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Andrea Züger
Erzählen(d) über den Tod hinaus Eine ethnografische Studie über das Transformieren von generativen Erzählungen in der Würdezentrierten Therapie
Mit 2 Abbildungen
V&R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Die vorliegende Arbeit wurde mit dem Dissertationspreis der Justus-Liebig-Universität Gießen und dem Stolzenberg-Preis für exzellente Dissertationen ausgezeichnet und mit Druckkostenzuschüssen gefördert. Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine Gießener Dissertation (JLU Fachbereich 5 Sprache, Literatur, Kultur). Gutachter_innen: Prof. Dr. Joachim Jacob, Prof. Dr. Dorothea Lüddeckens © 2023 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © ksana-gribakina / iStock (ID: 1180608585) Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-7370-1488-5
Für meine Eltern
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Die Würdezentrierte Therapie nach Harvey Max Chochinov 1.1 Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Therapiekonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Forschungsstand und Forschungslücken . . . . . . . . 2 Eine ethnografische Begleitung: Beschreiben und Verstehen 2.1 Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Aufbau: vom Anbieten zum Lesen und Besitzen . . . .
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II. Dimensionen und Praktiken . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Das Gefüge der generativen Erzählung in der WzT . . 1.1 Materiell-mediale Dimension . . . . . . . . . . . . 1.2 Sprachlich-narrative Dimension . . . . . . . . . . 1.3 Körperlich-leibliche Dimension . . . . . . . . . . 2 Praktiken in der WzT: ein mehrperspektivischer Blick 2.1 Die Hauptpraktiken in der WzT . . . . . . . . . . 2.2 Drei Perspektiven: Vollzug – Manifestation – Binnenperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die generative Erzählung als Ko-Konstruktion . .
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III. Ethnografische Forschung in einem »vulnerablen« Feld . . . . . . . . 1 Ethnografische Forschungshaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Selbstreflexion und Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Oszillieren zwischen Introspektion und Zurücktreten . . . . . 2.2 Herausforderungen im Forschungsalltag: zwischen Macht und Ohnmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Vorwissen und Zugang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
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IV. Transformieren: Damit etwas bleibt, wenn man geht . . . . . . . . . 1 Anbieten: Auswählen – Annehmen – Ablehnen . . . . . . . . . . . 1.1 Auswählen und Anbieten nach Chochinov . . . . . . . . . . . 1.2 Auswählen: Indikation und Ausschluss . . . . . . . . . . . . . 1.3 Formen des Anbietens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Annehmen: weil die eigene Handschrift »brüchig« wird . . . . 1.5 Ablehnen: »Ich will nicht in ein Dokument gepfercht werden!« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Der ausgehändigte Fragenkatalog: Elan durch Aufgabe . . . . 1.7 Fazit: die WzT im Licht des Anbietens . . . . . . . . . . . . . 2 Interviewen und Erzählen: die Transformation vor Augen . . . . . 2.1 Interviewen und Erzählen nach Chochinov . . . . . . . . . . . 2.2 Die Erzählsettings im WzT-Interview: eine Feldbeschreibung . 2.3 Der Fragenkatalog: Gestaltungsfreiheit und Gestaltungszwang. 2.4 Das Audiogerät: Flüchtigkeit und Verdauerung . . . . . . . . 2.5 Adressat_innenorientiertheit: Eingreifen und Zulassen . . . . 2.6 Fazit: über Souveränität und implizite Normativität . . . . . . 3 Transkribieren: Tippende als Rezipierende und Ko-Autor_innen . 3.1 Transkribieren nach Chochinov . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Analytische Basis: Audioaufnahme – Transkript – Transkribieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Selbsterleben: emotional bewegend – kognitiv fordernd . . . . 3.5 Herausforderungen: vom Umgang mit »Wortfetzen« und piependen Infusionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Von der »abwesenden Dritten« zum Gegenüber . . . . . . . . 3.7 Fazit: Transkribieren in der WzT . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Editieren: Ermächtigung und Entmächtigung . . . . . . . . . . . . 4.1 Editieren nach Chochinov . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Vom Gespräch zur Erzählung: (un)sichtbare Ko-Konstruktion
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4 Datenerhebung: triangulatorisch-zirkulär . . . . . 4.1 (An)teilnehmende Beobachtung . . . . . . . . 4.2 Gespräche: auch eine Kunst des Aushaltens . . 4.3 Natürliche Daten: Dokumente und Notizen . . 5 Datenanalyse: deduktiv-induktiv . . . . . . . . . . 5.1 Inhaltsanalytische Codierung . . . . . . . . . . 5.2 Textvergleich und Detailbeschreibung . . . . . 6 Übersicht zum Forschungsprozess . . . . . . . . . 7 Poesie, Serendipity und die Grenzen der Reflexion
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Inhalt
4.3 Vom Konstruieren zum Produkt: Performativitätsspuren tilgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Verschieben: Lebensbilanzierungen . . . . . . . . . . . . . 4.5 Vom Gespräch zur Erzählung zum Gespräch: Paratexte als Kompromiss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Zwischenfazit: Transformation durch Editieren . . . . . . 4.7 Eintritt in einen Editierraum . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8 Agieren im Editierraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.9 Wo bleibt das Austreten aus dem Editierraum? . . . . . . . 4.10 Was sagen die Patient_innen zum Editieren? . . . . . . . . 4.11 Fazit: Editieren in der WzT . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Vorlesen: ein Ereignis zwischen Präsenz und Absenz . . . . . . 5.1 Vorlesen nach Chochinov: The patient has the final say . . 5.2 Konzeptuelle Annäherung: vom Lesen zum Vorlesen . . . 5.3 Akteur_innen, Raum und Zeit: eine Feldbeschreibung . . . 5.4 Vorlesen: Deutung und Bedeutungszuschreibungen . . . . 5.5 Vorlesen als zweiter Editierakt . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6 Fazit: das Vorlesen als Ereignis . . . . . . . . . . . . . . . 6 Übergeben: unscheinbar notwendig . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Lesen und Besitzen: Präsenz und Repräsentation . . . . . . . . 7.1 Lesen nach Chochinov . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Die Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Analytische Basis: die Wirkungsmacht der Präsenz . . . . 7.4 (Erstmaliges) Lesen (aufschieben) . . . . . . . . . . . . . . 7.5 Aufbewahren: Schrank, Kiste, Schublade und Koffer . . . . 7.6 Weitergeben: Entlastung und Verantwortung . . . . . . . . 7.7 Fazit: wenn Angehörige lesen und besitzen . . . . . . . . .
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V. Beschreiben und Verstehen: nicht nur die WzT . . . . . . . . . . . .
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VI. Verzeichnisse . . . . . . 1 Abkürzungen . . . . . 2 Tabellenverzeichnis . . 3 Abbildungsverzeichnis 4 Literatur . . . . . . . .
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Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort
Bevor ich auf das Leben und Sterben eingehe, möchte ich kurz einige Gedanken über die Funktion dieses Vorworts verlieren. Braucht eine Dissertation überhaupt ein Vorwort? Ich weiß es nicht. Ich weiß aber, dass ich dieses Vorwort brauche. Und so verzeihen Sie, liebe Lesende, wenn dieses Vorwort ein egoistisches ist. Und ich verzeihe Ihnen, wenn Sie sogleich an die Klischees über die sich selbst therapierenden und selbstverliebten Anthropolog_innen und Kulturwissenschaftler_innen denken. Aber es geht weder um Selbstliebe noch um Selbsttherapie. In »Als ich ein kleiner Junge war« schreibt Erich Kästner in seinem Vorwort: Ein Vorwort ist für ein Buch so wichtig und so hübsch wie der Vorgarten für ein Haus. Natürlich gibt es auch Häuser ohne Vorgärtchen und Bücher ohne Vorwörtchen, Verzeihung, ohne Vorwort. Aber mit einem Vorgarten, nein, mit einem Vorwort sind mir die Bücher lieber. Ich bin nicht dafür, dass die Besucher gleich mit der Tür ins Haus fallen. Es ist weder für die Besucher gut, noch fürs Haus. Und für die Tür auch nicht. (Kästner 2015: 7)
Nun ist eine Dissertation in der Tat kein Buch wie die Werke von Kästner. Doch auch in einer Dissertation und vor allem auf dem Weg dahin geschieht ganz viel. Ohne zu philosophieren, was nun das Haus und die Tür meiner Dissertation sind, halte ich es wie Kästner. Die vorliegende Studie wurde durch einen Menschen – einen verwundbaren Menschen – geplant, durchgeführt und verfasst. Und eine große Rolle spielen darin andere verwundbare Menschen. Weil es also Menschen sind, die diese Forschung prägen, lade ich Sie mit diesem Vorwort zu einem achtsamen Lesen ein. Fallen Sie nicht mit der Tür ins Haus, sondern treten Sie erwartungsvoll, aber achtsam ein. Es war die eigene erlebte Todesnähe, die mein Interesse für das Thema Sterben und Tod öffnete. Bedingt durch diese Erfahrung wuchs in mir das Anliegen, offener und ehrlicher über den Tod sowie unsere Ängste, Wünsche und Vorstellungen zu sprechen. Es ist also das Leben mit seinen schwierigen Phasen, das meine Augen für das Forschungsfeld öffnete – also auch für das Sterben und den
12
Vorwort
Tod. In diesem Feld durfte ich sodann aber ganz viel Leben erfahren. In den Begegnungen mit den schwerkranken Menschen habe ich erzählt und geschwiegen, Bier getrunken, Torte gegessen und geweint. Aber ich habe auch viel gelacht. Und so schließe ich dieses Vorwort mit einem Zitat von Peter Bieri – ein Ausspruch über das gemeinsame Lachen, aber auch über Würde. Man kann versuchen, sich solidarisch mit ihnen zu zeigen, indem man sie spüren lässt: Wir wissen, daß es auch uns treffen kann. Die Solidarität der Sterblichen. Und noch etwas ganz anderes ist wichtig im Kampf um ihre Würde: zusammen lachen und Blödsinn machen. Im gemeinsamen Lachen kann es auch dann noch zu einer wortlosen Begegnung kommen, wenn alle anderen Brücken eingestürzt sind. (Bieri 2014: 335)
I.
Einleitung
Die Würde des Menschen, so wie ich sie hier verstehe und bespreche, ist eine bestimmte Art und Weise, ein menschliches Leben zu leben. Sie ist ein Muster des Denkens, Erlebens und Tuns. Diese Würde zu verstehen, heißt, sich dieses Muster begrifflich zu vergegenwärtigen und es gedanklich nachzuzeichnen. Dazu braucht man keinen Blick auf ein metaphysisches Verständnis der Welt. Was man braucht, ist der wache und genaue Blick auf die vielfältigen Erfahrungen, die wir mit dem Begriff der Würde einzufangen suchen. Es geht darum, all diese Erfahrungen in ihren Einzelheiten zu verstehen und sich zu fragen, wie sie zusammenhängen.1 Peter Bieri
Im Zentrum dieser Studie steht eine Intervention, die menschliche Würde stärken soll. Auch wenn ich nicht eine explizite Auseinandersetzung mit dieser menschlichen Würde verfolge, möchte ich diese Arbeit dennoch mit einem Zitat einleiten, von einem, der sich intensiv mit der Würde des Menschen beschäftigt hat. Der Philosoph Peter Bieri legt darin dar, wie er die Würde des Menschen versteht und was es braucht, um sie zu verstehen. Würde ist für ihn eine »bestimmte Art und Weise, ein menschliches Leben zu leben«. Um diese »Art und Weise« des Lebens zu verstehen, braucht es einen »wache[n] und genaue[n] Blick«, der sich den menschlichen Erfahrungen zuwendet. Diese Haltung war auch leitend für die Konzeption der Würdezentrierten Therapie (WzT), einer psychologischen Intervention, die das Würdeempfinden derer steigern soll, die dem Tod nahe sind: unheilbar schwerkranke Menschen. Das Zitat von Bieri kann aber nicht nur auf die Arbeiten von Harvey Max Chochinov, den Begründer der WzT, adaptiert werden, sondern auch auf den Forschungsansatz dieser Studie, in der ich die Erfahrungen, das Erleben, Denken und Tun der in der WzT involvierten Akteur_innen ergründet habe: empirisch, kulturwissenschaftlich, ethnografisch. Wachheit und Genauigkeit, zwei Grundprinzipien, die jedes wissenschaftliche Arbeiten prägen sollen, waren auch leitend in dieser Studie. Während meiner ethnografischen Forschungstätigkeit war der Blick jedoch nicht immer gleich wach, denn Forschen mit kranken und sterbenden Menschen macht auch müde. Doch in der Reflexion dieser Müdigkeit, die sich ab und an bemerkbar machte, schärfte sich mein Verständnis für die Komplexität meines Forschungsgegenstandes. So bietet die vorliegende Studie eine genaue Beschreibung dessen, was in der WzT passiert, und richtet den Blick auf die Erfahrungen, Deutungen und Bedeutungszuschreibungen der involvierten Akteur_innen, stets im Bewusst-
1 Bieri 2014: 12.
14
Einleitung
sein, dass es illusorisch bleibt, »all [Hervorhebung A. Z.] diese Erfahrungen« einzufangen.
1
Die Würdezentrierte Therapie nach Harvey Max Chochinov [I]f dignity is worth dying for, surely, it is worth carefully studying.2 Harvey Max Chochinov
Gegenstand der psychologischen Kurzintervention3, die für Menschen mit einer lebensverkürzenden und lebensbedrohenden Krankheit konzipiert wurde, ist ein halbstrukturiertes Interview, basierend auf spezifischen Leitfragen, die würdebewahrende Ressourcen aktivieren sollen. Die so entstehenden (biografischen)4 Erzählungen werden per Tonträger aufgezeichnet, transkribiert, durch die Therapeut_innen editiert und den Patient_innen vorgelesen, damit sie letzte Änderungen anbringen können. Am Ende entsteht ein schriftliches »Generativitätsdokument« (Chochinov 2017: 139), das die Patient_innen ihren Angehörigen weitergeben können. Ziele dieser Intervention sind die Linderung psychosozialer und existentieller Not sowie die Stärkung des Würdegefühls. Zudem soll die Intervention Angehörige unterstützen.
1.1
Hintergrund
Als übergeordnetes Ziel der palliativen Versorgung5 wird immer wieder ein Sterben in Würde genannt (vgl. Brant 1998). Doch was dieser Begriff überhaupt in sich birgt, ist entgegen seinem Stellenwert unklar. So schreiben Anja Mehnert
2 Chochinov 2012: 5. 3 Während die deutsche (Würdezentrierte Therapie) und die englische Bezeichnung (Dignity Therapy) den Therapiebegriff inkludieren, wird das Angebot bei Chochinov selbst und in der breiten Forschungslandschaft auch als klinische (vgl. Chochinov 2012: 36), psychologische (vgl. Schramm u. a. 2014) oder psychotherapeutische (vgl. Chochinov u. a. 2005) (Kurz-)Intervention beschrieben. Gerade die Tatsache, dass es sich, im Gegensatz zu etablierten psychotherapeutischen Angeboten, um eine zeitlich begrenzte, relativ kurze Intervention handelt, ist in der Arbeit mit Menschen, die dem Tod nahe sind, bedeutsam. Wie die weiteren Ausführungen zeigen werden, können auch Menschen, die keine psychotherapeutische oder psychologische Ausbildung haben, die WzT erlernen und anbieten. 4 Auch wenn die Leitfragen das vergangene Leben thematisieren, hängt der Grad des Biografischen in der Erzählung letztlich vom Erzählenden ab. 5 Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) fasst die Zielsetzung von Palliative Care folgendermaßen zusammen: »Palliative care is an approach that improves the quality of life of patients (adults and children) and their families who are facing problems associated with lifethreatening illness. It prevents and relieves suffering through the early identification, correct
Die Würdezentrierte Therapie nach Harvey Max Chochinov
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u. a. in ihrem Artikel »Würde in der Begleitung schwer kranker und sterbender Patienten«: Trotz der Bedeutung, die dem Thema Würde sowohl von Patienten und deren Familien als auch von Behandlern zugeschrieben wird, und trotz des Stellenwerts, den der Gegenstand in der öffentlichen sowie wissenschaftlichen Diskussion zur Palliativversorgung innehat, bestehen erhebliche Unsicherheiten in Bezug auf die Definition, Konkretisierung und Abgrenzung des Begriffs: Kann die Würde eines schwer kranken/ sterbenden Menschen beeinträchtigt werden und wenn ja, wodurch? Was charakterisiert eine würdevolle Behandlung aus Sicht der Betroffenen? Können eine würdevolle Behandlung und ein würdevoller Umgang mit Patienten beschrieben und definiert werden? (Mehnert u. a. 2006: 1088)
Es war die Sterbewunschforschung, die Harvey Max Chochinov darüber nachdenken ließ, was Würde überhaupt bedeutet; bedeutet für jene, die so stark an deren Verlust leiden, dass sie nicht mehr leben wollen (vgl. Dignity in Care 2016). 1991 erschien im Lancet eine Studie von Paul van der Maas, die den Würdeverlust als Grund für suizidale Handlungen bei Krebspatient_innen zum großen Thema machte (vgl. van der Maas u. a. 1991). Befragt wurden damals nicht die Patient_innen selbst, sondern die behandelnden Ärzt_innen. Angeregt durch diese Studie, hat sich Chochinov die Frage gestellt, was Würde für die betroffenen Patient_innen selbst bedeutet (vgl. Chochinov 2012: 5). Mit empirischem Blick machte er sich auf die Suche nach Antworten. In halbstrukturierten Interviews mit 50 im Endstadium an Krebs erkrankten Menschen haben er und sein Team den Patient_innen folgende Fragen gestellt: (1) In terms of your own illness experience, how do you define the term dignity? (2) What supports your sense of dignity? (3) What undermines your sense of dignity? (4) Are there specific experiences you can recall in which your dignity was compromised? (5) Are there specific experiences you can recall in which your dignity was supported? (6) What would have to happen in your life for you to feel that you no longer had a sense of dignity? (7) Some people feel that life without dignity is a life no longer worth living. How do you feel about that? (8) Do you believe that dignity is something you hold within you, and/or is it something that can be given or taken away by others? (Chochinov u. a. 2002: 435)
Die Erkenntnisse dieser Befragung, die über einen Zeitraum von 15 Monaten andauerte, fasste Chochinov mit folgendem Modell zusammen (Abbildung 2 zeigt die Übersetzung nach Sandra Mai). In der linken Spalte des Modells finden sich krankheitsbezogene Faktoren, die das Würdeempfinden beeinflussen können. Dazu gehören die Themen »Level of Independence« und »Symptom Distress«, die wiederum in Subthemen unterteilt assessment and treatment of pain and other problems, whether physical, psychosocial or spiritual« (World Health Organization 2020).
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Einleitung Major Dignity Categories, Themes and Subthemes Illness Related Concerns
Dignity Concerning Repertoire
Level of Independence
Dignity Concerning Perspectives
Cognitive Acuity Functional Capacity Symptome Distress Physical Distress Psychological Distress • Medical uncertainty • Death anxiety
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Continuity of self Role preservation Generativity/legacy Maintenance of pride Hopefulness Autonomy/control Acceptance Resilience/fiting Spirit Dignity Concerning Practices
Social Dignity Inventory
Privacy Boundaries Social Support Care Tenor Burden to Others Aftermath Concerns
• Living in the moment • Maintaining normalcy • Seeking spiritual comfort
Abbildung 1: Model of Dignity in the Terminally Ill (vgl. Chochinov u. a. 2002: 436)
Würde ‐ Hauptkategorien, Themen und Unterthemen Krankheitsbezogene Aspekte
Würdebewahrendes Repertoire
Soziale Würde
Grad der Unabhängigkeit
Würdebewahrende Perspektiven
Privatsphäre
• Selbstkontinuität • Aufrechterhaltung von Rollen • Generativität/Vermächtnis • Bewahrung von Stolz • Hoffnung • Autonomie/Kontrolle • Akzeptanz • Resilienz/Kampfgeist
Soziale Unterstützung
Kognitive Verfassung Funktionelle Kapazität Symptomlast Körperliche Belastung Psychische Belastung • Medizinische Ungewissheit • Angst vor dem Sterben
Würdebewahrendes Handeln • Leben im Moment • Erhalt von Normalität • Sterben nach spirituellen Wohlbefinden
Haltung der Behandelnden Belastung für andere sein Sorgen hinsichtlich der Zeit nach dem Tod
Abbildung 2: Modell zur Würde bei unheilbarer Erkrankung (vgl. Chochinov 2017: 28)
Die Würdezentrierte Therapie nach Harvey Max Chochinov
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werden. Die rechte Spalte umfasst die Kategorie »Social Dignity Inventory«. Chochinov schreibt dazu: »The defining characteristic of the themes within this category is that they refer to social concerns or relationship dynamics that enhance or detract from a patient’s sense of dignity.« (Chochinov u. a. 2002: 439) Die mittlere Spalte beinhaltet »internally mediated« (Chochinov 2012: 9) Faktoren, die das Würdeempfinden beeinflussen können. Diese Faktoren werden in Perspektiven und Handlungen unterteilt. Die Perspektiven beziehen sich nach Chochinov »to an outlook, or a way of seeing the world, that is dominated, or shaped, by who is ill rather than simply by what alias them« (ebd.: 14). Unter »Dignity Conserving Practices« versteht Chochinov »behaviors or activities that enable someone to deal with his or her changing life circumstances« (ebd.: 23). Chochinov argumentiert, dass dieses Repertoire aus Perspektiven und Handlungen als Schutzschild fungieren kann, wenn die krankheitsbezogenen Aspekte überhandnehmen und das Inventar der sozialen Würde zur Last wird (vgl. Abbildung 2): »[These] negative influences might be buffered by a positive dignity conserving repertoire that includes dignity conserving perspectives and/or dignity conserving practices.« (Chochinov u. a. 2002: 441) Wenn also das Würdeempfinden der Patient_innen gestärkt werden soll, dann ist es folglich auch das Ziel, dieses Repertoire aus Perspektiven und Handlungen zu stärken. Dafür wurde die WzT konzipiert. Das empirisch fundierte Modell nach Chochinov unter der spezifischen Berücksichtigung der Patient_innenperspektive ist in seiner Form einmalig. Es bildet nicht nur die Grundlage der WzT, sondern schafft auch eine empirisch fundierte Basis für eine würdezentrierte Versorgung kranker und sterbender Menschen.
1.2
Therapiekonzeption
Im Jahr 2012 veröffentlichte Chochinov sein Buch »Dignity Therapy. Final Words for Final Days«. Es war eine Antwort auf, vielmehr eine praktische Konsequenz seiner vorangegangenen Forschung zur Würde am Lebensende und insbesondere eine anwendungsorientierte Engführung des Würdemodells, das er zehn Jahre zuvor zum ersten Mal publiziert hatte (vgl. Chochinov u. a. 2002). Bereits 2005 veröffentlichten Chochinov und Kolleg_innen eine erste klinische Studie zur WzT (vgl. Chochinov u. a. 2005). Erkenntnisse aus dieser Studie waren für Chochinov maßgeblich für die Konzeption seines sieben Jahre später veröffentlichten Standardwerks. Die Würdezentrierte Therapie (WzT), wie sie in Deutschland genannt wird, war aber nicht die einzige praktische Engführung. Vielmehr hat Chochinov seine Erkenntnisse über das subjektive Verständnis der Würde schwerkranker Menschen in das Konzept »Dignity in Care« (Dignity in
18
Einleitung
Care 2016) transferiert, das – im Gegensatz zur WzT – nicht als einmalige Intervention eingesetzt wird, sondern als Grundlage jeglicher Versorgung dienen soll. Damit betont Chochinov, dass die WzT keine Ersatzleistung ist, sondern letztlich ein Angebot als Teil einer würdevollen Versorgung, die auch das Inventar der sozialen Würde und krankheitsbezogene Aspekte (vgl. Abbildung 2) in ihren Blick inkludiert. Wie bereits erwähnt, ist der Kern der WzT ein halbstrukturiertes Interview, das Therapeut_innen mit den Patient_innen führen. Dieses Gespräch kann mehrere Stunden dauern und über mehrere Termine und Tage fortgeführt werden. Die Struktur und die inhaltliche Schwerpunktsetzung folgen einem auf der Basis des Würdemodells konzipierten Fragenkatalog. Sämtliche dieser Fragen zielen auf einen oder mehrere Faktoren des Würdemodells, insbesondere des »[w]ürdebewahrende[n] Repertoire[s]« (Chochinov 2017: 28). So erklärt Chochinov: »Each question is meant to elicit some aspect of personhood, provide an opportunity for affirmation, or help the participant reconnect with elements of self that were, or perhaps still remain, meaningful or valued.« (Chochinov 2012: 70f.) Im Folgenden sind die Fragen nach Chochinov aufgelistet (vgl. ebd.: 71). Weil sich die vorliegende Studie im deutschsprachigen Raum bewegt, findet sich auch die deutsche Übersetzung der jeweiligen Fragen nach Sandra Mai (Chochinov 2017: 103). Tell me a little about your life history, particularly the parts that you either remember most, or think are the most important. When did you feel most alive? Erzählen Sie mir ein wenig aus Ihrer Lebensgeschichte; insbesondere über die Zeiten, die Sie am besten in Erinnerung haben oder die für Sie am wichtigsten sind. Wann haben Sie sich besonders lebendig gefühlt? Are there specific things that you would want your family to know about you, and are there particular things you would want them to remember? Gibt es etwas Besonderes, das Sie Ihrer Familie über sich mitteilen wollen? Gibt es bestimmte Dinge, die Ihre Familie von Ihnen in Erinnerung behalten soll? What are the most important roles you have played in life (family roles, voca-tional roles, community service roles, etc.)? Why were they so important to you, and what do you think you accomplished in those roles? Was sind die wichtigsten Aufgabenbereiche, die Sie in Ihrem Leben eingenommen haben (Rollen in der Familie, im Beruf, im Sozialleben etc.)? Warum waren Ihnen diese Aufgaben wichtig und was haben Sie Ihrer Meinung nach darin erreicht? What are your most important accomplishments, and what do you feel most proud of ? Was sind Ihre wichtigsten Leistungen, worauf sind Sie besonders stolz? Are there particular things that you feel still need to be said to your loved ones, or things that you would want to take the time to say once again?
Die Würdezentrierte Therapie nach Harvey Max Chochinov
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Gibt es etwas, von dem Sie merken, dass es gegenüber Ihren Lieben noch ausgesprochen werden will? Oder etwas, das Sie gern noch einmal sagen möchten? What are your hopes and dreams for your loved ones? Was sind Ihre Hoffnungen und Wünsche für die Menschen, die Ihnen am Herzen liegen? What have you learned about life that you would want to pass along to others? What advice or words of guidance would you wish to pass along to your (son, daughter, husband, wife, parents, others)? Was haben Sie über das Leben gelernt, das Sie gern an andere weitergeben möchten? Welchen Rat oder welche Worte, die Ihre/n … (Tochter, Sohn, Ehemann, Ehefrau, Eltern, andere Menschen) leiten können, würden Sie gerne weitergeben? Are there words or perhaps even instructions you would like to offer your family to help prepare them for the future? Gibt es konkrete Empfehlungen, die Sie Ihrer Familie mitgeben möchten, um sie für die Zukunft vorzubereiten? In creating this permanent record, are there other things that you would like included? Gibt es speziell für dieses Dokument noch etwas, das Sie hier mit aufnehmen wollen?
Nicht nur durch den Inhalt der WzT – Chochinov spricht von »content of Dignity Therapy« (Chochinov 2012: 42) – sollen die würdebewahrenden Ressourcen entfaltet werden, sondern auch durch die gewählte Form. Deren Funktion soll darin bestehen, die würdebewahrende Perspektive »Generativität/Vermächtnis« zu aktivieren: An important subtheme found in the Dignity Model that shapes the overall form of Dignity Therapy is generativity/legacy. Attending to generativity means finding ways of prolonging one’s influence across time in the service of others. For people who are terminally ill, this means extending aspects of self up to and beyond death itself. (Chochinov 2012: 37)
Um dieses »finding ways of prolonging« umzusetzen, hat sich Chochinov für das Anfertigen eines schriftlichen »generativity document« (Chochinov 2012: 100) entschieden – sei doch das geschriebene Wort »an ideal mode of generativity/ legacy« (ebd.: 100) –, das die Patient_innen ihren Angehörigen übergeben können. Dafür wird die Erzählung aus dem Interview mit einem Audiogerät aufgezeichnet und wörtlich transkribiert. Anschließend wird das entstandene Transkript jedoch nicht in dieser Form den Patient_innen und den Angehörigen weitergegeben, sondern von den Therapeut_innen zunächst editiert; ein nach Chochinov unterstützender Eingriff. So schreibt er: Typically, patients lack the time, energy, and mental ability to accomplish many tasks, let alone one that consists of constructing and organizing a detailed and reflective document. Even without these limitations, many patients might feel intimidated at the
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prospect of trying to document some of their beyond the measure of their own days. (Chochinov 2012: 101)
Nach dem Editieren wird die Erzählung nochmals mit den Patient_innen besprochen. Dabei wird sie diesen vorgelesen. Letzte Änderungen können angebracht werden, bevor das Dokument gedruckt und schließlich den Patient_innen oder den Angehörigen direkt übergeben wird. Die Therapeut_innen sollen den Patient_innen in einem Ton begegnen, der würdebewahrend ist. Chochinov spricht von »care tenor, or the tone of care« (Chochinov 2012: 41), was Mai im deutschen Modell mit »Haltung der Behandelnden« (vgl. Abbildung 2) umschreibt. Diese »Haltung« als Aspekt des »Social Dignity Inventory« (rechte Spalte des Würdemodells) beschreibt Chochinov als eine Haltung, die in der Gegenwart erfahren werden muss: »While generativity has an ethereal quality pertaining to sometime in the future, the tone of Dignity Therapy needs to be experienced in the here and now.« (Ebd.: 31) Damit hebt er hervor, dass die WzT zwar sowohl Vergangenheit – durch den Lebensrückblick – als auch Zukunft – durch die generative Perspektive – in den Blick nimmt, in der Gegenwart aber als Intervention erfahren wird. In der Haltung der Pflegenden und Umsorgenden sieht Chochinov einen hohen Wert. Er vergleicht ihre Funktion mit einem Spiegel: Accordingly, those of us in health care must think of ourselves, metaphorically, as a mirror. With every clinical contact, patients gaze our way, looking for an affirming reflection in which can they recognize themselves. If all they see is their illness, they may feel that the essence of who they are has vanished. The less they are able to see of themselves, the more patienthood will have eclipsed personhood. When, in turning to their care providers, patients are able to see a reflection that includes personhood, dignity-conserving care will have been achieved. (Chochinov 2012: 29)
Chochinov bringt in seinem Buch deutlich zum Ausdruck, dass die WzT nur durch Achtsamkeit und mit starken Kommunikationsfähigkeiten ausgeübt werden kann. Er fordert alle angehenden Therapeut_innen auf, sich in der WzT ausbilden zu lassen, macht aber auch deutlich, dass nicht nur Psychotherapeut_innen dazu befähigt sind, sondern ebenso Pflegefachkräfte und andere soziale Berufsgruppen (vgl. Chochinov 2012: 178). Wenn ich in der vorliegenden Studie von Therapeut_innen spreche, meine ich jene Menschen, die in der WzT ausgebildet wurden und diese anwenden – unabhängig davon, ob sie einen psychotherapeutischen Hintergrund haben. Hinter der Konzeption der WzT steht ein Bild des Menschen, das diesen als einflussnehmendes, kreativ-schöpferisches und soziales Wesen versteht. Diese Eigenschaften werden auch einer kranken und sterbenden Person zugeschrieben. Der Mensch wird als Subjekt gesehen, dessen Würde zwar unantastbar ist, das in seinem subjektiven Erleben jedoch über ein fragiles Würdeempfinden
Die Würdezentrierte Therapie nach Harvey Max Chochinov
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verfügen kann. Es ist aber auch der Mensch selbst, der dieses Empfinden beeinflussen kann, und zwar auch dann, wenn die äußeren Faktoren ein selbständiges Leben einschränken. Verbunden mit dieser Fähigkeit zur Einflussnahme versteht die WzT den Menschen, auch im kranken Zustand, als kreativschöpferisches Subjekt, das Gegenwart und Zukunft gestalten kann und will; auch am Lebensende. Die WzT vermittelt zudem ein Bild vom Menschen als soziales und abhängiges Wesen, das auf Unterstützung angewiesen ist. So ist die Erzählung, die in der WzT geschaffen wird, eine ko-konstruierte Hinterlassenschaft, denn die Therapeut_innen sollen durch ihre Arbeit den Patient_innen etwas ermöglichen, was ohne sie nicht erreicht werden könnte: »The role of the therapist is to enable the patient to accomplish something that could not be done without therapeutic assistance and guidance.« (Chochinov 2012: 101) Und auch die besagte Fähigkeit, subjektives Würdeempfinden zu beeinflussen, ist im Verständnis der WzT letztlich von sozialen Bedingungen geprägt: wie der Mensch von anderen Menschen gesehen wird, beeinflusst wird, wie er sich selbst sieht. »Dignity and the eye of the beholder« (Chochinov 2004) gehören in der Konzeption der WzT zusammen.
1.3
Forschungsstand und Forschungslücken
Die Forschung rund um die Intervention hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Um die Forschungslandschaft systematisch zu kartieren und dabei die Verbindung zur vorliegenden Studie zu knüpfen, referiere ich den Forschungsstand und die Forschungslücken anhand von vier Leitfragen: (1) Welches übergeordnete Forschungsinteresse besteht? (2) Welche Akteur_innen stehen im Fokus? (3) Welche Bestandteile der WzT stehen im Fokus? (4) Welches methodische Vorgehen wird angewendet? Trotz der zahlreichen Studien zur WzT finden sich immer wieder die gleichen Forschungsinteressen. Im Zentrum stehen die Fragen nach Akzeptanz/Zufriedenheit (z. B. Bentley u. a. 2014b), Adaption (z. B. Mai u. a. 2018), Durchführbarkeit (z. B. Goddard u. a. 2013) und Wirksamkeit (z. B. Hall u. a. 2013). Dabei drehen sich die Fragen um die Anwendung der WzT in unterschiedlichen Settings und Kulturen, zudem ist die Adaption der Intervention an unterschiedliche Krankheitsbilder und -stadien geknüpft. Studien zeigen, dass die Intervention in unterschiedlichen Gesundheitssystemen und -institutionen durchführbar ist (vgl. Mai u. a. 2018: 2). Auch die Anwendung der Intervention auf einen nicht angelsächsischen Kontext wird in der Literatur als mehrheitlich realisierbar beschrieben, verlangt jedoch in gewissen kulturellen Kontexten Modifikation.6 6 Martínez u. a. beschreiben diese Modifikationen in ihrem Literaturüberblick folgenderma-
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Für den deutschsprachigen Raum ist hierzu die 2018 erschienene Studie von Mai und Kolleg_innen bedeutsam. Unter dem Titel »Feasibility, acceptability and adaption of dignity therapy: a mixed methods study achieving 360° feedback« haben sich die Autor_innen mit der Anwendung und Adaption der WzT in Deutschland auseinandergesetzt. Dabei wurde der Fragenkatalog nach Chochinov ins Deutsche übersetzt und die Intervention auf ihre Durchführbarkeit und Akzeptanz hin geprüft. Die Resultate zeigen, dass die WzT auf Palliativstationen in Deutschland durchführbar ist und sowohl von Patient_innen als auch von Gesundheitsfachkräften und Angehörigen zu einem hohen Maß akzeptiert wird (vgl. ebd.). Auch die Akzeptanz der deutschen Bezeichnung »Würdezentrierte Therapie« wurde von den Autor_innen geprüft und positiv evaluiert. Basiert die WzT auf Forschung mit Krebspatient_innen im Endstadium, sind in der Zwischenzeit auch Studien erschienen, die die Anwendung auf andere Krankheitsbilder untersuchen. Dabei wird insbesondere die Durchführung der Intervention bei kognitiv beeinträchtigten Menschen (vgl. Chochinov u. a. 2012) und ALS-Patient_innen7 (vgl. Bentley u. a. 2014b) zwar als herausfordernd, jedoch durchführbar beschrieben, wenn Angehörige die Patient_innen während der Intervention unterstützen (vgl. Bentley u. a. 2014a; vgl. Bentley u. a. 2014b). Schlussfolgernd aus dieser Beobachtung halten Martínez und Kolleg_innen in ihrer systematischen Literaturübersicht fest: »However, in the future, it is important to identify which patients are most suitable for DT and to pinpoint adaptations needed for using DT in other populations.« (Martínez u. a. 2017: 507) Mit Blick auf das dargelegte Forschungsinteresse und die Zielsetzung der WzT verwundert es nicht, dass sich die Mehrheit der Studien auf die Patient_innen konzentriert. Doch auch deren Angehörige rücken in den Fokus der Forschung, wenn auch nach wie vor in geringem Maße. So fasst der 2018 publizierte Artikel »Effects of Dignity Therapy on Family Members. A systematic Review« (Scarton u. a. 2018) acht Studien zusammen, die zwischen 2000 und 2016 in 16 Artikeln erschienen sind und prioritär die Angehörigen ins Zentrum stellen. Das Forßen: »There are terms that can be misinterpreted, such as ›alive‹, ›more alive‹, ›still‹ and ›future‹ and others, such as ›proud of‹, are just inappropriate in some cultures. Some of these words, for example, ›proud of‹, can be revised to ›happy with‹, to avoid conflict with cultural traits of modesty and privacy. Some reactions suggest that confrontations exist between the participants’ norms and values at the cultural, hierarchical and individual levels.« (Martínez u. a. 2017: 506) Martínez verweist auch auf die Studie von Akechi u. a., in der die WzT bezüglich der Durchführbarkeit im japanischen Kontext analysiert wurde. Die Resultate von Akechi zeigen eine erhöhte Ablehnungsrate der WzT. Gründe für eine höhere Rate gegenüber westlichen Kontexten sehen die Autor_innen in der unterschiedlichen Vorstellung eines »guten Sterbens«. Während in Japan dessen Konzept mit »unawarness of death« (Akechi u. a. 2012: 768) verbunden ist, zielt die WzT gerade auf eine direkte Konfrontation mit dem Tod. 7 Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine Erkrankung des motorischen Nervensystems, die unaufhaltsam progredient verläuft (vgl. Hacke 2010: 724).
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schungsinteresse lag auch bei dieser Perspektive in Durchführbarkeit, Akzeptanz und Wirksamkeit (vgl. ebd.: 544). Zu den acht Studien zählen auch fünf qualitative Studien. Sie legen dar, dass die meisten Familienangehörigen die WzT als wesentlichen Teil der palliativen Versorgung bezeichnen (vgl. ebd.: 545), zeigen aber auch, dass sie negative Gefühle bei den Angehörigen auslösen kann. So wurde z. B. in der Studie von McClement u. a. das Generativitätsdokument teilweise als unvollständig und unpassend empfunden (vgl. McClement u. a. 2007: 1080). Neben den Patient_innen und Angehörigen gibt es auch Studien, die klinisches Personal in ihr Sample integrieren. Dabei handelt es sich mehrheitlich um Vertreter_innen eines multidisziplinären Teams, die nicht direkt in die WzT involviert sind, WzT-Patient_innen aber begleiten und betreuen. Auch hier stehen die genannten Hauptinteressen im Mittelpunkt (vgl. Mai u. a. 2018; vgl. Houmann u. a. 2010; vgl. Chochinov u. a. 2012). Forschung, die sich direkt auf die Therapeut_innen fokussiert, die die WzT durchführen, ist kaum zu finden. Zu nennen ist die Studie von Tait und Hodges (Tait/Hodges 2013). In dieser Studie wurden Assistenzärzt_innen mit der Intervention vertraut gemacht, jedoch nicht mit dem Ziel, darin Expert_innen zu werden, sondern allgemeine Erfahrungen in »humanistic, patient-centered care« (ebd.: 739) zu sammeln. Im Anschluss wurden sie nach ihrem Selbsterleben gefragt. Dabei schrieben sie insbesondere dem Vorlesen – als Teil der WzT – eine bedeutende Funktion zu (vgl. ebd.: 734). Forschung zu den Akteur_innen der WzT klammert die Transkribierenden kategorisch aus. Auch der Akt des Transkribierens, und damit rückt die dritte Leitfrage ins Zentrum, ist bis anhin8 unbeleuchtet. Überhaupt wird die WzT mehrheitlich in ihrer Gesamtheit zum Forschungsgegenstand. Die Analyse einzelner Elemente findet sich in den bereits genannten Studien zu den Angehörigen, wenn etwa nach dem Aufbewahrungsort der Generativitätsdokumente gefragt wird (vgl. McClement u. a. 2007). Auch die Transkripte rücken in einigen wenigen Studien ins Zentrum (vgl. Tait/Hodges 2013; vgl. Montross u. a. 2011). Dabei interessieren narrative Typen und wiederkehrende Themen. Das Erzählen im Vollzug, das Transkribieren, der Editierprozess oder das Vorlesen bleiben jedoch unterbelichtet. Die genannten Forschungsinteressen werden mit Randomisierten Kontrollstudien (RCT) verfolgt (z. B. vgl. Julião u. a. 2017). Daneben gibt es Studien mit einem Pretest-Posttest-Design (z. B. vgl. Bentley u. a. 2014b) und Fallbeispiele (z. B. vgl. Hall u. a. 2013). Auch Mixed-Methods-Studien als Kombination von quantitativer und qualitativer Forschung finden sich (z. B. vgl. Mai u. a. 2018).
8 Wurden mehrheitlich all meine Helvetismen im vorliegenden Text getilgt, soll das kleine Wörtchen »anhin« bleiben; im Sinne der bereichernden Sprachdiversität.
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Die WzT hat sich in den vergangenen Jahren in den verschiedensten Ländern etabliert. Auch im deutschsprachigen Raum wird die Intervention in unterschiedlichen Institutionen angeboten. Die Deutsche Gesellschaft für Patientenwürde e. V., die als Dachverband der WzT gilt, konnte 2021 die Implementierung der Ausbildung »TherapeutIn für Würdezentrierte Therapie« und die Anerkennung des zugrunde liegenden Curriculums durch die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) und den Deutschen Hospiz- und Palliativverband (DHPV) umsetzen. Dass die WzT in der einschlägigen Szene auf großes Interesse stößt, zeigt auch ihre Vertretung in Workshopform an den vergangenen zwei Kongressen der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin. Die Forschung dazu ist in Deutschland jedoch noch sehr überschaubar; bis auf die schon zitierte Publikation von Mai und Kolleg_innen gibt es keine vergleichbare Studie. Die dargelegte Forschungslandschaft konzentriert sich auf Akzeptanz, Adaption, Durchführbarkeit und Wirksamkeit. Wie die WzT wirklich wirkt oder nicht wirkt, bleibt noch immer im Verborgenen. So hält Martínez fest: »There is no evidence in how DT really works. There is lack of a comprehensive perspective of the different stakeholders who participate in the process (patient, family and health professionals).« (Martínez u. a. 2017: 493) So zentral die genannten Themenfelder bei einer therapeutischen Intervention sind, so eng ist das Forschungsinteresse – und es fehlt eine Offenheit für Deutungen und Bedeutungszuschreibungen der involvierten Akteur_innen, die über Akzeptanz, Adaption, Durchführbarkeit und Wirksamkeit hinausgeht. Zu erfahren, zu verstehen und zu analysieren, wie Therapeut_innen, Transkribierende, Patient_innen und Angehörige ihr Handeln in und ihr Erleben der WzT deuten und welchen Momenten bzw. Aspekten sie Bedeutung zuschreiben, schafft sodann nicht einfach ein Mehr an Informationen, sondern gerade eine Grundlage für ein besseres Verständnis von Akzeptanz sowie für die Adaption, Durchführbarkeit und Wirkung der WzT. Auch die Prozesshaftigkeit und die einzelnen Praktiken der WzT sind bis anhin noch nicht erforscht worden. Lisa Scarton fordert: »Future research should be focused on several areas, including the process of implementing DT.« (Scarton u. a. 2018: 546) Sie konkretisiert: Specific features of DT also need further study. For instance, editing the document offers patients a chance to rethink, in the setting of an interaction with a trained professional, how they want to settle their relationships. Little is known that can guide clinicians about the impact of that editing. (Scarton u. a. 2018: 546)
Weiter fordert Scarton auch mehr und spezifischere Forschung zur Angehörigenperspektive: »Future research should focus on understanding whether and how family members benefit from receiving the legacy document.« (Ebd.)
Eine ethnografische Begleitung: Beschreiben und Verstehen
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Therapien, die letztlich durch die Gesundheitssysteme (finanziell) unterstützt werden sollen, müssen messbare positive Effekte erzielen. Folglich ist es naheliegend, dass sich ein Großteil der Forschung auf die Wirksamkeit und Durchführbarkeit fokussiert, Wirkmechanismen und subjektive Deutung jedoch vernachlässigt werden. Dies gilt keinesfalls nur für die WzT, sondern auch für die Psychotherapieforschung, wo Wirksamkeitsstudien in Form von RCTs dominieren und eine prozessorientierte Forschung erst – und immer noch – im Entstehen begriffen ist (vgl. Brakemeier/Herpertz 2019). Prozessorientierte Forschung kann einen essentiellen Beitrag zu jener oft gestellten Frage leisten, auf die Brakemeier und Herpertz verweisen: »What treatment, by whom, is most effective for this individual with the specific problem, under which set of circumstances, and how does it come about?« (Brakemeier/Herpertz 2019: 1126) Um jedoch diese Frage zu beantworten und Wirkmechanismen zu ergründen – und das scheint das eigentliche Ziel zu sein, macht es doch optimierende Modifikationen erst möglich –, braucht es Forschung, die an einem früheren Punkt ansetzt und sich nicht primär auf Wirkung, sondern auf Deutung konzentriert. Es braucht Forschung, die den Blick öffnet für das, was in der Praxis wirklich passiert: durch Beschreibung und Offenheit. Die vorliegende Studie setzt bei den genannten Lücken an, nimmt einzelne Akteur_innen, die Prozesshaftigkeit und einzelne Praktiken wie etwa das Editieren oder Rezipieren durch die Angehörigen in den Fokus; jene Punkte also, die von Forschenden gefordert werden, bis anhin jedoch noch kaum analysiert wurden. Geleitet von besagter Offenheit kann die vorliegende Studie als Grundlagenforschung bezeichnet werden, schafft sie doch eine Landkarte dessen, was zwischen Anbieten und Lesen in der WzT geschieht, gedeutet und mit Bedeutung versehen wird.
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Eine ethnografische Begleitung: Beschreiben und Verstehen
In der WzT wird nicht nur akzeptiert und nicht akzeptiert, adaptiert, durchgeführt, psychosozial gewirkt oder nicht gewirkt. Die involvierten Menschen erzählen, hören zu, stellen Fragen, schreiben, streichen, tippen, halten Papier fest, spulen zurück, blättern und legen zur Seite. Sie lesen vor, sind berührt, irritiert, gekränkt und erschöpft. Sie besitzen, bewahren auf und geben weiter. Auch wenn die dargelegte Forschungslandschaft suggeriert, es gäbe nur Patient_innen, Therapeut_innen und Angehörige, die Teil der WzT sind, gibt es da auch noch jene transkribierenden Menschen, die hören und abtippen. Der Forschungsüberblick zeigt, dass die WzT prioritär in ihrer Gesamtheit analysiert und dem praktischen Vollzug, den einzelnen Akteur_innen und unterschiedlichen Dimensionen der WzT nicht genügend Beachtung geschenkt
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Einleitung
wird. Die vorliegende Studie richtet den Blick genau auf diese Einzelheiten und ihr Verflochtensein mit der Ganzheitlichkeit der Intervention – eine Verflochtenheit, die mit dem Fokus auf dem Transformieren der generativen Erzählungen ergründet wird.
2.1
Fragestellung
Ein offener Blick für das, was in der WzT passiert, für die Deutungen und Bedeutungszuschreibungen der involvierten Akteur_innen war der Ansatz dieser Studie. Orientiert an den Akteur_innen, den Praktiken und einem vorempirischen Verständnis der in der WzT entstehenden Erzählung habe ich das Transformieren dieser Erzählungen analytisch durchdrungen. Im Zentrum der Analyse stehen die Therapeut_innen der WzT, die Patient_innen, die lesenden Angehörigen und die Transkribierenden. Um dem Geschehen in der WzT strukturiert zu folgen, orientierte ich mich an den sieben Hauptpraktiken (Anbieten – Interviewen und Erzählen – Transkribieren – Editieren – Vorlesen – Übergeben – Lesen und Besitzen). Zudem entwickelte ich die Analyse auf der Basis eines vorempirischen Verständnisses des entstehenden Generativitätsdokuments. Dieses betrachte ich in seiner Entstehung als multidimensionales Gefüge, das Materialität und Medialität, Sprache und Narration sowie Körper und Leib vereint. Kern dieser ethnografischen Studie ist die Auseinandersetzung mit folgender leitender Fragestellung: Wie gestaltet sich in der WzT die Transformation der generativen Erzählungen vom mündlichen Patient_inneninterview zum geschriebenen und gelesenen Generativitätsdokument und wie deuten die involvierten Akteur_innen die transformierenden Praktiken? Durch die Beschreibung der WzT in ihrer Prozesshaftigkeit und die Sichtbarmachung von Deutung und Bedeutungszuschreibung der involvierten Akteur_innen bietet die Studie ein Fundament für eine kritische Reflexion professionellen Handelns innerhalb der WzT. Zudem eröffnet sie als Grundlagenforschung das Feld für weiterführende Studien rund um die ethische Dimension einer ko-konstruierten Hinterlassenschaft in Form einer Erzählung am Lebensende. Nicht zuletzt ist die vorliegende Untersuchung ein Beispiel für das Potential ethnografischer Interventionsforschung und interdisziplinärer Ansätze in der Analyse palliativer Praktiken.
Eine ethnografische Begleitung: Beschreiben und Verstehen
2.2
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Aufbau: vom Anbieten zum Lesen und Besitzen
Als beschreibend-verstehende Disziplin interessiert sich die empirische Kulturwissenschaft9 für »Orientierungs- und Praxisformen von Subjekten in konkreten Lebenszusammenhängen« (Schmidt-Lauber 2004: 27). Dabei ist die Erfahrung »Quelle und Basis von Erkenntnis und Wissen« (Bischoff 2014: 15). In den Blick rücken Unhinterfragtes und verborgene Strukturen. Dieses Anliegen und diese Zielsetzung der empirischen Kulturwissenschaft haben auch die vorliegende Studie geleitet, die als Mikrostudie das Geschehen in der WzT im beschreibenden, erfahrenden und deutenden Modus sichtbar macht. Ausgangspunkt der Analyse ist die in der WzT entstehende Erzählung. In dieser Entstehung als Vollzug verändert sie sich stetig und schafft unterschiedliche (Zwischen-)Produkte (Audiodatei, Transkript, Dokument). Über verschiedene Praktiken transformieren die Akteur_innen die Erzählung auf unterschiedliche Weise. Um die Erzählung in ihrer Komplexität zu fassen, habe ich sie als Gefüge von materiell-medialer, sprachlich-narrativer und körperlich-leiblicher Dimension konzeptualisiert. Im anschließenden Kapitel II. stehen diese Praktiken und die Dimensionen im Zentrum. In Kapitel III. folgen dann die Darlegung meines ethnografischen Forschungsansatzes und das konkrete methodische Vorgehen – eine Triangulation aus teilnehmender Beobachtung, informellen Gesprächen, problemzentrierten Interviews und Textvergleichen. Dabei spreche ich auch über meine Herausforderungen beim Forschen in einem »vulnerablen« Feld und über die Bedeutsamkeit der eigenen Reflexion, die doch immer nur begrenzt ist. Weil es um die WzT in ihrer praktischen Anwendung geht, spiegelt sich dieser Fokus nicht nur im Inhalt, sondern auch im Aufbau dieser Studie wider. So gestaltet sich das Kapitel IV. entlang der Therapiekonzeption vom Anbieten der Therapie bis zum Lesen und Besitzen der entstandenen Dokumente. Wie bereits erwähnt, steht die veränderte generative Erzählung in ihrem Vollzug und ihrer Präsenz im Fokus. Um die Entstehung als Entstehen im Vollzug zu verorten, bediene ich mich Ansätzen des Performativitätsdiskurses und der Arbeiten von Erika Fischer-Lichte (vgl. Fischer-Lichte 2004; 2013), Doris Kolesch (vgl. Kolesch/ Krämer 2006a) und Sybille Krämer (vgl. Krämer 2004). Aber auch Überlegungen der Körper-Leib-Phänomenologie spielen in diese performative Perspektive 9 Die Debatten um die Bezeichnung des »Vielnamensfachs« empirische Kulturwissenschaft/ europäische Ethnologie/Volkskunde/Kulturanthropologie/populäre Kulturen sind weiterhin aktuell. 2021 beschloss die Deutsche Gesellschaft für Volkskunde (DGV) die Umbenennung zur Deutschen Gesellschaft für Empirische Kulturwissenschaft e. V. (DGEKW) (vgl. DGEKW 2021). Einen Überblick über die Auseinandersetzung mit der eigenen Fachgeschichte und der damit verbundenen Bezeichnung bietet der Sammelband »Namen und was sie bedeuten. Zur Namensdebatte im Fach Volkskunde« (2004) von Regina Bendix und Tatjana Eggeling.
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hinein. Mit Blick auf die entstehenden Zwischenprodukte in der WzT ziehe ich Ansätze der materialen Textkulturforschung und der Artefaktanalyse hinzu. Einen inspirierenden Fundus bieten hier der an der Universität Heidelberg angesiedelte Sonderforschungsbereich »Materiale Textkulturen« und die Arbeiten von Markus Hilgert (vgl. Hilgert 2010; 2014). Weil auch die sprachlich-narrative Dimension der generativen Erzählung interessiert, beziehe ich zudem Ansätze aus der Erzählforschung und Textlinguistik mit ein. Die Praktiken in der WzT erinnern an Methoden der qualitativen Forschung; an die Erhebung und Aufbereitung qualitativer Interviews. Erzählen, Erfragen, Tonaufnahmen, Transkribieren und eine Aufbereitung für die Verwendung der Daten in wissenschaftlichen Arbeiten sind Teil dieses Forschungsprozesses. Deshalb integriere ich auch Arbeiten über methodologische Fragestellungen rund um die qualitative Forschung (vgl. Bird 2005; vgl. Breuer 1999; Oldörp 2018). Im abschließenden Kapitel V. greife ich zunächst in knapper Weise die Erkenntnisse nochmals auf, öffne dann aber den Raum für das Potential kulturwissenschaftlich-ethnografischer Ansätze in der Erforschung von psychologischen Interventionen im Allgemeinen. Dabei akzentuiere ich eine Kritik an der bisherigen dominanten Forschungstradition und plädiere für ein Innehalten, das sich durch Beschreiben und Verstehen auszeichnet und dabei die Offenheit der empirischen Kulturwissenschaften zu Nutze macht.
II.
Dimensionen und Praktiken
Um die Transformation der generativen Erzählungen aus der WzT zu analysieren, habe ich in einem vorempirischen Schritt eine konzeptuelle Ausgangslage geschaffen. Diese ist Basis für das methodische und analytische Vorgehen, beschränkt, positioniert und legt fest, was Teil der vorliegenden Studie ist und was nicht. Im Zentrum dieser Ausgangslage stehen zentrale Begriffe und Konzepte sowie ihre Beziehungen zueinander: allen voran die generative Erzählung, die ich als Gefüge aus drei Dimensionen fasse, die Praktiken, die dieses ko-konstruierte Gefüge gestalten, und schließlich die Transformation, die dieser Gestaltung einen Namen gibt. In der Datenerhebung, Analyse und Verschriftlichung stiftete diese Ausgangslage nicht nur Struktur, sondern schärfte auch den Blick für Zusammenhänge und bis anhin in der Forschung unbeleuchtete Aspekte. Je nach Zeitpunkt im Prozess der WzT steht eine andere Dimension der Erzählung im Vordergrund und nicht alle Praktiken sind für die beteiligten Akteur_innen gleich zentral. Um dem Forschungsfeld in seiner Dynamik zu folgen, war eine Offenheit gegenüber dieser unterschiedlichen Gewichtung der Dimensionen und Praktiken unabdingbar. So spiegelt sich diese Felddynamik auch in der Gewichtung der Analyse wider.
1
Das Gefüge der generativen Erzählung in der WzT
Im Zentrum der WzT stehen das Erzählen und das Generieren einer Erzählung. Chochinov benennt die entstehende Erzählung »generativity document« (Chochinov 2012: 100), was in der deutschen Fassung, übersetzt von Sandra Mai, mit »Generativitätsdokument« (Chochinov 2017: 139) wiedergegeben wird. Mit »document« betont er die Erzählung als Artefakt in seiner materiell-medialen Dimension. Diese Dimension ist von großer Bedeutung, ermöglicht sie doch die Weitergabe an Angehörige und setzt den Generativitätsgedanken ganz praktisch und haptisch um. Der Fokus auf die Generativität als ein Aspekt des »Dignity
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Dimensionen und Praktiken
Conserving Repertoire« (Chochinov 2012: 9) wird in der Bezeichnung des Dokuments klar sichtbar. Im Titel der vorliegenden Studie habe ich diese Fokussierung beibehalten, weil der Generativitätsgedanke letztlich doch ausschlaggebend für die Transformation in ein schriftliches Artefakt ist. Ich spreche im Titel jedoch nicht von Generativitätsdokument, sondern von »generativer Erzählung«. Damit wird die materiell-mediale Dimension nicht verdrängt – man denke an eine schriftliche Erzählung, die materiell präsent ist –, sondern vielmehr die sprachlich-narrative Dimension explizit hervorgehoben. Neben der materiellmedialen und der sprachlich-narrativen Dimension gibt es jedoch noch eine dritte Dimension, die ich als Teil des Gefüges herausarbeite. In der Entstehung und im Umgang mit der generativen Erzählung sind auch Körper involviert. Es sind verwundete und weniger verwundete, anwesende, vergehende und abwesende, lebende und tote Körper. Diese berühren Papier, sie sitzen oder liegen, spüren und erspüren. Und so beinhaltet das Gefüge der generativen Erzählung auch eine körperlich-leibliche Dimension.
1.1
Materiell-mediale Dimension
In der WzT entsteht ein schriftliches ausgedrucktes Dokument, das in seiner Präsenz berührbar und portabel ist. Auf dem Weg zu dieser schriftlichen Form wird die mündliche Erzählung durch verschiedene Medien transformiert. Um die Transformation zu beschreiben und zu analysieren, sollen die Konzepte »Medialität« und »Materialität« eingeführt werden. Wenn ich von medialer Dimension spreche, meine ich damit eine auf das Medium referierende Dimension. Ich verwende den »technologischen Medienbegriff« (Posner 1986: 294) nach Roland Posner, der sich auf technische Apparaturen und deren Produkte bezieht. Posner beschreibt Medium dabei als »ein System von Mitteln für die Produktion, Distribution und Rezeption von Zeichen« (ebd.: 293).10 Die mediale Dimension hebt hervor, dass die generative Erzählung durch ein solches sich im Laufe ihrer Herstellung veränderndes System gestaltet, konserviert und rezipiert wird. Vom Audiogerät über die Audio- und Textdatei bis hin zum ausgedruckten Schriftstück aus Papier sind im Prozess der WzT unterschiedliche Medien involviert. Diese technologischen Möglichkeiten interessieren dabei nicht als neutrale Medien, sondern als solche, die das zu Übertragende, Wahrnehmbare, Speichernde, Verarbeitende und Vermittelnde 10 Neben dem technologischen unterscheidet Posner auch noch den biologischen, physikalischen, soziologischen, kulturbezogenen und kodebezogenen Medienbegriff (1986: 293ff.). Andere Klassifikationen des Medienbegriffs finden sich z. B. bei Harry Pross (1972), der primäre, sekundäre und tertiäre Medien unterscheidet.
Das Gefüge der generativen Erzählung in der WzT
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bedingen und beeinflussen (vgl. Krämer 2003: 85; vgl. Grampp 2016: 10) – ein Verständnis, das sich in der heterogenen Landschaft der Medienwissenschaften durchgesetzt hat (vgl. Grampp 2016: 10). Weil auch Sprache und Körper als Medien bezeichnet werden können, verwende ich einen »technologischen Medienbegriff« und akzentuiere damit die Abgrenzung zur sprachlich-narrativen und körperlich-leiblichen Dimension. Wenn ich also von »medial« und »Medium« spreche, beziehe ich mich implizit auf den »technologischen Medienbegriff«. Neben dieser medialen Dimension tritt die generative Erzählung auch in ihrer materiellen Dimension in Erscheinung. Materiell referiert auf einen Materialitätsbegriff, verstanden als »das Konzept vom materiellen Ding-Sein der Dinge« (Meier u. a. 2015: 21). Es steht nicht das Material als »physischer Stoff, aus dem ein materiell konzipiertes Ding besteht,« (ebd.: 19) im Fokus, sondern dessen materielles Vorhandensein mit seinen Wechselbeziehungen zur Umgebung. Zu den Dingen gehören in der vorliegenden Studie die Artefakte. Ich bediene mich also eines sehr engen Materialitätsbegriffs11, der das »Ding-Sein« (ebd.: 21) als Artefakt-Sein und Artefakt wiederum als »jegliches durch direkte menschliche oder technische Einwirkung entstandene Produkt oder Phänomen« begreift (Hilgert 2010: 87). Der Zugang über die materielle Dimension der generativen Erzählung hebt deren Haptik hervor. So erscheint diese in ihrer finalen Version als Schriftstück aus Papier, teilweise gebunden in Pappe. In dieser Form und Erscheinung wird die Erzählung zu einem berührbaren, überdauernden und verortbaren Erinnerungsstück, das neue Affordanzen12 schafft.
1.2
Sprachlich-narrative Dimension
Die Konzeption der WzT gründet auf einer empirischen Untersuchung zum persönlichen Verständnis von Würde. Auf deren Basis entstand das »Dignity Conserving Repertoire« (Chochinov 2012: 9). Sprachlich vorformulierte Leitfragen, die in die entstehende Erzählung einfließen, sollen ein würdestärkendes 11 Eine konzeptuelle Weitung des Materialitätsbegriffs schaffen z. B. die Beiträge des Sammelbands »Materialität. Herausforderungen für die Sozial- und Kulturwissenschaften«, herausgegeben von Kalthoff und Kollegen (2016). Dabei wird Materialität nicht nur auf technische Artefakte bezogen, sondern auch auf physikalische Phänomene wie Licht und Klang (vgl. Kalthoff u. a. 2016: 12). 12 Mit dem Konzept der »Affordanz« meine ich das Anbieten von Handlungsmöglichkeiten. Es geht auf den Wahrnehmungspsychologen James J. Gibson zurück (vgl. Gibson 1977). Im Laufe der Zeit wurde es auch von Artefakten des Geschriebenen und von literaturwissenschaftlichen Ansätzen adaptiert (vgl. Contzen 2017; vgl. Cave 2016; vgl. Levine 2015).
32
Dimensionen und Praktiken
Erzählen aktivieren, organisieren und strukturieren. Um die Wirkung der WzT zu entfalten, nehmen Sprache und ihre narrative Äußerungsform also zentrale Rollen ein. Unter sprachlich-narrativ fasse ich all das, was die Sprache und die sprachlicherzählende Erscheinung charakterisieren. Dazu gehören Elemente auf inhaltlicher und formaler Ebene. Mit Blick auf das mündliche Erzählen sind auch Prosodie und Artikulation Charakteristika der sprachlich-narrativen Dimension. Zudem beziehe ich auch die visuelle Gestalt der entstehenden und entstandenen Texte mit ein. Unter visueller Textgestalt verstehe ich wie Sandig sowohl makrotypografische Eigenschaften – dazu gehört die »Verteilung von Schrift auf Fläche« (Sandig 2006: 450), also die »Art des Arrangements« (ebd.) – als auch mikrotypografische Merkmale, wie Schriftarten und Schriftgrößen (vgl. ebd.: 450f.).13 Die Erzählung verändert sich in ihrer sprachlich-narrativen Form im Verlauf der WzT nicht nur durch das Transkribieren und Editieren, sondern nimmt beim Vorlesen auch eine andere Gestalt an, wenn sich Aussprache und Artikulation durch die Stimme der lesenden Therapeut_innen ändern.
1.3
Körperlich-leibliche Dimension
Teil des generativen Erzählens und der generativen Erzählung sowie deren Transformation ist auch der Körper-Leib der involvierten Akteur_innen. Mit Körper-Leib hebe ich sowohl das Objektivierbare als auch das Subjektive, Erfahrungsbezogene hervor. Die Körper in der WzT, verstanden auch als Leib, äußern Stimmen, halten fest, berühren, blättern und tippen. Dabei wird empfunden, gespürt und wahrgenommen. Es sind verschiedene Körper, die agieren und wahrnehmen. An mancher Stelle sind sie physisch präsent, an anderer abwesend. Im Gefüge der generativen Erzählung rücken diese Körper als vollziehende, wahrnehmende und somit als subjektive, erfahrungsbezogene Körper in den Fokus der Analyse. Ansätze, die für diesen Blick auf Körper sensibilisieren, das subjektiv Spürbare rehabilitieren und sich gegen Konzepte eines objektivierten Körpers richten, finden sich in der phänomenologischen Denkschule. Diese verschränkt den physischen mit dem erfahrungsbezogenen Körperbegriff, wobei Letzterer nicht mehr den Körper bezeichnet, sondern den Leib (vgl. Gugutzer 2015: 13; vgl. 13 Barbara Sandig führt in ihrem Buch »Textstilistik des Deutschen« die visuelle Textgestalt als Merkmalsausprägung von Textmaterialität auf (vgl. Sandig 2006: 425). Da ich mit einer anderen Unterteilung von Merkmalen respektive Dimensionen arbeite, zähle ich die visuelle Gestalt der Texte zur sprachlich-narrativen Dimension.
Das Gefüge der generativen Erzählung in der WzT
33
Schmitz 2010). Der Körper gilt dabei als physischer, in seinem Erscheinungsbild von außen wahrnehmbarer Körper, der Leib als subjekthafte, sinnlich erlebbare Instanz. Entsprechend Gugutzer ist mit Leib »der in der Selbstwahrnehmung gegebene Leib, das Sich-Spüren, mit Körper der sicht- und tastbare, in der Fremdwahrnehmung gegebene Körper« (Gugutzer 2012: 17) gemeint. Hermann Schmitz, Begründer der Neuen Phänomenologie14, der im Übrigen diese Differenzierung von innen und außen als stark reduzierte analytische Betrachtung kritisiert (vgl. Schmitz 2010)15, hebt in seiner Leibphilosophie das »affektive Betroffensein« als leiblich sein hervor. Nach Schmitz ist jemand »affektiv betroffen von etwas, wenn er davon so betroffen wird, dass er nicht umhin kann, dabei sich selbst zu spüren und in diesem Sinne auf sich selbst aufmerksam zu werden, selbst wenn er darüber gar nicht nachdenkt, gar nicht reflektiert« (Schmitz 2019: 13). Wie sich die erwähnte Verschränkung von Körper und Leib nun verhält, wird in der einschlägigen Literatur unterschiedlich erläutert. Während z. B. nach Gernot Böhme der Leib den Körper formt (vgl. Böhme 2003: 294), ist es bei Lindemann der Körper, der den Leib formt (vgl. Lindemann 1996: 172). Robert Gugutzer befürwortet beide Erklärungen der Verschränkung von Körper und Leib, geht also von einer Wechselbeziehung zwischen ihnen aus (vgl. Gugutzer 2012: 17). In der vorliegenden Studie positioniere ich mich mit der Sensibilisierung für die körperlich-leibliche Dimension gegen eine phänomenologische Trennung von Körper und Leib, handelt es sich doch bei dieser Differenzierung um eine »rein analytische Unterscheidung, die im realen Lebensvollzug des Menschen nicht oder nur in (z. B. pathologischen) Ausnahmefällen vorliegt« (Gugutzer 2015: 20). Wenn die Akteur_innen der WzT von ihren agierenden Körpern erzählen, dann ist dieses Erzählen gerade deshalb möglich, weil sie den eigenen, ihren Körper als Leib subjektiv wahrnehmen. Ebenso verhält es sich mit meinem Blick auf die agierenden Körper. Während ich sie sehe, nehme ich das Gesehene durch meinen subjektiv wahrnehmenden Körper wahr. Weil also der »reale Lebensvollzug« der Akteur_innen im Zentrum dieser Studie steht und mein methodischer Zugang selbst »reale[r] Lebensvollzug ist«, bin ich doch mit einem eigenen, subjektiv wahrnehmbaren Körper involviert und sehe daher in der Trennung von Körper und Leib für die vorliegende Studie keinen Mehrwert.
14 Einen Überblick über die Abgrenzung der Neuen zur Alten Phänomenologie bietet Robert Gugutzer in seiner Monografie »Verkörperungen des Sozialen« (vgl. Gugutzer 2012: 30ff.). 15 Schmitz kritisiert die Vereinfachung dahingehend, dass sie den Raum, das raumzeitliche Gefüge und die Umwelt ausklammert (vgl. Schmitz 2010: 15).
34
2
Dimensionen und Praktiken
Praktiken in der WzT: ein mehrperspektivischer Blick
Um sich dem Transformieren der generativen Erzählungen in der WzT anzunähern, habe ich im vorangegangenen Kapitel die Mehrdimensionalität der Erzählung dargestellt. Nun gilt es, diese Mehrdimensionalität als interagierendes Gefüge und nicht als unabhängigen Bestandteile zu analysieren. Dieser verbindende und verwebende Zugang findet sich in den Handlungen an der, mit der und durch die Erzählung. Im Handeln als performativem Ergebnis der Erzählung entfalten sich Körper-Leib, Materialität und Medialität sowie Sprache. Und es ist gerade dieser Vollzug, der die drei Dimensionen verbindet. So verstehe ich Handeln in Anlehnung an Budde »als folgenreiche Bewegung von Körper, Sprache und/oder Artefakte im sozialen Raum« (Budde 2015: 14). Die Konzeption der WzT formuliert in ihrem Ablauf verschiedene Schritte, die jeweils aus unterschiedlichen Handlungen bestehen. Diese vorgegebenen Schritte, als Verbindung und Verknüpfung einzelner Handlungen, werden im Folgenden als Praktiken bezeichnet. Mit dieser Bezeichnung betone ich nicht nur die besagte Verknüpfung von Handlungen, eine Teildefinition, die z. B. bei Schatzki zu finden ist (vgl. Schatzki 1996: 89), sondern hebe auch das hervor, was in praxeologischen Ansätzen – im Gegensatz zu früheren Handlungstheorien – rehabilitiert wird: den Stellenwert von Körper und Dingen.16 So schreibt Andreas Reckwitz, dass Praxistheorien Körper und Artefakte »als notwendige Bestandteile des Sozialen« (Reckwitz 2003: 282) integrieren. Der Blick auf die Praktiken in der WzT soll das Transformieren beschreibbar und analysierbar machen. Da es Ziel dieser Studie ist, das Transformieren möglichst vielseitig zu ergründen, werden nicht nur die Praktiken in ihren Handlungsformen beschrieben, so wie es praxeologische Ansätze tun (vgl. Elias u. a. 2014: 4), sondern es interessieren auch die Deutungs- und Bedeutungszuschreibungen der involvierten Akteur_innen; und somit auch deren Handlungsintentionen. Der WzT liegt ein therapeutisches Ziel zugrunde. Die Intervention ist also ein stark intentionales und zielgerichtetes Geschehen. Und diese Intentionalität ist Teil der Binnenperspektive der involvierten Akteur_innen – jene Perspektive, die mit einer ethnografischen Forschungshaltung erfasst werden soll.
16 Einen Überblick über die Entwicklungen von früheren Handlungstheorien zu neueren praxeologischen Ansätzen bietet der Aufsatz von Andreas Reckwitz »Toward a Theory of Social Practices« (Reckwitz 2016).
Praktiken in der WzT: ein mehrperspektivischer Blick
2.1
35
Die Hauptpraktiken in der WzT
Die Analyse der Transformation orientiert sich an sieben Praktiken, die die Therapie in ihrer Konzeption strukturieren. Durch das zirkuläre methodische Vorgehen und die ethnografische Offenheit hat sich die Auswahl der Praktiken im Verlauf der Datenerhebung und Analyse leicht verändert respektive spezifiziert. Einen Überblick über diese Entwicklung bietet die Tabelle 2 auf S. 62. Die Praktiken lassen sich durch die Veränderung von Sozialform, Setting und/ oder der drei zuvor beschriebenen Dimensionen voneinander abgrenzen. Die folgende Tabelle fasst die Praktiken mit den involvierten Akteur_innen zusammen. Handelt es sich um Akteur_innen, die zwar involviert sein können, jedoch gemäß der Konzeption nicht müssen, stehen diese in Klammern. Hauptpraktiken Anbieten
Akteur_innen Therapeut_in; Patient_in; (Angehörige)
Interviewen und Erzählen Therapeut_in; Patient_in; (Angehörige); (Transkribierende) Transkribieren Transkribierende Editieren Vorlesen Übergeben Lesen und Besitzen
Therapeut_in Therapeut_in; Patient_in; (Angehörige) (Therapeut_in); (Patient_in); (Angehörige) Angehörige
Tabelle 1: Praktiken in der WzT
Die Praktiken in der WzT formen nicht nur die Erzählung, sondern auch die damit verbundenen weiteren Handlungen. Denn im Handeln wird die Erzählung verändert, womit sie neue Handlungsmöglichkeiten schafft und andere hinter sich lässt. Diese Form der Veränderung und des Veränderns beschreibe ich als Transformation und Transformieren. Im Folgenden wird nun der besagte mehrperspektivische Blick auf die Praktiken genauer erläutert. Es sind deren Vollzug, deren Manifestation sowie deren Beschreibung und Deutung durch die Handelnden selbst, die den Blick zu einem mehrperspektivischen werden lassen.
2.2
Drei Perspektiven: Vollzug – Manifestation – Binnenperspektive
Um das Transformieren der generativen Erzählungen umfassend zu beschreiben und zu analysieren, habe ich mit einer Methodentriangulation gearbeitet, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit den Praktiken in der WzT auseinandersetzt. Die erste Perspektive beleuchtet die Praktiken in ihrem Vollzug, in ihrem performativen Hervorbringen. Mit Vollzug meine ich die Handlungsabläufe der
36
Dimensionen und Praktiken
jeweiligen Praktiken, die Verortung in Raum und Zeit sowie die Körper-LeibInteraktion mit den involvierten Dingen und Akteur_innen. Aus forschungsethischen und -praktischen Gründen konnte ich nicht alle Praktiken in ihrem Vollzug beobachten. Ausgeschlossen waren das Transkribieren, das Editieren, das Übergeben und das Lesen durch die Angehörigen. Da es sich bei einzelnen Praktiken um Formen handelt, die in eine manifestierte Erscheinung münden, d. h. andauernd verfestigt bleiben, sind auch diese Manifestationen Gegenstand der Analyse. Zu nennen sind dabei drei Praktiken: das Erzählen, das in einer Audiodatei festgehalten wird17, das Transkribieren, das sich in einer schriftlichen Transkription niederschlägt, und das Editieren, das in einen editierten Text mündet. Bei den anderen Hauptpraktiken bleibt diese zugängliche Manifestation aus, handelt es sich doch z. B. beim Vorlesen um eine Handlung, die flüchtig ist und nur in ihrem Vollzug erscheint, denn »[k]aum gesprochen, ist ein Laut auch schon verschwunden« (Kolesch/Krämer 2006b: 7). Da es sich bei den manifestierten Erscheinungen der Praktiken um schriftliche, zu lesende Sprachzeugnisse handelt, interessiert die Affordanz (vgl. Fn. 12) dieser Erscheinungen als Angebot verschiedener Lesarten. Performative Ereignisse, auch solche in der WzT, sind nicht »bloß Vorgänge und Vollzüge, vielmehr wahrgenommene Vorgänge und wahrgenommene Vollzüge« (Kolesch/Krämer 2006b: 10). Dieses Wahrnehmen macht ein Reflektieren, ein Darübersprechen, ein Sicherinnern, ein Spüren möglich. Auch die manifestierten Praktiken als Formen von Text werden wahrgenommen. Dabei sind die besagten Affordanzen »immer relativ zum Wahrnehmenden« (Gibson, zit. bei Contzen 2017: 320). So handelt es sich bei der Affordanz der schriftlichen Transkripte und editierten Dokumente um »ihre situativ bemessenen Handlungsmöglichkeiten« (Gibson, zit. bei ebd.: 320) und diese unterscheidet sich je nach Rezipient_in. Weil es sich in der WzT also um Praktiken handelt, die in ihrem Vollzug und in ihrer Manifestation von unterschiedlichen Akteur_innen wahrgenommen werden, interessiert in dieser Studie auch die Binnenperspektive dieser Akteur_innen. Darin kommen Intentionen und Deutungen zur Sprache, denn die WzT ist als Therapie ein intendiertes Geschehen, in dem auch Intentionen anderer (Patient_innen) erkannt und gedeutet werden sollen. Wenn in der vorliegenden Studie von Intentionen und Wirkungen gesprochen wird, dann stehen dabei stets in einem spezifischen Interaktionssetting versprachlichte und zugeschriebene Intentionen und Wirkungen im Fokus. Es geht dabei also, im Sinne der qualitativen Forschung, um die »subjektiven Sichtweisen und Deu17 Wie bereits in der Einleitung erwähnt, hatte ich aus forschungsethischen und -rechtlichen Gründen keinen Zugang zur Audiodatei, was bedeutet, dass ich die Praktikform des Erzählens nur in ihrem Vollzug und im Reden über diesen Vollzug (Interviews mit den Akteur_innen) analysieren konnte.
Praktiken in der WzT: ein mehrperspektivischer Blick
37
tungsmuster« (Flick 2013: 20) der Patient_innen, Therapeut_innen, Transkribierenden und lesenden Angehörigen; folglich darum, wie sie Intentionen und erfahrene Wirkungen benennen und deuten.
2.3
Die generative Erzählung als Ko-Konstruktion
In der WzT sind verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Funktionen beteiligt. Durch die beschriebenen Praktiken gestalten sie das Erzählen und die generative Erzählung als schriftliches Artefakt. Aufbauend auf dieser Tatsache, beschreibe ich die generative Erzählung in ihrem Vollzug und in ihrer Produktion als Ko-Konstruktion. Auf dem Weg zum schriftlichen Generativitätsdokument wird dieses Ko immer wieder neu gestaltet und ausgehandelt. Es entwickelt sich zu einer komplexen Vernetzung von Ko-Erzählenden und Ko-Autor_innen. Ich verstehe die Therapeut_innen im biografisch-narrativen WzT-Interview in Anlehnung an Gene Lerner (1992) sowie Janet Bavelas (2000) und Kolleg_innen als Ko-Erzählende18, denn ein Interview ist immer ein gemeinsames Gestalten. So schreiben Anna de Fina und Alexandra Georgakopoulou: »Narratives told within interviews are clear examples of co-constructed texts since interviewers often try to get respondents to develop certain parts of their stories either by asking for elaboration of by prompting evaluations of events and characters.« (Fina/Georgakopoulou 2012: 96) Weiter fahren sie fort: »Similar considerations apply to narratives told in therapeutic settings, since analysts follow their own agenda in trying to bring about certain changes in their patients’ psychological states.« (Ebd.: 96) Nun wird das WzT-Interview auch verschriftlicht: Es wird transkribiert und editiert. Damit kann der entstehenden generativen Erzählung auch eine Autorschaft zugeschrieben werden, die jedoch nicht aus einem/einer Autor_in besteht. Um für die komplexe Autorschaft vorempirisch zu sensibilisieren, ziehe ich den bei Monika Fludernik zitierten Autorbegriff nach Harold Love heran. Mit seiner Differenzierung kann der transkribierenden Person eine »executive« Autorschaft zugewiesen werden, ist sie doch zuständig für die Primärfassung des Textes. Beim Editieren verändern dann die Therapeut_innen diese Fassung und schreiben in Form der »revisionary« Autorschaft den Text um. Schließlich bekommen auch noch die erzählenden Patient_innen die Chance, diese »revisionary« Autorschaft zu erlangen, nämlich nach dem Vorlesen, wenn sie nochmals Änderungen am Text vornehmen können (vgl. Love 2002: 40–50, zit. bei Fludernik 2013: 25f.).
18 Lerner spricht von »co-teller« (Lerner 1992: 247) und Bavelas u. a. von »co-narrators« (Bavelas u. a. 2000: 941).
38
Dimensionen und Praktiken
Patient_innen und Therapeut_innen haben im Verlauf der WzT eine doppelte Rolle – als Ko-Erzählende und Ko-Autor_innen. Mit der Verschriftlichung kommt es zu Verschiebungen bzw. neuen Aushandlungen und es stellt sich die Frage, wo die Ko-Konstruktion markiert und entmarkiert wird.
III.
Ethnografische Forschung in einem »vulnerablen« Feld
Das Forschungssetting Palliativstation, in dem Leben, Sterben, Tod, Trauer, aber auch Autonomie, Wünsche, Entscheidungen und verschiedene Erwartungen aufeinanderprallen, kann als vulnerables, sensibles und aufgrund des institutionellen Settings auch als systembedingtes hierarchisches Feld beschrieben werden. Weil das geplante Forschungsvorhaben durch jeweilige Ethikkommissionen geprüft und verweigert oder genehmigt wird, ist das Forschen in diesem Feld auch ein stark vorgebahnter Prozess. Vulnerabel, sensibel, hierarchisch und vorgebahnt sind nur vier Eigenschaften dieses spezifischen Forschungsfeldes. Ich diskutiere sie prioritär, weil ich sie in meinem Forschungsalltag als besonders herausfordernd erlebt habe.19 Vulnerabel ist es deshalb, weil darin Menschen agieren, die verwundbar sind, und dies nicht nur in Bezug auf die genuin humane Verwundbarkeit als »eine grundlegende menschliche Eigenschaft« (Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften 2015: 72), sondern auch bezüglich einer Verwundbarkeit, die speziellen Bedingungen geschuldet ist. Menschen, die auf Pflege angewiesen sind, erfüllen diese speziellen Bedingungen (vgl. ebd.: 72). Nun kann die Erkenntnis, dass gewisse Menschen besonders vulnerabel sind, zu einer »paternalistischen Überbeschützung« führen (Schulz 2013: 89). Schulz plädiert deshalb dafür, »die Achtung vor der Autonomie des Patienten und den fürsorglichen Umgang mit dem Patienten in seiner Vulnerabilität im Zeichen einer Diversität koexistieren zu lassen« (ebd.: 89). Gerade diese angestrebte Koexistenz von Autonomie und durch Vulnerabilität bedingte Fürsorge als eine Balance zwischen Zumutung und Schutz führt nicht nur in der Pflege und Begleitung zu Herausforderungen, sondern auch in der Forschung. Daher ist die Auseinan19 Auch wenn ich prioritär auf die Herausforderungen des Feldes eingehe, heißt das nicht, dass das besagte Feld nicht auch bereichernd für Forschende sein kann. Die Bereicherung kann aber nicht an feldspezifischen Gegebenheiten festgemacht werden, sondern nur am subjektiven Empfinden der Forschenden. Mich hat das Feld in hohem Maße bereichert und mich dahingehend privilegiert, nicht nur für das Forschungsprojekt Erkenntnisse gewonnen zu haben, sondern auch für mein ganz persönliches Leben.
40
Ethnografische Forschung in einem »vulnerablen« Feld
dersetzung mit vulnerablen Feldern immer auch sensible Forschung. Barbara Johnson und Jill Macleod Clarke beschreiben in ihrem Aufsatz »Collecting Sensitive Data: The Impact on Researchers« (2003) Forschung als »sensitive«, weil sie »ethical and moral issues as well as concerns and problems for the research design« (Johnson/Clarke 2003: 423) generiert. Schwierigkeiten, wie sie Johnson und Clarke beschreiben, sind jedoch nicht nur auf die Verwundbarkeit der Forschungspartner_innen zurückzuführen, sondern auch auf die Verwundbarkeit der Forschenden, die ebenfalls Teil des Feldes sind. Und diese eigene Verwundbarkeit habe ich während meiner Forschungszeit erfahren. So möchte ich mich in Anlehnung an Ruth Behars Essaysammlung »The vulnerable Observer« (1996)20 als vulnerable Forscherin bezeichnen und damit meine genuin humane Verwundbarkeit – um es nochmals mit den Worten der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) zu sagen – als »eine grundlegende menschliche Eigenschaft« (Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften 2015: 72) reflektieren. Herausfordernd ist das Feld Palliativstation auch deshalb, weil es sich dabei um ein institutionelles Setting handelt. Das Forschen in Institutionen fordert ein Eingliedern in ein System, in dem eine hierarchische Rollenverteilung existiert. Unterschiedliche Fremd- und Selbstwahrnehmung, aber auch Fremd- und Selbstpositionierung fordern diese Eingliederung heraus. Für Patient_innen sind Forschende, die weder dem medizinischen, pflegerischen noch dem therapeutischen Personal angehören, schwer in das System einzuordnen, gerade auch deshalb, weil die Rolle solcher Forschenden oft eine sehr dynamische ist. Die Teilhabe an verschiedenen Settings und das Begleiten diverser Berufsgruppen im Stationsalltag – teilweise auch verbunden mit dem Tragen unterschiedlicher Arbeitskleidung – können auf Seiten der Patient_innen, aber auch bei den Mitarbeitenden zu Irritationen führen. Abschließend steht das Forschen als vorgebahnter Prozess im Zentrum. Diese Eigenschaft ist von Bedeutung, weil sie sich zu der in der Ethnografie angestrebten Offenheit und Flexibilität sowie dem Feldopportunismus konträr verhält. Vorgebahnt ist die Forschung in einem Feld wie der Palliativstation deshalb, weil der Forschungsplan vorab von einer Ethikkommission geprüft wird. Forschende können nicht beliebig ihre Methoden und ihr Sampling expandieren. Sie 20 Die Anthropologin Ruth Behar konzipiert in ihrem Werk Theorie und Praxis einer humanistischen Anthropologie. Dabei reflektiert sie ihre Feldforschung in Spanien, Kuba und den Vereinigten Staaten, indem sie sich selbst in ihre Forschung einschreibt, ihren eigenen Emotionen Raum gibt und sich so selbst zum Forschungsgegenstand zählt. Im Zuge dessen geht es ihr nicht darum, dass »Forschende mit ihrer Subjektivität zum Dreh- und Angelpunkt der Ethnografie werden« (Hegner 2013: 203), wie Victoria Hegner mit Bezug auf Behar schreibt, sondern darum, die Subjektivität zuzulassen und »in reflektierter Weise explizit« (ebd.) zu machen.
Ethnografische Forschungshaltung
41
sind in gewissem Maße an den geprüften Studienplan gebunden und schulden der Ethikkommission Rechenschaft. Dass ethnografische Forschung entgegen dieser Restriktion dennoch möglich ist, erläutere ich auf den folgenden Seiten.
1
Ethnografische Forschungshaltung
Mittlerweile gilt allgemein, dass Ethnografie nicht eine Methode, sondern eine »Haltung« (Breidenstein u. a. 2015: 8), »Strategie« (ebd.: 8) oder ein »Programm« bezeichnet (Knoblauch/Vollmer 2019: 599). Ethnografie bezieht sich nicht nur auf die Erhebung oder Auswertung von Daten, sondern auch auf den gesamten Forschungsprozess vom Themeninteresse bis zur Erkenntnissicherung. Die Spezifizierungen seit den 80er Jahren – eine Reaktion auf die Krise der Repräsentation – zeigen auch, dass es die Ethnografie nicht gibt (ebd.: 600). Was die vorliegende Studie als Ethnografie charakterisiert, fasse ich in vier Punkten zusammen. Mein Erkenntnisinteresse orientierte sich an einem beschreibend-verstehenden (1) Ansatz. Dessen Gegenstand bildeten Praktiken und Prozesse (2) innerhalb eines bestimmten Kontextes. Die Beschreibung dieser Phänomene geschah jedoch nicht aus der Ferne, sondern, sofern möglich, in Form der Teilnahme (3) als »synchrone Begleitung lokaler Praktiken« (Breidenstein u. a. 2015: 41). Dabei geht es – und diesen Punkt zählen Breidenstein und Kolleg_innen zu den Markenzeichen der Ethnografie – um eine »andauernde unmittelbare Erfahrung« (ebd.: 36). Die Beschreibung und das Verstehen von Praktiken und Prozessen in der Form einer Teilnahme fokussierten dabei auf die Innen- und Binnenperspektive der Akteur_innen (4). Das von mir aufgesuchte Feld, auf dem diese Studie basiert, ist zum einen die Palliativstation respektive das palliative Setting und zum anderen die WzT als Ansammlung von Praktiken im Feld der Palliativstation. Im Verlauf des Forschungsprozesses habe ich beide Felder beobachtet und beschrieben, habe in ihnen agiert und daran teilgenommen. Beide Felder treten an unterschiedlichen Punkten im Forschungsprozess in Erscheinung. Dabei sind die zwei Feldbeschreibungen nicht in gleichem Maße zugänglich und sichtbar für die Lesenden dieser Studie. Die dargelegten Erkenntnisse auf den folgenden Seiten zeigen, dass das palliative Setting, in dem ich insgesamt fünf Monate verbracht habe, nur rudimentär in der Analyse und Erkenntnisdarstellung auftritt, da der Fokus sehr ausgeprägt auf der WzT lag. Doch unter Forschungsprozess verstehe ich nicht nur Datenerhebung, Analyse und Niederschrift, sondern auch all das, was die Datenerhebung überhaupt erst ermöglicht: technisch, zeitlich, aber auch innerpsychisch und sozial. Auch wenn das von mir Beschriebene und Beobachtete auf den Palliativstationen nicht direkt in die Analyse integriert wurde und somit für
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Ethnografische Forschung in einem »vulnerablen« Feld
die Lesenden dieser Studie auch nicht zugänglich ist und sein muss, war es doch für mich ein wichtiger Teil des Forschungsprozesses. Denn nur durch diese Erfahrungen und Erlebnisse im Umgang mit den diversen Akteur_innen und dem Setting war für mich ein Agieren innerhalb und rund um die WzT möglich. In der Einleitung dieses Kapitels habe ich das Feld als vorgebahnt beschrieben; eigentlich ein Widerspruch zur in der Ethnografie geforderten Offenheit. So sprechen Breidenstein und Kolleg_innen vom »Methodenopportunismus« als weiterem Markenzeichen einer Ethnografie. Sie halten fest: Methoden sind nicht eine Frage von erlaubtem und verbotenem Tun, sondern eine Frage, wie man sich erfolgreich einem Feld anpasst. Nicht die Logik der Forschung, sondern die gelebte Ordnung des Feldes erfordert bestimmte Verhaltens- und Beobachtungsweisen. Es ist der Gegenstand selbst, der ein bestimmtes methodisches Vorgehen und mitunter methodische Strenge erfordert. (Breidenstein u. a. 2015: 38)
Weiter führen sie aus, dass das methodische Vorgehen im Sinne des Methodenopportunismus »nicht durch externe Vorschriften reguliert, sondern vom erfahrbaren Geschehen erwartet« (Breidenstein u. a. 2015: 39) wird. Nun war die vorliegende Studie durchaus reguliert von »externen Vorschriften«, musste doch ein Studienplan bei den verantwortlichen Ethikkommissionen eingereicht und teilweise auch überarbeitet werden. Ein spontanes situatives Anpassen des methodischen Vorgehens im Feld war also nicht möglich. Doch, und nun eröffne ich eine neue Perspektive auf den (scheinbar) fehlenden Feldopportunismus: Ist nicht gerade die Regulation durch die Ethikkommission Teil des Feldes? Könnte diese Einschränkung nicht gerade auch Ausdruck eines Opportunismus sein? Hierzu ziehe ich nochmals das Zitat von Breidenstein und Kolleg_innen heran: »Nicht die Logik der Forschung, sondern die gelebte Ordnung des Feldes erfordert bestimmte Verhaltens- und Beobachtungsweisen. Es ist der Gegenstand selbst, der ein bestimmtes methodisches Vorgehen und mitunter methodische Strenge erfordert.« (Ebd.: 38) Dass Ethikkommissionen Forschungstätigkeiten in vulnerablen Feldern prüfen, ist Teil der »gelebte[n] Ordnung des Feldes« und sagt einiges über das Feld selbst aus. Dieses Feld fordert ein vorgebahntes methodisches Vorgehen, dennoch ist innerhalb der einzelnen Methoden Offenheit möglich. Eine psychologische Kurzintervention mit einer ethnografischen »Erkenntnishaltung« zu ergründen, mag auf den ersten Blick verwirren, gerade weil ein zeitintensives und lang andauerndes Agieren im zu ergründenden Feld charakteristisch für die Ethnografie ist. Doch dieses zeitintensive Agieren hat auch in der vorliegenden Studie stattgefunden; weniger mit dem Ziel, analytische Kategorien herauszuarbeiten, sondern vielmehr, um den Zugang zur WzT erst zu ermöglichen.
Selbstreflexion und Subjektivität
2
Selbstreflexion und Subjektivität
2.1
Oszillieren zwischen Introspektion und Zurücktreten
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Von »eigener Vulnerabilität« zu sprechen, schafft Raum für Subjektivität, bedingt Subjektivität. Indem ich über diese Vulnerabilität als Subjektivität spreche und sie auf den folgenden Seiten sichtbar mache, ihre Wege und Umwege erläutere, führe ich das fort, was ich während des gesamten Forschungsprozesses immer wieder angestrebt habe: Reflexivität. Sie ist eines der Qualitätskriterien qualitativer Forschung und wird dabei nicht als »eine zu kontrollierende bzw. auszuschaltende Störquelle verstanden« (Flick 2013: 23), sondern »als ein wesentlicher Teil der Erkenntnis« (ebd.). Reflektieren ist dabei als Prozess zu verstehen: Reflexivity is more than a reflection on the research process, it is an active critical engagement in a cyclical ongoing process which requires an exploration of yourself, your values and biases as they inform the data collection and social processes used, but equally of the environment and processes within which the research is taking place. Indeed this material is in itself data. (Sheldon/Sargeant 2007: 166)
Die Notwendigkeit der Selbstreflexion in der qualitativen Forschung geht auf die Annahme zurück, dass Subjektivität in einem interaktionistischen Forschungsansatz nicht verhindert werden kann, aber auch nicht eliminiert werden soll, ist sie doch ein erkenntnisstiftendes Instrument (vgl. Mruck/Breuer 2003; vgl. Bereswil 2003). Hinter dieser Fruchtbarmachung stehen verschiedene Ansätze, die zu unterschiedlichen Formen des Erkenntnisgewinns führen können. Zu nennen sind hier insbesondere der sozialkonstruktivistische Zugang nach Alfred Schütz (Schütz 1971) und der psychodynamische Ansatz, der auf Georg Devereux und dessen Plädoyer für die »Wiedereinführung des Beobachters« (Devereux 1992: 52) zurückzuführen ist. Bei Alfred Schütz wird die Interaktion mit den Forschungspartner_innen zum wesentlichen Reflexionsgegenstand. Dabei richtet sich der Fokus auf die »Konstruktionen zweiten Grades« (Schütz 1971: 7). Darunter versteht Schütz die Annahme, dass sozialwissenschaftliche Forschung immer konstruierte und interpretierte Konstruktionen untersucht. Im Gegenzug dazu steht bei den psychodynamischen Ansätzen nicht nur die Intersubjektivität im Zentrum, sondern vor allem auch die Intrasubjektivität. Subjektivität wird als »Beziehung zwischen Subjekten und als Beziehungsdynamik im Subjekt, die in alltägliche Interaktionsprozesse zurück wirkt« (Bereswil 2003: 515) gesehen. Mechthild Bereswil, die beide Ansätze gegenüberstellt, erkennt das Potential des psychodynamischen Zugangs »in seiner Aufmerksamkeit für die irritierenden, irrationalen und brüchigen Seiten von Forschungsbezie-
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Ethnografische Forschung in einem »vulnerablen« Feld
hungen und im systematischen Umgang mit den Gefühlen der Forschenden« (ebd.: 515). So werden »nicht nur Vorgänge zwischen Personen, sondern Vorgänge in der eigenen Person […] zum Objekt der Beobachtung« (ebd.: 518). Selbst- reflexion wird also zur Introspektion. Sowohl der interaktionstheoretische als auch der psychodynamische Ansatz betonen die Notwendigkeit der Selbstreflexion. Während im ersten Ansatz die Gefahr besteht, sich als scheinbar affektlose Forscher_inneninstanz zu positionieren, kann der zweite Ansatz im Extremfall zu einer »subjektiven Selbstüberschätzung« (ebd.) führen, in dem das Andere vor lauter Eigenem nicht mehr erkannt wird. In meinem Forschungsalltag habe ich realisiert, dass ein Oszillieren zwischen beiden Ansätzen für mich die fruchtbarste Herangehensweise ist. Es braucht Selbstreflexion durch ein Zurücktreten und Selbstreflexion durch Introspektion. Gerade die Introspektion ermöglicht das Reflektieren eigener affektiver Regungen. Sie soll als Werkzeug erkannt, respektiert und reflektiert werden, das einen »mehr sehen lässt als andere, einem mehr Energie zur Verfügung stellt, sei es aus Neugier oder sei es aus Wut, sich mehr als andere mit etwas zu beschäftigen. Subjektivität ist ein machtvoller Motor und somit eine wichtige Voraussetzung« (Reichertz 2015: 50). Auch wenn ich die Subjektivität als »machtvollen Motor« anstrebte, war sie das in meiner Forschungszeit keinesfalls immer. Manchmal wirkte sie lähmend, befremdend und ermüdend. Rückblickend auf meine Forschungszeit war aber auch diese Seite fruchtbar. Das Oszillieren zwischen dem »machtvollen Motor« und der lähmenden Bremse, das ich nicht als bewusstes Oszillieren respektive Wandeln anstrebte, sondern erst im Nachhinein als solches erkenne, macht Bewegung möglich. Im Folgenden sollen Herausforderungen aus meinem Forschungsalltag wiedergegeben werden. Denn gerade »wenn sich Handlungskrisen oder subjektive Konflikte zeigen, die den reibungslosen Ablauf von Interaktionen und Beziehungen irritieren« (Bereswil 2003: 517), kann das Potential der Selbstreflexion ausgeschöpft werden (vgl. ebd.: 517).
2.2
Herausforderungen im Forschungsalltag: zwischen Macht und Ohnmacht
»Was ich im Feld sehe, was mich berührt, was mich anekelt und was ich schließlich für beachtenswert halte, das verdankt sich letztlich meiner Subjektivität.« (Reichertz 2015: 13) Doch die Erkenntnis, wie wir es ihr verdanken, entgleitet oft und schnell. Reflexions- und Gedächtnisstütze kann das Forschungstagebuch sein. Im Schreiben wird das Tagebuch selbst zum Datenmaterial, ist somit selbst nur Ausschnitt und Konstrukt. Auf den folgenden Seiten werde ich auf dieses Tage-
Selbstreflexion und Subjektivität
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buch zurückgreifen, um meine inneren Konflikte und Unruhen, Freuden und meine Leere ausschnittsweise nachvollziehbar zu machen. Die Herausforderungen fasse ich mit »zwischen Macht und Ohnmacht« zusammen, weil ich diese Pole immer wieder auf unterschiedlichen Ebenen erlebt habe. Als Erstes gehe ich auf die Herausforderung »Faktor Zeit« ein. Forschen ist immer auch Zeitplanung, und nicht selten haben wir als Forschende das Bedürfnis nach mehr Zeit; mehr Zeit für die Datensammlung: mehr Zeit für die Analyse, mehr Zeit für das Schreiben. Im Kontext Lebensende erscheint das Thema »Zeit« nochmals in gänzlich neuen Dimensionen. Während meines Forschungsaufenthaltes auf den drei Palliativstationen mussten die geplanten WzT-Sitzungen mit den Patient_innen aufgrund von Müdigkeit und Verschlechterung des Krankheitsverlaufs teilweise immer wieder verschoben oder ganz abgesagt werden. Es war aber nicht nur die Krankheit der Patient_innen, die Einfluss auf die Planung hatte, sondern auch jenes Letzte, nicht Hintergehbare: der eingetretene Tod. Das Wissen um die knappe Zeit, die schwindenden Kräfte der Forschungspartner_innen und die ohnehin schon wenigen Patient_innen, die aufgrund der zeitlichen Ressourcen auf Therapeut_innenseite an der WzT teilnehmen konnten, machten es schwierig, das angestrebte Sampling zu erreichen. Weil hinter dem äußerst technischen Ausdruck »Sampling« Menschen stehen, die dem Tod entgegengehen, nicht wissend, ob es sich noch um Tage oder Wochen handelt; Menschen, die nicht selten von körperlichen, seelischen und existentiellen Schmerzen durchdrungen sind. Ein Verschieben ist dann, in naher und weiter Zukunft, nicht mehr möglich, weil jenes Ende eintritt, das zumindest ein geteiltes bewusstes Zeiterleben nicht mehr möglich macht. Die Herausforderung auf der Ebene der zeitlichen Planbarkeit entstand auch durch das Eingebundensein in ein institutionelles Setting. Gerade die Terminfindung für die Interviews mit den Therapeut_innen gestaltete sich schwer, war ihr Terminkalender ohnehin schon sehr voll. Aber auch die verschiedenen Therapien und Untersuchungen machten es teilweise schwierig, einen Zugang zu den Patient_innen zu finden. Forschen in einer Institution wie dem Krankenhaus ist immer eine Handlung, die in der Prioritätenliste hinter Therapien, Gespräche und Intervention rückt. Diese nachvollziehbare Priorisierung und Hierarchisierung der eigenen Forschungstätigkeit in einem System aus verschiedenen Akteur_innen führte zu einem massiven Hinterfragen meiner eigenen Forschungstätigkeit: Ist meine Forschung überhaupt wichtig? Stehle ich meinen Forschungspartner_innen nicht Zeit und Kraft? Dieses Hinterfragen führte auch zu einem Vergleich mit den aus meiner Sicht existentiellen Handlungen. Und dieser Vergleich aktivierte das innige Verlangen, auch wie die Pflegenden und Ärzt_innen direkt und sichtbar zu helfen. Der ethisch notwendige Passus in den von mir konzipierten Proband_inneninformationen – »[d]urch die Teilnahme an der Studie entsteht für Sie kein direkter Gesund-
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heitsnutzen. Die Studie dient der Forschung« – verstärkte mein Hinterfragen noch mehr. Dieses Dilemma formuliert auch der bereits zitierte »Leitfaden für die Praxis – Forschen mit Menschen« der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften: Die Forschung mit Menschen bringt das Dilemma mit sich, dass sie zwar nach Möglichkeiten sucht, Menschen zu helfen, bei ihrem Vorgehen jedoch nicht primär am Wohl der beteiligten Personen, sondern an verallgemeinerbarem Wissen orientiert ist. Diese Situation kann relevante Interessen- und Wertekonflikte bei allen Beteiligten mit sich bringen. (Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften 2015: 25)
Das Bewusstsein dieser Tatsache führte bei mir gerade zu Beginn der teilnehmenden Beobachtung auf den Stationen zu einer inneren Zerrissenheit. Hierzu ein Auszug aus meinem Forschungstagebuch: »Ich lege die Mappe zur Seite und frage, ob es okay ist, wenn ich einfach mit der Pflegenden mitlaufen darf. ›Ja, du darfst mein Schatten sein.‹ Ich realisiere, dass ich nicht nur Schatten sein möchte, sondern auch teilnehmend und vor allem helfend agieren möchte.« (FT2) Ich war froh, dass ich nach den ersten Stunden kleinere Aufgaben – Austeilen der Mahlzeiten, einfache Körperpflege, Botengänge und Hilfe bei der Mobilisation – übernehmen konnte. Diese Teilnahme am Geschehen und somit auch die Verlagerung bzw. Erweiterung meines Aufgabenfeldes halfen dabei, mich für einige Momente als direkt Helfende zu erleben. Die innere Zerrissenheit blieb, wurde aber immer mehr aushaltbar, gerade auch weil mir jene Schlussfolgerung, die im Leitfaden der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften formuliert ist, immer mehr bewusst wurde: Je mehr man sich der Forschung mit vulnerablen Menschen entzieht, desto vulnerabler werden sie (vgl. Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften 2015: 74). Neben dem herausfordernden Umgang mit den zeitlichen Ressourcen und den geschilderten Selbstzweifeln machten sich bei mir auch Schuldgefühle bemerkbar. So gab es während der Interviews, die ich mit den Forschungspartner_innen führte, oft kleine innere Erfolgsmomente, in denen ich dachte: »Das kann ich gebrauchen! Das passt super in mein Konzept!« Diese Gedanken führten dann jedoch zu Gefühlen, die auch Kim Etherington21 teilt: As I listened to some of these stories with my ›researcher ears‹, I became uncomfortable when I realized that I was thinking this is really good stuff! For some researchers, this sense of excitement when they obtain data from people is often in stark contrast with their ethics about ›using‹ people for research purposes. (Etherington 1996: 347)
Das Gefühl der »using people« ist auch mit der Frage nach meiner Rolle im Feld verbunden. Wer bin ich? Als welche Person begegne ich meinen Forschungs21 Etheringtons (1996) Reflexionen stammen u. a. aus ihrer Interviewstudie über die Perspektive erwachsener junger Männer auf ihre Missbrauchserfahrungen in der Kindheit.
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partner_innen? Welche Rolle legitimiert mein Handeln? Hierzu möchte ich die »Namensschildepisode« schildern. Die Konfrontation mit der Komplexität meiner Rolle begann bereits am ersten Tag auf der Palliativstation: Ankunft im Büro der Therapeutin. Ich werde herzlich begrüßt und nehme Platz. Die Sekretärin kommt und stellt sich vor. Die Therapeutin erklärt, dass sie mir ein Namensschild machen wollten, jedoch nicht sicher waren, was sie daraufschreiben sollten. Doktorandin, Praktikantin, Hospitantin, Kulturwissenschaftlerin? Welchen Titel? Ich sage, dass auch einfach der Name reicht. Doch die Therapeutin meint, dass schon noch was dazu sollte. Ich schlage ›Hospitantin‹ vor. Die Sekretärin interveniert und meint, dass ich ja schon mehr als eine Hospitantin bin. Hospitantin könne ja jeder sein. Ich habe aber einen Titel. Die Therapeutin fragt, ob ›Doktorandin‹ nicht auch gut wäre. Kulturwissenschaftlerin sei zu lang und zu unverständlich. Ich stimme zu. Die Sekretärin schlägt vor, dass auch der Titel noch dazu soll. ›Das macht sich besser.‹ So gebe ich ihr dann meinen Titel an. ›lic. phil.‹ Nach kurzer Zeit kommt die Sekretärin mit dem Schild wieder. Darauf steht nun: »lit. phil. Andrea Züger – Doktorandin«. Nach diesem überlegten und langen Entscheidungsweg fällt es mir schwer, darauf hinzuweisen, dass es nicht ›lit. phil.‹ heißt, sondern ›lic. phil.‹. Ich tue es dennoch. Die Sekretärin nimmt das Schild und geht zurück ins Büro. Nach wenigen Minuten kommt sie wieder, gibt mir die geänderte Version und ich stecke es an meinen Pullover und beginne schließlich meinen einmonatigen Aufenthalt auf der Palliativstation als ›lic. phil. Andrea Züger – Doktorandin‹. (FT2)
Dieser Auszug aus meinem Forschungstagebuch verdeutlicht die Komplexität meiner Rolle im Feld. Wegen des institutionalisierten Settings bin ich dazu verpflichtet, mich selbst mit einem statischen Namensschild zu beschriften, obwohl meine Rolle im Feld dynamisch war. So übernahm ich an manchen Tagen Aufgaben einer Pflegepraktikantin, an anderen begleitete ich die Psycholog_innen oder Ärzt_innen und trug einen weißen Kittel. Durch das Namensschild wurde auch mein Gegenüber – die Patient_innen, Ärzt_innen, das Reinigungsteam, der Technische Dienst oder die Angehörigen – forciert, mich als »lic. phil. Andrea Züger – Doktorandin« zu sehen. Trotz dieses Namensschildes habe ich mich nie als »lic. phil. Andrea Züger – Doktorandin« vorgestellt. Im Rahmen der teilnehmenden Beobachtung auf der Station stellte ich mich bei den Patient_innen meistens als Hospitantin oder Praktikantin vor. Bei genauerem Nachfragen erklärte ich dann meinen disziplinären Hintergrund. Bei den Patient_innen, Angehörigen und Schreibenden, die direkt in die WzT involviert waren, war mir eine genaue Erläuterung meines Interesses und meines Hintergrundes von großer Bedeutung. Doch oft war es für die Patient_innen schwer zu verstehen, was eine Kulturwissenschaftlerin auf einer Palliativstation macht. Und noch unverständlicher wurde es jeweils, wenn ich erklärte, dass ich die WzTSitzungen nicht beobachte, um mich selbst in der Intervention ausbilden zu lassen, sondern weil ich mich aus forschungssystematischer Perspektive dafür interessiere. Diese Reaktionen der Patient_innen verstärkten meine zuvor be-
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schriebene innere Zerrissenheit weiter. So war es mir ein großes Anliegen, den Patient_innen meine Anwesenheit und mein Interesse an der WzTausführlich zu erklären. Verbunden mit der eigenen Rolle im Feld und dem Eingebundensein in eine Institution mit hierarchischen Strukturen ist die Frage um Wissen und Macht. Ich erinnere mich an eine Patientin, die mehrfach suizidale Handlungen ankündigte. In dieser Zeit war die verantwortliche Stationspsychologin und WzTVerantwortliche krank. Eines Nachmittags stürmte die Ärztin in mein Büro und fragte mich, ob ich der Patientin nicht die WzT anbieten könnte. Man müsse ihr doch irgendwie helfen können. Ich war überrascht, überfordert und antwortete, dass ich die WzT noch nie angeboten oder durchgeführt hätte und dass ich »nur« darüber forschte. Die Ärztin wies mich mit einem vorwurfsvollen Unterton darauf hin, dass ich die Person sei, die alles über die Intervention wisse, diese doch auch durchführen könne und nicht nur darüber forschen solle – wieder ein Schlag in die Kerbe der inneren Zerrissenheit. Und natürlich hatte sie recht. Ich weiß sehr viel über die Therapie, habe Grund- und Aufbaukurs zur Intervention besucht, einigen Therapiesitzungen beigewohnt und kenne die Forschungslandschaft. Ich war überfordert. Hierzu ein Auszug aus meinem Forschungstagebuch: Ich fühle mich geschmeichelt. Sie vertraut mir. Aber kann ich das wirklich machen. Ich weiß sehr viel. Vielleicht kann ich der Patientin so helfen? Aber was ist mit der verantwortlichen Psychologin? Würde sie das gut finden? Aber wenn die Chefärztin mich darum bittet? Und die Ethikkommission? Ich habe in meinem Studienprotokoll nicht geschrieben, dass ich die Therapie selber durchführen werde. Aber auf der anderen Seite: Die Methode der teilnehmenden Beobachtung kann ja in beide Seiten gedehnt werden. Aber wäre das hilfreich für meine Forschungsfrage? Was will wohl die Patientin? Sie weiß, dass ich Kulturwissenschaftlerin bin. Bin ich Expertin oder Laie? Was soll ich tun? (FT3)
Dieser Auszug spiegelt die komplexen Machtstrukturen wider, in denen ich als Forschende agiere, agieren muss. Das Leiden der Patientin führte bei der Ärztin zu einem Hilfewunsch. Sie war jedoch in diesem Moment nicht in der Lage, meine Perspektive zu übernehmen. Durch ihre Macht ermächtigte sie mich, indem sie an mein Wissen und meine ethische Verantwortung appellierte. Das Zusammenspiel von Vulnerabilität, Wissen, Macht, Ermächtigung und Entmächtigung führte bei mir zu einer Unsicherheit und ließ mich meine eigene Rolle hinterfragen. Um mir etwas Zeit zu verschaffen, sagte ich der Ärztin, dass ich erst einmal die Patientin kennenlernen möchte. So suchte ich das Zimmer auf. Auf dem Weg dorthin wurde mir jedoch schon bewusst, dass diese Aufforderung meine Kompetenzen überschreitet und ich nicht bereit bin, die Therapie anzubieten und durchzuführen. Das Gespräch mit der Patientin bestärkte mich in meiner Entscheidung. Ich klopfte an, trat ein und fragte nach ihrem Befinden
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und ob ich etwas für sie tun könnte. Sie antwortete: »Ja. Ich muss das hier alles aushalten. Halten Sie es auch aus.« (FT3) Als Forschende in vulnerablen und sensitiven Feldern müssen wir immer wieder Spannungen aushalten; Spannungen zwischen verschiedenen Erwartungen, Hierarchien und Zielen. Aber Aushalten ist nicht gleichzusetzen mit Passivität oder Verlust von Handlungskompetenz. Frau S. beantwortete meine Frage mit Ja: »Ja, Sie können etwas für mich tun.« Aushalten ist ein aktiver Akt, auch wenn er oft als hilflose Passivität erlebt wird. Nachdem ich ca. 20 Minuten schweigend am Bett der Patientin gesessen hatte, verließ ich das Zimmer, ging zur Ärztin und erklärte ihr, dass es nicht Zeit für WzT sei, sondern Zeit zum Aushalten (vgl. FT3). Alle Patient_innen, die ich in ihrer WzT begleiten durfte, sind mittlerweile verstorben: einige während der Therapie, einige kurz danach, einige Monate später. Menschen gegenüberzusitzen, die in den nächsten Tagen oder Wochen sterben werden, und ihre Lebensgeschichte zu hören, war manchmal schwer zu ertragen und führte teilweise zu einer tiefen Trauer – eine Trauer, die es auszuhalten galt, eine Trauer, die jedoch manchmal auch kommuniziert werden musste. Ich war dankbar, dass ich hierzu in den jeweiligen Institutionen Ansprechpartner_innen hatte, mit denen ich meine Trauer teilen konnte. Neben dieser Trauer erlebte ich die Teilnahme an den WzT-Sitzungen aber auch als großes Privileg, das zu einer tiefen Dankbarkeit führte. Die Erzählungen, die in der WzT entstehen, sind generative Erzählungen, die für ganz bestimmte Menschen gedacht sind. Es sind Erzählungen, die Chochinov »final words for final days« (Chochinov 2012) nennt; Worte, die oft erst dann gelesen werden, wenn der/die Erzähler_in schon verstorben ist.
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»By making our biases, values and prior knowledge explicit, there is a greater transparency to the process of data collection and interpretation.« (Sheldon/ Sargeant 2007: 168) Um diese Transparenz zu gewährleisten, fasse ich im Folgenden mein Vorwissen und den Zugang zum Feld zusammen. Das Wissen, das ich an das Forschungsprojekt herangetragen habe, setzte sich aus verschiedenen Komponenten und Quellen zusammen. Was ich hier aufführe, ist jedoch immer rudimentär und ausschnitthaft, kann ich doch gerade auf unbewusstes Vorwissen nicht zugreifen. Explizit und bewusst habe ich mir Vorwissen zur WzT angeeignet, indem ich das Buch von Harvey Max Chochinov »Dignity Therapy. Final Words for Final Days« (2012) gelesen habe. Aufmerksam auf dieses Buch wurde ich durch den Hinweis eines Kollegen, der von meiner Suche nach einem Dissertationsthema und meinem Interesse für das Erzählen in seiner facetten-
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Ethnografische Forschung in einem »vulnerablen« Feld
reichen Form wusste. Motiviert durch diesen Hinweis, widmete ich mich Chochinovs Ausführungen. Nach der Lektüre habe ich mich entschieden, ein Forschungsprojekt zu initiieren. Durch gezielte Recherche kam ich in Kontakt mit dem Robert-Bosch-Krankenhaus (RBK) in Stuttgart und der dortigen Palliativstation. Das RBK war die erste Institution in Deutschland, die die WzT in ihr Behandlungsangebot aufnahm. Von November 2015 bis Januar 2016 konnte ich dort im Rahmen eines Gaststipendiums das Setting Palliative Care und die WzT kennenlernen, eine Forschungsfrage entwickeln und das methodologische Vorgehen akzentuieren. In dieser Phase versuchte ich, gemäß den Worten des Kultursoziologen Roland Girtler, mich mit einer »Demut […] überraschen zu lassen« (Girtler 2001: 19), dem mir Neuen und Unbekannten zu begegnen. Von März 2016 bis August 2016 absolvierte ich dann auf einer Palliativstation in einem Schweizer Krankenhaus ein Pflegepraktikum. Die WzT wurde dort nicht angeboten. Dieses Praktikum war nicht Teil der Datenerhebung und auch nicht explizit Teil meines Dissertationsprojekts. Mit dem Pflegepraktikum verfolgte ich mehrere Ziele: Auf einer ersten Ebene wollte ich meine emotionale Belastbarkeit prüfen und sichergehen, dass ich in der Lage bin, mich über mehrere Monate mit dem Thema Sterben und Tod zu befassen und den diversen Akteur_innen in diesem Feld zu begegnen. Auf einer zweiten Ebene verfolgte ich das Ziel der Kompetenz- und Wissensaneignung. Diese Aneignung schien aus mehreren Gründen sinnvoll und notwendig. Um Zugang zu einem vulnerablen und sensitiven Feld zu erlangen, ist es wesentlich und hilfreich, das Vertrauen der verantwortlichen Personen zu gewinnen. Denn sie sind es, die neben der Ethikkommission ihre Institutionen für Forschende öffnen. Der Verweis auf das Praktikum machte mir den Zugang leichter, konnte ich doch belegen, dass ich bereits erste Erfahrungen im Feld der Palliative Care gesammelt hatte. Zudem übernahm die Kompetenz- und Wissensaneignung für mich eine Eigenschutzfunktion. Ich wollte Wissen und Erfahrungen sammeln, um mich in der Kommunikationsfähigkeit mit schwerkranken Menschen und deren Angehörigen zu schulen und so vor einer Überforderung zu schützen. Das Pflegepraktikum war diesbezüglich eine gute Vorbereitung für die Forschungsaufenthalte auf den Stationen. Durch die Forschungszeit in Stuttgart kam ich in Kontakt mit weiteren Akteur_innen und Institutionen, die sich intensiv mit der WzT im deutschsprachigen Raum beschäftigen. So folgte ein erneuter Forschungsaufenthalt in der Interdisziplinären Abteilung für Palliativmedizin an der Universitätsmedizin Mainz und im Interdisziplinären Zentrum für Palliativmedizin im Universitätsklinikum Würzburg.
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Datenerhebung: triangulatorisch-zirkulär
Die Daten der vorliegenden Studie habe ich mit teilnehmender Beobachtung, problemzentrierten Interviews und informellen Gesprächen erhoben. Das gewonnene Material ergänzte ich mit » natürliche[n] Daten« (Salheiser 2019: 1119), die vom Feld selbst generiert wurden. Dazu zählen die Transkripte der generativen Erzählungen, die editierten Folgeversionen und die Notizen von Therapeut_innen. Das gewählte methodische Vorgehen orientierte sich sowohl an der Forschungsfrage als auch an feldspezifischen Eigenheiten. Ziele waren die Beschreibung der sieben Hauptpraktiken innerhalb der WzT, das Erfassen der binnenperspektivischen Deutung und Bedeutungszuschreibung der Akteur_innen sowie die Manifestation der Praktiken in Form der schriftlichen Generativitätsdokumente (Chochinov 2017: 139). Um diese Ziele zu verfolgen, habe ich das Datenmaterial triangulatorisch und zirkulär erhoben. Die Triangulation setzt sich aus einer Daten- und einer Methodentriangulation zusammen. Die Datentriangulation, d. h. »die Untersuchung desselben Phänomens zu verschiedenen Zeitpunkten, an verschiedenen Orten und Probanden« (Denzin, zit. bei Schründer-Lenzen 2013: 150)22, wurde gewählt, da es nicht möglich war, an einem Standort Daten zu allen sieben Hauptpraktiken zu gewinnen. Um »dasselbe Phänomen« – die Praktiken in der WzT – aus verschiedenen Perspektiven zu beschreiben und dabei auch die Innenperspektive der Akteur_innen zu beleuchten, wählte ich die Methodentriangulation nach Normen Denzin, »best understood as a strategy that adds rigor, breath complexity, richness, and depth to any inquiry« (Denzin 2012: 82). Mit der Triangulation verschiedener Methoden lässt sich die generative Erzählung auch in ihrer Mehrdimensionalität, verstanden als Gefüge aus sprachlich-narrativer, materiellmedialer und körperlich-leiblicher Dimension, erfassen. Nicht zuletzt war der Einsatz verschiedener Methoden auch deshalb gefragt, weil die sieben Hauptpraktiken unterschiedliche Bedingungen mit sich bringen. War z. B. eine teilnehmende Beobachtung, während Angehörige das an sie gerichtete Generativitätsdokument lesen, weder aus ethischer noch forschungspraktischer Sicht möglich und sinnvoll, konnte ich in problemzentrierten Interviews mit den Angehörigen das Lesen der Dokumente dennoch erfassen – in Form einer retrospektiven Versprachlichung. Die Datenerhebung gestaltete sich nicht nur triangulatorisch, sondern auch zirkulär. Zwischen den Forschungsaufenthalten an den verschiedenen Stand22 Die Formulierung »Untersuchungen desselben Phänomens an Probanden« widerspricht meinem Forschungsverständnis. Da ich meine Forschungspartner_innen als eigenständige Personen verstehe, die mit mir in eine Interaktion treten und diese folglich mitgestalten, plädiere ich für die Formulierung »Untersuchung desselben Phänomens mit verschiedenen Probanden«.
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Ethnografische Forschung in einem »vulnerablen« Feld
orten habe ich das erhobene Material jeweils aufgearbeitet und einer ersten Analyse unterzogen, um dann wieder mit einem fokussierten Blick ins Feld zu gehen. Breidenstein und Kollegen nennen diesen Rückzug an den Schreibtisch »analytische Pause« (Breidenstein u. a. 2015: 109), durch die sich »der Ethnograf eine intellektuelle Distanz zu der unmittelbaren Erfahrung des Feldes erarbeitet« (ebd.: 109).23 Die Auswahl der Forschungspartner_innen geschah in Absprache mit den zuständigen Therapeut_innen. Ich vertraute auf ihre Einschätzungen bezüglich Belastbarkeit und möglicher kognitiver Einschränkungen.24 Die so gewonnenen potentiellen Forschungspartner_innen wurden dann wiederum im Modus des »convenience sampling« ausgewählt, was bedeutet, dass ich jene Akteur_innen in die Studie involvierte, die im vorgesehenen Zeitfenster verfügbar waren. Diese Sampling-Strategie wählte ich insbesondere deshalb, weil die Möglichkeit einer Auswahl an potentiellen Forschungspartner_innen nicht gegeben war, wurde die WzT in dem von mir pragmatisch gewählten Erhebungszeitraum doch nur in geringfügigem Maße angeboten und durchgeführt. Aus diesem Grund ist das Sampling auch relativ klein. Es ist aber nicht nur diese forschungspragmatische Perspektive, die das kleine Sampling begründet, sondern auch das leitende Erkenntnisinteresse der Studie. Ziel war es, empirisches Datenmaterial zu generieren, das einen exemplarischen Einblick in alle sieben Hauptpraktiken der WzT gibt – sei es mit Fokus auf deren Vollzug, deren Manifestation oder deren retrospektive Verbalisierung.
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(An)teilnehmende Beobachtung
Da in der vorliegenden Arbeit die Praktiken der in der WzT agierenden Menschen im Zentrum stehen, ist die teilnehmende Beobachtung als eine Form der Datenerhebung naheliegend. Bei der teilnehmenden Beobachtung ist die Annahme leitend, dass durch die Teilnahme an face-to-face-Interaktionen bzw. die unmittelbare Erfahrung von Situationen Aspekte des Handelns und Denkens be-
23 Eine scharfe Trennung von Erhebung und Analyse ist jedoch eine Illusion, denn »[d]ie Analyse beginnt ausdrücklich schon in der Erhebungssituation. Die ethnografische Beobachtung unterläuft in ihrem Bemühen um das Verstehen kultureller Praktiken systematisch die Unterscheidung zwischen Distanzierungen: Strategien der Analyse bloßer Beschreibung und nachträglicher Analyse. Darüber hinaus schlägt sich die Ethnografin ständig mit der Frage herum, was an dem beobachteten Feld eigentlich analytisch interessant ist und auf welche Aspekte und Themen sie sich daher konzentrieren sollte. Dies sind grundlegende analytische Operationen, die oft schon zu weitreichenden Einsichten implizieren – längst bevor die Datenanalyse im engeren Sinne begonnen hat« (Breidenstein u. a. 2015: 109). 24 Die Auswahlkriterien finden sich in Kapitel III.6.
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obachtbar werden, die in Gesprächen und Dokumenten – gleich welcher Art – über diese Interaktionen bzw. Situationen nicht in dieser Weise zugänglich wären. (Lüders 2011: 151)
Gerade mit Blick sowohl auf die materiell-mediale Dimension als auch die Körper-Leib-Dimension der generativen Erzählungen in der WzT ist die teilnehmende Beobachtung sinnvoll, ist doch der Umgang mit Dingen und Körpern oft so »veralltäglicht«, dass ein Sprechen darüber nicht möglich ist. In meiner Studie habe ich die teilnehmende Beobachtung in vier verschiedenen Settings durchgeführt: im Stationsalltag, bei außerstationären Veranstaltungen, während der WzT-Sitzungen (Vorgespräch, WzT-Interview, Vorlesesitzung) sowie am Grund- und Aufbaukurs für angehende Therapeut_innen. Die verschiedenen Settings wurden gewählt, um die Beobachtung über »Fokussierung« und »Perspektivenwechsel« (Breidenstein u. a. 2015: 76) zu intensivieren. Die Ad-hocNiederschriften während der teilnehmenden Beobachtung habe ich in Beobachtungsprotokolle transferiert. Mit der in diesem Abschnitt gewählten Überschrift möchte ich betonen, dass eine teilnehmende Beobachtung in einem Feld, in dem Menschen mit einer lebensbedrohlichen und lebensverkürzenden Krankheit agieren, Sensibilität und Mitgefühl verlangt und so auch zu einer anteilnehmenden Beobachtung wird bzw. werden muss. Alltag auf drei Palliativstationen Insgesamt verbrachte ich fünf Monate auf drei Palliativstationen. Im Winter 2015/2016 begann ich den Aufenthalt auf der Palliativstation im Robert-BoschKrankenhaus (RBK) in Stuttgart. Die Palliativstation des RBK – die erste deutsche Institution, die die WzT in ihr Angebot integrierte – verfügt über zehn stationäre Betten. Sie ist integriert in die Abteilung für Hämatologie, Onkologie und Palliativmedizin. Beim wöchentlichen interdisziplinären Austausch auf der Station kam ich in Kontakt mit den verschiedenen Disziplinen, die im RBK Teil von Palliative Care sind. Ich bekam Einblick in die Arbeit der Musiktherapeut_innen, der Kunsttherapeut_innen, der Seelsorge, des Sozialdienstes, der Psycholog_innen und des Ärzt_innenteams. Im dortigen Austausch lernte ich wertvolle Fakten über verschiedene Krebserkrankungen und deren Behandlung. So konnte ich mir als Kulturwissenschaftlerin ein minimales medizinisches Wissen aneignen. In diesem Austausch lernte ich auch, wie über Patient_innen kommuniziert wird, mit welchen Herausforderungen die Pflege in ihrem Alltag konfrontiert ist und welche Vorkehrungen getroffen werden können/müssen, wenn Patient_innen nach Hause oder in ein Hospiz entlassen werden. Regelmäßig begleitete ich die zuständigen Psycholog_innen zu Patient_innengesprächen auf der Palliativsta-
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tion. Es waren sowohl Erstgespräche als auch Folgegespräche. Ich bekam dabei Einblicke in die Gesprächsführung und vor allem auch Verständnis für das Befinden der Patient_innen. Mit meinem zweiten Feldaufenthalt in der Interdisziplinären Abteilung für Palliativmedizin an der Universitätsmedizin Mainz im März 2017 verlagerte sich die teilnehmende Beobachtung immer mehr auf den Mikrokosmos »WzT«. Um mich jedoch auch auf dieser Station mit den Abläufen, den Menschen und den Themen vertraut zu machen, begleitete ich vier Tage lang das Pflegepersonal in der Frühschicht, Spätschicht und im Nachtdienst. An anderen Tagen war ich mit dem Ärzt_innenteam unterwegs, nahm an Visiten, interdisziplinären Teamsitzungen, Patient_innengesprächen und Patient_innenuntersuchungen teil. Im August 2017 schloss ich mit dem einmonatigen Aufenthalt im Interdisziplinären Zentrum für Palliativmedizin im Universitätsklinikum Würzburg meine Datenerhebungsphase ab. In der ersten Woche war ich als Pflegepraktikantin im Pflegedienst eingeteilt. Dabei lernte ich die Station mit ihren Menschen (Ärzt_innen, Pflege- und Reinigungspersonal, Therapeut_innen, Angehörige, Patient_innen), Räumen und Strukturen kennen. Diese Tage waren für mich sehr wichtig, um – nach längerer theoretischer Auseinandersetzung mit der Thematik – wieder in das praktische Setting Palliative Care einzutauchen. Dabei durfte ich meine Erfahrungen aus dem mehrmonatigen Pflegepraktikum in der Schweiz einbringen und kleine pflegerische Tätigkeiten ausführen (Körperpflege, Temperatur messen, Essen austeilen und eingeben, Sitzwache, Verstorbene anziehen etc.). Im zeitlichen Verlauf entwickelte sich die teilnehmende Beobachtung auf den drei Palliativstationen von einer sehr breiten zu einer immer stärker fokussierten Beobachtung. War in Stuttgart die Palliativstation in ihrer Gesamtheit in meinem Blick, konzentrierte sich der Fokus über Mainz in Würzburg immer mehr auf die WzT. Außerstationäre Veranstaltungen Während der Aufenthalte auf den drei Palliativstationen nahm ich an zwei außerstationären Veranstaltungen teil. In Stuttgart besuchte ich einen Gottesdienst mit anschließendem Trauercafé, einem Angebot für Angehörige verstorbener Patient_innen. Diese Teilnahme war forschungsstrategisch zuvor nicht geplant, ermöglichte mir aber einen Perspektiven- bzw. Seitenwechsel vom Stationsalltag, in dem ich primär aus der Perspektive der Mitarbeitenden teilnehmend beobachtete, zum Besuch einer außerstationären Zusammenkunft, bei der ich die Perspektive der Angehörigen einnahm. Bei der zweiten außerstationären Aktivität begleitete ich eine Patientin zur Absolvent_innenfeier ihres Sohnes, die auf dem Gelände des Klinikums statt-
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fand. Angefragt von der Stationsleitung, fungierte ich dabei als Unterstützung, die die Patientin in ihrem Rollstuhl zur Feier begleitete und ihr bei Übelkeit und Unwohlsein beistand. Somit agierte ich dabei aus der Perspektive der Pflegenden, wurde aber als neben der Patientin sitzende Zuhörerin auch in ihre Perspektivität eingeladen: in die Perspektivität einer stolzen Mutter, die noch miterleben durfte, wie ihr Sohn einen wesentlichen Meilenstein erreichte. Sitzungen in der Würdezentrierten Therapie Die Fokussierung als Praktik, in der die »Wahrnehmung allmählich intensiviert, justiert und auf den Punkt konzentriert wird« (Breidenstein u. a. 2015: 78), fand in der teilnehmenden Beobachtung der WzT-Sitzungen ihren Höhepunkt. Eine Teilnahme an einer einzelnen kompletten WzT vom Anbieten über das Interview bis zum Vorlesen und Übergeben war aus feldspezifischen Gründen nicht möglich. Die teilnehmende Beobachtung gestaltete sich folgendermaßen: – Vorgespräch (Anbieten): 3 Patient_innen – WzT-Interviewsitzung: 5 Patient_innen – Vorlesen: 3 Patient_innen Es handelte sich dabei um acht verschiedene Patient_innen, wobei die Patient_innen aus den Vorgesprächen nicht identisch waren mit den Patient_innen aus den Folgesitzungen. Eine Korrelation findet sich lediglich zwischen den Patient_innen aus den Interviewsitzungen und dem Vorlesen (vgl. Tabelle 8). Was heißt nun jedoch Teilnahme bei der Beobachtung eines Gesprächs zwischen zwei Personen? Teilnahme hieß in diesem Falle nicht nur sichtbare Präsenz, sondern spürbare und erfahrbare Anteilnahme. Konkret habe ich bei der teilnehmenden Beobachtung der Therapiesitzungen die Rolle einer aktiven, interessierten Zuhörerin eingenommen. Ich setzte mich nicht in eine Ecke, sondern seitlich leicht nach hinten neben die Therapeut_innen. Meine Aktivität signalisierte ich durch parasprachliche und nonverbale Anteilnahme. Zuvor hatte ich mich zusammen mit dem/der zuständigen Therapeut_in den Patient_innen vorgestellt, sie mit meiner Studie vertraut gemacht, Fragen beantwortet, die Einwilligungserklärung besprochen und diese unterzeichnen lassen. Ausbildungsworkshop zur Würdezentrierten Therapie In Deutschland bietet die Deutsche Gesellschaft für Patientenwürde die Ausbildung für die WzT an. Um noch mehr über diese Therapie zu erfahren, absolvierte ich im März 2016 den zweitägigen Grundkurs und im November 2016 den eintägigen Aufbaukurs. Meine teilnehmende Beobachtung gestaltete sich in den beiden Kursen unstrukturiert und offen. Im Zentrum standen für mich dabei das
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vermittelte Expertenwissen und der Erfahrungsaustausch, der insbesondere im Aufbaukurs stattfand, weil die anderen Teilnehmenden doch zu diesem Zeitpunkt bereits erste Anwendungserfahrungen in ihren Berufssettings gesammelt hatten. Neben dem Zugang zu Expertenwissen und dem Erfahrungsaustausch wurde die Teilnahme für mich auch zu einer Begebenheit der Selbsterfahrung. Inhalt des Kurses war u. a. die Durchführung der einzelnen Schritte der WzT. Dabei durfte jeder/jede Teilnehmende sowohl die Rolle des/der Erzählenden als auch die Rolle des/der Therapeut_in einnehmen. Ich erlebte mich also als Erzählerin, die von ihren lebendigsten Zeiten, von ihrem Stolz, den Rollen im Leben, aber auch von Wünschen und Hoffnungen für Angehörige berichtete. Im Zuge dessen wurde ich auch zur Hörenden meiner eigenen Lebenserzählung, denn die ersten zehn Minuten dieser Erzählung wurden transkribiert, von einem anderen Kursteilnehmer editiert und mir dann vorgelesen. Im Gegenzug habe auch ich ein Interview mit einer Kursteilnehmerin geführt, die ersten zehn Minuten davon editiert und schließlich der Erzählenden vorgelesen.
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Gespräche: auch eine Kunst des Aushaltens
Brigitta Schmidt-Lauber schreibt in ihrem Aufsatz »Das qualitative Interview oder: Die Kunst des Reden-Lassens« (2001) von der unabdingbar notwendigen Fähigkeit des Zulassens. Den befragten Akteur_innen sollen Raum und Zeit für ihren eigenen Erzählstil gegeben werden. Die Durchführung von Forschungsgesprächen mit schwerkranken Menschen und Angehörigen verstorbener Menschen ist aber nicht nur eine Kunst des Reden-Lassens, sondern oft auch eine Kunst des SchweigenLassens, des Weinen-Lassens und somit auch eine Kunst des Aushaltens. Qualitative Interviews eröffnen den Zugang zu emischen Perspektiven, d. h. zu subjektiver Sinngebung, indem sie retrospektiv Erfahrungen rekonstruieren (vgl. Schlehe 2008: 121). Deswegen eignet sich das qualitative Interview für die Diskussion der vorliegenden Forschungsfrage. Als spezifische Form des qualitativen Interviews habe ich das problemzentrierte Interview gewählt, das ich mit Therapeut_innen, Transkribierenden und Angehörigen führte. Der Austausch mit den Patient_innen geschah in spontanen informellen Gesprächen. Die Interviews dauerten zwischen 17 und 51 Minuten. Sie wurden mit einem Audiogerät aufgezeichnet und wörtlich transkribiert.
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Transkriptionsregeln25 1. Es wurde wörtlich transkribiert. 2. Es wurde in Schriftsprache transkribiert. 3. Sprache und Interpunktion wurden leicht geglättet, d. h. dem Schriftdeutsch angenähert. 4. Alle Angaben, die den Rückschluss auf eine befragte Person erlauben, wurden anonymisiert. 5. Zustimmende oder bestätigende Lautäußerungen der Interviewer (mhm, aha etc.) wurden nicht mit transkribiert, sofern sie den Redefluss der befragten Person nicht unterbrachen. 6. Lautäußerungen der befragten Person, die die Aussage unterstützen oder verdeutlichen (etwa Lachen oder Seufzen), wurden in Klammern notiert. Transkriptionssystem Interviewer: I Befragter: B Betonung unterstrichen: Das stimmt so. Laut gesprochen fett: Das stimmt so! Leise gesprochen kursiv: Das stimmt so. Pause: – Lautäußerungen in Klammern: (lachen) Gefühlsäußerungen (z. B. unterdrücktes Sprechen) durch Sterne gekennzeichnet, in Klammern erklärt: *ich habe Hunger* (unsicher gesprochen) Äußere Merkmale (z. B. das Telefon klingelt) in Klammern: (Telefon klingelt) Unverständliche Worte in Klammern: (unverständlich) Abgebrochene/Unterbrochene Sätze mit drei Punkten: …
Problemzentrierte Interviews mit Therapeut_innen Ich führte mit zwei Therapeutinnen und zwei Therapeuten je ein problemzentriertes Interview. Drei der vier Interviewten waren Psycholog_innen, einer arbeitete als Pflegefachmann. Alle vier wurden durch entsprechende Ausbildungskurse in der WzT ausgebildet. Das Ziel der Interviews mit den Therapeut_innen lag im Erfassen und Verstehen der subjektiven Bedeutungszuschreibung ihres Handelns. Hierzu wählte ich das in sich triangulatorische problemzentrierte Interview als Kombination von offenen narrativen Elementen und leitfadengestütztem Nachfragen, die in eine dialogische Struktur münden. 25 Die Transkriptionsregeln orientieren sich in reduzierter Form an Kuckartz und Kollegen (Kuckartz u. a. 2008: 27f.).
58
Ethnografische Forschung in einem »vulnerablen« Feld
Diese Kombination versucht den »Gegensatz zwischen Theoriegeleitetheit und Offenheit« (Witzel 2000: 1) aufzuheben, indem der Erkenntnisgewinn als »induktiv-deduktives Wechselspiel organisiert« (ebd.: 1) ist. Um die deduktive Herangehensweise umzusetzen, ist auf Seiten der Interviewerin ein Vorwissen bezüglich des Themas/Problems unabdingbar. Dieses Vorwissen habe ich mir während der teilnehmenden Beobachtung und der Lektüre von Fachliteratur angeeignet. Das problemzentrierte Interview ermöglicht den Zugang zu »Wissen und Erfahrung in subjektiver Perspektive« (Flick 2013: 279) und die Fokussierung auf ein spezifisches Problem (Thema) – im vorliegenden Fall die WzT mit ihren einzelnen Praktiken –, ohne jedoch eine Offenheit auf Seiten der Forschenden zu unterdrücken. In den Interviews mit den Therapeut_innen stand das Handeln in der WzT – vom Anbieten der Therapie bis zur Übergabe des Dokuments – im Zentrum. Eröffnet wurde das Interview bewusst nicht mit der Frage, wie bei der WzT vorgegangen wird, sondern mit einem Erzählstimulus, der die Therapeut_innen danach fragt, wie und warum sie überhaupt mit der WzT in Berührung kamen. Diese vorformulierte Einleitungsfrage als »erzählgenerierende Kommunikationsstrategie« (Witzel 2000: 10) »ist ein Mittel der Zentrierung des Gesprächs auf das zu untersuchende Problem«. Zugleich soll die Frage so offen formuliert sein, dass sie für den Interviewten »wie eine leere Seite wirkt, die er in eigenen Worten und mit den ihm eigenen Gestaltungsmitteln füllen kann« (ebd.: 10), so Witzel. Nach einer Phase, in der insbesondere erzählgenerierende Fragen eingesetzt wurden, erfolgte ein Wechsel zu verständnisgenerierenden Fragen. In dieser Fragephase kam nun auch das Vorwissen als an die Erzählsituation herangetragene deduktive Komponente zum Zuge. Diese deduktive Komponente in Form eines Leitfadens, der jedoch sukzessiv durch die vorangegangene Erzählung ergänzt wurde (vgl. ebd.: 10), umfasste im vorliegenden Fall Verständnisfragen zu den einzelnen Schritten in der WzT sowie Fragen zu besonderen Herausforderungen und zum Zeitaufwand. Die Wahl des Ortes für die Interviews überließ ich den Therapeut_innen. So fanden zwei in ihren Büros und eines zuhause statt. Problemzentrierte Interviews mit Transkribierenden Weil die Transkription der generativen Erzählungen in der WzT Teil des Transformationsprozesses ist, führte ich auch problemzentrierte Interviews mit drei Schreibenden, die das aufgezeichnete Interview aus der WzT in Schriftform bringen. Es handelte sich um je eine Verantwortliche pro Standort: eine Sekretärin der Institution und zwei studentische Mitarbeiterinnen. Die Interviews fanden im Büro der Verantwortlichen statt. Das Thema war in diesen Interviews der Akt des Transkribierens. Auch hier eröffnete ich das Gespräch mit einer sehr
Datenerhebung: triangulatorisch-zirkulär
59
offenen und dennoch themenspezifischen Einleitungsfrage als »erzählgenerierende Kommunikationsstrategie« (Witzel 2000: 10). Die Frage lautete: »Wie kam es, dass Sie hier die Aufgabe bekamen, die Interviews aus der WzT zu transkribieren?« Der so generierte Erzählteil wurde auch hier mit Verständnisfragen ergänzt. Problemzentrierte Interviews mit Angehörigen Das Rezipieren der generativen Erzählungen durch die Angehörigen entspricht ebenfalls einer der Hauptpraktiken in der WzT. Um diese multidimensionale Praktik zu ergründen, habe ich problemzentrierte Interviews mit vier Angehörigen geführt. Es handelte sich dabei um Angehörige von vier verschiedenen Patient_innen: zwei Ehemänner, einen Sohn und eine Tochter. Zwischen diesen Angehörigen und meinen anderen Forschungspartner_innen gab es keine Korrelation. Der Kontakt war über die Psycholog_innen hergestellt worden. Drei der Interviews fanden in der Institution statt, in der ihre Angehörigen an der WzT teilgenommen hatten, und das vierte bei der interviewten Person zuhause. Als Erzählstimulus wählte ich die Frage: »Wie kam es, dass Sie dieses Dokument aus der Würdezentrierten Therapie erhielten?« Die Interviews mit den Angehörigen waren von verschiedenen Herausforderungen geprägt. Erhoffte ich mir primär ein Erzählen über den Akt des Lesens, wurden insbesondere zwei der vier Interviews zu einem Erzählen über jenen Menschen, der dieses Dokument hinterlassen hatte – ein Erzählen über dessen Krankheit, dessen Leid, das Sterben und den Tod, aber auch ein Erzählen über gemeinsame Erlebnisse, über das gemeinsame Leben. Mit subtilen Eingriffen meinerseits gelang es dennoch, den Fokus auf das Dokument nicht aus den Augen zu verlieren. Gerade bei diesen Interviews war die Gesprächsführung auch eine Kunst des Aushaltens, wurde doch geschwiegen, geweint, gezittert und die im Leid oft präsente Frage des Warums gestellt. Informelle Gespräche mit Patient_innen Die Wahl der offenen und spontanen Gesprächsform mit den Patient_innen ist im Votum der Ethikkommission begründet, die eine audioaufgezeichnete Interviewform aus Angst vor Überbelastung der Patient_innen ablehnte, und in den feldspezifischen Eigenheiten. Hierzu hält der Soziologe Werner Schneider fest: Insbesondere im Bereich von Sterben und Tod kann bei der ethnographischen Forschung vor Ort der flexible Einsatz verschiedener Formen der Herstellung von verbalen Daten zielführend sein. Beginnend bei sogenannten Expertengesprächen bis hin zu
60
Ethnografische Forschung in einem »vulnerablen« Feld
Interviews bzw. Gesprächen mit Angehörigen und Patienten, die ggf. je nach Situation, Verfassung der Gesprächspartner etc. ohne große Vorbereitung geführt werden müssen, wäre ein striktes Festhalten an schematischen Methodenvorgaben wenig dienlich. Vielmehr braucht es auf Seiten des Forschers einen sensiblen Umgang mit verschiedenen Gesprächs- und Fragetechniken, die – statt sich an einem vorgefertigten Leitfaden und Befragungsstil festzuhalten – insbesondere an den Gesprächsmöglichkeiten des Gegenübers zu orientieren sind. (Schneider 2014: 95)
In diesem Sinne habe ich mit vier Patient_innen, die an der WzT teilgenommen hatten, kurze spontane informelle Gespräche geführt. Diese habe ich durch Notizen festgehalten.
4.3
Natürliche Daten: Dokumente und Notizen
Neben der teilnehmenden Beobachtung, den problemzentrierten Interviews und den informellen Gesprächen setzt sich mein Datenmaterial auch aus einem Vergleich von Transkriptionen und editierten Generativitätsdokumenten zusammen. Die jeweiligen Dokumente wurden von den entsprechenden Patient_innen für mein Forschungsprojekt freigegeben. Die verantwortlichen Therapeut_innen haben mir die Patient_innen vermittelt. Insgesamt gehören acht Transkriptionen mit ihren editierten Versionen (teilweise mit Zwischenversionen und ergänzenden Notizen) und zwei editierte Dokumente (kein Zugang zu den Transkripten) zum Datenmaterial. Bei vier Erzählungen war ich entweder bei der Erzählsitzung oder beim Vorlesen dabei. Die restlichen Dokumente stammen von anderen Patient_innen.26 Diese Daten sind Teil der WzT und als solche – im Gegensatz zu den von mir geführten Interviews und den Feldnotizen – nicht für wissenschaftliche Verwendungszwecke angefertigt worden. Sie können daher als »natürliche Daten« bezeichnet werden, da »sie nicht zu Forschungszwecken und ohne die Beteiligung oder Intervention der Forschenden entstanden sind« (Salheiser 2019: 1119).
5
Datenanalyse: deduktiv-induktiv
Mit dem Hinweis, dass die Analyse im ethnografischen Forschen immer auch schon in die Erhebungsphase miteinfließt, stehen nun jene konkreten Analysemethoden im Zentrum, »die nicht mehr zu den Feldpraktiken gehör[en], sondern sich am Schreibtisch ereigne[n]« (Breidenstein u. a. 2015: 110). Wie bereits erwähnt, habe ich nach jedem Feldaufenthalt die Daten aufbereitet und einer 26 Einen Überblick über die natürlichen Daten bietet die Tabelle 8 in Kapitel III.6.
Datenanalyse: deduktiv-induktiv
61
ersten Analyse unterzogen. Das gewählte methodische Vorgehen orientierte sich am jeweiligen Datenmaterial und an dessen Bedeutung für die grundlegende Fragestellung, denn die Analyse muss »nicht nur den ethnografischen Daten, sondern auch dem Forschungsgegenstand entsprechen« (ebd.: 110). So wurden die Protokolle aus der teilnehmenden Beobachtung und den Gesprächen anders analytisch durchdrungen als die generative Erzählung in Form von Transkripten und Dokumenten. Die Erkenntnisse aus diesen zwei Analyseprozessen habe ich nicht kontrastierend in Beziehung gesetzt, sondern ergänzend. Gerade weil die jeweiligen Methoden unterschiedliche Bedingungen mit sich bringen, war ein kontrastierender Vergleich nicht zielführend. Das gewählte Analyseverfahren folgt nicht rigoros einer konkreten Auswertungsmethode, denn einer ethnografischen Forschungshaltung entspricht nicht nur Offenheit in der Erhebungsphase, sondern auch »ein offener und explorativer Umgang mit ›Methoden‹ der Datenauswertung, der dem je spezifischen Forschungsprozess anzupassen ist« (ebd.: 111).
5.1
Inhaltsanalytische Codierung
Die Analyse der Interviews, informellen Gespräche und der Feldprotokolle orientierte sich in einem ersten Schritt an einer inhaltlich-strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse (Steigleder 2008; Kuckartz 2018; Schreier 2012) mit einer deduktiv-induktiven Basisstrategie. Margrit Schreier formulierte in ihrem Aufsatz »Varianten qualitativer Inhaltsanalyse« (2014) den Kern dieser Methode wie folgt: Kern der inhaltlich-strukturierenden Vorgehensweise ist es, am Material ausgewählte inhaltliche Aspekte zu identifizieren, zu konzeptualisieren und das Material im Hinblick auf solche Aspekte systematisch zu beschreiben – beispielsweise im Hinblick darauf, was zu bestimmten Themen im Rahmen einer Interviewstudie ausgesagt wird. Diese Aspekte bilden zugleich die Struktur des Kategoriensystems; die verschiedenen Themen werden als Kategorien des Kategoriensystems expliziert. (Schreier 2014: 8)
Nach dem Zusammenführen meiner Notizen aus der teilnehmenden Beobachtung in Gedächtnisprotokolle und dem Transkribieren der problemzentrierten Interviews habe ich das Material intensiv gelesen. Was bei diesem Lesen geschieht, beschreiben Breidenstein und Kollegen als »nachvollziehende Rückkehr in das Feld«. Dabei werden die Erfahrungen sich erinnernd wieder angeeignet und [d]er Text schiebt sich an die Stelle des Feldes wie ein Platzhalter. Das verdichtete Nacherleben von Felderfahrungen drängt unzählige Vergleichsmöglichkeiten, aber auch Differenzen zwischen einzelnen Protokollen auf. Man stellt wiederholende Muster
62
Ethnografische Forschung in einem »vulnerablen« Feld
fest, identifiziert überraschende oder seltsame Befunde, Widersprüche und Lücken. (Breidenstein u. a. 2015: 125)
Beim Lesen habe ich meine Gedanken, Verknüpfungen und Fragen in Form einer Mindmap gesammelt. Anschließend habe ich das Material aus den problemzentrierten Interviews und der teilnehmenden Beobachtung deduktiv codiert. Diesen deduktiven Vorgang wählte ich aufgrund meines Erkenntnisinteresses an den Hauptpraktiken der WzT, das sich im Verlauf des ersten Feldaufenthaltes und des Aneignens von Fachwissen über die WzT herauskristallisiert hatte. Die deduktiven Codes, die ich an das Material herangetragen habe – Miles und Kollegen sprechen von »start list of codes« (Miles u. a. 2014: 58) –, beinhalteten dabei nicht nur die jeweilige Praktik, sondern verstanden sich auch als Situation, die sowohl Akteur_innen als auch Dinge und Diskurse involvierte. Für jeden dieser Codes legte ich eine eigene Datei an, in der alle dazugehörigen Zitate und Beobachtungen festgehalten wurden. Beim Annotieren dieser Codes galt es, den Blick auf Leerstellen und Verbindungen nicht zu verlieren. So erkannte ich im Verlauf meines zirkulären Vorgehens, bei dem ich mich immer wieder vom Material selbst leiten ließ und auch in ein induktives Verfahren wechselte, dass die Hauptpraktiken und somit auch die deduktiven Codes ergänzt werden mussten. Aufgrund dieser kontinuierlichen Anpassung, wie sie auch bei Steigleder vorgeschlagen wird, fiel eine Probecodierung weg (vgl. Steigleder 2008). In der folgenden Tabelle ist die Entwicklung der »start list« zusammengefasst. Nach 1. Feldaufenthalt Erzählen Transkribieren
Nach 2. Feldaufenthalt Anbieten Erzählen
Nach 3. Feldaufenthalt Anbieten Erzählen und Interviewen
Editieren Vorlesen
Transkribieren Editieren
Transkribieren Editieren
Übergeben Lesen
Vorlesen Übergeben
Vorlesen Übergeben
Lesen Lesen und Besitzen Tabelle 2: Veränderung der »start list« (Oberkategorien)
Die Codes der »start list«, die auch die gesamte Arbeit strukturieren, fungierten in der Analyse als Oberkategorien. Nachdem ich die »Fundstellen« festgelegt hatte, wechselte ich innerhalb dieser Oberkategorien zu einem induktiven Vorgehen. Bei diesem Schritt stand die ethnografische Offenheit im Zentrum. Die Fundstellen innerhalb der jeweiligen Oberkategorie habe ich thematisch codiert. Je nach Umfang des Datenmaterials innerhalb der Oberkategorien fiel die Codierung unterschiedlich detailliert aus. Diese Anpassung an das Material habe ich gewählt, um nicht in eine »rigid categorisation« (Dellwing/Prus 2012: 154) zu
Datenanalyse: deduktiv-induktiv
63
verfallen. So wurden je nach Anzahl und Detaillierungsgrad der Codes größere Codefamilien gebildet oder aber die Codes für sich stehen gelassen. In einem weiteren Schritt habe ich die Codes respektive Codefamilien und deren Beziehung zur Oberkategorie mit einer Detailanalyse durchdrungen. Um diesen Schritt zu beschreiben, bediene ich mich des Vokabulars von Breidenstein und Kollegen, die die folgenden Aussagen jedoch auf die Detailanalyse innerhalb einer Fallanalyse beziehen. Die Detailanalyse beschreiben sie als »›Zeitlupe‹ […] in der Abläufe extrem verlangsamt werden und die Analyse jeden einzelnen Schritt konserviert« (Breidenstein u. a. 2015: 142). Wie detailliert sich diese Analyse gestaltet, hängt vom zugänglichen und erhobenen Material ab. Nach dem Codieren und der Detailanalyse wechselte die Frage von »›Was geht hier eigentlich vor?‹« zu »›Wie lautet das gemeinsame Thema all dieser Details? Wie fügen sie sich zu einem Bild?‹« (Breidenstein u. a. 2015: 156f.) In diesem Prozess galt es, das »Abstraktionsniveau« (Thomas 2019: 133) zu steigern und von der thematisch-inhaltlichen zu einer theoretischen Analyse zu wechseln. Thomas benennt diesen Schritt als Teil einer ethnografischen Analyse »Systematisierung und Kategorisierung« (ebd.: 133). Mit »Kategorisierung« bezeichnet er die abstrahierende Zusammenfügung der Codes: Der Hauptfokus liegt also auf dem Ordnen der Kodes, um durch Aufweis inhaltlicher Bezüge wichtige Kategorien als zentrale Tragelemente der Theorie herauszuarbeiten. Dabei ist der Unterschied ein gradueller, weil es sich bei beidem um Konzepte handelt, nur das Abstraktionsniveau steigt deutlich an. (Thomas 2019: 133)
In der folgenden Tabelle habe ich die beschriebenen Analyseschritte anhand eines Beispiels zusammengefasst. Die Tabelle zeigt in stark reduzierter Weise die Analyse der Oberkategorie »Lesen und Besitzen«. In der linken Spalte finden sich die induktiv herausgearbeiteten Codes. In der Mitte habe ich diese Codes zu drei Codefamilien zusammengefasst. In der rechten Spalte findet sich das, was Thomas als »gesteigertes Abstraktionsniveau« (ebd.) bezeichnet. Von besonderer Bedeutung sind die gestrichelten Linien in der Tabelle. Sie symbolisieren die Durchlässigkeit der drei Abstraktionsstufen. Diese Durchlässigkeit steht für die zuvor beschriebene Detailanalyse und für das zirkuläre Vorgehen. Die Situiertheit der gestrichelten Tabelle innerhalb des größeren Rahmens drückt aus, dass in der Analyse der einzelnen Hauptpraktiken (Oberkategorien der »start list«) der Bezug zur WzT immer mitgedacht wurde. Dieser Bezug respektive diese Durchlässigkeit gilt auch für die in der Tabelle nicht abgebildeten anderen Hauptpraktiken. Zwar wurde jede davon schwerpunktmäßig für sich analysiert, jedoch immer mit Bezug zur WzT als Ganzes.
64
Ethnografische Forschung in einem »vulnerablen« Feld
Lesen und Besitzen Codes
Codefamilien
Theoretische Abstrahierung
Lesezeitpunkt Emotionale Berührung Bestätigung Sicherheit Beruhigung Haptik Wiedererkennen
Erstmaliges Lesen
Verwunderung
(aufschieben)
Innere Widerstände Leseerwartungen
Präsenz und Repräsentation
Verschluss Andere Artefakte Aufbewahrungsorte
Aufbewahren
Unsicherheit Misstrauen Wem weitergeben?
Weitergeben
Zeitpunkt Weitergabe WzT
Tabelle 3: Analysebeispiel »Lesen und Besitzen«
5.2
Textvergleich und Detailbeschreibung
Während ich durch die problemzentrierten Interviews mit den Therapeut_innen die Selbstdeutung des Editierens analysieren konnte, wählte ich den Textvergleich zwischen Transkripten und den editierten Generativitätsdokumenten, um die Handlungen am Text greifbar zu machen. Ziele dieses Vergleichs waren das Erkennen, Analysieren und Darstellen von Formierungsprozessen. Die insgesamt acht Transkripte und ihre editierten Versionen habe ich in einem ersten Schritt einer Grobanalyse unterzogen.27 Darin habe ich sowohl besonders auf27 Zugang hatte ich zu insgesamt zwölf Dokumenten. Für die Grobanalyse habe ich jedoch nur acht ausgewählt (vgl. Tabelle 7).
Datenanalyse: deduktiv-induktiv
65
fallende Textveränderungen als auch wiederkehrende Veränderungsmuster zusammengetragen und in folgende fünf Formierungsstrategien unterteilt. Formierungsstrategien (induktiv erarbeitet durch Grobanalyse) Inhaltliche Umstrukturierung Umgang mit Paratexten Umgang mit Dialogstruktur/Interviewfragen Umgang mit Performativitätsspuren Korrektur, Änderung: Orthografie/Grammatik/Interpunktion/Layout Tabelle 4: Formierungsstrategien Grobanalyse
Orientierte sich das in Kapitel III.5 beschriebene Vorgehen an der inhaltlichstrukturierenden Inhaltsanalyse, erinnert auch die Untersuchung der Dokumente in Ansätzen an diese Methode. So war der nächste Analyseschritt die »Erprobung des Kategoriensystems« (Schreier 2014: 9) respektive die potentielle Ergänzung der obigen Formierungsstrategien. Da die Dokumente von vier unterschiedlichen Therapeut_innen editiert wurden, wählte ich pro Therapeut_in je eine generative Erzählung (Transkript und editierte Version) aus, um die Strategien zu erproben. Durch diese Auswahl erhoffte ich mir eine möglichst große Varianz. Die Analyse der vier Dokumente machte deutlich, dass die beobachteten Textveränderungen mit den fünf Formierungsstrategien erfasst werden können und nicht modifiziert werden müssen. Während bei manchen Formen der inhaltlich-strukturierenden Inhaltsanalyse in einem nächsten Schritt das gesamte Material mit dem überarbeiteten Kategoriensystem untersucht wird (vgl. Schreier 2014: 9), wechselte ich direkt in die Detailanalyse ausgewählter Textstellen. Denn Ziel war nicht die analytische Durchdringung des gesamten Materials, sondern das Herausarbeiten exemplarischer Textstellen für die Formierungsstrategien. Die Analyse dieser Textstellen bestand aus einer detaillierten Beschreibung. Dabei ließ ich mich auch von der Frage leiten, welche editorischen Eingriffe in Konkurrenz mit dem würdebewahrenden Repertoire stehen und welche Eingriffe dieses gerade untermauern.
66
6
Ethnografische Forschung in einem »vulnerablen« Feld
Übersicht zum Forschungsprozess Auswahlkriterien
Patient_innen
Angehörige
– – – –
– – – –
Ausschlusskriterien – Unzureichende Kenntnis der Inanspruchnahme der WzT deutschen Sprache Alter ≥ 18 Jahre – Emotional nicht ausreichend Einwilligungsfähigkeit belastbar Ausreichende Kenntnis der – Kognitiv nicht in der Lage, deutschen Sprache dem Interview zu folgen – Unzureichende Kenntnis der Alter ≥ 18 Jahre deutschen Sprache Einwilligungsfähigkeit – Kein Erhalt eines GenerativiAusreichende Kenntnis der tätsdokuments deutschen Sprache – Emotional nicht ausreichend Erhalt eines Generativitätsdobelastbar – Kognitiv nicht in der Lage, kuments dem Interview zu folgen
– Erfahrungen im Transkribieren der Dokumente aus der WzT Transkribierende – Alter ≥ 18 Jahre – Einwilligungsfähigkeit – Ausreichende Kenntnis der deutschen Sprache – Alter ≥ 18 Jahre – Einwilligungsfähigkeit – Ausreichende Kenntnis der Therapeut_innen deutschen Sprache – Ausbildung in der WzT nach Chochinov
– Unzureichende Kenntnis der deutschen Sprache
– Unzureichende Kenntnis der deutschen Sprache
Tabelle 5: Auswahlkriterien Sampling Hauptpraktiken
Methode
Anbieten
Teilnehmende Beobachtung, Interviews
Interviewen und Erzählen
Teilnehmende Beobachtung, Interviews
Transkribieren
Interviews
Editieren
Interviews, Textvergleich
Übergeben
Interviews
Form Vollzug, retrospektive verbale Akzentuierung Vollzug, retrospektive verbale Akzentuierung Retrospektive verbale Akzentuierung Retrospektive verbale Akzentuierung, Manifestation Retrospektive verbale Akzentuierung
67
Übersicht zum Forschungsprozess
(Fortsetzung) Hauptpraktiken
Methode
Vorlesen
Teilnehmende Beobachtung, Interviews, Textvergleich (2. Editierakt)
Lesen und Besitzen Interviews
Form Vollzug, retrospektive verbale Akzentuierung, Manifestation Retrospektive verbale Akzentuierung
Tabelle 6: Methodischer Zugang
TA TB
Editierte Ausschluss aus Analyse Version(en) EA EB
TC TD
EC ED
TE TF
EE EF1, EF2
TG
EG1, EG2 EH1, EH2, EH3, EH4
Transkript
TH TI
EI
–
EJ
TK
EK
–
EL
Therapie nicht abgeschlossen
Therapie nicht abgeschlossen Kein Zugang zum Transkript, wurde aber für die Analyse von Paratexten herangezogen Kein Zugang zum Transkript, wurde aber für die Analyse von Paratexten herangezogen
Tabelle 7: Überblick zur vergleichenden Dokumentanalyse
TB Pat. Anbieten
TB WzTInterview
TB Vorlesen
Therap. Notizen nach Vorlesen
Textvergleich T–E
PA
ü
PB PC
ü
PD PE
ü
ü
ü ü
PF PG
ü
ü
ü ü
PH PI
ü ü
ü
ü
Informelles Gespräch
ü ü
ü
68
Ethnografische Forschung in einem »vulnerablen« Feld
(Fortsetzung) TB WzTInterview
TB Pat. Anbieten PJ PK
TB Vorlesen
Therap. Notizen nach Vorlesen
ü
PL PM
ü
PN PO
ü ü
Textvergleich T–E
Informelles Gespräch
ü
ü
8
4
ü
3 5 3 1 Tabelle 8: Korrelationen methodischer Zugänge Akteur_innen Angehörige
Therapeut_innen
Transkribierende
Abk. IR IS
Datum, Dauer und Ort des Interviews 29. 08. 2017: 23 min, Garten Palliativstation 29. 08. 2017: 24 min, bei A zuhause
IT IU
13. 09. 2017: 35 min, Seminarraum Palliativstation 09. 08. 2017: 23 min, Büro Palliativstation
4 IL IM IN
29. 08. 2017: 45 min, bei T zuhause 22. 03. 2017: 33 min, Büro Palliativstation 19. 12. 2017: 51 min, Büro Palliativstation
IO 4
02. 08. 2017: 20 min, Büro Palliativstation
IV IW
09. 08. 2017: 17 min, Büro Palliativstation 11. 12. 2016: 17 min, Büro Palliativstation
IX 3
10. 05. 2016: 25 min, Büro Palliativstation
Tabelle 9: Problemzentrierte Interviews Feldtagebuch Ort und Zeitraum Feldtagebuch Robert-Bosch-Krankenhaus Stuttgart, November 2015– FT1 März 2016 FT2 FT3
Feldtagebuch Universitätsklinikum Mainz, März 2017 Feldtagebuch Universitätsklinikum Würzburg, August 2017
Tabelle 10: Übersicht Feldtagebuch
Poesie, Serendipity und die Grenzen der Reflexion
7
69
Poesie, Serendipity und die Grenzen der Reflexion
Nachdem ich den Erhebungs- und Analyseprozess beschrieben und dabei das konkrete methodische Vorgehen erläutert habe, möchte ich abschließend der »Poesie des Feldes« (Eisch 2001: 11)28 Raum geben und damit betonen, dass mein Forschungsprozess auch von »kreative[r] Leichtigkeit« (Eisch-Angus/Hamm 2017: 367) geprägt war, die »den Zwischentönen und überraschenden Sprüngen des sozialen Alltags wie der menschlichen Psyche« (ebd.: 367) – man mag es Poesie nennen – gefolgt ist. Diese »kreative Leichtigkeit« verdanke ich einerseits der eigenen Intuition und meiner Achtsamkeit, andererseits auch der Gunst des Moments. Ich verdanke sie also auch dem, was Robert King Merton für die Gesellschaftswissenschaften neu entdeckt hatte, jedoch erst posthum als »The Travels and Adventures of Serendipity« (Merton/Barber 2004) veröffentlicht wurde: die Entdeckung durch Zufall (Chance) und Aufmerksamkeit (Sagacity) von etwas, das gar nicht gesucht wurde (vgl. ebd.). Rolf Lindner, Soziologe und Volkskundler, zählt in seinem Aufsatz »Serendipity und andere Merkwürdigkeiten« (2012) nach dem »Serendipity-Prinzip« (ebd.: 7) zugetragene Anekdoten auf. So erzählt er u. a. von Elias Canettis Entdeckung des Begriffs »Doppel-Masse« durch das Hören eines Fußballmatches (vgl. ebd.: 9) oder von der »Abdrift« in der Bibliothek: Uns allen ist die Abdrift in ihrer elementaren Form bekannt, in der bibliophilen Standardsituation nämlich, dass man in einer Bibliothek oder in einer Buchhandlung das Buch ausleiht oder ersteht, das genau neben jenem stand, nach dem man ursprünglich gesucht hatte. (Lindner 2012: 9)
Solche und ähnliche durch Zufall und Aufmerksamkeit erkannte, plötzliche geistreiche Einfälle prägen viele, wenn nicht nahezu jeden Forschungsprozess. Oft sind es kurze, sogenannte Gedankenblitze, kleine intuitive »Anstubser« wie ein Bild in der Zeitung, ein Geruch auf dem Nachhauseweg oder ein Buch, das neben dem eigentlich gesuchten steht: eben Momente der Serendipity. So war es auch in meinem Forschungsprozess. Beispiele dafür bleiben aber an dieser Stelle aus. Vor allem deshalb, weil ich mich an viele dieser Gedankenblitze nicht mehr erinnern kann. Und damit möchte ich abschließend auf die Grenzen der Reflexion verweisen. Nachvollziehbarkeit und Reflexion sind für die qualitative Forschung unabdingbar. Deshalb habe ich auf den vorangegangenen Seiten meinen Forschungsprozess reflektiert und nachvollziehbar zusammengefasst. Doch es 28 Die Einleitung der Festschrift für Utz Jeggle, die 2017 in leicht überarbeiteter Form im Sammelband »Ethnografie und Deutung« erneut erschien, verfolgt in ihrer Kontextualisierung gerade eine »methodische Operationalisierung reflexiver ethnografischer Forschung«. (Eisch-Angus/Hamm 2017: 373) Eine solche Operationalisierung strebe ich an dieser Stelle nicht an.
70
Ethnografische Forschung in einem »vulnerablen« Feld
ist nicht alles auf diese Weise »hintergehbar«: In einem Moment entsteht etwas und im nächsten vergeht es wieder und was bleibt, ist ein diffuses Gefühl, dass man in diesem einen Moment von etwas geleitet wurde, was nicht ergründet werden kann. Der Einfluss solcher Momente mag klein sein und müsste an dieser Stelle nicht erwähnt werden – gerade auch deshalb nicht, weil die vorliegende Studie darin keine Sonderstellung hat. Und dennoch verweise ich darauf.
IV.
Transformieren: Damit etwas bleibt, wenn man geht
Sieben Hauptpraktiken der WzT stehen in diesem Kapitel im Zentrum. Sie verändern und entwickeln die entstehende generative Erzählung als Gefüge aus materiell-medialer, körperlich-leiblicher und sprachlich-narrativer Dimension. Beim Anbieten, Interviewen und Erzählen, Transkribieren, Editieren, Vorlesen, Übergeben sowie Lesen und Besitzen bringen Patient_innen, Therapeut_innen, Transkribierende und Angehörige unterschiedliche Bedeutungen hervor, sind der generativen Erzählung ausgesetzt und gestalten sie mit. Auf der Basis des in Kapitel III.4 geschilderten Datenmaterials beschreibe und deute ich das Transformieren der Erzählung in ihrer Mehrdimensionalität und richte den Fokus auf die Binnenperspektive der Erzählenden, Tippenden, Hörenden, Schreibenden und Lesenden.
1
Anbieten: Auswählen – Annehmen – Ablehnen
Ich glaube, das ist eben immer noch so ein Knackpunkt. Das merke ich selber auch. Es ist schwierig, die WzT den Patienten so zu vermitteln, dass sie es auch verstehen, denn man ist dann sehr schnell in einem Bereich, wo man den Patienten sehr nahekommt. (Therapeut)29
Die WzT beinhaltet existentielle Themen, bejaht das Leben, aber auch den bevorstehenden Tod und im Anbieten der Therapie kommen die Therapeut_innen den Patient_innen »sehr nahe«. Mit dem Verweis auf die in der WzT zu kreierende Hinterlassenschaft konfrontieren die Therapeut_innen die Patient_innen mit dem Sterben und dem Tod. Ob und wie die Therapie angeboten und vorgestellt wird, verlangt, wie mein Datenmaterial darlegt, Vorüberlegungen, Einschätzungen und Fingerspitzengefühl. Während meiner Forschungsaufenthalte konnte ich miterleben, wie solche Einschätzungen und Vorüberlegungen im interdisziplinären Team diskutiert wurden. Indikationen, Ausschlusskriterien 29 IN.
72
Transformieren: Damit etwas bleibt, wenn man geht
und potentielle Herausforderungen wurden besprochen und überdacht. Bei drei Patient_innen durfte ich eine Therapeutin begleiten und dabei wahrnehmen, wie sich ein Anbieten der Therapie gestalten kann. Ich erlebte sowohl Annahme als auch Ablehnung. Im Folgenden wird das Anbieten als Präpraktik der Transformationskette diskutiert. Um diese Praktik im Kontext der Therapiekonzeption einzuordnen, fasse ich zuerst Chochinovs Prämissen zusammen. Danach steht die Auswahl der Patient_innen im Zentrum, zeigen sich Formen des Anbietens, der Annahme und Ablehnung sowie abschließend ein Beispiel dafür, wie die Annahme der Therapie zu einer Aufgabe werden kann, bevor die eigentliche Therapie beginnt. Im Anbieten, Annehmen und Ablehnen treten die drei Dimensionen der generativen Erzählung an verschiedenen Stellen unterschiedlich in den Fokus. Dabei zeigt sich u. a., dass gerade die Konservierung der Erzählung in ihrer materiell-medialen Form zu einer Ablehnung des Angebots führen kann.
1.1
Auswählen und Anbieten nach Chochinov
In seinem Handbuch zur WzT fasst Chochinov das Anbieten der Intervention im Kapitel »Introducing Dignity Therapy to Patient and Families« (Chochinov 2012: 54) zusammen. In sechs Schritten gibt er eine Anleitung, wie sich ein solches Vorgespräch und die Vorbereitung darauf gestalten sollen: Step 1. The first step is to determine which patients might benefit from Dignity Therapy. This means understanding eligibility criteria and knowing which patients should not take part. (Chochinov 2012: 54) Step 2. Once eligibility has been determined, Dignity Therapy can be formally introduced to the patient and family. (Chochinov 2012: 61) Step 3. Once Dignity Therapy has been introduced, answer any questions that the patient might have. (Chochinov 2012: 62) Step 4. After all the patient’s questions have been answered, offer him or her a copy of the basic Dignity Therapy question protocol. (Chochinov 2012: 70) Step 5. Once the patient has agreed to take part, collect basic demographic information. This will help guide the content of the upcoming Dignity Therapy interview. (Chochinov 2012: 72) Step 6. Arrange an appointment with the patient (with or without a friend, family member, or loved one) to conduct the Dignity Therapy interview. (Chochinov 2012: 72)
In seinen Ausführungen zur Auswahl der Patient_innen (Schritt 1) macht Chochinov deutlich, dass es sich bei der WzT um eine therapeutische Intervention handelt und somit, wie bei jeder Therapie, Einschluss- und Ausschlusskriterien
Anbieten: Auswählen – Annehmen – Ablehnen
73
entscheidend sein können (vgl. Chochinov 2012: 54). Für die WzT formuliert er folgende drei Auswahlkriterien: Eligibility Criterion 1: Anyone Facing Life-Threatening or Life-Limiting Circumstances (Chochinov 2012: 56) Eligibility Criterion 2: The Patient Is Interested in Dignity Therapy and Feels Motivated to Take Part (Chochinov 2012: 57) Eligibility Criterion 3: To Participate in Dignity Therapy, the Patient, and Therapist and Transcriptionist Must All Speak the Same Language (Chochinov 2012: 58)
Neben diesen drei Auswahlkriterien formuliert Chochinov auch zwei Ausschlusskriterien: Exclusion Criterion 1: Anyone Who Is Too Ill and Who Is Not Expected to Live More than About Two Weeks Should Not, Under Normal Circumstances, Be Considered for Dignity Therapy (Chochinov 2012: 58) Exclusion Criterion 2: One of the Most Important Reasons to Exclude Patients from Dignity Therapy Is Impaired Cognitive Ability, Limiting the Patient’s Capacity to Provide Meaningful and Reflective Responses (Chochinov 2012: 60)
In Ausschlusskriterium 1 drückt sich die zeitintensive Bearbeitung der generativen Erzählung aus. Damit alle Schritte der WzT abgeschlossen werden können, bedarf es nach Chochinov einer minimalen Lebenserwartung von mindestens zwei Wochen. Mit dem Ausschlusskriterium 2 antizipiert Chochinov nicht nur die Patient_innen selbst, sondern auch die potentiellen Empfänger_innen der Generativitätsdokumente. So schreibt er: Although the majority of patients and their families who have taken part in Dignity Therapy felt highly satisfied with the intervention, the exceptions have been in instances in which cognitive limitations were not detected prior to, or during, the therapy itself. This is most unfortunate, in that it results in a generativity document that is, as one dissatisfied family described ›a distortion of who they really were‹. (Chochinov 2012: 61)
Unter Schritt 2 stellt Chochinov »A Typical Dignity Therapy Introduction« (Chochinov 2012: 61) vor, in der über die Therapiekonzeption, Erkenntnisse aus der Forschung, deren bestätigte positive Wirkung, den Zeitaufwand und den Ablauf informiert wird. So heißt es in dem Beispiel: It [Dignity Therapy] gives people a chance to talk about things that are most important to them, things that they want to share with those they are close to and things that they feel they need and want to say. These conversations are audio recorded, transcribed, and edited. The final product is a type-written document or paper, which is returned to you. Most people find the experience very meaningful and find comfort in knowing that the document is for them to keep and something they can share with people they care about. (Chochinov 2012: 62)
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Transformieren: Damit etwas bleibt, wenn man geht
In Schritt 3 diskutiert Chochinov elf Fragen, die Patient_innen und Angehörige zum Inhalt und Prozedere der WzT stellen könnten. Darunter findet sich auch die Frage: »Why does it have to be audio recorded, what if I don’t feel comfortable with the tape recorder?« (Chochinov 2012: 65) In einer möglichen Antwort geht Chochinov darauf ein, dass ein Unwohlsein zu Beginn einer Aufzeichnung nicht ungewöhnlich sei, dieses aber im Verlauf der Sitzung vergehe und das Aufnahmegerät nahezu vergessen werde. Zudem betont er die Notwendigkeit der Audioaufnahme für die anschließende Transkription (vgl. ebd.: 65). Auch auf den Fragenkatalog geht Chochinov ein. So empfiehlt er unter Schritt 6, den Patient_innen die Fragen bereits im Vorgespräch auszuhändigen. Er begründet diesen Vorschlag folgendermaßen: The patient has been given a copy of the Dignity Therapy questions protocol, which provides an opportunity to reflect on possible content for the generativity documents. There is nothing to be gained by withholding this information; if anything, being more aware of the protocol will set patients minds at ease and help them to be better prepared. (Chochinov 2012: 74)
Diese Einblicke in Chochinovs Kapitel »Introducing Dignity Therapy to Patient and Families« (Chochinov 2012: 54), in dem er auf fast 20 Seiten darstellt, ob und wie die Therapie Patient_innen angeboten werden soll, machen deutlich, dass Chochinov dem Vorgespräch viel Raum und Zeit einräumt. Wie sich das Anbieten der Therapie nun in den von mir beobachteten Fällen gestaltete, fasse ich in den folgenden Kapiteln zusammen.
1.2
Auswählen: Indikation und Ausschluss
Bevor die WzT angeboten und vorgestellt wird, gilt es zu überlegen, welche Patient_innen überhaupt ausgewählt werden sollen. Auf den drei Palliativstationen, wo meine Datenerhebung stattgefunden hat, hing die Auswahl vor allem von einer Frage ab: Wer profitiert unter den momentanen Patient_innen am meisten von der Intervention? Diese Frage stand im engen Zusammenhang mit den begrenzten zeitlichen und personellen Ressourcen sowie dem hohen Arbeitsaufwand, den die WzT mit sich bringt.30 Als eine Indikation für die WzT begegnete mir die starke Belastung von Angehörigen. In dieser Indikation zeigt sich die doppelte Zielorientierung der Intervention. Nicht nur Patient_innen sollen von der WzT profitieren, sondern auch Angehörige. Und bereits bei der Auswahl der Patient_innen können die
30 Der Umgang mit der zeitlichen Ressourcenknappheit zieht sich durch die ganze WzT. In Kapitel IV.4 wird auf diese Herausforderung genauer eingegangen.
Anbieten: Auswählen – Annehmen – Ablehnen
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Angehörigen als Empfänger_innen der generativen Erzählung mitgedacht werden. Als weitere Indikation tauchte der Sterbewunsch oder auch eine latente Suizidalität auf. Während ein Sterbewunsch Ausdruck von Akzeptanz des nahestehenden Todes sein kann und dieser Wunsch das Reden über Hinterlassenschaft und Generativität ermöglicht, vielleicht sogar vereinfacht, kann eine lebensverneinende, suizidale Haltung Ausdruck eines geschwächten Würdeempfindens sein und gerade deshalb die WzT verlangen.31 Wie sich eine solche Zuschreibung eines geschwächten Würdeempfindens gestalten kann und welche Funktion die WzT dabei einnehmen könnte, fasst der folgende Auszug aus meinem Forschungstagebuch zusammen, der die Überlegungen einer leitenden Ärztin während eines interdisziplinären Austausches über einen Patienten wiedergibt: Die leitende Ärztin schildert, dass der Patient vermehrt Sätze äußere wie: ›Ich kann und will so nicht mehr leben. Ich bin nichts mehr wert.‹ Sie fährt mit dem Verweis auf die WzT fort und äußert, dass die Intervention ihm vielleicht aufzeigen könne, dass hinter diesem ›so‹ noch viel mehr stecke; ein Leben, das er hatte, Erfahrungen und Schätze, die er weitergeben kann. Und dass dadurch sein Würdeempfinden wieder gestärkt werden könne. (FT2)
In dieser Argumentation rückt die WzT als würdestärkende Intervention ins Zentrum, die all das wieder ans Licht bringen soll, was durch die Krankheit nicht mehr erkannt wird: ein vergangenes Leben voller »Erfahrungen und Schätze«, die weitergegeben werden können. Mit der Weitergabe verweist die Ärztin auf die in der WzT zentrale Generativität, die durch die Anfertigung des Generativitätsdokuments umgesetzt werden soll. Während im obigen Fall der Verlust des Blicks auf ein Außerhalb der Krankheit als Indikation für die WzT erkannt wird, zeigt sich ein anderer Therapeut in einem ähnlichen Fall ambivalent. […] und die Patientin auf der Palliativstation, die sehr niedergeschlagen, antriebslos und hoffnungslos ist und wahrscheinlich immer schon ein Mensch war, der wenig über sich gesprochen hat. Und auch gar nicht mehr sehen kann, dass es im Leben auch was Anderes gab. Bei der ist es wirklich schwierig. Und dann fragt man sich auch, ob es für sie nicht eine Überforderung ist, wenn man ihr zu nahekommt. Wobei man gleichzeitig auch das Gefühl hat, dass man dagegensteuern muss. (IN)
Wegen der Niedergeschlagenheit der Patientin, ihrer Hoffnungslosigkeit, der möglichen introvertierten Charaktereigenschaft und des verlorenen Blicks auf 31 Dieser Zusammenhang von »Würdeverlust« und dem Wunsch nach einem vorzeitigen Tod war zumindest die Motivation dafür, wieso Chochinov und sein Team begannen, Würde mit einem empirischen Ansatz zu erforschen, und schließlich die WzT konzipierten. Die Korrelation führt Chochinov auf eine Studie von Paul van der Maas und Kollegen zurück, die 1991 im »Lancet« erschienen ist (vgl. Chochinov 2012: 4).
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Transformieren: Damit etwas bleibt, wenn man geht
ein Außerhalb der Krankheit sieht der Therapeut in der WzT einerseits eine potentielle Überforderung. Andererseits fühlt er sich auch verpflichtet, dieser Hoffnungslosigkeit entgegenzusteuern – gerade durch die WzT. Weil sich die intendierte Linderung essentieller Not an die Konfrontation mit dem eigenen Leben, dem eigenen Tod und einer entstehenden Nähe zwischen Therapeut_innen und Patient_innen koppelt, ist die Entscheidung für oder gegen ein Angebot der Therapie ein Abwägen von potentieller Unterstützung und potentieller Überforderung. Die oben genannten Eigenschaften – Niedergeschlagenheit, Hoffnungslosigkeit, Introvertiertheit, Fokussierung auf Krankheit – können also in dieser Kombination sowohl Indikatoren als auch Ausschlussmerkmale sein. Neben den niedergeschlagenen und hoffnungslosen Patient_innen gibt es solche, die voller Hoffnung sind. Und auch eine solche vorhandene Hoffnung kann Ausschlusskriterium für die WzT sein, nämlich dann, wenn es sich um eine Hoffnung auf Genesung handelt und der baldige Tod nicht akzeptiert wird. Diese fehlende Akzeptanz und die noch vorhandene Hoffnung sind für eine begleitete Ärztin Indikatoren dafür, die WzT nicht anzubieten. So formulierte sie während einer Besprechung, dass man mit der WzT warten solle. Eine Konfrontation mit der Endlichkeit durch die Frage der Hinterlassenschaft sei noch zu schwierig und zu früh. Der Patient sei noch so voller Hoffnung und akzeptiere nicht, dass es so schlecht um ihn stehe (vgl. FT2). Hoffnung ist ein Aspekt des »Dignity Conserving Repertoire« (Chochinov 2012: 9), der als würdestärkender Faktor durch die WzT aktiviert werden soll. Es handelt sich dabei aber nicht um Hoffnung auf Genesung, sondern um Hoffnung trotz ausbleibender Genesung. Letzteres Verständnis von Hoffnung kann sich entwickeln, wenn Heilungschancen schwinden. In dieser Entwicklung sieht Chochinov die Möglichkeit, trotz einer infausten Prognose den Lebenswillen nicht zu verlieren: Clearly, the meaning of hope shifts as curative possibilities begin to fade. Rather than being predicated on time, hope, toward the end of life, is intimately connected to notions of meaning and purpose. Without such hope, loss of the will to live or a heightened desire for death is much more likely. (Chochinov 2012: 18)
Sind Patient_innen noch zu sehr auf die erstgenannte Hoffnung fokussiert und können dabei die infauste Prognose nicht annehmen, kann ein Angebot der WzT, die letztlich eine Veränderung dieser Hoffnung anstrebt, zurückgehalten werden.32 32 Hoffnung ist in der Palliative Care ein zentrales Thema und gilt als wichtige Ressource (vgl. Duggleby 2001; vgl. Holtslander 2008; vgl. Parker-Oliver 2002). Chochinov hat in einer Studie gezeigt, dass Hoffnungslosigkeit bei unheilbar kranken Menschen mit verstärkter Suizidalität korreliert (vgl. Chochinov u. a. 1998).
Anbieten: Auswählen – Annehmen – Ablehnen
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Während bis anhin die emotionale und psychische Befindlichkeit als Indikation für oder gegen ein Angebot der WzT im Zentrum stand, gibt es auch ganz praktische Gründe dafür, dass ein Anbieten der WzT umstritten sein kann. So diskutierten in einem von mir beobachteten Gespräch Ärztin und Therapeutin über einen Patienten mit mangelhaften Deutschkenntnissen. Während die Ärztin eine WzT nicht für möglich hielt, setzte sich die Therapeutin für ein Angebot der WzT ein, jedoch in reduzierter Form mit weniger Fragen und einem kürzeren Dokument (vgl. FT2). In dieser Argumentation erscheint der Fragenkatalog der WzT in einer flexiblen Handhabung, wie er auch in Kapitel IV.2 diskutiert wird.
1.3
Formen des Anbietens
Auf der Basis der teilnehmenden Beobachtung dreier Vorgespräche und der problemzentrierten Interviews mit den Therapeut_innen steht nun das Anbieten der WzT in seinem Vollzug im Zentrum. Die von mir beobachteten Gespräche wurden alle von der gleichen Therapeutin geführt. In den drei Begegnungen hat die Therapeutin die WzT als »Angebot, das sowohl Sie als auch Ihre Angehörigen im Blick hat« (FT2), als »Angebot auf Seiten der Psychologen« (FT2) und als »Unterstützung für Sie und Ihre Angehörigen« (FT2) umschrieben. In einem Folgesatz wurde dann dieses Angebot mit »Würdezentrierte Therapie« benannt. In den Formulierungen wird zum einen mit »Angebot« die Freiwilligkeit der Teilnahme betont, zum anderen zum Ausdruck gebracht, dass sowohl die Patient_innen als auch ihre Angehörigen Empfänger_innen dieses Angebots sind. Mit dem Verweis »auf Seiten der Psychologen« gibt die Therapeutin eine erste Rahmung der Art des Angebots. In der dritten Formulierung schwingt mit »Unterstützung« bereits eine Begründung respektive eine Zielsetzung mit. Das Angebot soll unterstützen. Im weiteren Verlauf der Gespräche wurde nur sehr rudimentär auf den Nutzen der Therapie verwiesen. So erklärte die Therapeutin einer Patientin, dass ein »Vermächtnis« geschaffen werden könne, das insbesondere für die Angehörigen möglicherweise eine »Hilfestellung« sei (FT2). Auch bei der anderen Patientin sprach sie von »Hinterlassenschaft«, aber ebenso von der Möglichkeit, »wieder mehr zu wissen, wer man eigentlich ist« (FT2). Letzterer Aspekt verweist auf eine der würdebewahrenden Perspektiven, die bei Chochinov »Continuity of self« (Chochinov 2012: 14) genannt wird. Den konkreten Ablauf der Intervention hat die Therapeutin bei allen drei Patient_innen mit ähnlichen Worten beschrieben. So sprach sie von einem Gespräch, das mit den Patient_innen geführt, auf Tonband aufgezeichnet, abgetippt und im Anschluss von ihr »noch schön in Form« gebracht werde. Dabei erwähnte
78
Transformieren: Damit etwas bleibt, wenn man geht
sie auch die Möglichkeit, Dinge zu streichen. Abschließend verwies sie auf die Weitergabe an die Angehörigen (vgl. FT2). In dieser Beschreibung fehlte das Vorlesen als Zwischenschritt. Auch bei Chochinovs »Typical Dignity Therapy Introduction« (Chochinov 2012: 61) wird das Vorlesen nicht erwähnt. Was die Therapeutin zwischen »Gespräch führen« und »Weitergeben« erklärt, sind all jene Praktiken, die eine offensichtliche Veränderung der sprachlich-narrativen und/oder materiell-medialen Erzählung mit sich bringen; Veränderungen also, die ausdrücken, in welcher Form die Erzählung schließlich an die Angehörigen weitergegeben wird. Das Vorlesen aber bringt keine solchen relevanten Änderungen mit sich (wohl aber das erwähnte Streichen als Teil der Vorlesesitzung) und scheint vielleicht gerade deshalb nicht erwähnenswert.33 Während ich beobachten konnte, wie die obige Therapeutin die WzT in der Reihenfolge Benennung – Begründung – Ablauf vorstellte, gestaltete sich bei einem anderen Therapeuten, gemäß eigener Aussage, das Vorstellen als subtile Hinführung: »Also ich mache es immer so, und das haben wir auch so im Team gemacht, dass ich den Patienten sage, dass ich mich für sie als Mensch interessiere – über das hinaus, was eigentlich so im Moment als Patient in den Behandlungen im Vordergrund steht.« (IN) In dieser Hinführung lässt sich ein genuin menschliches Interesse am Anderen erkennen und ein Blick auf den Menschen mit einer Krankheit und nicht primär auf die Krankheit eines Menschen. Auf diese Interessensbekundung folgen gemäß dem Therapeuten ein Beobachten, Abwarten (vgl. IN) und ein »[G]ucke[n], ob der Patient damit etwas anfangen kann. Und dann sage ich immer auch, dass wir uns für das interessieren, was er im Leben so erlebt hat und was für ein Mensch er ist« (IN). Erst danach werden mit dem Verweis auf das Gespräch, den Fragenkatalog und den Generativitätsgedanken erste Elemente der Intervention eingeführt: Und dann warte ich auch immer und gucke. Und dass wir, wenn er sich dann darauf einlassen möchte, in den Gesprächen mit einem Fragebogen arbeiten. Und dann erkläre ich auch immer, dass wir diesen Fragebogen haben und dass es um wichtige Episoden im Leben geht. Dass es darum geht, auch nochmals zu gucken, was man der Familie mitteilen möchte, und dann entsteht ja auch meistens schon ein Gespräch und dann erkläre ich den Ablauf. (IN)
In den von mir beobachteten Formen des Anbietens ist in keinem Fall, außer im Benennen der Therapie, das Wort »Würde« gefallen. Vielmehr wurde im Anbieten mit dem würdebewahrenden Repertoire gearbeitet, das in der Konzeption 33 Im Infoflyer der Deutschen Gesellschaft für Patientenwürde e. V., der für Institutionen und Patient_innen entworfen wurde, ist der Schritt des Vorlesens sodann auch aufgeführt. Darin heißt es bei der Beschreibung des Ablaufs: »Bei einem nächsten Treffen wird Ihnen dieser Entwurf vorgelesen. Das eigene Leben vorgetragen zu bekommen, ist ein ganz besonderer, einprägsamer Moment« (Deutsche Gesellschaft für Patientenwürde e. V.).
Anbieten: Auswählen – Annehmen – Ablehnen
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der WzT Teil des Konstrukts »Würde« ist. Argumentiert wurde dabei jedoch nur mit zwei Themen dieses Repertoires: Selbstkontinuität und Generativität (vgl. Abbildung 2). Die drei Beobachtungen und der Auszug aus dem Interview als ein Reden über das Anbieten zeigen nur Ausschnitte. Doch auch wenn es nur Ausschnitte sind, lässt sich darin erkennen, welch großen Stellenwert der Generativitätsgedanke einnimmt.
1.4
Annehmen: weil die eigene Handschrift »brüchig« wird
Der Fragenkatalog in der WzT soll würdestärkendes Erzählen evozieren. Dabei stehen Stolz, Lebendigkeit, Wünsche und Hoffnungen für Angehörige im Zentrum. Weil aus dem Erzählen als Vollzug eine Erzählung als Produkt entsteht, wird auch eine Hinterlassenschaft geschaffen, die eben diese Themen umfasst. In Erinnerung soll folglich ein Leben bleiben, das nicht die Krankheit ins Zentrum stellt, sondern Lebendigkeit und Hoffnung. Um dieses Ziel zu verfolgen, rät Chochinov von der Weitergabe der in der WzT entstandenen Audiodatei ab. Denn Stimmen von kranken Menschen können manchmal alles andere als lebendig und hoffnungsvoll klingen. So schreibt er: The written transcript, however, has several advantages over other media. It disconnects the patient’s words from a voice or physical image that may be encumbered by advancing illness. In spite of sickness, words can maintain their power and poignancy without the distraction of how someone looks or sounds. (Chochinov 2012: 66)
Auch wenn es sich bei den Audioaufnahmen um konservierte Stimmen34 handelt, die letztlich eine Synchronizität von hörbarer Stimme und sichtbarem Körper unmöglich machen – Macho spricht von »Stimmen ohne Körper« (Macho 2006) –, verweisen auch diese auf Körper: Körper, die einst die Laute zum Erklingen brachten.35 Stimme und Körper sind also miteinander verbunden. So schreibt etwa Sybille Krämer von der »Stimme als Spur des Körpers im Sprechen« (Krämer 2005: 157): Die Stimme ist verknüpft mit einer elementaren Motorik des Körpers. Und welche Signatur zwischen Geräusch und artikuliertem Laut die Stimme auch annimmt: Ihr Timbre, ihre Klangfarbe, Tonlage, Lautstärke, ihr Rhythmus zeugen von der Verfassung des Körpers, der zum Organon der Verlautbarung wird. Der ›Ort‹ der Stimme ist die 34 Diese konservierte Stimme und deren Verschriftlichung werden in Kapitel IV.0 ausführlicher behandelt. 35 Durch »systematische Bewegungen (Lippen, Zunge, Kiefer, Stimmbänder, Kehlkopf, Brust, Zwerchfell)« entstehen »Vibration und Artikulation […] Ton, Akzent und Rhythmus« (Krämer 2005: 159).
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Transformieren: Damit etwas bleibt, wenn man geht
Aktivität des sie erzeugenden Körpers; der Körper gibt sich in der Stimme kund. (Krämer 2005: 159)
Genauso wie die Stimme eine Spur des physischen Körpers ist, verweist sie auch auf die »Gestimmtheit« (Krämer 2005: 159), die ich gemäß Schmitz als »affektives Betroffensein« (Schmitz 2019: 13) bezeichne. Stimme verweist also auf den Körper – auch verstanden als Leib – und drückt somit die Wahrnehmung des eigenen Körpers aus. Chochinov will den Verweis auf den Körper-Leib auflösen, zumindest mit Blick auf die Angehörigen. Die Spur des erzählenden Körpers soll für die zukünftigen Rezipienten nicht mehr erkennbar sein. Die Worte der Patient_innen sollen von ihrem kranken Körper, ihrer kraftlosen, vielleicht auch schmerzverzerrten Stimme getrennt werden. Denn die Stimme als Spur des kranken Körpers soll nicht von den kraftvollen und präzisen Worten ablenken. Chochinov plädiert deshalb für die Weitergabe der schriftlichen Erzählung. Sie macht als elektronisch durch eine andere Person abgetippte, externalisierte Erzählung diese Trennung, dieses Tilgen der Spur möglich. Die von Chochinov empfohlene »Trennung« von Stimme und Worten lässt sich auch auf die von Krankheit gezeichnete eigene Handschrift übertragen. Und damit gewinnt der Titel dieses Kapitels an Bedeutung. Eine Patientin, der die WzT angeboten wurde, erzählte, dass sie für ihre Kinder bereits Briefe angefangen habe, die sie ihnen hinterlassen möchte. Doch leider werde ihre Handschrift immer brüchiger und ihre Kraft immer weniger. Die Patientin entschied sich für die WzT. Dabei äußerte sie zwei Gründe: Erstens möchte sie gerne Hilfe in Anspruch nehmen, weil sie selbst kaum noch schreiben könne, und zweitens könne man an ihrer Handschrift sehen, wie sehr ihr die Krankheit zusetze. Dies wolle sie nicht (vgl. FT2). Ähnlich wie die Stimme ist die eigene Handschrift enger an den eigenen Körper gekoppelt als eine elektronische standardisierte Verschriftlichung. Das Schreiben von Hand wird zwar erst durch ein außerhalb des Körpers liegendes Schreibwerkzeug möglich, dennoch ist es der Körper selbst, der dieses Werkzeug einsetzt. Dabei erscheinen im Gegensatz zum elektronischen Schreiben die Buchstaben durch Druck und Bewegung der Hand in individualisierter Form. In der Handschrift kommen die körperliche Beschaffenheit und Befindlichkeit des Schreibers zum Ausdruck. Die Kulturtechnik des Schreibens ist nicht zuletzt eine hochentwickelte Körpertechnik – die Größe und Gliederung der Hand, die Länge des Unterarms, die Haltung der Schulter, die Muskelspannung, die Atemweite, all dies beeinflusst die Schreibbewegung und bestimmt das Design der Schrift. (Ingold 2017)
Schreiben ist, wie es Sandro Zanetti in seiner Einleitung zum Sammelband »Schreiben als Kulturtechnik« festhält, also »ein Vorgang, der zwangsläufig eine Beteiligung des Körpers impliziert« (Zanetti 2015: 16). Die besagte Patientin möchte ihren kranken Körper vom Schreibakt trennen, Unterstützung anneh-
Anbieten: Auswählen – Annehmen – Ablehnen
81
men und das Schreiben ihrer Erzählung an einen anderen, gesunden Körper delegieren, der sich einer standardisierten Schrift (im Gegensatz zur Handschrift) bedient. So wie die Stimme die Spur des Körpers ist, kann auch die Handschrift als eine solche Spur bezeichnet werden. Die Handschrift ist wortwörtlich vom Körper gezeichnet. Aufgrund von Chochinovs Äußerung zur Audiodatei und deren Übertragung auf die Handschrift rückt die Erzählung mit ihren drei Dimensionen als interagierendes Gefüge ins Zentrum. In der mündlich vollzogenen Erzählung und in abgeschwächter Form auch in der handschriftlichen Erzählung ist die sprachlichnarrative Dimension an die körperlich-leibliche Dimension gekoppelt. Diese Koppelung wird durch das delegierte elektronische Niederschreiben gelöst. Dabei gewinnt die materiell-mediale Dimension der so verschriftlichten Erzählung an Bedeutung und schiebt sich sozusagen als Trennwand zwischen die zwei anderen Dimensionen.
1.5
Ablehnen: »Ich will nicht in ein Dokument gepfercht werden!«
Während die obige Patientin die WzT annahm, hat ein anderer Patient das Angebot entschieden abgelehnt: Der Patient erzählt, dass er kein Grab möchte an einem fixen Ort. Er möchte, dass seine Asche im Meer verstreut wird. Er möchte nicht an einem bestimmten Ort sein, sondern überall. Er möchte dort sein, wo es ihm gut ging. Am Meer. Die Therapeutin nimmt dieses Bild der Asche auf und interpretiert es mit ihren eigenen Worten: ›Sie möchten gar keine solche konkrete Hinterlassenschaft?‹ Der Patient stimmt ihr zu und unterstreicht diesen Gedanken weiter. Er möchte nicht an etwas festgemacht werden, er möchte überall sein und kein Vermächtnis weitergeben: ›Ich will nicht in ein Dokument gepfercht werden!‹ (FT2)
In dieser Szene rückt die generative Erzählung vor allem als Dokument in seiner materiell-medialen Dimension ins Zentrum. Das »Ding-Sein« (Meier u. a. 2015: 21) verlangt eine Ver-Ortung, muss also irgendwo sein. Dabei ist es ein Ding, ein Dokument. Diese Eigenschaft widerspricht dem Wunsch des Patienten. Er will sich gerade einem »fixen Ort« entziehen, »überall sein« und »nicht an etwas festgemacht werden«. Erstens ist er in Form der verstreuten Asche nicht ein Teil, sondern viele und durch die Kraft des Meeres nicht an einem, sondern an vielen Orten, attestiert dem Dokument somit Begrenztheit und Enge. Zweitens erscheint das Dokument in den Ausführungen des Patienten in einer stark repräsentativen, wenn nicht sogar identifikatorischen Funktion. Dieser Funktion will er sich aber gerade entziehen, weil sie sich nicht mit seinen eigenen Wünschen und Vorstellungen deckt. Eine dritte und abschließende Beobachtung
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Transformieren: Damit etwas bleibt, wenn man geht
fokussiert auf den in der WzT so zentralen Gedanken der Generativität. Aus der Szene ist nicht zu eruieren, ob sich der Patient generell einer Einflussnahme auf die Hinterbliebenen entziehen möchte. Was jedoch zum Ausdruck kommt, ist die Ablehnung einer konservierten Generativität. Mit »whatever is said is captured and preserved for posterity« (Chochinov 2012: 40) hebt Chochinov den Vorteil eines schriftlichen Dokuments hervor. Genau dieser Vorteil widerspricht dem Wunsch des Patienten.
1.6
Der ausgehändigte Fragenkatalog: Elan durch Aufgabe
Abschließend stehen eine bestimmte Handlung innerhalb der Vorgespräche und die damit verbundene Auswirkung im Zentrum: das Aushändigen des Fragenkatalogs. Während Chochinov schreibt, dass dieser die Patient_innen beruhigen und ihnen bei der Vorbereitung auf das WzT-Interview helfen kann (vgl. Chochinov 2012: 174), konnte ich noch weitere Bedeutungszuschreibungen dafür ausmachen. Eine Transkribierende, die selbst bei der WzT einer Patientin anwesend war, erzählte mir über diese Patientin Folgendes: »Sie hatte die Fragen und hatte die auch schon, keine Ahnung, eine Woche vorher durchgelesen und den Schwestern [Pflegepersonal] auch davon erzählt und war total aufgeregt.« (IV) Auch die Patientin selbst, mit der ich ein kurzes Gespräch führen konnte, erwähnte den Fragenkatalog. Dabei sprach sie nicht nur von positiver Aufregung und der Vorfreude, die durch die Beschäftigung damit verstärkt werde, sondern auch davon, dass sie nun endlich wieder einmal eine Aufgabe habe. Die Beschäftigung mit dem Fragenkatalog im Vorfeld des WzT-Interviews habe ihr neuen Elan gegeben (vgl. FT2). Sinnvolle Betätigung und Beschäftigung sind für Menschen mit einer unheilbaren Krankheit wichtige Ressourcen (vgl. Keesing/Rosenwax 2011). Fällt Betätigung weg, kann dieser Zustand zu einem Gefühl der Hilflosigkeit und Nutzlosigkeit führen (vgl. Lyons u. a. 2002; vgl. Keesing/Rosenwax 2011). Die Vorbereitung auf die WzT mithilfe des Fragenkatalogs kann eine Beschäftigung sein, die »Elan« schenkt und vielleicht auch dem Gefühl von Nutzlosigkeit entgegenwirkt.
1.7
Fazit: die WzT im Licht des Anbietens
Im Anbieten der WzT, im vorausgehenden Auswählen der Patient_innen und in den nachfolgenden Reaktionen akzentuieren die Akteur_innen unterschiedliche Seiten der Intervention, deuten diese und schreiben ihr Bedeutung zu.
Anbieten: Auswählen – Annehmen – Ablehnen
83
Im Deuten durch die Therapeut_innen und im Vollziehen erscheint die WzT bereits in der Patient_innenauswahl in ihrer Doppelfunktion als Unterstützung für schwer erkrankte Menschen und deren Angehörige (vgl. Indikation belastete Angehörige). Die Intervention rückt im Auswählen der Patient_innen auch als lebens- und todesbejahendes Angebot ins Zentrum. Dabei schwingen zwei Konzepte von Hoffnung mit: Hoffnung auf Genesung und Hoffnung trotz ausbleibender Genesung. Während Erstere ein Angebot der WzT erschweren kann, ist Letztere ein Ziel der Intervention. In den beobachteten und besprochenen Formen des Anbietens wurde die Intervention zwar als »Würdezentrierte Therapie« vorgestellt, ein explizites Nennen von »Würde« oder »würdestärkend und würdebewahrend« blieb jedoch aus. Vielmehr akzentuierten die Therapeut_innen Aspekte des »würdebewahrenden Repertoires«, allen voran die Generativität. Bei der Reaktion auf das Angebot der WzT rückt die entstehende generative Erzählung in ihren unterschiedlichen Dimensionen ins Zentrum. Das Beispiel der Therapieannahme drückt den Wunsch nach Trennung der körperlich-leiblichen und der sprachlich-narrativen Dimension aus. Weil die eigene Handschrift Spuren des geschwächten Körpers mittransportiert, soll das Aufschreiben der Lebenserzählungen delegiert werden – ein Wunsch, der mit Chochinovs Haltung gegen die Weitergabe der Audiodateien korrespondiert. Die WzT macht die Trennung von körperlich-leiblicher und sprachlich-narrativer Dimension zumindest im Endprodukt möglich. Im Verlauf der WzT, und das zeigen die folgenden Kapitel, entwickelt sich das Beziehungsgeflecht zwischen den Dimensionen jedoch dynamisch. Getrenntes verbindet sich wieder, erscheint dabei als repräsentierte oder als imaginierte Verbindung. Auch bezüglich der beschriebenen Ablehnung der Therapie tritt die generative Erzählung in ihrer Mehrdimensionalität ins Zentrum. Dabei erscheint die materiell-mediale Dimension, die eine Konservierung der Erzählung möglich macht, als statisch, einengend und unflexibel: zugeschriebene Eigenschaften, die zu einer Ablehnung der Intervention führen. In den Beispielen von Annahme und Ablehnung werden die Dimensionen der generativen Erzählung erkannt, gedeutet und in ihren Interaktionen sowohl als Hilfestellung als auch als Hinderungsgrund wahrgenommen. Schließlich zeigen die dargelegten Beispiele auch, wie bei der Annahme der Therapie und durch den ausgehändigten Fragenkatalog nicht nur Vorfreude aktiviert wird, sondern wie die Vorbereitung auf die WzT auch als Aufgabe wahrgenommen wird, die neuen Elan schenkt. Die Vorbereitung mit dem Fragenkatalog kann für Patient_innen zu einer sinnstiftenden Beschäftigung werden, eine Ressource, die auch bei schwerkranken Menschen hohes Potential in sich birgt und weit über die bei Chochinov beschriebene Funktion hinausgeht.
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Transformieren: Damit etwas bleibt, wenn man geht
Beim Anbieten der WzT werden Patient_innen mit deren Inhalt, Form und Funktion vertraut gemacht. Sie werden mit dem Leben und dem Tod zugleich konfrontiert, und dabei steht nicht nur ihr Leben im Fokus, sondern auch das ihrer Angehörigen. Die generative Erzählung offenbart sich in ihrer Mehrdimensionalität, die eine gewünschte Trennung von Körper-Leib und Sprache möglich macht, die aber auch verfestigt und konserviert – Eigenschaften, die sowohl als unterstützend als auch als einengend wahrgenommen werden.
2
Interviewen und Erzählen: die Transformation vor Augen Wenn die Patienten gerade ihr Interview hatten, dann wissen alle: Oh, da liegt ein rohes Ei. (Therapeutin)36
Das Kernstück der WzT ist das Interview mit den Patient_innen. Die interviewenden Therapeut_innen treten dabei als Akteur_innen auf, die das Gespräch strukturieren, bahnen und letztlich durch das Audiogerät konservieren, wissend, dass sie im späteren Verlauf den entstehenden Text editieren, vorlesen und letztlich an die Patient_innen oder an die Angehörigen weitergeben. Durch die Einstiegsfrage »Erzählen Sie mir ein wenig aus Ihrer Lebensgeschichte; insbesondere über die Zeiten, die Sie am besten in Erinnerung haben oder die für Sie am wichtigsten sind« (Chochinov 2017: 103) werden die Patient_innen zu einem autobiografischen Erzählen aufgefordert, das nicht selten aufwühlt und berührt. Wie ich im vorangegangenen Kapitel beschrieben habe, findet vor der Erzählsitzung ein Vorgespräch mit den Patient_innen statt, in dem die Therapeut_innen die WzT anbieten und vorstellen. Dabei werden, gemäß der Therapiekonzeption nach Chochinov, den Patient_innen die Leitfragen zur Vorbereitung und Durchsicht ausgehändigt. Aufgrund dieses Vorgesprächs ist die Erzählsitzung in der WzT nicht die Stunde null, in der alles beginnt. Dennoch ist sie die Ausgangslage der Transformation, weil hier die Konservierung der Erzählung ihren Lauf nimmt, die die folgenden Praktiken mit der Erzählung erst ermöglicht. Während das Vorgespräch die Erzählung zwar mitkonstruiert, wird mit dem WzT-Interview bereits auf ein Zwischenprodukt in der Transformationskette abgezielt: die Audiodatei. Und damit wird der in der WzT zentrale Generativitätsgedanke konkret, beginnt doch hier das Festhalten für Angehörige und Freunde. Das Erzählen als gegenwartsbezogene Praxis, die Vergangenheit und Zukunft zum Thema macht, interessiert als Anfangspraxis einer Transformationskette.
36 IL.
Interviewen und Erzählen: die Transformation vor Augen
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Die Analyse dieser Praxis basiert dabei primär auf der teilnehmenden Beobachtung von insgesamt fünf WzT-Interviews sowie den themenzentrierten Interviews und informellen Gesprächen. Gegenstand der Analyse ist hier also nicht die als Audiodatei oder als Transkript manifestierte Erzählung, sondern die Erzählung im Vollzug und die retrospektive Versprachlichung über das Interviewen und Erzählen. Dies bedeutet, dass die Erzählung nicht unter einem narratologischen oder konversationsanalytischen Blick ins Zentrum rückt. Vielmehr liegt das besondere Augenmerk auf den drei folgenden Aspekten: dem Fragenkatalog37, dem Audiogerät und den Adressat_innen der Generativitätsdokumente, wobei letzterer Fokus hier Adressat_innenorientiertheit genannt wird. Auch wenn jede Art der Kommunikation von unzähligen inneren und äußeren Einflüssen geprägt wird, fokussiere ich im Folgenden auf die genannten drei, geben sie doch Inhalt und Struktur der entstehenden Erzählung vor (Fragenkatalog), ermöglichen Folgepraktiken (Audiogerät) und sind in der Therapiekonzeption wesentliche Motivation für das Interviewen, Erzählen und Transformieren (Adressat_innenorientiertheit). Der Blick auf den Umgang mit dem Fragenkatalog, dem Audiogerät und dem Adressat_innenbewusstsein eröffnet Einblicke in normative Vorstellungen über Inhalte und Adressat_innen der generativen Erzählungen und zeigt auch, wie in der Interviewsitzung die Souveränität von Therapeut_innen und Patient_innen als Ko-Konstruierende der Erzählung gestaltet wird und verteilt ist.
2.1
Interviewen und Erzählen nach Chochinov
Unter der Kapitelüberschrift »Doing Dignity Therapy« (Chochinov 2012: 74) fasst Chochinov den Ablauf und die Herausforderungen vom Vereinbaren eines Termins für das WzT-Interview über die Auswahl des Settings (Raum) bis hin zur Durchführung des Interviews zusammen. Im Folgenden resümiere ich, was Chochinov zu den drei Elementen Fragenkatalog, Audiogerät und Adressat_innenorientiertheit erläutert. Wie im vorangegangenen Kapitel erwähnt, wird in der Therapiekonzeption nach Chochinov den Patient_innen der Fragenkatalog bereits im Vorgespräch ausgehändigt. Über den Umgang mit dem physisch präsenten Fragenkatalog, etwa zur Platzierung, gibt Chochinov keine Auskunft. Er erläutert jedoch, wie die Fragen einzusetzen sind. So schreibt er: »There is a great deal more to Dignity Therapy than simply reading the question protocol to patients and passively 37 Der von Chochinov gewählte Begriff »Dignity Therapy Question Protocol« (Chochinov 2012: 70) lautet in der deutschen Übersetzung »Fragekatalog der Würdezentrierten Therapie« (Chochinov 2017: 103). Im Folgenden spreche ich von »Fragenkatalog«.
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awaiting the response.« (Chochinov 2012: 77) Chochinov hebt hervor, dass der Fragenkatalog eben »nur« leiten, jedoch die Patient_innen in ihrer Erzählfähigkeit nicht einschränken soll: »These questions are meant to act as a guide for therapists providing Dignity Therapy. They are not intended to be rigid or prescriptive or in any way to limit the scope of Dignity Therapy.« (Ebd.: 71) Diese Spannung zwischen Leiten und Zulassen verlangt gemäß Chochinov einen hohen Grad an Aufmerksamkeit: The tension of allowing patients to move independently and yet knowing when to guide them, even actively redirect them, is the essence of active listening and facilitation in Dignity Therapy. It is simply not possible to accomplish this task without full attention and complete engagement. (Chochinov 2012: 78)
Chochinov verortet diese Balance unter dem Ziel der Kollaboration: »There should be a high degree of collaboration between the therapist and the patient to ensure that the patient feels engaged, encouraged, and nurtured.« (Chochinov 2012: 79) Dem Umgang mit dem Audiogerät widmet Chochinov eine eigene Überschrift: »Using an Audio Recorder« (Chochinov 2012: 76). Auf ca. einer halben Seite gibt er Tipps zur Aufnahmequalität, zur Position des Geräts, aber auch Hilfestellungen für Patient_innen, die durch das Audiogerät verunsichert sind. So hält er fest: To allay their anxiety, remind patients that because the conversation is being recorded and then transcribed, any changes whatever can be made to the transcript; anything can be added, deleted or, should they so choose, the entire manuscript can be discarded. (Chochinov 2012: 76)
In seinen Ausführungen schreibt er dem Audiogerät auch eine Korrektur ermöglichende Funktion zu: »[B]ecause the conversation is being recorded, the manuscript can be edited so that chronological inconsistencies, interruption, and false starts can all be eliminated.« (Chochinov 2012: 77) Erst durch die Aufnahme entsteht eine zu transkribierende Audiodatei, die dann auch editiert werden kann. Die Adressat_innenorientiertheit als letzter der drei hier im Zentrum stehenden Aspekte ist bereits im Fragenkatalog wie auch in der Funktion der Audioaufnahme inkludiert. Nach Chochinov soll im Vorgespräch, spätestens aber zu Beginn des WzT-Interviews geklärt werden, an wen sich die entstehende Erzählung richtet. Die Adressat_innenorientiertheit, die sich durch die gesamte WzT hindurchzieht, spielt bei Chochinovs Aufforderung »Help patients provide clarity about the details of their stories« (Chochinov 2012: 87) eine Rolle. Mit dieser Aufforderung sensibilisiert er für Insiderwissen, das so aufbereitet werden soll, dass die späteren Lesenden das Erzählte nachvollziehen können. So schreibt Chochinov: »The therapist needs to take an active role in obtaining enough detail,
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so that the generativity document reads well for loved ones who may later take comfort from it.« (Ebd.: 87) Er veranschaulicht dieses Vorgehen an einem WzTInterview, in dem der erzählende Patient seine Enkelkinder nicht mit Namen erwähnt: »He began referring to them as ›my son’s eldest boy‹ and ›my daughter’s youngest.‹ His closest family members might have been able to sort through who was being identified, but simply having him specify by name who he was talking about, clarified the matter.« (Ebd.: 88) Weiter rückt bei Chochinov die Adressat_innenorientiertheit prioritär ins Zentrum, wenn es um sogenannte »ugly stories« (ebd.: 86) geht: Erzählungen, die das Potential haben, »to harm a recipient(s) of the generativity document« (ebd.: 86). Bei solchen Erzählungen sollen die Therapeut_innen an den Generativitätsgedanken und die damit verbundene Adressat_innenorientiertheit appellieren: The Dignity Therapist must always be mindful of content that might cause signif-icant harm. There will always be a certain element of judgment in determining the appropriate threshold for intervention. But, if in doubt, it is easy to check with the patient. ›You are raising some pretty difficult issues about your [family member] … how do you think they will feel hearing this? Have you ever dis-cussed this with them before? Is this something you would consider talking about with them face to face?‹ (Chochinov 2012: 87)
2.2
Die Erzählsettings im WzT-Interview: eine Feldbeschreibung
Auf den drei Palliativstationen konnte ich vier WzT-Interviews teilnehmend beobachten, ein fünftes, das jedoch nach 15 Minuten abgebrochen wurde, fand in einem Hospiz statt. Die anderen vier WzT-Sitzungen dauerten zwischen 25 und 50 Minuten. Alle vier fanden im Zimmer der Patient_innen statt. Den vier Patient_innen war ich bereits während meiner hospitierenden Tätigkeit auf der Station begegnet. Nur den Patienten, der ins Hospiz verlegt worden war, kannte ich noch nicht. Während bei den vier Interviews mit den Patient_innen neben der Therapeutin nur noch ich anwesend war, wurden wir beim Interview mit dem Patienten im Hospiz von einer studentischen Hilfskraft38 begleitet, die für die geplante Transkription verantwortlich war. Die Therapeut_innen waren mit einem Audiorekorder, dem ausgedruckten Fragenkatalog, einem Stift und Notizpapier ausgestattet. Auch ich hatte einen kleinen Notizblock und einen Stift dabei. Die Patient_innen saßen oder lagen – je nach Wunsch und krankheitsbedingten Einschränkungen – während der Interviews im Bett. Die Therapeutin saß seitlich des Bettes auf einem Stuhl, ich leicht zurückgesetzt daneben. Mit 38 In zwei der drei Kliniken, an denen ich meine Feldforschung durchgeführt habe, wurden die WzT-Interviews durch angestellte Psychologiestudierende transkribiert.
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diesem Abstand wollte ich signalisieren, dass ich nicht direkte Gesprächspartnerin bin, sondern »nur« eine anwesende aktive Zuhörerin. Während der teilnehmenden Beobachtung fokussierte ich mich intensiv auf den Umgang mit dem Fragenkatalog, das Audiogerät und die Adressat_innenorientiertheit. Neben diesem engen Fokus galt es, die Offenheit für Unerwartetes und Überraschendes zu wahren.
2.3
Der Fragenkatalog: Gestaltungsfreiheit und Gestaltungszwang
Obwohl die Interviews in der WzT durch den Umgang mit dem Fragenkatalog an Leitfadeninterviews aus der qualitativen Forschung erinnern, unterscheiden sie sich dennoch in einem wichtigen Punkt: dem Stellenwert des Erzählaktes für die Interviewten. Denn es geht eben nicht nur um das Konservieren der Erzählung für anschließende Folgehandlungen, sondern auch um Erfahrungen im Erzählen als Vollzug, die das Würdeempfinden steigern sollen (vgl. Chochinov 2012: 42). Es sind indessen nicht nur die Fragen, die im Dienst dieser Funktion stehen sollen, sondern gerade auch der Umgang mit ihnen, der ein offener, flexibler sein soll und in dessen Rahmen der Fragenkatalog letztlich »nur« als Leitfaden eingesetzt wird. Schließlich soll die flexible Handhabung den Patient_innen Raum bieten für individuelles und autonomes Erzählen. Der Fragenkatalog als Leitfaden formt in seiner doppelten Funktion – im Stellen der Fragen und im flexiblen Umgang – die entstehenden Erzählungen. In den themenzentrierten Interviews mit den Therapeut_innen betonten alle Befragten die hohe Bedeutsamkeit eines offenen Umgangs mit dem Fragenkatalog. Dieser thematisierte Umgang lässt sich in drei Modi zusammenfassen. Der erste Modus beinhaltet ein vertiefendes Fragen und somit ein Hinzufügen von Fragen. Ein Therapeut erzählt von einem WzT-Interview, in dem er vermehrt Fragen zur Beziehung zwischen dem Patienten und dessen Onkel stellte: Er [der Patient] hat ja dann auch seinen Onkel angedeutet. Da dachte ich dann auch, dass der wohl sehr wichtig ist. Er hat ja auch seinen Vater nicht richtig gekannt. Ja. Und das sind dann die Dinge, die einfach auch wichtig sind, die man zusätzlich erbringen muss. Das [spezifische Nachfragen] steht ja nicht im Frage[n]katalog. Aber man muss ein Gespür für den Patienten kriegen. Und dann entsteht natürlich etwas Gemeinsames, was nicht der Patient alleine steuert. (IN)
Der offene Umgang mit dem Fragenkatalog setzt gemäß diesem Therapeuten ein »Gespür« für den Patienten voraus. Der Therapeut muss verstehen, dass der Onkel eine wichtige Person für den Patienten war. Im Kontext der WzT lässt sich das Eingehen auf den Onkel als Strategie verstehen, die ein Erzählen über Wichtiges und Lebendiges im Leben aktivieren soll. Die ergänzenden Fragen als
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Reaktion auf das Erzählte machen die entstehende Erzählung für den Therapeuten zu »etwas Gemeinsame[n]«. Der Therapeut verdeutlicht somit sein Bewusstsein für die Ko-Konstruktion der Erzählung, die im Verlauf der Transformation immer wieder neu ausgehandelt wird. Der zweite Modus zeichnet sich durch ein reduziertes Fragen, bedingt durch bereits erzählte Themen, aus. So erklärt ein anderer Therapeut: Da sind ja diese Fragen, aber man geht die ja jetzt nicht Punkt für Punkt durch. Das sage ich den Menschen ja auch immer vorher. Das sind so Anhaltspunkte. Aber wenn sich das im Gespräch dann schon ergibt, dann muss ich ja nicht jede Frage nochmals extra stellen. Ich höre das ja, was gesagt wird. Und wenn das jetzt schon Thema war, dann nehme ich einfach das Nächste oder was sich jetzt thematisch anbietet. (IM)
Der Umgang mit dem Fragenkatalog erscheint auch in diesem Zitat als reaktive Tätigkeit, die sich am Erzählen der Patient_innen orientiert – nicht nur durch die Auswahl der nächsten Frage, sondern auch durch das Weglassen gewisser Fragen. Der dritte Modus beinhaltet ein reduziertes Fragen, bedingt durch einen entstandenen Erzählfluss, der nicht unterbrochen werden soll. So erzählt ein Therapeut: »Aber dann kam sie [die Patientin] […] so in Schwung und wir haben das andere [die Fragen im Katalog] gar nicht mehr berücksichtigt.« (IM) In diesem Zitat betont der Therapeut – im Gegensatz zum zweiten Modus – nicht die inhaltliche Ebene der Erzählung, sondern die Art und Weise, wie die Patientin erzählt. Die drei Modi zeigen verschiedene Arten des flexiblen Umgangs mit dem Fragenkatalog – ein Umgang, den auch ich in den WzT-Sitzungen wahrnahm. In keinem WzT-Interview war ein Abarbeiten der Fragen in ihrer gelisteten Reihenfolge beobachtbar. Vielmehr zeichneten sich die Interviews durch ein hohes Maß an Flexibilität und Offenheit aus. In allen teilnehmend beobachteten Sitzungen hatten die Therapeut_innen eine ausgedruckte Version des Fragenkatalogs dabei. Im Verlauf des Interviews blickten sie ab und an auf das Blatt und fuhren mit den Fingern entlang der Fragen. Christine Oldörp, die sich empirisch mit dem Vollzug qualitativer Leitfadeninterviews befasst hat, beschreibt das Blicken auf den Leitfaden während der Interviews wie folgt: »Der Umgang mit dem Leitfaden entspricht also einem intermedialen Handeln: aus einem Themenbedarf in der Mündlichkeit heraus, ratsuchend zur Schriftlichkeit und wieder impulsgebend in die Mündlichkeit.« (Oldörp 2018: 493) Die beschriebene Handlung kann in der Tat eine ratsuchende sein, in der nach einer Strukturierungs- und Orientierungshilfe gestrebt wird. Hinter dem Blicken auf den Fragenkatalog und dem Entlangstreichen mit dem Finger kann aber auch der Wunsch nach Selbstvergewisserung stehen. Die Fragen sind eigentlich memoriert, die Struktur bekannt und dennoch braucht es diesen einen Blick, der einem versichert, dass der eingeschlagene Weg stimmt. Und nicht zuletzt kann damit
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nicht nur nach Vergewisserung für sich selbst gesucht, sondern auch dem Gegenüber Vergewisserung respektive Sicherheit vermittelt werden, drückt doch die sichtbare Orientierung an einem schriftlich fixierten Fragenkatalog eine gewisse Form von Überlegt- und Strukturiertheit aus. Während in einem qualitativen Forschungsinterview der Leitfaden meistens nur den forschenden Interviewer_innen zugänglich ist, haben während des WzTInterviews auch die Interviewten Zugang zum Fragenkatalog, den manche von ihnen schon im Vorfeld studiert haben. In meinen Beobachtungen konnte ich feststellen, dass die Patient_innen ebenfalls den Fragenkatalog in ihre Handlungen integrierten. Auch sie blickten ab und an auf das Papier. Weil die Patient_innen Zugang zum Fragenkatalog haben, ist es also nicht nur das Blicken der Therapeut_innen auf den Katalog, das Sicherheit vermitteln kann, sondern auch ihr eigenes Blicken. Der Fragenkatalog wird dabei zu einer Kontrollinstanz für die Patient_innen, können sie doch mitverfolgen, welche Fragen von den Therapeut_innen wann gestellt werden. Ich konnte beobachten, wie manche Patient_innen auf ihren Fragenkatalog blickten, zwischendurch die Therapeut_innen unterbrachen und fragten, welche Fragen denn jetzt an der Reihe seien. Der Zugang zum Fragenkatalog ermöglicht also auch ein Intervenieren, womit der Fragenkatalog schließlich zugleich – und das scheint auf den ersten Blick paradox – ein Ermächtigungsinstrument für die Patient_innen ist. Paradox mag es deshalb scheinen, weil der Katalog durch seine Fragen Themenfelder vorgibt und ein freies Erzählen einschränken kann. Doch durch den Zugang zum Fragenkatalog haben die Patient_innen Zugang zum gleichen Referenzrahmen wie die Therapeut_innen. Nun gilt dieses Ermächtigungspotential durch den Fragenkatalog nicht nur für die Handlungen während des Interviews, sondern auch vor dem Interview. So war bei einer Patientin der physisch präsente Fragenkatalog voller Notizen. Immer wieder blickte sie auf diese Notizen, kommentierte sie mit Rahmungen wie »und dazu habe ich mir überlegt« oder »ich habe mir Folgendes notiert« (FT3). In einem kurzen informellen Gespräch erklärte sie mir nach der WzT-Sitzung, dass sie sich zu allen Fragen im Voraus Gedanken gemacht habe (vgl. FT3). Durch diese Handlungen bringt sich die Patientin erst schreibend und dann lesend respektive paraphrasierend in das Interview ein. Ein solcher Umgang mit dem Fragenkatalog, der in seiner Form als Artefakt »beschreibbar« ist, entspricht jenem Handeln, das ich zuvor gemäß Oldörp als »intermediales Handeln« beschrieben habe. Der als Leitfaden konzipierte Fragenkatalog in der WzT ist Erzählstimulus und erscheint als »thematische Ressource« (Oldörp 2018: 424), »Memorierhilfe« (ebd.: 402) und Orientierungsstütze sowohl für Therapeut_innen als auch für Patient_innen. In seiner Erscheinung als physisch präsentes Artefakt während der Therapiesitzungen steht er Interviewenden und Interviewten als Referenzrahmen zur Verfügung.
Interviewen und Erzählen: die Transformation vor Augen
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Das Audiogerät: Flüchtigkeit und Verdauerung
Generativität als einer der wesentlichen würdestärkenden Faktoren in der Konzeption der WzT wird insbesondere durch die Verfestigung und Verschriftlichung der Erzählungen praktiziert (vgl. Chochinov 2012b: 16f.). Auf dem Weg zum schriftlichen Generativitätsdokument übernimmt das Audiogerät eine wesentliche Rolle, konserviert es doch die Erzählungen so, dass das Transkribieren als Folgepraktik möglich wird. In diesen Prozess sind weder Therapeut_in noch Patient_in direkt involviert.39 Mit diesem Verständnis im Hinterkopf erscheinen die Handlungen am und mit dem Audiogerät während der WzT-Sitzungen als mitformende und kontrollierende Aktionen der Vorbereitung auf das Transkribieren. In der bereits zitierten Studie von Christine Oldörp hat die Autorin in ihrem Material – Audiodateien von qualitativen Interviews eines Forschungsprojekts zum Thema Technik – u. a. nach »Spuren der Aufnahmetechnik in der sprachlichen Interaktion gefahndet« (Oldörp 2018: 345). Auch ich habe mich dieser Aufnahmetechnik zugewandt, nicht aber auf der Basis der Audiodateien, sondern auf Grundlage meiner teilnehmenden Beobachtung, in der ich sprachliche Äußerungen über und Handlungen mit bzw. an dem physisch präsenten Audiogerät wahrnehmen konnte. Es handelt sich dabei also nicht wie bei Oldörp um »Spuren der Aufnahmetechnik«, sondern um Bezüge zum und Vollzüge mit dem präsenten Audiogerät. Mit Blick auf diese Bezüge und Vollzüge in »Eröffnungsund Schlusssequenzen« (ebd.: 377) [Hervorhebung A. Z.] des Interviews (1), nach dem Interview (2) und während des Interviews (3) fasse ich die Beobachtungen zusammen. In allen beobachteten Sitzungen zeigt sich, dass »Eröffnungs- und Schlusssequenzen« mit einem sprachlichen Verweis auf das Audiogerät korrespondieren. So hieß es etwa »Wollen Sie loslegen? Ich drücke jetzt auf Start« oder »Dann schließen wir das hier erstmal ab. Ich schalte das Gerät jetzt aus« (vgl. FT3). Mit dieser »Etablierung von zeitlichen Klammern innerhalb eines Gesprächsverlaufs und deren Markierung durch Schlüsselwörter« (Oldörp 2018: 377) – Oldörp spricht in Anlehnung an Goffman von der »Etablierung eines ›frames‹« (Goffman 1980: 55–60, zit. bei ebd.: 381) – wird innerhalb des Gesprächs, das vor dem Anschalten des Geräts schon eröffnet wurde und nach dem Ausschalten noch andauert, die Interviewphase flankiert.40 Die Schlüsselwörter »Loslegen« und
39 Sowohl in Stuttgart als auch in Mainz und Würzburg wurden und werden die Transkriptionen nicht von den Therapeut_innen selbst angefertigt, sondern an wissenschaftliche Mitarbeiter_innen oder Sekretär_innen delegiert. 40 Zur Unterscheidung von Gesprächssequenz und Interview hält Oldörp fest: »Nimmt man die Gesprächssituation als Ganzes und ihre Verflechtungen mit der Aufnahmepraxis in den Blick,
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»Abschließen« rahmen die Interviewphase, die in Kombination mit dem verbal angekündigten und anschließend praktizierten Ausschalten an die Aufnahmephase gekoppelt ist. Nun führt dieses Ende der Aufnahmephase, das durch die Schlüsselwörter auch ein Ende des Interviews suggeriert, auf Patient_innenseite nicht immer zu einem Ende der Erzählphase. Dieses Verhalten ist im Kontext audioaufgezeichneter Interviews nicht selten und etwa auch bei qualitativen Forschungsinterviews immer wieder zu beobachten. Interessant ist im vorliegenden Ansatz nun die Reaktion der Therapeut_innen. Zwei Fälle möchte ich dazu genauer beleuchten. Nachdem die Therapeutin auf den Knopf gedrückt hat, erzählt die Patientin noch weiter. Unter anderem auch, dass sie im Leben alles gemacht habe, was sie wollte. Und dass sie nichts verpasst hätte. Die Therapeutin sagt so ganz nebenbei, dass sie das Gerät nochmals einschalten werde. Durch konkrete Rückfragen entlockt sie der Patientin nochmals eine Formulierung der Aussage: ›Ich habe im Leben alles gemacht, was ich wollte. Ich habe nichts verpasst.‹ (FT3)
Was auf dem Audiogerät konserviert wird, fließt in die Transkription ein und wird für die Folgepraktiken an und mit der entstehenden generativen Erzählung festgehalten. Die geäußerte Aussage der Patientin erschien für die Therapeutin der Konservierung würdig. Sie forcierte die Wiederholung der Äußerung, die von einem autonomen und erlebnisreichen, vielleicht sogar erfüllten Leben zeugt – eine Aussage, die in den Augen der Therapeutin in die generative Erzählung einfließen sollte. Ähnlich verhält es sich im nächsten Beispiel. Dabei wird die bereits gefallene Äußerung der Patientin jedoch nicht subtil entlockt, sondern durch eine direkte Aufforderung von ihr wiederholt: Nach Ausschalten des Geräts sagt die Patientin mit zittriger Stimme: ›Ich habe meine Kinder sehr lieb.‹ Die Therapeutin meint, dass sie das sehr schön gesagt habe. Sie solle es doch nochmals sagen, dann schalte sie das Gerät nochmals ein. Sie drückt auf Start und fordert die Patientin auf, den Satz nochmals zu wiederholen. Mit derselben Innigkeit wiederholt die Patientin den Satz: ›Ich habe meine Kinder sehr lieb.‹ Die Therapeutin drückt wieder auf Stopp. (FT3)
Auf die Wertschätzung der Aussage (»sehr schön gesagt«), die Aufforderung zur erneuten Formulierung und die angekündigte Aufnahme folgen die aufgeforderte sprachliche Wiederholung und schließlich das nicht kommentierte Ausschalten des Geräts. Im Wissen, dass nur jene sprachlichen Äußerungen transkribiert werden, die auch auf der Audiodatei sind, fordert die Therapeutin die zeigt sich, dass analytisch zwischen dem Gespräch und dem Interview als sprachlich eingegrenzte Gesprächssequenz zu unterscheiden ist« (Oldörp 2018: 381).
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Patientin auf, den Satz zu wiederholen. Die Aufforderung der Therapeutin impliziert auch hier, dass für sie die geäußerte Liebesbekundung gegenüber den Kindern Teil der generativen Erzählung sein soll. In beiden Beispielen ist ein Vorausschauen auf die noch folgenden Praktiken an und mit der Erzählung zu erkennen. Dabei rücken sowohl die Transkribierenden als auch die Angehörigen als Rezipienten ins Zentrum. Das Aufzeichnen durch das Audiogerät erlaubt »die Etablierung einer über die kopräsenten Akteure hinaus erweiterten Konstellation auf abwesende Dritte« (Oldörp 2018: 380). Für diese Dritte soll nochmals gesprochen, soll wiederholt werden. In diesem aufgeforderten Nochmals drückt sich nun nicht mehr das Ziel eines würdestärkenden Erzählens im Vollzug aus, sondern das alleinige Erfassen und Festhalten einer bestimmten Aussage, die gemäß der Therapeutin in die Erzählung einfließen und später von den Angehörigen gelesen werden soll. Die sprachlich artikulierte Autonomie und Liebe sollen aus Sicht der Therapeutin demnach nochmals hervorgebracht werden, um letztlich für »abwesende Dritte« wahrnehmbar zu sein. Mit Konzepten aus der Theaterwissenschaft lässt sich die Aufforderung zur Wiederholung als Inszenierung begreifen – als eine »Festlegung von Strategien […], nach denen die Materialität einer Aufführung performativ hervorgebracht werden soll« (Fischer-Lichte 2014: 152). Der ausgesprochene Satz ist sodann als Aufführung zu begreifen, die durch die leibliche Ko-Präsenz der Therapeutin und deren Verfügungsgewalt über das Audiogerät aufgezeichnet werden kann. Die Aufführung wird so als akustisches Produkt für abwesende Dritte festgehalten. Mit der dritten und letzten Perspektive auf die Bezüge und den Vollzug zu und mit dem Audiogerät während des Interviews (3) zeigt sich, dass sowohl Audiogerät als auch abwesende Dritte nicht nur mit der Frage korrespondieren, was konserviert und schließlich transkribiert, sondern auch mit der Frage, was nicht konserviert werden soll. Während einer WzT-Sitzung konnte ich beobachten, wie die Therapeutin das Gerät nach einer emotional sehr bewegenden Erzähleinheit der Patientin ausschaltete. Sie begründete diese Handlung mit ihrer eigenen emotionalen Betroffenheit und mit dem Wunsch nach einem kurzen Innehalten. Ein/Eine Therapeut_in hat manchmal sowohl das Bedürfnis als auch die Macht, Zäsuren zu setzen und die »Aufnahmepraxis« (Oldörp 2018: 346) zu unterbrechen. Er/Sie schafft durch das Knopfdrücken die Möglichkeit, das Interview vom Gespräch zu trennen und somit Inhalten Raum zu geben, die Teil der Begegnung, aber eben nicht Teil des Interviews sein sollen. Repräsentierten alle vorangegangenen Beispiele die Verfügungsgewalt der Therapeut_innen über das Audiogerät, stellt sich die Frage, ob diese auch den Patient_innen zugeschrieben werden kann. Konkrete Ermutigungen zum selbständigen Ausschalten des Audiogeräts sind mir nicht begegnet, jedoch wurden die Patient_innen in sämtlichen beobachteten Sitzungen ermutigt, ihr Bedürfnis
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nach einem vorzeitigen Abbruch oder einer Unterbrechung des Interviews mitzuteilen. Ein Patient setzte dies auch um: Bereits nach wenigen Minuten macht der Patient der Therapeutin mit einem Kopfnicken Richtung Aufnahmegerät und einem mit den Fingern imitierenden Knopfdrücken deutlich, dass sie das Gerät ausschalten solle. Sie schaltet es aus. Er erklärt, dass er müde sei und nichts mehr sagen möchte. (FT3)
Mit seiner auffordernden Geste veranlasst er das Ausschalten des Geräts. Erst im Anschluss folgt seine Erklärung. Diese Reihenfolge der Handlungen lässt vermuten, dass er seine sprachlich geäußerte Begründung nicht konserviert wissen möchte. Was Inhalt des WzT-Interviews sein soll und was nicht, signalisiert der Patient mit dem verlangten Stoppen der Aufnahmepraxis. Seine Aufforderung wird als solche erkannt, akzeptiert und umgesetzt. Sämtliche beschriebenen Bezüge zum und Vollzüge mit dem Audiogerät sind mit der Funktion der Konservierungsregelung und einer damit einhergehenden Adressat_innenorientiertheit verbunden. Im abschließenden Beispiel steht gerade Letzteres nochmals explizit im Vordergrund. Dabei erscheint das Gerät als direktes Vermittlungsmedium und wird als materiell präsentes Objekt in die Handlung involviert: Der Patient schweigt lange und beginnt dann für seine Freundin zu erzählen. Jedoch stammelt er nur einzelne Wörter, dann greift er zum Aufnahmegerät, nimmt es ganz nahe an seinen Mund und schaut es dabei an und spricht seine Freundin mit Namen an. Das ›ich wünsche ihr‹ wird jetzt zu einem ›ich wünsche dir‹. Die Erzählung wird flüssiger, der Patient hört nach einigen Minuten auf zu sprechen. Er legt das Gerät auf den Tisch und schweigt. (FT3)
Die Berührung und das Halten des Aufnahmegeräts korrespondieren mit einer Veränderung der Erzählung auf sprachlich-narrativer Ebene. Durch seine Handlung lässt der Patient das Gerät als Kommunikationsmedium in Erscheinung treten, das in seiner Präsenz das Überbringen einer Botschaft ermöglicht und damit die Freundin als abwesende Dritte in die Gesprächskonstellation integriert; dies jedoch nicht nur als Empfängerin, für die er erzählt, sondern als Gegenüber – wenn auch ein abwesendes Gegenüber –, das er direkt anspricht. An den beobachteten und beschriebenen Bezügen zum und Vollzüge mit dem in der WzT-Sitzung präsenten Audiogerät lässt sich u. a erkennen, welche Erzählinhalte aus Sicht der Therapeut_innen bedeutsam sind, um schließlich in eine Erzählung einzufließen, die als Hinterlassenschaft den Tod überdauern soll. Ein autonom geführtes Leben und die Liebe zu den eigenen Kindern scheinen für die Therapeut_innen beispielsweise Themen zu sein, die Teil der generativen Erzählung sein sollen. Die geschilderten Beobachtungen leisten auch einen Beitrag zum Verständnis der Erzählung als ko-konstruiertes Geschehen. So ist die Verfügungsgewalt über
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das Audiogerät ein Mittel, die entstehende Erzählung respektive die zu transkribierende Audiodatei mitzuformen. Und diese Verfügungsgewalt über das An- und Ausschalten des Geräts lässt sich in den von mir beobachteten Handlungen prioritär den Therapeut_innen zuschreiben.
2.5
Adressat_innenorientiertheit: Eingreifen und Zulassen
Auch wenn mit Blick auf das Audiogerät die Adressat_innenorientiertheit bereits mitbeleuchtet wurde, steht diese hier nochmals explizit im Zentrum: nicht nur im Zusammenhang mit der Aufnahmepraktik, sondern auch als Gratwanderung zwischen Eingreifen und Zulassen. Während die Patient_innen bestimmen, für wen sie die Erzählung hinterlassen, ist es gemäß der Therapiekonzeption die Aufgabe der Therapeut_innen, aus der Sicht der lesenden Angehörigen während des gesamten Therapieprozesses mitzudenken (vgl. Chochinov 2012: 87). In diesem Mitdenken erleben sie jedoch Spannungen rund um Zulassen, Eingreifen und Aushalten. Vorstellungen von Familiarität, gegebenen Familienkonstellationen und den konkret bestimmten Adressat_innen der Generativitätsdokumente können für Therapeut_innen ein Konfliktpotential in sich bergen. Der folgende Ausschnitt aus dem Interview mit einer Therapeutin geht auf solche und ähnliche Spannungsverhältnisse ein. Sie berichtet darin von ihrer ersten WzT und der entstandenen Erzählung für die Enkeltochter und den Sohn der Patientin: Der Ehemann war zwar von Anfang an immer dabei, aber nie bei den Interviews. Und der kommt nur relativ marginal in diesem Dokument vor. Das ist ein ganz schönes Dokument. Es lebt von Kindheitserinnerungen und von Erinnerungen an die gemeinsame Zeit, aber es geht auch um Hoffnungen und Wünsche. Also um diese klassische Frage: wem was hinterlassen. Also wirklich nur die Enkeltochter und der Sohn. Also es ist sehr klar. Bestimmte Empfänger bekommen auch Wünsche und Hoffnungen. Und da habe ich hinterher die Frage gestellt bekommen vom Chef, der es gelesen hat, weil es war ja auch mein erstes Dokument und so, wie es für den Ehemann sei, so gar nicht erwähnt zu werden. Und dann habe ich gesagt: ›Na ja, er war eigentlich dabei am Anfang und wusste von der Absprache und wusste von dem Auftrag: für Sohn und Enkeltochter. Und ich hatte nicht das Gefühl, dass der da Raum braucht da drin. Der war jeden Tag da. Die Fragen nach ihm waren auch alle beantwortet. Da ist alles gesagt. Das spielt hier im Dokument keine Rolle.‹ (IL)
Das Wissen um die Familienkonstellation der Patient_innen kann Erwartungen an und normative Vorstellungen von der Erzählung auslösen. Der Ehemann, der »von Anfang an immer dabei« war, ist im Dokument kaum dabei. Eine scheinbar wichtige Person im Leben der Patientin wird im Dokument beinahe ausge-
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klammert, nicht berücksichtigt. Für den »Chef« auffallend und hinterfragbar: Wie wirkt das wohl auf den besagten Ehemann? In der Reflexion der Therapeutin wird deutlich, dass sie das Dokument und dessen Empfänger_innen nicht isoliert von der Gegenwart betrachtet, sondern eingebettet in gegenwärtiges Geschehen – ein Geschehen, in dem der Ehemann durchaus Raum erhält. Und so zeigt sich in ihrer Haltung, dass sie das Generativitätsdokument nicht als alleiniges Ausdrucksmittel für die Bedeutsamkeit wichtiger Menschen versteht. Auch wenn eben der Ehemann nicht ein solches Dokument bekommen soll, ist dessen Stellenwert in der Beziehung zur Patientin nicht angefochten. Erzählinhalte anzunehmen, beschreibt die Therapeutin als eine ihrer Stärken: […] weil ich mich sehr frei fühle in dem, was da erzählt wird oder was da kommt. Manchmal, aber bestimmt immer noch ein bisschen zu frei, um wirklich an alle zu denken. Also ich glaube, ich könnte noch mehr mit dem Genogramm arbeiten, um zu gucken. Ja. Genau. Also meistens bin ich da sehr empfängerorientiert, aber das ist so das, wo ich vielleicht ein bisschen strenger sein kann. (IL)
Trotz der Freiheit, die sie den Patient_innen lassen will und kann, sieht sie es als ihre therapeutische Aufgabe, »an alle zu denken« – also auch an die Menschen, die nicht explizit als Adressat_innen der entstehenden Erzählung genannt wurden. Eine mögliche Hilfestellung sieht sie in der Arbeit mit einem Genogramm. Mit dieser Art der visuellen Darstellung lassen sich familiäre Beziehungen komprimiert zusammenfassen. Das Genogramm ist ein Werkzeug, das in therapeutischen und klinischen Kontexten oft eingesetzt wird. In ihrer Selbstermahnung, »ein bisschen strenger« zu sein, wird deutlich, dass sich die Therapeutin Regiefunktionen auferlegt, mit denen sie die Erzählung mitgestaltet. Während die Wahl der Adressat_innen und die Familienkonstellation der Patient_innen für Therapeut_innen in einem Spannungsverhältnis stehen können, gilt dieses potentiell auch für die Korrelation von Adressat_innenwahl und Erzählinhalt. Gerade dann, wenn durch Erzähltes allem Anschein nach ein bis anhin bewahrtes Familiengeheimnis an den Tag kommt, kann die Gratwanderung von Zulassen und Eingreifen zur Herausforderung werden. Im folgenden Interviewausschnitt bezieht sich ein Therapeut auf eine Patientin, die von einer Geldveruntreuung innerhalb der eigenen Familie erzählte: Ich fand halt nur wichtig zu wissen, ob der [adressierte Sohn der Patientin] das weiß oder ob der dann irgendwann das Skript in der Hand hält, wenn sie [die Patientin] nicht mehr da ist, und irgendwann etwas davon liest und überhaupt nichts von dem wusste. Es ging ja irgendwie auch um Geld und wohl um sehr große Summen. Also in dem Skript steht keine Summe, aber das hat sie mir dennoch später erzählt, und dann […] (IM)
Der Therapeut versetzt sich in die Lage des potentiell unwissenden Lesers und stellt sich vor, wie dieser zum ersten Mal von der Geldveruntreuung innerhalb der
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Familie liest. Diese Vorstellung drängt ihn zum Nachfragen: »Aber sie hat ja dann im Erzählen auch gesagt, er weiß es, und dann muss man sich auch darauf verlassen.« (IM) Wie sich die Beziehung zwischen Patient_innen und Adressat_innen gestaltet, welches Lebensereignis im Vergangenen bereits geteilt wurde und wo durch die generative Erzählung vielleicht auch Familiengeheimnisse gelüftet werden, können die Therapeut_innen letztlich nur durch die Kommunikation mit den Patient_innen herausfinden. In dem Zitat des Therapeuten schwingt auch hier eine Vorstellung von dem mit, was Teil einer generativen Erzählung sein soll/kann und was nicht. Nicht gelüftete Familiengeheimnisse fallen gemäß seiner Schilderung in jene Kategorie von Erzählinhalten, die nicht unhinterfragt im Dokument festgehalten werden sollten.
2.6
Fazit: über Souveränität und implizite Normativität
Mit der Interviewsitzung beginnt in der WzT die Konservierung der Erzählung für die Transkribierenden und schließlich für die lesenden Angehörigen. Als Interviewende formen die Therapeut_innen auf der einen Seite Struktur und Inhalt der Erzählung mit. Es sind aber nicht nur Faktoren wie das Fragen und Nachfragen, das Nicken, Schmunzeln und Innehalten sowie das Auslassen von Fragen, die den Verlauf der Erzählung mitgestalten, sondern auch ein spezifischer Umgang mit dem Audiogerät und der Adressat_innenorientiertheit. Auf der anderen Seite sind es die Patient_innen, die antworten, erzählen, Sprünge machen, wiederholen und abschweifen. Und auch sie agieren auf unterschiedliche Weise mit dem Fragenkatalog sowie dem Audiogerät und bestimmen, für wen sie schließlich erzählen. Der beobachtete Umgang mit dem Fragenkatalog, dem Audiogerät und der Adressat_innenorientiertheit gibt Einblicke in die Ko-Konstruktion des Erzählens und die Verteilung der Souveränität innerhalb dieser Zusammenarbeit. Während in meinen Beobachtungen Therapeut_innen und Patient_innen Zugriff auf den physisch präsenten Fragenkatalog hatten und ihn als »thematische Ressource« (Oldörp 2018: 424), »Memorierhilfe« (ebd.: 402) und Orientierungsstütze nutzten, wurde das Audiogerät von einem Patienten zwar in die Hand genommen, die von mir beobachtete Verfügungsgewalt über das Einstellen und An- bzw. Ausschalten des Geräts lag jedoch in allen Sitzungen bei den Therapeut_innen. Meine Ausführungen zur Adressat_innenorientiertheit müssen in ihrer Einseitigkeit erkannt werden. So ist diese Orientiertheit wegen ihrer Abstraktion nicht in gleicher Weise beobachtbar wie die Interaktion mit dem Audiogerät und dem Fragenkatalog. Gerade deshalb habe ich die retrospektive Reflexion der
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Transformieren: Damit etwas bleibt, wenn man geht
Therapeut_innen in Form von problemzentrierten Interviews herangezogen. Und weil ich mit den Patient_innen keine solchen Interviews geführt habe, ist das Datenmaterial einseitig, so dass die Perspektive der Therapeut_innen im Vordergrund steht. Während die Patient_innen bestimmen, an wen sie ihre Erzählung adressieren, sind es die Therapeut_innen, die das Erzählte, die gegebene Familienkonstellation und die gewählten Adressat_innen in Beziehung zueinander setzen und manchmal auch Konfliktpotential darin erkennen. In diesen Befürchtungen und auch im beschriebenen Umgang mit dem Audiogerät schwingt eine implizite Normativität von Inhalten und Adressat_innen einer Hinterlassenschaft am Lebensende mit. Weil die in der Interviewsitzung entstehende Erzählung Grundlage für das finale Generativitätsdokument ist, sind die Eingriffe in das Erzählgeschehen Eingriffe in diese anvisierte Hinterlassenschaft. Wann das Audiogerät ein- und wann es ausgeschaltet wird, formt das entstehende Transkript. Die Verteilung und Gewichtung des Ko in der KoKonstruktion ist u. a. an die Verfügungsgewalt über das Audiogerät gekoppelt. Wie die Therapeut_innen von dieser Verfügungsgewalt Gebrauch machen, bringt normative Vorstellungen über das, was aus ihrer Sicht Teil einer generativen Erzählung sein soll, ans Licht. Und schließlich kann das Wissen um die Adressat_innenwahl, die gegebene Familienkonstellation und den Erzählinhalt zu einem Spannungsverhältnis führen, weil unterschiedliche Vorstellungen bezüglich der Funktion des »Generativitätsdokuments« und dessen Wirkungseffekt vorliegen; etwa dann, wenn beispielsweise der Ehemann im Dokument kaum erwähnt und in dieser Abwesenheit ein Konfliktpotential vermutet wird. Verschiedene Vorstellungen vom Stellenwert bestimmter Personen, von Familiarität und Hinterlassenschaften prägen die Entstehung der generativen Erzählung.
3
Transkribieren: Tippende als Rezipierende und Ko-Autor_innen
Nur diese Stimme zu hören, konnte ich fast nicht aushalten. Ich war so berührt und wollte nicht nur als unsichtbare Schreibkraft da irgendwo dazwischen sein. Ich wollte den Menschen sehen und mich auch als Mensch zeigen. (Transkribierende)41
Nicht die akustisch hörbare Stimme der Patient_innen soll in der WzT verewigt und den Angehörigen hinterlassen werden, sondern die verschriftlichte, lesbare Erzählung. Das Transkribieren der Audioaufzeichnung macht die generative Erzählung lesbar. Die Praktik des Transkribierens ist also ein entscheidender 41 IX.
Transkribieren: Tippende als Rezipierende und Ko-Autor_innen
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Schritt innerhalb der Transformation, findet hier doch der Wechsel zur Schriftlichkeit statt, die Bedingung für die Erstellung des Generativitätsdokuments ist. Mit einem differenzierten Verständnis von Autorschaft gewinnen die Transkribierenden den Status einer »executive« (Love 2002: 40–50, zit. bei Fludernik 2013: 25)42 Autorschaft, sind also wesentlich an der Entstehung der generativen Erzählung beteiligt. Bis anhin wurden das Transkribieren und die Transkribierenden in der Forschung zur WzT nicht berücksichtigt (vgl. Kapitel I.1). Weil aber diese Praktik Teil der WzTund elementar für die Folgepraktiken ist, steht sie an dieser Stelle im Fokus. Wie sich die Transformation durch das Transkribieren in der sprachlichnarrativen Dimension gestaltet, steht hier nicht im Zentrum, da die Audioaufnahmen nicht Teil des Datenmaterials waren. Auch die Praktik des Transkribierens im beobachteten Vollzug ist nicht Gegenstand dieses Kapitels, da ich beim Transkribieren nicht anwesend war. Vielmehr rücken auf den folgenden Seiten die Deutungen und Bedeutungszuschreibungen jener Menschen in den Fokus, die als Transkribierende in der WzT agieren; in der vorliegenden Studie sind dies zwei Hilfswissenschaftlerinnen und eine Sekretärin. Sie wurden beauftragt, die Audiodateien aus der WzT zu verschriftlichen – eine Aufgabe, die auch den Wunsch entstehen lässt, den Menschen hinter der Stimme kennenzulernen. Beginnend mit Chochinovs Ausführungen zum Transkribieren, folgen im Anschluss eine kurze Darstellung der Interviews und einige vorempirische Erläuterungen zum Transkribieren. Aufbauend auf dieser analytischen Basis, fasse ich in drei Unterkapiteln die Deutungen und Bedeutungszuschreibungen der Transkribierenden zusammen.
3.1
Transkribieren nach Chochinov
Chochinov schreibt dem Transkribieren eine entscheidende, zentrale Funktion zu und macht in seinem Handbuch deutlich, dass diese Aufgabe nicht nur verantwortungsvoll ausgeübt werden soll, sondern auch emotional fordernd sein kann. Auf knapp fünf Seiten führt er die entscheidenden Bedingungen auf und geht dabei sowohl auf das technische Vorgehen und die Brisanz einer schnellen Umsetzung ein als auch auf die Bedeutsamkeit, Transkribierende in ihrer Arbeit zu begleiten sowie Möglichkeiten für Gespräche und Austausch zu schaffen. Folgende neun Punkte hebt er explizit hervor (Chochinov 2012: 104ff.):
42 Weitere Ausführungen zum Autorbegriff nach Love finden sich in Kapitel II.2.
100
Transformieren: Damit etwas bleibt, wenn man geht
Overall approach. […] special and important task Timing. […] as soon as possible Confidentiality. […] The transcriptionist must maintain patient confidentiality and adhere to all locally relevant institutional policies, professional codes, and legislation regulating personal health information. Generativity document layout. […] Given that the transcript will read like a conversation between the interviewer and the patient, each new exchange of dialogue should be labeled to indicate the current speaker […] Equipment. […] The carious encumbrances of illness can make it challenging to accurately discern the patient’s words. […] Good quality transcription equipment is essential […] Accuracy. […] They should also be aware that verbatim accuracy is less of an issue in documenting the words of the interviewer, whose comments will largely be edited or reconstructed. On the other hand, every effort should be made to document the patient’s words as accurately as possible […] Word processing and program compatibility. It is important that the transcriptionist use [sic] the same words processing program as the editor/therapist uses in the editing process […] Electronic transcript transfer. […] Because of confidentially issues, the transfer of transcripts by e-mail must be done with appropriate caution and security measures […] Debriefing. Transcriptionists should be asked about their experience of doing this work on a regular basis […]
Wie, d. h. nach welchem Transkriptionssystem und welchen Transkriptionsregeln, das WzT-Interview transkribiert werden soll, erläutert Chochinov nicht detaillierter. Unter dem Punkt »Accuracy« betont er jedoch, wie im obigen Zitat wiedergegeben, dass der Redeanteil der Patient_innen höher zu werten ist als derjenige der Therapeut_innen. Er argumentiert dabei mit dem Editieren als Folgepraktik, durch die der Anteil der Therapeut_innen ohnehin verändert werde. Er ergänzt: The transcriptionist should be instructed to transcribe the document as accurately as possible. […] If certain words of phrases are inaudible, [] can be used to note periodic lapses or gaps. Partial documentation of what was said is better than none whatsoever, and may allow the editor/therapist to reconstruct the essence of the patient’s intended words. (Chochinov 2012: 105)
Chochinov gibt hier Anweisungen, wie unverständliche Stellen als solche markiert werden können, und hebt hervor, dass eine lückenhafte Transkription besser sei als gar keine Niederschrift. Auch bei diesem Hinweis argumentiert er mit den Therapeut_innen, die im Anschluss Lücken rekonstruieren können.
Transkribieren: Tippende als Rezipierende und Ko-Autor_innen
3.2
101
Die Interviews
Die problemzentrierten Interviews mit den drei Transkribierenden eröffnete ich, wie bereits in Kapitel III.4 beschrieben, mit der erzählgenerierenden Frage: »Wie kam es, dass Sie hier die Aufgabe bekamen, die Interviews aus der WzT zu transkribieren?« Während sich die kürzeren Interviews IV und IW inhaltlich rund um das Transkribieren und die WzT bewegten, entwickelte sich das Interview IX selbst zu einem biografischen Gespräch. Die Transkribierende ließ mich Anteil an ihrer Vergangenheit und ihren eigenen lebensgeschichtlichen Herausforderungen nehmen, forderte aber, dass gewisse Teile dieser Ausführungen nicht in die vorliegende Studie einfließen. Alle drei Transkribierenden hatten auch außerhalb der WzT Erfahrungen mit dem Verschriftlichen von Gesprächen gesammelt: IV und IW während des Psychologiestudiums und IX in ihrer Arbeit als Arztsekretärin. Während die Transkribierende IW schon ca. 15 WzT-Interviews transkribiert hatte, waren es bei IX ca. 8 und bei IV ca. 5. Die Interviews fanden in den Büros der Transkribierenden statt.
3.3
Analytische Basis: Audioaufnahme – Transkript – Transkribieren
Bevor die Erkenntnisse aus dem empirischen Datenmaterial im Zentrum stehen, fasse ich an dieser Stelle einige analytische Grundgedanken zum Transkribieren zusammen. Leitendes Kredo ist dabei die Annahme, dass die konservierte Stimme auf der Audiodatei zwar von dem Menschen, dem sie gehört hat, entkoppelt ist, spurhaft aber dennoch auf diesen verweist. Um mich der Praktik des Transkribierens analytisch zu nähern, gehe ich zuerst auf die Audiodatei und die aufgezeichneten Stimmen ein, dann auf das Transkript und schließlich auf das Transkribieren als transformierende Praktik zwischen Audiodatei und Transkript. Die Audioaufnahmen der Patient_innen- und Therapeut_innenstimmen als »technologisch vermittelte Mündlichkeit« (Bendix 2005: 72) konservieren das flüchtige Geschehen des vorangegangenen Gesprächs. Konserviert wird dabei aber nur die »lautliche Dimension« (Redder 2001: 1039). Somit ist diese Art der Konservierung immer auch Reduktion. Während die Stimme hörbar bleibt, sind der Körper und die Umgebung in deren ursprünglichen olfaktorischen, visuellen und taktilen Dimensionen nicht mehr verfügbar. Die Stimmen werden wahrgenommen, ohne den dazugehörigen Menschen mit seinem Körper-Leib zu sehen. Als »Stimmen ohne Körper« (Macho 2006) verweisen sie aber dennoch darauf, sind »Spur« (Krämer 2005: 157) eines Körpers. Diese Spur stand bereits in den Ausführungen zum Anbieten der WzT (vgl. Kapitel IV.1) im Zentrum.
102
Transformieren: Damit etwas bleibt, wenn man geht
Neben der Reduktion erlaubt die Konservierung durch die Aufnahme jedoch auch einen variablen Umgang mit dem auditiv festgehaltenen Gespräch. So lassen der Zugang zur Audiodatei und das nötige technische Verständnis zeitliche Sprünge zu, etwa durch ein Zurück- oder Vorspulen. Auch Dehnungen (durch Verlangsamungen) und Verdichtungen (durch schnelleres Abspielen) sind möglich. Daneben erlaubt die Technik eine Veränderung der Lautstärke. Stimmen können leiser oder lauter gemacht werden. In ihrer Form als Audiodatei können die Aufnahmen abgespeichert und übermittelt werden. Werden die hörbaren Stimmen transkribiert, entsteht ein Transkript. Dabei »werden nicht-literale in literale bzw. nicht-lesbare in lesbare Strukturen überführt« (Stanitzek 2002: 7) und wird die mündliche Kommunikation »einer sorgfältigen Betrachtung zugänglich gemacht« (Redder 2001: 1038). Die »lautliche Dimension« (ebd.: 1039), die im Hören der Audioaufnahme wahrnehmbar war, ist nun »in materialisierter visueller Dimension« (ebd.: 1039) zugänglich. Während die Stimmen auf der Audioaufnahme noch als Spur eines Körpers verstanden werden können, verblasst diese Spur in der elektronischen Verschriftlichung der stimmlichen Äußerungen.43 Wenn Menschen Audioaufnahmen transkribieren, dann hören, verstehen und tippen sie. Angelika Redder beschreibt diese Praktik als »eine Tätigkeit, welche eine beständige Reflexion, ja hermeneutische Verstehensleistung verlangt« (Redder 2002: 116). Transkribieren ist also eine reflexive Praktik. Weiter kann das Transkribieren auch als interpretativ, selektiv und situativ bezeichnet werden. Die interpretative Eigenschaft des Transkribierens beschreibt Bird mit Verweis auf Lapadat und Lindsay (1999) folgendermaßen: »When representing an oral voice in written form, the transcriber becomes the channel for that voice. Because the transcriber is not that voice, any act of transcription becomes an interpretive act, as Lapadat and Lindsay (1999) proposed.« (Bird 2005: 228) Selektiv ist das Transkribieren deshalb, weil auf dem Weg vom Hören über das Reflektieren, Verstehen, Interpretieren und Tippen immer auch entschieden, ausgewählt, reduziert und das Gehörte passfähig gemacht wird für das neue Darstellungsmedium. Breuer spricht von einer »selektiven perspektivischen Konstruktion« (Breuer 1999: 252) und betont damit die Zielorientiertheit dieser Art von Konstruktion. Schließlich ist das Transkribieren auch eine situative Praktik, deren Umsetzung von spezifischem Wissen bzw. entsprechenden Erfahrungen und Vorstellungen geleitet wird. Wie transkribiert wird, hängt vom Wissen um das Ziel der Transkription ab, aber auch von Zuschreibungen an Sprache und Kommuni43 In Kapitel IV.1 gehe ich dem Unterschied zwischen handschriftlichem und elektronischem Schreiben sowie dem Zusammenhang von körperlich-leiblicher und sprachlich-narrativer Dimension nach.
Transkribieren: Tippende als Rezipierende und Ko-Autor_innen
103
kation. Judith Green und Kolleginnen halten in ihrem Aufsatz »The Myth of the Objective Transcript: Transcribing as a Situated Act« Folgendes fest: »What counts as language and what is perceived as a meaningful bit of language in situ depends on the researchers’ cultural knowledge of that language’s system and discourse practices.« (Green u. a. 1997: 173) Mit diesen Ausführungen über das Transkribieren kann die Praktik auch als transformativ bezeichnet werden. Das Transkribieren verändert, denn »a transcript is a text that ›re‹-presents an event; it is not the event itself« (Green u. a. 1997: 172).
3.4
Selbsterleben: emotional bewegend – kognitiv fordernd
Die Patientin war dann so leidenschaftlich, die fing dann mittendrin an zu heulen. Also ich habe dann auch geheult. Es war wahnsinnig! (lachen) Es war wirklich wahnsinnig. Ja. (Transkribierende)44
Alle drei befragten Transkribierenden bezeichnen das Transkribieren als kognitiv anstrengend und emotional berührend zugleich. Während zwei Transkribierende diese emotionale Berührtheit während des Tippens wahrnehmen und sich in die Erzählung einfühlen, folgt bei der dritten Schreibenden dieses Wahrnehmen erst nach Abschluss der Transkription. Eine Vertreterin der ersten Kategorie beschreibt ihr Erleben, das für sie auch zu einem »Erlebnis« wird, folgendermaßen: An mir laufen dann so nebenher …Wenn der Patient was erzählt, laufen bei mir richtig so die Bilder vorbei und ich stelle mir dann das so richtig vor, wie die dann so in dieser Besenwirtschaft geschafft haben und so. Ne. Ich lebe dann da so irgendwie richtig mit. Es ist dann auch in gewisser Hinsicht ein Erlebnis. (IX)
Das Hören lebensgeschichtlicher Erzählungen aktiviert bei dieser Transkribierenden bildliche Vorstellungen und so kommt zu der »lautlichen Dimension« doch wieder eine visuelle dazu. Imaginiert wird dabei aber nicht die Erzählende im Akt des Erzählens, sondern die gehörte dargestellte Welt. Die Stimme, die über die Kopfhörer bei der Tippenden ankommt, ruft Vorstellungen oder, wie es Regina Bendix nennt, »Imaginarien« hervor. Sie schreibt: »Doch dass die Stimme im Akt der Performanz ganze Imaginarien hervorruft und ZuhörerInnen daran teilhaben lässt, ist wohl unbestritten.« (Bendix 2005: 83) Auch wenn diese Aussage bei der besagten Tippenden zutrifft, ist sie doch nicht ganz unbestritten respektive muss sie in den Kontext eingeordnet werden. Bendix bezieht sich in ihrem Aufsatz auf Stimmen von Erzähler_innen. Die besagte Transkribierende 44 IX.
104
Transformieren: Damit etwas bleibt, wenn man geht
hat in ihrer Arbeit jedoch bereits ganz andere Stimmen transkribiert: Stimmen, die weniger erzählen als vielmehr berichten. So ergänzt sie: »Ich habe ja schon tausende Arztberichte getippt, das ist dann nicht so spannend und da stelle ich mir auch nichts vor. Ich tippe das einfach.« (IX) Diese Art von stimmlichen Aufzeichnungen hat in ihr nicht »Imaginarien« (ebd.: 83) hervorgerufen; es blieb bei der Aussage »Ich tippe das einfach«. Es ist also nicht per se die Stimme, die Vorstellungen hervorruft, sondern das, was in und mit der stimmlichen Äußerung dargestellt wird. Während die Transkribierende, die bis jetzt im Fokus stand, noch nie bei einem WzT-Interview anwesend war, somit unbekannte Stimmen hört und in die Leben unbekannter Menschen eintaucht, ist die zweite Transkribierende manchmal bei den Interviewsitzungen dabei. So berichtet sie von einer Transkription: Dadurch, dass ich beim Gespräch dabei war, war ich ja irgendwie wie in der Situation unten [im Zimmer der Patientin], aber es war trotzdem eine andere Emotionalität, weil ich dann eher daran gedacht habe, wie es denn ist, wenn die Angehörigen das lesen werden. Dann habe ich so gedacht: ›Ich war dabei, als sie es gesagt hat, und ich tippe es jetzt ab für die Angehörigen und die lesen es dann, wenn sie nicht mehr da ist.‹ Deshalb musste ich dann an der traurigen Stelle, wo wir beim Interview schon fast geweint haben, dann auch hier oben fast wieder weinen. (IV)
Die beschriebene Emotionalität während des Transkribierens ist für die Schreibende eine andere als während des WzT-Interviews. Sie begründet diese Andersartigkeit damit, dass sie beim Transkribieren »eher« an die lesenden Angehörigen denkt. Sie tippt die Erzählung für die Angehörigen ab und in dieser Zielorientiertheit erlebt sie eine andere Emotionalität, ein anderes Bewusstsein für die Erzählung und deren Funktion für die Angehörigen. Die dritte Transkribierende kann sich während des Transkribierens im Gegensatz zu den anderen gerade nicht emotional auf das Gehörte einlassen. Für sie verhindert die kognitiv geforderte Leistung während des Tippens eine emotionale »Verarbeitung«. Erst am Ende des Transkribierens bekommt diese »Verarbeitung« Raum: Ich finde es schwierig, weil man in dem Moment, wo man transkribiert, eigentlich so angestrengt konzentriert ist, zu verstehen, zu hören und praktisch das, was man gerade hört, in die Fingerbewegung umzusetzen, dass man das in dem Moment gar nicht so richtig emotional verarbeitet. Dass man meistens erst danach nachdenkt, was man da gerade gehört hat, oder wenn man […] das fertige Dokument dann sieht. Dass man wirklich merkt oder den Gedanken hat: ›Wow, das ist wirklich das Allerletzte, was seine Angehörigen von ihm in der Hand halten. Wo jemand nochmals das, was ihm oder ihr am allerwichtigsten ist, den Angehörigen mitgeben möchte.‹ Und das ist dann irgendwie schon sehr, sehr bewegend. Aber das kommt, wie gesagt, alles erst nach dem Transkribieren. (IW)
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Wie die zuvor erwähnte Transkribierende, die bei den WzT-Interviews gelegentlich anwesend ist, bringt auch diese Schreibende ihre Emotionen und Gedanken mit der Erzählung als Hinterlassenschaft in Verbindung. Durch ihr Verständnis der Worte, die sie tippt, als »Allerletztes« und »am wichtigsten« ist sie bewegt. Das Zitat bringt dabei auch die Vielschichtigkeit der Praktik »Transkribieren« zum Ausdruck: verstehen, hören und das Gehörte in »die Fingerbewegung«, in eine Körperpraktik, umsetzen. Während des Tippens oder danach tauchen die Transkribierenden in Lebensgeschichten ein, sind berührt, an manchen Stellen auch traurig. Eine Transkribierende spricht aber auch von »Spaß« und von lustigen Momenten: »Aber andersrum hatte ich da auch schon meinen Spaß. Da war neulich auch noch, wie man so schön sagt, ein ›Wengärtner‹ – ein Weingärtner/-bauer – und der hat wirklich noch so Urschwäbisch gesprochen und es war so lustig. (lachen)« (IX) Nun lädt das Hören von lebensgeschichtlichen Erzählungen nicht nur zur Anteilnahme am anderen, sondern auch am eigenen Leben ein. So schildert eine Transkribierende: So furchtbar manche Sachen auch sind. Irgendwie baut es mich manchmal dann auch auf. Wenn ich selber auch ein bisschen in Depressionen und in Tiefs war und so weiter, oder. Weil ich einfach auch merke – na ja, anderen Leuten geht es noch schlechter wie dir. Was willst du eigentlich? (IX)
Das Hören von lebensgeschichtlichen Erzählungen aus der WzT baut diese Transkribierende auf. Das eigene Leben wird mit dem Leben der Patient_innen verglichen und Not relativiert. Weil die generative Erzählung auch Lebensweisheiten für die Angehörigen beinhalten kann – beispielsweise lautet eine Frage des Fragenkatalogs: »Was haben Sie über das Leben gelernt, das Sie gern an andere weitergeben möchten? Welchen Rat oder welche Worte, die Ihre/n … (Tochter, Sohn, Ehemann, Ehefrau, Eltern, andere Menschen) leiten können, würden Sie gerne weitergeben?« (Chochinov 2017: 103) –, hören auch die Transkribierenden diese Worte. So ergänzt die zuletzt erwähnte Transkribierende: »Ja, und es gibt einem auch so ein bisschen Lebensweisheit. Auch ein bisschen, wie soll ich sagen, so ein paar Weisheiten mit auf den Weg.« (IX)
106 3.5
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Herausforderungen: vom Umgang mit »Wortfetzen« und piependen Infusionen Manchmal kommen dann nur so Wortfetzen. Und das ist für mich dann schlimm. Weil – das ist dann doppelte und dreifache Konzentration. (Transkribierende)45
Die Transkribierenden wurden vor Aufnahme ihrer Tätigkeit mit dem Hintergrund, der Intention und dem Ziel der WzT vertraut gemacht. Sie selbst formulieren ihren Anspruch an die Transkription als »komplettes Ergebnis« (IX), »nie etwas richtig ändern« (IW) und »möglichst genau« (IV). Auf dem Weg zu den fertigen Transkripten und den formulierten Zielen begegnen die Transkribierenden verschiedenen Herausforderungen. Im Gespräch mit mir haben sie diese benannt und auch berichtet, wie sie damit umgehen. Die Herausforderungen beziehen sich auf die Eigenschaften der aufgenommenen Stimmen (schwach, leise, lallend), die Erzählstruktur und Wortwahl (durcheinander, kein Sinn) und die Eigenschaften der Aufnahme (Nebengeräusche). Ein Zitat einer Transkribierenden fasst gleich mehrere der genannten Herausforderungen zusammen: Was schwierig ist, ist meistens die Audioqualität. Bei der Würdezentrierten Therapie ist es ja manchmal so, dass die Patienten gar nicht mehr die Kraft haben, deutlich und laut zu sprechen. Oder auch, wenn sie aus einem anderen Kulturkreis kommen, dass man dann den Sinn nicht immer direkt versteht von dem Wort, das sie benutzen. Wenn sie nicht Deutsch sprechen, muss man da ganz intensiv hinhören. Also wenn das alles zusammenkommt: schwache Stimme, nicht mehr viel Kraft am Lebensende … (IW)
Die Transkribierende verweist hier auf die undeutliche und leise Sprache der kraftlosen Patient_innen und auf die Herausforderungen, bedingt durch schlechte Deutschkenntnisse. Auch eine andere Transkribierende formuliert ähnliche Herausforderungen, spricht von »leisen« und »lallenden« Stimmen sowie »ausländischen Patient_innen«: Es ist halt sehr … An manchen Tagen, es kommt auf den Patienten drauf an … Es ist sehr anstrengend. Weil – wenn der Patient halt schon … Ich habe erst gerade vor ein paar Monaten eine alte Dame – die war wirklich … Ich hatte das Gefühl, die war kurz vor dem Sterben. Ja. Und die hatte dann noch so, so schlecht gesprochen, so vor sich hin gelallt und dann hat man sie kaum verstanden und dann war sie zu leise. Da habe ich dann wirklich Probleme. Oder wenn, wir haben oft noch ausländische Patienten, dann kommt dann noch der Dialekt dazu. (IX)
Die aufgenommene Stimme löst in der Transkribierenden das Gefühl aus, eine Frau zu hören, die »kurz vor dem Sterben« ist – »Imaginarien« (Bendix 2005: 83), 45 IX.
Transkribieren: Tippende als Rezipierende und Ko-Autor_innen
107
die wohl auch deshalb entstehen, weil sie den Kontext kennt, in dem sich die Stimme äußert. Neben leisen und lallenden Stimmen sowie Verständnisschwierigkeiten durch unzureichende Deutschkenntnisse beschreibt eine weitere Transkribierende gewisse Stellen als schwierig, weil »alles durcheinander war oder kein Sinn war« (IV). Dieses Durcheinander expliziert sie mit »unfertigen Sätzen«, »Sprüngen« und »komischer Wortwahl« (IV). Um trotz dieser Herausforderungen ihre Aufgabe gemäß den festgelegten Zielen und Erwartungen zu erfüllen, entwickeln die Transkribierenden verschiedene Umgangsstrategien, die ich als Hörstrategien (1); Reflexionsstrategien (2); Verschriftlichungsstrategien (3) und Kommunikationsstrategien (4) zusammenfasse. Alle drei Transkribierenden arbeiten mit den technischen Möglichkeiten, die Audio- und Transkriptionsprogramme bieten. Haben sie Probleme, die leisen und schwachen Stimmen zu verstehen, erhöhen sie die Lautstärke, zerdehnen die Aufnahmen, indem sie das Tempo drosseln, und wiederholen die Wiedergabe einzelner Stellen. Doch auch die technischen Möglichkeiten dieser Hörstrategien (1) gelangen an ihre Grenzen. So schildert eine Transkribierende: »Mehrmals nachhören, langsamer nachhören, dann versucht man lauter zu machen, aber es ist schon auf der Maximallautstärke. Ja.« (IW) Bedingt durch diese Grenzen der Technik, greifen die Transkribierenden u. a. auf unterschiedliche Reflexionsstrategien (2) zurück: Sie entscheiden, reflektieren – »dann muss man genau abwägen: Kann ich das jetzt weglassen oder …« (IX) – und wählen aus: An manchen Stellen hat sie [die Patientin] halt auch irgendwie Wörter gemischt und dann musste ich mich irgendwie für ein Wort entscheiden […] Oder, wenn beide gleichzeitig geredet haben, habe ich das geschrieben, was wichtig war. Also habe ich das von der Patientin genommen, weil der Anteil der Therapeutin wird ja eh nicht reingenommen. Also habe ich schon auch was verändert. (IV)
In diesem Zitat zeigt sich das Transkribieren nicht nur als interpretative, reflexive und selektive, sondern auch als situative Praxis. Während es Transkriptionssysteme gibt, die Überlappungen von Redebeiträgen markieren46, entscheidet sich die obige Transkribierende für eine Selektion und Reduktion. Sie wählt das aus, »was wichtig ist«: den Redebeitrag der Patient_innen. Diese Auswahl begründet sie mit dem Verweis auf das Editieren als Folgepraktik, in der editierende Therapeut_innen ihre eigenen Beiträge ohnehin stark reduzieren oder gänzlich
46 Im gesprächsanalytischen Transkriptionssystem GAT wird das Simultansprechen zu Beginn der Überlappung und zum Ende mit [] markiert (vgl. Selting u. a. 2009: 364).
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streichen.47 Das Wissen um diese Folgepraktik ist Teil eines situativen Wissens, das Selektion, Interpretation, Reflexion und somit auch die Transkription mitgestaltet. Dieses Wissen bringt die Transkribierende auch im folgenden Zitat zum Ausdruck: »Deshalb war ich da auch nicht so penibel hinter einzelnen Buchstaben her, weil ich wusste: Na ja, da wird ja nochmals drübergeguckt.« (IV) Jene Transkribierende, die »möglichst genau« (IV) transkribieren möchte, äußert also auch, dass sie »nicht so penibel hinter einzelnen Buchstaben her« ist, weil sie sich auf ihr situatives Wissen stützt. Im Verweis auf dieses situative Wissen werden sowohl Erwartungen als auch Ermächtigungszusprüche auf die Therapeut_innen transportiert. Ihnen wird einerseits die Fähigkeit zugeschrieben, die an manchen Stellen nicht penible Transkriptionsleistung zu optimieren, und andererseits eine Ermächtigung gegeben, die Transkription zu ändern. Neben den geschilderten Hör- und Reflexionsstrategien nannte eine Transkribierende auch eine konkrete Verschriftlichungsstrategie (3), um ihre Unsicherheit im Transkribieren zu markieren. Sie erklärte, dass sie Wörter oder Sätze, die sie nicht ganz genau verstanden hat, für die editierende Therapeutin mit eckigen Klammern markiert (vgl. IV). Schließlich stehen die Kommunikationsstrategien (4) im Zentrum, die insbesondere von einer Transkribierenden artikuliert wurden. So erzählte sie, wie die Nebengeräusche auf einer Audioaufnahme störend waren und wie sie diese Problematik dem verantwortlichen Therapeuten weiterleitete: Und was auch wichtig ist. Also eine rein technische Sache. Das habe ich ihm [dem Therapeuten] dann auch gesagt oder per Mail geschrieben. Also ich hatte da mal eine Dame, das war eben die, die schon ein bisschen Probleme hatte. Im Nachbarbett war noch ein Patient und da hat die Infusion gepiepst und es haben sich dann noch Angehörige mit den Patienten nebenher unterhalten. Da habe ich mich beschwert. Das geht nicht. Und das hat man dann auch verstanden. Also da muss dann halt schon absolute Ruhe sein im Hintergrund. Das ist schon besser. Also das ist dann unmöglich. (IX)
Die Transkribierende wählt in diesem Beispiel die Kommunikation mit dem verantwortlichen Therapeuten und beschwert sich über die störenden Nebengeräusche auf der Aufnahme. Dieser Mut zur Kommunikation und Kritik war bei ihr aber nicht immer gegeben. So erzählt sie von ihrer ersten WzT-Transkription Folgendes: Also ich weiß noch, wo ich das das allererste Mal gemacht habe, da habe ich mich geschämt. Da habe ich zum [verantwortlichen Therapeuten] gesagt: ›Da habe ich nur noch Lückentexte, ich habe nichts verstanden.‹ Ja, und das war grad so schwer. Das war eine Dame, ich weiß nicht mehr, was sie gemacht hat. Halt auch sowas im Leben erzählt und alles. Und ich habe so viel nicht verstanden, das war schon schlimm. (IX) 47 In Kapitel IV.4 lege ich sowohl monologisierende als auch dialogisierende Editierstrategien dar.
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Auf meine Nachfrage, was sie mit »schlimm« meine, erklärt sie: Schwierig ja. – Weil ich eben auch nicht wusste, oh Gott, wie wird es man mir abnehmen. Also ich habe mich wirklich geschämt. Weil normalerweise … Ich bin jetzt 35 Jahre im Beruf, ich habe viel schreiben müssen an Briefen und OP-Berichten und solche Texte. (IX)
In diesem Auszug spiegelt sich ein Spannungsverhältnis zwischen Vollständigkeit – ich erinnere an das formulierte Ziel der Transkribierenden – und Genauigkeit wider. Entstanden ist ein »Lückentext«, weil »nichts verstanden« wurde. Auf der einen Seite zeugt ein »Lückentext« von Unvollkommenheit und Unvollständigkeit. Auf der anderen Seite markiert ein Lückentext Leerstellen und zeugt von einer Genauigkeit, weil eben diese Lücken markiert und nicht irgendwie gefüllt wurden. Im beschriebenen Schamgefühl der Transkribierenden und in ihrer Unsicherheit angesichts der Bewertung schreibt sie ihrer Arbeit Unvollkommenheit zu. Mit dem Vergleich zu ihrer langjährigen Berufs- und Transkriptionserfahrung, den sie mit »Weil normalerweise« einleitet, deutet sie eine Relativierung ihrer lückenhaften Arbeit an, die eben nicht dem Normalfall entspricht.
3.6
Von der »abwesenden Dritten« zum Gegenüber Dann werde ich […] manchmal in diesem Moment etwas wütend (lachen) und sage: ›Jetzt soll mal einer von euch beiden den Mund halten!‹ (Transkribierende)48
Das Hören der lebensgeschichtlichen Erzählungen aus der WzT berührt die Transkribierenden emotional. Sie nehmen Anteil am Gehörten, tauchen ein, stellen vor und denken an ihr eigenes Leben. In dieser Reaktion verhalten sie sich gegenüber den Stimmen: des Fragenden und des Erzählenden. Sie nehmen eine Haltung ein, beschreiben diese und schreiben zu. Wie etwa die Transkribierende, die gewisse Erzählende »direkt sympathisch« (IW) findet und Bewunderung zeigt für das, »was sie oder er in seinem Leben erreicht hat« (IW). Dass sich das Verhalten zu diesen Stimmen nicht nur auf gedanklicher und emotionaler Ebene, sondern auch in Form von verbalen Kontaktaufnahmen mit den konservierten Stimmen abspielt, verdeutlichen die Äußerungen einer Transkribierenden, die schließlich auch den Wunsch entwickelt, von der »abwesende[n] Dritten« (Oldörp 2018: 380), die sie während des WzT-Interviews war, zum gesehenen und sehenden Gegenüber zu werden. Sie erzählt: »Ja. Ich hatte eben dann mal bei der einen Patientin den Eindruck: ›Oh, er [der Therapeut] sollte doch jetzt aufhören. 48 IX.
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Transformieren: Damit etwas bleibt, wenn man geht
Die kann doch nicht mehr.‹ Das habe ich dann so nebenher gedacht.« (IX) Diese Gedanken über die Patientin, die bei der Transkribierenden den Eindruck erweckt, als sei sie nicht mehr in der Lage, die Erzählung fortzuführen, zeugt von Mitgefühl, vielleicht auch von Ärger über den Therapeuten, der trotzdem das Interview fortführt. Die Schreibende entwickelt also nicht nur, wie auf den vorangegangenen Seiten ausgeführt, eine Haltung gegenüber der Erzählerin, deren und ihrer eigenen Lebensgeschichte, sondern auch gegenüber der Gestaltung der Interviewführung sowie dem Interviewen und Erzählen im Vollzug. Während es im obigen Zitat nur Gedanken sind, schildert sie an anderer Stelle, dass sie auch verbal mit den Stimmen auf der Aufnahme in Kontakt tritt: Und dann stellt der [Therapeut] dann ja noch Zwischenfragen und dann kann es manchmal passieren, dass sich die zwei Gespräche überschneiden. Dann werde ich […] manchmal in diesem Moment etwas wütend (lachen) und sage: ›Jetzt soll mal einer von euch beiden den Mund halten!‹ (lachen) oder ›Es soll mal nur einer reden!‹ (IX)
Weil die Überlappung von Redebeiträgen im aufgezeichneten Interview das Transkribieren erschwert, verbalisiert die Schreibende ihren Unmut und adressiert ihn an die Stimmen auf der Aufnahme. Sie spricht die Interagierenden an und bleibt doch außerhalb dieser Interaktion, weil diese nicht im Hier und Jetzt vollzogen wird, sondern nur wiedergegeben aus dem Damals. Doch in diesem Außerhalb »irgendwo dazwischen« (IX), wie sie es nennt, will sie nicht immer bleiben. So zeigt die dritte und letzte Szene den Wunsch nach einer realen Begegnung, der schließlich auch erfüllt wurde: Und dann hatte ich neulich eine Patientin, da habe ich mir extra die Erlaubnis geholt, dass ich sie selber besuchen durfte auf der Tagesklinik. Nur diese Stimme zu hören, konnte ich fast nicht aushalten. Ich war so berührt und wollte nicht nur als unsichtbare Schreibkraft da irgendwo dazwischen sein. Ich wollte den Menschen sehen und mich auch als Mensch zeigen. Und das war eine Italienerin, die war sowas von lieb und sowas von herzzerreißend, goldig. (IX)
Nicht mehr »unsichtbar« und »dazwischen« will sie sein, sondern »gesehen« und zum Gegenüber werden. Berührt von der Stimme und der Erzählung auf der Audioaufnahme, wächst in der Transkribierenden der Wunsch, mehr als die Stimme zu hören bzw. zu sehen und sich als Mensch zu zeigen. »Stimmen erzeugen ein Begehren nach ihrer Verkörperung« (Macho 2006: 132), schreibt Thomas Macho. Doch in diesem Falle geht es nicht allein um Stimmen und Verkörperung, sondern um biografische Erzählung und Begegnung. Die Worte der Transkribierenden zeugen von Brisanz. Sie konnte es »fast nicht mehr aushalten«. Sehen und sich zeigen, war der Wunsch als Ausweg aus dem Aushalten und dem Dazwischen. Im Anschluss an diese Passage führt die Transkribierende die Begegnung mit der Patientin weiter aus – eine Begegnung, die ihr »für immer
Transkribieren: Tippende als Rezipierende und Ko-Autor_innen
111
in Erinnerung bleibt« (IX). In ihrer Funktion als »Dritte« während des WzTInterviews wird sie in dieser Begegnung zum Gegenüber.49
3.7
Fazit: Transkribieren in der WzT
Transkribieren ist immer auch Verändern, ist Transformieren. Als selektive, situative, interpretative und reflexive Praktik wird damit ein Transkript geschaffen, das die Aufzeichnung lesbar macht. Das Transkribieren in der WzT wird von den befragten Akteur_innen sowohl als kognitiv fordernd als auch als emotional bewegend beschrieben. Dabei wird gelacht und geweint, an das eigene Leben gedacht, imaginiert, gewünscht und auch delegiert. Letzteres bezieht sich auf die Therapeut_innen, die sich im Anschluss dem Transkript widmen. Ihnen wird die Ermächtigung zugeschrieben, dieses Transkript zu ändern. Im Transkribieren der generativen Erzählung treten das Ziel der Genauigkeit und das Ziel der Vollständigkeit in ein Spannungsverhältnis, denn beide gehen nicht immer Hand in Hand. Im Umgang mit Herausforderungen während des Transkribierens, die insbesondere dem besagten Spannungsverhältnis zuzuschreiben sind, wenden die Schreibenden verschiedene Bewältigungsstrategien an: Hörstrategien, Reflexionsstrategien, Verschriftlichungsstrategien und Kommunikationsstrategien. Dass die hörbare Erzählung für Transkribierende auch den Wunsch entstehen lassen kann, nicht nur die Stimme zu hören, sondern auch den Menschen zu sehen und sich diesem zu zeigen – den Wunsch nach Begegnung also –, haben die Worte einer Schreibenden gezeigt. Transkribierende in der WzT in ihrer dynamischen Funktion als Rezipierende und Ko-Autor_innen zugleich zu verstehen, schärft das Verständnis für ihre zentrale und komplexe Rolle innerhalb der WzT.
49 Die Bezeichnung »abwesende Dritte« (Oldörp 2018: 380), die ich im Kapitel IV.0 verwendet habe, wird bei Oldörp nicht weiter theoretisiert und konzeptualisiert. »Abwesende Dritte« erinnert an die »Figur des Dritten« und eine »Tertiarität«, die als Paradigmen Eingang in die Kultur- und Sozialwissenschaften gefunden haben (vgl. Bedorf u. a. 2010; vgl. Esslinger 2010). »Figuren des Dritten« sind nicht Zusatzfiguren des dyadischen Systems, sondern konstituieren dieses mit. Durch ihre systematische Funktion werden Beziehungen ausgehandelt. Die abwesende Transkribierende – und auch die abwesenden Angehörigen – während des WzTInterviews als »Figuren des Dritten« zu verstehen, erweitert in der Tat den Blick auf Patient_innen und Therapeut_innen als dyadische Interaktionspartner_innen. Denn, wie die Ausführungen gezeigt haben und noch zeigen werden, wird die entstehende generative Erzählung durch das Wissen um die Folgepraktiken der Transkribierenden und Angehörigen mitgeformt. Es eröffnet sich aber die Frage, wer wirklich »der Dritte« ist und wie sich dieses konzeptuell tertiäre System im Verlauf der Transformation verschiebt. Besagter theoretischkonzeptueller Gedanke soll an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden, jedoch Anstoß für weitere Gedankenexperimente und deren Potential für die Analyse sein.
112
4
Transformieren: Damit etwas bleibt, wenn man geht
Editieren: Ermächtigung und Entmächtigung Ja und dann schicke ich die Transkription zurück und es ist dann wieder in den Händen des Therapeuten. (Transkribierende)50
Im Editieren wird bearbeitet und verändert. Jemand streicht, verschiebt, ergänzt und kürzt. Editieren ist Eingreifen – ein Eingreifen mit Folgen. In der WzT werden die entstandenen Texte nach dem Transkribieren den Therapeut_innen in elektronischer Form zur Verfügung gestellt und das Editieren kann beginnen. Was aber geschieht, wenn die Transkription »wieder in den Händen des Therapeuten« ist? Wie verändert sie sich? Und wie werden diese Veränderungsprozesse durch die involvierten Akteur_innen gedeutet? Im Folgenden steht die Praktik des Editierens als weiteres Glied der Transformationskette in der WzT im Zentrum. Führen wir uns also die Ausgangslage nochmals vor Augen: Durch Fragen, die das »Würdebewahrende Repertoire« (Chochinov 2017: 28) aktivieren sollen, und durch die Präsenz von und Interaktion mit den Therapeut_innen entstand die generative Erzählung. Nach dem Akt des Transkribierens – ein Schritt im Formierungsprozess, der im vorangegangenen Kapitel auf der Basis von Interviews mit Transkribierenden diskutiert wurde – erhalten die Therapeut_innen die Transkription und stehen nun vor der Aufgabe, diese zu editieren. Zu dem Zeitpunkt wurde also der Wechsel von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit – mit einem Zwischenstopp auf einem Tonträger – bereits vollzogen. Um die Ausgangslage zu komplettieren, muss ein wesentlicher Aspekt angefügt werden: Die editierenden Therapeut_innen wissen, was noch kommt. So banal diese Feststellung klingt, so zentral ist sie doch. Wissen, welches der nächste Schritt in einem Prozess ist, beeinflusst unweigerlich die Gestaltung des gegenwärtigen Schritts. Mit Blick auf das Editieren umfasst dieses Antizipieren vor allem zu wissen, dass die editierte Erzählung sowohl den Patient_innen vorgelesen und somit auch zurückgespiegelt als auch von Angehörigen gelesen wird. Im Folgenden ordne ich im Rückgriff auf Chochinov das Editieren in die Konzeption der WzT ein. Anschließend stehen ausgewählte Formierungsstrategien im Zentrum, die ich durch den Vergleich von Transkripten und editierten Dokumenten herausgearbeitet habe. Schließlich rücken die Deutungen und Bedeutungszuschreibungen der Therapeut_innen in den Fokus. Dabei verlagert sich der Blick weg von den schriftlichen Dokumenten als Datenmaterial hin zu den von mir geführten problemzentrierten Interviews.
50 IJ.
Editieren: Ermächtigung und Entmächtigung
4.1
113
Editieren nach Chochinov
Once the transcribing is completed and the transcript delivered in an electronic format, the editing can begin in earnest. Like every other facet of Dignity Therapy, a dual sense of immediacy and respect are essential. The message being given with the pacing and tone must be clear and unequivocal; ›What you have to say is valuable, and the process of retrieving your words is too important to be delayed.‹51
Chochinov beginnt sein Unterkapitel »The rationale for editing the Dignity Therapy« mit folgenden zwei Fragen: »Why bother editing Dignity Therapy transcripts considering that, in most instances, these will be the patient’s final recorded words? Is it presumptuous or perhaps even wrong to tamper with or in any way change what the patient actually said or, more to the point, how they said it?« (Chochinov 2012: 101) Chochinov fragt nach dem Sinn des Editierens, aber auch nach einer damit einhergehenden potentiellen Anmaßung. Und mit der Frage, ob das Editieren vielleicht sogar falsch sei, nimmt er jene Kritik vorweg, die sich aufdrängt, wenn vom Verändern der Patient_innenerzählung die Rede ist. Und ein Verändern ist es, auch wenn es sich teilweise um subtile Veränderungen handelt. Um die Kritik zu entkräften, geht Chochinov auf den »therapeutic contract« (ebd.: 101) ein, der zwischen Therapeut_innen und Patient_innen geschlossen wird: Dignity Therapy includes the patient’s willingness to accept the aid of the therapist. In other words, patients consent to participate in a process that will produce a detailed generativity, legacy-preserving document, with the understanding that the therapist will provide the means by which they can succeed. (Chochinov 2012: 101)
Die Teilnahme an der WzT ist also eine Einwilligung in das Schaffen einer kokonstruierten Erzählung und in das Annehmen therapeutischer Hilfe. Diese Hilfe beschreibt Chochinov folgendermaßen: »To help them achieve, not simply what they could achieve on their own, but rather, all they might wish and deserve to achieve.« (Chochinov 2012: 102) Gründe für die Hilfsbedürftigkeit der erzählenden Patient_innen sieht er in möglichen krankheitsbedingten Einschränkungen wie Müdigkeit und fehlender psychischer Stabilität, aber auch in deren Angst, jene so wichtigen und bleibenden Worte derart zu erzählen, dass sie bei zukünftigen Lesenden »richtig« verstanden werden (vgl. ebd.: 102). Chochinov beschreibt das Editieren in vier Schritten: »(1) cleaning up the transcript; (2) clarifying the transcript; (3) correcting time sequences; and (4) finding a suitable ending.« (Chochinov 2012: 108) Er beendet das Unterkapitel zum Editieren schließlich mit der Überschrift »The Patient Has the Final Say«
51 Chochinov 2012: 107.
114
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(ebd.: 114), worin er auf das anschließende Vorlesen und die Korrekturmöglichkeiten durch die Patient_innen verweist.52 Die Notwendigkeit des Editierens liegt in der Fokussierung auf die Rezipierenden. Diese Fokussierung ist ausschlaggebend dafür, dass die Erzählung überhaupt editiert wird. Zu den Rezipierenden gehören aber nicht nur die Angehörigen als zukünftige Lesende, sondern auch die Patient_innen selbst, die Erzählende/Produzierende und Hörende/Rezipierende zugleich sind. Intention dieser Rezipierbarkeit ist das der WzT zugrunde liegende Würdemodell mit dem würdestärkenden Faktor »Generativität«53, der durch ein konkretes Adressat_innenbewusstsein und durch die Weitergabe des Dokuments umgesetzt werden soll (vgl. Chochinov 2012: 9). Während des Editierens – und das wird bereits aus Chochinovs Anleitung klar – schreiben sich die Therapeut_innen in die Erzählung ein, denn sie sind nicht nur »a coconstructor of a story in the interview situation but also ha[ve] a more powerful role in steering the story as the editor« (Lindqvist u. a. 2015: 45).
4.2
Vom Gespräch zur Erzählung: (un)sichtbare Ko-Konstruktion As much as possible, the interviewer’s words should be cleaned up and, where possible, eliminated, this helps reduce the likelihood that the transcript will read like a conversation rather than prose.54
Mit diesem Zitat von Chochinov, das auf die Reduktion des interviewenden Redebeitrags abzielt, soll eine erste Formierungsstrategie im Editierprozess diskutiert werden. Die Transkription ist eine Form der schriftlichen Repräsentation. Repräsentiert wird ein mündlich geführtes halbstrukturiertes Interview, das zugleich eine gesprächstherapeutische psychologische Intervention ist. Mit der Transkription aus der WzT wird ein Geschehen repräsentiert, das in sich ein stark ko-konstruiertes Geschehen ist (vgl. Kapitel II.2). In den Transkriptionen finden sich Spuren, die auf dieses vorangegangene kokonstruierte Geschehen verweisen. So ist in den von mir analysierten Transkriptionen der jeweilige Redebeitrag durch die Abkürzung I55 für Interviewer_in 52 Während oder nach dem Hören ihrer eigenen Erzählung erhalten die Patient_innen nochmals die Möglichkeit, Textänderungen anzubringen. Vgl. dazu Kapitel IV.5 der vorliegenden Studie. 53 Unter »Generativität« versteht Chochinov »providing guidance for the next generation« (Chochinov 2012: 16). Dabei stehen die Fragen im Zentrum, was ich als Mensch hinterlassen möchte und welchen Einfluss ich auf die Hinterbliebenen und die nächste Generation ausüben kann (vgl. Chochinov 2012: 16). 54 Chochinov 2012: 109. 55 Anstelle von I auch A.
Editieren: Ermächtigung und Entmächtigung
115
und P56 für Patient_in gekennzeichnet. Auch die Typografie verweist auf eine KoKonstruktion. So unterscheiden sich die Redebeiträge der Patient_innen in Schriftlage (normal oder kursiv) und Schriftstärke (mager oder fett) teilweise von den Redebeiträgen der Therapeut_innen. Wie Layout und Typografie gestaltet sind – und damit greife ich nochmals auf die Praxis des Transkribierens zurück –, hängt von den individuellen Präferenzen und Arbeitsweisen der Transkribierenden ab. Chochinov schlägt diesbezüglich ein Vorgehen für das Transkribieren vor, das so jedoch in meinem Datenmaterial nicht zu finden war. So schreibt er: Because the patient’s words are the only words of particular importance, the interviewer can simply be labeled ›Interviewer‹. The patient’s dialogue, on the other hand, should be clearly labeled each time, initially using the full name, and subsequently using the name by which they prefer to be addressed, as indicated during their interview; for instance, Mrs. Rose Johnston and Rose, respectively. (Chochinov 2012: 104)
Durch diesen Hinweis macht Chochinov jenes deutlich, was ich im Folgenden noch pointierter herausarbeiten werde: die möglichen Wirkungseffekte sprachlicher Formulierungen und der Textgestaltung. So impliziert doch seine Ausführung, dass der ausgeschriebene Name im Gegensatz zu einer Abkürzung wie »P« eine andere Wirkung erzeugt. Mit Blick auf die eben beschriebenen Eigenschaften der Transkription soll nun dargestellt werden, wie die sichtbare, wenn auch nur in Spuren repräsentierte Ko-Konstruktion des vorangegangenen mündlichen Interviews durch die editorische Tätigkeit in eine scheinbar monologische Erzählung transformiert wird und welche Wirkungen diese Transformation haben kann respektive wie sich die Affordanzen (vgl. Fn. 12) der sprachlich-narrativen Dimension verändern. Ein wesentlicher Eingriff in die sichtbare Ko-Konstruktion ist das Unsichtbarmachen der Therapeut_innenstimme. Bewusst spreche ich dabei von Unsichtbarmachen und nicht, wie es Chochinov tut, von Eliminieren (vgl. Chochinov 2012: 109), handelt es sich doch – wie sich zeigen wird – um eine Pseudoelimination. Denn das Eliminieren des therapeutischen Redebeitrags führt zu Folgeveränderungen am Text und somit schreiben sich die Therapeut_innen wieder neu in den Text ein. In den mir zugänglichen acht57 editierten Dokumenten wurden die von den Therapeut_innen gestellten Interviewfragen mehrheitlich herausgestrichen. Dabei ist eine graduelle Abstufung zu erkennen. Es gibt Dokumente, in denen keine Fragen mehr lesbar sind, Dokumente, in denen zwei bis vier der gestellten Fragen respektive therapeutischen Redebeiträge noch enthalten sind, und solche, in
56 Anstelle von P auch Initialen der Patient_innen. 57 Einen Überblick über die Dokumente bietet die Tabelle 7.
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denen noch bis zu zehn Fragen erkennbar sind. In allen Fällen wurde aber der Redeanteil der fragenden Therapeut_innen erheblich gekürzt. Werden die Interviewfragen respektive wird der Redeanteil der Therapeut_innen als Ko-Erzählende reduziert und unsichtbar gemacht, hat dies – mit Blick auf das Ziel der Lesbarkeit – Folgen für den weiteren Erzählvorgang. So schreibt Christine Oldörp58: Für eine Antwort gilt, dass sie ohne eine Frage keinen Handlungssinn machen kann. Ohne eine ihr vorgängige Frage gäbe es keine Antwort. Eine Antwort ist auf etwas Erfragtes zugeschnitten, ohne sie ist sie elliptisch. In ihr artikuliert sich ein hörerseitiges Verständnis der Frageäußerung. Im Antworten wird auch einer Handlungsaufforderung nachgekommen. Eine Antwort ist so Teil einer Interaktion und darum kann die Isolierung einer Antwort von der ihr vorgängigen Frage ihren Sinn modifizieren. (Oldörp 2018: 767)
Damit die Antwort nicht »elliptisch« bleibt, transformieren die editierenden Therapeut_innen ihren Redebeitrag und integrieren ihn in den Redebeitrag der Patient_innen. Im folgenden Beispiel 1 befindet sich auf der linken Seite (T) der Auszug aus dem Transkript, auf der rechten Seite (E) der Auszug aus dem editierten Dokument. Beispiel 159 TE I: Also das war dann so, dass sie bei den EE Dass meine Eltern so viel Arbeit hatten mit ihrem Betrieb, das habe ich als Kind Großeltern gelebt haben? Weil die Eltern ja gar nicht mitgekriegt. so viel arbeiten mussten für den Betrieb? P: Ja, das habe ich als Kind ja gar nicht mitgekriegt [ ja].
In diesem Beispiel nimmt der interviewende Therapeut mit seiner Frage Bezug auf eine vorangegangene Aussage der Patientin. Die Patientin erzählte kurz davor von ihren Großeltern: »Die hatten da auf dem Berg ein schönes kleines Anwesen und da war ich mit meiner Schwester in den, Mitte der 50er Jahre, weil die Eltern einen Betrieb aufgebaut hatten [mhm].« (TE) Dieser Teil fließt auch so, ebenfalls einige Zeilen zuvor, in die editierte Version ein. Die nun vom Therapeuten gestellte Frage (vgl. Beispiel 1) fungiert hier als Nachfrage respektive als Aufforderung zur Präzisierung der eben zitierten Stelle. Mit Blick auf die editierte Version in der rechten Spalte fällt auf, dass der Therapeut nun nicht mehr als gekennzeichneter Sprecher/Interviewer (I:) auftaucht, sich aber dennoch in die entstehende Erzählung einschreibt, denn seine formulierte Frage wird nun mit 58 Christine Oldörp setzt sich in ihrer Dissertation auf methodologischer Ebene mit Verschriftlichungen qualitativer Interviews auseinander. 59 Die folgenden Beispiele wurden ohne Korrektur aus dem Datenmaterial übernommen. Schriftlage, Schriftstärke und Fehler wurden nicht angepasst.
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»[d]ass meine Eltern so viel Arbeit hatten mit ihrem Betrieb« in den Redebeitrag der Patientin integriert und ihr zugeschrieben. Diese Integration führt zu weiteren Veränderungen. So wird »die Eltern« in »meine Eltern« transformiert, ebenfalls fällt das »Ja« als Antwort auf die Frage weg. Eine weitere Modifikation findet sich von »so viel arbeiten mussten für den Betrieb« in »so viel Arbeit hatten mit ihrem Betrieb«. Zusammengefasst kann festgehalten werden, dass im editierten Zitat der interviewende Therapeut seinen Redeanteil so in die Erzählung der Patientin integriert, dass er ohne den Vergleich mit der Transkription nicht mehr sichtbar respektive markiert ist. Der Patientin wird auf der Textebene mehr Raum eingeräumt. Der Therapeut zieht sich als markierter Gesprächspartner zurück und die Patientin steht als handelnde Erzählerin im Zentrum. Jedoch können das Einschreiben und das Aufdrängen der Therapeutenstimme auch als Entmächtigung gewertet werden, ist es letztlich doch nicht die Therapeutenstimme selbst, die sich zurückzieht, sondern nur die Markierung der Stimme. Bevor ich diesen Ansatz vertiefe, sollen weitere Beispiele hinzugezogen werden. Beispiel 2 EB TB P: Freundschaftsspiele interessieren mich sowieso nicht, Länderspiele auch nur sehr, sehr bedingt, Weltmeisterschaften ja, aber ansonsten, wenn Deutschland gegen San Marino spielt, dann muß ich mir das schnell angucken. A: Sie gucken dann gern so die Bundesligaspiele?
Freundschaftsspiele interessieren mich sowieso nicht, Länderspiele auch nur sehr bedingt. Weltmeisterschaften ja, aber ansonsten, wenn Deutschland gegen San Marino spielt, dann muss ich mir das angucken. Ich schaue gerne Bundesliga, auch 2. und 3. Bundesliga, alles was gibt.
P: Ja Bundesliga, 2. 3. Bundesliga, alles was gibt.
In Beispiel 2 erzählt ein fußballbegeisterter Patient aus seinem Leben. Nachdem er zuvor mit »Ich war der einzige in der Familie, der schon immer völlig unmusikalisch war, aber sportbegeistert. Ich habe zumindest aktiv Sport betrieben, sagen wir mal so« (TB) auf seine Sportbegeisterung hingewiesen hat, fordert der Therapeut den Patienten auf, vom Fußballspielen zu erzählen: »Wollen sie mal erzählen? Haben Sie Fußball gespielt?« (TB) Darauf folgt eine längere Passage über Fußballvereine, Lieblingsvereine sowie Spiel- und Sportpolitik. Im obigen Beispiel erzählt er dann davon, welche Spiele er gerne und welche weniger gerne verfolgt. In diese Erzählung greift der Therapeut mit der Frage »Sie gucken dann gern so die Bundesligaspiele?« ein und versucht dem Patienten weitere Informationen über seine Interessen zu entlocken. In der editierten Version sind nun diverse Veränderungen zu erkennen. So wurde »schnell« gestrichen und »muß«
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in »muss« geändert. Was nun aber unter dem Thema der (un)sichtbaren KoKonstruktion interessiert, ist zum einen das typografische Erscheinungsbild der editierten Version. Die nicht mehr vorhandene kursive Schriftlage sowie die fehlenden Sprecherbezeichnungen und Absätze zwischen den Redebeiträgen signalisieren die Transformation eines dialogischen Gesprächs in eine monologische Erzählung. Zum anderen findet sich auch hier, wie in Beispiel 1, eine Pseudoeliminierung des therapeutischen Redebeitrags, bei der es sich letztlich nur um eine Entmarkierung des Sprechers handelt. Die vom Therapeuten gestellte Frage »Sie gucken dann gern so die Bundesligaspiele?« erscheint mit »Ich schaue gerne Bundesliga […]« in modifizierter Weise60 wieder in der Patientenerzählstimme. Diese Verlagerung kann einerseits als ein Aufdrängen einer fremden Stimme interpretiert werden, positioniert aber andererseits das Erzähler-Ich als handlungsmächtigen Menschen, der etwas tut. Denn obwohl in »Ja Bundesliga« eine Handlung und Ich-Perspektive durch die schriftliche Manifestation, die sich dem ursprünglich mündlichen Gesprächskontext entzieht, nicht zu erkennen ist, bietet die Formulierung »Ich schaue gerne« sehr wohl eine Lesart an, die dem Patienten Handlungsmacht attestiert. Beispiel 3 TE I: Aaah ok. Das war die Kontonummer? EE Diese Nummer, das war aber keine Kontonummer oder so, so einfach ist P: Nein. Die Telefonnummer. das nicht! Es war eine Telefonnummer. I: Die – ah! Ok. P: Ja Moment! So einfach ist das nicht.
Auch Beispiel 3 zeigt, wie die Ko-Konstruktion der Erzählung im Editieren für zukünftige Lesende unsichtbar gemacht wird. In der vorangegangenen Erzählpassage spricht die Patientin von einer Nummer, erklärt aber nicht, um welche Art von Nummer es sich handelt. Der interviewende Therapeut erkundigt sich mit »Aaah ok. Das war die Kontonummer?« nach der Spezifizierung dieser Nummer und äußert seine Vermutung (»Kontonummer«). Die Patientin korrigiert ihn: »Nein. Die Telefonnummer.« Dieser kurze Dialog fungiert im Interview als Einschub, um das Mysterium der Nummer aufzuklären. Als Einschub findet sich diese Klärung auch in der editierten Version, jedoch nicht in dialogischer Form markiert, sondern als Vorwegnahme und somit als Schutz vor einer möglichen Fehlinterpretation. Hat der Begriff »Nummer« bei dem interviewenden und zugleich rezipierenden Therapeuten – in seiner Funktion als aktiver Zuhörer – zu Irritation geführt, wird diese Irritation den zukünftigen Lesenden der editierten Version erspart. Als Folge wird der Ausruf »Ja Moment!« als direkte Reaktion auf die vorangegangene Interaktion in der editierten Version 60 Unter anderem wurden umgangssprachliche Formulierungen in Standardsprache transformiert: »gucken« → »schauen«; »dann gern so« → »gerne«.
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gelöscht. Damit geht ein situationsspezifischer Gegenwartsbezug verloren. Der Ausrufcharakter wird jedoch nicht ganz getilgt. So versieht der editierende Therapeut die Aussage »So einfach ist das nicht!« mit einem Ausrufezeichen. Während die Transkription nahelegt, dass nicht die Patientin das Wort »Kontonummer« geäußert hat, sondern der Therapeut, wird diese Äußerung im Editierprozess mit »das war aber keine Kontonummer oder so« der Patientin zugeschrieben, um – wie bereits erwähnt – einer Irritation vorzubeugen. Beispiele 1 bis 3 zeigen, wie die Ko-Konstruktion des Interviews im Editieren in eine monologische Erzählung transformiert wird, die Interviewfragen durch eine Entmarkierung pseudoeliminiert und den als Erzählende markierten Patient_innen zugeschrieben werden. Auch der folgende Ausschnitt ist ein Beispiel für das Unsichtbarmachen der therapeutischen Redebeiträge. Dabei sind es nun nicht mehr Fragen, die pseudoeliminiert und integriert werden, sondern kommentierende Beiträge. Beispiel 4 EE TE P: Ja ich wollte ja bisschen sachlich bleiben. [ ja] Aber ich war ja nicht so, dass ich nur an einem Ort geblieben bin. I: Ja, so ist es eben, das Leben ist auch nicht nur eine Linie. P: Ich habe, ich habe ja nicht von fünf Ehemännern zu sprechen, oder zwei. Ich habe nur einen, aber dafür war der Rest genügend.
Ja, ich möchte sachlich bleiben. Aber es war ja nicht so, dass ich nur an einem Ort geblieben bin. Ja, so ist es eben, das Leben ist auch nicht nur eine Linie. Ich habe ja nicht von fünf Ehemännern zu sprechen, oder zwei. Ich habe nur einen, aber dafür war der Rest genügend.
In diesem Beispiel wird ein ganzer Satz des Therapeuten in die editierte Version integriert respektive der Erzählerin in den Mund gelegt. Der Satz »Ja, so ist es eben, das Leben ist auch nicht nur eine Linie«, der in der Transkription als Redebeitrag des Therapeuten erscheint und zwischen den zwei Redebeiträgen der Patientin steht, taucht in der editierten Version an gleicher Stelle auf, ist jedoch nicht mehr als Redebeitrag des Therapeuten markiert. Durch diesen Eingriff legt der Therapeut der Erzählerin Worte in den Mund, die sie so in dieser Form nie geäußert hat. Und so stellt sich auch hier die Frage: Entmächtigung oder Ermächtigung? Ist der Redebeitrag des Therapeuten eine gelungene Paraphrasierung dessen, was die Patientin zuvor sagte? Ist es vielleicht sogar die Formulierung, die die Patientin eigentlich hätte äußern wollen, ganz im Sinne Chochinovs also eine Hilfe: »[t]o help them achieve […] all they might wish to deserve to achieve?« (Chochinov 2012: 102) Oder ist es schlicht ein Versehen des editierenden Therapeuten? Während die vorangegangenen Beispiele gezeigt haben, dass sowohl die Fragen der interviewenden Therapeut_innen als auch deren Kommentare in die
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monologische Patient_innenerzählung integriert werden, zeigt das folgende Beispiel, dass auch Äußerungen Eingang in die editierte Erzählung finden, die weder von Therapeut_innen noch von Patient_innen stammen, jedoch Teil der WzT-Konzeption sind. Das Beispiel 5 ist aber auch ein Beleg dafür, weshalb die editierten Versionen im Vergleich zu den Transkriptionen viel kürzer ausfallen. Darin ist gut zu erkennen, wie die Ko-Konstruktion des in der Transkription repräsentierten Gesprächs durch die Praktik des Editierens reduziert wird. Dieser Reduktion soll zuerst nachgegangen werden. Beispiel 5 TA A: Ich freue mich, dass Sie das machen EA wollen und wollte Sie gerne fragen, ob Sie mir ein bisschen aus Ihrem Leben erzählen wollen, also das was Ihnen so als Erstes einfällt, was Ihnen wichtig ist, dass wir da so ein bisschen einsteigen. Sie zucken mit den Schultern, weil sie überlegen müssen, wo sie anfangen sollen. P: Also, soll ich schon von Kind an erzählen? A: Wie Sie wollen. P: Also, wie weit es geht, ich werde nicht viel erzählen, aber das was sie auch wissen möchten. A: Also zur Hilfe, es ist ja Ihr Interview, das soll ja für Sie und Ihre beiden Töchter sein, und wenn Sie auch ein bisschen an sie denken, dann ist es für Sie leichter, was Sie erzählen wollen. P: Dann kann ich eigentlich also in Richtung Kindheit gehen: Da war ein kleines Problem: Als ich als kleines Mädchen im Hof tanzte, das waren die 60er Jahre und ich erinnere mich immer noch, hat mein Papa immer auswärts gearbeitet und nach dem Krieg hat er natürlich erst Häuser gebaut, da war eine Gruppe … außerhalb, Mama hat sich um die Kinder gekümmert, es waren 3 Mädchen, 1 Junge.
Ich wollte Sie gerne fragen, ob Sie mir aus Ihrem Leben erzählen wollen? Wann fühlten Sie sich am lebendigsten? Als ich als kleines Mädchen im Hof tanzte. Das war in den Sechziger Jahren. Ich erinnere mich immer noch. Mein Papa hat immer auswärts gearbeitet und Häuser gebaut. Mama hat sich um die Kinder gekümmert. Wir waren drei Mädchen und ein Junge.
Die wiederkehrenden Redebeiträge des Therapeuten in der Transkription fungieren als Hilfestellungen und anbietende Erzählstimuli. Mit »also das was Ihnen so als Erstes einfällt, was Ihnen wichtig ist, dass wir da so ein bisschen einsteigen«
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bietet der Therapeut ein Hilfsangebot an. Was danach folgt, ist die Spur eines einmal anwesenden, präsenten Körpers. Der Körper respektive die zuckende Schulter ist nun nicht mehr anwesend, jedoch durch die schriftlich geschilderte Beobachtung repräsentiert. Es folgen weitere Hilfestellungen des Therapeuten insbesondere durch den Hinweis auf die Adressat_innen.61 Der Auszug aus der Transkription gewinnt an Schärfe, wenn er mit dem Konzept der Positionierung62 beleuchtet wird. Dieses fungiert u. a. als Instrument zur Rekonstruktion performativer Erzählhandlungen und eignet sich als Analyseinstrument narrativer Identität (vgl. Lucius-Hoene/Deppermann 2004b: 166). Auch wenn narrative Identität in der vorliegenden Arbeit kein zentraler Gegenstand ist, erweist sich das Konzept der Positionierung als gewinnbringendes Instrument, um pointiert aufzuzeigen, welche Wirkungseffekte durch das Editieren ausgelöst werden können. Positionierung bezeichnet diskursive Praktiken, mit denen Menschen sich selbst und andere in sprachlichen Interaktionen auf einander bezogen als Personen her- und darstellen, welche Attribute, Rollen, Eigenschaften und Motive sie mit ihren Handlungen in Anspruch nehmen und zuschreiben, die ihrerseits funktional für die lokale Identitätsher- und -darstellung im Gespräch sind. (Lucius-Hoene/Deppermann 2004a: 168)
Zu den unterschiedlichen Positionierungspraktiken gehören die »Selbstpositionierung« und die »Fremdpositionierung« (Lucius-Hoene/Deppermann 2004b: 168f.), die sowohl in dialogischen als auch in monologischen Erzählungen getätigt werden können. Findet in dialogischen Erzählungen ein Wechselspiel von »Selbst- und Fremdpositionierung« zwischen den Interaktionspartner_innen statt, kann in einer monologischen autobiografischen Erzählung dieses Wechselspiel zwischen erzählendem und erzähltem Ich erfolgen (vgl. ebd.). Dabei beeinflusst jede Positionierungsaktivität »die folgenden Handlungsmöglichkeiten im Gespräch, und viele Positionierungsaktivitäten sind nur verständlich als Reaktionen auf vorangehende Positionierungen. Selbst- und Fremdpositionierung sind dabei miteinander verwoben« (ebd.: 179). In Beispiel 5 positioniert sich der Therapeut mit der Einstiegsfrage als jemand, der sich auf die bevorstehende Erzählung der Patientin freut. Dabei fremdpositioniert er die Patientin mit dem Hinweis auf ihre Körpersprache als eine unsichere Erzählerin, die überlegen muss, wie sie mit dem Erzählen beginnen soll. Die Erzählerin nimmt diese Fremdpositionierung an und spiegelt mit der Frage 61 »Also zur Hilfe, es ist ja Ihr Interview, das soll ja für Sie und Ihre beiden Töchter sein, und wenn Sie auch ein bisschen an sie denken, dann ist es für Sie leichter, was Sie erzählen wollen.« (TA) 62 Das Konzept der Positionierung geht auf die angelsächsische Discursive Psychology zurück und ist eng mit den Namen Wendy Hollway (1998) und Rom Harré (1999) verbunden. Im Bereich der Erzählforschung wurde es u. a. von Michael Bamberg (1997), Stanton Wortham (2001) sowie Lucius-Hoene und Deppermann (2004b) weiterentwickelt.
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»Also, soll ich schon von Kind an erzählen?« ihre Unsicherheit zurück. Mit der Antwort auf diese Frage fremdpositioniert der Therapeut die Patientin als kompetente freie Erzählerin (»Wie Sie wollen«). Noch kann die Erzählerin diese Fremdpositionierung nicht zu ihrer eigenen machen und positioniert sich eben gerade nicht als Mensch, der erzählen soll, was er will, sondern als einer, der erzählen möchte, was erwartet wird (»aber das was sie auch wissen möchten«). Dieser Reaktion der Patientin folgt eine Selbstpositionierung des Therapeuten, der sich als jemand darstellt, der »Hilfe« leisten kann. Daran anschließend fremdpositioniert der Therapeut die Erzählerin zuerst als eigenständiges Subjekt (»für Sie«) und danach als Mutter zweier Töchter – somit als Erzählerin, die der nächsten Generation etwas weitergeben kann. Diese Positionierung kann als Aktivierungsversuch der Generativität, als ein Thema des würdebewahrenden Repertoires (vgl. Chochinov 2017: 28) gedeutet werden. Nun nimmt die Erzählerin die Fremdpositionierung an und steigt in die Narration ein. Wird die editierte Version betrachtet, sind diese »Positionierungsaktivitäten« (Lucius-Hoene/Deppermann 2004b: 179) nicht mehr rekonstruierbar. Die Patientin tritt darin als sichere und selbstbewusste Erzählerin auf, die durch die (scheinbare) – Ausführungen dieser Scheinbarkeit folgen später – erzählstimulierende Frage die Fremdpositionierung als Erzählerin annimmt und sich durch den Akt des Erzählens als Erzählende und Erinnernde selbstpositioniert. Zudem wird die Erzählerin durch die Transformation von »es waren 3 Mädchen, 1 Junge« in »Wir waren drei Mädchen und ein Junge«63 ihrer Selbstdistanzierung enthoben, in das »wir« inkludiert und als »ich« affirmiert. Mit dem Fokus auf die »Positionierungsaktivitäten« (Lucius-Hoene/Deppermann 2004b: 179) in der Transkription lässt sich die Erzählung als Wechselspiel von erzählstimulierenden Hilfeleistungen und anschließenden Reaktionen rekonstruieren – eine Rekonstruktion, die für weiterführende Forschung zu Identitätskonstruktionen wertvoll sein kann und aufzeigt, dass durch (das) Editieren diese Identitätskonstruktionen ganz anders repräsentiert werden. Abschließend sollen nun jene Scheinbarkeit, die ich zuvor angedeutet habe, sowie jene nie geäußerten und dennoch in der editierten Version erscheinenden Aussagen, die ich zu Beginn der Analyse von Beispiel 5 erwähnt habe, ins Zentrum rücken. Hierzu liegt das Augenmerk auf der Einstiegsfrage. Während in der editierten Version der Erzählstimulus »also das was Ihnen so als Erstes einfällt, was Ihnen wichtig ist« nicht mehr existiert, fließt mit »Wann fühlten Sie sich am lebendigsten?« eine Frage ein, die nicht in der Transkription zu finden ist. Doch genau diese Frage fungiert in der Konzeption der WzT als erzählgenerierende 63 Die Ziffern wurden zudem in Zahlwörter transformiert. Diese Korrektur entspricht der Normierung, Zahlen von eins bis zwölf als Zahlwörter zu schreiben. Als Regel gilt diese Normierung jedoch nicht mehr (vgl. Dudenredaktion).
Editieren: Ermächtigung und Entmächtigung
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Einstiegsfrage64 (vgl. Chochinov 2012: 95). Sie steht an erster Stelle des Fragenkatalogs und soll das Interview eröffnen. Die Integration dieser Frage, die gemäß Transkription als solche nie gestellt wurde, zeigt, dass das Wissen um den Fragenkatalog in die Edition einfließt und nicht nur die mündliche Erzählung mitkonzipiert, sondern auch die editorische Tätigkeit mitformt.65 Die Einstiegsfrage erscheint als wirkungsmächtige Instanz, die sich in die Erzählung einschreibt, auch wenn sie nicht in ihrer eigentlichen erzählstimulierenden Funktion eingesetzt wurde. Die Reduktion der therapeutischen Redebeiträge und die daraus resultierenden Veränderungen transformieren das mündliche Gespräch in eine Erzählung, die nicht mehr durch das Intervenieren/die Intervention der Therapeut_innen unterbrochen wird. Die Erzählung wird aus Leser_innensicht flüssiger und kontinuierlicher. Nun ist das Intervenieren der Therapeut_innen in der mündlichen Erzählung aber keinesfalls immer eine Unterbrechung, sondern fungiert vielmehr als Erzählstimulus. Das Unsichtbarmachen dieser Hilfeleistung in der editierten Version lässt die Patient_innen als autonome und handlungsmächtige Erzähler_innen erscheinen, die keiner Unterstützung bedürfen. Folgendes Beispiel verdeutlicht diesen Ausdruck von Handlungsmächtigkeit nochmals aus anderer Perspektive: Beispiel 6 TB 13.04.55 geboren in Berlin
EB Ich bin am 13. April 1955 in Berlin geboren.
In diesem Beispiel ist es nicht ein ausgeklammerter Redebeitrag eines Therapeuten, der eine verstärkte Handlungsmächtigkeit ausdrückt, sondern die Transformation einer Ellipse. Durch das einleitende »Ich bin am« tritt in der editierten Version, im Gegensatz zur Transkription, eine weitere semantische Rolle auf, und zwar der Erzähler als handlungsmächtiges Agens. Der editierende Eingriff kann Erzähler_innen im schriftlichen Generativitätsdokument sprachlich ermächtigen, kann sie handlungsmächtig und kompetent darstellen. Doch – und nun greife ich das auf, was ich bis jetzt nur am Rande erwähnt habe – der editierende Eingriff kann ebenso als entmächtigend gedeutet werden: entmächtigend deshalb, weil Therapeut_innen ihre Stimme, ihre Äußerungen, ihr Nichtverstehen und ihre Deutungen den Patient_innen zuschreiben. Hier zu nennen sind die Fragen der Therapeut_innen aus Beispiel 1 und 2, der Therapeut aus Beispiel 3, der nicht versteht, um was für eine Art von Nummer es geht, und deshalb die Erzählerin genauer beschreiben lässt, als sie es 64 Im Original: »When did you feel most alive?« (Chochinov 2012: 71). 65 Die Funktion des Fragenkatalogs während des WzT-Interviews wurde bereits in Kapitel IV.1 dargestellt.
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Transformieren: Damit etwas bleibt, wenn man geht
wirklich tat, in Beispiel 4 das Zuschreiben der bildlichen Deutung vom Leben, das »auch nicht nur eine Linie« ist, die Antwort in Beispiel 5, der eine Frage vorangestellt wird, die so nie gestellt wurde, und die Ellipse aus Beispiel 6, die zu einem wohlgeformten Satz transformiert wird. Durch das Editieren schreiben sich die Therapeut_innen in die Erzählung ein, hinterlassen Spuren, verlagern ihre Stimme auf die Patient_innenstimmen, manipulieren Handlungsmächtigkeit und machen die (Ko-)Konstruktion nur unsichtbar, bleiben aber immer KoAutor_innen im doppelten Sinne: als Gesprächspartner_innen während der Interviews und als Editierende. Zu Beginn dieses Unterkapitels habe ich mit »Because the patient’s words are the only words of particular importance, the interviewer can simply be labelled ›Interviewer‹« (Chochinov 2012: 104) auf die von Chochinov vorgeschlagene Gestaltung der Transkription verwiesen. Die vorangegangenen Beispiele haben gezeigt, dass auch Aussagen in die Generativitätsdokumente einfließen, die gerade nicht zu den »patient’s words« gehören, sondern gemäß den Transkriptionen »therapist’s words« sind. Ob diese Worte nun wichtig oder unwichtig sind, soll nicht debattiert werden, ist doch Wichtigkeit immer abhängig von der Perspektive der Handelnden. Doch die Worte finden Eingang in die editierten Erzählungen und werden demnach als »Final Words for Final Days« der Patient_innen gekennzeichnet. Die Leseart der sprachlichen Entmächtigung wird im folgenden Kapitel weiterverfolgt. Dabei stehen nicht Äußerungen im Zentrum, die der generativen Erzählung zugefügt, sondern solche, die gestrichen wurden.
4.3
Vom Konstruieren zum Produkt: Performativitätsspuren tilgen Sollen wir Fenster zumachen? Da ist ein Hubschrauber, oder? (Therapeut)66
Das einleitende Zitat aus der Transkription TA macht deutlich, dass in das transkribierte Interview auch Redebeiträge einfließen, die an die jeweilige Außenwelt gebunden und ohne Wissen um diese Gegenwart schwer rekonstruierbar sind. Im obigen Fall scheint das Dröhnen eines Hubschraubers die Interviewsituation zu stören. In der editierten Version wurde dieser Bezug zur Außenwelt gestrichen. Dieses Streichen lässt sich als weitere Formierungsstrategie konzeptualisieren: die Formierung vom prozessorientierten Konstruieren zum Produkt.
66 TA.
Editieren: Ermächtigung und Entmächtigung
125
Der Vorgang des Sprechens ist stets an die Umgebung gebunden, gestaltet diese auf personaler, dinglicher, räumlicher und zeitlicher Ebene mit und wird wiederum von diesen Ebenen gestaltet (vgl. Oldörp 2018: 299). Diese – zumindest idealiter gedacht – »referenzielle Verknüpfung (mit Anwesendem) lässt gerade keinen Riss zwischen Sprache und Welt aufkommen« (ebd.: 299), wie Christine Oldörp schreibt. Doch durch die Transformation in das Medium Schrift ist die Referenz auf die im mündlichen Gespräch gegenwärtige Außenwelt nicht mehr eindeutig, da jene Außenwelt so nicht mehr gegeben ist. Im mündlichen Sprechen schafft sich der/die Sprechende ein »Koordinatensystem der ›subjektiven Orientierung‹« (Bühler 1999: 102) auf der Basis der Ich-Jetzt-Hier-Origo (vgl. ebd.: 102). Mit der Transformation in das Schriftliche wird dann jedoch die »Lokalisierung der Origo […] zum Problem« (Ehlich 1996: 22). Sprache und damalig gegenwärtige Welt sind getrennt. Ziele der Transkription sind die Konservierung der mündlichen Erzählung und die Vorbereitung für das anschließende Editieren, um sie schließlich als schriftliches Generativitätsdokument für Lesende zugänglich zu machen. Während im mündlichen Erzählen neben der Produktorientiertheit auch die Prozessorientiertheit zentral ist und das Erzählen als Vollzug würdestärkend wirken soll, steht im Anschluss primär die Herstellung der Erzählung als Produkt im Zentrum. Diese Intention kann begründen, warum im Editieren Metakommentare über den Akt des Erzählens – die das Erzählen als Vollzug kennzeichnen – gestrichen und somit Spuren der Performativität getilgt werden. Die folgenden Beispiele verdeutlichen dieses Tilgen. Dabei steht die Frage im Zentrum, welche Wirkungseffekte mit dem Verschwinden der Performativitätsspuren verbunden sind respektive welche Affordanzen diese Performativitätsspuren anbieten. Beispiel 7 TB P: Ja, meine Mutter hat es nicht ganz einfach mit mir gehabt. Ich war früher immer ein Dickkopf, das war meine Mutter auch, von daher war es ein schwieriges Verhältnis. So, fragen Sie weiter?
EB Meine Mutter hat es nicht ganz einfach mit mir gehabt. Ich war früher immer ein Dickkopf. Das war meine Mutter auch. Daher war es ein schwieriges Verhältnis. Ich bin ein ziemlich ungeduldiger Mensch. Meine Mitmenschen hatten mitunter oft unter mir zu leiden. In meinem Arbeitszeugnis würde stehen: »Er hat mit großem Eifer …« oder »er war stets sehr bemüht«.
Im Beispiel 7 erzählt der fußballbegeisterte Patient vom Verhältnis zu seiner Mutter. Mit der als Frage formulierten Aufforderung »So, fragen Sie weiter?« markiert er den Abschluss seines Redebeitrags und auch den Wunsch, zu einer anderen Frage überzugehen. Im Wissen, dass die Transkription das mündliche
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Transformieren: Damit etwas bleibt, wenn man geht
Gespräch zwischen dem Patienten und dem Therapeuten repräsentiert, kann die Referenz des deiktischen »Sie« identifiziert werden. In der editierten Version ist diese Abschlussmarkierung nicht mehr zu finden. Stattdessen wird eine neue Erzähleinheit, die in der Transkription erst später folgt, an die erste Erzähleinheit angeschlossen. Frageaufforderungen finden sich auch in der Transkription TA, wie z. B.: »Sie können auch etwas fragen. Über die Liebe?« (TA) oder »Jetzt dürfen sie wieder ein bisschen fragen.« (TA) Auch diese Aufforderungen wurden in der editierten Version gestrichen. Anhand von Beispiel 7 und den Beispielen aus TA fasse ich drei Lesarten zusammen, die diesen Aufforderungen eingeschrieben sind. Als Erstes steht der Gegenwartsbezug im Zentrum. Das »jetzt« im Beispiel TA verweist auf die Gegenwart der Erzählsituation, ist aber ohne das Wissen um diese damalige Erzählsituation nicht mehr problemlos lokalisierbar. Diese Aufforderung und somit auch das »jetzt« fließen nicht in die editierte Version ein. Mit dem Verschwinden dieser Performativitätsspur verschwinden auch die Spuren des Vollzugs in der damaligen Erzählgegenwart. Die Aufforderung an den Therapeuten führt dem Lesenden eine im Moment agierende Erzählende vor Augen. Die rekonstruierbare Interaktion mit dem Therapeuten signalisiert ein Leben im Hier und Jetzt – im Hier und Jetzt der damaligen Gegenwart. »Living ›in the moment‹« ist ein Aspekt des würdebewahrenden Repertoires und steht in Chochinovs Würdemodell für eine würdebewahrende Handlung (Chochinov 2012: 9). Durch das Erzählen als eine gegenwärtige, wenn auch zurück und nach vorn blickende Praktik kann dieses »Leben im Jetzt« erfahren werden. Flößen solche Sätze wie »Jetzt dürfen sie wieder ein bisschen fragen« (TA, 16) auch in die editierte Erzählung ein, könnte das bei Lesenden zwar zu Problemen bezüglich der »Lokalisierung der Origo« (Ehlich 1996: 22) führen, die Erzählung würde dabei aber auch das Erzählen im Vollzug darstellen und den Lesenden somit eine(n) einst in der Gegenwart aktiv agierende(n) Erzählende(n) vor Augen führen. Die Aufforderungen der Patient_innen können auch als ein kontrollierendes und autonomes sprachliches Eingreifen gelesen werden. In der Transkription erscheint die Erzählaufforderung als einflussnehmendes Eingreifen in das aktuelle Geschehen in Form von gesteuertem Sprecher- und Themenwechsel. Da ist der Patient, der über ein anderes Thema reden möchte (»So, fragen Sie weiter?« [TB]), und da ist die Patientin, die von Liebe (»Sie können auch etwas fragen. Über die Liebe?« [TA]) erzählen möchte. In der editierten Version ist dieses einflussnehmende Eingreifen durch die Patient_innen nicht mehr rekonstruierbar. Auch im nächsten Beispiel finden sich getilgte Performativitätsspuren, die als Ausdruck von Gegenwartsbezug, Kontrolle und Autonomie gelesen werden können. Dazu kommt aber noch ein vierter Aspekt. In den Performativitäts-
Editieren: Ermächtigung und Entmächtigung
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spuren, die im Editieren eliminiert wurden, spiegeln sich auch die Charakterzüge des hier erzählenden Patienten wider. Charakterzüge, die in dieser Form in der editierten Version nicht mehr erkennbar sind. Beispiel 8 TB Das Schwimmen habe ich schon immer EB gerne gemacht und irgendwann habe ich zu meinen besten Zeiten einen Marathonlauf geschafft, einen Berlin-Marathon. Ja, ja, der Nachbar wundert sich gerade.
Das Schwimmen habe ich schon immer gerne gemacht. Irgendwann habe ich zu meinen besten Zeiten einen Marathonlauf geschafft, den Berlin-Marathon.
Die Referenz »der Nachbar« ist nur durch das Wissen um das Gesprächssetting rekonstruierbar. Das Gespräch fand in einem Zweibettzimmer statt. Der Nachbar ist demnach mit großer Wahrscheinlichkeit die Person, die mit dem hier erzählenden Patienten das Zimmer teilte. Der editierende Therapeut hat diesen Bezug zur Außenwelt nicht in das Dokument einfließen lassen. Die zukünftigen Leser_innen des Generativitätsdokuments könnten diese Referenz evtl. nicht entschlüsseln, sind sie sich doch der performativen Herstellung dieser schriftlichen Erzählung nicht immer bewusst. Wäre das Wissen um die Gesprächssituation und damalige Außenwelt zugänglich, wäre die Frage »Was geht verloren?« – oder etwas neutraler formuliert: »Was drückt diese Referenz aus?« – durchaus legitim. Wieder sind es Handlungsmächtigkeit (Autonomie und Kontrolle) und Gegenwartsbezug. Der Patient ist in der Lage, mit seiner Erzählung jemanden zum Staunen zu bringen respektive dieses Staunen als solches wahrzunehmen. Seine Erzählung kommt beim Zuhörer an und führt zu einer sichtbaren Regung. Der Patient tritt als handelnder und einflussnehmender Erzähler auf, und das in der damaligen Gegenwart, gekennzeichnet durch das »gerade«. Neben Handlungsmächtigkeit und Gegenwartsbezug kann diese vom Patienten geäußerte Beobachtung aber auch als Ausdruck seiner Wesensart interpretiert werden. Da ist ein Mensch, der sich traut, seine Beobachtung zu äußern, der Kontakt zu seinem Bettnachbarn sucht, ein Mensch, der sich vielleicht auch bewusst ist, dass seine Erzählung über die Teilnahme an einem Marathon durchaus Staunen hervorrufen kann. Und schließlich schwingt in der Aussage »Ja, ja, der Nachbar wundert sich gerade« auch etwas Stolz mit. In der Transkription TB finden sich noch weitere Performativitätsspuren, die den Patienten in seiner Wesensart widerspiegeln:
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Transformieren: Damit etwas bleibt, wenn man geht
Beispiel 9 TB P: Haben Sie Lust auf Wein?
EB Ø
A: Nein, danke. Ist das das Marzipan, von dem sie gesprochen haben am Freitag, das sie so gern mögen?
Mitten im Gespräch fragt der Patient den Therapeuten, ob er Wein möchte. Der Therapeut verneint und verweist auf »das Marzipan«. Das Wissen um die hier repräsentierte Situation in einem Patientenzimmer lässt erahnen, dass »das Marzipan« zu diesem Zeitpunkt für den Therapeuten und den Patienten sichtbar – vielleicht auf dem Tisch liegend, vielleicht aber auch bereits in den Händen des Patienten – sein muss. Auch lässt die Transkription erahnen, dass im Vorfeld schon einmal über das Marzipan gesprochen wurde. Naheliegend ist auch, dass der Wein während der Interaktion im Zimmer stand. Mit dem Ziel, das Interview in eine größtenteils monologische Erzählung zu transformieren, werden solche kurzen Zwischenfragen gestrichen. Durch das Tilgen derartiger Dialoge werden zwar Referenzen auf die damalige Außenwelt, die für zukünftige Lesende unklar bleiben könnten, aufgelöst, jedoch schwindet damit auch die Repräsentation eines spezifisch handelnden Menschen. Ein schwerkranker Mann erzählt von seinem Leben, wissend, dass er bald stirbt. Dabei bietet er seinem Gesprächspartner Wein an. Der Einblick in diese Szene ist für Lesende des Generativitätsdokuments nicht mehr möglich. Vielleicht liegt gerade in dieser Handlung – im Anbieten von Wein – ein Wiedererkennungswert, ein Charakterausdruck, ein Bild, an das man sich gerne erinnert. Wenn es um Performativitätsspuren geht, dann müssen auch die Editieraufforderungen hinzugezogen werden, die Patient_innen in ihren Erzählungen äußern. Sie spiegeln nicht nur die Herstellung der dialogischen Erzählung wider, sondern auch die Einflussnahme auf das Editieren. So bringt z. B. die Erzählerin in der Transkription TA (Beispiel 10) klare Wünsche bezüglich des finalen Generativitätsdokuments an. Sie berichtet über die Band, in der sie mitgewirkt hat. Beispiel 10 TA P: Red/white, man hat alles rot/weiß EA Ø gemacht. Die letzte Formation … wir haben uns 3 mal verändert. Aber ich möchte nicht, daß das steht in meinem Interview.
Dieser Wunsch wurde berücksichtigt, und der Bericht über die Band fehlt im editierten Dokument. Auch das von der Erzählerin erwähnte Übergewicht ihres Bruders findet keinen Eingang in das Dokument und entspricht somit ihrem Wunsch, den sie im folgenden Satz äußert: »Mein Bruder hat ein bisschen
Editieren: Ermächtigung und Entmächtigung
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Übergewicht, das bitte nicht schreiben.« (TA) Der Eingriff durch das Editieren ist hier also eine von der Patientin gewünschte und geforderte Intervention. Das Wissen um die Niederschrift und das Editieren ihrer Erzählung lassen so eine Forderung und damit auch eine Form der Transformierung und Korrektur – in Gedenken an potentielle zukünftige Lesende – zu. Durch diese Forderung, und insbesondere durch deren Erfüllung, erscheint die Erzählerin als autonome Person und der editierende Therapeut als jemand, der ihre Wünsche respektiert. Neben den bisher besprochenen getilgten Performativitätsspuren finden sich auch solche repräsentierten Selbstkorrekturen: Beispiel 11 EE Deutsches Reich ist ja ganz viel mit GeTE Drittes Reich, ich sag immer Drittes schichte. Reich – Deutsches Reich! Drittes Reich ist ja ganz viel mit Geschichte.
Die Reparatur in Beispiel 11 kann mit Schegloff und Kollegen als »self initiated self completed repair« (Schegloff u. a. 1977: 363) bezeichnet werden. Die Patientin, die im Rahmen der Erzählung über ihre Briefmarkensammlung verschiedene Briefmarkenkategorien vorstellt, kommentiert und markiert die von ihr produzierte Quelle der Störung als Störung (»ich sag immer Drittes Reich«) und ersetzt diese dann mit »Deutsches Reich«. Schegloff u. a. sprechen von »word replacement« (ebd.: 370). Im Beispiel 11 bleibt die Erzählerin dann aber doch der von ihr markierten Störung verhaftet und fährt wiederum mit »Drittes Reich« fort. In der editierten Version, die wesentlich kürzer ausfällt, ist diese Reparatur nicht mehr nachvollziehbar. In den mündlichen Konversationen können Störungen nur repariert, jedoch nicht rückgängig gemacht werden. Im Medium Schrift respektive in der Praktik des Schreibens – und Editieren ist Schreiben – kann die Störung jedoch gelöscht und ersetzt werden, ohne dass eine Reparatur zu erkennen ist. Der Satz in der editierten Version erscheint als wohlgeformter, kohärenter Satz ohne Unterbrechung und ohne Korrektur, jedoch verschwindet damit die Dynamik des Erzählens im Vollzug – eine Dynamik, die Ausdruck von Lebendigkeit und Aktivität sein kann.
4.4
Verschieben: Lebensbilanzierungen
So wie die Therapeut_innen beim Editieren in die Erzählung eingreifen, haben sie das auch bereits in der Interviewführung getan. Mit ihrer Präsenz und durch das Stellen der Fragen konstruierten sie das Gespräch mit. Sie gaben Erzählthemen vor, stellten Verständnisfragen und forderten zu Vertiefungen, aber auch zu Themenwechseln auf. In ihrer Funktion als interviewende Gesprächspart-
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Transformieren: Damit etwas bleibt, wenn man geht
ner_innen und Ko-Erzählende haben sie entsprechend den Erzählplot mitgeformt. Eingriffe in diesen Plot finden sich sodann auch nach dem Editieren. In den von mir analysierten Erzählungen sind diese Eingriffe minimal, dennoch möchte ich zwei Beispiele aufgreifen, die das Verschieben von Erzähleinheiten veranschaulichen, nämlich das Verschieben lebensbilanzierender Äußerungen. Dass bilanzierende Aussagen in der generativen Erzählung auftauchen, überrascht nicht, beinhaltet doch der leitende Fragenkatalog Themen, die auf eine Lebensbilanzierung hinsteuern.67 Mit Blick auf die Transkriptionen meines Datenmaterials ist zu erkennen, dass lebensbilanzierende Aussagen entweder im Verlauf der Erzählung oder aber an deren Ende geäußert werden. Bilanzierungen zu Beginn der Erzählung finden sich nicht. Beispiel 12 Alles was ich wollte, das habe ich auch gemacht. Das war schon immer so. Eigentlich habe ich das Leben von Zweien, Dreien gehabt. Das ist ganz, ganz schön. Ich habe nicht das Gefühl irgendetwas verpasst zu haben. (TK)
Diese retrospektive Bilanzierung bzw. Deutung des gelebten Lebens findet sich in der Transkription des WzT-Interviews TK wenige Zeilen vor dem Abschluss des transkribierten Gesprächs, gefolgt von einem Dialog, der sich über ca. 20 Zeilen erstreckt und in kurzer wechselseitiger Rede die geäußerte Bilanzierung nochmals auffächert. Es ist eine positive Bilanzierung, die das Leben als gefüllt und erfüllt, geprägt von Autonomie und Selbstinitiative, beschreibt – ohne Wehmut und nichts bereuend. In der editierten Version finden sich diese Zeilen nun nicht mehr gegen Ende der Erzählung, sondern ganz zu Beginn als eröffnende Erzähleinheit. Textanfänge sind von besonderer Bedeutung. Sie steuern die Lektüren und prägen sich in die Erinnerung ein. Meir Sternberg hat diese Wirkung unter dem Begriff »primacy effect« (Sternberg 1978: 93) in die Erzählforschung eingeführt. Auch Neumann und Nünning betonen die Wirkung von Textanfängen: »According to the cognitive phenomenon of the primacy effect, the interpretation of textual information is typically guided by the impression conveyed at the beginning of the story.« (Neumann/Nünning 2011: 158) Mit der Verschiebung der positiven Bilanzierung an den Anfang der generativen Erzählung wird den Lesenden bereits zu Beginn der Lektüre offenbart, wie die Erzählenden ihr Leben deuten. In Beispiel 12 ist es eine positive Deutung, die in dieser Form die lesenden Angehörigen beruhigen kann, bevor sie in die weitere Erzählung einsteigen. Eine solche Deutung kann sodann, wie bei/von Sternberg und Neumann/Nünning 67 Im Fragenkatalog nach Chochinov finden sich u. a. die Frage nach den wichtigsten Leistungen im Leben und die Frage nach Lektionen, die einen das Leben gelehrt hat (vgl. Chochinov 2017: 103).
Editieren: Ermächtigung und Entmächtigung
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erläutert, die Interpretation des Folgenden steuern und vielleicht auch schwere Erzählinhalte ins Licht der Anfangssätze stellen. Lebensbilanzierungen werden aber nicht nur an den Beginn, sondern, wie das Beispiel 13 zeigt, auch an das Ende verschoben. Beispiel 13 Ich sage mir: ›Mein Leben wird am Ende noch rund.‹ Das ganze Chaos nach dem Tod meines Mannes, da habe ich gar nicht gewusst was ich zuerst denken soll. Ich konnte nicht schlafen. Und jetzt habe ich das Gefühl, ich komme langsam zur Ruhe. Mein Sohn ist jetzt da und ich kann mich auf ihn verlassen, auf jeden Fall. Und das ist jetzt so ein schönes Gefühl. (TK)
Die Zeilen wurden von der Patientin im letzten Drittel – gemäß Transkript – geäußert. Danach folgten Erzähleinheiten über die Krankheit, über Wünsche und Dankbarkeit. In der editierten Version bilden diese Zeilen den Abschluss der Erzählung und ersetzen den oben erwähnten 20-zeiligen Dialog. In den im Beispiel genannten Zeilen wird das Leben nicht nur retrospektiv bilanziert, sondern gegenwartsbezogen und prospektiv. Da ist ein »Gefühl«, dass alles gut wird – auch das, was noch in der Zukunft liegt. So wie Textanfängen eine besondere Wirkung attestiert wird, verhält es sich auch mit dem Ende. Und dieser Wirkung ist sich auch Chochinov bewusst, so widmet er dem »Finding a Suitable Ending« (Chochinov 2012: 113) als einem Schritt im Editierprozess ein ganzes Unterkapitel. Darin hält er fest: Just because the final thing someone happened so say at the end of their session was that they needed a bathroom in no way commits the Dignity Therapy editor to use this as the closing statement of the manuscript. Given the importance of this document, to do so would be an affront to the process of Dignity Therapy and certainly not in keeping with the therapeutic commitment to make this document the very best that it can be. (Chochinov 2012: 113)
Um das Ziel »to make this document the very best that it can be« (Chochinov 2012: 113) zu erreichen, braucht es, so Chochinov, auch einen passenden und gelungenen Schluss. Mit seinen Worten motiviert er Therapeut_innen letztlich auch zu einer wertenden und normativen Haltung.
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Transformieren: Damit etwas bleibt, wenn man geht
4.5
Vom Gespräch zur Erzählung zum Gespräch: Paratexte als Kompromiss Interview mit […]68
Die obige Beschreibung, die auf dem Titelblatt mehrerer von mir analysierter editierter Erzählungen erscheint, verweist als Paratext auf den Herstellungsprozess der Erzählung und fungiert dabei auch als Gattungsbezeichnung. Im Editieren werden die Erzählungen mit diesem »Beiwerk« (Genette 1989), wie es bei Genette heißt, ergänzt. Dazu gehören jedoch nicht nur Gattungsbezeichnungen, sondern auch Titel, Autor_in, Widmung und Nachtrag. Was dieses »Beiwerk« leistet, was es anbietet und wie es mit den bisher dargestellten Formierungsstrategien in Verbindung steht, erörtere ich im Folgenden. Die analysierten Dokumente stammen von drei verschiedenen Palliativstationen und von vier verschiedenen Therapeut_innen. Jeder Standort und jeder/ jede Therapeut_in wählt eine eigene Art der Paratexte, die auch je nach Standort mehr oder weniger individuell, d. h. von Patient_innen selbst, gewählt werden. Die generativen Erzählungen aus meinem Datenmaterial sind – bis auf eine – jeweils mit einem Titel versehen. Eine dieser Erzählungen verfügt über kein Titelblatt, sondern erinnert mit den ersten Worten »Lieber [Name]« an das Briefgenre. Während die Erzählungen des einen Standortes mit »Aus meinem Leben« (EG–EK) standardisiert betitelt sind, finden sich in den anderen Erzählungen Titel wie »Mein Weg zur inneren Ruhe« (EA), »Erinnerungen an eine schöne Zeit« (EF) oder »Schön war’s!« (EB). Der standardisierte Titel erscheint als wertfreie Bezeichnung, die mit »mein Leben« die autobiografische Komponente der Erzählung hervorhebt. Gerade weil es sich um einen standardisierten Titel handelt, überrascht diese Wertneutralität nicht. Die anderen Titel hingegen akzentuieren Positivität; es geht um eine erreichte »innere Ruhe« und um Schönes. Die letzten Titel verweisen zudem explizit auf eine vergangene Zeit (»Erinnerungen« und »war’s«). Titel können als Vorgeschmack auf die Erzählung assoziativ wirken und Lesenden einen ersten möglichen Hinweis darauf geben, was die Lektüre beinhaltet. Auch Gattungsbezeichnungen, und damit rückt der zweite Aspekt der Paratexte in den Fokus, können Lesende und deren Erwartungen steuern. In meinem Datenmaterial findet sich eine Gruppe von Dokumenten ohne Gattungsbezeichnung und eine Gruppe mit der Bezeichnung »Interview mit« (EF–EK) oder »Gespräch mit« (EE). Ein genauerer Blick auf diese Bezeichnungen lohnt sich, wird dadurch doch eine Brücke zurück zur (un)sichtbaren Ko-Konstruktion geschlagen. Mit Verweis auf Chochinov und sein Zitat »this helps reduce the 68 Paratext in EF–EK.
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likelihood that the transcript will read like a conversation rather than prose« (Chochinov 2012: 109) habe ich zuvor eine Formierungsstrategie dargestellt, die dieses Ziel anstrebt: die Reduktion respektive Inklusion der Therapeut_innenstimme. Wie bereits erläutert, ist in einigen editierten Dokumenten der Dialogcharakter durch das Streichen der Fragen für die Lesenden nicht mehr erkennbar, wohingegen in anderen Dokumenten einige der Fragen als Strukturierungshilfe beibehalten wurden. Spannend ist nun die Feststellung, dass eben gerade die erste Form als »Gespräch mit« oder »Interview mit« bezeichnet wird und nicht, wie erwartet, die zweite Form, die ja im Gegensatz zur ersten Form durchaus noch als Dialog erkennbar ist. Das Gespräch, das durch Formierungsstrategien in eine monologische Erzählung transformiert wurde, bleibt also durch den Paratext dialogisch markiert. Diese Markierung in Form des Paratextes erscheint als Kompromiss, der den zukünftigen Lesenden einen Hinweis darauf bietet, dass es sich um eine dialogisch entstandene Erzählung handelt. An den Verweis auf die Gattungsbezeichnung schließt sich der Verweis auf die markierten Autor_innen an. Und dieser Verweis ist äußerst bemerkenswert. Nach »Interview mit« und »Gespräch mit« folgt nicht immer der Name der erzählenden Patient_innen, sondern es erscheinen, wie im Falle eines Standortes, der Name oder die Namen der Therapeut_innen. Deren Anteil an der Ko-Konstruktion wird damit prioritär, und zwar auf der Titelseite, hervorgehoben. In diesen Dokumenten gehen die Verweise auf die Ko-Konstruktion sogar noch weiter zurück. So wird mit der Nennung »Interview mit [Name des/der Therapeut_in]« nicht nur auf die dialogische Entstehung verwiesen, sondern mit dem darunterstehenden Hinweis »Transkription [Name der transkribierenden Person]« auch auf die mündliche Entstehung und die darauffolgende Transformation durch die transkribierende Person. Auf der Titelseite dieser Dokumente stehen also der Name des/der Therapeute_in und der Name der transkribierenden Person, jedoch nicht der Name der erzählenden Patient_innen. Dieser taucht weder auf dem Titelblatt noch an anderer Stelle auf. Mit Blick auf jene Versionen der editierten Generativitätsdokumente, bei denen nach »Interview mit« und »Gespräch mit« die Namen der Patient_innen folgen, muss die letzte Seite der Dokumente herangezogen werden. Denn auch in diesen Fällen wird die Ko-Konstruktion durch die Therapeut_innen kenntlich gemacht, jedoch an einer anderen Stelle. So steht auf der letzten Seite der Dokumente folgender oder ähnlicher Hinweis: »Dieses Interview wurde am [Datum] von [Name des/der Therapeut_in] mit [Name des/der Patient_in] auf der Palliativstation der [Name der Institution] geführt.« (EE) Die Dokumente, die durch die beibehaltene Frage-Antwort-Struktur noch an eine Ko-Konstruktion erinnern, sind weder durch einen Gattungsbegriff noch durch die Namen der involvierten Therapeut_innen gekennzeichnet, jedoch – auf der Titelseite – mit dem Namen der Patient_innen und dem Datum versehen.
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Transformieren: Damit etwas bleibt, wenn man geht
In der Würdezentrierten Therapie steht der/die erzählende Patient_in im Zentrum. Therapeut_innen unterstützen die Patient_innen dabei, etwas zu schaffen, was – um es mit den Worten Chochinovs zu sagen – »could not be done without therapeutic assistance and guidance« (Chochinov 2012: 101). Das Generativitätsdokument als Hinterlassenschaft, das gemeinsam geschaffen wird, soll dann aber eine Hinterlassenschaft der Patient_innen sein. Es geht um ihr Leben, ihre Wünsche für ihre Angehörigen. Werden Paratexte in Anlehnung an Genette als wirkmächtiges »Beiwerk« (Genette 1989) verstanden, übernehmen Wahl und Platzierung des Namens auf dem Dokument potentiell einflussnehmende Rollen. Nachdem Titel, Gattungsbezeichnung und Autor_innennamen genauer betrachtet wurden, beleuchte ich nun jenes paratextuelle Element, das eng mit der Bezeichnung »Generativitätsdokument« (Chochinov 2017: 139) verbunden ist: die Widmung. Nicht bei jedem (von mir) analysierten Dokument ist eine Widmung im Paratext zu finden. In jedem Dokument werden aber zukünftige Lesende an irgendeiner Stelle im Haupttext adressiert. Mit dem Fokus auf die Paratexte sind folgende Widmungen beispielhaft zu nennen: »Für meine Familie« (EG); »Für meine Kinder« (EH); »Für meinen Mann« (EJ); »Für [Vorname]« (EK). Die Widmungen, wiedergegeben auf der Titelseite, sind sowohl auf die »ideelle Wirklichkeit des Werks« (Genette 1989: 115) als auch »auf die stoffliche Wirklichkeit eines einzelnen Exemplars« (ebd.: 115) bezogen. Das Erzählte und die Erzählung in ihrer materiellen Form sind den entsprechenden Adressat_innen zugeeignet. Durch die Setzung der Paratexte wird die Ko-Konstruktion in der generativen Erzählung nochmals neu markiert. Während die Erzählung im Editiervorgang primär monologisiert wird, heben Gattungs- und Autor_innenbezeichnung den dialogischen Herstellungsprozess wieder hervor. Die Paratexte erfüllen somit eine kompromissbildende Funktion. Im Haupttext wird die Ko-Konstruktion unsichtbar gemacht, durch die Paratexte wird der Erzählung jedoch wieder ein dialogischer Charakter zugeschrieben. Paratexte bieten Lesarten an, schüren Erwartungen und können die Lektüre steuern. Für Genette besteht diese Wirkung »oft in einer Beeinflussung, ja sogar in einer Manipulation, die unbewusst hingenommen wird« (Genette 1989: 390). Weil Paratexten ein solches Potential zugeschrieben wird, ist eine Auseinandersetzung mit ihnen elementar.
Editieren: Ermächtigung und Entmächtigung
4.6
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Zwischenfazit: Transformation durch Editieren
Auf den vorangegangenen Seiten habe ich Formierungsstrategien auf dem Weg zum editierten Generativitätsdokument herausgearbeitet. In diesen Strategien steht der Umgang mit der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit der mündlichen Erzählsituation als dialogisch ko-konstruiertes Gestalten im Zentrum. Das »Ko« in der Erzählung verschwindet an manchen Stellen, taucht dann rudimentär wieder auf und muss an gewissen Stellen neu markiert werden. Die Ko-Konstruktion der generativen Erzählung während des WzT-Interviews wird durch das Editieren unsichtbar gemacht, jedoch durch die paratextuelle Gestaltung den zukünftigen Leser_innen nicht gänzlich verwehrt. Was jedoch verwehrt bleibt, ist die zweite Form der Ko-Konstruktion – auch im Paratext. Ich nannte die Ko-Konstruktion eine Ko-Konstruktion im doppelten Sinne, denn auch das Editieren mit seinen Formierungsstrategien ist eine Art der Ko-Konstruktion. Ziel des Editierens ist u. a. das Tilgen der ersten Ko-Konstruktion – zumindest im Haupttext –, doch genau durch diese Praktik des (scheinbaren) Tilgens, des Unsichtbarmachens, schreiben sich die editierenden Therapeut_innen erneut, diesmal in die schriftliche Erzählung, ein und konstruieren diese mit. Denn Lesende – und die Therapeut_innen sind beim Editieren auch Lesende – können dadurch zu Schreibenden werden, dass sie Schreibeinheiten (Beiträge) anderer nachträglich bearbeiten und verändern, so dass als Resultat ko-produzierte Einheiten entstehen, innerhalb derer Schreiben und Lesen hochgradig verdichtet erscheinen und Autorschaft auf neue Weise markiert werden muss sowie in einigen Fällen auch partiell unklar werden kann.« (Hausendorf u. a. 2015: 117)
Die Autorschaft in den editierten Generativitätsdokumenten wird jedoch eben gerade nicht neu markiert und so bleiben die Therapeut_innen in ihrer KoAutorrolle als Editierende im Verborgenen. Die Auseinandersetzung mit dem Editieren hat gezeigt, dass in dieser Praktik nicht nur Texte geändert, sondern auch Aspekte des würdebewahrenden Repertoires ausgehandelt werden. Wenn das Unsichtbarmachen des Ko in der Erzählung, die Anpassung an das Medium Schrift und die Transformation einer repräsentierten Konstruktion in ein Produkt ein flüssigeres Lesen möglich machen, können sie aber auch die Sichtbarkeit von Handlungsmächtigkeit, Autonomie, Lebendigkeit und Wesensart verschleiern respektive umdeuten.
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Transformieren: Damit etwas bleibt, wenn man geht
Eintritt in einen Editierraum Ich mache die Tür zu. Ich mache es in meinem Büro. Ich mache die Tür zu, weil ich dann dieses Gefühl habe, ich möchte dann in dieses Geschehen eintauchen. (Therapeutin)69
Welche Bedeutungen und Herausforderungen die Therapeut_innen dem Editieren zuschreiben, welche Intentionen70 sie damit verbinden und an welchem ausgehandelten Referenzrahmen sie diese festmachen, sind Fragen, die in den folgenden Ausführungen im Zentrum stehen. Auf der Basis von problemzentrierten Interviews mit zwei Therapeutinnen und zwei Therapeuten rekonstruiere ich, wie sie ihr editorisches Vorgehen an und mit der generativen Erzählung deuten. Während meiner Feldforschung und der Teilnahme an den WzT-Ausbildungsworkshops haben mir die vier Therapeut_innen immer wieder vermittelt, dass Editieren Raum benötigt: Freiraum, Eigenraum, ungestörten Raum. Auch wurde mir vermittelt, dass ein solcher Raum, bedingt durch die Einbettung in ein institutionelles Setting, nicht immer problemlos geschaffen werden kann. Editieren passiert eben auch »irgendwie zwischendurch. Oder auch am Abend. Einfach dann, wenn ich mal ein bisschen Luft und Raum habe« (IN), wie ein Therapeut es formuliert. Weil Raum, verstanden als metaphorischer und gebauter Raum, in den Erzählungen der Therapeut_innen wiederholt Einzug fand, erläutere ich die Erkenntnisse mit der Perspektive auf den Editierraum, in den die Therapeut_innen eintreten, in dem sie agieren und imaginieren. Der Raum interessiert dabei nicht als »Behälterraum« (Rau 2013: 61), sondern als sozial hergestellter Raum, den die Akteur_innen »(um)gestalten, (um)nutzen, mit bestimmten Bedeutungen versehen« (Hoffmann 2017: 80). Eine Therapeutin, die sich diesen Raum sehr bewusst schafft und auf das Büro als gebauten Raum eingeht, beschreibt das Eintreten in den Editierraum wie folgt: Ich mache die Tür zu. Ich mache es in meinem Büro. Ich mache die Tür zu, weil ich dann dieses Gefühl habe, ich möchte dann in dieses Geschehen eintauchen. Und ich möchte jetzt nicht, dass die Leute vorbeilaufen oder so. Zum Glück habe ich ja ein Büro alleine und kann mich sozusagen darauf einlassen. Ich habe das ganz oft am Wochenende gemacht, wo ich ganz alleine war. Also das ist ja auch nochmals so eine besondere Atmosphäre. Also hier am Samstagnachmittag und am Sonntag zu arbeiten hat
69 IO. 70 Bei der Analyse der Intentionen muss betont werden, dass es sich dabei stets um sprachliche Intentionen handelt, die in einem bestimmten Interaktionssetting – den problemzentrierten Interviews – geäußert wurden.
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nochmals eine andere Atmosphäre, als wenn den ganzen Tag die Telefone hier gehen. Also die Atmosphäre muss für mich nochmals so eine besondere sein. (IO)
Mit dem zweimaligen Verweis auf das Schließen der Türe signalisiert die Therapeutin ein Eintreten und ein Abgrenzen nach außen. Das Büro als Arbeitsraum bietet am Wochenende eine »besondere Atmosphäre«, die für das Editieren benötigt wird. Störfaktoren wie das Klingeln des Telefons werden durch die Wahl des Zeitpunktes (Wochenende) ausgegrenzt. Neben diesen »medial vermittelte[n] Störungen« (Hoffmann 2017: 86) betont die Therapeutin mit dem Verweis »[z]um Glück habe ich ja ein Büro alleine« auch die Vermeidung von Störung durch andere Mitarbeitende. Der so geschaffene Raum erinnert an Foucaults Konzept der »Heterotopie« (Foucault 1992). Heterotopien sind Räume mit spezifischen Eigenschaften und Bedingungen. Sie setzen nach Foucault »immer ein System von Öffnung und Schließungen voraus, das sie gleichzeitig isoliert und durchdringlich macht« (ebd.: 44). Nun wird das Büro jedoch erst durch den Bruch mit dem Zeitregime an Werktagen und die Verlagerung aufs Wochenende zur »Heterotopie«. Die so entstehende »Heterochronie« (ebd.: 43) ist somit Voraussetzung für die Entfaltung der »Heterotopie«71 und das Eintauchen in eine »andere Atmosphäre«. In Verbindung mit dieser Öffnung und Schließung betont Foucault rituelle Praktiken (vgl. ebd.: 44). Im Grundkurs zur WzT wurde die Bedeutsamkeit eines bewussten Anfangsrituals betont, wenn es hieß: »Beginne mit einer Tasse Tee« (Züger 2016: 112). In Anlehnung an Gernot Böhme beschreibe ich dieses Eintauchen als »Ingressionserfahrung« (Böhme 2001: 47). Böhme versteht darunter Wahrnehmungen, »bei denen man ein Etwas wahrnimmt, indem man in es hineingerät« (ebd.: 47). Die Atmosphäre, die für das Eintauchen notwendig ist, kann durch »ästhetische[] Arbeit« (Böhme 1995: 35) geschaffen werden. Diese Arbeit besteht darin, »Dinge, Umgebung, aber auch dem Menschen selbst solche Eigenschaften zu geben, die von ihnen etwas ausgehen lassen. D. h., es geht darum, durch Arbeit am Gegenstand Atmosphäre zu machen« (ebd.: 35). Der »Gegenstand« ist im vorliegenden Fall das Büro. Durch die Wahl des Wochenendes schafft die Therapeutin einen Raum, dessen Atmosphäre ihr das Eintauchen in und das Sicheinlassen auf den Text infolge der abwesenden Patient_innen und Angehörigen ermöglicht. »Ästhetische Arbeit« im Editierraum heißt in diesem Falle das Schaffen einer »Heterotopie« durch »Heterochronie«.
71 In seinem vierten Grundsatz hält Foucault fest: »Die Heterotopie erreicht ihr volles Funktionieren, wenn die Menschen mit ihrer herkömmlichen Zeit brechen« (Foucault 1992: 43).
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Transformieren: Damit etwas bleibt, wenn man geht
Agieren im Editierraum Denn wir fügen ja keine Teile hinzu, die nicht da sind, sondern wir tun das, was so ein bisschen durcheinanderkommt, ordnen. (Therapeutin) 72
Wenn die Therapeut_innen in einen Editierraum eingetreten sind, der keinesfalls immer das idealtypische ruhige Büro am Wochenende ist, sondern auch ein Raum, der unter Umständen bei anderen Verpflichtungen schnell wieder verlassen werden muss, dann beginnt das Agieren in diesem Raum, das auch ein Imaginieren ist, wie sich noch zeigen wird. Die folgenden Ausführungen bauen auf einem der editorischen Hauptziele auf: der doppelten Leserlichkeit. Das Ziel der doppelten Leserlichkeit und dessen Kollisionspotential Die Leserlichkeit zu verbessern, ist eines der Hauptziele, die von den Therapeut_innen genannt werden. In meiner Analyse habe ich dabei zwei Formen von Leserlichkeit erkannt und herausgearbeitet, die ich im Folgenden als Leserlichkeit der Erzählung und Leserlichkeit der Erzählenden benenne. Das Ziel dieser doppelten Leserlichkeit kann zu Konflikten und Kompromissen führen. Zu den Faktoren, die die Leserlichkeit der Erzählung verbessern, gehören gemäß den Therapeut_innen ein ansprechendes Layout (vgl. IN), eine an die standardisierte Grammatik angepasste Schreibweise (vgl. IL), das Streichen des eigenen Redebeitrags (vgl. IN) und eine nachvollziehbare Chronologie (vgl. IM) sowie die Vereinfachung und Selektion (vgl. IM). Unter Leserlichkeit der Erzählenden verstehe ich das Wiedererkennen des Charakters und des Wesens der Erzählenden in deren sprachlich-narrativen Äußerungen. Um diese Leserlichkeit im Editieren beizubehalten respektive zu schaffen, bedarf es gemäß einer Therapeutin Einfühlungsvermögen: Ich glaube, dass dazu eine Fähigkeit gehört, sich so einfühlen zu können, dass ich denke, so würde ich den Satz jetzt formulieren und das meine ich, wäre die Sprache, aber auch das Wesen des Patienten. So versuche ich es dann sozusagen. Und jetzt haben wir ja doch schon viele Interviews geführt und transkribiert und editiert und immer wieder auch verändert zum Dokument. Und ich hatte so das Gefühl, dass mir dieser Prozess gelingt. (IO)
Um die Lesbarkeit der Erzählenden zu schaffen, braucht es Vor- und Kontextwissen. Dieses »über die Sprache hinaus Wahrnehmbare« (Hausendorf u. a. 2015: 120) beinhaltet beim Editieren der generativen Erzählung in der WzT u. a. die Erinnerungen an das »Wesen« der Patient_innen. Solche Erinnerungen können 72 IO.
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gemäß Hausendorf und Kolleg_innen73 als »vertrautheitsabhängige Lesbarkeitshinweise«74 bezeichnet werden: Lesen ist, so die Vorstellung, nichts anderes als das selbstverständlich-routinisierte Auswerten von Lesbarkeitshinweisen, wobei Lesende nicht nur auf die schriftsprachlichen Erscheinungsformen, sondern immer auch auf das in der Lektüresituation über die Sprache hinaus Wahrnehmbare und das aus Lektürekontexten bereits Vertraute und häufig nicht Versprachlichte zurückgreifen können. Es gibt deshalb nicht nur sprachliche, sondern auch wahrnehmbare und vertrautheitsabhängige Lesbarkeitshinweise. (Hausendorf u. a. 2015: 120f.)
Da die editierenden Therapeut_innen die »Lesbarkeitshinweise« aber nicht (nur) aus ihrer Perspektive erkennen und deuten müssen, sondern die Erzählung so editieren wollen, dass die zukünftigen Lesenden Leserlichkeit erfahren können, gelten diese »vertrautheitsabhängige[n] Lesbarkeitshinweise« nicht nur retrospektiv, sondern auch prospektiv. Die Therapeut_innen sind dabei eben nicht nur Lesende, die »Lesbarkeitshinweise« aus früheren Patient_innenkontakten rekonstruieren, sondern auch Ko-Autoren, die als editierende Schreibende die »Lesbarkeitshinweise« für zukünftige Lesende prüfen. Wie bereits angedeutet, können die zwei Modi der Leserlichkeit – die grammatikalische/stilistische Wohlgeformtheit auf der einen und der angestrebte Wiedererkennungsfaktor auf der anderen Seite – kollidieren. Hierzu ein Zitat eines Therapeuten, der sein Vorgehen beim Editieren schildert: Als Erstes reduziere ich immer erst meinen Anteil. Und dann bringe ich es schon einmal in einen Fließtext. So dass es auch leserlich wird. Ich passe aber auch immer auf, dass ich wenig vom Patienten verändere. So dass die Sprache bleibt. Manchmal mache ich dann schon Änderungen. Aber das ist dann auch immer schwierig. Letzte Woche machte ich eine solche Erfahrung. Da war die Frau des verstorbenen Patienten da, um das Dokument zu besprechen. Sie sagte dann: ›Hier sind ja so viele grammatikalische Fehler drin. Das kann man doch so nicht sagen. So kann man das so doch nicht schreiben.‹ Ich habe ihr dann nochmals erklärt, dass es schon wichtig ist, dass man ihren Mann in der Sprache wiedererkennt. Klar, man spricht grammatikalisch ja nicht fehlerfrei. Und ich habe dann ja wieder meinen eigenen Stil. Aber das ist ja nicht mein Interview. (IN)
Das Zitat bringt pointiert zum Ausdruck, welche Erwartungen und Intentionen beim und vor allem durch den Akt des Editierens kollidieren können. Der Therapeut erwähnt hier zwei Strategien, um die Leserlichkeit der Erzählung zu verbessern: die Reduktion des Eigenanteils und die Formierung zum Fließtext. 73 Hausendorf und Kolleg_innen gehen in ihrer Untersuchung »Ko-Konstruktion in der Schrift?« auf die »Unterscheidung von face-to-face-Interaktion und Textkommunikation am Beispiel des Editierens fremder Beiträge in einem Online-Lernforum« (Hausendorf u. a. 2015) ein. 74 Während Hausendorf u. a. von »Lesbarkeit« sprechen, behalte ich die Sprache des Feldes bei und verwende den Begriff der »Leserlichkeit«. Beide Begriffe stehen »in einem Wortfeld« mit Termini wie »Erkennbarkeit oder Verständlichkeit« (König 2004: 18).
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Daneben strebt er aber auch die Leserlichkeit des Erzählers an. Dieser Anspruch kollidiert dabei mit der Erwartung der Ehefrau als adressierte Leserin75: »Hier sind ja so viele grammatikalische Fehler drin. Das kann man doch so nicht sagen. So kann man das so doch nicht schreiben« impliziert den Anspruch an einen grammatikalisch fehlerfreien Text. Dieser Anspruch konkurriert wiederum mit dem Anspruch des Therapeuten, »dass man ihren Mann in der Sprache wiedererkenn[en soll]«. Die kollidierenden Ansprüche können überspitzt in folgende Frage transferiert werden: Wer oder was soll lesbar gemacht werden? Die Erzählung oder der Erzähler? Trotz retrospektiver und prospektiver Bemühungen ist der Begriff der »Leserlichkeit« letztlich an Lesende gekoppelt. Erst im Vollzug des Lesens werden die »Lesbarkeitshinweise« erkannt, ausgewertet und angewendet. Dieses Erkennen, Auswerten und Anwenden ist ein subjektiver Akt und kann letztlich von den editierenden Therapeut_innen nur erahnt werden. Und so kann die zitierte Aussage des Therapeuten, »dass es schon wichtig ist, dass man ihren Mann in der Sprache wiedererkennt«, auch eine Art von scheinbarer Überlegenheit vermitteln. Sind die Empfänger_innen der generativen Erzählung nicht auch in der Lage, den Erzähler wiederzuerkennen, wenn der Text in wohlgeformter, geglätteter Weise erscheint und eben gerade nicht die der Mündlichkeit geschuldete grammatikalische Inkorrektheit wiedergibt? Wer wen wie und wodurch wiedererkennt, ist eine Frage, die zu Herausforderungen führen kann. So berichtet ein anderer Therapeut: »Also das ist ja schon auch eine Herausforderung. Wie viel vertraut man auch darin, dass die Lesenden das schon richtig verstehen. Und wo braucht es dieses Eingreifen.« (IM) Editieren bedeutet also auch ein Abwägen von Vertrauen in zukünftige Lesende. Nun werden, wie bereits erwähnt, nicht nur die Patient_innen und Angehörigen zu Lesenden, sondern auch die Therapeut_innen selbst. Manchmal erweitert sich der Kreis der Lesenden sogar noch um eine(n) zweite(n) Therapeut_in. Im nächsten Beispiel ließ ein noch etwas unerfahrener Therapeut das Dokument von einer erfahrenen Therapeutin prüfen. Er erzählt: Es war dann so, dass sie [die Psychologin] noch einen Änderungswunsch hatte, weil da so eine gewisse Formulierung war. Das ist dann auch lustig, weil das ja sehr in der Wahrnehmung liegt. Ich glaube, es war, dass die Patientin gesagt hatte: ›Ja, die [die Ärzte] sind ja manchmal ganz blöd.‹ Also ihr Mann war ja Arzt und ihr Sohn ist auch Arzt. Und ich habe das so gehört und sie hat das so erzählt so nach dem Motto: ›Na ja, dem musste man immer alles zeigen, weil der ja beruflich gut ist, aber so für das normale Leben nicht alltagstauglich ist.‹ Das ist so das, was sie meinte, und ich konnte das total gut nachvollziehen, weil ich dann so gedacht habe, das passt total zu ihr. Und dann hat
75 Im vorliegenden Fall wurde das Dokument mit der Ehefrau besprochen, weil der Ehemann vor der Finalisierung verstorben war.
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[meine Kollegin] dann gesagt: ›Na, da müssen wir nochmals darüber sprechen, weil ihr Sohn ist ja auch Arzt und das könnte ja irgendwie was mit dem machen.‹ Und wir haben das dann etwas entschärft. Sie hat das dann auch mit ihr besprochen und sie war dann auch einverstanden. Aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, weil ich gedacht habe, das ist so sehr die Frau. Und ich hätte ja eigentlich angenommen, dass er ja eigentlich seine Mutter kennt, dass es für ihn auch o. k. ist. Aber so ist das eben, dass man dann nochmals guckt. Also mir … Ich hätte das einfach so stehen lassen. (IM)
Dieses Zitat spiegelt die Herausforderung wider, wenn editierende Therapeut_innen »Lesbarkeitshinweise« (Hausendorf u. a. 2015: 121) unterschiedlich deuten respektive eine unterschiedliche Deutung erwarten. Sowohl der fallführende Therapeut als auch die supervidierende Therapeutin kannten die Patientin und den adressierten Sohn. Die Vorstellung, wie der Sohn die »Lesbarkeitshinweise« deuten würde, fiel jedoch unterschiedlich aus. Während der Therapeut darauf vertraute, dass der Sohn die Worte der Mutter schon richtig einschätzen werde, sah die Therapeutin in der Formulierung ein gewisses Verletzungspotential. Diese Angst führte sodann, in Absprache mit der Patientin, zu einer »Entschärfung« der Stelle. Monologisch oder dialogisch: zwei Varianten des Editierens Während die einen Therapeut_innen das Streichen des eigenen Redebeitrags und die daraus folgenden editorischen Eingriffe als Mittel zur verbesserten Leserlichkeit der Erzählung einsetzen, behalten andere Therapeut_innen diesen Gesprächscharakter bewusst bei. Ein Therapeut schildert das Streichen seines Redebeitrags folgendermaßen: »Aber als Erstes streiche ich immer alle meine Fragen raus, weil es leichter ist, wenn man das wegnimmt, was standardisiert ist und was der Patient nicht selber gemacht hat.« (IM,) Auf mein Nachfragen nach der Bedeutung von »leichter machen« verdeutlicht er seine Aussage mit »leserlich machen« (IM). Der Therapeut nennt hier das Streichen als editorischen Eingriff, spezifiziert das zu Streichende als »standardisiert« und als das, »was der Patient nicht selber gemacht hat«, und begründet diesen Akt mit »leserlich machen«. Die sichtbare Ko-Konstruktion – um die Begrifflichkeit des vorangegangenen Kapitels aufzunehmen – hat also, gemäß dem Therapeuten, Einfluss auf die Leserlichkeit. Ob der Therapeut sich dabei auf eine Vereinfachung (»leichter machen«), bedingt durch optische Veränderung der Texterscheinung, bezieht, wobei die markierten Redebeiträge des Therapeuten für das Auge nicht mehr sichtbar sind, oder ob er an eine inhaltliche »Erleichterung« denkt, kann nicht weiter eruiert werden. Überhaupt ist eine solche Trennung bei Lesenden kaum zu erwarten, denn der »Leser rezipiert den Textinhalt und seine visuelle Repräsentanz gleichermaßen« (Jong 2015: 15). Die Ausführungen des Therapeuten machen jedoch deutlich, dass Leserlichkeit mit einer gewissen Art von Selektion und
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Vereinfachung in Verbindung steht. »Leserlich« ist das, was alle nicht wesentlichen Informationen exkludiert und den Lesevorgang erleichtert. Da die Patient_innen in der WzT im Zentrum stehen, soll nur das für die zukünftigen Rezipient_innen zugänglich bleiben, was auch von den Patient_innen produziert wurde. Im Gegensatz zur Transformation in eine monologische Erzählung strebt ein anderer Therapeut gerade das Aufrechterhalten – wenn auch nur in Ansätzen – des Dialogs an: »Also ich mache es dann so, dass ich bestimmte Zwischenfragen von mir stehen lasse.« (IN) Er begründet diese Strategie mit »die Zwischenfragen machen den Text so lebendig und konstruieren ein Gespräch und zeigen: ›Da war jemand, der hat sich für mich interessiert‹« (IN). Die Zwischenfragen, die einen Sprecherwechsel und Dialogizität repräsentieren, werden hier als stilistische Varianz eingesetzt, um Dynamik und Lebendigkeit zu erzeugen.76 Daneben soll diese Dialogizität auch eine(n) interessierte(n) Gesprächspartner_in repräsentieren (vgl. IN). Dieser Gedanke zielt auf die Vermittlung, dass hinter dem Text respektive vor der Verschriftlichung eine Begegnung stattfand, geprägt von Zuwendung und Interesse. Die bewusst beibehaltenen Zwischenfragen sollen den zukünftigen Rezipient_innen suggerieren, dass hier jemand Anteil am Leben und am Erzählen des/der Patient_in genommen hat. Während also auf der einen Seite die Ko-Konstruktion unsichtbar gemacht werden soll, um die Patient_innenstimme in den Mittelpunkt zu stellen, argumentieren andere gerade für die sichtbare Ko-Konstruktion als Ausdruck von Lebendigkeit und Wertschätzung. Der Umgang mit dem dialogischen Herstellungsprozess der Erzählung und die Frage nach dessen Sichtbarmachung spiegeln sich auch in der Setzung der Paratexte wider. Aber wir hatten es ja dann ›Ein Gespräch mit‹ genannt. Da auf der Titelseite. […] Denn wir dachten dann auch: ›Es ist ja eigentlich nicht mehr als ein Gespräch.‹ Also es ist ja nicht ein Buch, sondern ein Gespräch über mehrere Tage. Aber trotzdem sollte es so wie ein Gespräch sein. (IN)
In dieser Aussage übernimmt Dialogisierung respektive der auf einen Dialog hinweisende Paratext neben dem Ausdruck von Lebendigkeit und Wertschätzung zwei weitere Funktionen: die Benennung der manifestierten Erzählung und die damit verbundene Benennung des zugrunde liegenden Entstehungsprozesses (ein Gespräch) sowie eine Abgrenzung respektive Gewichtung dieser Bezeichnung. In der Formulierung »eigentlich nicht mehr als ein Gespräch« und in der folgenden Abgrenzung zum Buch schwingt eine Wertung mit, die Leseerwar76 Gemäß Sandig kann das Dialogisieren Muster erzeugen, »um monologische komplexe Handlungen ›lebendig‹, ›interessant‹, evtl. auch ›emotional‹ oder ›leicht lesbar‹ zu machen« (Sandig 2006: 212).
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tungen mitformen kann. Es ist eben »nur« ein Gespräch und nicht ein perfekt formulierter Text in Buchform. Technisches Vorgehen: Editieren mit einer Textverarbeitungssoftware Die von mir interviewten Therapeut_innen editieren die Transkriptionen der generativen Erzählung mit der Textverarbeitungssoftware Microsoft Word. Die Software bietet u. a. die Möglichkeit, Textveränderungen sichtbar nachzuverfolgen. Eine Therapeutin hat explizit auf diese Möglichkeit hingewiesen und dabei gegen die Anwendung dieser Funktion argumentiert: Warum? Weil ich dann den Text vor lauter Änderungen nicht mehr sehe. […] Außerdem brauche ich das gute Gefühl, dass die Seiten weniger werden. Also erst erschlagen mich 40 Seiten Transkript und wenn ich dann anfange zu löschen, werden es auf einmal 38, 37, 36 und das motiviert ein bisschen durchzuhalten, dass man noch so viel Text vor sich hat. Und wenn ich das im Änderungsmodus mache, dann wird es ja immer mehr. Und so gucke ich ganz gerne: Oh, du bist schon auf Seite 35 von 36; du hast es also gleich geschafft. Das hilft mir auch. (lachen) (IL)
Die Arbeit im Änderungsmodus macht das Editieren im Vollzug zu einer sichtbaren, rekonstruierbaren Praxis, die sich im Textdokument durch farbliche Hervorhebung manifestiert. Jeremy Birnholtz und Steven Ibara sprechen in ihrem Aufsatz »Tracking Changes in Collaborative Writing: Edits, Visibility and Group Maintenance« von »visible actions« (Birnholtz/Ibara 2012: 810). Der Änderungsmodus macht die Ko-Konstruktion des Textes nachvollziehbar. Textveränderung, die als diachrone Tätigkeit funktioniert, wird durch den Änderungsmodus synchron sichtbar. Diese Sichtbarkeit schafft Transparenz, als Folge der Synchronizität führt sie jedoch zu einer Vergrößerung der Textmasse und zur schieren Unsichtbarkeit des eigentlichen Haupttextes. Und weil es gerade die Reduktion des noch zu editierenden Textes ist, die motivierend wirkt, arbeitet die Therapeutin nicht im Änderungsmodus. Ordnen, Streichen und Einfügen Beim Editieren wird verschoben, gestrichen und eingefügt. Ersteres nennen die Therapeut_innen auch »Ordnen« und implizieren damit, dass es zuvor eine Unordnung respektive ein Durcheinander gab (vgl. IO). Ein anderer Therapeut spricht von »zusammenhaben« und will ein »Aufsplittern« des Erzählten vermeiden. Also ich glaube bei ihr war es so, dass ich es tatsächlich nicht chronologisch gemacht habe, sondern dass jetzt erst das eine erzählt wurde und dann das andere, weil es so viel war und ich gedacht habe, wenn man das chronologisch macht, dann splittert sich das so
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auf. Dann war sie da, dann war sie dort und warum war dies und … Das las sich irgendwie schlecht und dann habe ich es einfach so gemacht, dass man das Berufliche mit der Praxis und so zusammenhat. Und so habe ich das jetzt schon öfters gemacht. (IM)
Der hier berichtende Therapeut hat die Erzählung thematisch und nicht entlang der gelebten Zeit geordnet. In ihren Beschreibungen des Editiervorgangs sprechen die Therapeut_innen auch immer wieder von »Einfügen« und »Streichen«. Mit folgender Perspektive einer Therapeutin möchte ich mich diesen Texteingriffen nähern: Also bei den meisten Streichungen und Einfügungen, die wirklich nur die Satzstruktur wiederherstellen oder den Sinn machen, weil beim Erzählen irgendwas vergessen wurde, habe ich gar keine Hemmungen oder solche Gefühle, aber manchmal schon. Ich überlege gerade … Bei dem Transkript von heute und der editierten Version war es an einer Stelle so. Und dann habe ich aber gedacht: Nee, es ist an dieser Stelle wirklich redundant und es klingt bescheuert. Wir haben ihr zugehört und dann hat sie ein paar Mal gesagt: ›Das ist ganz wichtig, das ist wirklich so wichtig!‹ Und das war ja im Transkript auch noch unterstrichen und so weiter, und dann habe ich gedacht, wenn man es nur liest, sieht es ganz komisch aus. Also im Erzählen war das ganz klar, aber da habe ich es dann gelöscht. (IL)
Der Anfang des Zitats eröffnet eine ambivalente Haltung gegenüber Streichungen und Einfügungen. Die Therapeutin spricht von Textveränderungen, die ihr leichtfallen, weist mit dem Nachsatz »aber manchmal schon« jedoch darauf hin, dass es Arten des Streichens und Einfügens gibt, die in ihr eine gewisse Gefühlsregung hervorrufen. Bei Eingriffen, die – bedingt durch einfaches Vergessen auf Seiten der Erzählenden – Satzstruktur herstellen oder »Sinn machen«, verspürt sie »keine Hemmungen«. Herausforderungen beim Streichen und Ergänzen erläutert die Therapeutin mit dem anschließenden Beispiel. Dabei wird insbesondere die Diskrepanz von Zuhören und Lesen zum Thema und damit verbunden die Transformation vom mündlichen Erzählen zur schriftlichen Erzählung. Die Redundanz von »wichtig«, die in der mündlichen Erzählung als »klar« wahrgenommen wird, erscheint in der schriftlichen Erzählung als »komisch«. Die Wiederholung des Wortes »wichtig« wird nicht mehr durch Mimik und Gestik verkörpert sowie durch die Stimme der Erzählenden hörbar, sondern als »entkörpertes« Wort auf einem Blatt Papier sichtbar. Sichtbare Redundanzen scheinen zu stören, gerade deshalb, weil sie im vorliegenden Fall nicht das vermitteln, was gesprochene redundante Wörter evozieren, und deshalb »komisch aussehen«.
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Lesen und Lesende imaginieren Die Therapeut_innen in der WzT sind Ko-Autor_innen und Rezipient_innen zugleich. In diesem Wechselspiel lassen sie den Text auf sich wirken, erinnern sich an die vorangegangene Erzählsituation in den WzT-Sitzungen und versuchen so zu editieren, dass die erzählenden Patient_innen im Text wiedererkannt werden. Diese Tätigkeit wird durch ein stetiges Wiederlesen begleitet. So berichtet ein Therapeut: »Aber es hilft dann, wenn man es hinterher nochmals liest und dann überlegt, ob das so klingt, wie wenn die das so erzählt hat.« (IM) Im Lesen rezipieren die editierenden Therapeut_innen einen Text, der von ihnen mitgeformt wurde und wird. Im Lesen imaginieren sie aber auch andere, zukünftige Lesende. Editieren orientiert sich eben nicht nur retrospektiv an den vorangegangenen WzT-Sitzungen, sondern auch prospektiv an den lesenden Angehörigen. So berichtet ein Therapeut: »Mir ist beim Editieren immer wichtig, dass ich mir dann vorstelle, wenn man das dann liest, ob man die Person dann wiedererkennt. Auch in der Sprache und wie das so gesagt wird.« (IM) Bedingt durch diese und andere bereits besprochenen Faktoren kommt es zu Änderungen am Text, die teilweise auch explizit mit den Patient_innen besprochen werden möchten. Hierfür hinterlassen die Therapeut_innen bewusst Editier- und Lesespuren: »Ich markiere dann gewisse Dinge gelb im Word und bespreche die dann mit den Patienten.« (IN) Mit der Gelbmarkierung arbeitet auch folgende Therapeutin. Sie beschreibt dieses Vorgehen anhand eines konkreten Beispiels: »Und zum Beispiel hat sie [die Patientin] gesagt: ›Jeder muss auf das Kind aufpassen als Erwachsene.‹ Und ich habe das Wort ›innere‹ eingefügt und habe es mir aber gelb markiert, weil ich sie das noch rückfragen wollte.« (IL) Vor eigenem sprunghaftem Erzählen bewahren Bis anhin stand prioritär die doppelte Leserlichkeit als Hauptziel des Editierens im Zentrum, wobei auch Berührung und Bewahrung als Ziele genannt wurden. Letzteres soll eine Konfrontation mit dem eigenen sprunghaften und unzulänglichen Erzählen verhindern. Mit diesem Ziel haben die Therapeut_innen den nächsten Schritt des Therapieprozederes im Blick: die Situation des Vorlesens, in der die Patient_innen selbst zu Rezipierenden ihrer Erzählung werden: Also ich glaube, wenn wir das wortwörtlich vorlesen würden, wenn wir das nicht tun würden, würden sicherlich viele Patienten nicht so berührt werden, weil wir Patienten haben oder hatten, die aufgrund ihrer Schwere der Erkrankung gar nicht in der Lage waren, einen Gedankengang stringent zu äußern. Und wenn wir das so genau übernehmen würden, würde der Mensch, der Patient vielleicht manchmal auch erschrecken über das Sprunghafte – und sicherlich nicht, weil er nicht in der Lage wäre, aber die Erkrankung ermöglicht es ihm nicht. Und das, was die Erkrankung ihm nicht ermög-
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licht, was er aber gerne machen würde, da helfen wir ein Stück weit, indem wir sozusagen, ja, seinen eigenen roten Faden so ein bisschen als Ganzes zusammenlegen. (IO)
Gemäß der hier zitierten Therapeutin kann das Verändern der Erzählung dazu führen, dass die Patient_innen stärker berührt werden als ohne editorischen Eingriff. Die Therapeutin setzt diesen möglichen Effekt in Verbindung mit der Praktik des Vorlesens und hebt damit die Patient_innen als Rezipierende ihrer eigenen Erzählung hervor. Editiert wird also nicht nur für die lesenden Angehörigen, sondern auch für die hörenden Patient_innen. Weshalb es zu einer stärkeren Berührung kommen kann, begründet sie mit den Worten »weil wir Patienten haben oder hatten, die aufgrund ihrer Schwere der Erkrankung gar nicht in der Lage waren, einen Gedankengang stringent zu äußern«. Ein »wortwörtlich[es] [V]orlesen« könnte also ein Vorlesen eines nicht stringenten Gedankengangs beinhalten und Editieren hieße demnach, den nicht stringenten Gedankengang in einen stringenten zu verändern. Wie sich der mögliche Effekt des Berührens genau verhält, bleibt unklar, gewinnt aber an Kontur, wenn eine weitere im Zitat thematisierte Intention herangezogen wird: das Bewahren vor dem Erschrecken über das »Sprunghafte«. Indem dieses »Sprunghafte« durch die editierende Therapeutin geordnet wird, soll den Patient_innen die Begegnung – in Form des Zuhörens – mit der eigenen unzulänglichen Erzählung erspart bleiben. Dieses Ersparen hängt dann wiederum mit einem krankheitsbedingten sprunghaften Erzählen zusammen und auch mit dem Wunsch, eigentlich eben nicht so sprunghaft zu erzählen. Treten also krankheitsbedingte Erzählmuster auf, die die erzählenden Patient_innen nicht so äußern wollten, übernimmt diese editierende Therapeutin die Aufgabe, den »eigenen roten Faden so ein bisschen als Ganzes zusammen[zu]legen«. Wie »normales« sprunghaftes Erzählen von einem krankheitsbedingten sprunghaften Erzählen unterschieden wird, thematisieren die Therapeut_innen an dieser Stelle jedoch nicht. Während meiner Feldaufenthalte hat mir diese Therapeutin allerdings erklärt, dass es für sie einfacher sei, die Erzählung zu editieren, wenn sie die Patient_innen schon über längere Zeit betreue. Dann könne sie besser erkennen, wie sich die Erzählweise durch den Krankheitsverlauf entwickelt habe. Eigener ästhetischer Anspruch Editieren ist Textarbeit. Die interviewten Therapeut_innen sind es gewohnt, mit Texten zu arbeiten. Sie schreiben Berichte, arbeiten teilweise in der Forschung und verfassen Artikel; kurz gesagt: Es sind Menschen, die einen gewissen Sinn für einen wohlgeformten Schreibstil haben. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass beim Editieren als Arbeit am Text auch ein eigener ästhetischer Anspruch mitschwingt:
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Also ich meine zumindest, dass wir doch sehr nahe dranbleiben und manchmal auch kurze Sätze und Wortwiederholungen haben – auch wenn man manchmal so dazu tendiert, vom Ästhetischen her zu sagen: ›Es ist jetzt dreimal die Wortwiederholung, ich nehme es jetzt raus‹ – auch dann würde ich das immer fragen. (Io)
Der ästhetische Anspruch an einen Text und die damit verbundenen Vorstellungen von einem »guten« Stil können die editorische Arbeit beeinflussen. Die hier zitierte Therapeutin verweist konkret auf kurze Sätze und Wortwiederholungen und macht mit den anschließenden Ausführungen deutlich, dass solche Erscheinungen in ihr das Bestreben einer stilistischen Veränderung aktivieren. Diese »Tendenz« beschreibt sie jedoch nicht direkt als Herausforderung, sondern nutzt die Darlegungen, um zu versichern, dass auch solch kleine Veränderungen stets mit den Patient_innen besprochen werden. Der doppelte Druck der Zeitökonomie Editieren ist eine anstrengende, zeitintensive und planerisch herausfordernde Praktik. Dabei ist diese zwei Zeitregimen untergeordnet, mit denen die involvierten Akteur_innen umgehen müssen: das institutionelle Zeitregime und das Zeitregime des Lebens und Sterbens. Die Arbeit in der WzT und somit auch das Editieren sind eingebunden in eine Institution und den damit verbundenen Arbeitsauftrag der verantwortlichen Therapeut_innen. Wie viel Zeit in das Editieren investiert wird, hängt von unterschiedlichen Faktoren ab. Im Aufbaukurs zur Würdezentrierten Therapie wurden vier Stunden als Richtwert vermittelt (vgl. FT2). Ein von mir interviewter Therapeut erklärt: »[A]lso unter drei Stunden schaffe ich das nie.« (IN) Diesem Therapeuten steht keine spezifisch deklarierte Anzahl von Stunden für die WzT zur Verfügung: »Ich mache das alles irgendwie zwischendurch. Oder auch am Abend. Einfach dann, wenn ich mal ein bisschen Luft und Raum habe.« (IN) Diese Ausgangslage trifft auf die Tatsache, dass es sich bei den Patient_innen um unheilbar erkrankte Menschen handelt, deren baldiger Tod absehbar ist. Die generative Erzählung muss jeweils so schnell editiert werden, dass auch noch Zeit für das Vorlesen, für mögliche weitere Änderungswünsche, für den Druck und für die Übergabe bleibt. Die zeitintensive Arbeit und das herrschende Zeitregime schaffen Diskrepanzen, die es auszuhalten, aber auch auszuhandeln gilt.
148 4.9
Transformieren: Damit etwas bleibt, wenn man geht
Wo bleibt das Austreten aus dem Editierraum?
Während der Eintritt in einen »Editierraum« von den interviewten Therapeut_innen beschrieben wurde, haben sie ein (rituelles) Austreten respektive Abschließen des Editierens nicht thematisiert. Diese Beobachtung erinnert an den Kapitelaufbau in Chochinovs Handbuch. Das Kapitel »Editing the verbatim transcript« (Chochinov 2012: 107) beschließt er mit dem Unterkapitel »The Patient Has the Final Say« (ebd.: 114). Editieren endet eben nicht mit der editorischen Tätigkeit am Computer, sondern erstreckt sich bis hin zum Vorlesen und zu den anschließenden Besprechungen mit den Patient_innen, die durchaus zu einem zweiten und dritten Editierakt führen können (vgl. Kapitel IV.5). Wie ein solch weiterführendes Editieren ausgehandelt werden kann, zeigt das folgende Zitat einer Therapeutin. Damit wird deutlich, dass die Praktik des Editierens und die damit verbundene Rück- und Absprache mit den Patient_innen nicht nur eine Art der Vermittlung zwischen erzählenden Patient_innen und lesenden Angehörigen sind, sondern auch ein Aushandeln der eigenen Verwundbarkeit als Therapeut_in. Soll ich dir nochmals die andere Geschichte erzählen, von dem Mann, der seinem Sohn sagen wollte, dass er schuld ist an der Trennung der Eltern. Also dass er sagte: ›Das muss jetzt mal gesagt werden, das gehört hier rein.‹ Und wo ich dann sagte: ›Nein, das geht nicht.‹ Und ich bin dann zu ihm hin und dann hat er gesagt: ›Sie nehmen mir die Schärfe aus dem Dokument.‹ Und hat noch so verschmitzt gelacht. Und dann habe ich ihn ja gefragt, was denn bleiben soll. Dann hat er ja formuliert: ›Bei aller Wehmut bleibt die Liebe.‹ Und das war auch der letzte Satz im Prinzip. Und er hat es dann als Frage formuliert. Also er hat es irgendwie als Frage formuliert. Er frage sich, wie diese Dreierbeziehung in Beziehung stehe und was da wie … und wie das eine zum anderen geführt hat. Und dann denke ich, das ist eine legitime Frage, weil die hatten keinen Kontakt mehr. Der Sohn war auch einmal da und hat ihm aber so nach dem Motto gesagt: ›Weißt du, wenn du hier verreckst, dann ist mir das scheißegal.‹ Also der Sohn erwartet nicht, dass da irgendwie was drinsteht von wegen ›du bist der Tollste und Beste‹. Aber dann so eine Frage zu stellen, die anregt. Dass bei aller Wehmut die Liebe bleibt. Das ist etwas Größeres. Es ging dem Patienten gut danach. Er war danach glücklich. Der hatte geweint. Der hatte … es war gut so. Ja. Es war gut so. (IL)
Mit »Nein, das geht nicht« setzt die Therapeutin klare Grenzen bezüglich dessen, was Teil der generativen Erzählung sein soll/sein darf. Die Schuldzuweisung durch den Patienten soll gemäß ihren Ansichten nicht in das Dokument einfließen. Mit der Frage nach dem, »was denn bleiben soll«, sensibilisiert sie den Erzähler für den Überdauerungscharakter seiner Worte. Den als Aussage formulierten Vorwurf gegenüber dem Sohn hat er im Gespräch mit der Therapeutin durch eine Umformulierung entschärft. Die Mechanismen der gescheiterten »Dreierbeziehung« zwischen ihm, der getrennten Ehefrau und dem Sohn, der
Editieren: Ermächtigung und Entmächtigung
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ihm – gemäß der Therapeutin – in der Tat nicht gut gesinnt war, thematisiert er nun als Frage. Die Umformulierung einer Aussage in eine Frage ist hier eine Editierstrategie, um den Inhalt zu entschärfen und abzuschwächen.77 Die Interviewsequenz zeigt, dass die Therapeutin die Gedanken/Gefühle der Lesenden berücksichtigt und Verantwortung übernimmt für das, was vom Patienten bleibt oder bleiben soll. Sie setzt Grenzen, appelliert an seine Endlichkeit und den Überdauerungscharakter seiner Worte. Dass sie aber nicht nur Verantwortung für die Angehörigen und die Patient_innen übernimmt, sondern auch für sich selbst, zeigt sich im Anschluss an die oben zitierte Stelle. Neben diesem Fremdschutz, initiiert durch den Appell an die Generativität, begründet die zitierte Therapeutin den entschärfenden Texteingriff eben auch mit Selbstschutz. Sie möchte sich nicht als Übermittlerin und Sprachrohr zermürbender Kritik und entsprechender Hassbotschaften missbrauchen lassen (vgl. IL). Mit dieser Haltung entzieht sie sich der Rollenzuschreibung eines passiven Mittels zum Zweck und argumentiert dabei mit dem Schutz ihrer »eigenen Würde« (IL).
4.10
Was sagen die Patient_innen zum Editieren?
Im ersten Teil des Kapitels IV.4 stand die in der schriftlichen generativen Erzählung manifestierte Editierpraxis im Zentrum. Darauf folgte die Analyse der Therapeut_innenperspektive. Wie jedoch deuten die Patient_innen, die in der WzT im Zentrum stehen, die Praktik des Editierens? Mit den Patient_innen über das Editieren ihrer Erzählung zu sprechen, war für mich insbesondere von zwei großen Herausforderungen geprägt: die prozessuale Einordnung des Editierens in den Therapieablauf und ein eigener Hemmfaktor, bedingt durch Unwissen und Angst vor Irritation. Die prozessuale Einordnung des Editierens legt dar, dass diese Praktik zwischen Transkribieren und Vorlesen stattfindet. Während und nach dem Vorlesen können weitere Änderungswünsche diskutiert und eingearbeitet werden. Die Konfrontation mit dem editierten Text ist für die Patient_innen aber eine Konfrontation mit dem vorgelesenen editierten Text. Der Blick auf das Editieren als singuläre Praktik in einem Gefüge ist für sie also durch das Ereignis des Vorlesens und Zuhörens geprägt. Neben dieser systembedingten Herausforderung war ich gehemmt, Patient_innen direkt auf das Editieren anzusprechen, weil mir nicht bekannt war, wie viel sie über den editorischen Eingriff wussten. Ethnografisches Forschen verlangt Offenheit und Unvoreingenommenheit. Doch Letzteres kann nicht gänzlich 77 Weitere Strategien zur Entschärfung werden im Kapitel zum Vorlesen als zweiter Editierakt thematisiert.
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Transformieren: Damit etwas bleibt, wenn man geht
abgelegt werden. Und so schwingt in meiner Hemmung ein Verständnis vom Editieren mit, das auch ein kritisches ist und diesen Prozess als konstruierenden Eingriff versteht, der Gefahr laufen kann, Patient_innen zu entmächtigen. Wenn ich Patient_innen nicht direkt nach dem Editieren gefragt habe, dann deshalb, weil ich sie nicht auf etwas hinweisen wollte, das Konfliktpotential in sich bergen kann. Im Nachgang erscheint mir mein Vorgehen zu vorsichtig; und die nicht gestellten Fragen sehe ich mittlerweile als verpasste Chance, mehr darüber zu erfahren, wie Patient_innen das Editieren sehen und deuten. Mit einer Patientin kam trotz dieser Herausforderungen ein kurzes Gespräch über das Editieren zustande. Ich begegnete ihr zufällig im Aufenthaltsraum auf der Station. Es war gerade zu der Zeit, als ihr Dokument bei der Therapeutin lag und editiert wurde. Das Vorlesen stand also noch bevor. Ich fragte die Patientin, wie es für sie jetzt sei, wenn die Erzählung niedergeschrieben werde. Sie erwähnte eine große Dankbarkeit gegenüber der Therapeutin, die sich extra noch Zeit nehme, das Dokument »ein bisschen schön zu machen«. Sie erzählte weiter, dass es ihr auch egal sei, wenn da die Worte ein bisschen geändert würden. Ihr sei einfach wichtig, dass sie etwas hätte, das sie hinterlassen könne (vgl. FT3). Die Patientin schreibt in dieser Aussage dem Editieren eine verändernde Funktion der sprachlich-narrativen Dimension zu – »wenn da die Worte ein bisschen geändert würden« – und mit »schön [] machen« eine Funktion, die auf eine Form der optimierenden Veränderung verweist. Zentral ist für die Patientin die Möglichkeit der Hinterlassenschaft. In dieser Haltung lässt sich eine Priorisierung der generativen Erzählung als gesamtes Gefüge gegenüber der sprachlichnarrativen Dimension als einem Bestandteil der Erzählung erkennen.
4.11
Fazit: Editieren in der WzT
Durch die methodische Triangulation von Textanalyse in Form des Textvergleichs und von den problemzentrierten Interviews mit den Akteur_innen habe ich das Editieren als Praktik unter verschiedenen Perspektiven diskutiert – nicht mit dem Ziel eines kontrastierenden Vergleichs, sondern im Dienst der Komplementierung. Standen im ersten Teil des Kapitels Formen und Effekte der manifestierten Praktik und die Affordanzen des entstandenen Textes im Zentrum, rückte im zweiten Teil das Editieren als Vollzug in den Fokus, jedoch nicht durch eine teilnehmende Beobachtung, sondern durch die sprachliche Repräsentation, mit der die Akteur_innen Intentionen, Bedeutungszuschreibungen und Herausforderungen im jeweiligen spezifischen Interaktionssetting offenlegten. Die Erkenntnisse der Textanalyse aus dem ersten Kapitelteil lassen sich mit der Dichotomie Markierung und Entmarkierung der Ko-Konstruktion zusam-
Editieren: Ermächtigung und Entmächtigung
151
menfassen. Textbausteine verschwinden auf der Textoberfläche, tauchen an anderer Stelle wieder auf, werden neu eingefügt oder bleiben gänzlich unberücksichtigt. Das Bewusstsein für den Formierungsprozess durch das Editieren ist insbesondere für Forschende, die sich mit den in der WzT entstehenden Erzählungen beschäftigen, zentral. Lohnt es sich, mit den editierten Versionen zu arbeiten, wenn man sich mit der narrativen Identität der Patient_innen auseinandersetzen möchte? Macht es Sinn, die editierten Versionen zu analysieren, wenn Erzählstrukturen herausgearbeitet werden sollen? Erzählungen, die auf einer Ko-Konstruktion im doppelten Sinne beruhen, verlangen die Akzentuierung gewisser Fragen. So listen Smith und Watson in ihrem »Tool Kit: Twentyfour Strategies for Reading Life Narratives« (Smith/Watson 2010) unter der Rubrik »Collaborative Autobiography« folgende Fragen auf: Has there been an editor, a transcriber, an amanuensis, or an interviewer involved in the project? What role has each person played in the making of the narrative, and what are your sources for knowing this? Who is presented as speaking in the narrative? To put it another way, who says ›I‹, whose voice do you hear in the narrative? How has the editor or transcriber made her presence felt in the narrative, or, on the contrary, tried to efface her role in producing the narrative? (Smith/Watson 2010: 240)
Die Forschung hat bis jetzt diesem Transformationsprozess durch die Praktik des Editierens nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt. Dies wird vor allem in der Absenz der Diskussion um diese Praktik sichtbar. So beschreiben z. B. Lori Montross und Kolleg_innen in ihrer Studie »Dignity Therapy Implementation in a Community-Based Hospice Setting« die Methodik folgendermaßen: »In order to complete the qualitative analysis, two study investigators (the first and second authors) determined the most common themes present in the 27 patient documents.« (Montross u. a. 2011: 730) Was unter »documents« zu verstehen ist, wird jedoch nicht deklariert. Im zweiten Teil des Kapitels habe ich die Perspektiven der Akteur_innen zusammengefasst: ihre formulierten Intentionen, die Herausforderungen, denen sie begegnen, und ihr konkretes Vorgehen. Dabei greifen sie erinnernd auf ihre Anwesenheit während des Erzählvorgangs zurück, editieren in der Abwesenheit der Patient_innen, wissend, dass diese im Moment des Vorlesens wieder als anwesende Zuhörer_innen die Erzählung rezipieren. Sie stellen sich die lesenden Angehörigen vor – als Lesende der Hinterlassenschaften abwesender Verfasser_innen. Editieren ist Aushandeln dessen, was war, und dessen, was noch kommt, und Aushandeln einer doppelten Leserlichkeit. Dieses Aushandeln schafft besondere Bedingungen, Herausforderungen und Möglichkeiten.
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5
Transformieren: Damit etwas bleibt, wenn man geht
Vorlesen: ein Ereignis zwischen Präsenz und Absenz
Es ist 8.55 Uhr. Ich sitze in meinem Büro im hinteren Trakt der Palliativstation. Es klopft an die Tür. Ich öffne und eine Patientin steht vor der Tür. Sie stützt sich an ihrem Rollator ab. In ihrem abgemagerten Gesicht sind die Wangenknochen gut erkennbar, ihre Augen sind gerötet und mit dunklen Augenringen umschattet. Doch sie strahlt. […] Während wir auf die Psychologin warten, frage ich die Patientin, wie sie sich fühle: ›Ich habe Vorfreude und bin aufgeregt.‹ Ich frage weiter, auf was sie sich denn freue: ›Auf mein Leben, das ich gleich hören werde.‹78
Das Vorlesen in der WzT ist ein »essentielle[r] Schritt im Rahmen des Verfahrens« (Mai u. a. 2015: 16). Nachdem die generative Erzählung transkribiert und editiert wurde, wird sie im und durch das Vorlesen den Patient_innen zurückgegeben. Die folgenden Ausführungen zeigen, dass diese Art des Zurückgebens weit mehr ermöglicht als die von Chochinov beschriebenen Funktionen (vgl. Chochinov 2012: 114). Es lohnt sich deshalb, eine Forschungslücke zu schließen, sich mit der Praktik des Vorlesens und Hörens intensiver zu befassen und aufzuzeigen, wie sich das Vorlesen gestaltet und welche Wirkungen dieser Praktik, auf der Basis meiner Beobachtungen und Gespräche, zugeschrieben werden können. Denn es ist nicht nur das einleitende Zitat aus meinem Forschungstagebuch mit der wiedergegebenen Vorfreude der Patientin, die drei Wochen nach dem Vorlesen stirbt, das die Besonderheit des Vorlesens erahnen lässt, sondern es sind auch meine Beobachtungen der Vorlesesitzungen und die Gespräche mit den Patient_innen und Therapeut_innen. Auf der Basis dieses Datenmaterials führe ich aus, welche Bedeutung die Patient_innen und Therapeut_innen dem Vorlesen zuschreiben und wie sich das Vorlesen im Vollzug gestaltet. In der Forschung zur WzT fehlt bis anhin eine solche Auseinandersetzung. Sie ist jedoch notwendig, um den Stimmen des Feldes Raum zu geben und die Funktionen des Hörens der eigenen Lebensgeschichte zu ergründen. Um das Vorlesen in die WzT einzuordnen, gebe ich im Folgenden Chochinovs Überlegungen wieder, dann folgt auf konzeptueller Ebene eine schrittweise Annäherung an die Vorlesesituation, anschließend eine Feldbeschreibung, danach stehen die verbalisierten und beobachteten Veränderungen im Zentrum und schlussendlich folgt eine Auseinandersetzung mit dem Vorlesen als zweitem Editierakt. Dabei erscheint das Vorlesen als ein Ereignis, das erahnen lässt, wie es sein wird, wenn die eigene Stimme schließlich ganz verstummt.
78 FT3.
Vorlesen: ein Ereignis zwischen Präsenz und Absenz
5.1
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Vorlesen nach Chochinov: The patient has the final say79
Chochinovs Ausführungen zum Vorlesen in der WzT sind minimal. Durch die Platzierung dieser Ausführungen wird jedoch deutlich, dass er das Vorlesen zum Editierprozess zählt. So finden sich die wenigen Sätze zum Vorlesen im Unterkapitel »The Patient Has the Final Say« (Chochinov 2012: 114), welches wiederum Teil des übergeordneten Kapitels »Editing the verbatim transcript« (ebd.: 107) ist. Chochinov beschreibt die Hauptfunktion des Vorlesens mit dem Satz: »Allowing for any final corrections to be made.« (Ebd.: 114) Ergänzend hält er fest: »In many instances, this is a profound experience for the patient. Hearing a summary of their reminiscences, thoughts, feelings, and wishes can be deeply moving for patients and is usually very gratifying.« (Ebd.: 114) Auf die Gründe dieser möglichen tiefgreifenden Erfahrung geht er jedoch nicht ein. Schließlich betont Chochinov die Möglichkeit, den Patient_innen die Erzählungen nicht vorzulesen, sondern sie im Stillen selbst lesen zu lassen (vgl. ebd.: 114).
5.2
Konzeptuelle Annäherung: vom Lesen zum Vorlesen
Um die komplexe Vorlesesituation zu analysieren, nähere ich mich dem Ereignis über drei Stufen des Lesens: (1) stimmloses Lesen (2) stimmhaftes Lesen (3) lautes Lesen wahrnehmen Ziel der Annäherung ist nicht eine universelle theoretische Abhandlung über das Lesen, sondern eine kontextualisierte Akzentuierung, die somit immer schon die empirischen Erkenntnisse mitdenkt. Lesen (1) oder – in Abgrenzung zur zweiten Stufe – stimmloses, nicht aufgeführtes Lesen kann mit den Worten von Erika Fischer-Lichte als das Lesen von »nicht verkörperten Texten« (Fischer-Lichte 2013: 135) bezeichnet werden, Texten also, die im Gegensatz zu »verkörperten Texten« (ebd.: 135) nicht vorgetragen werden.80 Bei diesem stimmlosen Lesen kommt es jedoch zu einem »Akt der Inkorporation« (ebd.: 138): »Das Gelesene wird Teil der Leserin und vermag in ihr somatische – physiologische, emotionale, energetische – Wirkungen auszulösen. Lesen vollzieht sich als ein leiblicher Prozess.« (Ebd.: 138) Fischer-Lichte geht in 79 Kapitelüberschrift bei Chochinov (Chochinov 2012: 114). 80 Fischer-Lichte zählt folgende »verkörperte Texte« auf: »Poetry Slams, Dichterlesungen, das Vorlesen im Freundes- oder Familienkreis, die Aufführung von Dramen, das Vortragen von Liedern u. a. mehr« (Fischer-Lichte 2013: 135).
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ihren Ausführungen nicht auf die Unterscheidung zwischen Leib und Körper ein.81 Das vorangegangene Zitat impliziert jedoch folgendes Verständnis vom »leiblichen Prozess«: der Prozess, in dem im Lesenden »somatische – physiologische, emotionale, energetische – Wirkungen« (ebd.: 138) ausgelöst werden. Es stehen beim »leiblichen Prozess« nach Fischer-Lichte also die Wirkungen des Gelesenen auf den Lesenden im Zentrum. Die Autorin bezeichnet diesen Prozess beim Lesen auch als liminale Erfahrung. Sie expliziert dabei nicht, welches Zwischen diese Liminalität ausmacht, betont jedoch die Erfahrung »eine[r] transformative[n] Kraft, deren Wirkung auf die Dauer der Lektüre beschränkt sein kann, jedoch durchaus weit über sie hinaus noch längere Zeit anzuhalten vermag« (ebd.: 138). Wird das stimmlose Lesen zu einem stimmhaften und akustisch hörbaren Lesen (2), kommt es zu einer Verkörperung der Texte (Fischer-Lichte 2013: 135). Der Körper wird eingesetzt, um den Worten eine akustisch hörbare Stimme zu verleihen.82 Diese Verkörperung verdrängt jedoch nicht die unter (1) beschriebene Inkorporation, denn die Stimme löst sich nicht nur aus dem Körper der Lesenden, sondern kehrt »auf demselben Wege in den Körper des Vortragenden« (ebd.: 135) zurück. Und diese hinaus- und hineinströmende Stimme vermag so einiges. So schreiben Doris Kolesch und Sybille Krämer: »Gibt es ein Phänomen, das so untrüglich Zeugnis ablegt von menschlicher Anwesenheit und kreatürlichem Leben wie das Erklingen einer Stimme?« (Kolesch/Krämer 2006b: 7) Die Stimme wird nicht nur zum Ausdruck von Präsenz und Leben; sie drückt es gleichermaßen aus. Die Stimme ist also nicht nur ein Mittel, um Präsenz und »kreatürliches Leben« auszudrücken; sie ist dieses Ausdrücken und tut dieses Ausdrücken. Die Stimme ist also ein »performatives Phänomen par excellence« (ebd.: 11). Um dieses Performative weiter zu ergründen, lohnt sich der Blick auf dessen »Aufführungscharakter« (ebd.) und damit auch auf die Verlagerung vom stimmhaften akustisch hörbaren Lesen zum Wahrnehmen des Gelesenen durch Zuhörende (3). Zentrale Aspekte des »Aufführungscharakter[s]« (ebd.) sind die genannte Wahrnehmung und die damit verbundene leibliche Ko-Präsenz, denn die »stimmliche Verlautbarung [hat] den Status einer ›Aufführung‹ von etwas für andere und vor anderen« (ebd.). Dieses Wahrnehmen gestaltet sich nicht nur als hermeneutischer Verständnisprozess, sondern auch als ein leiblich-spürbarer Vorgang. So schreibt Dieter Mersch:
81 Auch ich arbeite in der vorliegenden Studie nicht mit einer konzeptuellen Trennung der beiden Begriffe. Weitere Ausführungen zu diesem Ansatz finden sich in Kapitel II.1. 82 Eine ähnliche Formulierung findet sich bei Berti und Kollegen, die das laute Lesen als »Verlebendigung von Geschriebenem« (Berti u. a. 2015: 641) beschreiben.
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Der Hörer hört nicht nur die Stimme, vernimmt nicht nur ihr Gesagtes und dessen Bedeutungen; er spürt sie. Das heißt auch, der Hörer versteht nicht nur ein Gesprochenes im Sinne der Hermeneutik; vielmehr tritt er durch die Aufnahme und Entgegennahme der Stimme – anders als durch die Schrift – in Berührung. […] Der Kontakt hat, qua Berührung, einen leiblichen Impuls. (Mersch 2006: 212)
Stimme wahrnehmen ist also gleichermaßen ein Prozess des Verstehens und Spürens. Beim Vorlesen wird nicht nur Bedeutung transportiert, sondern auch Wirkung erfahren – sowohl von den anwesenden Rezipient_innen durch die Begegnung mit den »verkörperten Texten« (Fischer-Lichte 2013: 135) als auch von den Lesenden selbst durch den »Akt der Inkorporation« (ebd.: 138). Dabei sind die geäußerten Stimmen im Vorlesen flüchtig: »Kaum gesprochen, ist ein Laut auch schon verschwunden.« (Kolesch/Krämer 2006b: 7) In dieser Ereignishaftigkeit werden sie wahrgenommen und durch die Wahrnehmung können sie auch nach dem Verschwinden des Lautes wirken. Der Blick auf die drei Etappen vom stimmlosen Lesen zum vorgetragenen und wahrnehmenden Lesen zeigt, dass Vorlesen ein performatives Phänomen ist, das in seinem Aufführungscharakter – bedingt durch Wahrnehmung, Ko-Präsenz und Ereignishaftigkeit – Bedeutung transportiert und dabei gegenseitig auf Lesende und wahrnehmende Zuhörende wirkt. Das konzeptualisierte Vorlesen soll nun verstärkt in den Kontext der WzT eingebaut werden. Es wird deutlich werden, dass die dargelegten Ausführungen an Bedeutsamkeit gewinnen, wenn es die eigenen erzählten Lebensgeschichten sind, die am Ende des Lebens durch die Stimme eines anderen Lesenden wahrgenommen werden.
5.3
Akteur_innen, Raum und Zeit: eine Feldbeschreibung
In den von mir beobachteten drei Vorlesesitzungen gab es unterschiedliche Akteur_innenkonstellationen. Die Hauptakteur_innen waren die vorlesenden Therapeut_innen und die Patient_innen. In einem Fall war zusätzlich die Schwester der Patientin dabei und in einem anderen Fall sowohl die wissenschaftliche Hilfskraft, die die Transkription angefertigt hatte, als auch eine zweite wissenschaftliche Assistentin, die bei dem Patient_inneninterview dabei gewesen war. In beiden Fällen wurde die Patientin nochmals explizit danach gefragt, ob die Konstellation für sie in Ordnung sei. In Bezug auf die Akteur_innenkonstellation spielte auch meine Anwesenheit eine wesentliche Rolle. In allen Fällen kannten mich die Patient_innen bereits, da ich entweder schon bei den vorherigen Therapiesitzungen dabei gewesen war oder mich bereits auf der Station vorgestellt hatte. Als aktive Zuhörerin beobachtete ich die Sitzungen. Dabei führte ich ein kleines Notizbuch mit mir, worin ich meine Beobachtungen stichwortartig festhielt.
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Für das Vorlesen druckten die Therapeut_innen die editierte Patientenerzählung auf A4-Papier aus. Manche Stellen im Text waren mit einem Textmarker gekennzeichnet oder mit Randnotizen versehen. In einigen Fällen nahmen die Therapeut_innen auch nochmals ein Diktiergerät mit, um mögliche Ergänzungen und gewünschte Neuformulierungen festzuhalten. Immer dabei war ein Bleistift oder ein Kugelschreiber. In den von mir beobachteten Sitzungen fand das Vorlesen entweder im Patient_innenzimmer, im Büro der Therapeut_innen oder im Wohnzimmer der Palliativstation statt, wobei von den Therapeut_innen stets das Wohnzimmer favorisiert wurde. Nicht immer aber waren die Bedingungen für diese Raumnutzung gegeben. War der Raum besetzt, fand die Sitzung im Büro statt. Nur bei mangelnder Mobilisationsmöglichkeit aufgrund von Schwäche wurde das Patient_innenzimmer gewählt. Dabei hörten die Patient_innen liegend zu und die anderen Akteur_innen versammelten sich mit Stühlen um das Bett herum. Im Büro saßen sich Therapeut_innen und Patient_innen gegenüber. Ich platzierte mich seitlich der Patient_innen. Im Wohnzimmer saßen alle Beteiligten gemeinsam auf der Couch oder auf (Roll-)Stühlen. Die lesenden Therapeut_innen platzierten sich jedoch etwas abseits der Zuhörenden. Diese Raumfiguration erinnert stark an eine Aufführungssituation, in der die Aufführung räumlich vom Publikum abgegrenzt ist. Das Vorlesen fand möglichst zeitnah nach dem WzT-Interview statt. In den von mir beobachteten Sitzungen lagen zwischen Interview und Vorlesen fünf bis 21 Tage.
5.4
Vorlesen: Deutung und Bedeutungszuschreibungen Also das ist schon fast heilig. Das ist ja hochspirituell, ganz tief, das ist berührend ohne Ende! (Therapeutin)83 Es war ein Erlebnis! (Patientin)84
Bereits in der Einleitung dieses Kapitels habe ich darauf verwiesen, dass dem Hören der eigenen generativen Erzählung eine Besonderheit anhaftet, die bei Chochinov und in der Forschungsliteratur zwar erwähnt, jedoch nicht weiter ergründet wird. Auf Basis der teilnehmenden Beobachtung und der Gespräche mit den Patient_innen und Therapeut_innen soll nun genauer untersucht werden, was das Vorlesen zu einem nahezu »heiligen Erlebnis« werden lässt. Dabei 83 IL. 84 IQ.
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wird deutlich, dass insbesondere die körperlich-leibliche Dimension der generativen Erzählung im Lesen und Hören von großer Bedeutung ist in einem Kontext, wo das Leben gerade kurz vor der »Entkörperung« steht. Inkorporation und Verkörperung wahrnehmen und vorstellen Ich erinnere mich an das Vorlesen des Dokuments einer Patientin. Ich hatte die editierte Version bereits für mich gelesen. Das Vorlesen fand im Zimmer der Patientin statt. Währenddessen beobachtete ich, wie die Therapeutin mit den Tränen kämpfte und ihre Stimme an manchen Stellen zittrig wurde. Die von Fischer-Lichte thematisierte mögliche Wirkung beim Lesen (vgl. Fischer-Lichte 2013: 138) war für mich zumindest auf somatischer Ebene beobachtbar. Diese Beobachtung teilte auch die Patientin. So sagte sie nach dem Vorlesen, sie habe bemerkt, dass die Therapeutin berührt gewesen sei (vgl. FT2). Sowohl die Patientin als auch ich konnten also eine Wirkung bei der lesenden Therapeutin beobachten. Im Nachgespräch mit der Therapeutin bestätigte sie mir ungefragt diese Wirkung. Sie habe mit den Tränen kämpfen müssen und sei erneut tief berührt gewesen (vgl. ebd.). Diese Beobachtungen und Rückmeldungen lassen darauf schließen, dass dem Vorleseakt in der WzT ein leiblicher Prozess der Inkorporation zugrunde liegt. Mag dieser Fokus auf die Therapeutin und die beobachtbare Inkorporation irritieren, weil primär die Patient_innen im Prozess des Vorlesens im Zentrum stehen, ist er doch von besonderer Bedeutung, insofern als die beobachtbare Inkorporation auch zu einer vorstellbaren Inkorporation bei zukünftigen Lesenden führen kann. Um diese Schlussfolgerung fassbarer zu machen, möchte ich mich auf ein Zitat einer Patientin beziehen, die den Vorlesemoment folgendermaßen beschreibt: »War eben nicht mehr meine Stimme. Komisch irgendwie. So wird es ja bald mal sein. Eine andere Stimme liest das dann. Hoffentlich. Aber es tut gut, das zu sehen. Irgendwie stellte ich mir vor, wie es dann sein wird, wenn mein Sohn das liest. Schön.« (FT3) Mit der Aussage »nicht mehr meine Stimme« grenzt die Patientin den gegenwärtigen Moment von einer früheren Situation ab – jener Erzählsituation, in der ihre Stimme die nun vorgelesene Erzählung verkörpert hat. Diese Wahrnehmung erscheint ihr »komisch«, ermöglicht ihr aber auch die Vorstellung einer zukünftigen Lesesituation, bei der sie selbst nicht mehr dabei sein wird. Auch dann wird es nicht mehr ihre Stimme sein, sondern eine »andere Stimme«. Zumindest erhofft sie sich das. Sie verweist auf ihren Sohn, der einmal selbst Lesender sein wird. Sowohl diesen Gedanken an den Sohn als auch das Beobachten der lesenden Therapeutin bewertet sie positiv als »gut« und »schön«. Die Schilderung der sichtlich berührten Therapeutin ist also zentral, weil dieses Berührtsein wahrnehmbar wird. Durch die »leibliche KoPräsenz« (Fischer-Lichte 2004: 63) von Patientin und Therapeutin, von Zuhörerin
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und Leserin, ist die Inkorporation für die Patientin beobachtbar. Zuhören wird zu einem aktiven leiblichen Wahrnehmungsprozess (vgl. ebd.: 55). Darüber hinaus ist die Inkorporation aber nicht nur bei der lesenden Therapeutin beobachtbar, sondern auch bei zukünftigen Lesenden vorstellbar. Eine andere Patientin drückt diese imaginierte Inkorporation bei ihrem zukünftig lesenden Ehemann wie folgt aus: »Wenn er das liest, bleibe ich ein bisschen in ihm.« (FT2) Die Vorlesesituation kann für die hörenden Patient_innen zu einer liminalen Erfahrung werden. Da es zu einer Verschiebung der Stimme kommt und nicht mehr die eigene Stimme die lebensgeschichtliche Erzählung produziert, sondern die Stimme eines Gegenübers, können sich die Patient_innen in einem Zwischenstadium erleben – zwischen Präsenz (Wahrnehmung) und Absenz (nicht mehr eigene Stimme). Vielleicht versteckt sich genau diese Liminalität in den Worten »Komisch irgendwie«. Neben der Inkorporation ist durch die leibliche Ko-Präsenz auch die Verkörperung des Geschriebenen für die Patient_innen wahrnehmbar. Jene Lebenserzählung, die einige Tage zuvor durch ihre eigene Stimme geformt wurde, wird nun durch die Stimme eines anderen mit Leben gefüllt (vgl. Fn. 82). Durch die Stimme der Lesenden bekommt das Gelesene (wieder) eine Gestalt und wird verkörpert respektive verlebendigt. Das eigene durch eine(n) andere(n) verkörperte Vermächtnis tritt den Patient_innen gegenüber. Und mit Blick auf dieses Gegenübertreten soll hier ein Aspekt ins Zentrum rücken, der bis anhin nicht thematisiert wurde. Dazu muss nochmals vor Augen geführt werden, was die Therapeut_innen vorlesen respektive wie dieses formuliert ist. Es ist nicht nur eine lebensgeschichtliche Erzählung eines anderen, es ist auch eine Erzählung aus und in der Ich-Perspektive. Beim Vorlesen wird also nicht nur das Erzählte mit einer anderen Stimme verkörpert, sondern auch das »Ich«, wenn es z. B. heißt: Im Jahr 2003 bekam ich die Botschaft, die Diagnose Brustkrebs nicht erhaltend zu operieren. Ich hatte mich gewundert, dass ich so ruhig geblieben bin. Ich bin in kein tiefes Loch gefallen. Ich weiß, mein erster Gedanke war: ›An diese Brust kommt kein Messer dran.‹ Und ich war ganz ruhig. Keine Angst – nichts.« (ED)
Ein wesentlicher Aspekt, der der WzT zugrunde liegt, ist die würdebewahrende Ressource »Generativität«. Sie soll durch die WzT erfahrbar werden. Chochinov beschreibt, mit Rückgriff auf Erikson, das Konzept der Generativität mit dem Wunsch »to extend their influence beyond death itself« (Chochinov 2012: 169). Der Wunsch, dass etwas von einem bleibt, könnte sinngemäß auch wie folgt umformuliert werden: der Wunsch, dass etwas von mir im anderen »inkorporiert« wird, der Wunsch, dass etwas von mir »verkörpert« bleibt. Die Möglichkeit, Inkorporation und Verkörperung der eigenen Lebensgeschichte in Form der »Ich-Formulierung« zu beobachten, scheint am Lebensende, wissend, dass das
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eigene Leben in naher Zukunft »entkörpert« wird, Gewissheit zu geben, dass man nicht vergessen wird und in den Erinnerungen der nächsten Generation weiterlebt. Nicht nur das Erzählen für Angehörige in Verbindung mit der Übergabe des Generativitätsdokuments an Angehörige macht Generativität erfahrbar, sondern auch das Vorlesen in seiner Ereignishaftigkeit und Performativität. Fassade: »Also nicht, dass wir dann hinterher zusammensitzen und dann heulen.«85 Stimme ist individuell und intim. Sie ist an den Körper gebunden, kann Rührung oder Belanglosigkeit ausdrücken. Sie gibt viel (wieder) und kann sich auch mal aussetzen. Dieter Mersch schreibt: In jeder Stimme wird so der Bogen zwischen der Leiblichkeit des Sprechenden und der Beziehung zum Anderen gespannt. In ihr trifft die Sprache ebenso auf den Körper und damit auf eine Anwesenheit, wie auf den Anderen, den sie attackiert. Dabei trägt sich die Stimme als Körper aus, gibt sich preis, wie sie gleichermaßen sich an den Anderen wendet und ihn um Antwort ersucht. Als Preisgabe ist sie ›Gabe‹ und damit Geste an den Anderen. Sie setzt sich ihm aus, gefährdet sich bis zum Preis ihrer Vergeblichkeit. Deswegen ist die Stimme stets beides: Atemgeben und Selbstaussetzung, körperliche Präsenz und Hinwendung an eine Alterität. Beides ist nicht voneinander zu trennen. (Mersch 2006: 213)
Vorlesen ist mit Merschs Perspektive ein intimer Akt, in dem Präsenz markiert und Angriffsfläche geschaffen wird. So ist die zittrige Stimme der beschriebenen Therapeutin Ausdruck ihrer Präsenz und schafft dabei Raum für (emotionale) Zuschreibungen. Natürlich ist es nicht nur die Stimme, die diesen Raum öffnet, sondern auch die körperlich-leibliche Anwesenheit als Ganzes. Und diese Präsenz und performative Wiederhervorbringung der generativen Erzählung können, wie bereits dargelegt, sowohl Zuhörende als auch Lesende emotional erregen. Dass sich Therapeut_innen diesem Zustand nicht gänzlich hingeben möchten, zeigt das folgende Zitat: Aber wenn ich das dann vorlese in dem Moment – ich gucke schon so, wie die Patienten dann reagieren –, aber ich versuche da möglichst … Also nicht, dass wir dann hinterher zusammensitzen und dann heulen. Das wäre mir, glaube ich, nicht so recht. Weil ich dann sowieso jeden Tag bei ihnen bin. Dann ist es mir dann auch zu nah. (IM)
Der hier zitierte Therapeut versucht sich der Intimität ein Stück weit zu entziehen. Diese Grenzziehung begründet er damit, dass er jeden Tag bei den Patient_innen ist. Im Gegensatz zu den anderen Therapeut_innen handelt es sich hier nicht um einen Psychologen, sondern um einen Pfleger, dessen Kontakt zu 85 IM.
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den Patient_innen zeitlich intensiver und durch die Pflegetätigkeiten auch körperlich intimer ist. Im weiteren Verlauf des Interviews erzählt der Pfleger weiter: »Also ich glaube, ich habe da noch gar nicht so richtig darüber nachgedacht. Aber ich glaube, dass ich da so eine gewisse Fassade brauche. Für mich.« (IM) Vorlesen bewegt nicht nur die Zuhörenden, sondern auch die Lesenden. Gerade in der Stimme kann Emotionalität ausgedrückt und wahrnehmbar werden. Eine Fassade, wie auch immer diese aussehen mag, kann Einblicke in jene Emotionalität kontrollieren und vor Intimität schützen. Die Vorlesesitzung in der WzT ist ein interaktives Ereignis, dem sowohl Patient_innen als auch Therapeut_innen ausgesetzt sind. Die generative Erzählung wird durch den Körper-Leib der Lesenden und Zuhörenden zur wahrnehmbaren Aufführung gebracht. Dabei wird das »Ko« der vorausgesetzten »leibliche[n] KoPräsenz« (Fischer-Lichte 2013: 54) von Therapeut_innen unterschiedlich ausgehandelt und gestaltet. Möglichkeit zur Distanzierung Das Hören der eigenen Lebenserzählung durch eine andere Stimme ermöglicht Distanz und eine daraus resultierende »Sicht auf das Ganze«. So beschreibt eine Patientin das Hören ihrer Lebensgeschichte mit den Worten: »Ich war jetzt nicht mehr selbst so drin, sondern konnte von außen mein Leben als Ganzes sehen.« (FT2) Sie betont dabei nicht nur den Blick auf das »Leben als Ganzes«, sondern, bedingt durch den Blick von »außen«, auch eine Art von Distanz. Wie bereits erläutert, wird in der Rolle des Zuhörenden die eigene Lebenserzählung nicht mehr durch die eigene Stimme erzählt, sondern durch die Stimme eines anderen. Die Stimme ist eng an den Körper und an die Individualität des Lesenden gebunden. Dieter Mersch schreibt dazu: »Jede Stimme ist einzigartig und einmalig wie der Augenblick, in dem sie mich anspricht, mir ›zuspricht‹, mich, mittels ihrer Affektion, anrührt und einbezieht. Sie ist als solche dem Körper des Sprechenden, seinem Organ eingeleibt.« (Mersch 2006: 212) Die Verkörperung ist dabei ein spezifischer Verkörperungsprozess (vgl. Fischer-Lichte 2004: 219), in dem also »ein[e] je besondere Körperlichkeit hervorgebracht wird« (ebd.: 219). Die eigene lebensgeschichtliche Erzählung und das einst selbst ausgesprochene »Ich« werden für den Hörenden in einer anderen Körperlichkeit wahrnehmbar. Diese Verlagerung auf eine andere Stimme, auf eine andere Körperlichkeit schafft Distanz, weil nicht mehr der eigene Körper Träger der Stimme ist. Da jedoch die zuhörenden Patient_innen im selben Raum leiblich ko-präsent sind, wirkt die hörbare Erzählung auf das eigene »In-der-Welt-Sein« (ebd.: 219) ein. Die Möglichkeit des Wahrnehmens schafft also Distanz. Worum genau geht es nun im Kontext der WzT, wenn sich Patient_innen von etwas distanzieren, dem sie sich aber zugleich auch aussetzen? Es geht um eine
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Erzählung von ihrem und über ihr Leben, ein Vermächtnis für die Angehörigen und auch ein Bild, das mehr zeigt als die Krankheit. Durch die Möglichkeit der Distanzierung kann der Blick auf das Ganze, auf Anfang und Ende, gelingen. Damit meine ich sowohl Anfang und Ende der konkreten hörbaren Erzählung als auch Anfang und Ende des Lebens. Der Blick auf das Ende mag noch vernebelt und verschwommen sein, doch die Verlagerung auf eine andere Stimme, einen anderen Körper und die damit verbundene erfahrbare Liminalität lassen das Ende ansatzweise erahnen. Kohärenz erfahren Gekoppelt an die Sicht auf das Ganze, kann der Vorlesesitzung auch die Möglichkeit einer Kohärenzerfahrung zugeschrieben werden. So äußerte sich eine Patientin auf die Frage, wie sie das Vorlesen erlebt habe, euphorisch: »Es hat sich rund angefühlt!« (FT3) Mit Blick auf meine Fragestellung referiert das »es« auf »das Vorlesen«. Doch was die befragte Patientin genau mit »es« meinte, kann von mehrschichtiger Natur sein. So kann sich das, was sich »rund« angefühlt hat, sowohl auf die gehörte Erzählung, den gehörten Akt des Erzählens (Lesens) als auch auf die Gesamtheit der Vorlesesituation beziehen. Ich bezeichne dieses Gefühl in seiner Gesamtheit als »Kohärenzgefühl«. Mit »Kohärenz« meine ich die ursprüngliche lateinische Bedeutung von »cohaerere«: »verbunden sein, verwachsen sein, in sich zusammenhängen, organisch zusammenhängen, Halt haben, Bestand haben, bestehen« (Langenscheidt online 2020a). Die durch die Stimme der Therapeut_innen hörbare Erzählung kann als »in sich zusammenhängen[de]« Erzählung erfahrbar werden. Das Kohärenzgefühl kann aber auch ein Gefühl des Verwachsenseins von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beinhalten. Denn im Moment des Vorlesens und Wahrnehmens fallen Lebensrückblick, Gegenwart und Vermächtnis (Zukunftshoffnungen) zusammen. So bedeutet »Es hat sich rund angefühlt« vielleicht auch, das erzählte vergangene Leben und die erzählten Zukunftswünsche mit der Gegenwart zu verbinden und festzustellen: Alles ist miteinander »verwachsen«; hat »Bestand«; ist in sich »rund« – wer ich war, wer ich bin und wie ich in Erinnerung behalten werden möchte. Kongruenz erfahren Neben Kohärenzerfahrungen sind es auch Kongruenzerfahrungen – Erfahrungen der »Übereinstimmung« (Langenscheidt online 2020b) –, die durch meine Beobachtungen und die Gespräche mit den Akteur_innen als Wirkungsmöglichkeit eruiert werden können. Eine Patientin schilderte in ihrem WzT-Interview die Beziehung zu ihrer Schwiegermutter. Ein Leben lang war sie von ihr
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schikaniert worden. Mit »erhobenem Zeigefinger« (TB), so die Patientin, kontrollierte die Schwiegermutter ihren Haushalt und ihren Garten. In ihrer Transkription und der editierten Version findet sich dann auch der Satz: »Ich sagte immer: ›Ein Menschenleben ist mehr wert als ein gekehrter Hof.‹« (TB; EB) Als die Therapeutin die Erzählung der Patientin vorlas und sich die Stelle mit dem besagten Satz näherte, konnte ich Folgendes beobachten: Während die Therapeutin den Satz las, sprach die Patientin diesen leise mit. Die Lippenbewegungen und das Flüstern jenes Satzes, den sie zwei Wochen zuvor in der Therapie erzählt hatte, der per Audiogerät aufgezeichnet, transkribiert und jetzt durch die Stimme der Therapeutin wieder vorgelesen wurde, waren für mich Ausdruck einer Kongruenzerfahrung. Diese Übereinstimmung kann, ähnlich wie das beschriebene Kohärenzgefühl, mehrschichtig sein. Die geschilderte Beobachtung der Lippenbewegung lässt sich nicht nur auf eine Kongruenzerfahrung bezüglich der (im damaligen WzT-Interview) erzählten und nun gelesenen Worte beziehen, sondern auch auf eine Übereinstimmung von gelesener Erzählung und gelebtem Leben, somit von erzähltem und gelebtem Leben. Auch den Wiederholungen parasprachlicher Äußerungen können Kohärenzerfahrungen zugeschrieben werden. So beobachtete ich bei einigen Patient_innen, dass sie während des Zuhörens ihrer vorgelesenen Erzählung genau an jenen Stellen lachten, an denen sie auch damals – während des Erzählens – gelacht hatten. Noch auffallender war die Wiederholung dieser spezifisch lokalen parasprachlichen Äußerungen dann, wenn sie im editierten Dokument, das ich in der Vorlesesituation vor Augen hatte, als Klammerbemerkung beibehalten worden waren. Diese Beobachtung teilt auch eine Therapeutin: Und erstaunlich finde ich immer, dass wenn du im Text in Klammern »lacht«, und du liest das ja dann nicht vor, aber die Patienten lachen dann an der richtigen Stelle. Immer! Immer, immer! Die lachen an diesen Stellen wieder. Die gehen nochmals in diese Emotionen. Aber mit Abstand. Jemand anderes erzählt es für dich. Wie hat die eine im Kurs [Ausbildungskurs WzT] gesagt. Du spaltest es etwas ab, dadurch, dass du es von außen betrachten darfst, ist es auf einmal rund und geformt. Ja. Ich finde es toll! Ich liebe es! (lachen) (IL)
In diesem Zitat findet sich nicht nur die von mir als solche benannte Kongruenzerfahrung wieder, sondern auch die zuvor genannte Kohärenzerfahrung (»rund und geformt«) und die Möglichkeit zur Distanzierung (»mit Abstand« und »von außen«). Und schließlich drückt das Zitat Euphorie und Begeisterung für das Ereignis »Vorlesen« aus. Kongruenz- und Kohärenzerfahrungen erinnern an die im würdebewahrenden Repertoire« festgehaltene Perspektive »Continuity of self« (Chochinov 2012: 14) und die damit verbundene Frage »Am I still me?« (ebd.: 14). Dahinter steht die
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Tatsache »that illness can strip them [the patients], not just of clothing and modesty, but also of their identity« (ebd.: 14). Durch spezifische Fragen des Fragenkatalogs aus der WzT soll diese Ressource aktiviert werden. Meine Ausführungen zeigen jedoch, dass auch im Hören der eigenen Lebensgeschichte die Möglichkeit besteht, »Selbstkontinuität« zu erfahren. Stolz – auf beiden Seiten Die Erfahrung von Stolz gehört gemäß Chochinov zu jenen Ressourcen, die das Würdeempfinden bei schwer erkrankten Menschen stärken kann. Beim Erzählen über Lebensaspekte, die stolz machen, soll dieses Repertoire aktiviert werden. Das Gefühl von Stolz wird aber nicht nur zum Thema im Akt des Erzählens, sondern kann auch durch das Hören der Erzählung erzeugt werden. So beschreibt eine Patientin das Vorlesen mit folgenden Worten: »Ich war euphorisch, ich war sogar ein bisschen stolz.« (FT2) Auf meine Frage, worauf, antwortet sie: »Auf diese Hinterlassenschaft, die ich da geschaffen habe.« (FT2) In dieser Äußerung bezeichnet sich die Patientin als Schöpferin, als Urheberin der generativen Erzählung. Sie hat »diese Hinterlassenschaft« geschaffen und auf diesen Schaffensakt ist sie stolz. Dass sie jedoch nicht die alleinige Schöpferin des Generativitätsdokuments ist und es sich bei der »Hinterlassenschaft« um ein kokonstruiertes Produkt handelt, wurde im Verlauf dieser Studie immer wieder aufgezeigt. Und diese Ko-Konstruktion wird nun auch beim Thema »Stolz« sichtbar. So ist eben nicht nur die Patientin stolz, sondern auch der Therapeut, und zwar auf sich: Aber es ist schon … Also das ist eigentlich das Tollste da dran. Das Tollste da dran ist: Ich präsentiere meine Ergebnisse. Also was ich daraus gemacht habe. Dann bin ich also auch ein bisschen stolz darauf und auch wenn das dann so Emotionen auslöst. Oder wenn die dann sagen, das ist total super geworden, ich erkenne mich wieder – dann ist das ganz toll. Das ist auch ein Erfolgserlebnis. (IM)
Der hier zitierte Therapeut spricht von seinen Ergebnissen und dem, was er daraus gemacht hat. Es macht ihn stolz, wenn seine Arbeit Emotionen auslöst und sich die Patient_innen wiedererkennen. Dabei bezeichnet er diese Präsentation und die wahrnehmbaren Emotionen der Patient_innen als »das Tollste«. Er hat den Text editiert, in die finale Form gebracht. Sowohl Patient_innen als auch Therapeut_innen erkennen und benennen ihren schöpferischen Anteil an der generativen Erzählung. Beide verstehen sich als Schaffende, die ein Ergebnis, eine Hinterlassenschaft gestaltet haben, die präsentiert und weitergegeben werden kann.
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Vorlesen als zweiter Editierakt
Das Hören der eigenen Lebenserzählung kann den Wunsch nach einer Textveränderung auslösen. Vielleicht bedingt durch ein ausbleibendes Kongruenzoder Kohärenzgefühl wird der Devise »The Patient Has the Final Say« (Chochinov 2012: 114) Raum gegeben, kann sich an einen zweiten Editierakt auch ein dritter und vierter anschließen. Auf der Basis von Generativitätsdokumenten mit Notizen von Therapeut_innen, die während des Vorlesens entstanden sind oder bereits im Vorfeld als Änderungsvorschlag notiert wurden, daraus resultierenden Endversionen, problemzentrierten Interviews mit Therapeut_innen und schließlich teilnehmender Beobachtung der Vorlesesitzungen rekonstruiere ich das Vorlesen als weiteren Editierakt. Und dieses Angebot zur erneuten Revision der Erzählung ist für meine Forschungspartner_innen unerlässlich. So äußerte ein Therapeut: Also man darf einfach nicht vergessen, was man für eine Verantwortung hat; für die Angehörigen, die dann weiterleben. Aber auch für den Patienten selber. Da vertraue ich jemandem eine Stunde lang so Dinge an und dann kommt der nur und drückt mir dann nur so ein Heft in die Hand. Da würde ich mich irgendwie nicht so wohl fühlen. (IN)
Die Rücksprache mit den Patient_innen gründet für diesen Therapeuten auf seiner Verantwortung diesen wie auch den Angehörigen gegenüber. Er verweist auf das WzT-Interview, in dem »Dinge« anvertraut und festgehalten werden. Diese »Dinge« sind oft von sehr persönlicher und intimer Natur. Die Patient_innen offenbaren ihre Vergangenheit und ihre Zukunftswünsche. Im Editieren werden diese »Dinge« dann neu arrangiert. Bei einem Aushändigen dieser neu arrangierten Generativitätsdokumente ohne Rücksprache mit den Patient_innen würde sich der Therapeut »nicht [] wohl fühlen«. Eine Rücksprache ist für ihn unerlässlich. Wie bereits in Kapitel IV.4 beschrieben, bereiten sich die Therapeut_innen im ersten Editiervorgang auf das Vorlesen und somit auf einen zweiten Editierakt vor. Dies geschieht z. B. über die Gelbmarkierung. Markiert werden Textstellen, die schon in den Transkripten mit »akustisch unverständlich« gekennzeichnet wurden, Unsicherheiten in der Schreibweise von Namen und Ortschaften, inhaltliche Unverständlichkeiten und potentielle Konfliktstellen. Diese kennzeichnen die Therapeut_innen u. a. mit der Randnotiz »entschärfen« oder einem angehefteten Post-it. Was nun auf diese Weise nach dem Vorlesen am Text geändert wurde, fasse ich in vier Punkten zusammen: Korrekturen »harter Fakten« (1), Spezifizierungen (2), (Re-)Integration von Performativitätsspuren (3) und die Entschärfung potentiell verletzender Textstellen (4).
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Zu den Korrekturen »harter Fakten« (1) zählen die Änderung von Jahreszahlen, Zeitspannen, Ortsnamen oder auch die korrekte Schreibweise von Rufnamen. Ein Therapeut beschreibt die Bedeutung dieser Korrekturen wie folgt: Und es waren dann schon auch immer wieder Dinge, die man nicht recht verstanden hat, und es gibt auch immer wieder Sachen, wo es ganz wichtig ist, dass man es nochmals genau bespricht wegen den richtigen Jahreszahlen. Beim Patienten, der verstorben ist und von dem die Frau letzte Woche da war … die hat dann auch gesagt: ›Oh je, man merkt, dass er Schwierigkeiten hatte und nicht mehr so sortiert war.‹ Er hat dann so die Jahrzehnte durcheinandergebracht. Und das ist dann schon doof, wenn das so bleibt und die Kinder das dann noch so lesen. Das hat dann so etwas Befremdendes. Deshalb ist es wichtig, das mit den Patienten nochmals zu besprechen. Wenn es die Patienten nicht mehr können, muss es dann jemand anderes machen. (IN)
Durch unkorrekte Jahreszahlen kann die generative Erzählung Lesende befremden, also gerade das tun, was einer Wiedererkennung entgegensteht. Das Nennen korrekter Jahreszahlen erscheint als Zeichen eines »Sortiertseins«, kann also gemäß van Dam als »eine auf Wirklichkeitsrepräsentation bezogene Ordnungsstruktur« (van Dam 2016: 98) bezeichnet werden. Deckt sich diese »Wirklichkeitsrepräsentation« nicht mit der Wirklichkeitsvorstellung der Lesenden, rücken die »Schwierigkeiten« als ein krankheitsbedingtes »Unsortiertsein« in den Fokus. Um diese Fokussierung zu vermeiden, werden die Jahreszahlen nochmals explizit besprochen. Ist das Besprechen mit den Patient_innen nicht mehr möglich, wird es delegiert. Eine andere Person übernimmt die Wirklichkeitsrepräsentation der Patient_innen, macht diese jedoch unweigerlich zu ihrer eigenen. Wenn Patient_innen in der Vorlesesitzung selbst Korrekturen anbringen, kann das zu einer erneuten längeren Erzähleinheit führen. So unterbrach in einer von mir teilnehmend beobachteten Sitzung die Patientin die lesende Therapeutin beim Satz »Der ist mittlerweile auch in einem Heim, weil man das auch nicht mehr konnte nach zwölf Jahren« (EG) und korrigierte, dass ihr Bruder schon 22 Jahre im Rollstuhl sei und nicht zwölf (vgl. FT3). Das Hören falscher Fakten aktiviert einen korrigierenden Zwischenkommentar, wobei dieser jedoch nicht beim Nennen der Zeitspanne »22 Jahre« bleibt, sondern zu einer (erneuten) Erzählung über diese 22 Jahre führt. Einleitend mit »ich weiß noch genau« (FT3) folgten neue und bereits erzählte Erlebnisse. Das Hören falscher Fakten – falsch aus der Perspektive der Hörenden – evoziert also ggf. nicht nur eine Korrektur, sondern auch ein erneutes biografisches Erzählen. Spezifizierungen (2) – und damit steht der zweite Punkt im Zentrum – werden sowohl von Patient_innen als auch von Therapeut_innen initiiert. Unter der sehr allgemeinen Bezeichnung unterscheide ich zwischen Spezifizierungen der Widmung und Spezifizierungen respektive Klärungen unklarer Deixis.
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Der Blick in vorgelesene editierte Dokumente mit handschriftlichen Ergänzungen durch die Therapeut_innen und das Hinzuziehen der finalen Generativitätsdokumente zeigen, dass es im zweiten Editierakt zu Änderungen der Widmung/Anrede kommen kann. So wurde z. B. die Anrede »Lieber [Name], lieber [Name]« (EL1) durch »meine geliebten Jungs« (EL2) ergänzt. Ähnlich gestaltet sich die Änderung der Anrede »Lieber [Name]« (EL1), die durch »mein Schatz« (EL2) ergänzt wurde. Beide Ergänzungen spezifizieren die emotionale Bindung zu den Adressaten. Wie diese Ergänzungen performativ hergestellt wurden, ist wegen ausgebliebener teilnehmender Beobachtung nicht rekonstruierbar. Es bleibt offen, ob die Änderungen kurz vor dem Lesen, während des Lesens oder danach angebracht wurden. Eine Spezifizierung der Widmung, deren Vollzug ich beobachten konnte, fand gleich zu Beginn einer Vorlesesitzung statt. Dabei ergriff eine Patientin das Wort und erklärte, dass das Dokument für Tochter und Enkel sei, aber doch eigentlich auch für ihren Schwiegersohn. Die Therapeutin nahm diesen vage formulierten Vorschlag auf, fragte nach dem Namen des Schwiegersohnes und dessen Schreibweise, schrieb ihn mit Bleistift in das Dokument und begann zu lesen. Im Vorlesen, das auch das Lesen der Widmung und des Titels miteinschließt, ließ die Therapeutin die ergänzte Widmung direkt einfließen (vgl. FT3). Eine andere Form der Spezifizierung ist das Schaffen von Referenzpunkten bei unklarer Deixis. So schlug eine Therapeutin beim Vorlesen des Satzes »Ich bin hier aufgebaut worden« (EG1) vor, das »hier« durch »auf der Palliativstation« zu ergänzen (vgl. FT3, EG2), um das Problem der »Lokalisierung der Origo«86 (Ehlich 1996: 22) zu umgehen. Die Patientin stimmte zu. In der editierten Version heißt es nun: »Ich bin hier auf der Palliativstation aufgebaut worden.« (EG2) Obwohl für Therapeutin und Patientin die Referenz rekonstruierbar ist, schlägt die Therapeutin die besagte Ergänzung vor. In diesem Vorschlag ist eine Adressat_innenorientiertheit zu erkennen, die zukünftige Lesende gedanklich berücksichtigt. Durch die Verschriftlichung der Erzählung wurde das »hier« von »seiner damaligen Außenwelt« entkoppelt und die Referenz zur Palliativstation uneindeutig; dank der Konservierung durch die Schrift und der damit verbundenen möglichen Modifizierungen kann nun das »hier« ergänzt und die Origo auf anderem Weg lokalisierbar gemacht werden. Während ich im Vergleich von Transkripten und editierten Dokumenten in Kapitel IV.4 das Tilgen von Performativitätsspuren festmachen konnte, findet in der Vorlesesituation als zweiter Editierakt eine (Re-)Integration solcher Spuren statt (3). Dabei handelt es sich zum einen um die Reintegration von Interviewfragen, zum anderen um die Integration von Performativitätsspuren der Vorlesesitzung. 86 Weitere Ausführungen zur »Lokalisierung der Origo« finden sich in Kapitel IV.4.
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Um die Reintegration von Interviewfragen zu veranschaulichen, zitiere ich folgende Stelle aus einem editierten und vorgelesenen Generativitätsdokument: Ganz besonders stolz bin ich darauf, dass ich in meinem Beruf so angesehen war und dass ich auch vielen Menschen, jetzt so im Nachhinein weiß ich das, geholfen habe. Durch die Gespräche, die soziale Kompetenz und Einfühlsamkeit. Die haben mir immer alles erzählt. Die haben sich oft auch bedankt. (EH1)
Da ich in dieser Vorlesesitzung anwesend war, konnte ich beobachten, wie die Patientin bei dieser Stelle intervenierte und nachfragte, ob sie denn überhaupt so von ihrer Arbeitsfähigkeit erzählen dürfe, das klinge doch so stolz. Auf diese Nachfrage erwiderte die Therapeutin, dass man stolz sein dürfe und diesen Stolz auch zum Ausdruck bringen könne. Im weiteren Gespräch wurde deutlich, dass sich die Patientin mit der Stelle unwohl fühlte. Sie erwähnte, dass sie noch nie so stolz über sich gesprochen habe. Beim Erkennen dieses Unwohlseins schlug die Therapeutin der Patientin schließlich eine Textänderung vor. Dabei bestand diese nicht in einer anderen Formulierung oder Streichung, sondern in der Ergänzung respektive Reintegration jener Frage, die während des damaligen WzTInterviews zur besagten Erzähleinheit geführt hatte, im Editieren jedoch eliminiert worden war (vgl. Kapitel IV.4). Die Patientin nahm diesen Vorschlag an und so ist die Textstelle im finalen Dokument dann auch mit folgender Frage eingeleitet: »[Name der Therapeutin]: Was sind Ihre wichtigsten Leistungen, worauf sind Sie besonders stolz?« (EH2) Die Frage der Therapeutin als Performativitätsspur des vorangegangenen dialogischen Interviews übernimmt an dieser Stelle eine Legitimations- und Rechtfertigungsfunktion. Das Einfügen der Frage führt zu einer Verschiebung der »Positionierungsaktivitäten« (Lucius-Hoene/Deppermann 2004b: 179).87 Erscheint die Erzählerin in der ersten Version als Person, die sich selbst als »stolz« positioniert, ist es in der zweiten Version initial die Therapeutin, die die Patientin als »stolz auf etwas« fremdpositioniert (»Worauf sind Sie besonders stolz?«). Mit der darauffolgenden Antwort nimmt die Patientin die Fremdpositionierung an und positioniert sich erst dann als stolz (»Ganz besonders stolz bin ich […]«). Das Einfügen von Interviewfragen als Teil der editorischen Tätigkeit kann »Positionierungsaktivitäten« (ebd.) verlagern, Erzähllegitimationen schaffen und so vielleicht die Angst vor einer ungewollt vermittelten Überheblichkeit nehmen. Was durch die Verschriftlichung und den editorischen Eingriff dekonstruiert wurde, wird nun wieder rekonstruiert respektive reintegriert. Integriert werden beim zweiten Editierakt nicht nur die Performativitätsspuren des vorangegangenen Erzählens als Vollzug, sondern auch Reaktionen auf das 87 Weitere Ausführungen zum Konzept von Lucius-Hoene und Deppermann finden sich in Kapitel IV.4.
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Vorlesen als Vollzug. Dabei geht es konkret beispielsweise um ein beobachtetes Schmunzeln, ausgelöst durch das Vorlesen folgender Textstelle: »Ich glaube an Gott, ich glaube das alles. Aber was das Fußvolk sagt – eher nicht.« (EG1) Während diese Textstelle durch die Therapeutin vorgelesen wurde, konnte ich beobachten, wie die anwesende Patientin schmunzelte: ein Schmunzeln, das auch die Therapeutin wahrnahm. Diese machte der Patientin schließlich den Vorschlag, das Schmunzeln als in Klammern gesetzte Lautäußerung »(schmunzeln)« nach der Textstelle sprachlich festzuhalten. Die Patientin nahm den Vorschlag an (vgl. FT3). Beim Zuhören und Wahrnehmen ihrer Erzählung begegnen sich die Patient_innen selbst. Während die mündliche Erzählung fluide und nicht hintergehbar ist, bleibt die editierte Version in der Schrift fixiert, und es ist gerade diese Fixierung, die ein Verändern und Ergänzen ermöglicht: »Die Fixierung von Sprache im Schreiben erlaubt eine wortgenaue Anknüpfung an bereits Geschriebenes wie seine permanente Überarbeitung und damit die Fixierung, Fortsetzung, Wiederaufnahme und Korrektur von Gedanken.« (Oldörp 2018: 313) Wegen dieser direkten Anknüpfungsmöglichkeit verschmelzen zeitlich voneinander getrennte Äußerungen für zukünftige Lesende. In »Ich glaube an Gott, ich glaube das alles. Aber was das Fußvolk sagt – eher nicht. (schmunzeln)« (EG2) erscheint die parasprachliche Ergänzung als neben-sprachliche Reaktion und nicht als ein Schmunzeln, das erst Tage später vollzogen, wahrgenommen und ergänzt wurde. Auf der Basis zweier generativer Erzählungen steht abschließend das Entschärfen88 potentiell verletzender Textstellen (4) im Zentrum. Bei der ersten Erzählung war ich während der Vorlesesituation nicht dabei. Meine Analyse stützt sich auf das vorgelesene Dokument mit handschriftlichen Notizen der Therapeutin, eine an mich adressierte kurze reflektierende Notiz der Therapeutin und die Endversion. Bei der zweiten Patientin, in deren Therapieprozess es insgesamt fünf Vorlesesituationen und vier Editierakte gab, war ich bei der ersten Vorlesesitzung dabei. Auch hier bediene ich mich der Dokumentversionen mit den handschriftlichen Notizen und des Interviews, das ich mit der Therapeutin geführt habe. Bei der ersten Erzählung handelt es sich um ein Dokument, das für mehrere Empfänger_innen gedruckt wurde und auch je einen individualisierten Erzählteil beinhaltete. Die Erzählung war an die zwei Söhne, den Ehemann und die Eltern der Patientin gerichtet. In allen drei Versionen finden sich Textstellen, die durch den Akt des Vorlesens nochmals verändert wurden. Wie die Veränderungen zustande kamen, konnte ich zwar nicht beobachten, jedoch aus einer an mich gerichteten Notiz der entsprechenden Therapeutin erschließen: »Liebe 88 Mit der Bezeichnung »Entschärfen« bediene ich mich eines emischen Begriffs aus dem Forschungsfeld, der von den Therapeut_innen selbst immer wieder gewählt wurde.
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Andrea, anbei alle Mitschriften aus der ›Vorlese‹-Sitzung in Kopie. Die Pat. hat beim Vorlesen genau die Stellen angemerkt und ändern wollen, die ich vorab schon markiert hatte, ohne dass ich sie vorher drauf hingewiesen hatte. Das war spannend und gut!« (NL) In dieser Notiz wird die Patientin als Initiantin der Textänderungen dargestellt, die jene Änderungswünsche hatte, die auch die Therapeutin vorgesehen hatte. Eine dieser Änderungen findet sich in der an die Kinder gerichteten Erzählung: Beispiel 1 EL2 EL1 Ihr werdet älter werden, ihr werdet vielleicht das Haus verlassen und der Papa, der wird jemand kennen lernen und der mag nicht gerne alleine bleiben.
Ihr werdet älter werden, ihr werdet vielleicht das Haus verlassen und der Papa, der wird vielleicht auch wieder jemand kennenlernen, und ich kann mir vorstellen, dass er nicht gerne alleine bleiben mag.
In der zweiten editierten Version – auf der rechten Seite – wurden mehrere Phrasen ergänzt. Mit Bezug auf den »Papa« findet sich nun die Ergänzung »vielleicht auch wieder«. Damit wurde eine Behauptung – »der Papa, der wird jemand kennen lernen« in eine Möglichkeit transformiert. Dies eröffnet den Rezipient_innen mehr Spielraum für eigene Zukunftsvorstellungen. Die Einfügung »auch wieder« macht zudem die Erzählerin zum Thema und referiert darauf, dass »der Papa« einst auch sie kennengelernt hat. Durch diesen Einschub wird nicht nur die Zukunft thematisiert, sondern zugleich auch die Vergangenheit: die Vergangenheit der erzählenden Mutter. Auch die abschließende Aussage »und der mag nicht gerne alleine bleiben« verliert ihren behauptenden Ton und ändert sich in eine individualisierte Möglichkeitsvorstellung (»und ich kann mir vorstellen, dass er nicht gerne alleine bleiben mag«). Derartige Änderungen finden sich auch im nächsten Beispiel: Beispiel 2 EL1 Und beschütze sie [die Kinder]. Eng sie EL2 nicht ein, [Name des Ehemanns], sei nicht zu, zu engstirnig manchmal, sei nicht zu ängstlich. Lass sie einfach ihren Freiraum haben. Lass sie auch mal ihre Fehler machen. Das gehört dazu. Und igle sie nicht zu sehr ein und lass sie einfach machen. Und umsorg sie nicht zu sehr und behüte sie nicht zu sehr. Das tut den Jungs, glaub ich, auch nicht gut.
Und beschütze sie. Versuche sie zu schützen, ihnen Kraft und Halt zu geben und immer gleichzeitig die Freiheit zu geben, auch mal Fehler machen zu dürfen.
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Auffallend ist die starke Reduktion der Textstelle. Mit »nicht einengen«, »nicht zu sehr einigeln«, »nicht zu sehr umsorgen« und »nicht zu sehr behüten« findet in der ersten Version eine mehrmalige Wiederholung der an den Ehemann gerichteten Aufforderung statt. Dabei sind mehrere der Aufforderungen durch das »nicht« als Negativierung formuliert. In der stark gekürzten überarbeiteten Version weicht diese Negativformulierung den Verben »schützen« und »geben«. Die starke Appellfunktion wandelt sich in eine Bitte und wird durch das »Versuche sie« in ihrem Aufforderungscharakter geschwächt. Durch die Kürzung der Textstelle und die genannten Änderungen verliert die Passage ihren fordernden Unterton. Beim dritten Beispiel handelt es sich nun um die an die Eltern gerichtete Version. Beispiel 3 EL1 Passt aufeinander auf, passt auf [Name EL2 des Ehemanns] auf, passt mir auf meine Jungs auf (weint) und seid nicht zu streng, ihr wart all die Jahre nicht da für die Jungs. Und das nutzt jetzt nix, wenn ihr anfangt nur streng zu sein und zu erziehen, weil, dann findet ihr den Weg nicht zu den Jungs. […] Ich wünsche mir, dass ihr auch für die Jungs da seid, dass ihr sie auch irgendwo hinkutschieren könnt, wenn irgendwie was ansteht und die beiden eure Hilfe brauchen.
Passt aufeinander auf, passt auf [Name des Ehemanns] auf, passt mir auf meine Jungs auf (weint). Ich wünsche mir, dass ihr auch für die Jungs da seid, dass ihr sie zum Beispiel auch irgendwo hinkutschieren könnt, wenn irgendwie was ansteht und die beiden eure Hilfe brauchen.
Auch bei diesem Beispiel wurde die Textstelle deutlich gekürzt. Eliminiert wurden die Aufforderung »seid nicht zu streng«, der Vorwurf »ihr wart all die Jahre nicht da für die Jungs«, die möglichen Konsequenzen eines streng erzieherischen Verhaltens und die damit verbundene Abmahnung eines solchen Verhaltens. Stattdessen steht in der neuen Version eine Ich-Botschaft im Zentrum, die nicht mehr fordert und vorwirft, sondern wünscht. Die Einfügung »zum Beispiel« entschärft die Forderung nach dem »Hinkutschieren« und wandelt sie in einen Vorschlag um. Die Textveränderungen in den Beispielen 1 bis 3 erinnern an die Anliegen der Gewaltfreien Kommunikation. So findet sich z. B. im Modell von Marshall B. Rosenberg der Hinweis, eine »Sprache, der es an Wahlmöglichkeiten mangelt« (Rosenberg 2016: 34), durch eine »Sprache, die Wahlmöglichkeit unterstützt« (ebd.: 34), zu ersetzen. Auch spricht Rosenberg vom Wert der »positiven Handlungssprache« (ebd.: 75) und von bittenden anstelle von fordernden Formulierungen (vgl. ebd.: 75ff.).
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Die generative Erzählung als Hinterlassenschaft erscheint in den Textveränderungen aus den Beispielen 1 bis 3 als Erzählung, die weder fordern, behaupten noch verurteilen will, sondern Wünsche und Möglichkeiten artikuliert. Mit dem nächsten Beispiel steht nun jene Patientin im Zentrum, bei der aus dem zweiten Editierakt ein dritter und vierter wurde. Das mehrmalige Wechselspiel von Vorlesen und Editieren mündete schließlich in einen Akt der Verzeihung. Das Beispiel zeigt den Vergleich einer Textstelle, die im Zuge des mehrmaligen Vorlesens verändert wurde. Der Auszug ist Teil einer generativen Erzählung, die an die Kinder der Patientin, jedoch nicht an ihren Ehemann gerichtet ist. Während meiner Forschungszeit habe ich die Frau kennengelernt, war bei ihrem WzT-Interview dabei und auch bei der ersten Vorlesesitzung anwesend. Die Patientin, die laut ihrer Aussage kein schönes Leben hatte, wurde jahrelang von ihrer Schwiegermutter missbilligt. Dabei stand ihr Mann nicht zu ihr. Einige Tage vor der WzT konnte sie zum ersten Mal in einem Gespräch mit der Psychologin ihren Groll artikulieren – einen Groll, den sie das ganze Leben lang unterdrückt hatte. Die folgende Textstelle spielt auf diese schweren Zeiten an. Beispiel 4 EH1 Mein Mann macht alles. EH2 Sicher bin ich dankbar, was er jetzt für mich macht. Das andere, das kann ich … das sitzt zu tief. Das kann ich auch nicht mehr zurückdrehen. Das muss er mit sich ausmachen. Das ist ein Stück von meinem Leben. Was soll ich da jetzt noch machen. Ich kann’s ja auch nicht ändern.
Mein Mann macht alles. EH4 Sicher bin ich dankbar, was er jetzt für mich macht. Das andere, das kann ich … das sitzt zu tief. Das kann ich auch nicht mehr zurückdrehen.
Mein Mann macht alles. Sicher bin ich dankbar, was er jetzt für mich macht. Das andere, das kann ich … das sitzt zu tief. Das kann ich auch nicht mehr zurückdrehen. Aber ich verzeihe ihm.
Nach dem erstmaligen Vorlesen wurde die Textstelle gekürzt und der von mir kursiv markierte Teil gelöscht. Die gestrichene Aussage »Das muss er mit sich ausmachen« transportiert eine Schuldzuweisung, in deren Verarbeitung der Mann nun ganz auf sich allein gestellt ist. Dieser Schuldzuweisung schließt sich Resignation an: »Das ist ein Stück von meinem Leben. Was soll ich da jetzt noch machen. Ich kann’s ja auch nicht ändern.« Nach dieser Textänderung gab es zwei weitere Vorlesesitzungen. In der dritten Sitzung wurde die Textstelle nicht verändert, jedoch in der vierten und letzten. Die Patientin verlangte das Hinzufügen eines kurzen Satzes: »Aber ich verzeihe
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ihm.« (EH4) Dieser Satz tritt an jene Stelle, die in der ersten Version noch von Vorwurf, Auslieferung und Resignation besetzt war. Nach dem vierten Vorlesen endete die editorische Tätigkeit an der Erzählung. Was den Weg zum Verzeihen ermöglicht hat, kann und soll nicht abschließend beantwortet werden. Während die Perspektive der Patientin nicht erfragt werden konnte, hat jedoch die involvierte Therapeutin Bezug zu diesem Prozess genommen: Es ist eine schwere Lebensgeschichte, aber durch dieses Immer-wieder-Vorlesen, wo wir ja auch die Gelegenheit geben, beim Vorlesen durchaus auch zuzustimmen oder auch zu sagen: Eine kleine Änderung, ein Wort weg, genau so war es. Also immer wieder auch dieses Zustimmen und Berührtwerden, auch schmerzhaft berührt werden, weil es ein therapeutischer Prozess ist. Also beim vierten oder fünften Mal vorlesen letzte Woche kam dann ja auch dieses Verzeihen, was ja vorher nicht da war. (IO)
»Die Fixierung von Sprache im Schreiben« ermöglicht, wie bereits zitiert, »Fortsetzung, Wiederaufnahme und Korrektur von Gedanken« (Oldörp 2018: 313), also eben auch ein Wiederlesen und wiederholendes Rezipieren. Die Wiederholung, auf die sich die Patientin eingelassen hat, ist eine stetige wiederholende Konfrontation mit sich selbst, mit der eigenen Gestaltung von Beziehungen und mit dem eigenen Blick auf das vergangene Leben und die bevorstehende Zukunft. Wiederholendes Hören der eigenen Lebenserzählung heißt auch wiederholendes Vorstellen der Inkorporation bei zukünftigen Lesenden. Wiederholungen dehnen die Zeit und zögern heraus, im vorliegenden Fall den finalen Druck der generativen Erzählung. Wiederholungen schaffen auch Raum für ein Dazwischen. Von der ersten Vorlesesitzung bis zur letzten sind bei dieser Patientin zwei Wochen vergangen: Zeit, in der es wohl auch zu realen Begegnungen mit dem Ehemann und den Kindern kam. Zeit, in der sich der Körper und der Gesundheitszustand verändert haben. Zeit, in der das Leben weiterging und der Tod näherkam. In dieser Zeit nahm die Patientin psychologische Unterstützung außerhalb der WzT in Anspruch. Therapeutische Gespräche können zum Ort für jenen Groll, jene Konflikte und jene Enttäuschung werden, die zur Sprache gebracht werden müssen, aber nicht in die generative Erzählung einfließen sollen. In solchen Gesprächen können auch Vergebungsprozesse aktiviert werden. Mit dem Hinweis auf die Zeit zwischen den Vorlesesitzungen und den Gesprächen außerhalb der WzT soll dafür sensibilisiert werden, dass im wiederholenden Hören der eigenen Lebensgeschichte durchaus die Entwicklung einer vergebenden Haltung liegen kann, jedoch nicht nur an dieser Praktik festgemacht werden darf, denn Wiederholungen schaffen im vorliegenden Fall Zwischenzeiten und Zwischenräume. Darin wird agiert, wahrgenommen und werden vielleicht auch Wege zur Vergebung gebahnt.
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Fazit: das Vorlesen als Ereignis Für mich ist wirklich dieser Moment des Vorlesens das, was so wichtig ist; wo der Schlüssel irgendwie liegt. Und den muss man noch ein bisschen untersuchen und erforschen. Da liegt der Schlüssel. (Therapeutin)89
Was geschieht, wenn schwerkranke Patient_innen ihre erzählte Lebensgeschichte hören? Nicht erzählt durch die eigene Stimme, sondern durch eine andere? Und was, wenn diese Patient_innen ihre Geschichte am Ende ihres Lebens hören, unheilbar krank, schwach und wissend, dass bald die Kinder, die Partnerin oder der Partner die Erzählung lesen werden? Mit einem performativ-phänomenologischen Ansatz, der das laute Lesen als die Aufführung von »verkörperten Texten« (Fischer-Lichte 2013: 135) und gleichzeitig als »Akt der Inkorporation« (ebd.: 138) versteht, habe ich auf den vorangegangenen Seiten in einem ersten Teil zusammengefasst, welche Wirkungen dem Vorlesen und Hören der eigenen Lebensgeschichte im Kontext der WzT zugeschrieben werden können. Das wahrnehmbare Erklingen der eigenen Lebenserzählung durch die Stimme eines anderen – die wahrnehmbare »Verkörperung des Textes« und »Inkorporation« bei den Lesenden – ermöglicht die Vorstellung, wie es sein wird, wenn die Patient_innen nicht mehr leben, ihre Erzählung aber von Angehörigen gelesen wird. Diese Vorstellung kann als liminale Phase zwischen Präsenz und Absenz Gewissheit und Hoffnung geben, in der nächsten Generation weiterzuleben: durch »Inkorporation« und »Verkörperung« bei zukünftigen Lesenden. Die Verlagerung auf eine andere Stimme, auf einen anderen Körper ermöglicht auch Distanz – eine Distanz zur einst selbst erzählten Geschichte und eine Distanz zum eigenen Leben. Diese Distanz fördert die Erfahrung von Kohärenz. Zusammenhänge im Leben können (neu) erkannt werden. Aber auch Kongruenzgefühle können durch das Vorlesen aktiviert werden, etwa dann, wenn Patient_innen ihre erzählten Worte, ihre Vergangenheit und sich selbst in der lesenden Stimme wiedererkennen. Durch diese Erfahrungen können bei den Patient_innen unterschiedliche Gefühle ausgelöst werden, u. a. auch Stolz: auf die vorgelesene Erzählung, die sie gestaltet haben. Doch wie mit der »Inkorporation« gezeigt wurde, wirkt das Vorlesen nicht nur auf die Hörenden, sondern auch auf die Lesenden selbst. Auch diese können Stolz verspüren und die Erzählung als ihr Erschaffenes bezeichnen. In dieser doppelten Erfahrung von Stolz drückt sich die charakteristische Ko-Konstruktion der generativen Erzählung aus. Sowohl Therapeut_innen als auch Patient_innen sehen sich selbst als Kreierende des gemeinsamen Werks. 89 IL.
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Transformieren: Damit etwas bleibt, wenn man geht
Die beschriebenen, auf das Vorlesen zurückgeführten Wirkungen korrelieren mit mehreren Perspektiven des würdebewahrenden Repertoires. So sind Selbstkontinuität, Stolz, Generativität und Hoffnung Aspekte, die nach Chochinov das Würdeempfinden stärken und erhalten können (vgl. Chochinov 2012: 9). Es sind also nicht nur das Erzählen und das Weitergeben der Erzählung, die nach Chochinov für die Aktivierung dieser Perspektiven prädestiniert sind, sondern auch das Hören der eigenen Lebenserzählung durch die Stimme eines anderen. Im zweiten Teil dieses Kapitels standen die Änderungsvorschläge und -wünsche auf der Textebene im Zentrum. Diese sind gemäß der Therapiekonzeption Hauptintention des Vorlesens. Auf Basis meiner teilnehmenden Beobachtung und verschiedener Dokumentversionen habe ich solche Änderungen rekonstruiert. Sie lassen sich als Korrekturen »harter Fakten«, Spezifizierungen, (Re-) Integration von Performativitätsspuren und Entschärfung potentiell verletzender Textstellen zusammenfassen. Das Vorlesen in der WzT wird von den Akteur_innen als besonderes Ereignis bezeichnet – ein Ereignis, dem in der Tat eine Vielzahl potentieller Wirkungen zugeschrieben werden kann. Was Chochinov in seinem Handbuch zum Vorlesen schreibt, ist eine stark verkürzte Form dessen, was die Empirie zeigt. Die möglichen Effekte dieser Praktik sind weitaus umfänglicher und von existentieller Natur.
6
Übergeben: unscheinbar notwendig
Also das Thema Hinterlassenschaft mit mir in dieser therapeutischen Situation zu besprechen ist, glaube ich das eine. Aber den Angehörigen zu sagen: »Das habe ich für euch gemacht, damit etwas von mir überdauert als Vermächtnis, als Andenken. Weil, wie ihr wisst, muss ich sterben«, ist nochmals eine andere Nummer. (Therapeutin)90
Wenn es im vorliegenden Kapitel um das Übergeben der generativen Erzählung aus der WzT geht, meint diese Praktik die Form des Weitergebens, die dazu führt, dass die Adressat_innen der Dokumente in deren Besitz kommen. Nach dem Vorlesen, dem zweiten Editierakt und dem anschließenden Druck befindet sich das Dokument in den Händen der Therapeut_innen. Wie nun aber kommt es in die Hände der Angehörigen? Die Übergabe des Dokuments oder das Schaffen einer Zugangsmöglichkeit ist ein zentrales Element in der WzT. Denn erst durch diese Übergabe oder das Auffinden werden Lesen und Besitzen als Folgepraktiken möglich. Weil die WzT auch Angehörige unterstützen soll, ist das Gewährleisten dieser Möglichkeit 90 IL.
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notwendig. So zentral diese Praktik ist, so unscheinbar blieb sie doch den von mir befragten Angehörigen in Erinnerung. Und so folgt an dieser Stelle nicht nur deshalb ein kürzeres Kapitel, weil es sich beim Übergeben um die am kürzesten andauernde Praktik handelt, sondern vor allem deshalb, weil sie von den Akteur_innen kaum thematisiert wurde. Auch das gewohnte Unterkapitel zu Chochinovs Gedanken bleibt an dieser Stelle aus. Denn Chochinov gibt nicht vor, wie sich die Übergabe der generativen Erzählung gestalten soll. In seinem Handbuch finden sich lediglich kurze Erwähnungen wie die folgende: »The conversations are audio-recorded, transcribed, edited, and returned to the participant so that he or she may share the contents of the document with loved ones.« (Chochinov 2012: 17) In meinen Gesprächen mit vier Angehörigen wurden die Übergabe und Annahme der Generativitätsdokumente nicht selbst angesprochen. Erst auf mein Nachfragen erfuhr ich, wie sie in den Besitz der Dokumente gelangt sind. Diese Antworten darauf waren knapp und umrahmt von Sätzen wie »Es ist jetzt zwei Jahre her, da will ich mich nicht festnageln« (IR) oder »Aber ich weiß es auch nicht mehr so genau« (IU). Wieso dieser Moment nicht klar erinnert wird, kann an der großen Zeitspanne liegen, aber auch daran, dass das Annehmen der Dokumente kein bewusst gewählter Akt ist, sondern eine Reaktion auf die Übergabe, vielleicht gerade zu einem Zeitpunkt, in dem die Bestürzung über den eingetretenen Tod alles andere überdeckte. Auf mein Nachfragen habe ich von den Angehörigen erfahren, wer ihnen das Dokument übergeben hat. Drei der vier haben es nach dem Tod der Verfasser_innen von der entsprechenden WzT-Therapeutin erhalten (vgl. IR, IT, IU). Im vierten Fall händigte der Patient das Dokument selbst noch zu Lebzeiten seinem Sohn aus (vgl. IS). Gemäß der Therapeutin, von der das einleitende Zitat stammt, scheint die Mehrheit der Patient_innen die delegierte Übergabe – nach deren Tod – zu wählen. Gründe für diese Wahl fasst sie mit folgenden Worten zusammen: Ich habe gerade überlegt, ob das so etwas ist wie, weil da auch Worte drinstehen, die natürlich … Also das Thema Hinterlassenschaft mit mir in dieser therapeutischen Situation zu besprechen, ist, glaube ich das eine. Aber den Angehörigen zu sagen: ›Das habe ich für euch gemacht, damit etwas von mir überdauert als Vermächtnis, als Andenken. Weil, wie ihr wisst, muss ich sterben‹, ist nochmals eine andere Nummer. Und eine Angehörige war auch mal im Zimmer und hat diese Fragen gelesen und, ich habe das in dem Artikel geschrieben, sie hat gesagt: ›Wer es nicht wissen will, wird hier ganz klar mit dem Tod und dem Sterben konfrontiert.‹ Vielleicht ist es sowas. Vielleicht so dieses: ›Es ist uns allen bewusst und ich sterbe, aber wir müssen es jetzt nicht noch thematisieren.‹ Genau, das würde ich sagen, ist so der Grund. (IL)
Das Dokument aus der WzT als Hinterlassenschaft bejaht den bevorstehenden Tod als ein Ereignis, das durch ärztliche Befunde sowie verwundete und leidende Körper ohnehin schon absehbar ist. Angehörige mit einer weiteren auf den Tod
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hinweisenden Botschaft zu konfrontieren, erscheint in den Augen der Therapeutin als herausfordernd und als möglicher Grund, weshalb Patient_innen diesen Akt meiden. In dieser Überlegung schwingt eine Ablehnung der doppelten Präsenz von sterbenden Patient_innen und auf den Tod hinweisender Hinterlassenschaft mit. Dass es aber Patient_innen gibt, die dennoch die Übergabe zu Lebzeiten wählen, habe ich bereits erwähnt. Im folgenden Kapitel wird dieser Art der Übergabe nachgegangen und dargelegt, wie Angehörige die erwähnte doppelte Präsenz erleben. Exkurs: Übergeben und die Figur des Boten Das Übergeben der Generativitätsdokumente durch eine Drittperson erinnert an das Überbringen von Botschaften und an die Figur des Boten: eine Figur, die in den Medienwissenschaften (Krämer 2011), den Geschichtswissenschaften (Schürch 2014; Schwinges/Wriedt 2003; Hübner 2012) oder in kulturwissenschaftlichen Ansätzen (Esslinger 2010; Bedorf u. a. 2010) für theoretische Überlegungen fruchtbar gemacht wurde. Sybille Krämer skizziert in ihrem Aufsatz »Der Bote als Topos oder: Übertragung als eine medientheoretische Grundkonstellation« (2011) Ansätze einer Medientheorie, die in der »(archaischen) Botenfigur« (ebd.: 53) fundiert sind. Krämer attestiert der Figur des Boten sieben Attribute.91 Durch die Adaption ihrer Überlegungen an das Übergeben in der WzT können einzelne Charaktereigenschaften dieser Praktik pointiert beschrieben werden. Und so bediene ich mich Krämers Ausführungen nun nicht als Analyseinstrument medientheoretischer Fragen, sondern als Beschreibungswerkzeug. Dafür habe ich drei Attribute ausgewählt, die im Folgenden an das Übergeben herangetragen werden. Mit dem ersten Attribut »Distanz als Heterogenität« (Krämer 2011: 58) hebt Krämer hervor, dass Boten »zwischen heterogenen Welten (Feldern, Systemen) [stehen], zwischen denen sie etwas übertragen, um eben dadurch das voneinander Verschiedene in einen Zusammenhang zu bringen und zu versetzen« (ebd.: 58). Sie ergänzt, dass die Distanz aber »›nur‹ überbrückt und eben dadurch als Differenz bewahrt und zugleich handhabbar gemacht wird« (ebd.: 59). Auch die Therapeut_innen überbrücken eine Distanz und machen diese im Akt der Übergabe als solche kenntlich: eine Distanz, auf die gewisse Patient_innen bewusst warten, wie die zitierte Therapeutin erläutert hat. So wie das schriftliche Generativitätsdokument die Erzählenden nur repräsentiert und dabei stets eine 91 1. Distanz als Heterogenität; 2. Heteronomie des Boten; 3. Drittheit als Keimzelle der Sozialität; 4. Indifferenz und diabolische Entgleisung; 5. Materialität und Äußerlichkeit; 6. Ontologische Neutralität; 7. Spurenlesen als Umkehrfunktion des Botengangs (Krämer 2011: 58ff.).
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Distanz zu ihnen aufrechterhält, so sind auch die übergebenden Therapeut_innen nur Stellvertretende, die zwar die Übermittlung der Botschaft ermöglichen, jedoch nur im Namen der Absender_innen. Der Blick auf das zweite Attribut nach Krämer ist deshalb gewinnbringend für die vorliegende Thematik, weil es nun gerade nicht an das Übergeben der Generativitätsdokumente adaptiert werden kann und dadurch eine Eigenschaft der generativen Erzählung hervorhebt, die im Verlauf dieser Studie immer wieder thematisiert wurde und hier nochmals unterstrichen wird. Unter der Überschrift »Heteronomie des Boten« (Krämer 2011: 59) hält Sybille Krämer Folgendes fest: »Der Bote ist nicht Ursprung von dem, was er tut. Er empfängt und gibt weiter, was gerade nicht von ihm erzeugt wurde.« (Ebd.: 59) Die generative Erzählung, also das, was in der WzT erzeugt wird, ist Ergebnis einer Ko-Konstruktion, in der auch Therapeut_innen mitwirken. Durch die Interviewführung, das Editieren, das Vorlesen und den Druck der Dokumente gestalten die Therapeut_innen die Botschaft mit. Sie sind also sehr wohl Erzeuger dessen, was sie weitergeben. Schließlich soll mit »Materialität und Äußerlichkeit« (Krämer 2011: 61) das fünfte Attribut der Botenfigur betrachtet werden: »Was immer die Botschaft ist: Sie muss aus der Situation ihrer Genese ablösbar, transportierbar, überbringbar sein.« (Ebd.: 61) Auch die generative Erzählung aus der WzT kann nur deshalb in dieser Form übergeben werden, weil sie aus »der Situation ihrer Genese« abgelöst wurde; ermöglicht durch die transformierende Konservierung in Form von Audioaufnahme, Verschriftlichung und Druck. »Materialität und Äußerlichkeit« (Krämer 2011: 61) stehen nach Krämer auch im Zusammenhang mit Mobilität und Immobilität: »Die Mobilität der Botschaft, die sich im Botengang verkörpert, kommt der Botschaft allein in der Äußerlichkeit ihres materialen Trägers zu, demgegenüber ihr Gehalt möglichst immobil zu halten ist.« (Ebd.: 61) Übergebende Therapeut_innen in der WzT mobilisieren die Generativitätsdokumente in ihrem »materiellen Ding-Sein der Dinge« (Meier u. a. 2015: 21) durch ihren Körper. Weil dieser Distanzen überwinden kann, gelangen die Dokumente von einem Ort zum anderen. Dabei wird aber »ihr Gehalt« (Krämer 2011: 61) respektive die sprachlich-narrative Form der Botschaft nicht verändert bzw. nicht mehr verändert. Denn vom mündlichen WzT-Interview bis zum finalen Editierakt nach dem Vorlesen war der »Gehalt« durchaus mobil. Erst nach dem finalen Druck wird dieser immobilisiert. In der Adaption der drei Attribute, die Sybille Krämer der Figur des Boten zuschreibt, treten Eigenschaften der generativen Erzählung in Erscheinung, die im Verlauf dieser Studie an unterschiedlichen Stellen bereits herausgearbeitet wurden. Die Erzählung ist ein ko-konstruiertes Ergebnis, das durch seine materiell-mediale Dimension aus der Entstehungssituation ablösbar ist, Distanzen überwinden kann sowie in dieser materiell-medialen und in der körperbedingten Mobilität – durch die Körper der Übergebenden – zu einer »übergebbaren«
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Erzählung wird, deren »Gehalt« spätestens nach dem finalen Druck unverändert bleibt. Auch wenn die Erzählung im Moment des Übergebens gemäß dem Verständnis von Erika Fischer-Lichte entkörpert ist, ist es dennoch ein Körper, der eingesetzt wird, um die Erzählung zu übergeben. Die körperlich-leibliche Dimension spielt also auch in der Praktik des Übergebens eine Rolle. Während die sprachlich-narrative Dimension immobil gehalten wird, mobilisiert der KörperLeib die generative Erzählung, gibt sie aus seinen in andere Hände. Und ein neuer Körper-Leib – ein neuer deutender und erfahrender Mensch, der noch nicht als Erzählender, Tippender oder Lesender im Transformationsprozess der generativen Erzählung involviert war – eignet sich die Erzählung an.
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Lesen und Besitzen: Präsenz und Repräsentation Das ist so beeindruckend. Das hat mir so viel gegeben. Auch so viel Freude. (Angehöriger)92
Wie bereits mehrfach erläutert, soll die WzT nicht nur Menschen mit einer lebensverkürzenden und lebensbedrohlichen Krankheit unterstützen, sondern auch ihre Angehörigen. Mit der Übergabe der generativen Erzählung erhalten diese eine an sie gerichtete Hinterlassenschaft, die solch eine unterstützende Rolle übernehmen und – wie das einleitende Zitat zeigt – auch Freude schenken kann. Gerade weil die Angehörigen Teil der WzT sind, sollen auch ihre Handlungen mit der generativen Erzählung beleuchtet werden. Auf der Basis von problemzentrierten Interviews mit Angehörigen93, die ich mit der fokussierenden und erzählgenerierenden Frage »Wie kam es, dass Sie dieses Dokument aus der Würdezentrierten Therapie erhielten?« eröffnete, stehen im Folgenden das Lesen und Besitzen der generativen Erzählung und die daraus resultierenden Folgehandlungen im Zentrum. Um sich dem Umgang mit den Dokumenten anzunähern, verweise ich zunächst auf Chochinovs Handbuch, gebe dann einen Überblick über die vier Interviews und die Interviewpartner_innen und referiere im Anschluss das Konzept der »Präsenz« als Basis der Analyse. Abschließend stehen drei Aspekte im Zentrum, die durch die inhaltlich-strukturierende Analyse herausgearbeitet wurden: das erstmalige Lesen und dessen Aufschiebung, das Aufbewahren und das Weitergeben. Dabei wird deutlich, dass nicht nur das Lesen der generativen Erzählung wirkungsmächtig ist, sondern auch der Besitz dieses dinglichen Dokuments, wodurch Handlungen gefordert, angeboten, aber auch das Verwehren von Handlungen zugelassen werden. 92 IU. 93 Weitere Ausführungen über das problemzentrierte Interview und mein methodisches Vorgehen finden sich in Kapitel III.4.
Lesen und Besitzen: Präsenz und Repräsentation
7.1
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Lesen nach Chochinov
Nach Chochinov soll im Vorgespräch oder während der WzT-Sitzung geklärt werden, für wen die Patient_innen das Dokument verfassen möchten. Er hält fest: Identifying a potential recipient(s) of the document prior to or during the therapy session can make referring to certain people within the interview more tangible, and allows patients to shape their responses with particular individuals in mind. This usually makes for a more effective and meaningful document, as opposed to one that can seem generic when the patient has no particular recipient in mind. (Chochinov 2012: 75)
In seinem Handbuch betont er, wie wichtig es ist, dass Therapeut_innen diese Adressat_innen stets mit bedenken und sich dabei vor Augen führen, für wen gerade erzählt wird. Dieser Fokus lässt nach Chochinov ein Eingreifen zu, gerade dann, wenn Erzählungen aufgrund von fehlenden Details für die entsprechenden Empfänger_innen un- oder missverständlich erscheinen oder aber verletzend wirken können (vgl. Chochinov 2012, 86–89).94 Auf die Praktik des Lesens nimmt er aber nicht explizit Bezug. Dies ist naheliegend, liefert sein Buch doch eine schrittweise Anleitung für die Durchführung der Intervention, und diese endet mit der Übergabe des Dokuments an die Patient_innen oder Angehörigen. In der Praxis geht die therapeutische Unterstützung teilweise jedoch weiter – nun mit Fokus auf die Angehörigen. So bieten die Therapeut_innen Nachgespräche an oder drücken mit der Weitergabe ihrer Kontaktdaten dieses Angebot aus.
7.2
Die Interviews
Durch die gewählte Methode konnte der Umgang mit den generativen Erzählungen nicht in seinem Vollzug beobachtet werden. In den Interviews fand aber eine sprachliche Repräsentation dieses Vollzugs als ein »Reden über« statt. Die interviewten Angehörigen wurden mir durch die verantwortlichen Therapeut_innen vermittelt. Es handelt sich um zwei Männer, die ein Dokument von ihren verstorbenen Ehefrauen erhielten, sowie einen Sohn und eine Tochter, die im Besitz eines Dokuments ihrer verstorbenen Väter waren. In den Gesprächen mit den zwei erstgenannten Interviewpartnern war die Trauer um den Verlust stark präsent. Wiederkehrendes Weinen, zittrige Stimme und die Klage um den eingetretenen Tod prägten die Begegnung mit mir. Beide Angehörige gaben zu erkennen, dass sie noch nicht über den Tod ihrer Ehefrauen hinweggekommen waren (vgl. IU, IT). Sie sahen in mir eine unterstützende Zuhörerin, suchten bei 94 In Kapitel IV.2 wird diese Adressat_innenorientiertheit intensiver behandelt.
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mir Rat und drückten dabei immer wieder ihre Dankbarkeit aus. In diesen Interviews war es für mich herausfordernd, den Fokus auf die WzT und die generative Erzählung zu richten, schien es den Angehörigen doch vielmehr ein Anliegen zu sein, über den Krankheitsverlauf, die Klinik- und Hospizaufenthalte und das Abschiednehmen zu sprechen. Auch wenn ich mich in meiner Analyse auf jene Interviewinhalte konzentriere, die die generative Erzählung zum Thema haben, gilt es festzuhalten, dass ein Reden über das Lesen und Besitzen der generativen Erzählung ein Reden über und von den Erzählenden, die hinter der Erzählung stehen, aktiviert. Die Interviews mit dem Sohn und der Tochter gestalteten sich anders, waren weniger emotional und ließen daher mehr Raum für Rückfragen meinerseits. Mögliche Gründe für die Unterschiede zwischen der ersten und der zweiten Interviewgruppe können sowohl im Interviewzeitpunkt als auch im Alter der Verstorbenen liegen. Bei den zwei Ehemännern lag der Tod der Partnerinnen zum Zeitpunkt des Interviews vier und sechs Monate zurück, beim Sohn zehn Monate und bei der Tochter zwei Jahre. Ein Gespräch über den Tod eines geliebten Menschen – und zu einem solchen Gespräch wurden die Interviews –, der vor einem halben Jahr verstarb, verhält sich anders als ein Gespräch über den Tod eines geliebten Menschen, der vor zwei Jahren verstarb. Trauer, Unverständnis und Schmerz können im ersten Fall präsenter sein und noch viel deutlicher im Vordergrund stehen. In der Auswahl meiner Interviewpartner_innen habe ich auf die Einschätzungen der zuständigen Therapeut_innen vertraut. Sie haben das Potential einer möglichen Überforderung durch die Teilnahme an meiner Studie überdacht und mir nur Angehörige vermittelt, denen die Teilnahme zugemutet werden konnte. Neben dem Interviewzeitpunkt unterscheidet sich auch das Alter der Verstorbenen. Während es sich bei den Angehörigen, deren Trauer noch stark spürbar war, um Menschen handelte, deren Ehefrauen noch vor dem 50. Lebensjahr verstorben sind, waren die Väter der anderen zwei Interviewpartner_innen bereits über 70 Jahre alt – ein Alter also, in dem der natürliche Tod eher erwartbar ist.
7.3
Analytische Basis: die Wirkungsmacht der Präsenz
Voraussetzung für die Rezeption der generativen Erzählungen als Artefakte des Geschriebenen sind deren Präsenz, das Wissen um diese und ein möglicher Zugang. Präsenz verstehe ich wie Markus Hilgert als »theoretisches ›Scharnier‹ zwischen der artefaktischen Materialität des Geschriebenen und seiner handlungswirksamen Effektivität« (Hilgert 2014: 159). Mit »Effektivität« meint Hilgert die »›Wirkung‹ auf menschliches Handeln«. Präsenz ist also kein »›passives‹
Lesen und Besitzen: Präsenz und Repräsentation
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Vorhanden-Sein« (Hilgert 2010: 99), sondern »etwas, das für Menschenhände greifbar« sein soll, »was dann wiederum impliziert, dass es unmittelbar auf menschliche Körper einwirken kann« (Gumbrecht 2014: 11, zit. bei Hilgert 2014: 159). Dieses Einwirken auf Körper geschieht etwa, wenn Artefakte durch Hände berührt oder Augen gesehen werden. Präsente Artefakte können Handlungen provozieren und Handlungsmöglichkeiten anbieten. Dabei ist der Körper Teil dieser Handlung und wird durch die Präsenz des Artefakts beeinflusst. Neben dieser körperlich-leiblichen und der damit verbundenen materiellmedialen Dimension gehört zum Wissen um die Präsenz der generativen Erzählung aber auch das Wissen um die dritte Dimension: die sprachlich-narrative.95 Dabei geht es nicht um das exakte Kennen des Inhalts, sondern um eine Vorahnung dessen, was die Erzählung verspricht, z. B. induziert durch den Titel des Dokuments. Durch die Präsenz der generativen Erzählung in ihrer Mehrdimensionalität entfaltet das Geschriebene seine »›Effektivität‹« (ebd.: 103). Sowohl Präsenz als auch »Effektivität« sind »Ergebnis[se] sozialer Praktiken und damit ebenfalls Ausdruck handlungswirksamer Wissensordnungen und Sinnzuschreibungen« (Hilgert 2010: 103). Während ich für die folgenden Ausführungen das Konzept der Präsenz als analytische Basis verwende, gewinnt die in der Präsenz der Erzählung liegende Repräsentation an Bedeutung – eine Repräsentation, verstanden als »making present in some sense of something which is nevertheless not present literally or in fact« (Pitkin 1967: 8f.). Oder anders formuliert: ein Vergegenwärtigen jener verstorbenen Menschen, die in der generativen Erzählung aus ihrem Leben berichten.
7.4
(Erstmaliges) Lesen (aufschieben)
In den problemzentrierten Interviews habe ich die Angehörigen nach dem Zeitpunkt des erstmaligen Lesens gefragt. Drei der vier Angehörigen haben das Dokument nach dem Tod des geliebten Menschen erhalten und somit auch erst nach dessen Tod gelesen (vgl. IR, IU, IT). Den Zeitpunkt konnten sie nur ungefähr wiedergeben. Zwei dieser Angehörigen haben das Dokument sehr zeitnah nach dem Tod gelesen96, ein Ehemann spricht davon, dass er »einige Zeit vergehen ließ« (IT). Und einer der Angehörigen hat das Dokument schon zu Lebzeiten seines Vaters erhalten und es auch vor dessen Tod gelesen (vgl. IS). Während 95 Zur sprachlich-narrativen Dimension gehören formale und inhaltliche Aspekte. Meine Ausführungen zu den einzelnen Dimensionen finden sich im Kapitel II.1. 96 Während eine Angehörige von »um den Zeitpunkt seines Todes« (IR) spricht, erzählt ein anderer: »Es war bestimmt zeitnah. Ich habe es bestimmt nicht lange irgendwo liegengelassen, sondern, als ich nach Hause ging, habe ich es dann wohl gelesen« (IU).
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dieser Angehörige betonte, dass er zum Zeitpunkt unseres Gesprächs das Dokument erst einmal gelesen hatte, konnten sich die anderen Angehörigen nicht daran erinnern, wie oft es zu einem Wiederlesen kam. Wenn also die Angehörigen IR, IU und IT von ihren Leseerfahrungen erzählen, beziehen sich diese nicht explizit auf das erstmalige Lesen. Alle vier Angehörigen schildern das Lesen als Erfahrung, die sie in irgendeiner Form berührte. So erzählt ein verwitweter Ehemann: »Das ist so beindruckend. Das hat mir so viel gegeben. Auch so viel Freude.« (IU) Ein anderer schildert, dass ihm das Dokument Sicherheit, Bestätigung und Beruhigung gibt: Es tut einfach gut. Es tut einfach gut. Also – eine Restunsicherheit bleibt trotzdem immer; ist man ein guter Sohn gewesen, hat man sich genug gekümmert und so. So dass wir das schon einigermaßen in Frieden abschließen konnten, dieses Leben. Das ist dann schon auch beruhigend. (IS)
Diese Sicherheit gibt der zitierte Sohn (IS) nicht nur bezüglich der Bestätigung der gelungenen Beziehung an, sondern auch in Bezug auf die Erinnerungen an seinen Vater: Ich glaube, es bietet ein bisschen Sicherheit. Weil man doch vielleicht so ein bisschen Angst hat, das ist vielleicht eine irrationale Angst, dass Dinge in Vergessenheit geraten. Und so hat man was schwarz auf weiß irgendwo liegen. Aber man weiß, wo man es nachschlagen kann. Ich glaube, es gibt schon Sicherheit. In diese Grundangst, man wird etwas vergessen – also man wird meinen Vater nicht vergessen, aber einfach … Da ist noch was, was man auch so mal nachschlagen könnte. Was auch ihn so ein bisschen repräsentiert. Das ist schon auch gut und zwar auch im geschriebenen Wort, also so wie er spricht. Das finde ich dann schon gut. Also ich meine Bilder gibt es natürlich auch. Die holen einen auch nochmals zurück in irgendwelche Erinnerungen. Deswegen … Dass man da beides hat, finde ich schon ganz schön. Ja. (IS)
Der Angehörige äußert in diesem Zitat eine latente Angst, sein Vater respektive Erinnerungen an seinen Vater könnten in Vergessenheit geraten. In der Erzählung, die seinen Vater repräsentiert, sieht er eine Möglichkeit, dieser Angst entgegenzuwirken. Dabei verweist er auf die materielle Präsenz der Erzählung, die irgendwo »liegt« und in der man »nachschlagen« kann, was »schwarz auf weiß« steht. Er hebt die Bedeutung des »geschriebenen Wort[s]« hervor, das neben durch Fotos evozierte Erinnerungen eben auch daran erinnert, wie sich der Vater sprachlich artikulierte. Hinter diesem sprachlichen Festhalten steht die Leserlichkeit der Erzählenden97, also ihre Wiedererkennbarkeit in der sprachlich-narrativen Dimension. Die (rezipierenden) Angehörigen machen alle deutlich, dass sie die Erzählenden wiedererkennen. So schildert einer der Ehemänner: »Wie gesagt, ich habe das 97 Im Kapitel IV.4 fasse ich die Leserlichkeit der Erzählung und die Leserlichkeit der Erzählenden als wesentliche Editierstrategien zusammen.
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gelesen und es war sie selber. Wie sie es gesagt hatte.« (IU) Während dieser Angehörige auf die Form der Sprache verweist, thematisiert ein anderer das Wiedererkennen auf inhaltlicher Ebene, die ich ebenfalls zur sprachlich-narrativen Dimension zähle: Er [der Vater] war auch keiner, der einem so aufgedrückt hat, wie man zu leben hat. Er hat zwar seine Meinung gehabt; das findet er nicht so gut oder das findet er gut. Aber die Fehler hat er einen selber machen lassen. Deshalb sind auch die Ratschläge im Dokument eher milder ausgefallen. Halt so, wie er war. Genau. (IS)
In den milden Ratschlägen erkennt der Angehörige seinen Vater wieder, war dieser doch auch zu Lebzeiten kein Mensch, der »einem […] aufgedrückt hat, wie man zu leben hat«. Das Wiedererkennen seines Vaters in der Erzählung artikuliert der Angehörige als wertvoll: »Es ist zwar nur so ein Blitzlicht, aber ich finde schon: Das spiegelt ihn wider. Und das ist das Wertvolle daran für mich als Angehöriger.« (IS) Das »wertvolle« Wiedererkennen in der sprachlich-narrativen Dimension, sowohl auf formaler als auch auf inhaltlicher Ebene, ist gerade bei diesem Angehörigen ein spannendes Phänomen. Die Erzählung seines Vaters wurde in dessen Dialekt verschriftlicht und weist somit einen hohen Grad an konzeptueller Mündlichkeit auf (vgl. Koch/Oesterreicher 1985). Die editierende Person strebte wohl mit dieser Art der Verschriftlichung das Setzen von »Lesbarkeitshinweisen« (Hausendorf u. a. 2015: 121) an, die den Grad der Wiedererkennung erhöhen sollten. Koch und Oesterreicher sprechen sodann auch von »Affinitäten« zwischen einer starken diatopischen Markierung und Nähe (vgl. Koch/Oesterreicher 2007: 356). Nähe wiederum korrespondiert mit Vertrautheit, einem Charakteristikum, das Wiedererkennen vereinfacht. Doch gegen diese Schlussfolgerung hat der Leser die dialektale Verschriftlichung gerade nicht als nähersprachlich empfunden und ein erschwertes Lesen erlebt. Nachdem er mir den Dialekt seines Vaters imitierend nähergebracht hat, berichtet er: Das ist so auch geschrieben und das finde ich ein bisschen gefährlich. Zum einen spricht er auch so, aber zum anderen ist es bei dem Dialekt, wenn man den schreibt, auch so – wie soll ich das erklären? Es ist ein bisschen schwierig. Ich habe meine Art, wie ich den Dialekt schreiben würde, und der ist nicht unbedingt identisch mit dem, wie der Dialekt jetzt geschrieben wurde. Das heißt, ich muss so ein bisschen umdenken. Ich verstehe die Worte, natürlich verstehe ich den Sinn komplett. Aber ich würde es anders schreiben. Ich weiß schon, wie es von der Aussprache her ist, das kommt auf das Gleiche raus, aber da muss ich mitdenken und das fand ich schwierig bei dem Dokument. (IS)
Worin die »Gefahr« besteht, die der Rezipierende hier äußert, ist nur zu erahnen. Doch macht er im Anschluss deutlich, dass Schreiben im Dialekt ein individueller Akt ist. Und gerade diese Individualität – als Individualität der transkribierenden respektive editierenden Person – wird in der betroffenen generativen Erzählung
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mittransportiert. Da es sich beim Schreiben im Dialekt um ein Schreiben »ohne standardisierte Norm handelt, die ungesteuert auf der Basis der standardsprachlichen Orthographie erfolgt« (Christen 2004: 77f.), orientiert sich das Rezipieren eben nicht an einer normierten Vorgabe, sondern an der eigenen dialektalen Schreibweise. Stimmen die Schreibweisen nicht überein, kann es zu »Schwierigkeiten« kommen, die ein »Umdenken« und »Mitdenken« erfordern. Die theoretische Nähekonstruktion nach Koch und Oesterreicher verfehlt das Ziel, weil sie nicht der Sprachpraxis des Lesenden entspricht. Dies hängt aber nicht nur mit einer nicht »standardisierten Norm« zusammen, sondern auch damit, dass Dialekt primär mit medialer Mündlichkeit und nicht mit medialer Schriftlichkeit verbunden wird. Dialektale Schreibweisen bergen das Potential einer Kollision der doppelten Leserlichkeit in sich. Während mit dieser Schreibweise ein Wiedererkennen der Erzählenden angestrebt wird, kann darunter die semantische und syntaktische Leserlichkeit leiden und in einer Rückwirkung wiederum die Leserlichkeit der Erzählenden gehemmt werden. Nach den milden Ratschlägen und der dialektnahen Verschriftlichung als formale Aspekte der sprachlich-narrativen Dimension rückt nun nochmals die inhaltliche Ebene ins Zentrum. Dabei geht es um Schilderungen über Verwunderung und ausbleibende Verwunderung: »Wiedererkannt auf alle Fälle. Weil wie gesagt, wir haben zwei Jahre lang davor sehr intensiv gesprochen. Ich glaube, er hat ja auch mal gesagt: Du weißt ja Bescheid.« (IR) Die Tochter erzählt weiter, dass nichts im Dokument zur Sprache kam, worüber sie verwundert war. Während sie diese Nichtverwunderung nicht näher beschreibt, wertet ein anderer Angehöriger diese als »ein bisschen schade« (IS). Er fährt fort: »Die Sachen, die so drin vorkamen, habe ich die meisten schon gewusst.« (IS) Während das Ausbleiben einer Überraschung ein Wiedererkennen verstärken kann, schwingt beim zitierten Rezipienten eine gewisse Enttäuschung mit. Die großen unausgesprochenen Geschichten, die das Leben (vielleicht) auch noch schrieb, blieben aus. Neben der beschriebenen ausbleibenden Verwunderung erlebte einer der lesenden Witwer hingegen große Verwunderung. Dabei war er nicht verwundert über bis anhin Unausgesprochenes, sondern über die Erzählfähigkeit seiner verstorbenen Frau. Ich habe mir beim Lesen nur immer gedacht: Mensch, dass die das am Freitag noch zusammengebracht hat. Also sie war ja dann schon, wenn wir es so wollen, schon sehr behindert vom Kopf her, von den Gedanken her. Sie hat sich auch selber so schwergetan. Sie konnte dann manches nicht mehr aussprechen und sie hat dann gesagt: Mensch lieber Gott, ich werde ja immer dümmer. Und darum hat sie ja auch für sich selber, und das habe ich sicher auch ein Vierteljahr gehört, gesagt: Ich will so nicht mehr leben. Ich will sterben. (schluchzen) (IU)
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Im Wissen um die vorangegangene Transkription und Edition drängt sich die Frage auf, wie stark die Erzählung von der Therapeutin verändert wurde und inwieweit der Angehörige über das Prozedere der Edition informiert war. Diese Frage kann nicht beantwortet werden, da ich einerseits keinen Zugang zur Transkription und zum editierten Dokument hatte und andererseits an dieser Stelle im Interview nicht nachfragte und insistierte.98 Es lässt sich aber festhalten, dass der Ehemann eine solche Vermutung mir gegenüber nicht artikulierte. Er erkennt zwar eine gewisse Diskrepanz zwischen der von ihm erlebten mündlichen und der im schriftlichen Dokument manifestierten Erzählfähigkeit seiner Frau, deutet diese aber als Leistung: »Das ist eine Leistung von ihr gewesen, dass sie das so zusammengebracht hat. Da hat sie wahrscheinlich wirklich alle Kräfte nochmals zusammengenommen.« (IU) Hinter der anfänglich von mir bezeichneten »Verwunderung« steht also noch viel mehr. Es ist ein Erkennen und Anerkennen von Sprachmächtigkeit sowie ein Ausdruck von Stolz und Wertschätzung. Der Angehörige deutet das Erzählen seiner verstorbenen Frau als letzten Kraftakt, für den sie nochmals all ihre Stärke mobilisiert hat. Stand bis anhin vor allem die sprachlich-narrative Dimension im Zentrum, war auch die materiell-mediale Dimension der generativen Erzählung Thema in den Interviews. Während die interviewten Angehörigen in ihren Berichten immer wieder das Dokument als etwas, was sie in den Händen halten können, beschreiben, geht ein Angehöriger nach dem Stoppdrücken des Aufnahmegeräts nochmals intensiver auf diese Berührbarkeit ein. In meinem Forschungstagebuch habe ich seine eindringliche Aussage festgehalten. So sagte er: »Es war, als berührte ich meine verstorbene Frau.« (FT2) Die Berührung des Dokuments in seiner haptischen Präsenz fühlt sich für den Angehörigen wie das Berühren seiner nun physisch abwesenden Ehefrau an. Die materielle Präsenz der generativen Erzählung macht eine Berührung des verstorbenen Körpers im Als-obModus möglich.99 Durch die materiell-mediale Dimension des Dokuments lässt sich der Körper-Leib der einst noch präsenten Erzählerin im Moment der Berührung erinnernd nachspüren. 98 An dieser Stelle verspürte ich während des Interviews Hemmungen, den Angehörigen danach zu fragen, ob er über die editierende Tätigkeit der Therapeutin informiert worden war. Hintergrund dieser Hemmung war die Befürchtung, das Bewusstmachen des editorischen Eingriffs könnte beim Patienten zu einem Irritationsmoment führen. 99 Martin Scharfe geht in seinem Aufsatz »Letzte Dinge« auf die Verflechtung von Menschen und Dingen am Ende des Lebens und nach dem eingetretenen Tod ein. Er betont dabei den Stellenwert der Berührbarkeit: »Schon die ›dingliche Erinnerung‹ ist eine an sich zwar alltägliche, letztlich aber doch denkwürdige Erscheinung: die Tatsache nämlich, dass uns die Erinnerungen an einen lieben Verstorbenen oft mehr als aus einem Foto, einem Bild oder einem Text aus Gegenständen entgegenspringen, die wir berühren und in die Hand nehmen können – aus einer Schere vielleicht, einem Schlüssel, einem Stein« (Scharfe 2003: 1ff.).
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Die Präsenz der Erzählung in ihrer sprachlich-narrativen und materiell-medialen Dimension lässt aber auch Rückschlüsse auf ihren Herstellungsprozess zu. Die Erzählung als Dokument und Artefakt erscheint als gebundenes Heft, das manchmal auch über ein farbiges Titelblatt verfügt. Diese Erscheinung kann dankbar machen. So erzählt eine Angehörige: Ich finde es einfach schön mit dem Dokument, dass die Psychologin sich die Mühe gemacht hat, das alles zu dokumentieren. Dazu gehört ja auch eine gehörige Portion Arbeit. Sie hat auch vorne und hinten so eine schöne Illustrationsmappe darauf gemacht. Und – sie hat sich viel Mühe gegeben. In dem Moment, man weiß es eigentlich gar nicht so zu schätzen, was für eine Arbeit dahintersteckt. Aber so im Nachgang … Weil es ja auch so ein gebundenes Exemplar ist … Es war bestimmt viel Arbeit gewesen. Und es ist schön, dass das gemacht wird. (IR)
Der durch die materiell-mediale Dimension vorstell- und rekonstruierbare Herstellungsprozess des Dokuments lässt die Angehörige das Engagement und »die Mühe« der Therapeutin erkennen. Gerade auch im Dokument als »gebundenes Exemplar« erkennt die Angehörige einen Arbeitsaufwand, den sie zu schätzen weiß, auch wenn sich diese Wertschätzung erst allmählich wirklich entfaltete. Weil nicht alle Angehörigen die Erzählung zeitnah nach dem Erhalt gelesen haben und diese Tatsache im Interview mit mir thematisierten, interessiert das Lesen in diesem Kapitel auch als aufgeschobenes Lesen. Der angehörige Sohn, der das Dokument noch zu Lebzeiten seines Vaters bekommen hatte, schildert dieses Aufschieben wie folgt: Ich habe es nicht direkt gelesen. Ich habe es bestimmt eine Woche liegen gelassen. Weil wir da … Da habe ich selbst noch so ein bisschen in der Verdrängung gelebt. Aber da waren wir noch guter Hoffnung, würde ich sagen, dass das auch erstmals ausgestanden ist. […] Deshalb war da … Da ging’s ja noch um Therapie. Da ging es noch um Chemotherapie machen und da habe ich es erstmals ein bisschen liegen gelassen. (IS)
Die generative Erzählung aus der WzT fungiert als Hinterlassenschaft. Doch wenn es noch kein »Hinter«, kein »nach dem Tod« gibt und dieser noch als entferntes Ereignis erhofft wird, dann wird, wie im vorliegenden Fall, das Rezipieren aufgeschoben. Warum also eine Hinterlassenschaft, die den erzählenden Patienten repräsentieren soll, rezipieren, wenn er doch selbst noch präsent ist? »Es war was Anderes dran und ich habe gedacht, ich brauche jetzt noch keine Hinterlassenschaft. Sondern jetzt habe ich ihn noch. Jetzt ist er noch da.« (IS) Der Angehörige weiß um die Präsenz des Dokuments, schiebt die direkte Rezeption jedoch auf. Das Lesen wird dabei nicht etwa aufgeschoben, weil es sich beim Dokument, und jetzt verweise ich auf die historische Textkulturforschung, um
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eine »restringierte Präsenz« (Hilgert 2010: 95)100 handelt – eine Präsenz also, die durch äußere Bedingungen eine Rezeption unmöglich macht –, sondern weil der Angehörige von seiner Handlungsfreiheit Gebrauch macht und sich der Rezeption vorläufig entzieht. Es handelt sich dabei also eher um eine selbstrestringierende Präsenz, die einen handlungsmächtigen Akteur verlangt. Mit dem Verschlechtern des Gesundheitszustandes kam es – wie bereits zu Beginn des Kapitels erläutert – trotzdem noch zu einem Rezipieren zu Lebzeiten des Vaters. Dieser äußerte mehrfach den Wunsch nach einer Rezeption durch den Sohn: »Und bei mir hat es ja, wie gesagt, auch ein bisschen gedauert, bis ich es gelesen habe. Und sogar so, dass mein Vater fragte: ›Und hast du es jetzt gelesen?‹ Und ich habe gesagt: ›Nee, noch nicht.‹ ›Und hast du es jetzt gelesen?‹ ›Nein. Immer noch nicht.‹« (IS) Das Übergeben der generativen Erzählung zu Lebzeiten kann bei den Absender_innen den Wunsch entstehen lassen, von den Adressat_innen etwas über jene Inkorporation zu erfahren, die beim Vorlesen imaginiert werden kann (vgl. Kapitel IV.5). Es bietet die letzte Möglichkeit zu erfahren, wie das Erzählte auf die Rezipierenden wirkt. Es kam laut dem Angehörigen jedoch nicht mehr zu einem intensiveren Austausch über das Dokument, denn: »Es war zum Ende hin dann kein Thema mehr. Es war … Es [das Dokument] war halt vorher abgeschlossen und stand dann nicht mehr auf der To-do-Liste sozusagen. Was auch ganz gut war, weil dann einfach andere Dinge besprochen werden konnten.« (IS) Ein gemeinsames intensives Besprechen der Hinterlassenschaft war nicht an der Zeit und das war für den Angehörigen »ganz gut«, gab es jetzt doch Raum für andere klärende Gespräche. Die Präsenz der generativen Erzählung lädt zum Rezipieren ein, kann bei gleichzeitiger physischer Präsenz der Verfasser_innen bei diesen aber auch zu einer Leseerwartung und auf Seiten der Adressat_innen zu einem Leseaufschub führen. Dass sich das Leseerlebnis bei gleichzeitiger Präsenz anders verhält als nach dem Versterben der Erzählenden, drückt der zuvor zitierte Angehörige, der das Dokument bereits zu Lebzeiten des Vaters gelesen hat, als Vermutung aus: Und wie gesagt, deshalb war es für mich als Angehöriger noch nicht so wichtig. Das wird, glaube ich, erst im Nachhinein richtig wichtig. Beim Lesen da, da hat noch die Rationalität im Vordergrund gestanden. Da war das noch nicht so emotional beim Lesen. Es war schon auch emotional. Aber ich glaube, wenn man es danach liest, ist es nochmal was anderes. (IS) 100 Hilgert definiert restriktive Präsenz folgendermaßen: »Einen typologischen Sonderfall stellen diejenigen Arrangements von Objekten und Körpern dar, innerhalb derer ein oder mehrere Artefakte mit Sequenzen sprachlicher Zeichen so platziert sind, dass nur bestimmte oder gar keine Akteure dieses Geschriebene temporär oder permanent rezipieren können. Solche Arrangements weisen eine restringierte Präsenz des Geschriebenen auf« (Hilgert 2010: 95).
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Chochinov bezeichnet die generativen Erzählungen aus der WzT im Untertitel seines Handbuchs als »Final Words for Final Days« (Chochinov 2012). Nach seiner Konzeption wird den Patient_innen in der WzT die Möglichkeit gegeben, in ihren »letzten Tagen« nochmals abschließende »letzte Worte« weiterzugeben. Wenn der Tod noch nicht eingetroffen und die sprachliche Ausdrucksfähigkeit noch gegeben ist, Erzählende und Erzählung ko-präsent sind, kann die Wirkung während des Lesens eine andere sein; die letzten Worte sind dann eben noch nicht die letzten Worte und sie können folglich auch nicht zu »ersten Worten« werden. Denn für die Angehörigen sollen diese »final Words« eigentlich gerade keine letzten Worte sein, sondern Worte, die den Tod des Erzählenden überdauern und als »erste Worte« in das Leben danach integriert werden. Und damit spiele ich auf die Überlegungen des Volkskundlers Martin Scharfe an, der in seinem Aufsatz »Letzte Dinge« (2003) eben auch über »erste Dinge« spricht. Scharfe bezeichnet »Dinge, die vor dem Tod noch einmal besonderes Gewicht erhalten«, als »letzte Dinge« (Scharfe 2003: 167) und Dinge, »die den Menschen ›überleben‹, die zwischen den Generationen weitergereicht, von den Alten zurückgelassen und von den Jungen übernommen und neu angeeignet werden«, als »erste Dinge« (ebd.: 173). Dieses »Neuaneignen« vergleicht Scharfe mit einem Gemälde von Hans Thoma, das Mutter und Tochter beim gemeinsamen Bibellesen zeigt. Scharfe fordert seine Lesenden auf, sich vorzustellen, wie die Mutter, die ohne Kontextwissen für die Groß- oder Urgroßmutter gehalten werden könnte, die Bibel aus der Hand legt und die Enkelin oder Urenkelin das Buch »aufs Neue« annimmt und darin liest: »[E]in Bild dafür, wie ›letzten‹ Dingen in der Aneignung durch die Nachkommenden neue Qualität zugesprochen wird.« (Ebd.: 173) Um die Überlegungen von Scharfe auf die generative Erzählung aus der WzT zu adaptieren, rufe ich nochmals vor Augen, welche Intentionen mit der Erzählung und dem Erzählen verfolgt werden: Durch das Erzählen und das Kreieren eines Generativitätsdokuments soll das Würdeempfinden der Patient_innen erhalten und gestärkt werden. Gerade in der Generativität, die Chochinov als »finding ways of prologing one’s influence across time in the service of others« (Chochinov 2012: 37) beschreibt, liegt ihm zufolge ein solch würdebewahrendes und würdestärkendes Potential. Zudem sollen auch die Angehörigen von dem Generativitätsdokument profitieren und dadurch insbesondere in ihrer Trauerphase unterstützt werden. Die Generativitätsdokumente – und das ist ein wesentlicher Unterschied zu Scharfes Bibellesebeispiel – sind also Worte und Artefakte, die explizit als »letzte Dinge« geschaffen werden, um zu »ersten Dingen« zu werden. Dabei sollen, und das ist ein weiterer Unterschied zu Scharfes Thomas-Interpretation, die Verstorbenen auch explizit in diesen »letzten« respektive ersten Worten repräsentiert werden. Das Bedürfnis einer Konfrontation mit dieser Repräsentation kann weniger stark sein, wenn die Erzählenden noch
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leben und als solche nach wie vor präsent sind. So schiebt der Sohn eine »neue Aneignung« der Erzählung auf, weil er noch kein Bedürfnis nach einer Repräsentation seines Vaters hat. Das Generativitätsdokument ist noch kein »letztes Ding« und will folglich auch noch nicht als »erstes Ding« angeeignet werden; es will noch nicht als solches transformiert werden. Denn wenn Aneignung ein Zusprechen von »neuer Qualität« ist, dann geschieht dabei auch eine Transformation der Erzählung. Sie bleibt in ihrer sprachlich-narrativen und materiellmedialen Dimension erst einmal unverändert, doch es ist ein anderer KörperLeib, der im Lesen die Erzählung »inkorporiert«. Und diese Inkorporation soll – im Sinne der WzT – gerade deshalb stattfinden, weil der Erzählende selbst die Erzählung nicht mehr verkörpern kann. Dass es sich um ein anderes Lesen handelt, wenn die Erzählenden schon verstorben sind, kann also mit einem Sicheinlassen auf die neue Aneignung und die Transformation der Erzählung zusammenhängen; eine Aneignung, die die Intentionen der WzT annimmt, letzte Dinge zu ersten macht und sich auf die Repräsentation der Erzählenden – das Vergegenwärtigen von etwas, das nicht gegenwärtig ist (vgl. Pitkin 1967: 8f.) – einlässt.
7.5
Aufbewahren: Schrank, Kiste, Schublade und Koffer
Die physische Präsenz des Generativitätsdokuments verlangt eine Verortung, derer sie sich nicht entziehen kann. Ob diese Verortung bewusst oder unbewusst gewählt wird, ist erst einmal irrelevant. Doch das Dokument wird an einem Ort platziert. An diesem Ort schafft es Beziehungen zu seiner Umgebung und wird von dieser auch mitgestaltet. In den Interviews mit den Angehörigen habe ich nach dem Aufbewahrungsort der Dokumente gefragt. Genannt wurden Schrank, Kiste, Schublade und Koffer. Diese Aufbewahrungsorte sind Dinge, die Räume schaffen. Es sind Dinge, die in ihrer Dreidimensionalität einen Behälterraum schaffen, dabei aber auch als Objekt in einem Raum verortet sind. Dinglichkeit und doppelte Räumlichkeit stehen in Beziehung zueinander und laden sich gegenseitig mit Bedeutung auf. Artefakt101 und Raum sind nicht voneinander getrennt, sondern »vielmehr untrennbar aufeinander bezogen« (Schroer 2008: 141). Alle Aufbewahrungsorte sind Räume und Dinge, die durch unterschiedliche Öffnungs- und Schließmechanismen den Innenraum von einem Außenraum abgrenzen. Dieser Verschluss kann als Ausdruck von Intimität verstanden wer101 Ich orientiere mich an der Definition von Markus Hilgert: »Der Begriff ›Artefakt‹ bezeichnet hier allgemein ein kulturell modifiziertes Objekt, jegliches durch direkte menschliche oder technische Einwirkung entstandene Produkt oder Phänomen« (Hilgert 2010: 87).
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den. Jedoch wird dadurch nicht nur ein Ausschluss vor anderen Augen angestrebt, sondern, wie im Falle eines Angehörigen, auch ein Ausschluss vor sich selbst. Dabei verhindert der verschlossene Schrank eine andauernde Konfrontation mit dem Dokument, kann dadurch handlungsentlastend wirken – die Unsichtbarkeit bietet keinen visuellen Stimulus – und macht ein aktives, bewusstes Aufsuchen und Öffnen möglich. Der Angehörige erläutert die so arrangierte selbstgewählte Konfrontation in Abgrenzung zu einem Schrein, der gerade eine Zurschaustellung von Artefakten anstrebt. BS: Es liegt bei mir im Schrank. Also es ist kein Schrein gemacht worden. I: Gibt es alles. BS: Jaja, natürlich, natürlich. Aber es ist ein, ich weiß nicht – es ist ein Dokument, das man sich auch wieder einmal anschauen kann und das ich mir bestimmt auch wieder anschauen werde, aber zu einem Zeitpunkt, den ich bestimme. (IS)
Ein Schrein schafft Raum für unbewusste und ungeplante Begegnungen, etwa durch schweifende Blicke. Der Angehörige bevorzugt aber gerade nicht diese ungeplanten und zufälligen Begegnungen, sondern möchte das Aufsuchen des Dokuments als selbstbestimmten Akt begehen – »zu einem Zeitpunkt, den ich bestimme«. Der Angehörige bezeichnet das Dokument als »besonders«, macht aber auch deutlich, dass es nicht einen besonderen Umgang verlangt: »Ich weiß, wo es ist, und ich muss es jetzt nicht irgendwo besonders aufbewahren. Es ist schon kein … Es ist schon ein besonderes Dokument, aber es ist nicht so, dass ich besonders darauf achten müsste.« (IS) In diesem Zitat zeigt sich, dass für den Angehörigen die »Besonderheit« des Dokuments nicht an einen »besonderen Umgang« gekoppelt sein muss; etwa an ein Zurschaustellen auf oder in einem Schrein. Es bleibt besonders, auch wenn es »nur« im Schrank liegt. Dieses aus seiner Perspektive nicht besondere Aufbewahren kann mit seiner dargelegten Begründung jedoch durchaus als besonderes – im Sinne von überlegtem – Aufbewahren bezeichnet werden. Während der obige Angehörige den übrigen Inhalt des Schranks nicht genauer beschreibt, erwähnen die anderen drei Angehörigen diesen explizit. Alle drei bezeichnen ihn als wichtig, wobei dieses »wichtig« unterschiedlich spezifiziert wird. Die Angehörige, die das Dokument ihres verstorbenen Vaters in einer Kiste aufbewahrt, erklärt: »Ich habe es zuhause. Ich habe aber jetzt umgebaut. Und dann habe ich mein Büro etwas durcheinander. Ich habe es in einer Kiste, mit meinen wichtigen Sachen.« (IR) Was das für Sachen sind, erklärt die Angehörige nicht. Indem sie jedoch den Inhalt der Kiste als wichtig charakterisiert, schreibt sie auch dem Dokument diese Eigenschaft zu. Das Dokument als präsentes Artefakt steht, was Hilgert allen präsenten Dingen attestiert, »in Relation
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zu anderen Artefakten« (Hilgert 2010: 103). Über diese Relation drückt die Angehörige den Wert des Dokuments aus. In der »Schubladenerzählung« sind es nun nicht mehr nur wichtige »Sachen«, sondern wichtige amtliche Dokumente, die den Inhalt füllen. Der Angehörige erzählt: »Ich habe es [das Dokument] zuhause in einer Schublade. Da liegen auch die Sterbeurkunde und die Heiratsurkunde. Da liegt alles Wichtige. Das hat alles seinen Platz in der Schublade. Und da liegt das Dokument auch dabei.« (IT) Während eine Heiratsurkunde einen Akt zu Lebzeiten betont, löst die Sterbeurkunde – in Bezug auf den rechtlichen Zivilstand – diesen Akt wieder auf. In der Schublade ist jedoch eine Koexistenz möglich. Neben, auf oder unter diesen Dokumenten liegt nun auch die generative Erzählung aus der WzT. »[A]lles Wichtige« kommt in dieser Schublade zusammen: das, was Leben und Gemeinsamkeit, aber auch das, was Sterben und Trennung ausdrückt. Die Schublade als gewählter Aufbewahrungsort für das Generativitätsdokument erscheint als wohl überlegte Wahl, suggeriert doch die Aussage »alles [hat] seinen Platz in der Schublade« kein willkürliches Aufbewahren. Und so wie das Nennen der »wichtigen Sachen« in der Kiste dem Dokument Wichtigkeit attestiert, wird auch in der »Schubladenerzählung« diese Bedeutsamkeit über die Referenz des weiteren Inhalts betont. Das Aufbewahren des Generativitätsdokuments zusammen mit anderen wichtigen Artefakten findet sich ebenfalls in der Studie von McClement und Kolleg_innen wieder, die 60 Angehörige nach der Wirkung der WzT gefragt haben. In schriftlichen Befragungen haben sie die Angehörigen neun bis zwölf Monate nach dem Tod der erzählenden Patient_innen eingeladen »to provide feedback about their feelings and reactions to Dignity Therapy« (McClement u. a. 2007: 1078). Die Datenerhebung beinhaltete eine Likert-Skala mit offenen und geschlossenen Fragen zur Erfassung der wahrgenommenen Wirkung der WzT auf Familie und Patient_innen. Im Zentrum standen psychosoziale und trauerbezogene Themen. Die Fragebögen wurden entweder »face to face«, über Telefon oder E-Mail-Verkehr ausgefüllt. In dieser Erhebung wurden die Angehörigen auch nach dem Aufbewahrungsort gefragt. McClement und Kolleg_innen schreiben: »The document tended to be stored in a ›safe place‹, often with important personal/legal papers, family heirlooms and collections of patient-related memorabilia.« (Ebd.: 1079) Diese Erkenntnis wurde in der Studie jedoch weder analysiert noch diskutiert. Auch im Koffer werden mit der Geburtsurkunde (vgl. IU) »legal papers« aufbewahrt. Daneben erwähnt der Besitzer des Koffers jedoch auch die von McClement genannten »patient-related memorabilia«: »Das ist alles da drin. Das ist alles so gesammelt. Da sind auch die wichtigsten Karten oder die schönsten Karten und Zettel. Also das mag ja alles gar nicht mehr in den Koffer rein.« (IU) Mit »wichtigsten Karten« kommt nun die letzte Spezifizierung von »wichtig« zum
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Tragen. Von den wichtigen Dingen zu den Amtsdokumenten sind es nun Erinnerungsstücke, die gesammelt wurden: Ich würde behaupten, solange sie gearbeitet hat, hat die mir jeden zweiten, jeden Tag … Jeden Tag hatte ich einen Zettel auf meinem Tisch gefunden, wo sie mir … Da sind ein paar Sprüche drin. Oder auch, dass sie mir immer zwischendurch Karten geschrieben hat. Und auch wirklich … – Sie war schon *etwas Besonderes* (gebrochene Stimme). (schluchzen) (IU)
Was genau auf diesen Karten und Zetteln steht – außer »ein paar Sprüche[n]« –, erklärt der Angehörige nicht, aber er drückt die dahinterliegenden Handlungen seiner verstorbenen Ehefrau aus. Fast jeden Tag hat sie ihm geschrieben. Sich erinnernd an diese Geste endet der Angehörige bei der emotionalen Beschreibung seiner Ehefrau: »Sie war schon etwas Besonderes.« Das Reden über Erinnerungsstücke führt, wie am Anfang des Kapitels beschrieben, auch zu einem Reden über jene Personen, die durch diese Erinnerungsstücke repräsentiert werden. Der Metallkoffer, der vom Angehörigen extra für die Aufbewahrung der wichtigen Erinnerungsstücke gekauft wurde, soll eines Tages mit seinem gesamten Inhalt an seine Schwägerin verschickt werden (vgl. IU). Was hinter diesem geplanten Akt der Weitergabe steht, führe ich im nächsten Kapitel aus. In der Beschreibung des Aufbewahrungsortes drückt sich die Beziehung zum Generativitätsdokument respektive seine Bedeutung aus. Diese Beschreibung geschieht einerseits über die funktionale Eigenschaft des Behälterraums – da ist der Angehörige, der den verschließbaren Schrank dem Schrein vorzieht –, andererseits über den wichtigen Inhalt dieses Raums. Wichtige Dinge, Amtsdokumente und persönliche Erinnerungsstücke füllen die verschiedenen Räume. Und in dieser Ansammlung von Wichtigkeit findet das Generativitätsdokument seinen Platz – da also, wo die Erinnerungen an den Start ins Leben (vgl. Geburtsurkunde), an das gelebte Leben (vgl. Heiratsurkunde, Karten und Zettel) und an das geendete Leben (vgl. Sterbeurkunde) zusammenkommen.
7.6
Weitergeben: Entlastung und Verantwortung
Durch die Konservierung der generativen Erzählung in ein schriftliches Artefakt kann diese nicht nur übergeben, sondern auch weitergegeben werden. Ein Generativitätsdokument zu besitzen, heißt auch, entscheiden zu dürfen oder zu müssen, wem das Dokument weitergegeben werden soll. Wer darf es lesen? Und wer sollte es nie zu Gesicht bekommen? Bezüglich (möglicher, aber auch verwehrter) Weitergabe nannten die Angehörigen Personen aus der Verwandtschaft, wie Schwiegervater oder Schwester, Freunde und institutionelle Vertrauenspersonen wie Seelsorger_innen, Pfarrer_innen oder Therapeut_innen.
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Während drei der vier interviewten Angehörigen die angedachte oder bereits vollzogene Weitergabe als wenig kritische Handlung thematisieren und dabei ihre Intentionen nennen, ist in den Ausführungen eines Witwers ein tiefer Konflikt zu erkennen, der aus einem großen Verantwortungsgefühl gegenüber den versprachlichten Worten seiner Frau rührt. Bevor ich jedoch auf diesen Konflikt eingehe, erläutere ich die in den Interviews formulierten Intentionen der drei anderen Angehörigen für das Weitergeben der Generativitätsdokumente. Dabei knüpfe ich an die vorangegangene Koffererzählung an. Ein Koffer bietet in seiner Anwesenheit spezifische Handlungen. So gilt ein Koffer als mobiler Aufbewahrungsort, der auf Reisen geht sowie dabei den Inhalt kompakt und sicher von einem Ort zum anderen transportiert. Und genau diese Reise strebt der Besitzer des Metallkoffers an: »Und der Grundgedanke dabei ist, dass ich sage: Hier, ich habe einen Koffer und der wird beschriftet mit der Adresse von ihrer Schwester und ich hoffe, dass sie dann nicht in Vergessenheit gerät.« (IU) Über die Schwester soll dann das Dokument auch an die nächste Generation weitergegeben werden: »Mein Grundgedanke ist, dass ich ihrer Schwester das geben kann und die ihren drei Neffen« (IU) – eine Handlung, die ein Vergessen verhindern und die Erinnerung an seine Ehefrau stets bewahren soll. Dabei setzt der Ehemann jedoch klare Grenzen und macht deutlich, dass diese Handlung erst nach seinem Tod ausgeführt werden darf: »Was sie dann damit machen, weiß ich dann auch nicht. Aber ich werde es sicherlich nicht vor meinem Tod rausgeben. Das werde ich also *selber behalten* (gebrochene Stimme).« (IU) Mit dem Koffer als Aufbewahrungsort wählt der verwitwete Ehemann ein mobiles Trägermedium, das nicht nur von einem Ort zum anderen transportiert werden soll, sondern auch von seinen Händen in die Hände der besagten Schwester. Während auf der einen Seite dieser Wunsch nach Weitergabe als dynamische Handlung besteht – und er damit auch bereits eine nächste Weitergabe (Neffen der Schwester) antizipiert –, betont er auf der anderen Seite den Wunsch nach Festhalten, Besitz und Eigentum. Erst sein eigener Tod soll den Koffer auf Reisen schicken. Bis dahin will er das Dokument »selber behalten«. Denn was im Koffer ist, sind eben nicht nur irgendwelche Artefakte, sondern besondere Artefakte, die Leben verkörpern. So ergänzt der Witwer: »Da bewahre ich alle diese Dinge auf, die von ihr sind. Ihr Leben. Ob das jetzt die Geburtsurkunde ist oder auch dieses Interview, das da eben drinnen ist. Also wo mehr oder weniger schon ihr Leben – alles – drinnen ist.« (IU) Die Weitergabe des Dokuments an die eigenen Kinder wird im Interview mit demjenigen Angehörigen zum Thema, der das Dokument schon zu Lebzeiten seines Vaters gelesen hat:
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Das hätte ich so vor: Also, dass ich es jetzt meinen Kindern weitergebe. Die kannten den Opa, jedenfalls die zwei, die jetzt leben, die kannten den Opa ja noch. Und gerade mein Sohn hat auch relativ stark an ihm gehangen, hatte ich so den Eindruck. Und da wäre das schon eine Möglichkeit, das weiterzugeben. (IS)
Durch die Weitergabe schafft der erzählende Angehörige für seine Kinder und die Enkel des Verstorbenen eine Erinnerungsmöglichkeit und verfolgt damit den in der WzT so zentralen Generativitätsgedanken. Auch die Tochter, deren Vater verstarb, möchte eine Kopie ihres Dokuments der nächsten Generation weitergeben: »Eines102 habe ich meiner Nichte gegeben, also der Enkelin, und ich dachte, meine Tochter hat dann mein Dokument, wenn ich mal nicht mehr bin. Dann kann sie auch noch einmal über den Opa nachlesen.« Während sie das Dokument der Nichte schon weitergegeben und somit diesen Akt aktiv gestaltet hat, soll sich die Weitergabe an ihre Tochter durch das Erbe regeln – mit Eintritt ihres eigenen Todes. Neben der nächsten Generation erwähnt die Angehörige auch die Weitergabe an den Pfarrer: Und wir haben es auch intensiv genutzt für die Trauerrede. Wir haben das dann auch dem Pfarrer gegeben, weil er gefragt hat, so über das Leben von meinem Vater. Dann habe ich sagen können: Hier und da steht alles drin. (lachen) Der hat es nicht vorgelesen, aber er hat es durchgelesen und fand es sehr, sehr interessant. Und hat sich dann so markante Punkte praktisch herausgefischt für die Trauerrede. Das war mir wiederum hilfreich. Ich musste da nicht viele Worte machen. Und in dem Moment, wenn man mit so vielen Vorbereitungen konfrontiert ist, hat man auch nicht so den Kopf dafür. Da war mir das also ganz recht. Der Pfarrer fand das ganz interessant. (IR)
In diesem Zitat übernimmt die Weitergabe und somit auch das Dokument selbst eine entlastende, unterstützende, delegierende und verweisende Funktion. Es wird nun zur Vorlage, auf die der Pfarrer zurückgreifen und aus der er Punkte »herausfischen« kann. Die Angehörige kann auf das Dokument verweisen und schafft sich so Raum, Zeit und Kraft für andere Dinge. Mit Blick auf die Transformation der generativen Erzählung wird diese durch das Extrahieren des Pfarrers wieder entkontextualisiert respektive in einen neuen Kontext inkludiert. Dabei wird die Erzählung, die auf dem Weg der Transformation – von der Transkription über die Edition bis zur Rezeption – zu einem kohärenten Text formiert wurde, wieder zerlegt. Über die vom Pfarrer erfassten Exzerpte entsteht ein neuer Text, der im Rahmen der Trauerrede vorgelesen wurde.103 102 Die Patient_innen können mehrere Drucke in Auftrag geben. Diese können auch individualisiert werden, etwa durch entsprechend angepasste Paratexte. Ein Beispiel für solch individualisierte Versionen findet sich im Kapitel IV.4. 103 Die Praxis, generative Erzählungen für Trauerfeiern und Abdankungen zu verwenden, ist auch in der Studie von McClement und Kolleg_innen dokumentiert. Eine Einordnung dieser Erkenntnis bleibt jedoch aus (vgl. McClement u. a. 2007: 1079).
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Nachdem ich das Weitergeben als wenig kritische Handlung beleuchtet habe, steht nun jener Angehörige im Zentrum, für den die Weitergabe viele Fragen aufwirft: allen voran die Frage nach der Verantwortung gegenüber den verschriftlichten Worten seiner verstorbenen Frau, die letztlich deshalb an Brisanz gewinnt, weil sie selbst nicht mehr präsent ist, aber in den Worten repräsentiert wird. Bezüglich einer Weitergabe des Generativitätsdokuments an seinen Schwiegervater, also an den Vater seiner verstorbenen Frau, verbalisiert er eine klare Haltung: BT: Mein Schwiegervater, also der Vater von meiner Frau, der ist irgendwie so kalt. Er war auch nicht gut zu meiner Frau manchmal. Dann musste ich auch mal runtergehen und auch mal meine Frau verteidigen. Ja. Und ähm – er hat da nichts übrig. Dem kann ich das auch nicht zeigen. I: Der kann gar nichts damit anfangen? BT: Nee. Und das wäre dann … Sowas will ich dann so jemanden gar nicht in die Hände geben, weil das etwas Wichtiges ist. Und weil ich auch gesehen habe … Er hat unten auch einmal ausgemistet und dann hat er tausende von Fotos weggeschmissen, die dann in den Papiertonnen lagen. Ich habe das nur gesehen. Ich wollte aber nicht sehen, welche Fotos es sind. (IT)
Von der Beschreibung der Charaktereigenschaft »der ist irgendwie so kalt« über Schilderungen vergangener Konfliktsituationen bis hin zu Beobachtungen von Handlungen, die ihn in seiner Haltung gegenüber dem Schwiegervater bestätigen, legt der Angehörige dar, weshalb er das Dokument »so jemande[m] gar nicht in die Hände geben« möchte. Mit dem Verweis auf die Fotos als physisch präsente Erinnerungsgegenstände zieht der Witwer Parallelen zum Generativitätsdokument als Erinnerungsgegenstand. Aus dem beobachteten Entsorgen der Fotos schließt der Angehörige, dass der Schwiegervater mit dem Dokument ähnlich umgehen würde – ein Umgang, der dem Angehörigen mit einem solchen Dokument nicht angemessen erscheint, denn das ist »etwas Wichtiges«. Und weil die generative Erzählung, die in intimer Weise seine verstorbene Frau repräsentiert, für ihn eine solche Bedeutung hat, ist die Frage nach der Weitergabe Teil eines Konfliktes zwischen eigenen Intentionen, der Verantwortung und den nicht mehr erfragbaren Wünschen seiner Frau. Diesen Konflikt bringt der Angehörige in folgender Passage zum Ausdruck: Und ich mache mir halt manchmal Gedanken. Was sollst du jetzt … Du hast jetzt das Dokument hier … Soll ich das dann mal … – Gute Leute, gute Leute, wie z. B. der Seelsorger oder mein Psychologe, der will ja auch das Beste für mich, der hat ja auch meine Frau betreut, der Psychologe. Das ist der gleiche. Der hat sie damals schon betreut, als ihr Mann sie verlassen hat. Von daher kennt der meine Frau schon von viel länger her. Solchen Personen könnte man es vielleicht mal zeigen. Oder fragen sollte … Ich tue mich dann immer schwer. Das ist halt ein Dokument ähm –, das – ich darf jetzt
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Transformieren: Damit etwas bleibt, wenn man geht
nicht sagen – nicht an die Öffentlichkeit soll, aber das ist ja keine Öffentlichkeit. Es sind ja Personen, die mir wichtig sind und die das verstehen. (IT)
Der Angehörige, der sich »Gedanken macht« und »sich schwertut«, verdeutlicht in dieser Reflexion sein Verantwortungsbewusstsein gegenüber dem Dokument und seiner verstorbenen Frau. Es lassen sich argumentative Stränge für eine Weitergabe erkennen. Da sind das vorausgegangene Betreuungsverhältnis zu seiner Frau, das Wohlwollen und das Verständnis der potentiellen Empfänger wie auch der Stellenwert dieser Personen für den Angehörigen selbst. Er ergänzt: Ja weil das auch Leute sind, die meiner Frau geholfen haben und die ihr auch gutgetan haben. Und ähm … – Dass sie das mal lesen können, was meine Frau praktisch … das Letzte, was sie sagen konnte oder was sie ausgesprochen hat. Es war ja praktisch das Letzte. (IT)
In der Charakterisierung der generativen Erzählung als »das Letzte« hebt der Angehörige nochmals die Besonderheit hervor, die für ihn der Erzählung anhaftet. Und trotz all der Argumente für die Weitergabe bleibt der Konflikt bestehen und es folgt: »Ja ich weiß halt nicht, ob ich das darf! Verstehen Sie?« (IT) Die Worte, die seine Frau speziell für ihn als ausgewählten Empfänger erzählt hatte, sind nun in seinem Besitz und ihm anvertraut. Es sind wichtige und letzte Worte, an ihn gerichtet. In der abschließenden Passage des Interviews drückt er diesen Konflikt nochmals aus: Was dann danach, wenn ich dann mal verstorben bin oder so, weiß ich halt nicht. Wenn man Kinder hat, ist es einfacher. Dann gibt man das weiter. Aber das ist halt bei mir jetzt nicht der Fall. Ja. – Und ähm – Das ist jetzt so ein Punkt, wo ich vorher mit meiner Frau nicht mehr darüber sprechen habe können. Was soll ich mit dem Dokument machen, wenn ich es dann in der Hand habe? Kann ich das dann vertrauten Personen mal zum Lesen geben? Oder sie hat ja auch zwei sehr gute Freundinnen. Die auch immer kamen. Immer für sie da waren und sie besuchten. Die auch jetzt noch für mich da sind. Zu denen ich auch jetzt noch den Kontakt habe. Ich weiß nicht. Ich kann ja meine Frau nicht mehr fragen. Aber ich stelle mir dann vor, was würde meine Frau dazu sagen. Was würde sie jetzt sagen? (IT)
Die Weitergabe der generativen Erzählung an eigene Kinder erscheint für den Angehörigen geradezu logisch. Doch die Weitergabe an andere Menschen bleibt an die zuvor geäußerte Frage gebunden: »Ja ich weiß halt nicht, ob ich das darf!« (IT) Diese Frage wiederum ist gekoppelt an die Unmöglichkeit, mit seiner Frau darüber zu sprechen. Die Repräsentation der Ehefrau in der generativen Erzählung, die dadurch eben nur repräsentiert wird, macht das Dokument zu einem intimen und persönlichen Artefakt. Und weil er seine Frau nicht mehr fragen kann, imaginiert er sich ihre Präsenz. Dieses Vorgehen äußert er mit Nachdruck: »[W]as würde meine Frau dazu sagen. Was würde sie jetzt sagen?«
Lesen und Besitzen: Präsenz und Repräsentation
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Der Erhalt und Besitz eines Generativitätsdokuments aus der WzT kann innere Konflikte entfachen, die auf ein Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Erzählung und den Erzählenden gründen. Die Frage nach der Weitergabe wird zu einem Hinterfragen, Reflektieren und Imaginieren, um schließlich den Wunsch der Verstorbenen zu erahnen.
7.7
Fazit: wenn Angehörige lesen und besitzen
Ich habe das Kapitel mit dem Zitat »Das ist so beindruckend. Das hat mir so viel gegeben. Auch so viel Freude« (IU) eingeleitet. Die vorangegangenen Ausführungen haben gezeigt, dass das Lesen und der Besitz der Generativitätsdokumente nicht nur beeindruckt und Freude schenkt, sondern auch eine Bandbreite von Gefühlen und Folgehandlungen aktivieren kann. Durch die Übergabe des Dokuments erhalten Angehörige nicht nur die Möglichkeit, die Erzählung zu lesen, sondern werden zusätzlich zu Besitzer_innen dieser Erzählung. Es ist also nicht nur das Lesen, das wirkmächtig ist, sondern auch der Besitz. Und Besitzen verlangt einen Umgang, erwartet Entscheidungen und kann entlasten, aber auch fordern und dabei an die eigene Verantwortung appellieren. Die Wirkmächtigkeit entfaltet sich in und durch alle drei Dimensionen der generativen Erzählung. Auch wenn es sich dabei stets um eine Verschränkung aller Dimensionen handelt, sollen hier dimensionsspezifisch einzelne Effekte nochmals aufgeführt werden. In der sprachlich-narrativen Dimension erkennen die Angehörigen die Erzählenden wieder und sind dankbar für diese Form der Repräsentation. Die Analyse hat aber auch gezeigt, dass eine dialektale Verschriftlichung der Erzählung gerade nicht die intendierte Nähekonstruktion bewirkt, sondern Befremdung. Durch die materiell-mediale Dimension kann die Erzählung aufbewahrt, wiedergelesen und weitergegeben werden. Ihre materielle Präsenz lässt Rückschlüsse auf den Herstellungsprozess zu, was zu einer dankbaren Haltung gegenüber den Therapeut_innen führt. In ihrer materiellen Erscheinung als Dokument ist die Erzählung berührbar und kann eine körperliche Als-ob-Berührung der Verstorbenen ermöglichen, und so schafft die materiell-mediale Dimension in ihrer Haptik eine Verschränkung mit dem Körper-Leib der Lesenden und Erzählenden. Die Analyse hat aufgezeigt, dass sich die Wirkmächtigkeit verändern kann – auch im Sinne einer aufgeschobenen Lektüre –, wenn eine doppelte Präsenz von Erzählung und Erzählenden besteht, die Erzählung also noch zu Lebzeiten der Erzählenden besessen und gelesen wird. Die doppelte Präsenz schafft Raum für eine selbstgewählte Leseaufschiebung und entzieht der Erzählung die Sinnhaftigkeit des repräsentativen Charakters, da die Erzählenden doch noch gegenwärtig sind. Und nicht zuletzt kann der Besitz des Generativitätsdokuments auch
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Transformieren: Damit etwas bleibt, wenn man geht
tiefe innere Konflikte schüren; etwa dann, wenn es darum geht, zu entscheiden, wem das Dokument zum Lesen gegeben werden kann und darf. Dieser Konflikt gründet auf einem großen Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Erzählung und den Erzählenden sowie auf der Unmöglichkeit, die Erzählenden nach ihrem Willen zu fragen. Wie und ob das Generativitätsdokument im Laufe der Zeit gedeutet und mit Bedeutung versehen, wann und weshalb das Dokument jeweils wiedergelesen wird und ob es im Umgang mit Trauer und Verlust eine langfristige Unterstützung bietet, bleiben in dieser Studie offene Fragen.
V.
Beschreiben und Verstehen: nicht nur die WzT
Da ich der bisherigen Forschungslandschaft rund um die WzT eine fehlende Offenheit für Deutungen und Bedeutungszuschreibungen der involvierten Akteur_innen attestiert habe, die über Akzeptanz, Adaption, Durchführbarkeit und Wirksamkeit kaum hinausgeht, war es das Anliegen dieser Studie, jener Offenheit Raum zu geben. Ausgehend von einem multidimensionalen Verständnis der generativen Erzählung, die mit einer spezifisch gelagerten Ko-Konstruktion gestaltet wird, habe ich entlang der sieben WzT-Hauptpraktiken das Geschehen, die Deutungen und Bedeutungszuschreibungen der Akteur_innen dargestellt, analysiert, kontextualisiert und festgehalten. Mit einer ethnografischen Forschungshaltung wurden die Daten aus teilnehmender Beobachtung, problemzentrierten Interviews und Textvergleichen inhaltsanalytisch durchdrungen. Voraussetzung für diese Datenerhebung und Analyse war ein Sichvertrautmachen mit dem Forschungssetting, das über die WzT hinausgeht. So habe ich über die Dauer von insgesamt fünf Monaten das Geschehen auf drei Palliativstationen teilnehmend beobachtet, wobei sich die Beobachtung im Verlauf der Feldforschung immer stärker auf die WzT konzentrierte. Im Zentrum stand die Frage, wie sich in der WzT die Transformation der generativen Erzählungen vom mündlichen Patient_inneninterview bis zum geschriebenen und gelesenen Generativitätsdokument gestaltet und wie die involvierten Akteur_innen die transformierenden Praktiken deuten bzw. ihnen Bedeutung zuschreiben. Weil die Kapitel jeweils mit einem Fazit enden, fasse ich im Folgenden die einzelnen Praktiken nicht nochmals zusammen. Vielmehr nehme ich an dieser Stelle jene Begrifflichkeiten auf, die wesentliche Charakteristika der Gestaltung sind: die Ko-Konstruktion und die Multidimensionalität der Erzählung. In der WzT werden Erzählen und Erzählung ko-konstruiert. Patient_innen, Therapeut_innen, Transkribierende und Angehörige gestalten mit. Dabei ist dieses Ko keinesfalls immer ein symmetrisch-gleichberechtigtes Ko. Mit Blick auf die Therapeut_innen hat die Studie gezeigt, dass sie nicht nur bei der Interviewführung und beim Editieren die Erzählung mitgestalten, son-
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Beschreiben und Verstehen: nicht nur die WzT
dern z. B. auch durch den Einsatz ihrer Verfügungsgewalt über das Audiogerät – eine Verfügungsgewalt, die den Patient_innen nicht im gleichen Maße gegeben ist. Im Verlauf der WzT wird das Ko immer wieder neu ausgehandelt, wird markiert und entmarkiert, wird zugeschrieben und entzogen. In diesem Prozess prallen Erwartungshaltungen aufeinander, die zu Spannungen führen können. Mit der Vorstellung von der generativen Erzählung als multidimensionales Gefüge aus sprachlich-narrativer, materiell-medialer und körperlich-leiblicher Dimension zeigt die Studie Affordanzen der einzelnen Dimensionen auf und schafft ein Verständnis dafür, wie diese miteinander interagieren. Durch das Beschreiben dieser Interaktionen und das Erkennen der Affordanzen war sodann auch ein tieferes Verständnis der Deutungen und Bedeutungszuschreibungen der involvierten Akteur_innen möglich; und diese hoben die unterschiedlichen Dimensionen der Erzählung immer wieder hervor. So zeigt die Studie, dass nicht nur das Lesen der generativen Erzählung durch die Angehörigen mit Bedeutung versehen wird, sondern auch der Besitz der Erzählung, der in dieser Form durch die materiell-mediale Dimension möglich ist. Dieser Besitz ist sodann auch mit Verantwortung verbunden, etwa dann, wenn die Frage auftritt, wer das Dokument lesen darf. Es ist aber auch die materiell-mediale Dimension, die die Erzählung haptisch berührbar macht und in dieser Berührbarkeit körperliche Nähe zum Verstorbenen schafft. Auch beim Vorlesen der generativen Erzählung tritt die Multidimensionalität in Erscheinung, wenn sprachlich-narrative und körperlich-leibliche Dimension interagieren. So schafft gerade die Verlagerung der Erzählung auf einen anderen Körper, eine andere Stimme unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten, die von Patient_innen mit Bedeutung versehen werden. Weil in der vorliegenden Studie die Binnenperspektive der involvierten Akteur_innen im Zentrum stand, muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass die Perspektive der Patient_innen nicht in gleichem Ausmaß thematisiert wurde wie die Perspektive der übrigen Akteur_innen, konnte ich doch mit den Patient_innen nur kurze informelle Gespräche führen. Im Folgenden möchte ich auf die Relevanz dieser Studie eingehen. Ihre Sonderstellung zeichnet sich dadurch aus, dass die WzT darin erstmals kulturwissenschaftlich-ethnografisch beschrieben und reflektiert wird. Damit wird eine Ausgangslage für die Reflexion professionellen Handelns innerhalb der WzT geschaffen; gerade deshalb, weil eben nicht nur die Patient_innen und Angehörigen im Fokus stehen, sondern auch die Therapeut_innen und Transkribierenden mit einbezogen wurden. Die Studie regt auch zur Diskussion ethischer Fragen an, etwa zum Verhältnis von Autonomie und Bevormundung, Er- und Entmächtigung innerhalb der WzT. Und schließlich ist die vorliegende Beschreibung der WzT auch ein Fundament für die Eruierung von Wirkmechanismen durch weitere Forschung.
Beschreiben und Verstehen: nicht nur die WzT
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Abschließend möchte ich den Blick öffnen für die Erforschung von (psychologischen) Interventionen über die WzT hinaus. Psychologische Interventionen werden, wie bereits mehrfach erwähnt, schwerpunktmäßig auf ihre Akzeptanz, Durchführbarkeit und Wirksamkeit untersucht. Ich kritisiere diesen engen Blick, wird er doch der Komplexität solcher Interventionen nicht gerecht; dies vor allem nicht, weil darin Menschen agieren. Und der Mensch ist, um es mit den Worten des Medizinhistorikers Volker Roelcke zu sagen, nun einmal »ein Wesen, das auf Bedeutungszuschreibungen und Sinngebungen angewiesen ist, und das gleichzeitig kontinuierlich Deutungen produziert« (Roelcke 2017: 16). Durch den engen Blick auf die Evaluationskriterien Akzeptanz, Durchführbarkeit und Wirksamkeit besteht sodann auch die Gefahr, wesentliche bedeutungstragende Elemente einer Intervention zu ignorieren. Mit meiner Kritik bin ich nicht allein. So schreiben etwa Thirsk und Clark über komplexe Interventionen: »Often only a small number of components that are most easily observed and/or measured are studied – but these may not be the components that are actually in-fluential.« (Thirsk/Clark 2017: 2) Meines Erachtens fehlt in der Erforschung und vor allem – darauf komme ich in Kürze zurück – in der Darstellung von Forschungserkenntnissen komplexer Interventionen ein Innehalten. Damit meine ich ein Zurücktreten von Evaluation und Wertung gegenüber einem stärkeren Beobachten und Beschreiben dessen, was in der praktischen Anwendung der Intervention geschieht – nicht geleitet von der Frage nach Wirkung, Akzeptanz und Durchführbarkeit, sondern von dem Bedürfnis nach Verstehen. Während dieses Zurücktreten in der Entwicklungsphase von Interventionen durchaus zu finden ist – denke man beispielsweise an Bedarfserhebungen –, scheint ein derartiges Innehalten danach keinen Platz mehr zu haben. Es folgen Testung, Evaluierung und Implementierung. Doch gerade an dieser Stelle plädiere ich für mehr Beobachtung und Beschreibung, um mehr zu verstehen und schließlich Wirkmechanismen zu erkennen. Doch ebendiese genauen Beschreibungen von komplexen Interventionen finden in der Forschung nicht genügend Raum (vgl. Thirsk/Clark 2017: 2). Qualitative Forschung macht Beschreiben und Verstehen möglich, bringt Deutung und Bedeutungszuschreibung ans Licht. Doch auch in qualitativen Studien dominieren die genannten drei Kriterien, und dies vor allem auch in der Darstellung und Gewichtung der Forschungsergebnisse. Denn ein Blick in qualitative Feasibility-Studies wie z. B. die Studie von Mai und Kolleg_innen oder von Bentley u. a. zeigt, dass darin durchaus Erkenntnisse festgehalten werden, die über Akzeptanz, Wirksamkeit und Durchführbarkeit hinausgehen, jedoch nicht an prominenter Stelle. Im Schlussfazit erscheint sodann der simple Satz »The Dignity therapy is feasible and generally acceptable to MND family carers« (Bentley u. a. 2014a: 1) oder »DT is feasible for German PCUs« (Mai u. a. 2018: 1). Im Grunde genommen haben die Studien aber viel mehr ans Licht gebracht:
202
Beschreiben und Verstehen: nicht nur die WzT
Erkenntnisse, die allerdings durch vorgegebene Designs keinen Platz und keine Würdigung erhalten. Die vorliegende Studie ist ein Beispiel dafür, dass die ethnografische Begleitung einer Intervention nicht nur beschreibt, sondern vor allem einen Beitrag leistet, zu verstehen. Die empirische Kulturwissenschaft bietet mit ihrem Kredo der Offenheit nützliche Werkzeuge, die letztlich die Erforschung von psychologischen Interventionen zu einer menschenorientierten Untersuchung machen, in der Zusammenhänge erkannt sowie Irritationen und Ambiguitäten zugelassen werden. Mit meiner Kritik möchte ich die Bedeutsamkeit von Durchführbarkeit, Akzeptanz und Wirksamkeit keinesfalls leugnen. Ich möchte jedoch dafür sensibilisieren, dass es ein Innehalten braucht, ein Beschreiben und Verstehen, um schließlich die Frage nach den drei Kriterien nicht mit einem simplen Ja oder Nein zu beantworten, sondern eher mit einem »Ja, weil«, einem »Nein, weil«, aber vielleicht auch mit einem »Ja und nein, weil«. Peter Bieris Zitat über die Würde des Menschen war Programm dieser Studie. Und wie seine Worte die vorliegende Dissertation einleiten, so sollen sie diese auch schließen. Was die Erforschung von komplexen Interventionen im Gesundheitsbereich braucht, ist [eben] der wache und genaue Blick auf die vielfältigen Erfahrungen […] Es geht darum, all diese Erfahrungen in ihren Einzelheiten zu verstehen und sich zu fragen, wie sie zusammenhängen.104 Peter Bieri
104 Bieri 2014: 12.
VI.
Verzeichnisse
1
Abkürzungen
E FT I N T TB WzT
2
Editierte Dokumente (bei mehreren Versionen mit Zahlen gekennzeichnet) Forschungstagebuch Problemzentrierte Interviews Notizen von Therapeut_innen Transkripte Teilnehmende Beobachtung Würdezentrierte Therapie
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3: Tabelle 4: Tabelle 5: Tabelle 6: Tabelle 7: Tabelle 8: Tabelle 9: Tabelle 10:
3
Praktiken in der WzT Veränderung der »start list« (Oberkategorien) Analysebeispiel »Lesen und Besitzen« Formierungsstrategien Grobanalyse Auswahlkriterien Sampling Methodischer Zugang Überblick zur vergleichenden Dokumentanalyse Korrelationen methodischer Zugänge Problemzentrierte Interviews Übersicht Feldtagebuch
S. 35 S. 62 S. 64 S. 65 S. 66 S. 66 S. 67 S. 67 S. 68 S. 68
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Model of Dignity in the Terminally Ill Abbildung 2: Modell zur Würde bei unheilbarer Erkrankung
S. 16 S. 16
204
4
Verzeichnisse
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Dank
Einer ganzen Reihe von Menschen habe ich viel zu verdanken. Ohne diese Personen wäre die vorliegende Studie nicht so geworden, wie sie ist; wäre wohl gar nicht geworden. Ich bedanke mich bei den Patient_innen, die meinen Blick auf das Leben verändert haben. Ich danke den Angehörigen, die mich an ihren Gedanken und Gefühlen teilhaben ließen. Und ich danke jenen Menschen, die die WzT mit so viel Herzlichkeit und Engagement durchführen: Ich danke insbesondere Sandra Mai, Elisabeth Jentschke und Jochen Spang. Darüber hinaus möchte ich mich bei Prof. Dr. Walter Erich Aulitzky vom Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart, Prof. Dr. Martin Weber von der Universitätsmedizin Mainz und Prof. Dr. Birgitt van Oorschot vom Universitätsklinikum in Würzburg für ihr Vertrauen bedanken. Neben diesen Forschungspartner_innen gilt mein Dank auch dem Graduate Centre for the Study of Culture der Justus-Liebig-Universität, das mein Promotionsvorhaben unterstützt hat und mir die Möglichkeit zu einem regen Austausch bot. Dankbar für einen solchen Austausch bin ich auch den Teilnehmenden des Kolloquiums von Prof. Dr. Joachim Jacob. Nicht nur das Feedback von euch war stets wohlwollend, sondern auch die ganze Atmosphäre. Ebenso gilt jenen Menschen, die meine Arbeit gelesen und korrigiert haben, mein Dank: Dominique Autschbach, Il-Tschung Lim, Miriam Braun, Miruna Bacali, Samuel Kähler. Ein ganz besonderer Dank geht dabei an Andrea Naumann von SCHWABSCANTECHNIK. Nun habe ich während des Schreibens meiner Dissertation viel gesessen. Und ich bin so froh, dass ich mein Büro mit so wunderbaren Menschen teilen durfte, die zu meinen Freunden geworden sind. Ich danke vor allem Galina und Oliver, mit denen ich die meiste Zeit in einem Raum verbrachte. Danke für euer Lachen, für eure Umarmungen, für euer Trösten, wenn die Kraft nachließ. Es war eine wunderschöne Zeit mit euch. Meine Dissertation hätte ich nicht mit so viel Freude und Zuversicht geschrieben, wären da nicht Betreuer_innen an meiner Seite gewesen, die mich und meine Arbeit wertgeschätzt haben. Dass ich mich für das Promovieren entschie-
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Dank
den habe, verdanke ich zu einem großen Teil Prof. Dr. Thomas Hengartner. Er hat mich nicht nur zu diesem Schritt motiviert, sondern die erste Phase meiner Promotion auch mit viel Engagement und Zuspruch begleitet. Ich danke Prof. Dr. Dorothea Lüddeckens, bei der ich mich sogleich wohlgefühlt habe. Und schließlich bedanke ich mich bei Prof. Dr. Joachim Jacob, meinem Doktorvater. Selten ist mir jemand begegnet, der klare Kritik und Wertschätzung so vereinen kann. Nie fühlte ich mich eingeengt in meinem Vorhaben und Tun. Ich bedanke mich für diese Offenheit und für die Zeit, die er sich genommen hat, um meine Arbeit zu betreuen, sowie für seine ermutigenden Worte. Mein abschließender Dank gilt meinen langjährigen Freund_innen und meiner Familie. Ihr habt mich nie aufgegeben. Ich danke Christian, Irina und Manuel. Und ich danke Dominique und Sarah, die immer voller Stolz die kleine Schwester in ihrem Vorhaben unterstützt haben – mit Liebe, Interesse und praktischer Hilfe. Und schließlich gilt mein größter Dank meinen Eltern Ursula und Urs, denen ich diese Arbeit widme. Sie haben mich gefördert, mir diesen Weg ermöglicht, mich ermutigt. Ihr großes Interesse an meiner Arbeit, ihre Fürsorge, ihr Humor und ihre Liebe haben mich immer wieder gestärkt.