten, in welchen einzelne Wissenschaftler/-innen operieren. Die Unzulänglichkeit des stets personalisierenden Rechts angesichts solcher unüberschaubarer Ketten von ineinander verflochtenen Handlungen zeigt sich bei großen Katastrophen, wie zum Beispiel dem Unglück des Challenger Space Shuttle.14 Es liegt daher nahe zu vermuten, dass das Recht wegen seiner personalistischen Binnenethik zur „organisierten Unverantwortlichkeit" gegenüber den Risiken von Wissenschaft und Technik beitrage.15 - Das Recht beruht auf anthropologischen Basiskategorien, die sich unter dem Einfluss der Wissenschaft selbst verändern. Ähnlich der Veränderung des Menschenbildes am Beginn der Neuzeit, verursacht vor allem durch die Erkenntnisfortschritte der entstehenden Naturwissenschaften und die dadurch ermöglichten technologischen Erfolge, zeichnet sich ein neuer Paradigmawechsel im Menschenbild des Rechts ab: Neurowissenschaftler verkünden öffentlich, sie könnten Freiheit und Verantwortung in menschlichen Gehirnen nicht auffinden 16 , soziobiologische Erklärungen menschlichen Verhaltens gewinnen eine erstaun-
14 Vaughan 1996, Perrow 1989. 15 Beck 1988. 16 Siehe dazu das Gespräch zwischen Gerhard Roth und Gerhard Vollmer, Es geht ans Eingemachte - Neue Erkenntnisse der Hirnforschung verändern unser Bild vom Menschen, in: Spektrum der Wissenschaft 10 (2000), 72 ff. („Die Entthronung des Menschen als freies denkendes Wesen - das ist der Endpunkt, den wir erreichen." Ebd., 75).
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Klaus Günther
liehe Popularität17 und die Frage, was es fur einen Menschen bedeuten wird, dass andere bewusst und intentional über seine genetische Zusammensetzung entschieden haben, ist noch kaum gestellt worden. 18 Mit welchem Begriff vom Menschen vermag das Recht dann noch zu operieren? Paradoxerweise untergraben dieselben Wissenschaften, welche die Verantwortung des Menschen fur seine eigene Natur beschwören, zugleich die anthropologischen Basiskategorien, mit denen der Mensch diese Verantwortung rechtlich ausgestalten könnte.
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17 Voland 2000. 18 Habermas 2001.
Maria-Sibylla Lotter
Was für eine Ethik braucht die Wissenschaft? Einige Betrachtungen zu Klaus Günthers Unterscheidung von Recht und Moral* Klaus Günther hat die Frage, wie viel Ethik die Wissenschaft braucht, auf das anteilige Verhältnis von Moral und Recht bei der Regelung „regelungsbedürftiger Sachverhalte" bezogen. Dabei hat er sich auf die kantische Unterscheidung zwischen Recht und Moral gestützt, die von einem sehr radikalen Verständnis der Autonomie des Individuums als Vemunftwesen ausgeht und die Moral ganz an dieses Autonomieverständnis bindet.1 Dieser Beitrag hinterfragt diese Interpretation von Recht und Moral. In diesem Zusammenhang wird die These vertreten, dass weder Recht noch Moral als rein innerliche oder rein äußerliche, rein autonome oder rein heteronome Arten der Normenorientierung möglich sein können, wenn man möglich im Sinne einer realen Möglichkeit2 und nicht nur im Sinne einer begrifflichen Denkbarkeit begreift. Stattdessen wird vorgeschlagen, nicht das einzelne Individuum, sondern die normative Gemeinschaft, deren Normen für den Einzelnen weder rein äußerlich, noch rein innerlich sind, als Bezugpunkt zu nehmen. Hieraus ergibt sich auch eine veränderte Sicht auf die Ausgangsfrage. Wenn die Art der Regelung normativer Probleme von den jeweiligen Typen sozialer Gemeinschaften, und damit auch von den sozialen und ökonomischen Kontexten abhängt, in denen Wissenschaft stattfindet, kann sie weder durch Privatmoral, noch durch Rechtsverbote allein gelöst werden, sondern erfordert die Entwicklung einer Öffentlichkeit, an der sowohl Wissenschaftler als auch Nicht-Wissenschaftler teilhaben. Klaus Günthers Unterscheidung von Ethik und Recht basiert auf der bekannten Unterscheidung Kants zwischen Recht und Moral3: Rechtsnormen regeln äußeres Verhalten ohne * Kommentar zu dem Beitrag von Klaus Günther: Ethische Selbstkontrolle rungsprobleme des
statt Recht?
Regulie-
Wissenschaftssystems.
1 Vgl. Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Riga 1785 sowie Kritik der praktischen Vernunft, Riga 1788. 2 Unter einer realen Möglichkeit im Unterschied zu einer logischen Möglichkeit kann im folgenden das Gegebensein der Bedingungen verstanden werden, die notwendig sind, damit etwas wirklich werden kann. 3 Vgl. Immanuel Kant, Die Metaphysik
der Sitten, Königsberg 1797, AB 15: „Alle Gesetzge-
bung . . . kann doch in Ansehung der Triebfedern unterschieden sein. Diejenige, welche eine Handlung zur Pflicht, und diese Pflicht zugleich zur Triebfeder macht, ist ethisch. Diejenige aber, welche das letztere nicht im Gesetze mit einschließt, mithin auch eine andere Triebfeder, als die Idee der Pflicht selbst, zuläßt, ist juridisch. Man sieht in Ansehung der letztern leicht ein, daß diese
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Maria-Sibylla Lotter
Rücksicht auf die innere Einstellung der Betroffenen. Sie müssen daher auch fur ein Volk von Teufeln gelten können, die allein aus Eigennutz - nämlich um Strafe zu vermeiden motiviert wären, die Gesetze einzuhalten. Das moralisch Gute hingegen besteht in einer inneren Einstellung, der Beziehung der individuellen Handlungsmaxime zu einem Sittengesetz ohne Rücksicht auf die äußeren Folgen des Handelns für die eigene Person und für andere. Entsprechend erscheint ein Handeln, das sich an rechtlichen Erlaubnissen und Verboten ausrichtet, als Fremdbestimmung, ein Handeln nach moralischen Geboten und Verboten als Selbstbestimmung. Zunächst zum Recht: Stimmt es, dass Rechtsnormen nur äußeres Verhalten unabhängig von der inneren Motivation des Adressaten regeln? Wenn man diese Annahme in dem starken Sinne versteht, dass dem Gesetzgeber die Motivationen seiner Bürger zu ihrem Verhalten generell gleichgültig sein können, trifft sie nicht zu. Das ist offenkundig, wenn es sich um die Übertretung des Rechts handelt. Wenn nur das äußere Verhalten zählte, müsste unser gegenwärtiges Strafrecht nämlich ein reines Erfolgsstrafrecht sein. Verbrechen im strafrechtlichen Sinne sind aber nicht durch ein bestimmtes äußeres Verhalten allein definiert, sondern durch dieses Verhalten in Verbindung mit einem bestimmten Typ an Motivation. Ob ein Verbrechen beispielsweise als Totschlag oder Mord verstanden wird und wie das Strafmaß bemessen wird, hängt wesentlich davon ab, wie die jeweilige Einstellung der Täter eingeschätzt wird, ob seine Motive als „niedere" bewertet werden und so weiter.4 Das Recht scheint also zu einem nicht unbeträchtlichen Teil die Gesinnung selbst zu bestrafen. Dieser Umstand würde nicht gegen die These von dem bloßen Rechts-Interesse am äußeren Verhalten sprechen, wenn die Gesinnung von Tätern nur insoweit von Interesse wäre, als man sie durch Strafe zu sozial erwünschtem Verhalten konditionieren möchte. Eine solche Auffassung wird von Strafjuristen aber gewöhnlich nicht vertreten.5 Die Gesinnung wird im Strafprozess ja nicht thematisiert, um die jeweils bestgeeignete Strafe als Instrument sozialer Konditionierung zu ermitteln, sondern weil man von der Gesinnung auf das wirkliche Verschulden des Individuums schließt; nämlich den individuellen Verdienst oder Unverdienst des Täters. Wer in Unwissenheit oder Unkenntnis gehandelt hat, wird wenig oder gar nicht bestraft, auch wenn es sozial wünschenswert wäre, durch besonders harte Bestrafung ein entsprechendes Verhalten zu konditionieren. Das liegt daran, dass im Falle einer
von der Idee der Pflicht unterschiedene Triebfeder von den pathologischen Bestimmungsgründen der Willkür der Neigungen und Abneigungen und unter diesen von denen der letzteren Art hergenommen sein müssen, weil es eine Gesetzgebung, welche nötigend, nicht eine Anlockung die einladend ist, sein soll." 4 Vgl. die §§ 211,212 des Strafgesetzbuches. 5 Auch die funktionalistische Strafrechtslehre, wie sie beispielsweise von Günther Jakobs vertreten wird, geht nicht so weit. Vgl. seine Überlegungen zur Schuld in Jakobs 1993, 481 ff.
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strafrechtlichen Verurteilung auch ein „Unwerturteü"6 über Täter oder Täterin gefällt wird das Recht, zumindest das Strafrecht, ist mit Moral durchzogen. Gegen solche Einwände wird von den Vertretern eines kantischen Rechtsverständnisses argumentiert, dass die Unterscheidung zwischen Recht und Moral sich auch nicht auf die Motivation des Rechtsbrechers, sondern des normenkonformen Bürgers bezöge. Der Unterschied zwischen Recht und Moral läge eben darin, dass man den Rechtsnormen nicht aus Achtung vor den Gesetzen folgen muss, sondern die Furcht vor Sanktionen ausreiche, wohingegen eine moralische Handlung nur vorläge, wenn sie aus Achtung vor dem Sittengesetz geschähe. Gegen diese schwächere These von der Belanglosigkeit der Motivation für das Recht, die vermutlich Kants eigener Intention entspricht, wäre jedoch einzuwenden, dass ein solches Rechtssystem zwar eine Denkmöglichkeit darstellt, jedoch nur unter den extrem totalitären Bedingungen eines perfekten Überwachungsstaates existieren könnte. Denn da die abschreckende Wirkung der Strafe nicht in ihrem theoretischen Strafmaß, sondern in der Wahrscheinlichkeit ihrer Anwendung liegt, würde sich auch ein Volk von Teufeln schwerlich von dem rechtlich festgelegten Strafmaß abschrecken lassen, wenn es nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit mit der Aufdeckung der Straftat und der eigenen Festnahme rechnen müsste. Ein „Rechtsstaat", also ein Staat, in dem den Möglichkeiten der Strafverfolgungsbehörden durch Bürgerrechte prinzipielle Grenzen gezogen sind, könnte sich daher in einem Volk von Teufeln nicht halten - er müsste entweder in Anarchie oder Totalitarismus enden. Was folgt daraus für das anteilige Verhältnis von Recht und Moral? Wenn es zutrifft, dass das Recht zu einem gewissen Grad auf eine nicht nur negative Motivation zur Normenkonformität angewiesen ist, dann kann eine Verrechtlichung nicht automatisch ein Vakuum füllen, das durch eine zu schwache moralische Motivation entstanden ist. Damit soll nicht bezweifelt werden, dass eine rechtliche Regelung in solchen Bereichen erfolgreich eine schwache Moral ergänzen wird, wo „Vertuschung" von Regelbrüchen nicht möglich ist, beispielsweise beim öffentlichen Verkauf unerlaubter Produkte und so weiter. Wo ein Erwischtwerden nicht wahrscheinlich ist und das eigene Handeln von denjenigen anderen Personen, die es wahrnehmen, nicht als unmoralisch betrachtet wird, ist dies jedoch nicht zu erwarten. Das Recht, das wir haben und wonach wir auch für die Wissenschaft Regelungen treffen können, wird in vielen Bereichen nur dann funktionieren, wenn auch bei denjenigen, die als potentielle Regelbrecher in Frage kommen, ein Interesse an der Einhaltung der Nor-
6 So gehen beispielsweise Maurach und Zipf in ihrem einflussreichen Strafrechtskommentar davon aus, dass unter Strafjuristen nicht nur Übereinstimmung herrscht, dass Schuld auf Vorwerfbarkeit bezüglich der Motivation beruht, sondern auch, „daß die Schuld nach diesen Fassungen mehr ist als ein bloßes Unwerturteil über den Täter im Vergleich zu den übrigen Rechtsgenossen, sondern daß dieses Urteil den Täter mißbilligt, weil dieser - und darin liegt der Vorwurf- sich für das Schlechte entschieden hat, obwohl er persönlich die Fähigkeit hatte, den Weg des Rechts zu wählen." (Vgl. Maurach/Zipf 1977,434.)
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men und entsprechend an der Anzeige von Normenverletzungen besteht. Diese Überlegung wirft freilich erst einmal weitere Fragen hinsichtlich des Verhältnisses von Recht und Moral auf: Denn noch ungeklärt ist, wie die Bereitschaft zur Normenkonformität zu verstehen ist, wenn sie durch weitere Faktoren als die Furcht vor Sanktionen motiviert sein muss. Handelt es sich bei diesen Faktoren um eine moralische Einstellung im kantischen Sinne? Wird das Recht, um die Interpretation Günthers umzukehren, etwa erst durch Moral stark, anstatt dass eine schwache Moral durch Recht ergänzt werden müsste? Es spricht jedoch einiges dagegen, eine positive ethische Motivation von Personen, auf die auch ein liberales Recht angewiesen bleibt, im Sinne einer autonomen kantischen Moral zu verstehen. Zwar hat Kants Theorie unbestreitbare Vorzüge vor allem in der Herausarbeitung eines reinen Moralbegriffes: Mit Hilfe des kantischen Gedankens einer Handlung, die rein aus Achtung vor dem Sittengesetz erfolgt, ist es möglich, den moralischen Faktor im Handeln von anderen motivierenden Faktoren deutlich zu unterscheiden. Aber gerade deshalb kann der begriffliche Gegensatz zwischen Recht und Moral nicht bruchlos auf die wirklichen Unterschiede in der Struktur der gesellschaftlichen Bereiche verrechtlichter und nichtverrechtlichter Normativität übertragen werden. Dies betrifft zum einen den so genannten Purismus dieses Begriffs von Ethik: Auch wenn ein guter Wille im kantischen Sinne möglich sein sollte, ist es doch sehr ungewiss, ob er in der Realität jemals vorkommt - wie ja schon Kant selbst betonte. Und es ist schwer zu sagen, ob die wirklichen Motivationen, sittlichen Normen zu folgen, im nichtverrechtlichten Bereich stärker, genauso stark oder gar schwächer durch die Erwägung sozialer Folgen bedingt sind als im Bereich des Rechts. Worin liegt also der reale Unterschied zwischen Recht und Moral? Anders gefragt: worin liegt der Unterschied zwischen den realen gesellschaftlichen Institutionen und Traditionen von Recht und Moral? Schwerlich in der völligen Abwesenheit von Sanktionen im einen, der Erwartbarkeit von Sanktionen im anderen Bereich. Denn Sanktionen gibt es schließlich auch im Bereich der Moral: Nur in dem Sonderfall, dass das Opfer einer moralischen Normverletzung mit dem Täter identisch ist, scheint die potentielle Sanktion rein auf den privaten Gewissensbiss beschränkt. Moralische Sanktionen können sogar mitunter sehr viel schlimmer sein als die Rechtsfolgen: Eine bezahlbare Geldstrafe beispielsweise ist übler Nachrede, Respektsverlust, sozialer Ächtung und anderem meistens vorzuziehen. Die moralischen Sanktionsmechanismen funktionieren freilich spontaner und sind weniger einheitlich geregelt als im Bereich des Rechts; so wie die Selbstjustiz in einigen vorstaatlichen Gesellschaften können sie sowohl unverhältnismäßig stark wie unverhältnismäßig gering ausfallen. Das moderne Recht unterscheidet sich hiervon deutlich durch die Institutionalisierung von Sanktionen in einer neutralen Instanz, eben dem Rechtswesen.7
7 Bekanntlich ist dies in vielen traditionellen Gesellschaften nicht der Fall; in manchen Gesellschaften werden „Rechtsansprüche" von den Betroffenen selbst nach bestimmten Verfahrensregeln verhandelt. Zum Übergang von Recht und Moral in vorstaatlichen Gesellschaften vgl. Hoebel 1968 und Wesel 1985.
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Sind die moralischen Sanktionen „bloß" sozialer Art, etwas „Äußerliches", das zur eigentlichen „inneren" Moral hinzukommt? Gegen diese kantische Vorstellung spricht, dass Normativität sich schwerlich unabhängig von der Achtung gegenüber anderen Personen entwickeln kann, und die moralische Motivation in einer funktionierenden moralischen Gemeinschaft auch eng mit dieser Achtung verflochten bleibt. Das wird besonders deutlich an Phänomenen wie dem moralischen Gefühl der Scham, das charakteristisch fur ethische Gemeinschaften ist, deren Normen zugleich Selbstverwirklichungsideale der Individuen darstellen. (Ein Phänomen, das auch in wissenschaftlichen Kontexten vorkommt, da das Berufsethos ja nicht nur Gebote und Verbote enthält, sondern damit zugleich Ideale der Selbstverwirklichung als guter Wissenschaftler bildet.) Anders als das kantische Gewissen wird das Gefühl der Scham nicht allein durch das Bewusstsein der Einzelperson selbst konstituiert. Denn dieses richtet sich nicht allein auf eine allgemeine Regel, sondern auf das Bewusstsein der anderen Mitglieder ihrer moralischen Gemeinschaft, mit denen sie bestimmte Auffassungen von angemessenem Verhalten teilt. Scham bezieht sich nicht auf ein moralisches Gesetz, das dem Individuum unabhängig von anderen Personen innerlich zugänglich ist, sondern erfordert ein zumindest gedachtes Gegenüber, vor dem es sich schämt. Aus diesem Grund neigte man in der kantischen Tradition dazu, Scham im Unterschied zum Schuldgefühl als ein heteronomes Affiziertwerden durch andere abzuwerten. Die Vorstellung, Scham sei ein rein heteronomes Gefühl, im Unterschied zum „verinnerlichten" Gefühl der Schuld, ist jedoch zu oberflächlich. Wie Bernhard Williams anhand von antiken Beispielen gezeigt hat, entsteht Scham nicht nur und nicht primär, wenn jemand tatsächlich von den falschen Personen in der falschen Verfassung oder bei den falschen Handlungen beobachtet wird. Es kann sich vielmehr genau wie bei dem Bewusstsein der Schuld um ein durchaus internalisiertes Gefühl handeln, das sich auf die prinzipielle Möglichkeit bezieht, dass eine Person der Art, die von mir respektiert würde, mein Verhalten missbilligen könnte. Im Unterschied zum Gefühl der Schuldigkeit, das ich bei derselben Handlung fühlen kann, bezieht sich die Scham also nicht auf die Art der Handlung und ihre Unrechtmäßigkeit, sondern auf mich selbst: Wenn wir uns schämen, sind wir uns bewusst, hinter ein Ideal des Verhaltens zurückgefallen zu sein, mit dem wir uns selbst identifizieren und von dem wir prinzipiell auch annehmen, dass es auch die anderen von uns erwarten.8 Scham ist daher auch die Empfindung einer Verringerung der eigenen Persönlichkeit. Dieses Gefühl der Scham ist für das moralische Verantwortungsbewusstsein vielleicht sogar sehr viel grundlegender als das der Schuld, weil es der Person eine Vorstellung von ihrer ethischen Identität gibt, die eine Bedingung dafür ist, sich schuldig zu fühlen. Und es zeigt auf negative Weise an, warum Personen ein sehr elementares Eigeninteresse daran haben, sich „normenkonform" zu verhalten - jedenfalls wenn es um Normen geht, die auch ihre jeweiligen Ideale des Personseins konstituieren. Während nicht einmal Kant die reine Achtung vor dem Sittengesetz für ein starkes oder gar hinreichendes
8 In dieser Auslegung des Schambegriffs folge ich Williams 1993, 92 ff.
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Motiv des Handelns hielt (sofern andere Eigeninteressen entgegenstehen), gibt das Streben nach Selbstverwirklichung, die Bestrebung, die eigene Persönlichkeit zu stärken und nicht zu schwächen, eine sehr starke Motivation ab. Eine solche Motivation setzt freilich eine normative Gemeinschaft voraus, deren Mitglieder bestimmte Normen teilen und sich wechselseitig als Personen des Typs anerkennen, deren berechtigte Missbilligung die eigene Identität in Frage ziehen würde. Die Beantwortung der Frage, wie ethische Probleme in den Wissenschaften zu regeln sind, wird daher verschieden ausfallen, je nachdem, um was für eine Art von normativer Gemeinschaft es sich bei den Vertretern einer Wissenschaft sowie den Mitgliedern einer in der Grundlagenforschung oder Anwendung arbeitenden Organisation handelt - sofern davon überhaupt die Rede sein kann; und in welchem Maße die Mitglieder solcher Einheiten das weitere Umfeld der nichtwissenschaftlichen Gesellschaft als eine die eigene Gemeinschaft umschließende normative Gemeinschaft respektieren, deren moralische Anliegen ernst zu nehmen (und nicht nur auf wissenschaftliche Unkenntnis oder wirtschaftliche Naivität zurückzuführen) sind. Nach dem kantischen Modell hingegen ist das Individuum moralisch mit seinem Gewissen allein und bewertet seine Handlungen ohne Rücksicht auf soziale Erwartungen und ihre Folgen. Dieses Modell hat zwei große Nachteile gegenüber einer auf wechselseitiger normativer Anerkennung basierenden Schamethik. Erstens wird die kantische Moral nicht durch soziale Sanktionen gesichert. Und zweitens ist sie vorrangig negativer Art. 9 Eine Handlung ist nach Kant erlaubt, wenn sie dem Kategorischen Imperativ nicht widerspricht. Eine Ethik, die auf die Wissenschaften als kreative Typen von sozialen Systemen passt, müsste aber auch in normativer Hinsicht kreativ sein: Denn gefordert ist ja eine Moralität, die es erlaubt, nicht nur gegebene Normen anzuwenden bzw. auf ihre Allgemeingültigkeit zu prüfen, sondern mit Rücksicht auf jeweils vorliegende gesellschaftliche Wertvorstellungen und öffentliche Interessen Regelungen zu finden, die nicht unbedingt zeitlos gültig sind, aber für einen absehbaren Zeitraum auf intersubjektive Zustimmung stoßen können: Regelungen, die eine jeweils historische Gestalt von Vernünftigkeit darstellen. Denn die Be-
9 Beide Nachteile sind vermutlich durch ihren ursprünglichen jenseitsreligiösen Kontext bedingt, denn einiges spricht dafür, dass dieser Typ von Normativität nur in Kulturen vorkommt, die Vorstellungen von einem Jenseitsgericht entwickelt haben wie in den ägyptischen, jüdischen, christlichen und islamischen Religionen. Dort gekommen die Handlungen eines Individuums eine moralische Bedeutung, die nicht in ihrem weltlichen Wert oder Unwert aufgeht. Denn nach der Vorstellung der Jenseitsreligionen tritt das Individuum nach dem Tod nicht in seinen sozialen Relationen, sondern einzeln vor ein Gericht, das seine Handlungen nicht hinsichtlich ihrer Konsequenzen für andere und fur die Gemeinschaft, sondern nach einem kontextunabhängigen moralischen Maßstab bewertet. Eine jenseitsreligiöse Moral ist daher immer an Verboten ausgerichtet, da sie ja nicht auf die Entwicklung und Erhaltung einer normativen Gemeinschaft zielt, sondern auf die Reinigung des Individuums von den Sünden. Das Individuum wird dann freigesprochen, wenn es einen feststehenden Katalog von Sünden nicht begangen hat.
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Schreibungen von Handlungsmöglichkeiten in einer Situation, in der neue wissenschaftliche Entdeckungen neue Möglichkeiten mit nicht ganz abwägbaren technischen und normativen Konsequenzen eröffnen, sind ja noch nicht festgelegt, sondern müssen überhaupt erst einmal in der Auseinandersetzung über ihren möglichen normativen Gehalt entwickelt werden. Moralität im kantischen Sinne hingegen setzt eindeutige Klarheit über gesellschaftliche Wertvorstellungen voraus. So wäre beispielsweise die Frage, ob Diebstahl erlaubt ist, im kantischen Rahmen nicht zu beantworten, wenn gesellschaftliche Uneinigkeit darüber herrschte, ob man Privatbesitz überhaupt möchte oder ablehnt. Aus diesem Grund ist die Methode der privaten Gewissensbefragung durch Prüfung der Maxime auf ihre Eignung als kategorischer Imperativ auch nicht als Methode zur Lösung komplexer normativer Probleme geeignet. Sie erlaubt es nicht, unterschiedliche Werte relativ zur Situation gegeneinander zu gewichten. Ein Beispiel: Hans-Jochen Diesfeld10 hat auf Fälle hingewiesen, wo Leistungen afrikanischer Mitarbeiter in naturwissenschaftlichen Forschungsprojekten, die von Europäern oder Amerikanern initiiert worden waren, in die Veröffentlichungen dieser „Autoren" eingehen, ohne dass jene als Mitautoren genannt werden - mit der Konsequenz, dass sie durch ihre Forschungen nicht die Möglichkeit bekommen, eine eigene wissenschaftliche Karriere zu verfolgen. Hier würde ein gerechterer Umgang die Bereitschaft voraussetzen, ethische Werte - wie den Wert der Originalität - im Berufsethos zu relativieren: die Regeln, die Autorschaft auf den Initiator einer bestimmten Forschung einschränken, gegenüber einem Fairnessgebot gegenüber den Mitarbeitern zu gewichten. In welchem Sinne muss eine Ethik, die zu den Wissenschaften passt, kreativ sein? Man stelle sich beispielsweise die Frage (in Anbetracht einer neueren medizinischen Forschung in China), ob es erlaubt sein kann, menschliche mit tierischen Keimzellen zu verschmelzen. Solche Fragen sind nun schwerlich durch private Gewissensbefragung zu lösen. Sie werfen nämlich zwei Typen von Problemen auf: Erstens kann man sich fragen, welche schädlichen biologischen Folgen entstehen könnten (beispielsweise die Übertragung von Tierkrankheiten auf den Menschen), und wie sich diese zu den erwartbaren positiven Folgen (der Heilung anderer Krankheiten usw.) verhalten. Dieser Problemtypus wird in Gesellschaften, in denen das physische Überleben vieler Mitglieder ungesichert ist, vermutlich eine ganz andere Bedeutung haben als in Gesellschaften, in denen das Überleben und sogar das bequeme Leben dem Durchschnittsmenschen einigermaßen garantiert scheint. Der zweite Problemtyp ist ganz anderer Art: Er betrifft den Umgang mit wissenschaftlichen Entwicklungen, deren Anwendung im Kontext bestimmter religiöser und moralischer Traditionen einen Tabubruch bedeuten könnte. Hier stellt sich die Frage, in welchem Maß eine bestimmte Forschung oder Anwendung gegebene Wertvorstellungen von Personengruppen verletzt, und inwieweit eine solche Verletzung hinnehmbar oder unzumutbar ist. Der zweite Typ von Frage, so meine Ausgangsthese, kann nicht allein im Rückgriff auf den kategorischen Imperativ beantwortet werden, sondern hat einen unhintergehbaren empi-
10 Vgl. den Beitrag von Hans-Jochen Diesfeld in diesem Band, 99-109.
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rischen Anteil," der auch nur auf empirischem Wege ermittelt werden kann: Durch Erzeugung einer öffentlichen Meinungsbildung. Denn ob eine bestimmte Forschung ein Tabu verletzt, kann nicht einfach durch die Berücksichtigung religiöser Normen durch einen Spezialisten festgestellt werden. Die Realität von Tabus und Normen ist nicht statisch; je nachdem, was in einer bestimmten normativen Gemeinschaft gerade als besonders dringlich angesehen wird oder was in den Hintergrund des öffentlichen Interesses tritt, sind in einem kulturellen Kontext immer mehrere mögliche Reaktionen auf eine Neuerung mit normativen Konsequenzen denkbar. Gegenüber einem nur kantisch verstandenen Moralbegriff wäre daher zu insistieren, dass die Wissenschaftler auf die Auseinandersetzung mit anderen Wissenschaftlern und der weiteren Öffentlichkeit angewiesen sind, um geeignete Normen der Forschung und eventuell auch des Verzichts auf Forschung zu entwickeln. Ein Beispiel: Gehen wir einmal davon aus, dass die im Herbst 2001 durch die Tageszeitungen kolportierte Nachricht zutrifft, dass ein chinesischer Wissenschaftler menschliche Zellkerne mit dem Plasma einer Kaninchenzelle verbunden hat. Wie viel Ethik hat eine solche Wissenschaft? Welche mangelt ihr? Was die Privatmoral des Wissenschaftlers angeht, so liegt wohl kein Grund für die Verdächtigung vor, dass er nicht in bestem Gewissen, motiviert durch den Wunsch, die Heilungsmöglichkeiten von bestimmten Krankheiten zu verbessern (erster Problemtypus) gehandelt haben sollte. Für seine Gewissenhaftigkeit im Sinne einer Berufsmoral spricht darüber hinaus, dass er offenbar von sich aus auf die möglichen technischen Gefahren seiner Arbeit hingewiesen hat (die Möglichkeit, dass Kaninchen Krankheiten auf Menschen übertragen könnten). Aber viele Angehörige einer jüdischen, christlichen, oder islamischen Kultur werden bei der Morgenzeitungslektüre mindestens einen leichten Schock erlitten haben {zweiter Problemtypus). Ist dies dem Wissenschaftler im Sinne einer kantischen Moralität anzulasten? Wohl kaum. Wenn sein normatives Weltbild nicht durch die christliche, jüdische oder islamische Religion, sondern eher durch den Buddhismus oder verwandte östliche Traditionen geprägt sein sollte - was mir nicht bekannt ist, aber denkbar erscheint - dann konnte es ihm selbst durchaus nicht als ein Tabubruch erscheinen, die Grenzen zwischen dem Menschlichen und dem Tierischen aufzuheben. Schließlich können im Buddhismus Menschen als Tiere wiedergeboren werden und umgekehrt. Sie sind weder grundverschieden noch nehmen sie einen höheren Rang vor allen Tieren ein. Für Moslems, Christen und Juden könnte diese Vorstellung aber einen schlimmen Schock bedeuten - wenn sie solche Entwicklungen mit Aufmerksamkeit verfolgen und direkt auf die Weltbilder ihrer Kultur beziehen würden. 12 Hier tritt sich ein ethisches Prob-
11 Zu einem gewissen Grad gilt dies auch für den ersten Problemtypus, denn die Bewertung von Heilungsmöglichkeiten beispielsweise ist nicht kulturinvariant, sondern hängt vom religiösen Umfeld ab. 12 Claudia Stellmach verdanke ich den Hinweis, dass eine vergleichbare wissenschaftliche Entwicklung durch deutsche Wissenschaftler vor circa 25 Jahren kaum wahrgenommen wurde, weil die öffentliche Aufmerksamkeit gegenüber wissenschaftlichen Entwicklungen sich damals an anderen
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lern spezifischer Art hervor: Da Wissenschaft universal und global stattfindet, dabei aber mit den Wertvorstellungen und Weltbildern aus verschiedenen Kulturen kollidieren kann, entsteht das Problem, die möglichen Folgen der eigenen Arbeit auf die Wertvorstellungen anderer zu berücksichtigen. Dies kann aber nicht als moralisches Problem der Einzelwissenschaftler verstanden werden, sondern als eine Aufgabe, die in einer in diesem Fall interkulturellen Öffentlichkeit durch Diskussion und Meinungsentwicklung gelöst werden muss. Solche Probleme verdeutlichen, dass die Frage nach dem anteiligen Verhältnis von Ethik und Recht gar nicht allgemein beantwortet werden kann, sondern ihre Beantwortung davon abhängen muss, in welchem Maß Wissenschaftler überhaupt in der Situation sind, mit anderen Wissenschaftlern eine ethische Gemeinschaft zu bilden, die untereinander und gegenüber den vielen verschiedenen kulturellen Gemeinschaften der von ihren Forschungen betroffenen Menschen rechenschaftspflichtig ist. Aus dem Problem des Verhältnisses von Individualmoral und Recht wird somit ein ganz anderes Problem: nämlich die Frage nach den Bedingungen der Organisation normativer Gemeinschaften und öffentlicher Auseinandersetzungen. Aus dieser Perspektive bekommen die politischen und wirtschaftlichen Bedingungen wissenschaftlicher Forschung zentrale Bedeutung: Denn die Voraussetzungen der Entwicklung normativer Gemeinschaften und öffentlicher Diskurse sind offenbar nur sehr eingeschränkt, wenn überhaupt gegeben, wo die Forschung rein privatwirtschaftlich organisiert wird. Hier ist nicht nur die nichtwissenschaftliche Öffentlichkeit von der Information weitgehend ausgeschlossen. Auch von einer normativen Gemeinschaft der Wissenschaftler kann nicht die Rede sein, wenn sie gar nicht erfahren, was in ihrem Spezialbereich von anderen erforscht wird. Hier liegt eine soziale Situation vor, in der das Individuum nicht wie Kant dachte: aus Autonomie, sondern aus Anomien - moralisch weitgehend auf sich selbst verwiesen ist und sich im Falle eines Konfliktes mit den wirtschaftlichen Interessen der Arbeitsgeber auch nicht auf die Übereinkunft anderer Wissenschaftler oder den Konsens der Öffentlichkeit berufen kann. Und in solchen Fällen ist schwer zu sehen, wie das öffentliche Interesse an der normativen Kontrolle wissenschaftlicher Forschung anders als durch Verrechtlichung in dem von Klaus Günther beschriebenen Sinne befriedigt werden könnte; auch wenn aus den oben genannten Gründen Verrechtlichung nicht in allen Fällen als Problemlösung geeignet ist. Dies müsste aber nicht auch für eine mit öffentlichen Mitteln geforderte Forschung gelten, wenn sie unter wechselseitiger Transparenz der Forschung und mit der Verpflichtung geschieht, die Öffentlichkeit zu informieren. Es ist letztlich eine
Themen orientierte. Wenn das zutrifft, zeigt es, wie stark der zweite Problemtypus von dem jeweiligen öffentlichen Diskussionstand abhängt: Normen sind nie gleichmäßig präsent. Vielmehr werden durch jede Art der Artikulation und Auseinandersetzung bestimmte Probleme in den Vordergrund geschoben, wodurch andere in den Hintergrund treten. 13 Der Begriff Anomie wird hier im Sinne Dürkheims verwendet und bezeichnet eine Situation des Individuums, die durch schwache soziale Beziehungen und daher auch durch einen Mangel an selbstverständlichen, da sozial verankerten Normen charakterisiert ist.
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gesellschaftliche Entscheidung, ob Forschung als eine privatwirtschaftliche Angelegenheit betrachtet wird, die durch Verrechtlichung zu begrenzen ist, oder als eine öffentliche Aufgabe, deren ethische Probleme auch öffentlich entschieden werden. Ganz in diesem letzteren Sinne hat der Vorsitzende des Nationalen Ethikrats, Spiros Simitis, kürzlich die Forderung erhoben, die Stammzellen-Forschung stärker mit öffentlichen Mitteln zu fordern, um mehr Transparenz und dadurch auch eine rationalere öffentliche Diskussion um Zweck und Grenzen der Forschung zu erreichen.
Literaturverzeichnis Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Riga 1785. Ders.: Kritik der praktischen
Vernunft, Riga 1788.
Ders.: Die Metaphysik der Sitten, Königsberg 1797. Hoebel, E. Adamson: Das Recht der Naturvölker, Freiburg i. Br. 1968. Jakobs, Günther: Strafrecht. Allgemeiner Teil, Berlin/New York 2 1993. Maurach, Reinhard/Heinz Zipf: Strafrecht. Allgemeiner Teil, Heidelberg/Karlsruhe 5 1977. Wesel, Uwe: Frühformen des Rechts in vorstaatlichen Gesellschaften, Frankfurt am Main 1985. Williams, Bernhard: Shame and Necessity, Berkeley/Los Angeles/London 1993.
Volker Gerhardt
Wahrheit verpflichtet
1. Die Verselbstständigung der Wahrheitsfrage. Die Moderne hält sich viel darauf zugute, dass sie die alte Verbindung zwischen dem Wahren, Guten und Schönen aufgekündigt hat. Warum eigentlich? Liegt darin ein Fortschritt? Bringt die Aufspaltung der Sphären logischer, moralischer und ästhetischer Geltung einen Rationalitätsgewinn? Haben wir es leichter dadurch, dass wir uns bei der Suche nach der Wahrheit von ethischen Ansprüchen oder künstlerischen Erwartungen entlastet sehen können? Oder gibt es zwingende sachliche Gründe nicht für die Unterscheidung, sondern für die definitive Trennung der Geltungsbereiche? Man braucht nur diesen Mutmaßungen nachzugehen, und schon wird man den Zweifel an der von vielen offenbar als bemerkenswerte Leistung angesehenen Verselbstständigung der Wahrheitsfrage nicht mehr los. 2. Die scheinbare Beliebigkeit der Wahrheit. Die sachlichen Gründe fur die Entkoppelung der Geltungsbereiche scheinen auf der Hand zu liegen: Nach Wahrheit kann jeder suchen, unabhängig davon, was fur ein Mensch er ist und welche Ziele er im Ganzen oder im Einzelnen verfolgt. Selbst bei einem notorischen Lügner ist es nicht ausgeschlossen, dass er richtige Einsichten hat und sie gelegentlich auch ausspricht. Wissenschaft, die wir im Kern noch immer als Suche nach Erkenntnis verstehen, kann unter vielen moralischen und politischen Prämissen betrieben werden. Da als Erkenntnis aber nur gelten kann, was zumindest allgemein als wahr vermutet wird, spielen auch weltanschauliche Differenzen keine ausschlaggebende Rolle bei dem, was in einem Forschungsprozess als wahr vorausgesetzt und möglicherweise als wahr ermittelt wird. Aus zahlreichen historischen Zusammenhängen wissen wir, dass Forschung sogar in verbrecherischer Absicht betrieben werden kann. Und man merkt einer Erkenntnis nicht an, ob sie unter totalitären oder freiheitlichen Bedingungen gewonnen wurde. So muss es tatsächlich selbst als zwingende Konsequenz einer wahren Einsicht erscheinen, wenn man die Wahrheitssuche von praktischen Konditionen löst. Sie hängt zwar jeweils von den Umständen ab, kann finanziell, personell oder institutionell gefordert werden, ist aber nicht zwingend an die jeweiligen Interessen - und schon gar nicht die Gesinnung - derer gebunden, die sie betreiben.
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3. Die Ambivalenz des Wahren. Entsprechendes gilt von den Erträgen des Wissens. Hier möchte heute wohl niemand behaupten, dass sie auch nur im Großen und Ganzen als „gut" zu bewerten sind. Sie scheinen dies noch nicht einmal in einem elementaren pragmatischen Sinn zu sein, von ihrer moralischen Dignität ganz zu schweigen. Dabei braucht man keineswegs gleich an eine elaborierte Waffentechnik, an atomare, chemische oder biologische Vernichtungsmittel zu denken. Es genügt, an die Ambivalenz der medizinischen Erkenntnisse zu erinnern, die in der Regel im ausdrücklichen Dienst am Menschen gewonnen werden. Sobald sie jedoch am Lebensbeginn oder am Lebensende - oder auch nur in verstärktem Ausmaß oder ohne individuelle Betreuung - zur Anwendung kommen, werden sie für den Einzelnen zur Qual und fur die Gemeinschaft zum Risiko. 4. Uneinholbare ästhetische Differenz. Wer sich genötigt sieht, den pragmatischen Nutzen oder den moralischen Gewinn der Erkenntnis in Zweifel zu ziehen, der wird es bereits als Zumutung empfinden, die mit der Erkenntnis notwendig verknüpfte Wahrheit in eine ästhetische Dimension zu stellen. Zwar kann ich mich an eine Konferenz in Bayreuth erinnern, auf der ein ernsthafter Kantianer sich zu der irgendwie von Nietzsche inspirierten These verstieg, dass der hoch in den Himmel aufsteigende Rauchpilz nach der Explosion einer Wasserstoffbombe in der Abbildung „schön" und in der realen Beobachtung „erhaben" genannt werden könne. Doch das Getümmel im Konferenzraum war danach so heftig, dass der Abbruch der Tagung nur mit Mühe verhindert werden konnte.1 Auch wenn man bei ästhetischen Urteilen heute ohnehin nicht mit allgemeiner Zustimmung rechnen kann, ist das Beispiel signifikant: Die Ergebnisse wie die Verfahren wissenschaftlicher Erkenntnis sind heute mit so extremen Zumutungen verbunden, dass sie oft schon jene ausgeglichene Distanz verhindern, die für die Ausbildung einer ästhetischen Erfahrung unerlässlich ist. Und wo sie sich dennoch einstellt, hat die Wahrheit schon für sich selbst eine so übermächtige politisch-moralische Ambivalenz, dass sich die spielerische Entfaltung der Phantasie ganz von selbst verbietet. Also fehlt bereits die conditio sine qua non für den Eintritt in eine ästhetische Erfahrung der Wahrheitsleistungen der modernen Welt. 5. Das Janusgesicht der Wissenschaft. Damit kommen wir zu dem Schluss, dass die moderne Trennung des Wahren, Schönen und Guten durch den hoch ambivalenten Charakter wissenschaftlicher Wahrheit gleichsam erzwungen worden ist. Selbst wer ungerührt weiterhin unter der alten Prämisse einer systema-
1 Bayreuther Nietzsche-Kolloquium Willen zur Macht und Mythen des Narziß, geleitet von Walter Gebhard, 1985.
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tischen Verknüpfung von epistemischen und ethischen Leistungen zu denken versuchte, würde davon durch das Janusgesicht der Wissenschaft alsbald abgebracht. Dieser Effekt muss sich noch verstärken, wenn man von hoch angesehenen Wissenschaftlern hört, dass es gar keine Wahrheit „gibt". Zwar mildert sich der erste Schreck, wenn der Zusatz erfolgt, dass es auch das Gute der Ethik und das Schöne der Ästhetik nicht mehr geben soll. Das hat deshalb eine beruhigende Wirkung, weil - wenn alles bestritten wird auch die alles abräumende These miterfasst und somit belanglos ist. Streng genommen aber gilt das bereits für die noch bis vor kurzem von jedem fortschrittsbewussten Kultur- und Geisteswissenschaftler gern wiederholte Negation aller Wahrheit durch Nietzsche. Wenn Nietzsches metaphysische Leugnung der Wahrheit wahr wäre, würde sie sich augenblicklich selbst aufheben; wäre sie falsch, brauchte man sie erst gar nicht zu beachten. 6. „Es giebt keine Wahrheit." Die populär gewordene These Nietzsches meint natürlich nicht, dass es überhaupt und unter allen Umständen keine Wahrheit gibt. Er betont vielmehr ausdrücklich, dass es „richtige" Aussagen geben können muss, wenn Verständigung und gemeinsames Handeln möglich sein sollen.2 Zwar neigt er dazu, seine Position polemisch zu übersteigern, so dass es tatsächlich so scheinen kann, als leugne er die Möglichkeit zutreffender Aussagen überhaupt. Doch er behauptet lediglich, dass es keine metaphysische Korrespondenz zwischen der Wahrheit eines Satzes und seinem - wie immer auch gemeinten - Gegenstand geben könne. Im Grunde dient Nietzsches Wahrheitskritik der Radikalisierung einer Einsicht Kants: Wir können nicht nur nichts über einen bleibenden ontischen Kern der Dinge ausmachen, sondern müssen bereits die Rede von „Dingen an sich" für eine bedenkliche Selbsttäuschung halten. Zum Glauben an die „Dinge an sich" werden wir durch den Glauben an die Wahrheit verführt. Und um dem Schluss vom eigenen Glauben auf ein anderes Sein jede Grundlage zu entziehen, wird die Polemik rhetorisch übersteigert, so dass ihr alle Wahrheit zum Opfer zu fallen scheint. Doch man darf Nietzsche auch darin nicht wörtlich nehmen: Bestritten wird nur der Essentialismus der Wahrheit, nicht aber die Wahrheit selbst - und erst recht nicht die offenkundige Tatsache, dass der Mensch die Wahrheit braucht. Welchen Sinn hätte es, irgendwo nach dem Weg zu fragen, eine Rechnung zu verlangen oder einen Vortrag zu hören, wenn man wirklich davon ausgehen müsste, dass die freundliche Auskunft, der Kassenbon oder die um Klarheit und Schlüssigkeit bemühte Rede vollkommen selbstreferentiell, also ohne eine überprüfbare Beziehung zur jeweils gegebenen Situation wäre? Es müsste alles schon sehr überraschend, verspielt oder ziemlich witzig sein, wenn wir den - mit Blick auf die Wahrheit - belanglosen Leistungen Beachtung schenken sollten.
2 Friedrich Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, II, in: Kritische Studienausgabe, hrsg. von G. Colli/M. Montinari, München 1980, Bd. 1, 882.
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Und selbst das Kuriose einer vollkommen irrigen Erklärung, das Unerhörte einer dreisten Fälschung oder das Empörende einer absichtsvoll verzerrten Realität kann uns nur deshalb eine gewisse ästhetisch-moralische Aufmerksamkeit abverlangen, weil wir normalerweise eine zutreffende Wegbeschreibung, eine korrekte Rechnungslegung und einen wenigstens um Wahrheit bemühten Vortrag hören wollen. Die Ästhetik kann uns ohnehin nur fesseln, solange wir vom Ernst der Wahrheitssuche entlastet sind und vom Objekt her nicht unter moralischen Ansprüchen stehen.3 Dazu aber müssen wir beides, Wahrheitsanspruch und moralische Verbindlichkeit, erfahren haben. 7. Die Trennung der Sphären. Man muss nun aber zugestehen, dass weder vom Schrecken noch vom Fehlen der Wahrheit die Rede war, als sich ihre Abtrennung von der Sphäre des Guten und Schönen vollzog. Immanuel Kant, der wohl den größten Anteil an der methodologischen Trennung der drei Geltungssphären hat, spricht von der Wahrheit noch in uneingeschränkter Anerkennung ihres hohen „Werts". Auch wenn er vom schlichten Aufklärungsoptimismus vieler seiner Zeitgenossen weit entfernt ist, hat die Wahrheit für ihn einen verheißungsvollen Klang. Sie ist mit dem „Interesse des Menschen" verbunden. Dies zumindest dann, wenn die Wahrheit unter strikten Erkenntnisansprüchen steht, also jeweils „kritisch" geprüft und gesichert wird. Wenn Kant die Kritik der reinen Vernunft mit der so hoffnungsvollen wie warnenden These enden lässt, dass „allein" der „kritische Weg noch offen" sei (B 884), setzt er auf die Wirksamkeit einer Wahrheit, die sich der „Freiheit" der Kritik nicht entzieht (Β XXXV) und die, wann immer sie gesucht, erhärtet oder verteidigt wird, der „Standhaftigkeit" des einzelnen Menschen bedarf (B 24). Von der Ambivalenz der Wahrheit im wechselvollen Auf und Ab der Geschichte, über deren empirischen Ausgang sich Kant ohnehin keine Illusionen macht, ist in der Kritischen Philosophie gar nicht die Rede. Tatsächlich hat er einen ganz anderen Grund für die strikte methodologische Trennung zwischen- wie er gerne s a g t logischen, praktischen und ästhetischen Urteilen. 8. Das Subjekt als Funktion. Kants Begründung ist überaus komplex und voraussetzungsreich. Deshalb könnte es aussichtslos erscheinen, sie in wenigen Worten plausibel zu machen. Aber inzwischen sind wir längst alle, auch ohne Parteibuch, zu Kantianern geworden. Die Abtrennung der drei Urteilssphären ist ein scheinbar selbstverständliches Ordnungselement unserer eigenen Weltwahrnehmung. Deshalb genügen wenige Sätze, um Kants Vorschlag zu charakterisieren: Die auf Wahrheit gerichteten Aussagen sind auf den erfahrenen Zusammenhang der Natur bezogen. Ihnen liegen verschiedene sinnliche und geistige Vorleistungen des erkennenden Subjekts zu Grunde, die man zu einem Teil durch logische Analyse, zum anderen durch
3 Wer den letzten Punkt bezweifelt, denke an die Geschmacksverirrung in der Äußerung des Komponisten Stockhausen über die brennenden Türme des World Trade Center.
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die transzendentallogische Untersuchung bewusst machen kann. Die logischen Regeln und die transzendentalen Bedingungen sind Wahrheitskriterien, die erfüllt sein müssen, wenn es zu einer empirischen Erkenntnis der Natur kommen können soll. Die empirische Erkenntnis ist das eigentliche Ziel der Wahrheitssuche, bei der sich aber nur dann Erfolge einstellen können, wenn das erkennende Subjekt von sich und seinen subjektiven Zuständen absieht, um allein auf die erkennbare Sache zu achten. Das Ich wird auf die Funktion einer rein formalen Begleiterscheinung der sachhaltigen Erfassung der gegenständlichen Welt reduziert, damit die Erkenntnis allein auf die Relationen der erkannten Dinge, Zustände und Vorgänge bezogen bleibt. Dabei geht es primär um den gesetzlichen Zusammenhang beobachteter Wirkungen mit den ihnen zu Grunde liegenden Ursachen. Alles ist auf den sachlichen Konnex der empirischen Daten bezogen. Zwar treten die Daten nur in der sinnlichen Anschauung von aufmerksamen Menschen hervor. Aber das Menschliche kommt hier lediglich in den allgemeinen Funktionen des Erkennens, Sprechens und Handelns vor, die sich bei jedem tätigen und durchschnittlich gesunden Erwachsenen finden. Das menschliche Individuum ist zwar eine unerlässliche Bedingung einer jeden Erkenntnis, aber es zählt nur in jenen Leistungen, in denen es jedem anderen (normalen) Exemplar seiner Gattung entspricht. Es ist nicht zuletzt die Erkenntnis selbst, die uns darüber belehrt, dass es solche allgemeinen Funktionen des Denkens, Sprechens und Handelns gibt, bei denen wir immer schon von individuellen Unterschieden abgesehen haben. 9. Sollen, nicht Sein. Wenn die individuellen Differenzen zwischen den Individuen sachlich unerheblich sind, kann es auch keine Rolle spielen, mit welcher Einstellung und welchen subjektiven Erwartungen jemand Erkenntnis betreibt. Solange sich ein Ich auf die formale Kontrolle des jeweils Gedachten beschränkt, solange es also keine sachlichen Widersprüche zulässt und sich nicht in Selbstwidersprüche verstrickt, ist es fur die empirische Naturerkenntnis nur insoweit von Bedeutung, als es mit seiner Aufmerksamkeit anwesend ist. Im Übrigen aber kommt es weder auf seine aktuelle Verfassung noch auf seine spezifische Schulung noch auf individuelle Vorkenntnisse an. Also ist auch seine moralische Einstellung im Augenblick der Erkenntnis unerheblich. Das ist nach Kant auch deshalb konsequent, weil die moralischen Urteile nicht durch die (in ihnen natürlich auch enthaltenen) sachlichen Beschreibungselemente charakterisiert sind. Sie weisen sich vielmehr durch ihren normativen Anspruch aus. Während die logische Aussage nur ein (vorhandenes oder nicht vorhandenes) Sein konstatiert, spricht das moralische Urteil eine normative Forderung aus. Es besteht in einem Gebot, das vorschreibt, was getan werden soll. Diese aus dem alltäglichen Sprachgebrauch vertraute Differenz zwischen Sein und Sollen wird philosophisch durch das von David Hume begründete Verbot verschärft, ein Sollen aus einem Sein herzuleiten. Es ist also nicht nur der Geltungsftere/'cA, sondern auch der Geltangsursprung, in dem sich logische und moralische Aussagen voneinander unterschei-
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den. Die Moral, mit ihrem Anspruch, Gutes zu tun, hat somit nicht nur ein anderes Ziel, sondern auch eine vollkommen andere Herkunft als die auf das Wahre bezogene Erkenntnis. 10. Ausdruck einer rationalen Stimmung. Schließlich haben wir noch die Aussagen, die sich auf das Schöne und Erhabene beziehen. Nach Kant sind sie zwar auch, wie die Wahrheit und das moralisch Gute, auf die Freiheit des Einzelnen gegründet, aber sie verbleiben ganz im Bereich subjektiver Geltung. Ihnen fehlt die Allgemeingültigkeit, weil das sie tragende Subjekt sich nicht auf die Funktion der bloßen Verknüpfung beschränkt. Es nimmt vielmehr seinen intellektuellen Gesamtzustand als Indiz fur die Korrespondenz zwischen sich und dem Reiz gebenden Gegenstand. Dadurch hängt das ästhetische Urteil nicht von d e r - in ihm natürlich auch enthaltenen Wahrheit, sondern vom Zustand ab, in dem sich der ästhetisch wahrnehmende Mensch im Augenblick der Erfahrung befindet. Also drückt das ästhetische Urteil keine Wahrheit über den als „schön", „tragisch" oder „erhaben" erlebten Sachverhalt aus, es untersteht keiner moralischen, juridischen oder politischen Norm, sondern sagt lediglich, dass sich der Mensch angesichts des Schönen in einer Stimmung befindet, in der ihm angesichts des gleichen Gegenstands in vergleichbarer Lage eigentlich jedermann zustimmen müsste. Da sich diese (nur als Gefühl erlebte) Stimmung allein auf die Disposition zu intellektuellen Leistungen des Menschen bezieht, kann sie als rational bezeichnet werden. Sie ist nicht nur mitteilbar, sondern kann auch in der Erwartung geäußert werden, dass Gleichgesinnte ebenso fühlen. Dennoch ist offenkundig kein Wahrheitsanspruch damit verbunden. Wenn ich sage „Die Rose ist schön", sage ich mindestens genauso viel über mich selbst wie über die Rose. Die Wahrheit ist hingegen strikt auf den Sachverhalt bezogen - wenn nur das Subjekt in seiner kontrollierenden, Widersprüche vermeidenden Funktion zur Verfugung steht. 11. Die Wissenschaft als integraler Bestandteil der menschlichen Zivilisation. Kants dispositiver Analyse kann man auch heute noch einiges abgewinnen. Und dennoch wäre es ein Missverständnis, würde man daraus die Konsequenz einer moralischen und ästhetischen Neutralisierung der Wahrheit ziehen. Denn das Problem der Aufrichtigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis steht in personalen, politischen und humanitären Zusammenhängen, in denen faktisch niemand auf der pünktlichen Einhaltung der analytischen Grenzlinien zwischen dem Wahren, Guten und Schönen bestehen kann. Was für das einzelne theoretische oder praktische Urteil richtig ist, kann nicht einfach auf den Lebens- und Arbeitszusammenhang eines Forschers übertragen werden. Es reicht vor allem nicht hin, um Regeln für die kritische Selbstkontrolle der Wissenschaft zu begründen. Wissenschaft und Forschung sind zunehmend wichtiger werdende Elemente des gesellschaftlichen Lebens. Sie unterstehen dem grundrechtlichen Schutz, sind damit aber auch auf eine freie, selbstverantwortliche Entfaltung verpflichtet. Schon daraus resultiert für die sie tragenden Personen nicht weniger als für die sie fordernden Institutionen eine Verpflich-
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tung, keiner anderen Logik zu folgen als der, die sich aus dem basalen Impuls der Neugier und des fortschreitenden Wissens ergibt. Die Wissenschaft steht somit in allem, was in ihr geschieht, in den biographischen und geschichtlichen Zusammenhängen des gesellschaftlichen Lebens. Sie ist ein integraler Bestandteil der menschlichen Zivilisation, die nicht erst seit der Antike auf reflexive Mechanismen moralischer und juridischer Prüfung angewiesen ist. Nehmen wir hinzu, dass mit der zunehmenden Komplexität der wissenschaftlich-technischen Welt auch die seit Jahrtausenden langsam wachsende Individualisierung sprunghaft zunimmt, ist augenblicklich klar, dass die Systeme des Forschens, Lehrens und Lernens auf die verantwortliche Teilnahme ihrer Träger angewiesen sind. In ihrem Kontext müssen einzelne Aussagen juridisch und moralisch zugerechnet werden können, wenn sie im aktuellen Wirkungszusammenhang als verlässlich angesehen werden sollen. Letztlich muss sich die Wahrheit wohl auch an ästhetischen Kriterien einer den ganzen Menschen umfassenden Einbindung in eine von ihm als mit ihm übereinstimmend begriffene Welt messen lassen. Denn wie anders soll in einem grenzenlosen Kosmos des Wissens die auf sinnliche Momente angewiesene Überzeugungskraft von Thesen und Theorien zustande kommen, wenn nicht eine sinnliche Einstimmigkeit uns etwas anzeigt, was uns betrifft? Und nur wenn uns etwas hinreichend wichtig erscheint, wenn uns etwas in einem Kontext, dem wir selber zugehören, entspricht, kann eine Aussage sinnvoll sein. Nur sinnvolle Aussagen können ernsthaft unter Wahrheitsansprüchen stehen. 12. Innere Übereinstimmung mit der Welt. Die Ganzheit, die der Mensch im Erleben, Denken und Handeln in Anspruch nimmt, hat ihr Pendant in der von ihm ästhetisch erfahrenen, logisch gedachten und praktisch behandelten Welt. Da wir diese Korrespondenz - aufs Ganze gesehen - nicht in eindeutigen Begriffen denken können, gehören wir ihr nur in einer rationalen Stimmung zu, über die wir uns zu verständigen haben, wenn wir darin gemeinsam wachsen wollen. Das hört sich vermutlich geschwollen an. Aber jeder, der sein Kind ein Musikinstrument lernen lässt, es mit ins Museum nimmt oder ihm die Schönheiten der Natur vor Augen fuhrt, sucht es durch Mitteilung und Anregung zur eigenen Tätigkeit in einen ästhetischen Kosmos einzuführen, an dem sich die Entfaltung der humanen Anlagen orientiert. Die Mitteilung der ästhetischen Empfindung ist eine Bedingung für ihre Entfaltung. Wer sich darin versucht, wird erfahren, dass er nicht nur einem Anderen Hilfestellung gibt, sondern selber dabei wächst. Auch die Wissenschaft, das sollen meine Beispiele zeigen, kommt ohne ästhetische Erziehung nicht aus. Sie muss eine Schule des Stils, der formalen Eleganz ihrer Beweise und Argumente, der prägnanten Darstellung nach außen sowie der Sensibilität vor allem für das ausbilden, was sie noch nicht begriffen hat.
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Volker Gerhardt Wahrheit nicht nur im Satz.
Entscheidend ist, dass die Wissenschaft nicht in einer einzigen Theorie besteht, die sich auf einen einzigen Satz reduzieren ließe. Es ist stets eine Vielzahl von Aussagen, die auf Beobachtungen, überliefertem Wissen, methodologischen Voraussetzungen und zahllosen Schlussfolgerungen gründen. Sie sind jeweils im Zusammenhang zu entwickeln und zu prüfen, setzen Lehren und Kenntnisse voraus, die von anderen stammen, ohne dass man alle Quellen und Schlüsse selber nachprüfen könnte. Große Bestandteile des wissenschaftlichen Wissens muss man auf Treu und Glauben annehmen. Wer gar kein Vertrauen in irgendeine Autorität aufbringen kann, findet vermutlich nie in eine Disziplin hinein. Schließlich ist man auch in der Sammlung, Auswertung, Ordnung und Weitergabe des Wissens auf die Kooperation mit anderen angewiesen. Die wiederum wird sich gar nicht erst einstellen - und schon gar nicht als tragfähig erweisen - , wenn die in ihr verbundenen Individuen nicht eine minimale Verlässlichkeit untereinander gewährleisten. Also unterstellen wir bei den Aussagen Einzelner, auch wenn sie sich noch so sehr auf ein Detail beschränken, die Aufrichtigkeit in der Mitteilung und die Redlichkeit bei der in allem reflexiv mitlaufenden kritischen Prüfung. 14.
Tugend hat sich im Alltag zu bewähren.
Wenn manche das moralische Fundament der wissenschaftlichen Arbeit übersehen, dann hat das vermutlich seinen Grund darin, dass sie zu hoch von den ethischen Forderungen denken. Gewiss hat die Moralität mit den letzten Fragen des humanen Selbstverständnisses zu tun; es geht um Besonnenheit, Aufrichtigkeit, Tapferkeit und Gerechtigkeit. Ich bin auch der Letzte, der bestreitet, dass diese Tugenden ihren Wert vornehmlich in den existentiellen Lagen des Daseins beweisen. Das heißt aber nicht, dass sie auf die extremen Situationen des Lebens beschränkt sein müssen! Sie können schon bei einer physikalischen Messung, einer archäologischen Grabung, einer demoskopischen Befragung oder einer statistischen Textanalyse gefordert sein, wo es nur auf die Genauigkeit und Verlässlichkeit einer Beobachtung ankommt. Jeder weiß, wie schwierig es sein kann, unter Kollegen oder gegenüber Vorgesetzten eine deutlich abweichende Meinung zu vertreten. Wo es aber im Interesse der Wahrheit nötig ist, braucht man die Zivilcourage, um es auch zu tun. Und was macht man ohne Selbstachtung und Gerechtigkeit, wenn man in der erwünschten Konkurrenz mit einem Kollegen um ein Forschungsergebnis, den einmaligen Zugang zu einem Dokument oder um die Zuerkennung eines Preises steht? Das aber könnte schon wieder als Zuspitzung verstanden werden. Deshalb ist hervorzuheben, dass gerade die alltägliche Kommunikation in Forschung und Lehre eine persönliche und politische Berechenbarkeit verlangt, die ohne ethische Maximen nicht auskommt. Folglich sind Wahrheitssuche, Wahrheitsprüfung und Wahrheitsvermittlung an sittliche Bedingungen gebunden, die den gesamten Prozess der individuellen und institutionellen Bemühung um wissenschaftliche Erkenntnis an ethische Prinzipien binden. Mit Blick auf die
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Organisation von Wissenschaft gilt somit, dass sich Wahres und Gutes nicht definitiv trennen lassen. 15. Die Trennung von Sein und Sollen. Die These von der individuellen und institutionellen Korrespondenz von Wahrheit und Redlichkeit wird durch eine Einsicht gestützt, die ich schon seit Längerem der jüngeren philosophischen Tradition entgegenstelle.4 Die methodologische Trennung von Sein und Sollen ist eine große Errungenschaft der aufgeklärten Wissenschaft. Sie hat uns einsehen gelehrt, warum die Wissenschaften sowohl von religiösen Erwartungen wie auch von allgemeinen moralischen und politischen Prämissen unabhängig ist. In den durchschnittlichen, nicht individuell verantworteten Aussagen über natürliche und gesellschaftliche Vorkommnisse sind Sein und Sollen voneinander getrennt. Mit der Tatsache, dass es regnet, ist noch nicht zwingend vorgeschrieben, dass man den Schirm aufspannen soll. Mit dem biologischen Faktum der Selbsterhaltung hat man noch keine Norm, die für alle gültig ist. Wer über viel Macht verfügt, ist damit noch nicht im Recht.5 Es gibt eine methodologische Differenz zwischen deskriptiven und präskriptiven Aussagen, die es verbietet, das eine aus dem anderen abzuleiten. Diese Einsicht gehört seit David Hume zum festen Instrumentarium der Philosophie. Sie hat Kants scharfe Trennung zwischen theoretischer und praktischer Philosophie (damit auch zwischen dem Wahren und Guten) motiviert, hat wesentlich zur Skepsis gegenüber der aristotelischen Ethik und dem ihr folgenden thomistischen Naturrecht beigetragen. Sie begründet bis heute die Abwehr einer evolutionären Ethik. Wer gegen diese Einsicht verstößt, begeht, wie es heißt, einen „naturalistischen Fehlschluss". 16. Die individuelle Einheit von Sein und Sollen. Und dennoch: Aus der Tatsache, dass so gut wie alle Philosophen an den „naturalistischen Fehlschluss" glauben, folgt noch lange nicht, dass er auch in allen Fällen vorliegt, in denen sie ihn für gegeben halten. Ich jedenfalls bin der Überzeugung, dass er in dem für die Moralität entscheidenden Fall, nämlich im Schluss vom deskriptiv erschlossenen Selbstverständnis eines Menschen auf das präskriptiv von ihm selbst geforderte Handeln, nicht gegeben ist. Wenn ich mich als Experimentator in einem Labor oder als Sprachstatistiker über meinem Text, als Prüfer in einem Examen, als Forscher in einem Team oder einfach nur als
4 Ausfuhrlich in Volker Gerhardt: Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Kap. 8 u. 9.
Stuttgart 1999,
5 Das ist wohl das älteste philosophische Beispiel für einen „naturalistischen Fehlschluss". Piaton diskutiert es im Eröffnungsgespräch der Politeia. Insbesondere im Gespräch zwischen Sokrates und Thrasymachos geht es um das Problem der Ableitung einer Norm aus einem Faktum. Piatons Lösung zeigt, dass die Leistungen des Selbst (oder der Seele) nicht zu den bloßen Tatsachen zu rechnen sind.
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junges Akademiemitglied verstehe, dann folgt aus diesem Sachverhalt, dass ich mich in den entsprechenden Situationen auch so verhalte, wie man es von mir in meiner Funktion erwartet. Hier haben wir eine empirisch gegebene Rolle, die im Fall der individuellen Identifikation zu normativen Konsequenzen fuhrt. 17. Wahrheit aus dem Anspruch auf Sachlichkeit. Die einzige Bedingung, die bei der Verknüpfung zwischen Rollenverständnis und normativer Konsequenz gesetzt werden muss, ist die der Ernsthaftigkeit·. Ich muss wirklich ein Experimentator, ein fairer Prüfer, ein verlässliches Teammitglied oder ein hoffhungsträchtiges junges Akademiemitglied sein wollen, damit die mit dem Status verbundenen Normen auch für mich selber verbindlich sind. Also brauche ich nur festzuhalten, dass jeder, der sich ernsthaft als Forscher und Lehrer versteht, aus eigenem Anspruch verpflichtet ist, sich an das zu halten, was den Kern von Forschung und Lehre ausmacht. Was aber ist es, wozu sich jeder Wissenschaftler in Konsequenz seiner ernsthaft betriebenen Tätigkeit verpflichtet weiß? Es ist nicht mehr und nicht weniger als dies: Jeder suche der Wahrheit so nahe wie möglich zu kommen und dort, wo er glaubt, ihr nahe zu sein, auch bei ihr zu bleiben. Darin liegt die ganze Moral der Wissenschaft, und jeder, der wissenschaftlich arbeitet, ist ihr bereits vom Anspruch seiner Arbeit her verpflichtet. Die Moralität folgt hier aus dem Verlangen nach Sachlichkeit, die ich von mir selbst - vor mir selbst und vor anderen - verlange. 18. Logik der Sache. Die Besonderheit dieser schlichten Begründung liegt darin, dass sie allein aus der Logik der beruflichen Arbeit folgt. Es bedarf keiner von außen herangezogenen Prämissen, keiner für sich gewonnenen, allgemeinen Ethik, die dann in einem separaten Akt der Anwendung auf den speziellen Bereich der Wissenschaft übertragen werden müsste, um zu Aussagen über ethisches Verhalten in den Wissenschaften zu gelangen. Es genügt vollkommen, wenn man sich auf die mit jeder Wissenschaft ohnehin gegebenen Ansprüche einlässt, um dann lediglich die nahe liegenden Konsequenzen zu benennen, die sich bei auftretenden Problemen eigentlich von selbst verstehen. Man braucht streng genommen nur auf die Logik der Sache zu achten, um zu wissen, was in den moralisch sensiblen Lagen zu tun ist. „Logik der Sache" ist dabei freilich nicht das intellektuelle Gerüst, das wie ein Kristallgitter in den Dingen selber liegt. Zu dieser Logik kommt es natürlich nur unter den Bedingungen der Erkenntnis, und sie zeigt sich nirgendwo anders als im Dreieck von Gegenstand, Mitwelt und eigenem Selbst. Fassen wir das Selbstbewusstsein nicht als einen internen Zustand eines Subjekts, nicht als isolierende Aufmerksamkeit des Selbst, sondern als die soziomorphe Struktur eines Verhaltens, in dem sich ein Ich unter Bezug auf eine Sache auf seinesgleichen richtet, dann ist die Logik der Sache eben die Form, in der wir einem Sachverhalt gerecht werden können. Entscheidend an dieser Logik ist also unsere ausdrückliche Beziehung auf sie.
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19. Bei der Sache sein. Das ist der übliche und gleichsam natürliche Anspruch, unter dem sich das alltägliche Arbeiten durchschnittlich vollzieht. Wann immer uns etwas interessiert, sind wir ganz von selbst „bei der Sache" - und damit auch schon unmittelbar bei den Anderen, von denen wir unterstellen, dass sie uns im Bezug auf die anschaulich gegebene oder begrifflich gefasste Sache unmittelbar verstehen. Erst im Fall einer Störung im kommunikativen Dreieck von Ich, Meinesgleichen und Gegenstand habe ich zu prüfen, welche Faktoren dafür verantwortlich sind und welche Korrektur möglich ist. Hat die Störung ihren Grund in der mangelnden praktischen Konsequenz des jeweils handelnden Ich, liegt eine moralische Störung vor, die sich durch bewusste Rückkehr zur Sachlichkeit beheben lässt. Wenn ein Individuum wirklich erkennen will, muss es bei der Sache sein. Darin haben wir eine Bedingung der Wahrheit, auf die wir im Zweifelsfall zurückgehen können müssen und die dann nicht nur als ein individuelles, sondern auch als ein allgemeines Kriterium verlässlicher Wahrheit angesehen werden kann. Bereits in diesem Rückgang liegen Wahrheit und Aufrichtigkeit, Logik und Ethik dicht beieinander. Und aufs Ganze gesehen, spielen auch ästhetische Formelemente in den Stil hinein, mit dem wir bei der Wahrheit zu bleiben versuchen. Nur deshalb ist es unter Umständen auch nicht leicht, die Wahrheit zu sagen. Und wo wir uns bereits von ihr entfernt haben, ist es besonders schwer, zu ihr zurückzukehren. Das lehrt der Umgang mit einer ungedeckten Behauptung, einer vollzogenen Unaufrichtigkeit oder einer manifesten Fälschung. Dennoch bedarf es keines großen Aufwands, um wenigstens für sich selbst zu wissen, was mit Blick auf die Wahrheit getan werden soll. Die Moral liegt darin, dass man die Logik der Sache zur Geltung bringt. 20. Bereichsethiken. Da sich ein Sachverhalt in unterschiedlichen Kontexten jeweils anders darstellen kann, ist es heute üblich geworden, jedem größeren Handlungsfeld seine eigene Ethik zu verordnen. Man spricht von Wirtschafts-, Medizin- und Bioethik und hat entsprechende Kombinationen für die Technik, das Ökosystem oder für die Politik. Daher wäre jeder im Recht, der an dieser Stelle eine Überlegung über „Wissenschaftsethik" erwartet hätte. Die Bereichsethiken haben ihren guten Sinn. In den modernen Gesellschaften haben wir relativ eigenständige Teilsysteme gesellschaftlichen Handelns, die ihre eigene Rationalität ausbilden müssen. Da sie alle vergleichsweise neu sind und noch keine eigenen Traditionen des Wertens und Entscheidens ausbilden konnten (uns somit nicht ohne weiteres auf die älteren ethe eines Standes oder eines Berufs zurückgreifen können), müssen sie ihre Kriterien neu begründen und in eigenen Konventionen verbindlich machen. Die Zahl der kodifizierten Konventionen in der wissenschaftlich-technischen Zivilisation ist seit 1950 sprunghaft angestiegen. Der Vorzug solcher Regelungen ist, dass die ethischen Grundsätze näher an die betroffenen Handlungsträger heranrücken. Doch wenn wir sehen, auf welche Gründe sich die speziellen Ethiken stützen, kommt eben das zum Vorschein, was ich unter den alten Begriff der
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Natur der Sache gebracht habe. Deshalb verzichte ich darauf, die Grundzüge einer Wissenschaftsethik zu skizzieren und belasse es bei der Feststellung, dass Wahrheit verpflichtet. Wer nicht versteht, was damit gemeint ist, der möge sich melden. 21. Nachtrag. In der Diskussion nach dem Vortrag wurde bezweifelt, ob meine primär auf den Einzelnen ausgerichteten Überlegungen denn überhaupt irgendeine Bedeutung für die gesellschaftliche Praxis haben. Es fällt mir nicht leicht, den Zweifel zu verstehen. Denn erstens gibt es kein gesellschaftliches Handeln, das nicht von Individuen getragen wäre. Also muss es von Bedeutung sein, was Einzelne von sich verlangen und was sie von sich aus unter Selbstansprüchen tun. Jedenfalls ist das die Prämisse einer jeden Ethik. Und zweitens sind meine Überlegungen weit davon entfernt, in irgendeiner Konkurrenz zu sozialen oder gar rechtlichen Regelungen zu stehen. Kein gesellschaftliches Zusammenleben von Menschen kommt ohne Konventionen aus; keine Institution - erst recht keine moderne - kann auf das Recht verzichten. Wo rechtliche Regelungen nötig sind, da hat man philosophisch nur darauf zu achten, ob sie gut begründet sind. Ihre Begründung aber kann schwerlich unabhängig von den Selbstansprüchen der betroffenen Individuen sein. Gewiss, die anspruchsvolle Selbstbestimmung der Individuen trägt nicht alles: Man hat sein Augenmerk auf gegebene Traditionen, auf dominierende Sachgesetzlichkeiten, auf gültige rechtliche Konditionen oder auf mögliche politische Ziele zu richten. Das gehört zu den Aufgaben einer Begründung rechtlicher Maßnahmen. Aber davon war in diesem Vortrag nicht die Rede. Er hat sich auf die moralische Frage beschränkt. Und die lautet nun einmal (in der Fassung Immanuel Kants): „Was soll ich tun?" Wer sich eine solche Frage stellt, der gesteht sich damit selber ein, dass es zunächst und in allem auf ihn selbst ankommt. Und auf mich selbst bezogen kann die Wissenschaftsethik, selbst in den hochkomplexen Institutionen moderner Forschung und Lehre, auf die einfache These gebracht werden: Wer nach Wahrheit strebt, hat sich auch selbst an sie zu halten. Kurz: Wahrheit verpflichtet.
Holmer Steinfath
Wissenschaftsinterne Normen und Moral*
In meinen Bemerkungen zum Beitrag von Volker Gerhardt möchte ich mich auf jene Teile konzentrieren, die mir besonders interessant, aber auch besonders problematisch erscheinen.
1. Gerhardts zentrale These besagt, dass die Wissenschaft nicht erst nachträglich unter ethische Ansprüche gestellt werden muss, weil sie solche Ansprüche bereits von sich her impliziert. Es genüge vollkommen, „wenn man sich auf die mit jeder Wissenschaft ohnehin gegebenen Ansprüche einlässt, um dann die naheliegenden Konsequenzen zu benennen, die sich bei auftretenden Problemen eigentlich von selbst verstehen" (226). Wer ernsthaft Wissenschaft betreibe und streng auf die „Logik der Sache" achte, sei allein damit schon bestimmten Normen verpflichtet. Ja, er soll sogar wissen, „was in den moralisch sensiblen Lagen zu tun ist" (226). Hält man sich an diese Formulierungen, dann ist, so möchte ich behaupten, Gerhardts These unhaltbar stark. Nüchtern betrachtet, kommen wir gar nicht umhin, Wissenschaftsprozesse an moralische und rechtliche Bedingungen zurückzubinden, die sich nicht naturwüchsig aus ihnen selbst ergeben.
2. Damit soll nicht bestritten werden, dass die wissenschaftliche Tätigkeit als solche im weiten Sinn ethische Implikationen hat. Es ist eine richtige und wichtige Einsicht, dass eine ernsthafte und erfolgreiche wissenschaftliche Tätigkeit Verhaltensdispositionen und -formen erfordert, die sich althergebracht als „Tugenden" bezeichnen lassen. Wem es nicht einfach um Effekthascherei geht, der braucht Disziplin, Geduld, Besonnenheit, um neue Erkenntnisse zu gewinnen. Er braucht Selbstbewusstsein und Mut, um neue Wege zu gehen und seine Forschungsergebnisse gegen Widerstände zu verteidigen. Arbeiten die wissenschaftlich Tätigen, wie es zumal heute meistens der Fall ist, mit anderen zusammen, werden sie auch soziale Tugenden wie Verlässlichkeit und ein Mindestmaß an Redlichkeit an den Tag legen * Kommentar zu dem Beitrag von Volker Gerhardt: Wahrheit
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müssen; sie müssen in der Lage sein, mit anderen zu kooperieren. All dies ergibt sich aus der für alles ernsthafte wissenschaftliche Geschäft leitenden Norm, nach Erkenntnis und Wahrheit zu streben. In diesem Sinn ist der Wissenschaftler sowohl zur Wahrheit als auch durch sie verpflichtet. Ebenso wird man Gerhardt konzedieren können, dass zu einem guten Wissenschaftler gehört, sich um Klarheit des Ausdrucks und Eleganz der Darstellung zu bemühen und damit bestimmten ästhetischen Vorstellungen zu genügen (obwohl die dafür nötigen Fähigkeiten auch unter guten Wissenschaftlern sicherlich unterschiedlich verteilt sind). Wissenschaft ist eine Praxis, die durch das Ziel der Erkenntnismehrung wie auch durch das damit verbundene Ziel der Erkenntnisvermittlung intern normativ strukturiert ist. Die normativen und im weiten Sinn tugendethischen Implikationen einer ernsthaften wissenschaftlichen Tätigkeit dürfen nicht gering geachtet werden. Brächte sie jeder in seinem wissenschaftlichen Arbeiten zum Tragen, sähe die Wissenschaftswelt besser aus, als sie es faktisch tut. Das gilt auch dann, wenn man, wie es nahe liegt, die angeführten Tugenden im wesentlichen instrumenteil auffasst, nämlich als Mittel zum Erreichen des Ziels der Mehrung und Vermittlung von Erkenntnis.
3. Die entscheidende Frage ist nun aber, was die Wahrheitsnorm und die auf sie bezogenen Tugenden wirklich aussagen über die immanente Moralität der Wissenschaften. Zunächst kann ich nicht erkennen, dass sich mit Verweis auf das Selbstverständnis einer Person als Wissenschaftler oder auch als Träger anderer Rollen so leicht die Doktrin vom naturalistischen Fehlschluss aushebeln lässt, wie es von Gerhardt suggeriert wird (225). Gewiss: Wenn ich mich als Wissenschaftler verstehe, zumal ernsthaft so verstehe, fühle ich mich den für die jeweilige Wissenschaft konstitutiven Regeln verpflichtet. Ich erkenne implizit oder explizit einen Satz von normativen Bestimmungen an, an denen sich bemisst, ob ich die jeweilige Wissenschaft gut oder schlecht, richtig oder falsch betreibe. Aber hier findet kein Übergang von einem „deskriptiv erschlossenen Selbstverständnis eines Menschen auf das präskriptiv von ihm selbst geforderte Handeln" (225) statt. Die normative Orientierung ist ja bereits Teil meines Selbstverständnisses, so dass die ausdrückliche Formulierung einzelner Forderungen nur eine Artikulation der von mir schon akzeptierten Normen darstellt. Natürlich kann mein Selbstverständnis als eines, das die Anerkennung bestimmter Normen einschließt, von außen deskriptiv konstatiert werden; aber diese Möglichkeit ist trivialerweise gegeben, denn normengeleitetes Handeln lässt sich immer auch aus der Beobachterperspektive in einem rein deskriptiven Vokabular beschreiben. Die Naturalismusproblematik, die hinter der Doktrin vom naturalistischen Fehlschluss steht, betrifft dagegen die Frage, wie die Normen in die Welt kommen, die Bestandteil meines Selbstverständnisses als Wissenschaftler oder Träger einer anderen Rolle sind. Sachlich wäre dazu zu sagen, dass diese und andere Normen sicherlich nicht so vorliegen wie von uns unabhängige Sachverhalte, etwa der Sachverhalt, dass sich die Erde um die Sonne dreht. Vielmehr ver-
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danken sie sich normsetzenden Aktivitäten von bewusstseins- und intentionalitätsbegabten Wesen wie uns selbst, etwa in Form gemeinsamer Beschlüsse oder des Wollens einzelner oder vieler zusammen. Von diesen normsetzenden Aktivitäten wird man dann ihrerseits erstens sagen können, dass sie Teil der Ausbildung des Selbstverständnisses von Personen als Träger einer Rolle sein können, und zweitens, dass ihre Existenz ein normales Faktum ist, so dass an dieser Stelle tatsächlich eine Brücke vom Faktischen zum Normativen sichtbar wird. Vielleicht hat Gerhardt einen Zusammenhang dieser Art vor Augen, wenn er meint, ein naturalistischer Fehlschluss sei „in dem für die Moralität entscheidenden F a l l . . . nicht gegeben" (225).
4. Letztlich ist das Problem des naturalistischen Fehlschlusses jedoch eher von akademischem und innerphilosophischem Interesse. Meine Hauptkritik zielt dann auch in die zu Beginn angedeutete Richtung: In meinen Augen klafft eine unübersehbare Lücke zwischen den für ein ernsthaftes und erfolgreiches wissenschaftliches Arbeiten unverzichtbaren Tugenden und der Norm der Wahrheitsfindung einerseits und genuin moralischen (wie übrigens auch genuin ästhetischen) Anforderungen andererseits. Es ist eine Binsenweisheit und doch wahr: Ein guter Wissenschaftler muss kein guter Mensch sein. Begründet ist dies darin, dass die Ansprüche, denen sich ein guter Wissenschaftler qua Wissenschaftler unterstellt, von vornherein auf die wissenschaftliche Tätigkeit selbst beschränkt sind. Unter Umständen ist es psychologisch schwierig, sich in der Wissenschaft kooperativ zu verhalten, außerhalb ihrer aber unkooperativ, oder gar die Ergebnisse der wissenschaftlichen Tätigkeit fur unfaire Ziele einzusetzen. Aber wer dies tut, tut weder etwas Unmögliches noch widerspricht er sich selbst. Wir kennen alle den durchaus parallelen Fall von liebenden Familienvätern, die sich außerhalb des umfriedeten Kreises ihrer Familie als die schlimmsten Schlächter hervortun. Was sie tun ist abscheulich, aber es ist nicht automatisch ein Verstoß gegen Normen, die sich der Rolle des Familienvaters zuweisen lassen. Gerhardt zeigt eine gewisse Tendenz, das Bild einer an sich intakten Lebenswelt zu zeichnen, die nur von äußeren Störungen freigehalten werden müsste, um die moralische Integrität ihrer Bewohner zu wahren. Dieses Bild ist mir zu idyllisch, und es passt auch nicht zu den neuen drängenden Herausforderungen, wie sie sich zum Beispiel im Kontext der Gentechnik stellen, wo im Grunde genommen niemand einen klaren Begriff davon hat, was „in moralisch sensiblen Lagen zu tun ist" (226). Aller internen Verpflichtungen zum Trotz kann der Wissenschaft, und zwar auch der guten und ernsthaft betriebenen, allenfalls Neutralität in Bezug auf die Moral im engeren Sinn attestiert werden. Selbst dies kann jedoch in Zweifel gezogen werden. Skeptisch stimmt vor allem zweierlei: Erstens können wir gerade heute vielfach nicht mehr zwischen Wissensproduktion und Wissensanwendung einen scharfen Schnitt ziehen. Das beste Beispiel dafür ist die Genetik, wo neue Erkenntnisse nur auf dem Weg des Einsatzes neuer Techniken gewonnen werden können. Es gibt hier nicht die unschuldige Theorie, die erst durch eine proble-
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matische Praxis in moralisches Zwielicht gerät. Und zweitens ist es gerade der von Gerhardt kurz erwähnte Umstand, dass der Erkenntnisgewinn - das Telos der Wissenschaft - als ein Wert an sich betrachtet werden kann, der Wissenschaft und Moral in Gegensatz zueinander bringen kann. Einige wissenschaftliche Erkenntnisse lassen sich vermutlich nur durch moralisch fragwürdige Methoden gewinnen. Schon deswegen wird es vielfach nicht reichen, wenn die Wissenschaftler „keiner anderen Logik folgen, als der, die sich aus dem basalen Impuls der Neugier und des forschreitenden Wissens ergibt" (223). Manchmal ist es genau dieser Neugierimpuls, der in moralisch verwickelte Situationen fuhrt. Da ich nicht zu sehen vermag, wie sich allein aus der Binnenlogik wissenschaftlicher Tätigkeit eine stabile Verbindung zu moralischen Orientierungen ergeben soll, scheint mir, wie eingangs gesagt, ein gewisses Maß an Einhegung der Wissenschaft durch externe moralische und rechtliche Regeln unerlässlich. Wie dies am besten zu bewerkstelligen wäre, - das ist natürlich ein eigenes Thema.
5. Nun kann man freilich versuchen, Gerhardts Überlegungen zum Zusammenhang von moralischer, ästhetischer und logischer Geltung im Allgemeinen und zu den ethischen Implikationen wissenschaftlichen Arbeitens im Besonderen etwas positiver zu wenden. Dann lassen sie sich am besten als Plädoyer für ein Wissenschaftsethos lesen, das Teil eines umfassenden Selbstverständnisses als verantwortungsvoller Mensch ist. In dieser Perspektive könnten die angeführten Tugenden eines guten Wissenschaftlers Ausgangspunkt für eine Reflexion werden, die über die Sphäre der wissenschaftlichen Tätigkeit hinausführt und im Interesse an einer einheitlichen Lebensführung das Bemühen stärkt, Tugenden wie Verlässlichkeit, Redlichkeit, Besonnenheit und so weiter in allem eigenen Handeln zu zeigen. Das daraus resultierende Selbstverständnis könnte am Ende von eben jener, von Gerhardt eindringlich geschilderten „rationalen Stimmung" überwölbt und zusammengehalten werden, in der wir eine quasi-ästhetische Übereinstimmung mit der Welt erfahren. Wir sollten uns jedoch von der Aussicht auf ein solches - fraglos wünschenswertes - Ethos nicht den Blick auf die reale Wissenschaft und die realen in ihr tätigen Menschen verstellen lassen, die oft allzu weit von einem solchen Ethos entfernt sind. In der nicht-idealen Welt, in der wir leben, könnte ein geschicktes, an öffentlichen Interessen orientiertes Arrangement der institutionellen Einbettung des Wissenschaftsprozesses am Ende weiter führen als ein allzu großes Vertrauen in ein wie immer geartetes Ethos des einzelnen Wissenschaftlers.
6. Ich komme damit zu dem Ergebnis, dass Volker Gerhardt eine interessante These vertritt, die jedoch zu gut und schön ist, um wahr zu sein.
Schlusswort
Milos Vec
Wie viel Ethik braucht der Mensch?
„Wieviel Erde braucht der Mensch?" In Leo Tolstois gleichnamiger Erzählung kann der Bauer Pachom bei den Baschkiren Land kaufen - „soviel er will". Er legt die Kaufsumme von eintausend Rubel in die Mütze des DorfVorstehers und marschiert bei Sonnenaufgang los. Was er in einem Tag umrundet, das gehört ihm. Es wird Mittag und die Sonne brennt schwer auf ihn nieder. Aber da ist noch ein fruchtbares Tal, da ein schönes Stück Land. Wenn er den Ausgangspunkt bis Sonnenuntergang nicht erreicht, ist das Geld verloren. Spät erst kehrt er um. Mit letzter Anstrengung keucht er den Hügel hinauf zum Ziel. Dort bricht er im Schein der letzten Sonnenstrahlen tot zusammen. Der Knecht grub Pachom ein Grab, sechs Ellen lang, und grub ihn ein. Tolstois Erzählung hat derzeit Konjunktur. Unter ihrem Titel wird sogar tatsächlich über Fragen der Bodenverteilung, Bodenbewirtschaftung und Bodenknappheit nachgedacht. Andere Autoren dehnen den interpretatorischen Horizont weiter aus und diskutieren unter der von Tolstoi geliehenen Überschrift „Wieviel Erde braucht der Mensch?" generell materielle Verteilungsprobleme der modernen Zivilisation. Als Stichwort sei hier nur an die Ressourcenknappheit etwa von sauberem Wasser in globalem Maßstab erinnert. Dritte nehmen den Titel Tolstois vollends nur metaphorisch und reflektieren die Bedürfnisse des Menschen, sein Selbstbild und seine Affekte. Die raffinierte erzählerische Konstruktion und der pessimistische Ausblick Tolstois laden fürwahr zu alledem ein und bieten eine hermeneutische Projektionsfläche sowohl für populationsökologische Ausführungen als auch für moraltheologische Reflexionen. Dass sich ausgerechnet die wissenschaftlich-technische Zivilisation unserer Tage verstärkt zu der Erzählung hingezogen fühlt, ist dabei kein Zufall. Denn Tolstois Erzählung, 1886 entstanden, behandelt in ihrem Kern Fragen von Maßhalten, Maßstäben und Maßlosigkeit. Sie reflektiert die Ethik des Individuums, bei dem aus legitimen Bedürfnissen schließlich fatale Habgier wird. Die Selbstüberschätzung des Handelnden resultiert aus der verhängnisvollen Verquickung eines listigen Angebots, das nach Realisation giert, mit mangelnder Selbst- und Situationsreflexion. Wenn der vorliegende Band und die Tagung in ihrem Titel auf Tolstois Erzählung Bezug nehmen und fragen „Wie viel Ethik braucht die Wissenschaft?", so soll dies auch in der Tat mehr sein als eine bloße Alliteration an ihren Titel. Es ging vielmehr darum, vor dem aktuellen Hintergrund einer gewandelten Wissenschaftsgesellschaft von hoher Entwicklungsdynamik Anleitung zu ethischer Selbst- und Situationsreflexion zu geben. Denn die spektakulären Errungenschaften
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nicht nur im Bereich der Biomedizin haben jedenfalls vorübergehend Zonen von moralischer und ethischer Ratlosigkeit geschaffen. Sie eröffnen Spielräume, von denen nicht sicher ist, ob sie genutzt werden dürfen und sollten. Die Empfindlichkeit gegenüber den Nachteilen und Risiken der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation ist jedenfalls dort, wo die Möglichkeiten verfügbar sind, so weit gestiegen, dass sich ihre praktische Nutzung längst nicht mehr von selbst versteht. Auch das Recht ist derzeit weder auf der nationalen noch auf der internationalen Ebene in der Lage, überzeugende Handlungsanleitung zu geben. Welche Ziele und Mittel mit den neuen Möglichkeiten aber verfolgt werden dürfen, ist fürwahr eine Frage nach der Legitimität von Bedürfnissen und der Angemessenheit der Mittel. Diese Frage appelliert nicht zuletzt auch an die Tugend der Selbstbeschränkung, die vielleicht dort noch wirksam wird, wo andere Steuerungsmechanismen versagen oder zu schwach sind. Diese komplexe Problemlage bei der Suche nach einer neuen Wertordnung an den Grenzen der Anwendimg von Forschung und Wissenschaft hat der Ethik derzeit eine unerwartete Konjunktur beschert. Dass Wissenschaftler ethisch handeln sollen, dass Wissenschaft Ethik braucht - wer wollte dem widersprechen? Nur welche und wie viel, das ist die Frage. Wir wollen nicht gleich dem Helden in Tolstois Erzählung an dem scheitern, wonach wir aus mangelnder Reflexion vorschnell greifen. Lösungen beim Umgang mit neuen Handlungsspielräumen müssen vorsichtig ausgelotet werden. Gerade eine Tagung über Ethik kann kaum unmittelbar zum Richtigen und Guten anleiten. Im Gegenteil, es wäre sogar töricht, einfache Antworten bei diesem Jahrhundertthema der Wissenschaft und Gesellschaft zu erwarten. Ob die Unumstößlichkeit moralischer Gesinnung, die so genannte „Überzeugungstreue" eine Tugend ist, scheint von daher und angesichts der Historizität der ethischen Probleme durchaus zweifelhaft. Selbst Tabus müssen neu befragt und definiert werden. Zu erhoffen war vielmehr ein anderes, und die Veranstalter und Herausgeber freuen sich daher über die Realisierung wichtiger Aspekte: Über die dichte Form der Veranstaltung, die über weite Strecken zu einem kompakten Expertengespräch geriet. Über gegenseitige Bezugnahmen in den Vorträgen, Kommentaren und in der Diskussion, die weit überdurchschnittlich häufig und außerordentlich fruchtbar waren. Die Teilnehmenden, Referierenden und Veranstalter haben dabei offenkundig ihre Begriffe und Fragen geschärft. Ethisch-moralische Normierungen mussten sich einerseits vergleichen lassen mit rechtlichen Normativitäten. Diese verschiedenen Normativitäten mussten sich andererseits fragen lassen, ob die Probleme nicht vielmehr auf der tatsächlichen (etwa ökonomischen) Seite liegen. Wir haben von Kolleginnen und Kollegen verschiedenster Fachrichtungen vernommen, was sie sich von einer Ethisierung erhoffen und was diese in der Wissenschaft leisten könnte. Wir haben Varianten ihrer Wirkungen dekliniert: Darunter waren Entschleunigung, Prohibition, Rechtfertigung des Unterlassens und Anprangerung des Tuns. Wir haben gesehen, dass die technik- und wissenschaftsgeschichtlichen Zäsuren zumal des Zwanzigsten Jahrhunderts auch Einschnitte der Ethisierung der Wissenschaft waren. Immer noch war es der Druck technischer Optionen, der die Frage
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nach Ethik verschärft gestellt hat. Auch dies war eine Bestärkung für den Entschluss, sich gerade jetzt dem Thema zu widmen. Während des Symposiums wurden viele wissenschaftliche Disziplinen konsultiert, aus verschiedenen Epochen Argumente mobilisiert und unterschiedliche professionelle Perspektiven gehört. Was ein jeder von diesen zwei Tagen mitnehmen konnte, ist daher vermutlich so individuell wie die Motive, die zur Beschäftigung mit diesem Thema angeleitet haben: Zu denken wäre an Verunsicherung, Neugier, Selbstversicherung und sogar an Sättigung. Realistischer als eine Konvergenz der Ansichten zu erwarten war daher ein anderes Ziel des Symposiums, welches das Ziel jedes wissenschaftlichen Arbeitens sein sollte - und ich meine, die Veranstaltung hat es geleistet: Wir haben Differenzen abgebildet und Differenzierungen hinzugefugt. Bei den gegensätzlichen Standpunkten, die offengelegt wurden, haben wir die Argumente geprüft. Dafür möchte ich mich im Namen auch der beiden Mitveranstalterinnen bedanken: Bedanken bei den Referenten und Referentinnen und Aufsatzverfassern, den Kommentatoren und Kommentatorinnen, bei den Sektionsleitern und bei den Diskutanten. Ein besonderer Dank gilt Tobias Jentsch, der die Redaktion des Bandes umsichtig besorgt hat. Wenn all die hier angesprochenen Fragen Bausteine für eine ethische Reflexion sein sollten, die die Komplexität der Verhältnisse im Tatsächlichen angemessen abbildet, dann wird vielleicht deutlich, warum wir für diese Veranstaltung diese Bandbreite an Referenten eingeladen haben und man für so grundlegende Fragen einen transdisziplinären Zugang und eine Junge Akademie braucht.
Hinweise zu den Autoren
Axel W. Bauer, geb. 1955, Professor für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Universität Heidelberg. 1980 Promotion Dr. med., 1986 Habilitation für Geschichte der Medizin, 2002 Erweiterung der Lehrbefugnis für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin. Unter den Publikationen: Die Krankheitslehre auf dem Weg zur naturwissenschaftlichen Morphologie (Stuttgart 1989), Theorie der Medizin (Hrsg., Heidelberg u. a. 1995), Medizinische Ethik am Beginn des 21. Jahrhunderts (Heidelberg/Leipzig 1998), Vom Nothaus zum Mannheimer Universitätsklinikum (Ubstadt-Weiher 2002).
Katja Becker, geb. 1965, Professorin für Biochemie an der Universität Gießen. Mitglied der Jungen Akademie. 1991 Promotion, 1993 Approbation, 1996 Habilitation. Unter den Publikationen: Enzyme inactivation through sulfhydryl oxidation by physiologic NO-carriers (mit S. Savvides u. a., 1998), Malaria und Psyche (mit Α. B. Schirmer/ R. H. Schirmer, 1998), Substitution of the thioredoxin system for glutathione reductase in Drosophila melanogaster (mit S. Kanzok/R. H. Schirmer u. a., 2001).
Nikola Biller-Andorno, geb. 1971, Oberassistentin an der Abteilung Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Göttingen sowie wissenschaftliche Mitarbeiterin in der „Ethics and Health Unit" der Weltgesundheitsorganisation in Genf. Mitglied der Jungen Akademie. 1997 Promotion Dr. med., 2001 Promotion Dr. phil. 2002 Habilitation für Ethik und Theorie der Medizin. Unter den Publikationen: Gerechtigkeit und Fürsorge. Zur Möglichkeit einer integrativen Medizinethik (Frankfurt am Main/New York 2001), Who shall be allowed to give? Living organ donation and the concept of autonomy (mit G. Agich/K. Döpkens/ Η. Schauenburg, 2001), Ein objektiver Krankheitsbegriff als medizinethisches Entscheidungskriterium? (2002), Ethik der Transplantationsmedizin (mit C. Wiesemann, 2003).
Cornelius Borck, geb. 1965, Wissenschaftshistoriker. Leiter der Forschungsgruppe „Das Leben schreiben. Medientechnologie und die Wissenschaften vom Leben (1800-1900)" der Fakultät Medien an der Bauhaus-Universität Weimar. 1995 Promotion Dr. med., 1996 PhD in Neuroscience. Unter den Publikationen: Electricity as a medium of psychic life: electro-
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Hinweise zu den Autoren
technical adventures into psychodiagnosis in Weimar Germany (2001), Kopfarbeit. Die Suche nach einer präzisen Meßmethode fur psychische Vorgänge (2002), Urbane Gehirne. Zum Bildüberschuß medientechnischer Hirnwelten der 1920er Jahre (2002).
Andreas Brenner, geb. 1963, Lehrbeauftragter für Philosophie an der Universität Basel. 1993 Promotion. Unter den Publikationen: Ökologie-Ethik (Leipzig 1996), Lexikon der Lebenskunst (mit J. Zirfas, Leipzig 2002), Tiere beschreiben (Hrsg., Erlangen 2003).
Hans Jochen Diesfeld, geb. 1932, Prof. i. R. und ehem. Ordinarius für Tropenhygiene und Öffentliches Gesundheitswesen am Klinikum der Universität Heidelberg. 1957 Staatsexamen und Promotion Dr. med., 1964 Internist, 1966 DTPH London, 1969 Habilitation. Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Tätigkeit sind die Gesundheitssystemforschung und kulturvergleichende medizinische Anthropologie, vorwiegend in Afrika. Über 250 Publikationen, zuletzt Handbuch Gesundheitsversorgung in Entwicklungsländern (mit G. Falkenhorst/O. Razum/D. Hampel, Heidelberg/Berlin 22002).
Eva-Maria Engelen, geb. 1963, Hochschuldozentin für Philosophie an der Universität Konstanz. Mitglied der Jungen Akademie. 1990 Promotion, 1996 Habilitation. Unter den Publikationen: Zeit, Zahl und Bild. Studien zur Verbindung von Philosophie und Wissenschaft bei Abbo von Fleury (Berlin/New York 1993), Das Feststehende bestimmt das Mögliche. Semantische Untersuchungen zu Möglichkeitsurteilen (Stuttgart 1999), Erkenntnis und Liebe. Zur fundierenden Rolle des Gefühls bei den Leistungen der Vernunft (Göttingen 2003).
Alexandra M. Freund, geb. 1964, Professorin für Psychologie an der Northwestern University in Evanston, Illinois. Mitglied der Jungen Akademie. 1994 Promotion, 2002 Habilitation. Unter den Publikationen: Selection, optimization, and compensation as strategies of life-management: Correlations with subjective indicators of successful aging (mit P. B. Baltes, 1998), Content and function of the self-definition in old and very old age (mit J. Smith, 1999), Life-management strategies of selection, optimization, and compensation: Measurement by self-report and construct validity (mit P. B. Baltes, 2002), The adaptiveness of selection, optimization, and compensation as strategies of life management: Evidence from a preference study on proverbs (mit P. B. Baltes, 2002).
Hinweise zu den Autoren
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Volker Gerhardt, geb. 1944, Professor der Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. 1974 Promotion, 1984 Habilitation. Unter den Publikationen: Pathos und Distanz (Stuttgart 1988), Friedrich Nietzsche (München 1992), Immanuel Kants Entwurf „Zum ewigen Frieden" (Darmstadt 1995), Vom Willen zur Macht (Berlin 1996), Selbstbestimmung (Stuttgart 1999), Individualität (München 2000), Der Mensch wird geboren. Kleine Apologie der Humanität (München 2001), Immanuel Kant: Vernunft und Leben (Stuttgart 2002).
Klaus Günther, geb. 1957, Professor für Rechtstheorie, Strafrecht und Strafprozessrecht am Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie der Johann Wolfgang GoetheUniversität in Frankfurt am Main. 1988 Promotion, 1997 Habilitation. Unter den Publikationen: Der Sinn für Angemessenheit. Anwendungsdiskurse in Moral und Recht (Frankfurt am Main 1988), Recht, Kultur und Gesellschaft im Prozeß der Globalisierung (mit Shalini Randeria, Bad Homburg 2001), Schuld und kommunikative Freiheit (Frankfurt am Main 2003).
Volker Hess, geb. 1962, Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Geschichte der Medizin, Zentrum für Human- und Gesundheitswissenschaften der Berliner Hochschulmedizin. 1992 Promotion, 1999 Habilitation. Unter den Publikationen: Normierung der Gesundheit. Messende Verfahren der Medizin als kulturelle Praktik um 1900 (Hrsg., Husum 1997), Der wohltemperierte Mensch. Fiebermessen in Wissenschaft und Alltag 1850-1900 (Frankfurt am Main/New York 2000), Zwischen Historismus und Postmoderne. Wissenschaftsgeschichte in Deutschland (2000).
Gertrude Hirsch Hadorn, geb. 1953, Privatdozentin fur Philosophie an der Universität Konstanz und wissenschaftliche Adjunktin am Departement Umweltnaturwissenschaften der ΕΤΗ Zürich. 1989 Promotion, 1998 Habilitation. Unter den Publikationen: Biographie und Identität des Lehrers. Eine typologische Studie anhand einer lebensgeschichtlichen Untersuchung bei Zürcher Oberstufenlehrern (München 1990), Webers Idealtypus als Methode zur Bestimmung des Begriffsinhaltes theoretischer Begriffe in den Kulturwissenschaften (1997), Umwelt, Natur und Moral. Eine Kritik an Hans Jonas, Vittorio Hösle und Georg Picht (Freiburg 2000), Verantwortungsbegriff und kategorischer Imperativ der Zukunftsethik von Hans Jonas (2000).
Rainer Maria Kiesow, geb. 1963, Referent am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main. Mitglied der Jungen Akademie. 1995 Promotion. Unter den Publikationen: Das Naturgesetz des Rechts (Frankfurt am Main 1997), Auf der Suche
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Hinweise zu den Autoren
nach der verlorenen Wahrheit. Zum Grundlagenstreit in der Geschichtswissenschaft (Hrsg. mit Dieter Simon, Frankfurt am Main 2000), Überwachen und Rächen. Todesstrafe live (2002), Ius sacrum. Giorgio Agamben und das nackte Recht (2002).
Wilhelm Krull, geb. 1952, seit 1996 Generalsekretär der VolkswagenStiftung, Hannover. 1980 Promotion. Mitglied in verschiedenen nationalen und internationalen Beratungsgremien. Zahlreiche Publikationen zu wissenschaftlichen und wissenschaftspolitischen Themen, zuletzt: A fresh start for European science, in: Nature 419(19. September 2002).
Wiebke Leister, geb. 1972, Doktorandin am Photography Department des Royal College of Art, London. 1998 Herbert Schober Preis fur Medizin- und Wissenschaftsfotografie, 1998 Kodak Nachwuchs Förderpreis, 2000 European Award for Women Photographers. Einzelausstellungen in Essen, Berlin und London. Unter den Publikationen: Kodak Nachwuchs Förderpreis 1998-2000 (Katalog, Stuttgart 2000), European Award for Women Photographers (Katalog, Prato 2000), Bilder um der Bilder willen (2000), Theaterszene Jahrbuch Köln (Köln 2001).
Maria-Sibylla Lotter, geb. 1961, Lehrbeauftragte für Philosophie an der Universität Erlangen-Nürnberg. 1993 Promotion. Unter den Publikationen: Die metaphysische Kritik des Subjekts. Eine Untersuchung von Whiteheads universalisierter Sozialontologie (Hildesheim/Zürich/New York 1996), Normenwandel und Normenbegründung in Gesellschaft und Recht (Hrsg., 1999), Erfahrungsbegriffe in den Wissenschaften (Hrsg. mit Michael Hampe, Berlin 2000).
Thomas Potthast, geb. 1963, Biologe und Philosoph. Wissenschaftlicher Koordinator am Interfakultären Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen. 1998 Promotion. Unter den Publikationen: Gentechnologie (Mitherausgeber, Göttingen 1990), Inventing Biodiversity: Genetics, Evolution, and Environmental Ethics (1996), Die Evolution und der Naturschutz: Zum Verhältnis von Evolutionsbiologie, Ökologie und Naturethik (Frankfurt am Main 1999), Naturschutzethik: Eine Einfuhrung für die Praxis (mit Uta Eser, Baden-Baden 1999).
Sybille Reichert, geb. 1965, zuständig für Strategische Planung an der ΕΤΗ Zürich. 1994 Promotion. Unter den Publikationen: Implementing European Strategies in Universities (mit Andris Barblan/Martina Schotte-Kmoch/Ulrich Teichler, 2000), The Globalisation of Education and training: Recommendations for a coherent response from the European Union
Hinweise zu den Autoren
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(mit Bernd Wächter, 2001), Trends in Learning Structures in Higher Education (III). Follow-up Report prepared for the Graz European University Convention and Berlin Education Ministers' Conferences of May/September 2003 (mit Christian Tauch, 2003).
Heiner Schirmer, geb. 1942, Professor für Biochemie an der Universität Heidelberg. 1966 Promotion, 1969 Approbation als Arzt, 1975 Habilitation. Unter den Publikationen: Die Molekularbiologie der Bewegung (mit H. G. Mannherz, 1970), Principles of Protein Structure (mit G. E. Schulz, New York u. a. 1979, japan. 1980, russ. 1982), Recombinant Plasmodium falciparum glutathione reductase is inhibited by the antimalarial dye methylene blue (mit P. M. Färber/K. Becker, 1998), Malaria und Psyche (mit A. B. Schirmer/ K. Becker, 1998).
Holmer Steinfath, geb. 1961, Professor für Philosophie an der Universität Regensburg. 1988 Promotion, 2000 Habilitation. Unter den Publikationen: Selbständigkeit und Einfachheit. Zur Substanztheorie des Aristoteles (Frankfort am Main 1991), Was ist ein gutes Leben? Philosophische Reflexionen (Hrsg., Frankfurt am Main 21998), Orientierung am Guten. Praktische Überlegungen und die Konstitution von Personen (Frankfort am Main 2001).
Claudia Stellmach, geb. 1947, Medizinsoziologin und freie Autorin. 2000 Promotion. Unter den Publikationen: Das individuelle Selbstbestimmungsrecht im Kontext medizinischer Forschung am Menschen (Witten-Herdecke 1999), Frauen, Frauenbewegung und Frauenorganisation - Bundesrepublik Deutschland und DDR - und Pränataldiagnostik. Untersuchung für das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag (1999), Materielle Bedingungen der Entwicklung des Diskurses über fremdnützige Forschung an Einwilligungsunfähigen (2000).
Milos Vec, geb. 1966, Leiter der selbständigen wissenschaftlichen Nachwuchsgruppe „Recht in der Industriellen Revolution" am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfort am Main. Mitglied der Jungen Akademie. 1996 Promotion. Unter den Publikationen: Zeremonialwissenschaft im Fürstenstaat. Studien zur juristischen und politischen Theorie absolutistischer Herrschaftsrepräsentation (Frankfort am Main 1998), Die Spur des Täters. Methoden der Identifikation in der Kriminalistik 1879-1933 (Baden-Baden 2002), Kurze Geschichte des Technikrechts. Von den Anfängen bis zum Ersten Weltkrieg (2003).