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German Pages 166 Year 2014
Dagmar Preißing, Katrin Kolb (Hrsg.) Erfolgreiches Personalmanagement im demografischen Wandel ‒ Die Praxisbeispiele
Dagmar Preißing, Katrin Kolb (Hrsg.)
Erfolgreiches Personalmanagement im demografischen Wandel ‒ Die Praxisbeispiele
ISBN 978-3-11-029956-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-035448-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-039652-2 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/München/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Welche Maßnahmen haben sich auf dem Weg zu einem erfolgreichen Demografiemanagement in der Unternehmenspraxis bislang durchgesetzt? Wir haben Beispiele in Konzernen und im Mittelstand gefunden, die Entscheidungsträgern in anderen Unternehmen Anregungen für ihr eigenes Demografiemanagement geben können. Der demografische Wandel ist die Folge einer gesellschaftlichen Entwicklung. Neben vielen Problemen für die Volkswirtschaft eines Landes richtet sich der Blick dieses Buches auf die betriebswirtschaftlichen Herausforderungen. Hierbei ist insbesondere das Personalmanagement von den demografischen Entwicklungen betroffen, beispielhaft sei hier der Fachkräftemangel genannt. Das demografieorientierte Personalmanagement hält jedoch einen Mix aus Maßnahmen bereit, mit dem Unternehmen den Herausforderungen der Demografie begegnen können. Inzwischen haben auch Investoren ihren Blick auf das Demografiemanagement in den Unternehmen gerichtet und bewerten dieses als Teil einer nachhaltigen, soliden Unternehmensbasis und damit auch als Entscheidungsparameter für oder gegen eine Investition. Die Unternehmen haben darauf in ihren eigenen Darstellungen reagiert, etwa in Geschäftsberichten oder Nachhaltigkeitsberichten. Dieses Buch mit Praxisbeispielen erscheint in Ergänzung zur zweiten Auflage des Lehrbuchs „Erfolgreiches Personalmanagement im demografischen Wandel“ von Dagmar Preißing (Hrsg.), Professorin für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre mit dem Schwerpunkt „Personalmanagement und Personalführung“ an der Hochschule Fulda. Ein Teil der Praxisbeispiele wurde in ähnlicher Fassung 2010 als E-Book zur Erstauflage des Lehrbuchs herausgegeben; für dieses nun vorliegende gedruckte Buch wurden diese Beiträge jedoch überarbeitet. Wir haben den Unternehmen einige Freiheiten in der Darstellung gelassen und zum Beispiel Rücksicht auf unternehmenseigene Schreibweisen genommen, was vor allem für die Anglizismen gilt. In den Texten werden des besseren Leseflusses wegen meist geschlechtsneutrale Begriffe verwendet. Es sind jedoch Frauen wie Männer gleichermaßen gemeint und angesprochen, zum Beispiel Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber oder Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
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Vorwort
Wir bedanken uns bei unseren engagierten Autorinnen und Autoren und den Unternehmen für die Mitarbeit an diesem Buch und dass sie uns Einblick in ihre Unternehmenspraxis gewährt haben, was nicht selbstverständlich ist. Heinz Gilgenbach und Friedrich W. Groll danken wir für konstruktive Kritik und viele anregende Gespräche. Bei unseren Lektoren, Thomas Ammon und Annette Huppertz, sowie unserer Herstellerin, Cornelia Horn, von De Gruyter Oldenbourg in München bedanken wir uns für die gute, vertrauensvolle Zusammenarbeit.
Inhaltsübersicht Vorwort Demografischer Wandel: Strategische Handlungsansätze der Teschma Automatentechnik GmbH im Rahmen des Personalmanagements Norbert Hettstedt und Dirk Schmale
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Altersstrukturanalysen: Vorgehen und ableitbare Schlussfolgerungen bei der ZF Friedrichshafen AG Christian Brand
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Rekrutierungsstrategien zur Beschäftigung älterer Arbeitnehmer – Das Beispiel Fahrion Engineering Jens Fahrion und Otmar Fahrion
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Entwicklung einer einzigartigen Arbeitgebermarke auf Basis gelebter Markenwerte bei der TNT Express GmbH Jürgen Seifert
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Gestaltung der internen Arbeitgeberattraktivität bei tegut… Karl-Heinz Brand Konzeption und Umsetzung einer demografieorientierten Personalentwicklung der Gothaer Thomas Barann und Petra Dick Mitarbeiter schulen Mitarbeiter – Ein Projekt der Voestalpine AG Ernst Balla und Wolfgang Danner
53
67
87
VIII
Inhaltsübersicht
Strukturiertes Wissensmanagement bei DMT – Kontinuität im demografischen Wandel Roland Rehage
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Wilkhahn: Betriebliches Gesundheitsmanagement als integrierter Bestandteil der Unternehmenskultur Burkhard Remmers
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Die Hochschule Fulda auf dem Weg zu einer „gesundheitsfördernden Hochschule“ – ein Projektbericht Anja Kroke, Angela Reichelt und Klaus Stegmüller
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Demografischer Wandel: Strategische Handlungsansätze der Teschma Automatentechnik GmbH im Rahmen des Personalmanagements Norbert Hettstedt und Dirk Schmale Norbert Hettstedt ist Geschäftsführer der NH Unternehmensentwicklung und Senior Industrial Advisor der Perlitz Group in Mannheim sowie Vorstand des Vereins AKADalumni e. V. Zuvor war er in deutschen und internationalen Unternehmen in leitenden Funktionen der Unternehmensführung tätig und verfügt dadurch über eine langjährige Berufspraxis als Führungskraft im internationalen Umfeld. Seine Schwerpunkte sind nachhaltige strategische und operative Unternehmensführung, nachhaltiges Personalmanagement und nachhaltige Führungskräfteentwicklung insbesondere im demografischen Wandel und unter ethischen Gesichtspunkten. Er hat an verschiedenen Hochschulen und beispielsweise bei Management Circle zahlreiche Vorträge zum Thema Unternehmensführung und Strategiecontrolling gehalten. Er ist Koautor eines Buchbeitrags zum Thema „Strategieinnovationen am Beispiel eines mittelständischen Automobilzulieferers“.
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Strategisches Management Dirk Schmale ist selbstständiger Unternehmer und geschäftsführender Gesellschafter der Teschma Unternehmensgruppe. Seine Schwerpunkte liegen in der strategischen Unternehmensentwicklung und -finanzierung. In der Vergangenheit sammelte er umfangreiche Erfahrungen in der Automobilzuliefer-Industrie. Parallel dazu entwickelte er seine Kompetenzen in zahlreichen Trainings- und Weiterbildungsprojekten. Mit seinen Fachkenntnissen und seiner zielorientierten Arbeitsweise steht er gemeinsam mit seinem Team auch anderen Unternehmen als Experte und Coach zur Seite. Privat interessiert er sich für zeitgenössische Kunst und ist Mitglied in verschiedenen Naturschutzverbänden.
Inhalt 1
Demografischer Wandel im Landkreis Minden-Lübbecke
4
2
Das betrachtete Unternehmen
5
3
Beschäftigte werden älter
6
4
Handlungsfelder des künftigen Personalmanagements
9
5
Maßnahmen und Umsetzung
12
6
Fazit und Ausblick
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1
Demografischer Wandel im Landkreis Minden-Lübbecke
Dass die Bevölkerung in Deutschland, wie auch in anderen Ländern, altert, ist sehr oft Gegenstand von unterschiedlichen Untersuchungen und Veröffentlichungen. Auch hat das Interesse am Thema „Demografischer Wandel“ in der Öffentlichkeit sowie in Unternehmen stark zugenommen. Mögliche Folgen des demografischen Wandels lassen sich durchaus auf eine einfache Formel bringen: Die Bevölkerung nimmt ab, insbesondere die im erwerbsfähigen Alter, deshalb müssen immer mehr Ältere durch Jüngere finanziert werden. Beschäftigt man sich näher mit der Thematik, so stellt man schnell die Dimension der Problematik fest:
Die Alterung der Bevölkerung in Deutschland verläuft schneller als in anderen EUStaaten,
der demografische Wandel wird unterschiedliche Ausprägungen in den Bundesländern und Kreisen haben,
in strukturschwachen Gebieten wird er sich deutlicher auswirken als in Ballungszentren.
Der Demographie-Check der Bertelsmann Stiftung (1/2007) zeigt auf, dass für die Region Ostwestfalen-Lippe der Schrumpfungsprozess bis 2020 mit -2,1% vergleichsweise mild verläuft. Es ist aber auch festgestellt worden, dass Regionen mit Bevölkerungswachstum und Regionen mit schrumpfender Bevölkerung eng nebeneinander liegen. Die Auswirkungen auf die Stadt Lübbecke und den Kreis Minden-Lübbecke verdeutlicht die folgende Abbildung.
Teschma Automatentechnik
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4 3 2 1 Minden-Lübbecke
0
NRW Lübbecke
-1 -2 -3 -4 2005
Abb. 1.1
2010
2015
2020
Bevölkerungsentwicklung in Lübbecke, Minden-Lübbecke und Nordrhein-Westfalen bis 2020; Quelle: eigene Darstellung, in Anlehnung an Statistisches Bundesamt
Es ist hilfreich und notwendig, sich mit dem demografischen Wandel im Umfeld des eigenen Unternehmens auseinanderzusetzen. Dadurch lassen sich die Auswirkungen auf den Arbeitskräftemarkt und auf das eigene Unternehmen besser abschätzen sowie die Handlungsfelder wirkungsvoller definieren. Der folgende Beitrag berichtet über die von der Teschma Unternehmensgruppe ausgewählten und eingeleiteten Maßnahmen, um trotz des demografischen Wandels als Unternehmen auch in Zukunft leistungsfähig zu sein.
2
Das betrachtete Unternehmen
Das Unternehmen wurde im Jahr 1983 als Teschma Automatentechnik GmbH gegründet. Im selben Jahr hat die Produktion von Sicherheitssystemen begonnen. Parallel dazu ist eine Holzverarbeitung aufgebaut worden, die sich auf die Herstellung von Automatenständer spezialisierte. Aus dieser Konstellation heraus hat sich die Spezialisierung auf Metall- und Holzverarbeitung ergeben. In konsequenter und stetiger Weiterentwicklung des Unternehmens wurde im Jahr 2004 ein Unternehmen für den Komponenten- und Gehäusebau gegründet. Ebenfalls im Jahr 2004 startete im neu gegründeten Geschäftsbereich Systemtechnik die
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Strategisches Management
Fertigung und Montage von Komponenten und Aggregaten. Seit Anfang 2008 werden außerdem für ein namhaftes Unternehmen im Maschinenbau Standardmaschinen gefertigt. Eine ausgeprägte Kundenorientierung, ein hoher Qualitätsstandard und eine hohe Flexibilität, verbunden mit dem Fokus auf partnerschaftliche Zusammenarbeit, zeichnen das Unternehmen aus. Die Gruppe erreicht heute mit ihren mehr als 80 Mitarbeitern einen Umsatz im zweistelligen Millionenbereich. Um weiterhin in dem sich ständig wandelnden Markt- und Wettbewerbsumfeld bestehen zu können, initiierte die Geschäftsführung 2008 einen erweiterten Veränderungsprozess. Ein integraler Bestandteil dieser Initiative ist das demografieorientierte Personalmanagement im Unternehmen.
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Beschäftigte werden älter
In den letzten Jahren haben nicht nur die allgemeine Wirtschaft, sondern auch die Arbeitnehmer im Unternehmen und das Unternehmen selbst Programme, zum Beispiel Vorruhestandsregelungen, für sich genutzt. Dies geschah häufig aufgrund der Annahme eines Seniorenprinzips, das ältere Mitarbeiter bei der Bezahlung als zu teuer und dafür als weniger leistungsfähig einstuft. Dies hat zwangsläufig zu einer Verschiebung der Altersstruktur in den Unternehmen und auch bei der Teschma Automatentechnik GmbH geführt. Zur Schärfung des Bewusstseins für einen schwieriger werdenden Arbeitskräftemarkt hat der Rekrutierungsprozess von Mitarbeitern für den 2008 begonnenen Geschäftsbereich Montage von Standardmaschinen beigetragen. Es stellten sich Fragen wie:
Wie ist die Altersstruktur der Teschma Mitarbeiter?
Wie ist die Altersstruktur pro Abteilung/Geschäftsbereich?
Wie ist die Beschäftigungsfähigkeit der Mitarbeiter?
Wie ist die monetäre Einkommensentwicklung der Mitarbeiter?
Werden ältere Mitarbeiter, stereotypisch gesehen, gleich gesetzt mit „leistungsschwach“?
Diese Fragen haben dazu geführt, dass sich die Unternehmensleitung mit Analysen im Personalbereich auseinandergesetzt hat. Beispielhaft zeigt die nächste Abbildung die Altersverteilung in der Unternehmensgruppe.
Teschma Automatentechnik
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Altersverteilung in der Teschma Unternehmensgruppe 40 35 30
Prozent
25 20 15 10 5 0 bis 24 Jahre 25 - 34 Jahre 35 - 44 Jahre 45 - 54 Jahre über 54 Jahre Alter Abb. 3.1
Altersverteilung in der Teschma Unternehmensgruppe; Quelle: Teschma Unternehmensgruppe
Neben dieser Analyse wurde ein ganzes Bündel gezielter Analysen durchgeführt und ausgewertet, mit dem Ziel, ein genaues Bild des derzeitigen und, soweit möglich, des zukünftigen Mitarbeiterbestandes zu zeichnen. Die folgende Tabelle zeigt Auszüge dieser Analysen. Tab. 3.1
Analytische Fragestellungen; Quelle: Teschma Unternehmensgruppe
Analysen
Fragestellungen
Ziele
Gesundheitsquote
Wie hoch ist die Gesundheitsquote? Welche spezifischen Erkrankungen gibt es in den verschiedenen Geschäftsbereichen? Gibt es Auffälligkeiten in Bezug auf Dauer der Erkrankung, eine bestimmte Altersgruppe usw.?
Erkennen von spezifischen Schwerpunkten, ggf. in Zusammenarbeit mit Sozialversicherungsträgern, zur Einleitung einer präventiven Gesundheitsförderung
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Strategisches Management Analysen
Fragestellungen
Ziele
Schwerbehindertenquote
Wie hat sich die Anzahl der beschäftigten Schwerbehinderten entwickelt? Wie hat sich die Anzahl der Mitarbeiter entwickelt, die im Laufe der Betriebszugehörigkeit schwerbehindert wurden? Wie hoch ist der Anteil Schwerbehinderter unter den über 50-Jährigen?
Bewusstes Suchen nach Möglichkeiten, eventuell negativen Tendenzen vorzubeugen beziehungsweise geeignete Maßnahmen zur Gesundheitsförderung einzuleiten
Altersstrukturanalyse und Qualifikationsstrukturanalyse
Wie sieht die Alters-/Qualifikationsstruktur derzeit aus? Wie sieht die voraussichtliche Altersund Qualifikationsstruktur in fünf bis zehn Jahren aus?
Beurteilen von Möglichkeiten zur Beeinflussung der Alters- und Qualifikationsstruktur, beispielsweise durch Personalerneuerung und Rekrutierung etc.
Vergütungsstruktur pro Altersgruppe
Welche Vergütungsstruktur gibt es derzeit? Wie wird sich diese in Zukunft entwickeln?
Überprüfung, ob ggf. eine demografieorientierte Vergütungspolitik eingeführt werden sollte
Verhältnis Teilzeit/Vollzeit
Wie hat sich das Verhältnis in den letzten Jahren in den Geschäftsbereichen entwickelt? Gibt es abteilungs- beziehungsweise geschäftsbereichsspezifische Hinderungsgründe, ggf. Mitarbeiter in Teilzeit zu beschäftigen?
Suchen nach Arbeitsformen, die eventuell alternativ bei Mangel an Vollzeitarbeitskräften eingesetzt werden könnten
Mit den durchgeführten Analysen wurde der erste Schritt zur Sensibilisierung der Führungskräfte in den einzelnen Geschäftsbereichen zum Thema demografischer Wandel erreicht. Damit wurde eine Grundvoraussetzung geschaffen, dass sich nicht nur die Geschäftsführung mit der Thematik auseinandersetzt. Gemeinsam wurden die Ergebnisse in Workshops diskutiert und in eine unternehmensspezifische Risikoanalyse überführt. Dabei wurde nochmals klar, dass in Zukunft ein grundsätzliches Risiko besteht, nicht in ausreichender Zahl Fach- und Führungskräfte für die betriebliche Leistungserstellung zur Verfügung zu haben. Diese Feststellung hat den Ausgangspunkt für ein künftiges qualitatives und quantitatives Personalportfolio sowie für die Definition von Handlungsfeldern und Inhalten für ein generationenübergreifendes Personalmanagement gebildet.
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Auf die Handlungsfelder und Inhalte des generationsübergreifenden Personalmanagements wird im nächsten Kapitel näher eingegangen.
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Handlungsfelder des künftigen Personalmanagements
Die Fähigkeit und die Motivation zu einer konstanten Leistungserbringung werden von vielen unterschiedlichen Faktoren beeinflusst. Wichtig war, im Unternehmen zu erkennen, dass der Alterungsprozess der Mitarbeiter zu einer Einschränkung der Leistungsfähigkeit führen kann und wird. In Diskussionen und in Workshops wurden die Bereiche des künftigen generationsübergreifenden Personalmanagements erarbeitet. Das Ziel war, ein zukünftiges Personalmanagement zu implementieren, damit Maßnahmen frühzeitig ergriffen werden können, um Fehlentwicklungen bei der Leistungsfähigkeit zu vermeiden. Die Handlungsfelder und Bereiche sind in der folgenden Darstellung zusammengefasst. Anschließend werden die einzelnen Handlungsfelder erläutert.
Bereiche des künftigen generationsübergreifenden Personalmanagements
Geschäfts- und Führungsstrategie
Unternehmenskultur
Personal- und Karriereentwicklung
Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit
Gesundheitsförderung und Prävention
Arbeitsplatzgestaltung
Flexible und altersgerechte Arbeitszeit
Personalbindung und -betreuung
Anpassung der Leistungsbedingungen
Abb. 4.1
Strategische Handlungsfelder des Personalmanagements; Quelle: eigene Darstellung
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Strategisches Management
Die zentralen Punkte des generationsübergreifenden Personalmanagements orientieren sich an der Geschäfts- und Führungsstrategie. In ihr sind wesentliche finanzielle und nicht finanzielle Ziele aus der Unternehmensvision und aus dem Geschäftsmodell abgeleitet. Eine jährliche Gegenüberstellung der Ziel- und Istwerte hilft bei der Aufdeckung von Lücken. Die Analyse von Lücken, die Entwicklung und Bewertung von Alternativen sowie das Ableiten von Maßnahmen stellen sicher, dass Defizite schnell und zeitnah ausgeglichen werden. Die Unternehmenskultur wurde ebenfalls als wesentlicher Handlungsansatz herausgearbeitet. Unter dem Begriff Unternehmenskultur wird im Unternehmen die Art und Weise verstanden, wie die Mitarbeiter denken, reden und handeln. Sie orientieren sich hierbei an Werten und Normen, die Teil der Unternehmensstrategie, aber nur bedingt beziehungsweise teilweise sichtbar sind. Sichtbar, hörbar und fühlbar sind Objekte und Verhaltensformen – Artefakte –, wie Symbole, Sprache, Kleidung und Gefühlsäußerungen. Die Unternehmenskultur soll den Mitarbeitern im Wesentlichen ein Höchstmaß an Sicherheit vermitteln. Darüber sollen sie motiviert werden, ihre Fertigkeiten, Begabungen und Fähigkeiten in das Unternehmen einzubringen. Im Zuge des künftigen Personalmanagements kommt der Personalentwicklung und hierbei vor allem der Karriereentwicklung eine besondere Bedeutung zu. Ältere Mitarbeiter sind in der Regel bei Weiterbildungsmaßnahmen im Vergleich zu ihren jüngeren Kollegen unterrepräsentiert. Hier ist das Unternehmen gefordert, über die Tätigkeit Lernanreize zu geben, um damit einem drohenden Leistungsabbau vorzubeugen. Nur wer sich nachhaltig weiterbildet beziehungsweise weitergebildet wird (lebenslanges Lernen) ist im Ergebnis flexibel und an verschiedenen Arbeitsplätzen einsetzbar. Nicht zu übersehen ist hierbei der Erhalt der Arbeitsmarktfähigkeit. Eine wichtige Rolle kommt auch der Suche, Einführung und Einarbeitung neuer Mitarbeiter zu. Dabei spielt es keine Rolle, ob Auszubildende oder Fach- und Führungskräfte rekrutiert werden sollen. Die Einarbeitung soll so vorbereitet werden, dass die Anforderungen an die Tätigkeit und die organisatorischen Abläufe so gestaltet sind, dass alle Altersgruppen ihr Potenzial an Wissen und Erfahrung einbringen können und wollen. Die Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit hat gerade unter dem Einfluss der Anhebung des Rentenalters für das Unternehmen weiter an Bedeutung gewonnen. Mit ihr sollen die Motivation und die Kompetenzen der Mitarbeiter im Verbund mit ihrer Kreativität und Innovationsbereitschaft erhalten und gesteigert werden. Wichtig ist sich bewusst zu machen, dass die Erhaltung der Beschäftigungsfähigkeit nicht auf ältere Mitarbeiter beschränkt werden darf. Sie ist gleichermaßen von Bedeutung für alle Altersgruppen. Aspekte der Beschäftigungsfähigkeit sind unter anderem:
Teamfähigkeit
Konfliktfähigkeit
Persönliche Einstellung und Haltung
Lernwilligkeit
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Kommunikationsfähigkeit
Engagement und Eigeninitiative
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Neben dem Unternehmen sind aber auch die Mitarbeiter gefordert, an ihrer Beschäftigungsfähigkeit zu arbeiten. Die Gesundheit ist eine Grundvoraussetzung, um kontinuierlich im Prozess der Leistungserstellung seiner Arbeit nachgehen zu können. Sie hat aber auch eine nicht zu vernachlässigende Bedeutung in Bezug auf die Lebensqualität. Gesundheitsförderung und Prävention sind daher von zentraler Bedeutung für die Mitarbeiter, um körperlich, geistig und seelisch „fit“ zu bleiben. Nur damit ist eine Basis vorhanden, die beruflichen und privaten Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft meistern zu können. Die Prävention ist ein wichtiger Faktor im Rahmen der Gesundheitsförderung. Zu ihr gehören alle Aktivitäten zur Gesundheitsvorsorge und zur Heilung. Detaillierte Maßnahmen können Vorsorgeuntersuchungen, Suchtprävention, Förderung von sportlicher Betätigung und gesunde Ernährung sein. Diese Maßnahmen sollten gegebenenfalls variiert für die unterschiedlichen Mitarbeitergruppen im Unternehmen eingesetzt werden. Mit der altersgerechten Arbeitsplatzgestaltung hat sich ein weiteres Handlungsfeld ergeben. Heute schon wird der Arbeitsplatzgestaltung eine hohe Bedeutung beigemessen, um die psychische und physische Beanspruchung der Mitarbeiter möglichst gering zu halten, aber auch, um die Gefahren und Belastungen zu minimieren. Es gilt jetzt, dies auf die gesamte Lebensarbeitszeit der Mitarbeiter auszudehnen, damit auch altersspezifische Veränderungen der Mitarbeiter Eingang in die Arbeitsplatzgestaltung finden. Mit einer Arbeitsplatzstrukturanalyse kann die Ergonomie der Arbeitsplätze zusätzlich an die veränderten körperlichen Leistungsmöglichkeiten und Bedürfnisse älterer Arbeitnehmer angepasst werden. Die Arbeitsplatzstrukturanalyse kann sowohl im Angestelltenbereich als auch im gewerblichen Bereich wertvolle Hinweise zur Optimierung liefern. Zunehmendes Alter führt unter anderem dazu, dass die Muskelkraft und die Beweglichkeit nachlassen. Faktoren der Arbeitsumgebung (zum Beispiel Hitze, Lärm, Beleuchtung) werden deutlich stärker wahrgenommen. Gezielte Maßnahmen helfen, dem entgegenzuwirken. In die Arbeitsplatzgestaltung müssen die Körperhaltung, die Körperkräfte, die Gelenkstellungen, die Sehkraft und die Lastenhandhabung sowie die richtige Positionierung von Gegenständen im Arbeitsbereich einbezogen werden. Das Stichwort im Unternehmen ist hierfür die ergonomische Gestaltung der Arbeitsplätze, insbesondere im Hinblick auf mögliche körperliche Einschränkungen. Das hilft, Überbeanspruchungen vorzubeugen und Risikofaktoren, denen ältere Mitarbeiter in Bezug auf ihre Arbeitsfähigkeit ausgesetzt sind, zu minimieren. Im Rahmen der Arbeitsorganisation muss neben den Vergütungsmodellen auch die Arbeitszeitgestaltung durch flexible und altersgerechte Arbeitszeitmodelle an die Bedürfnisse älter werdender Mitarbeiter angepasst werden. Hierbei sollten die Interessen und die Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter ebenso Berücksichtigung finden wie die des Unternehmens. Bei der Flexibilisierung der Arbeitszeit kommen auch so genannte Modelle der lebensphasenbezoge-
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Strategisches Management
nen Arbeitszeitgestaltung in Betracht. Als berufliche Lebensphasen sollen hier der Berufseinstieg, die Familienphase, eine eventuell berufliche und private Neuorientierung sowie die Phase vor Erreichen der Altersgrenze betrachtet werden. Instrumente stehen hierfür ausreichend zur Verfügung. Einige seien hier nochmals aufgeführt:
Variable Arbeitszeit
Arbeitszeitkonten
Längeres Ruhen des Arbeitsverhältnisses (Sabbatical)
Zeiten zur Qualifizierung
Teilzeit oder Job Sharing
Variable Vergütung
Diese und viele andere Instrumente bieten hinreichend Möglichkeiten, um auf die Auswirkungen der demografischen Entwicklung im Zusammenhang mit der Arbeitsorganisation im Unternehmen agieren zu können. Persönliche Belange der Mitarbeiter und die Kenntnis davon sind ein entscheidender Faktor im Handlungsfeld Personalbindung und -betreuung. Nicht beachtet, können sie zu einer Minderung der Leistungs- und Arbeitsfähigkeit führen. Ins Blickfeld der Unternehmensführung sollte hier die Work-Life-Balance rücken. Individuelle Beratung sowie zeitnahe und zielgerichtete Unterstützung bei persönlichen und beruflichen Problemen helfen, die Bedürfnisse der Mitarbeiter in Einklang mit den unternehmensspezifischen Anforderungen zu bringen beziehungsweise zu halten. Ein besonderes Augenmerk sollten die Führungskräfte auf das Bedürfnis nach Anerkennung und Bestätigung lenken. In Verbindung mit einer abgestimmten Laufbahngestaltung bis hin zum Erreichen des gesetzlichen Rentenalters kann so ein wesentlicher Betrag des Personalmanagements zum Erhalten der Einsatzfähigkeit und Halten von qualifizierten Mitarbeitern im Unternehmen geleistet werden. Die Anpassung der Leistungsbedingungen wurde als eine der Handlungsalternativen aufgenommen, um intern zu verdeutlichen, dass für ältere Mitarbeiter bei individueller Leistungseinschränkung gegebenenfalls besondere Einsatzfelder identifiziert werden müssen.
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Maßnahmen und Umsetzung
Allen Aktivitäten und Maßnahmen liegt der Gedanke zugrunde, das Miteinander der Generationen zu fördern, um die individuelle Motivation, Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit über das gesamte Berufsleben zu fördern und zu erhalten.
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Vor diesem Hintergrund wurden im Unternehmen Maßnahmen und deren Umsetzung geplant. Teilweise wurde bereits mit der Umsetzung begonnen beziehungsweise ein Zeitfenster für die Realisierung definiert. Die Basis der Geschäfts- und Führungsstrategie wurde im Bereich der Führungsstrategie um die wertschätzende Führung erweitert. Den Kern bildet die Führungskultur, dabei insbesondere die Wertschätzung der Individualität der Mitarbeiter, ihrer Erfahrungen und ihrer Leistungen. Dabei spielt es keine Rolle, in welchem Lebensabschnitt sich die Mitarbeiter befinden. Um die Aspekte der Unternehmenskultur zu fördern, wurden bereits regelmäßige Treffen mit den Mitgliedern der einzelnen Geschäftsbereiche implementiert. Sie sollen mit dazu beitragen, das Vertrauen und das Gemeinschaftsgefühl zu stärken. Zusätzlich gab es 2008 im Rahmen des initiierten Veränderungsprozesses gemeinsame Veranstaltungen. In diesen wurde explizit darauf geachtet, dass auch ältere Mitarbeiter die entsprechende Wertschätzung erhalten haben und alle Mitarbeiter die Unterschiede zwischen den Generationen anerkennen. Dabei wurde insbesondere auf einen Bewusstseinswandel hin gearbeitet, der helfen soll, ältere Mitarbeiter zu motivieren, ihre Fähigkeiten und Begabungen in die Arbeitsprozesse einzubringen. Mitarbeiter, die ca. zwölf Monate vor dem Austritt aus dem Berufsleben sind, werden überwiegend dafür eingesetzt, ihre Erfahrung, ihr Wissen und ihr Können auf die verbleibenden Mitarbeiter beziehungsweise auf ihre Nachfolger zu übertragen. Dies wird mithilfe von etablierten Mentoring- beziehungsweise Coaching-Programmen umgesetzt. Diese Aktivitäten haben bereits dazu beigetragen, dass schon jetzt eine von Vertrauen und Offenheit geprägte Unternehmenskultur erkennbar ist. Am Handlungsfeld Personal- und Karriereentwicklung soll aufgezeigt werden, wie die kontinuierliche Umsetzung erfolgt. Dabei werden wesentliche Aspekte einer altersgerechten Weiterbildung berücksichtigt, insbesondere das Anknüpfen an Berufserfahrung, die aktive Beteiligung der Mitarbeiter, in Verbindung mit kommunikativem Lernen. Zusätzlich wird eine enge Verknüpfung zu den Arbeitsaufgaben hergestellt. Ein besonderer Fokus liegt auf dem Zeitraum nach der Lernphase. An ausgewählten Projekten wird die Umsetzung des Erlernten praktiziert. Dies fördert den Transfer des Erlernten ins Arbeitsfeld. Unterstützt wurde und wird in den kommenden Jahren die Umsetzung durch die EuroPean Management Akademie AG, mit deren Unterstützung auch das Konzept des Programms erstellt wurde. Einzelheiten sind in der folgenden Abbildung zu sehen.
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Strategisches Management
Vorbereitung
Umsetzung
Kontinuität
Projektplan, Weiterführung der
Potenzialanalysen Entwicklungsgespräche Potenzial-
Linie 1: Handlungskompetenz /Praxis
Potentialanalysen
Linie 2: Management-Knowhow
Netzwerk
Linie 3: Teambildung und Leadership
Mentor und Coach
Linie 4: Persönlichkeitsentwicklung und Personal Performance
Excellence Management und Leadership
Entwicklungspläne
Permanente Evaluation und Controlling
Praxisbeurteilungen, regelmäßige Potenzialanalysen, Leistungstests, persönliches Entwicklungs-Checkheft, finanz. Abgleich, Rückmeldungen vom Coach
Abb. 5.1
Konzept der Personal- und Führungskräfteentwicklung; Quelle: eigene Darstellung, in Anlehnung an ein Konzept der EuroPean Management Akademie AG für ein anderes Unternehmen
2008 wurden bereits durch die EuroPean Management Akademie AG computergestützte Potenzialanalysen auf Basis eines Mastermodells, kein Persönlichkeitsmodell, durchgeführt. Begonnen wurde auf der 1., 2. und 3. Führungsebene des Unternehmens, unter Verwendung von Messkriterien der angestrebten Position. Hierbei wurden mit der Ermittlung der Methoden-, Sozial- und Persönlichkeitskompetenz drei Schwerpunkte gesetzt. Nach Auswertung der Ergebnisse wurde mit der Planung von gezielten persönlichen und unternehmensbezogenen Weiterbildungsmaßnahmen begonnen, die schrittweise in den kommenden Jahren umgesetzt werden. Vorgesehen sind Seminare, Workshops, Coaching und Praxisprojekte. Ebenso ist vorgesehen, die begonnenen Aktivitäten auf nahezu alle Mitarbeiter der Unternehmensgruppe auszudehnen, unter Einbeziehung der direkten Vorgesetzten als wichtige Personalentwickler. Dabei stehen auf der Ebene der Mitarbeiter und Führungskräfte die Personalentwicklung, auf der Ebene der Teams die Teamentwicklung und auf der Ebene des Unternehmens die Organisationsentwicklung im Vordergrund. Gezielte Maßnahmen in den anderen Handlungsfeldern sind beziehungsweise werden sukzessive im Kontext der Erfordernisse des demografischen Wandels und der daraus resultierenden Auswirkungen auf das Unternehmen geplant und umgesetzt.
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Fazit und Ausblick
Die Erhöhung der Erwerbsbeteiligung älterer, erfahrener Mitarbeiter wird für Unternehmen ein entscheidender Faktor für das Bestehen im Markt und im Wettbewerb darstellen. Neben dem Wettlauf um qualifizierte Arbeitskräfte sehen sich Unternehmen vermehrt mit einem geänderten Verhalten der Konsumenten verschiedener Altersgruppen konfrontiert. Um hier bestehen und agieren zu können, ist es notwendig, sich die Folgen des demografischen Wandels bewusst zu machen. Daraus sind für das Unternehmen relevante Handlungsfelder unter hinreichender Berücksichtigung einer strategischen und operativen Planung zu definieren. Diese bilden die Grundlage für proaktives Planen, Umsetzen und Kontrollieren von Maßnahmen zum Ausfüllen der Handlungsfelder. Der Erfolg der Umsetzung wird davon geprägt sein, wie gut die Umsetzung der Maßnahmen auf die einzelnen Mitarbeitergruppen abgestimmt, ihre individuelle Lern- und Leistungsfähigkeit sowie die persönlichen Lebensumstände Berücksichtigung finden. Bei Teschma wurde klar, dass das Unternehmen mit dem Prozess, als Teil des eingeleiteten Veränderungsprozesses, erst am Anfang steht. Teschma ist aber davon überzeugt, 2008 einen ersten großen Schritt in die richtige Richtung unternommen zu haben. Eine weitere Detaillierung ist im Handlungsfeld der Gesundheitsförderung und Prävention in Arbeit. Wesentliche Bausteine werden ein persönliches Gesundheitsprofil mit Gesundheitsplan sein. Teschma wird auch in Zukunft die Handlungsalternativen und Maßnahmen stetig einer Überprüfung unterziehen, um sicherzustellen, dass das Unternehmen in einer aktiven, gestalterischen Rolle bleibt. Der Beginn ist einfach – machen Sie sich bewusst, dass Altern keine Krankheit ist – agieren Sie.
Zur Theorie des Strategischen Managements – Implikationen des demografischen Wandels verweisen wir auf das Lehrbuch „Erfolgreiches Personalmanagement im demografischen Wandel“ von Dagmar Preißing (Hrsg.), 2. Auflage, das 2014 bei De Gruyter Oldenbourg erschienen ist, ISBN 978-3-11-035124-8.
Altersstrukturanalysen: Vorgehen und ableitbare Schlussfolgerungen bei der ZF Friedrichshafen AG Christian Brand Christian Brand ist seit 2010 Leiter Personalbetreuung Logistik und Grundsatzfragen des Geschäftsfeldes ZF Services der ZF Friedrichshafen AG in Schweinfurt. Der zugelassene Rechtsanwalt und Wirtschaftsjurist war zuvor in diversen strategischen und operativen Funktionen im HumanResources-Bereich des ZF-Konzerns tätig sowie als Referent der Arbeitnehmervertretungen und Grundsatzfragenspezialist in der Automobil- und Bankenbranche beschäftigt. Er verfügt dadurch über eine langjährige Berufspraxis im HumanResources-Bereich unterschiedlicher Branchen und Unternehmenskulturen. Seine Schwerpunkte sind nachhaltiges strategisches und operatives Personalmanagement zur Sicherung unternehmerischer und individueller Beschäftigungsfähigkeit insbesondere im demografischen Wandel im Rahmen eines ganzheitlichen Ansatzes. In der Vergangenheit sammelte er umfangreiche Erfahrungen als Leiter diverser Demografieprojekte und ist sowohl konzernweit als auch unternehmensübergreifend regional und überregional vernetzt.
Inhalt 1
Einleitung
19
2
Altersstrukturanalysen: Vorgehen und ableitbare Schlussfolgerungen bei der ZF Friedrichshafen AG
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2.1
Altersstrukturanalyse und Szenarien ........................................................................ 20
2.2
Experteninterviews................................................................................................... 22
2.3
Bereichsinterviews mit Führungskräften und Mitarbeitern ...................................... 23
2.4
ABC-Analyse und Entscheidungsvorlage ................................................................ 25
2.5
Demografiemonitor .................................................................................................. 26
2.6
Interne Kommunikation ........................................................................................... 26
3
Fazit
27
4
Literatur
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1
Einleitung
Eine Frau müsste im Durchschnitt 2,1 Kinder bekommen, um die Bevölkerungszahl in Deutschland konstant zu halten – der tatsächliche Schnitt liegt jedoch bei 1,4 Kindern pro Frau. Folge: Die Bevölkerungszahl in Deutschland wird in den kommenden Jahren weiter absinken, die Gesellschaft überaltert. Angesicht dieser demografischen Entwicklung der Bevölkerung müssen Gesellschaft und Politik reagieren, um den daraus resultierenden Herausforderungen zu begegnen. Doch auch die Unternehmen sind gefordert, die richtigen Antworten auf die veränderte Demografie zu finden. Die allgemeinen demografierelevanten Handlungsfelder sind schnell ermittelt. Arbeitssysteme und Arbeitsorganisation, Gesundheitsförderung und Personalentwicklung sowie Beruf und Familie gehören ebenso dazu wie Personalmarketing und -rekrutierung, Kompetenzmanagement und Laufbahnplanung. Doch wie können unter realistischer Einschätzung der vorhandenen Ressourcen die einzelnen Problemfelder ermittelt und Aktivitäten mit hohem Handlungsbedarf aufgesetzt werden? Ein Anfang 2007 gemeinsam von Unternehmensleitung und Betriebsrat gestartetes Projekt des Automobilzulieferers ZF am Standort Friedrichshafen hat sich mittels detaillierter Altersstrukturanalysen sowie Experten- und Bereichsinterviews diesem Thema genähert und hieraus klare Prioritäten für die Erarbeitung nachhaltiger Lösungen und Maßnahmen entwickelt. Hierbei wurden im Einzelnen folgende Schritte gewählt: 1. Erarbeitung quantitativer Altersstrukturanalysen und Szenarien für den gesamten Standort sowie einzelne Bereiche, 2. Recherche und Analyse bereits vorhandener schriftlicher Informationen in den definierten Handlungsfeldern, 3. Durchführung von Experteninterviews in diesen Handlungsfeldern, 4. Gespräche mit Mitarbeitern und Führungskräften unterschiedlicher Altersklassen in ausgewählten Bereichen, 5. Zusammenführung der gewonnenen Erkenntnisse und Ableitung einer Entscheidungsvorlage für das weitere Vorgehen.
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Altersstrukturanalysen
2
Altersstrukturanalysen: Vorgehen und ableitbare Schlussfolgerungen bei der ZF Friedrichshafen AG
2.1
Altersstrukturanalyse und Szenarien
In einem ersten Schritt wurden Altersstrukturanalysen und Entwicklungsprognosen auf Standort- und Bereichsebene erarbeitet und aufbereitet. Neben der Altersverteilung in den einzelnen Bereichen und Kostenstellen der Produktion, Entwicklung und Verwaltung wurden auch die berufliche Bildung und die Weiterbildungsstunden, die Krankheitsstunden als Anteil an der Jahressollzeit sowie der Anteil schwerbehinderter Menschen beziehungsweise Gleichgestellter nach Altersklassen ermittelt.
Altersstrukturanalyse bei ZF in Friedrichshafen
Heutige Altersstruktur: komprimiert
Abb. 2.1
Altersstrukturanalyse bei ZF Friedrichshafen AG; Quelle: ZF Friedrichshafen AG
ZF Friedrichshafen
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Auf Basis der ermittelten Daten wurden Szenarien bis ins Jahr 2011 errechnet. Bei der Prognose für den Standort Friedrichshafen und für die einzelnen Bereiche wurden vor dem Hintergrund der Volatilität der externen Einstellungen und der marginalen Fluktuationsquote vereinfachende Annahmen getroffen: Als Zugänge wurden die seit Jahren konstanten beziehungsweise leicht steigenden Übernahmen ausgelernter Auszubildender und Berufsakademie-Absolventen angesetzt. Unter den Abgängen wurde auf (bereits feststehende beziehungsweise voraussichtliche) altersbedingte Austritte abgestellt. Während für die Bodenseeregion die demografische Entwicklung derzeit noch vergleichsweise gut aussieht, sind bei ZF die Auswirkungen des Wandels jedoch schon deutlich erkennbar. Das Durchschnittsalter der ZF-Mitarbeiter in Friedrichshafen steigt von fast 42 Jahren im Jahr 2006 auf über 44 Jahre im Jahr 2011. Der Anteil der über 50-Jährigen wird innerhalb von fünf Jahren von momentan einem Viertel auf ein Drittel der Beschäftigten steigen. Der Anteil der unter 35-Jährigen wird in diesem Zeitraum von 25% auf unter 20% sinken.
Szenario: Altersverteilung im Vergleich 2001, 2006 und 2011 Altersverteilung Vergleich 2001, 2006 und 2011
7000 6000
1435
1536
23%
25%
Beschäftigte
5000 4000
2813 46%
3000
2027
50 und älter
33%
3073 50%
2894
35-49 Jahre
48%
2000 1914 1000
31%
1554 25%
1179
unter 35 Jahre
19%
0 2001 n: 6162 Ø-Alter: 40,6
2006 n: 6163 Ø-Alter: 41,8
2011 Jahr n: 6100 Ø-Alter: 44,0
Anteil der jüngeren Beschäftigten nimmt ab und der Anteil älterer Beschäftigter nimmt zu
Abb. 2.2
Die Verhältnisse der Altersgruppen in der ZF verändern sich; Quelle: ZF Friedrichshafen AG
22
Altersstrukturanalysen
Neben der Berechnung und Fortschreibung der Altersstruktur wurden durch die Auswertung der oben genannten Daten die als relevant eingeschätzten Themen bestätigt:
Altersdurchschnitt der Vorgesetzten (Leiter im Organisationsmanagement): 45,6 Jahre,
stark erhöhter Anteil Un-/Angelernter ab Alterklasse 50+,
viel geringere Teilnahme an Weiterbildungsmaßnahmen von 50+ Jährigen,
erhöhte krankheitsbedingte Abwesenheiten in den Altersklassen 50+,
deutlich höherer Anteil der Personen mit einer Schwerbehinderung beziehungsweise Gleichgestellung in den Altersklassen 45+,
komprimierte Altersverteilung bei Gleit-/Teilzeit,
in Schichtmodellen arbeiten in manchen Bereichen auf der einen Seite zwar mehr Jüngere, aber auf der anderen Seite auch mehr Ältere (wobei überwiegend auch Nachtschicht eingeschlossen ist).
Für ZF am Standort besonders relevant ist die differenzierte Betrachtung unterschiedlicher Bereiche. Fertigung, Montage, Forschung und Entwicklung, IT und andere indirekte Bereiche unterscheiden sich signifikant in demografischen Aspekten wie Alters- und Personalstrukturen, Qualifikationen, Weiterbildung, Gesundheitsstand etc. Zudem sind sie unterschiedlichen internen und externen Bedingungen/Einflüssen ausgesetzt, sie haben eigene Bereichsstrategien, spezifische Arbeitsanforderungen/-bedingungen/-zeitmodelle und sind mit unterschiedlichen Teilarbeitsmärkten und damit verbundenen Rekrutierungsmöglichkeiten konfrontiert. Aus den aufgeführten quantitativen Analysen ließen sich Problemfelder und deren Brisanz für den Standort und einzelne Bereiche abschätzen.
2.2
Experteninterviews
Zur Präzisierung der ermittelten Problemfelder mittels quantitativer Analysen sowie zur Sammlung erster Lösungsansätze wurden Experten in den genannten Themenfeldern um ihre Einschätzung in Bezug auf mögliche Antworten auf den demografischen Wandel gebeten. Mit den Unternehmensverantwortlichen und Betriebsratsvertretern der entsprechenden Themenfelder (zum Beispiel Leiter Personalentwicklung, Vorsitzender des Bildungsausschusses des Betriebsrats) wurden bereits vorhandene Strukturen und Instrumente innerhalb der definierten Handlungsfelder, aber auch notwendige Weiterentwicklungen und Lücken erörtert. Für die Interviews wurden zunächst vorliegende Daten in den Themenfeldern gesammelt, strukturiert und analysiert. Herangezogen wurden dabei vor allem Tarifverträge, Betriebsvereinbarungen, interne Präsentationen, Handbücher, Berichte, Diplom- und Projektarbeiten, Broschüren, Formulare und Vorlagen.
ZF Friedrichshafen
23
Auf dieser Basis wurden folgende konkrete Fragen, spezifisch für jedes Handlungsfeld formuliert:
Wie wird die aktuelle und künftige Situation im Themenfeld mit Blick auf die demografische Entwicklung eingeschätzt?
Liegen – neben den bereits erstellten – weitere spezifische Analysen mit Demografierelevanz vor?
Gibt es aktuelle und (mögliche) künftige Aktivitäten mit Demografiebezug?
Welche Prioritäten bestehen zur Gestaltung des demografischen Wandels für ZF am Standort?
Am Beispiel des Handlungsfelds „Personalentwicklung“ wurde dabei unter anderem Folgendes abgefragt:
Liegen weitere Daten und Informationen zum Thema Alter und Qualifizierung vor?
Welche Themenschwerpunkte gibt es im Rahmen der Weiterbildung?
Wie wird der Bedarf ermittelt?
Wie sieht die Praxis der Personalentwicklungsgespräche – insbesondere mit Blick auf das Alter der Mitarbeiter – aus?
Gibt es altersgerechte Ansätze der Didaktik (zum Beispiel bei IT-Schulungen oder Trainthe-Trainer-Konzepten)?
Die ausführlichen Gesprächsprotokolle wurden in einer Matrix verdichtet. In dieser sind für jedes Handlungsfeld Unterthemen aufgeführt, welche hinsichtlich einer systematischen, unsystematischen oder fehlenden Beachtung demografierelevanter Aspekte beurteilt wurden. Darüber hinaus wurden Models of Good Practice festgehalten. Für das dargestellte Beispiel „Personalentwicklung“ ist hier unter anderem das so genannte Personalentwicklungsgespräch als systematisches Instrument eingetragen. Darin wird mit allen Mitarbeitern nach festgelegten Vorgaben einmal im Jahr deren aus der Strategie abgeleiteter Weiterbildungsbedarf besprochen. Allerdings werden bislang demografische Aspekte des Alter(n)s in den Gesprächen nicht berücksichtigt. Zudem ist in der gelebten Praxis festzustellen, dass ab 50+ die Dichte der Gespräche abnimmt.
2.3
Bereichsinterviews mit Führungskräften und Mitarbeitern
Um die Ergebnisse aus den Voruntersuchungen und die Top-Down-Einschätzungen der Experten zu validieren und für einzelne Bereiche zu konkretisieren, wurden sie in einem weiteren Schritt um Bereichsinterviews ergänzt. Dazu wurden Führungskräfte und Mitarbeiter
24
Altersstrukturanalysen
unterschiedlicher Altersgruppen aus verschiedenen Bereichen, in denen die Analysen vordringlichen Handlungsbedarf signalisierten, interviewt. Bei der Auswahl der Bereiche hat ZF den besonders (hohen oder geringen) Anteil der Mitarbeiter 50+ berücksichtigt, eine (hohe) Zahl an altersbedingten Abgängen, mit Blick auf (alterskritische) Rahmenbedingungen – zum Beispiel Nachtschichtarbeit –, und die Relevanz für den Standort. Die Interviews wurden anhand eines standardisierten Gesprächsleitfadens durchgeführt. Der Gesprächsleitfaden wurde im ersten Teil an den Erhebungsbogen des Arbeitsbewältigungsindex von Ilmarinen angelehnt. Besonderes Augenmerk gilt damit Gesundheit, Arbeitsbedingungen (Arbeitsplatz und -organisation), beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten (Laufbahnplanung und Qualifizierung) sowie Betriebsklima (Unternehmenskultur und Führung). Zu diesen Aspekten wurden den Mitarbeitern beziehungsweise Führungskräften jeweils die folgenden Fragen gestellt:
Was tun Sie (als Mitarbeiter) dafür bereits?
Was können Sie (als Mitarbeiter) darüber hinaus für sich tun?
Was macht ZF, was machen Sie als Vorgesetzter dafür bereits?
Was kann ZF, was können Sie (als Mitarbeiter beziehungsweise als Vorgesetzter) darüber hinaus tun?
Zudem wurden die Befragten gebeten, die Perspektive der Tätigkeiten für sich selbst beziehungsweise in ihrem Bereich abzuschätzen. Ein weiterer Schwerpunkt lag auf der Erfassung der Zusammenarbeit der Generationen, unter Beachtung der verschiedenen (zugeschriebenen) Stärken und Schwächen. Die befragten Führungskräfte beurteilten darüber hinaus ihr Wissen zu den Auswirkungen des demografischen Wandels sowie die Information und Kommunikation im Unternehmen zum Thema. Auch hier erfolgte die Zusammenfassung der Gesprächsprotokolle in Matrizen. Für jeden Bereich wurden zu den jeweiligen Handlungsfeldern die benannten Unterthemen aufgelistet und entweder als Models of Good Practice oder als „offene Themen“ bewertet, die Grundlage für weitere Projekte sein können oder im Sinne so genannter Quick Wins sofort umgesetzt werden könnten. So wurden beispielsweise in einer Kostenstelle der Fertigung als Good Practice einige ergonomische Erleichterungen (zum Beispiel rollenbasierte Vorrichtung zur Räderkontrolle) genannt. Als Quick Win konnte hier eine altersgerechte Einschulung auf neue Maschinen/Systeme empfohlen werden, was alleine durch die vorrangige Schulung von Älteren (die dieses Wissen dann auch intern weitervermitteln können) erreicht werden kann. Als Projektthema wurde die Gestaltung der (Nacht-) Schichtarbeit festgehalten.
ZF Friedrichshafen
2.4
25
ABC-Analyse und Entscheidungsvorlage
Aus den Erkenntnissen der quantitativen Analysen, den betriebsinternen Unterlagen sowie den Ergebnismatrizen der Expertengespräche und Bereichsinterviews wurde mittels ABCAnalyse die Entscheidungsvorlage für das weitere Vorgehen erstellt.
Erstellung der Entscheidungsvorlage zur Auswahl von Pilotprojekten Quantitative (Alterstruktur-) Analysen Auswertung aller verfügbaren Daten unter dem Aspekt der Demografierelevanz
Inhaltsanalysen Sammlung aller demografierelevanten Informationen zu den definierten Handlungsfeldern Demographische Aspekte
Anteil > 50 Anteil > 50 Diff %-Pkt J. in % 2006 J. in % 2011
Anzahl 2006 Anzahl 2011 Diff Anzahl
Handlungsfelder
Entwicklungsbereich Passau Montage Logistik Betriebsrat Controlling, Finanzen, Unternehmensentwicklung Entwicklungsdienste Fertigung (nur F, F-BW) Fertigung allgemein Produktionssystem Consulting Fertigung Guss Fertigung Wärmebehandlung Produktions-Standortplanung Fertigung Räder und Wellen Fertigung Synchronteile, Planetentriebteile, Schaltteile Werktechik und Instandhaltung Informatik N Montage und Logistik Marketing und Kommunikation Kundenservice/Ersatzmarkt Leitung N Personal Qualitätsmanagement Bus-Antriebstechnik (ohne BML) LKW-Antriebstechnik (ohne LML) Sonderantriebstechnik Pickup/Van-Antriebstechnik Vorstandsvorsitzender Materialwirtschaft ZF Marine ZG-Materialwirtschaft und Global Business ZF-Personal ZT-Technik ZV-Finanzen/Controlling und Informatik
20 6 50 36 17 33 29 0 31 29 35 32 29 25 16 20 37 27 100 23 30 26 23 27 7 17 29 19 5 18 17 24 25
Bereiche
Bereich AAE/AC BML BRT C E F FA FC FG FH FP FR FS FW I-N LML MC MKS N P Q SB SL ST SV V W ZF MAR ZG ZP ZT ZV ZF gesamt
48 11 63 56 26 67 34 20 37 29 48 34 34 34 24 27 56 37 100 37 31 38 29 43 16 24 31 32 17 27 28 34 33
28 5 13 20 9 34 5 20 6 0 13 2 5 9 8 7 19 10 0 14 1 12 6 16 9 7 2 13 12 9 11 10 8
5 %-Pkt > D. 5 %-Pkt > D. 5 %-Pkt > D.
51 262 16 124 127 3 278 10 251 257 221 407 458 301 57 748 51 256 2 78 117 153 264 303 56 117 14 161 41 39 718 222 6163
48 260 16 115 119 3 276 10 228 252 199 375 439 309 63 794 48 251 1 83 107 148 262 298 61 127 13 154 41 41 722 232 6095
-3 -2 0 -9 -8 0 -2 0 -23 -5 -22 -32 -19 8 6 46 -3 -5 -1 5 -10 -5 -2 -5 5 10 -1 -7 0 2 4 10 -68
Diff. / Anz.2006
-5,88% -0,76% 0,00% -7,26% -6,30% 0,00% -0,72% 0,00% -9,16% -1,95% -9,95% -7,86% -4,15% 2,66% 10,53% 6,15% -5,88% -1,95% -50,00% 6,41% -8,55% -3,27% -0,76% -1,65% 8,93% 8,55% -7,14% -4,35% 0,00% 5,13% 0,56% 4,50% -1,10%
Anzahl Merkmale
Streich-resultat 1.Runde
2 0 2 4 1 0 0 1 2 0 4 2 0 0 1 1 3 0 1 2 2 1 0 2 1 1 1 1 0 0 0 0
entfällt
entfällt, zu klein entfällt, zu klein
entfällt
entfällt, zu klein entfällt, zu klein entfällt, zu klein
-6% +6%
Experteninterviews Erörterung demografierelevanter Themen/Instrumente in den Handlungsfeldern, Weiterentwicklungen und Bedarfe mit den Themenverantwortlichen
Abb. 2.3
Bereichsinterviews Aufnahme von Erfahrungen und Meinungen von Führungskräften und Mitarbeitern vor Ort zu den relevanten Themenfeldern
Informationsquellen zur Ableitung konkreter Ansatzpunkte; Quelle: ZF Friedrichshafen AG
Neben der allgemeinen Sensibilisierung für das Thema „Demografie“ und zahlreichen Rückmeldungen und Anregungen wurden als zentrales Ergebnis konkrete Ansatzpunkte beschlossen und die konzeptionelle Ausarbeitung verschiedener Pilotprojekte in Auftrag gegeben. Zum einen wurden Pilotprojekte aufgesetzt, die in ausgewählten Bereichen erste Konzepte in den jeweiligen Handlungsfeldern entwickeln und erproben sollen. Hierzu zählen beispielsweise:
Erarbeitung eines alter(n)sgerechten Drei-Schicht-Modells in einer Produktionskostenstelle. Neben unternehmensseitigen Anforderungen an Betriebsnutzungszeiten und Wirtschaftlichkeit stehen die Möglichkeiten eines gesunden Verbleibs der Mitarbeiter bis zum Renteneintritt im Fokus,
26
Altersstrukturanalysen
Sicherung von Erfahrungswissen in einem indirekten Bereich mit dem Ziel, Wissensund Kernkompetenzträger zu identifizieren und Instrumente zum Wissenstransfer zur Verfügung zu stellen,
Erstellung von alter(n)sgerechten Tätigkeitsprofilen und Entwicklung von Laufbahnmodellen in einem indirekten Bereich, mit denen Mitarbeiter in alterskritischen Tätigkeiten ihr Berufsleben uneingeschränkt bis zum Renteneintritt verbringen können.
Da die Auswahl der Pilotbereiche auch unter dem Gesichtspunkt der Relevanz für den gesamten Standort erfolgte, soll den jeweiligen Pilotprojekten ergebnisabhängig ein stufenweiser Transfer folgen. Zum anderen wurden bereichsübergreifende „Themenpiloten“ gestartet. Ein erster Pilot beschäftigt sich dabei mit der Weiterentwicklung eines Instrumentariums zur Analyse arbeitsbedingter psychischer Belastungen unter Berücksichtigung altersspezifischer Besonderheiten. Ziel ist deren Erhebung, um darauf aufbauend Maßnahmen zur Belastungsreduktion und Stärkung der Ressourcen zu empfehlen. Ein zweiter Pilot und das zentrale Element für die Entscheidung über weitere Folgethemen und Projekte betrifft die Vermittlung der erforderlichen Demografiekompetenz. Darunter wird zunächst die Vertiefung des Wissens und Bewusstseins zum Thema demografische Entwicklung und Auswirkungen mit Blick auf die jeweiligen Erfordernisse verstanden, um darauf aufbauend Steuerungs- und Handlungskompetenz vermitteln zu können. In einem ersten Schritt wird dabei eine Seminarreihe für Führungskräfte erarbeitet und erprobt, um im weiteren Verlauf einen Prozess des Vermittelns und Ermittelns im Sinne einer lernenden Organisation implementieren zu können. Begleitet wird dieses Konzept von der Einführung eines Demografiemonitors, mit dem die demografierelevanten Daten zur Verfügung gestellt werden.
2.5
Demografiemonitor
Beim Demografiemonitor handelt es sich um eine Portalanwendung für Führungskräfte, auf deren Basis die wichtigsten Kennzahlen der demografischen Entwicklung bis auf Kostenstellenebene aufgezeigt werden. Damit stehen allen Vorgesetzten für ihren Bereich demografierelevante Daten wie Personal- und Altersstruktur sowie Szenarien, Fluktuationsquoten, Gesundheitsstand und Arbeitszeitmodelle immer aktuell zur Verfügung. Dadurch werden die oben beschriebenen Altersstrukturanalysen kontinuierlich fortgeschrieben.
2.6
Interne Kommunikation
Begleitet wurde und wird der gesamte Prozess neben direkten Feedbacks an die Befragten von zahlreichen Kommunikationsmaßnahmen. Darunter beispielsweise Platzierung von
ZF Friedrichshafen
27
Artikeln in der Mitarbeiterzeitschrift, Einrichtung einer Intranetseite, Vorstellung in Unternehmens- und Betriebsratsgremien sowie auf der Betriebsversammlung. Damit wird ein allgemeines Bewusstsein geschaffen und die Grundlage für die weitere Auseinandersetzung gelegt.
3
Fazit
Mittels detaillierter Altersstrukturanalysen und Entwicklungsprognosen auf Standort- und Bereichsebene können erste Problemfelder identifiziert und gezielte Aktivitäten mit hohem Handlungsbedarf aufgesetzt werden. Die Ergänzung um strukturierte Experteninterviews und entsprechende Erhebungen bei Führungskräften und Mitarbeitern in den betreffenden Bereichen liefern erste Lösungsansätze und mögliche Antworten auf den demografischen Wandel. Gleichzeitig wird hierdurch das Bewusstsein für das Thema der demografischen Entwicklung und deren Auswirkungen und Handlungsfelder geschärft und die Entwicklung einer Demografiekompetenz gefördert. Die gesammelten Erkenntnisse sind strukturiert dokumentiert und können auch für weitere Entscheidungen herangezogen werden. Die stetige Fortführung der Analysen unterstützt den Entwicklungsprozess des Unternehmens hin zu einer demografierelevanten Steuerungs- und Handlungskompetenz.
4
Literatur
Ilmarinen, J. E.: Älter werdende Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, in: Cranach, M. v. et al. (Hrsg.), Ältere Menschen im Unternehmen, Chancen, Risiken, Modelle, Bern, 2004 Köchling, A., Gesellschaft für Arbeitsschutz- und Humanisierungsforschung mbH Volkholz und Partner (Hrsg.): Leitfaden zur Selbstanalyse altersstruktureller Probleme in Unternehmen, Dortmund, 2006 Müller, S., Eisele, D.: Demografie – Von der Information zur Tat, in: Personalwirtschaft, 09/2008, S. 42-45
28
Altersstrukturanalysen
Prager, J. U., Schleiter, A., Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Älter werden – aktiv bleiben?! Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage unter Erwerbstätigen in Deutschland, Gütersloh, 2006
Zur Theorie von Altersstrukturanalysen im Kontext des demografischen Wandels verweisen wir auf das Lehrbuch „Erfolgreiches Personalmanagement im demografischen Wandel“ von Dagmar Preißing (Hrsg.), 2. Auflage, das 2014 bei De Gruyter Oldenbourg erschienen ist, ISBN 978-3-11-035124-8.
Rekrutierungsstrategien zur Beschäftigung älterer Arbeitnehmer – Das Beispiel Fahrion Engineering Jens Fahrion und Otmar Fahrion Jens Fahrion ist Dipl.-Geograph (Städtebau und Umwelttechnik) und Technischer Betriebswirt. Seit mehreren Jahren ist er in der allgemeinen Fabrikplanung und im Projektmanagement sowie als Leiter EDV und im Qualitätsmanagement bei Fahrion Engineering GmbH & Co. KG in Kornwestheim tätig. Seine umfangreichen Fremdsprachkenntnisse sind im Rahmen seiner internationalen Tätigkeit sehr hilfreich.
Otmar Fahrion durchlief nach seinem Studium Maschinenbau und Betriebswirtschaft verschiedene berufliche Stationen. So war er als Konstrukteur und Konstruktionsleiter im Maschinenbau und als technischer Geschäftsführer im Anlagenbau tätig. Seit 1975 ist er geschäftsführender Gesellschafter der Fahrion Engineering GmbH & Co. KG in Kornwestheim. Das Unternehmen plant national und international Produktionseinrichtungen und Fabrikanlagen im Maschinenbau, Fahrzeugbau, Flugzeugbau und Schiffsbau.
Inhalt 1
Einleitung
31
2
Schwieriger Personalmarkt – Fabrikplaner
32
2.1
Anpassung der Personalstruktur an neue Auftragsstrukturen ................................... 33
2.2
Rekrutierung „ausgemusterter“ Fachleute................................................................ 34
2.3
Fakten statt Vorurteile .............................................................................................. 36
2.4
Wettbewerbsvorteile ................................................................................................. 37
3
Fazit: Wissenszenit 50plus ist Berufszenit
37
1
Einleitung
Die folgende Praxisstudie reflektiert die ganz spezifische Situation der Fahrion Engineering GmbH & Co. KG mit dem Standort in Kornwestheim bei Stuttgart, im Südwesten Deutschlands. Mit diesem Standort ist das Unternehmen in einer der am stärksten industrialisierten Regionen Europas beheimatet und entsprechend mit spezifischen Rekrutierungsbedingungen konfrontiert. Das Unternehmen wurde 1975 gegründet und befasst sich mit hochwertiger Fabrikplanung und offeriert dabei eine breite Palette an Dienstleistungen – von den ersten Visionen über neue Fabrikhallen oder Umstrukturierungen beim Kunden bis hin zu schlüsselfertigen Übergaben kompletter Fabrikanlagen einschließlich der Betreuung von Serienanläufen und Produktionsprozessen. Die langjährigen Erfahrungen auf dem Gebiet der Personalrekrutierung sind zwar einerseits sicherlich branchen- und regionalspezifisch zu sehen, doch lassen sich andererseits viele Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen als allgemeingültige Informationen im Sinne einer induktiven Methodik auf andere Unternehmen in anderen Industriesektoren und an unterschiedlichen geografischen Standorten übertragen. Ausgehend von den individuellen ökonomischen Rahmenbedingungen für Fahrion Engineering legt die Studie zunächst dar, weshalb sich das Unternehmen in den 1990er Jahren mit der Frage alternder Belegschaften beschäftigte. Anschließend werden Rekrutierungsstrategien sowie Möglichkeiten zur Verbesserung der Arbeitsumgebung aufgezeigt. Des Weiteren wird gezeigt, wie die Bedürfnisse älterer Arbeitnehmer besser abgedeckt werden können. Zum Schluss wird das wichtigste Anliegen der Studie genannt, welches darin besteht, die Auseinandersetzung mit diesem Thema nicht nur als ein notwendiges Übel in der Bewältigung des demografischen Wandels zu sehen. Vielmehr soll erkannt und vermittelt werden, dass die Beschäftigung älterer Mitarbeiter in den Betrieben aus ökonomischem Gründen sinnvoll ist, ohne dass ethische, moralische oder soziale Überlegungen im Mittelpunkt der Entscheidung stehen. Diese genannten Aspekte sind eine positive Begleiterscheinung, die jedoch nicht ursächlich für die bewusste Beschäftigung Älterer steht. Die beschriebenen Strategien können wertvolle Ratschläge für das Personalmanagement in den Unternehmen sein, aber auch Anregung für Lokalpolitiker, wirtschaftliche, städtische und ausbildende Institutionen, Berater, Studierende sowie für weitere Funktionen, die als Multiplikatoren dienen.
32
2
Rekrutierungsstrategien
Schwieriger Personalmarkt – Fabrikplaner
Das Unternehmen Fahrion Engineering GmbH & Co. KG in Kornwestheim plant und realisiert komplett neue Fabriken oder verändert vorhandene Produktionsanlagen von Industriekunden. Anlässe zur Umstrukturierung beim Kunden sind:
neue Produkte und Produktionsstätten,
Änderungen im Produktmix,
Änderungen der Fertigungstiefe,
Rationalisierungen,
Hoch- oder Rückläufe,
Verlagerungen und
Fusionen oder Aufspaltungen.
Generell beschränken sich die Aktivitäten des Unternehmens Fahrion Engineering nicht auf eine spezielle Industriebranche, doch die Kunden sind schwerpunktmäßig aus metall- und kunststoffverarbeitenden Unternehmen des Fahrzeug-, Maschinen-, Flugzeug- und Schiffbaus. Hierbei richtet sich das Hauptaugenmerk auf den Automobilsektor und die Maschinenbaubranche, da diese die beiden wichtigsten Wirtschaftszweige in der Region Stuttgart darstellen. Die relativ hohe Bedeutsamkeit der Luftfahrtindustrie für das Unternehmen Fahrion Engineering kann auf den Umstand zurückgeführt werden, dass das Unternehmen als ein Spin-off eines größeren Unternehmens im Flugzeugbau ausgegründet wurde und noch immer den Kontakt zu wichtigen Multiplikatoren dieser Branche aufrechterhält. Außerdem werden auch Projekte in Branchen durchgeführt, die für das Unternehmen eher ungewöhnlich sind: In der Lebensmittelindustrie, im Schiffbau (eine besonders atypische Branche für die Region Stuttgart, die 500 Kilometer von der nächsten Meeresküste entfernt liegt) oder reine Architekturthemen ohne Produktions- oder Prozessplanung. Um die vielfältigen Aufgaben der unterschiedlichen Industriebranchen bearbeiten zu können, beschäftigt das Unternehmen etwa 100 Ingenieure verschiedenster Fachrichtungen und einige Architekten. Die Arbeiten werden in Projektteams erbracht, welche meist aus einem Projektleiter, einem Projektingenieur, einem Prozess-Spezialisten und einem CAD-Fachmann bestehen. Die vielseitigen und ständig wechselnden Aufgaben erfordern generalistisches Wissen und Stehvermögen bei der Umsetzung. Die interne Berufsentwicklung zum Projektingenieur dauert drei bis sechs Jahre, die zum Projektleiter zehn bis zwölf Jahre. Leider sind nur wenige junge Leute gewillt, diesen langen, steinigen Weg in der Fabrikplanung durchzustehen oder nach Abschluss eines Projekts weiter zu beschreiten. Von zehn „Startern“ ver-
Fahrion Engineering
33
bleiben auf Dauer nur drei bis vier bei Fahrion Engineering oder auch bei anderen vergleichbaren Unternehmen. Neben der langwierigen Qualifizierung kommt erschwerend der Standort in der Region Stuttgart hinzu. Die starke Konzentration der Fahrzeug- und Maschinenbauindustrie mit vielen großen, namhaften Unternehmen begünstigt zwar einerseits die Auftragslage, andererseits herrscht aber eine starke Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt der Ingenieure. Die großen Unternehmen werben mittels attraktiver Gehalts- und Weiterbildungsangebote insbesondere die jüngeren Ingenieure und Techniker ab. Die daraus entstehenden Personalabgänge und die zwischenzeitlich sehr kurzfristigen Auftragseingänge haben Fahrion Engineering dazu veranlasst, in Bezug auf die Personalrekrutierung Neuland zu betreten. Dazu mussten vorab drei Fragen geklärt werden: 1.
Welche Aufgaben erwartet Fahrion Engineering in der Zukunft?
2.
Welcher „Typus“ Ingenieur wird dafür gebraucht?
3.
Eignen sich dazu besser jüngere oder ältere Mitarbeiter oder ein Mix?
2.1
Anpassung der Personalstruktur an neue Auftragsstrukturen
Einschneidende Veränderungen in den Kundenbereichen von Fahrion Engineering, insbesondere bei Fahrzeugherstellern, Zulieferern und Logistikern, ergaben sich durch Globalisierung, intensivierte Forschung und Entwicklung sowie kürzere Modellzyklen und die Begrenzung auf Kernbereiche. Einschneidende Veränderungen in unserer Auftragsstruktur, neue Geschäftsfelder und weitere Einflussfaktoren wie:
extrem kurzfristige Projektstarttermine,
reduzierte Planungsdauer,
abgegrenzte Vorgaben zu flexiblen und wiederverwendbaren Anlagen,
permanente und gezielte Betreuung von Lieferanten und
ständige Verbesserungsprozesse
fordern einen deutlich anderen Qualifikationsbedarf von Mitarbeitern als bisher. Entsprechend wurden die Einstellungskriterien für zukünftige Mitarbeiter angepasst und folgendes Anforderungsprofil für Projektleiter entwickelt:
hohe Prozesskompetenz,
Realisierungs- und Managementfähigkeit,
34
Rekrutierungsstrategien
Motivation, Loyalität und Bereitschaft zur Arbeit mit modernen Methoden und Geräten und somit auch zur ständigen Weiterbildung,
Reisebereitschaft und -fähigkeit, Sprachen,
kurzfristige Verfügbarkeit,
Erfüllung der Voraussetzungen zu einer verlässlichen und planbaren Dauer der Zusammenarbeit.
Die Mitwirkung bei interdisziplinären Treffen mit Kunden und Externen verlangen auch soziale Kompetenzen, wie zum Beispiel Verhandlungsgeschick und Kommunikationsstärke, Eloquenz, ein gepflegtes Äußeres und ein insgesamt professionelles, geschäftsmäßiges Auftreten. Diese Kriterien erfüllen in ihrer Gesamtheit meist nur ältere Mitarbeiter, die im Laufe ihres Arbeitslebens die Möglichkeit hatten, die notwendigen Fertigkeiten zu entwickeln. Eventuellen fachlichen Defiziten, wie fehlende CAD-Ausbildung oder internationale Rechts- und Wirtschaftskenntnisse, begegnet Fahrion Engineering mit einer internen Pflichtschulung in der Einarbeitungsphase. Auch Personalentwicklungsmaßnahmen im Bereich sozialer, methodischer oder persönlicher Kompetenzen werden angeboten. Die wachsende Nachfrage des Unternehmens nach älteren Ingenieuren und Technikern, die als Generalisten fungieren, spiegelt sich in der Struktur der Arbeitsteams wider. In den 1980er Jahren bestand ein festes Arbeitsteam aus einem Projektleiter, einem oder zwei Projektingenieuren und einigen Spezialisten für rechnergestützte Entwicklung und Layoutierung, was einer pyramidenförmigen Hierarchie mit einer breiten Basis aus Zuarbeitern und einer entscheidungsbefugten Person an der Spitze entsprach. Heute setzt sich ein eher spontan festgelegtes Arbeitsteam aus einem Mitarbeiter pro Hierarchieebene zusammen. Die Tendenz geht dabei zum Ein-Mann-Projekt, bei dem der erfahrene und generalistisch gebildete Allround-Ingenieur nicht nur eigene Konzepte erstellen, sondern diese auch selbst am Rechner umsetzen kann.
2.2
Rekrutierung „ausgemusterter“ Fachleute
Im Zuge von Betriebsschließungen anderer Unternehmen im Jahre 1999 konnte Fahrion Engineering die dort freigesetzten Planungschefs anstellen. Die Leistungen dieser über 50Jährigen waren so beeindruckend, dass das Unternehmen im Jahr 2000 beschloss, gezielt weitere ältere Mitarbeiter zu rekrutieren. Bei den zahlreich geführten Bewerbergesprächen fiel auf, dass die meisten arbeitslosen Ingenieure über 50 Jahre durch ständige Absagen und Brüskierungen resigniert hatten und sich auf herkömmliche Anzeigen nicht mehr bewarben. Darum wurde eine Anzeige mit der folgenden provokanten Überschrift „Mit 45 zu alt, mit 55 überflüssig?“ geschaltet:
Fahrion Engineering
35
Mit 45 zu alt – mit 55 überflüssig? Wir suchen Ihre Berufs- und Lebenserfahrung zu
Ingenieurmäßiger Arbeit
für Zukunftsprojekte in Fahrzeugbau, Luftfahrt, Maschinen- und Stahlbau.
Ingenieuren, Technikern und Meistern
bis 65
aus Planung, Konstruktion, AV und Produktion bieten wir interessante und verantwortungsvolle Arbeit als
• Projektmanager • Projektleiter
- Gesamtheitliche Fabrikplanung - Planung von Produktionsund Logistikstrukturen
• Projektingenieure • Projektkonstrukteure
- Fertigungs- und Montageplanungen - Anlagenprojektierung
Ihre Kurzbewerbung mit tabellarischem Lebenslauf und Angaben zum Eintrittstermin bitte an:
INNOVATIVE FABRIKPLANUNG
Abb. 2.1
Remsstraße 11 • D-70806 Kornwestheim Tel. 0 71 54 / 8 16 01 – 0 • Fax 0 71 54 / 2 78 09
Stellenanzeige Fahrion Engineering „Rekrutierung älterer Mitarbeiter“; Quelle: Fahrion Engineering
Diese Anzeige kann nicht nur als revolutionär für die Personalrekrutierung, sondern für das generelle Geschäftsleben betrachtet werden, weil sie einen Bruch in der Bewertung älterer Mitarbeiter darstellt. Bevor das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) galt, waren zahlreiche Personalanzeigen altersdiskriminierend dahingehend aufgebaut, dass vorwiegend jüngere Mitarbeiter gesucht wurden oder eine maximale Altersgrenze von 40 Jahren festgelegt war. Die aktive Rekrutierung der Erwerbspersonengruppe 50plus durch Fahrion Engineering war also ein komplett neues Phänomen. Nicht umsonst sorgte diese Art der Rekrutierung in der deutschen Öffentlichkeit für Furore und zog Diskussionen, Interviews und Reportagen in der ganzen Welt nach sich. Im Unternehmen gingen auf die spezielle Annonce 527 Bewerbungen ein. Etwa 280 geeignete Kandidaten kamen in die engere Wahl. Fahrion Engineering entschied sich, statt der vorgesehenen vier neuen Mitarbeiter sogar 19 Ingenieure einzustellen; davon waren 15 über 50 Jahre alt. Mit dieser erweiterten Belegschaft war das Unternehmen in der Lage, seinen Kunden auch neue Geschäftsfelder anzubieten und zusätzliche Aufträge anzunehmen, so in Südafrika, USA, Mexiko, Brasilien, China sowie in West- und Osteuropa. Diese Situation hatte sich nachhaltig positiv entwickelt und stabilisiert, so dass im Jahre 2001 nochmals sieben Mitarbeiter im Alter zwischen 40 und 55 Jahren eingestellt werden konnten.
36
Rekrutierungsstrategien
Diese gesetzeskonforme und neue Art, Einstellungen vorzunehmen, wurde sehr rasch bekannt. Darum erhält das Unternehmen noch heute wöchentlich fünf bis zehn Initiativbewerbungen aus allen Teilen Deutschlands und aus dem Ausland. Es sind je zur Hälfte Arbeitssuchende und Wechselwillige, die jedoch zunächst nur in eine Datenbank aufgenommen werden können, um sie bei eventuell späterem Bedarf zu kontaktieren. Die Altersstruktur der Bewerber stellt sich wie folgt dar: 25% sind unter 35 Jahre, 25% sind zwischen 35 und 45 Jahre und 50% sind über 45 Jahre alt. Es zeigt sich also, dass diese Form der Rekrutierung zu einem Bekanntheitsgrad geführt hat, der sowohl die Kosten der Rekrutierung senkt und gleichzeitig ein großes Bewerberangebot generiert. Noch viele Jahre wird der Personalmarkt eine große Anzahl älterer Ingenieure anbieten. Unter den Arbeitssuchenden im Jahr 2007 befanden sich fast 10% Ingenieure, davon 70% älter als 50 Jahre. Außerdem steigt der Anteil älterer Arbeitnehmer demografisch bedingt ständig weiter. Damit entsteht ein großes Potenzial des „nachwachsenden Wertstoffs ältere Arbeitnehmer“.
2.3
Fakten statt Vorurteile
Unternehmen stellen ältere Bewerber sehr oft nicht ein, weil sie negative Stereotypen gegenüber älteren Mitarbeitern pflegen: so gelten Ältere als unflexibel, langsam, kränklich, ohne Leistungswillen oder fachlich nicht auf aktuellem Stand. Tatsächlich aber müssen jüngere Mitarbeiter, bedingt durch Familie, Kinder, Ausbildung, Sport und Freizeitverpflichtungen oder den Bau ihres Eigenheims, permanent größere Ablenkungen bewältigen. Wie die Erfahrung bei Fahrion Engineering zeigt, sind Jüngere in ihrer betrieblichen Verfügbarkeit und Flexibilität also wesentlich mehr eingeschränkt als Ältere. Auch der Krankenstand stellt sich bei den Jüngeren nicht unbedingt positiv dar, weil sie vielfach glauben, sich Fehlzeiten erlauben zu können. Ältere Mitarbeiter sind dagegen bestrebt, ihre Leistungsfähigkeit stets unter Beweis zu stellen. Über Agilität und Leistungswillen entscheidet grundsätzlich nicht das Alter, sondern die individuelle Eignung, Einstellung und Mentalität. Mitarbeiter, die eine zweite berufliche Chance erhalten, sind meistens sehr loyal und motiviert. Dies beweisen die Wochenendpendler 50plus bei Fahrion Engineering aus Bremen, Bielefeld, Stendal, Dessau, Jena, Amberg und Salzburg, die sich nicht scheuen, für ihre Arbeit auch weitere Entfernungen in Kauf zu nehmen. Um die oben genannten Aspekte zu verdeutlichen, soll von einer besonderen Begebenheit näher berichtet werden: Das Management der Fahrion Engineering wollte einem der 30- bis 40-jährigen Mitarbeiter eine besondere Karrierechance unterbreiten. Einer dieser Mitarbeiter sollte im Rahmen eines Projektes über sechs Monate in die USA gehen; zudem wurde ihm die Projektleitung in Aussicht gestellt. Nach drei ernüchternden Absagen – im ersten Fall war die Ehefrau schwanger, im zweiten Fall musste ein Eigenheimbauer die Handwerker kontrollieren und im dritten Fall konnte der ehrenamtliche Trainer seine Mannschaft während der
Fahrion Engineering
37
Saison nicht im Stich lassen – wurde letztlich einem 62-jährigen Mitarbeiter die Aufgabe übertragen. Dieser hat sie dann mit großem Geschick und hoher Motivation vor Ort erledigt. An diesem Beispiel wird erneut deutlich, wie die Beschäftigung älterer Mitarbeiter ökonomisch sinnvoll sein kann.
2.4
Wettbewerbsvorteile
Diese Vorgehensweise ist für Fahrion Engineering auf betriebswirtschaftlicher Ebene hoch wirtschaftlich. Mit jedem Mitarbeiter über 50 Jahren steigt die Kapazität, Aufträge mit schwierigen Inhalten zusätzlich anzunehmen. Ältere Arbeitnehmer, die bereits als Produktions- und Werksleiter in anderen Unternehmen Erfahrungen sammeln konnten, erlangen wesentlich schneller die Fähigkeit, Projekte eigenständig zu leiten. Die Einarbeitungszeit beträgt etwa drei Jahre, gegenüber zwölf Jahren bei Universitätsabgängern. Dieser Stellhebel zur Personalrekrutierung sichert enorme Marktvorteile. Zudem ist das Unternehmen nicht mehr gezwungen, sich mit überhöhten Honoraren am Wettbewerb um Jungingenieure im dicht gedrängten Arbeitsmarkt Stuttgarts zu beteiligen. Aus einer eher gesamtwirtschaftlichen Perspektive betrachtet, kann man den folgenden Zusammenhang zwischen Beschäftigungschancen für ältere Arbeitskräfte und der Unternehmensgröße konstatieren: Während in Großunternehmen Spezialisten mit detailliertem Wissen auf dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Forschung mit hohen Investitionen in Forschung & Entwicklung benötigt werden, sind kleine und mittlere Unternehmen im produzierenden Gewerbe auf Generalisten wie ältere Ingenieure angewiesen, weil sie nicht die Kapazität zur Abdeckung jedes einzelnen Geschäftsprozesses durch je einen Spezialisten haben. Als wichtige Schlussfolgerung soll daher das Erfordernis zur Einstellung älterer Allrounder in kleinen und mittleren Unternehmen an diesem Punkt der Studie ausdrücklich betont werden.
3
Fazit: Wissenszenit 50plus ist Berufszenit
Die Fallstudie über das Unternehmen Fahrion Engineering unterstreicht den hohen Bedarf an älteren Mitarbeitern in wichtigen Geschäftsprozessen, wie dem Projektmanagement, und für Aktivitäten, bei denen Erfahrung und Stehvermögen unerlässlich sind, wie beispielsweise in Besprechungen und bei Unternehmenspräsentationen vor der Geschäftsführung potenzieller
38
Rekrutierungsstrategien
oder tatsächlicher Kunden. Die Chancen auf Beschäftigung sind insbesondere bei kleinen und mittleren Unternehmen hoch anzusiedeln, da diese sich hoch spezialisierte Experten mit begrenzten Einsatzgebieten nicht leisten können. Es muss wieder normal sein, dass arbeitsfähige und arbeitswillige Menschen gesetzeskonform bis zum Eintritt ins Rentenalter beschäftigt werden oder bei Verlust des Arbeitsplatzes eine neue Chance am Arbeitsmarkt erhalten. Bei richtigem Einsatz ist ihre Tätigkeit höchst wirtschaftlich, weil der Wissenszenit 50plus identisch ist mit dem Berufszenit. Die Verantwortlichen in allen Unternehmen sollten sich deshalb die Frage stellen, ob es sich für sie nicht auszahlt, ältere Fachleute zu reaktivieren. Vorsätzliche Nichtbeschäftigung älterer Arbeitnehmer ist zu werten als Ignoranz auf betriebswirtschaftlicher Ebene, Verschwendung auf gesamtwirtschaftlicher Ebene, Diskriminierung auf sozialpolitischer Ebene. Zum Abschluss ist den Autoren daher folgender Appell ein wichtiges Anliegen: Unternehmen, Politik und Gesellschaft müssen sich ihrer Verantwortung wieder bewusst werden und die Beschäftigung älterer Arbeitnehmer als eine wirtschaftliche, soziale und ethische Pflicht begreifen.
Zur Theorie des Retention Managements im demografischen Wandel verweisen wir auf das Lehrbuch „Erfolgreiches Personalmanagement im demografischen Wandel“ von Dagmar Preißing (Hrsg.), 2. Auflage, das 2014 bei De Gruyter Oldenbourg erschienen ist, ISBN 9783-11-035124-8.
Entwicklung einer einzigartigen Arbeitgebermarke auf Basis gelebter Markenwerte bei der TNT Express GmbH Jürgen Seifert Jürgen Seifert startete vor nahezu 20 Jahren seine Karriere bei TNT. Der Geschäftsführer Human Resources, Customer Service und ICS von TNT Express Deutschland ist Mitglied des Executive Boards und hat maßgeblich zur Gründung der TNT Akademie im Jahr 1996 beigetragen, deren Geschäftsführer er bis heute ist. Vor seiner jetzigen Tätigkeit stellte er als Director Human Resources wichtige Weichen für die Neuausrichtung der Personalstrategie und die Stärkung der Position von TNT Express als bevorzugter Arbeitgeber.
Inhalt 1
Entwicklung einer einzigartigen Arbeitgebermarke auf Basis gelebter Markenwerte
41
2
Ziele des Employer Branding bei einem Premium-Expressdienstleister
42
3
Die Arbeitgebermarke stimmt mit den Markenwerten überein
43
4
„Excellence gesucht“ – Employer Branding in der Rekrutierung
48
5
Überprüfung der Employer Branding Maßnahmen
50
1
Entwicklung einer einzigartigen Arbeitgebermarke auf Basis gelebter Markenwerte
Für einen Premium-Anbieter in der Transport- und Logistikbranche ist der Aufbau einer starken Arbeitgebermarke von strategischer Bedeutung. Zum einen, weil nur so ein leistungsfähiger Personalstamm gewonnen und gehalten werden kann, zum anderen, weil die Markenwahrnehmung über die Mitarbeiter nach außen zum Kunden getragen wird. Gäbe es die zehn Gebote des Marketings, so stünde auf der ersten Tafel ganz oben sicherlich das Wort „Differenzierung“. Oft wird darunter nur das Ziel verstanden, Kunden und Geschäftspartnern die eigene Unternehmensmarke zu vermitteln, damit diese das eigene Unternehmen von anderen unterscheiden können. Für ein Unternehmen jedoch, das langfristig denkt und einen nachhaltigen Geschäftserfolg anstrebt, sind Differenzierung und Markenführung darüber hinaus auch für das strategische Personalmarketing von wesentlicher Bedeutung. Dies gilt ganz besonders für Dienstleistungsunternehmen – die nichts Physisches herstellen, sondern deren Produkt als Dienstleistung von den Mitarbeitern täglich neu erschaffen wird. TNT Express zählt mit jährlich rund 230 Millionen transportierten Sendungen zu den weltweit führenden Anbietern von Expressdienstleistungen im B2B-Segment. Wichtiger noch: Das Unternehmen hat sich erfolgreich als Premium-Anbieter positioniert und sich auf dem globalen Markt eine große Vertrauensbasis erarbeitet. Versender in aller Welt empfinden bei der Zusammenarbeit mit TNT Express einen Mehrwert – und sind bereit, diesen auch zu honorieren. Dies ist umso beachtlicher, da es sich beim KEP-Markt (für Kurier-, Express- und Paketdienstleistungen) um einen sehr reifen Markt handelt, auf dem sich alle führenden Wettbewerber auf relativ hohem – und weitgehend vergleichbarem – Qualitäts- und Serviceniveau bewegen. Eine Abgrenzung vom Wettbewerb findet heute vor allem durch Service, Markenerlebnis und innovative Zusatzdienstleistungen statt; diese wiederum werden durch Mitarbeiter mit Leben gefüllt. Real „gelebte“, für den Kunden spürbare Markenwerte und damit die Abgrenzung zu den Mitbewerbern sind ein entscheidender Wettbewerbsvorteil. Daher war die Entwicklung und Implementierung einer eigenen Markenidentität von großer Bedeutung. Im Rahmen des Projekts „Wertorientierte Markenführung bei TNT“ hat TNT Express Deutschland die eigene
42
Employer Branding
Markenidentität in zwei Stufen entwickelt: Im ersten Schritt hat das Unternehmen unter maßgeblicher Mitwirkung der Mitarbeiter den Markenkern und die Markenwerte erarbeitet. Im zweiten Schritt wurden diese in einen Employer Brand übersetzt, also die ArbeitgeberIdentität definiert und die Personalarbeit konsequent daran ausgerichtet. Im Hinblick auf den Markt setzt ein gelungenes Branding folgenden Kreislauf in Gang: Die klar definierten und kommunizierten Markenwerte schaffen ein gemeinsames Markenverständnis und fördern unter den Mitarbeitern ein kollektives Markenverhalten. Somit werden die Markenwerte für TNT Kunden real erlebbar. Bei TNT Express lassen sich diese stark verkürzt als „Can-do-Mentalität“ beschreiben und folgen so dem PremiumQualitätsanspruch. Der Kunde nimmt TNT Express durch dieses Verhalten als Problemlöser wahr, erlebt die Marke als glaubwürdig und hochwertig, vertraut dem Unternehmen Aufträge an und gibt seine Erfahrungen weiter – was wiederum neue Aufträge begünstigt. In dieser Wechselwirkung aus Markenversprechen, Markenerwartung und tatsächlichem Markenerlebnis generiert sich die Markenwahrnehmung. Nicht anders wirkt das Employer Branding, also der Aufbau einer authentischen und attraktiven Arbeitgebermarke und -identität. Im Kampf um die immer knapper werdenden Fachkräfte wird es für Unternehmen daher immer wichtiger, sich selbst mit bestimmten Merkmalen in Verbindung zu bringen und sich von anderen Wettbewerbern am Arbeitsmarkt positiv abzuheben. Die Art und Weise, wie TNT Express im Arbeitsmarkt als Arbeitgeber wahrgenommen werden soll und wird, werden daher gezielt über Personal- und Kommunikationsinstrumente gestaltet.
2
Ziele des Employer Branding bei einem PremiumExpressdienstleister
Die demografische Entwicklung sowie ein erhöhter Wettbewerbsdruck führen dazu, dass es immer schwieriger wird, geeignete Mitarbeiter zu finden und zu halten. Zahlreiche Studien belegen das Nachwuchsproblem in der Transport- und Logistikbranche. So geht die Bundesvereinigung Logistik (BVL) davon aus, dass die Branche auch bei moderaten Wachstumsraten rund 12.000 Fachkräfte pro Jahr benötigt. Rund 50 Universitäten und Fachhochschulen bilden derzeit etwa 3.000 Logistik-Akademiker aus. Unternehmen versuchen, ihren Bedarf darüber hinaus durch interne Weiterbildung und Beförderung von rund 4.000 Mitarbeitern
TNT Express
43
aufzufangen. Das bedeutet, dass der Logistikbranche in Deutschland jedes Jahr rund 5.000 akademisch ausgebildete Fachkräfte fehlen. Vor diesem Hintergrund darf Employer Branding nicht nur als Rekrutierungsinstrument (miss-)verstanden werden. Bei TNT Express zielt die Arbeitgeber-Markenbildung ebenso nach innen auf die gesamte Belegschaft. Das Unternehmen sieht in einem erfolgreichen Employer Branding folgende Potenziale:
quantitative und qualitative Verbesserung der Bewerbungen (Recruiting),
Erhöhung der Mitarbeiterbindung (Retention),
markenwertorientierte Unternehmenskultur (Collaboration),
Verbesserung der Performance (Results),
Stärkung des Unternehmensimages/der Unternehmensmarke durch positive Rückkopplungseffekte (Brand).
3
Die Arbeitgebermarke stimmt mit den Markenwerten überein
Um das Potenzial eines erfolgreichen Employer Branding voll auszuschöpfen, erarbeitete TNT Express die individuelle Identität als Arbeitgeber – die Arbeitgebermarke beziehungsweise Employer Brand. Dazu wurden vier zentrale Fragen formuliert: 1.
Wer bin ich? (Zentraler Kundennutzen, Geschäftsmodell, Mission)
2.
Wie bin ich? (Kernwerte und Unternehmenskultur – zum Beispiel fortschrittlich, traditionsbewusst, qualitätsorientiert)
3.
Was habe ich zu bieten? (Nutzenargumente – zum Beispiel Gehalt, Sozialleistungen, Karrierewege, flache Hierarchien)
4.
Wie trete ich auf? (Kommunikative Vermittlung der Arbeitgebermarke nach außen und innen)
44
Employer Branding
Modell zur Erarbeitung der Arbeitgebermarke
Zentraler Kundennutzen, Geschäftsmodell, Mission
WER BIN ICH?
WIE BIN ICH?
Kernwerte & Unternehmenskultur z. B. fortschrittlich, traditionsbewusst, qualitätsorientiert
ARBEITGEBERMARKE Nutzenargumente z. B. Gehalt, Sozialleistungen, Karrierewege, flache Hierarchien
Abb. 3.1
WAS HABE ICH ZU BIETEN?
WIE TRETE ICH AUF?
Kommunikative Vermittlung der Arbeitgebermarke nach Außen und Innen
Modell zur Erarbeitung der Arbeitgebermarke; Quelle: TNT Express GmbH
TNT Express betrachtet das Employer Branding als integrierten Teil der ganzheitlichen Markenführung. Die Arbeitgebermarke wurde daher aus den Ergebnissen des Projekts „Wertorientierte Markenführung bei TNT“ abgeleitet. Der dreistufige Untersuchungsansatz zur Identifizierung der Markenwerte bezog das ganze Unternehmen ein. In Projektphase 1 wurde auf der Basis von über 1.300 mehrheitlich telefonisch geführten Interviews die Wahrnehmung der Marke TNT bei unterschiedlichen Zielgruppen erhoben. Ferner wurden tiefenpsychologische Interviews mit Kunden geführt, in denen mithilfe von Bildassoziationsverfahren die tief verwurzelte Einschätzung der Marke TNT erhoben werden konnte. Projektphase 2 bildeten die „Brand Identity Workshops“, in denen die Geschäftsführung, das Senior Management Team (die Führungsebenen 1 bis 3), ausgewählte Auszubildende sowie renommierte externe Experten die Ergebnisse der Wahrnehmungsanalyse diskutierten. Die dabei erarbeitete Markenidentität basiert auf ganz bestimmten Werten, die die WorkshopTeilnehmer für besonders stark und attraktiv erachteten. Dabei stellte sich heraus, dass die Marke TNT grundsätzlich positiv wahrgenommen wird, jedoch stark geprägt ist von branchentypischen Eigenschaften wie „schnell“ und „zuverlässig“ – zu unspezifisch, um sich darüber zu differenzieren. Das entscheidende Ergebnis der Workshops, das in intensiven Diskussionen mit den Vertretern aller Hierarchie-Ebenen erarbeitet wurde, sind daher die
TNT Express
45
Markenwerte, die heute für eine authentische, relevante und differenzierende Markenidentität stehen. Sie lauten:
Präsenz drückt das lösungsorientierte Handeln der Mitarbeiter sowie das Bekenntnis zum persönlichen Service aus und bringt die globale Tätigkeit des Unternehmens zum Ausdruck. Dynamik steht für Innovation, Mut, Zukunftsorientierung und Geschwindigkeit. Caring beinhaltet die Verantwortung gegenüber Mitarbeitern, Umwelt und Gesellschaft ebenso wie die Werte Respekt, Menschlichkeit, Partnerschaftlichkeit, Integrität. Excellence beschreibt das Streben nach höchster Qualität in allen Unternehmensbereichen sowie ständiger Verbesserung oder auch die umfangreiche systematische Weiterbildung aller Mitarbeiter. Orange beschreibt die Gesamtheit jener ganz spezifischen Merkmale, mit denen TNT ExpressMitarbeiter sich selbst definieren und auftreten, ihre Leidenschaft für TNT und ihre Gemeinschaft.
In Projektphase 3 schließlich wurden in 27 so genannten Brand Value Conferences – an denen über 200 Mitarbeiter aller Funktionsbereiche aus den 31 Niederlassungen und der Zentrale beteiligt waren – Projekte und Sofortmaßnahmen erarbeitet, um die Marke nachhaltig zu stärken. Die zentrale Fragestellung an die Mitarbeiter lautete: Durch welche konkreten Maßnahmen und Projekte kann TNT die Markenwerte zum Leben erwecken, um durch Kunden, Mitarbeiter und andere Zielgruppen so wahrgenommen zu werden, wie es sich das Unternehmen zum Ziel gesetzt hat? Die insgesamt 237 (!) Vorschläge der an den Workshops beteiligten Mitarbeiter wurden vom neu geschaffenen „Brand Value Board“ gesichtet und bewertet. Dabei wurden Projekte und Sofortmaßnahmen identifiziert, die natürlich auch TNT Express in seiner Wahrnehmung als Arbeitgeber beeinflussen. Für ein zielgenaues Employer Branding wurden nun noch die relevanten Interessengruppen (Stakeholder) definiert. Während das Brand Management entsprechend dem StakeholderModell von TNT auf eine Vielzahl von Interessengruppen abzielt (Kunden, potenzielle Kunden, Shareholder, Lieferanten, Öffentlichkeit/Politik, Mitarbeiter, potenzielle Mitarbeiter), fokussieren sich die Maßnahmen im Rahmen des Employer Branding lediglich auf die drei Letztgenannten. Das gesamte Personalwesen wurde konsequent an den Markenwerten ausgerichtet. Eine Matrix stellt dar, welche (Personal- oder Kommunikations-)Instrumente die Markenwerte und damit auch die Arbeitgebermarke erlebbar machen.
46
Employer Branding
Einige Beispiele dazu:
der Einarbeitungsprozess – bestehend aus Welcome-Veranstaltung, regelmäßigen Feedback-Gesprächen, Einarbeitungsplänen und Unterstützung durch Mentoren korrespondiert mit den Markenwerten „Orange“, „Excellence“ und „Caring“,
die Teilnahme an Ausbildungsmessen entspricht dem Wert „Präsenz“,
das Succession Management – also die systematische Rekrutierung von Führungsnachwuchs aus den eigenen Reihen – erfüllt die Merkmale „Dynamik“ und „Excellence“.
Ebenso lassen sich die Bestandteile des Employer Branding von der Werte-Seite betrachten, das heißt jedem Markenwert können bestimmte Maßnahmen zugeordnet werden, mit denen TNT Express die Marke für (potenzielle) Mitarbeiter erlebbar macht. Orange wird unter anderem erlebbar durch: Mitarbeiterzeitschrift „Orange Life“, Azubi-Beachvolleyballturnier (jährliche bundesweite Veranstaltung), TNT Soccer Cup (deutschlandweites Fußball-Turnier von Mitarbeitern für Mitarbeiter), Welcome-Veranstaltung (mehrtägige Einführungsveranstaltung für neue Mitarbeiter). Präsenz wird unter anderem erlebbar durch: das „ExpressNet“ genannte Intranet, Markenworkshops, Lernpartnerschaften (siehe unten), Ausbildungsmessen. Dynamik wird unter anderem erlebbar durch: Arbeitsgruppe „Think Orange“ (crossfunktionale Arbeitsgruppe), Triathlon-Teamevent in Roth, Projekt Bürokratieabbau, Bewerberforum auf der Karriere-Seite im Internet, schnelle Bearbeitung von Bewerbungen. Excellence wird unter anderem erlebbar durch: Zertifizierung und Re-Zertifizierungen als Investor in People, HR-Awards wie Top Job oder BestPersAward, die erfolgreiche Anwendung des integrierten Management-Modells der European Foundation for Quality Management (EFQM), das zum Beispiel im Gewinn des European Excellence Awards 2006 resultierte, die Aufstellung und Auswertung der Key Performance Indicators (KPI) für den HRBereich, das bedarfsgerechte Trainings- und Beratungsangebot der unternehmenseigenen TNT Akademie, das TNT Express-Ideenportal, die neue Form des Betrieblichen Vorschlagswesens (BVW),
TNT Express
47
das interne Förderprogramm Talent Management, das persönliche Stärken von besonders vielversprechenden Mitarbeitern im Hinblick auf weiterführende Aufgaben entwickelt.
Caring wird unter anderem erlebbar durch: zahlreiche Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Berufstätigkeit, gemessen durch das Audit „berufundfamilie“, die Entsendung von freiwilligen Entwicklungshelfern auf Zeit im Rahmen der Partnerschaft von TNT mit dem World Food Programme der Vereinten Nationen (WFP), eine Dienstwagen-Policy mit klarem Bezug zu geringen Emissionswerten, den TNT Hilfsfonds, eine überwiegend aus Spenden gespeiste Einrichtung, die unverschuldet in Not geratenen Mitarbeitern unbürokratisch hilft, den Azubi-Pool, der Auszubildende befristet weiterbeschäftigt und an andere TNT Standorte vermittelt, wenn sie nach ihrem Abschluss trotz guter Leistungen keine Festanstellung am Ausbildungsort erhalten können. Ein Beispiel dafür, wie vielfältig ein umfassendes Employer Branding gelebt werden kann, sind die Lernpartnerschaften der deutschen TNT Express-Standorte, durch die vor allem die Markenwerte Caring und Präsenz nach außen erlebbar werden. Diese langfristig angelegten Kooperationen erlauben Schülern am Beispiel von TNT Express interessante Einblicke in Wirtschaft und Arbeitswelt. Das Unternehmen stellt Unterrichtsmaterial zu verschiedenen Praxisthemen für unterschiedliche Fächer zur Verfügung, entsendet Experten in den Unterricht und bietet Praktikumsplätze und Bewerbungstrainings an. Sämtliche Aktionen fügen sich sinnvoll in die Lehrpläne der entsprechenden Jahrgangsstufen ein. 2006 kam die erste Lernpartnerschaft zustande, Ende 2009 arbeiteten bereits 30 Standorte mit 32 lokalen Schulen zusammen. Ziel ist es, alle 31 Niederlassungen, die Zentrale in Troisdorf und das Bonner Customer-Contact-Center mit mindestens einer benachbarten Schule zu vernetzen. Durch die Lernpartnerschaften erhalten Schüler die Möglichkeit, Wirtschaft und Arbeitswelt hautnah zu erleben. Aus grauer Theorie wird orange Praxis. Von der wegweisenden Zusammenarbeit zwischen Schule und Wirtschaft profitieren alle Seiten: Die Schüler bekommen praxisnahe Einblicke ins Wirtschaftsleben, Schulen können den Unterricht abwechslungsreicher gestalten und TNT Express erhält die Möglichkeit, sich potenziellen Nachwuchskräften zu präsentieren.
48
4
Employer Branding
„Excellence gesucht“ – Employer Branding in der Rekrutierung
Bei der Erarbeitung der Arbeitgebermarke (siehe bereits gezeigtes Modell) ließen sich zwei Fragen direkt aus dem Markendefinitionsprozess ableiten: 1.
„Wer bin ich?“
2.
„Wie bin ich?“
Natürlich spiegeln sich die Markenwerte auch in der Rekrutierung wider. Zur Beantwortung der Frage „Wie trete ich auf?“ hier auszugsweise der Text einer Stellenausschreibung: „Excellence gesucht: (…) Sie haben einen hohen Anspruch, lieben Perfektion und können dennoch spielerisch einfach und mit geübter Professionalität Anforderungen, Informationen und Wünsche verarbeiten und konzeptionell umsetzen?“ Schon in diesen wenigen Sätzen kommuniziert das Unternehmen sein Selbstverständnis und eröffnet dem potenziellen Bewerber damit eine Projektionsfläche, auf der er seine Einstellungen und Persönlichkeit mit den Unternehmenswerten abgleichen kann. Auch unterstützt die HR-Abteilung die Führungskräfte zum Beispiel durch einen Recruiting Guide dabei, Bewerbern ein einheitliches Bild von TNT Express, der Mission, den Zielen und Werten sowie der Kultur des Unternehmens zu vermitteln, um den passenden Kandidaten zu finden. Ebenso systematisch wird der Punkt „Was habe ich zu bieten?“ hinterfragt und bearbeitet. Um die Nutzenargumente einer Beschäftigung bei TNT Express gegenüber (potenziellen) Mitarbeitern herauszuarbeiten, wurde eine EVP (Employment Value Proposition) erarbeitet. Hierin wurden diejenigen Attribute zusammengefasst, die in der Wahrnehmung des Arbeitsmarkts und der Mitarbeiter den persönlichen Nutzen einer Beschäftigung in einer spezifischen Organisation beschreiben („benefit of working there“).
TNT Express
49
Dies erfolgte in einem vierstufigen Prozess, von dem Step 1 und 2 bereits abgearbeitet wurden:
Step 1:
Wahrnehmungen und Präferenzen von Mitarbeitern und (potenziellen) Bewerbern verstehen
Step 2:
Definition der Employment Value Proposition (EVP)
Step 3:
Umsetzung von wirkungsvollen Maßnahmen zur Stützung der EVP
Step 4:
Feintuning und Erfolgsmessung
Potenzielle Bezugspunkte einer EVP
„THE REWARDS“
„PEOPLE“
• Compensation • Health Benefits • Retirement Benefits • Vacation
• Camaraderie • Collegial Work Environment REWARDS
PEOPLE
„THE OPPORTUNITY“ • Development Opportunities • Future Career Opportunities • Organization Growth Rate • Meritocracy • Organizational Stability
„THE ORGANIZATION“ • Customer Reputation • Diversity • Empowerment • Environmental Responsibility
Abb. 4.1
„THE WORK“ OPPORTUNITY
• Coworker Quality • Manager Quality • People Management • Senior Leadership Reputation
WORK
• Business Travel • Innovation • Job Impact
• Job-Interests Alignment • Location • Recognition • Work-Life Balance
ORGANIZATION
• Ethics • „Great Employer“ Recognition • Industry • Informal Environment • Market Position • Product Brand Awareness
• Product Quality • Respect • Risk Taking • Organization Size • Social Responsibility • Technology Level
EVP-Bezugspunkte; Quelle: TNT Express GmbH
In diesem Prozess wurden drei Attribute auf Basis eingehender Marktforschung als weltweit verbindende Kernelemente einer zu formulierenden EVP definiert: Entlohnung, Karrierechancen und Qualität der Führungskräfte. Aktuell wird eine weltweit einheitliche EVP erarbeitet, die dann wiederum auf die einzelnen Länderorganisationen heruntergebrochen wird.
50
5
Employer Branding
Überprüfung der Employer Branding Maßnahmen
Die positive Wirkung des Employer Branding zeigt sich auf vielfältige Art:
Sowohl die Anzahl als auch die Qualität der Bewerbungen haben sich spürbar verbessert und
die Betriebszugehörigkeit stieg von 5,7 Jahren im Jahr 2003 auf 8,9 Jahre im Jahr 2009.
Unter Einbeziehung aller Stakeholder konnte TNT Express eine authentische Marke erarbeiten und definieren. Diese spiegelt alle Aspekte der Strategie wider. Durch die dezidierte Kommunikation eben dieser ist es TNT Express gelungen, ein gemeinsames Markenverständnis zu erreichen. Dieses zeigt sich in einer markenwertorientierten Unternehmenskultur, was unmittelbar positive Auswirkungen auf die Performance hat. So hat TNT Express beispielsweise seit 2003 eine jährliche Umsatzsteigerung von durchschnittlich knapp 8% sowie pro Vollzeitbeschäftigtem eine durchschnittliche Umsatzsteigerung pro Jahr von 7% verzeichnen können.
Die Stärkung des Unternehmensimages/der Unternehmensmarke war unmittelbar an einer verbesserten Platzierung im Rahmen der Markenwertmessung der Zeitschrift „Logistik Inside“ abzulesen. Hier befand sich das Unternehmen zu Anfang des Projekts 2003 auf Platz 7, um 2007 Platz 1 zu erreichen.
Um den Status der Arbeitgebermarke kontinuierlich zu beobachten, kritisch zu hinterfragen und gegebenenfalls anpassen zu können, hat TNT Express eine Reihe von Instrumenten eingeführt. Werden die daraus resultierenden Ergebnisse zusammengefügt, ergibt sich ein zutreffendes Gesamtbild. Interne Instrumente: regelmäßige Mitarbeiterbefragungen (unter anderem Erhebung eines EngagementIndexes), beispielhafte Frage: „Würden Sie TNT Express als Arbeitgeber weiterempfehlen?“, konzerninterne Awards (TNT Masters), regelmäßige Erhebung von HR-Kennzahlen (zum Beispiel Fluktuation, interne Promotion, Anzahl der Initiativbewerbungen, Prozentsatz offener Stellen, Azubi-Übernahmequote). Externe Instrumente (Überprüfung der HR-Arbeit von externer Seite): Top Job (Arbeitgeber-Wettbewerb), BestPersAward (HR-Wettbewerb), Investors in People (Zertifizierung mit Fokus auf Personalentwicklung, Kommunikation und Unternehmensführung),
TNT Express
51
Deutscher Personalwirtschaftspreis (HR-Wettbewerb), Audit „berufundfamilie“ (Zertifizierung zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie).
TNT Express stellt sich regelmäßig interner und externer Überprüfung und sorgt so für eine kontinuierliche Weiterentwicklung der eigenen Arbeitgebermarke. Das Ergebnis ist eine klar definierte und differenzierte Employer Brand, die am Arbeitsmarkt eine einzigartige und positive Differenzierung vom Wettbewerb ermöglicht.
Zur Theorie des Employer Brandings im demografischen Wandel verweisen wir auf das Lehrbuch „Erfolgreiches Personalmanagement im demografischen Wandel“ von Dagmar Preißing (Hrsg.), 2. Auflage, das 2014 bei De Gruyter Oldenbourg erschienen ist, ISBN 9783-11-035124-8.
Gestaltung der internen Arbeitgeberattraktivität bei tegut… Karl-Heinz Brand Karl-Heinz Brand ist nach einer Ausbildung im Handel und Studium zum Dipl.-Betriebswirt seit 1983 bei der Unternehmensgruppe tegut... in Fulda beschäftigt. Seine Aufgabenbereiche liegen schwerpunktmäßig in der inhaltlichen Ausgestaltung und Führung der Bereiche Personalmanagement, Arbeitsrecht, Leistung und Vergütung sowie Bildung und Förderung. Er ist seit 2002 Mitglied der tegut... Geschäftsleitung und hat die Zuständigkeit für die Ressorts Mensch und Arbeit sowie Arbeitssicherheit und Betriebsräte der Unternehmensgruppe. Darüber hinaus vertritt er das Unternehmen in Verbänden, den Tarifkommissionen Einzelhandel Hessen und Thüringen, ist Mitglied im Handelsausschuss DIHK und ehrenamtlicher Richter am Arbeitsgericht.
Inhalt 1
Einleitung
55
2
Wozu – Sinn
56
2.1
Leitbild ..................................................................................................................... 56
2.2
Geschäftspolitik ....................................................................................................... 56
3
Wie – Strategie
3.1
Unternehmenskultur ................................................................................................. 57
3.2
tegut... Schule, Bildung und Entwicklung für alle bei tegut... .................................. 58
3.3
Salutogenese............................................................................................................. 58
3.4
Funktionsentwicklung .............................................................................................. 59
3.5
Gesundheitsförderung .............................................................................................. 59
4
Was – Welche Maßnahmen werden aktiv angeboten?
4.1
Mensch – Bildung .................................................................................................... 60
4.2
Seminare .................................................................................................................. 60
4.3
Vorträge .................................................................................................................... 61
4.4
Arbeitsjubiläen ......................................................................................................... 61
4.5
Aktivitäten der Gesundheitsförderung ..................................................................... 61
4.6
System-Organisation ................................................................................................ 64
5
Fazit
57
60
65
1
Einleitung
Das Unternehmen tegut… tegut… Gutberlet Stiftung & Co. ist ein Handelsunternehmen mit dem Ziel, den Menschen gute Lebensmittel anzubieten. tegut…, ein mittelständisches, regionales Einzelhandelsunternehmen in der Lebensmittelbranche, wird seit seiner Gründung im Jahr 1947 als Familienunternehmen mit Sitz in Fulda geführt. Von Beginn an, aber insbesondere durch die Aufnahme von Bio-Produkten in das Sortiment in den 80er Jahren, hat sich das Unternehmen dem Angebot „guter Lebensmittel“ verschrieben. Das Unternehmen tegut… umfasst neben den Lebensmittelmärkten, den Zentralen Diensten und der Logistik, den Produktionsbetrieb „Kurhessische Fleischwaren Fulda“ sowie die ausschließlich biologisch produzierende „herzberger Bäckerei“. Damit setzt sich tegut… auch für die nachhaltige Produktion beziehungsweise Verarbeitung von Lebensmitteln ein. Die insgesamt über 300 tegut…-Märkte befinden sich vor allem in Hessen, Thüringen sowie in Teilen Bayerns und Niedersachsens. Die tegut…-Arbeitsgemeinschaft umfasst derzeit über 6.200 Mitarbeiter, wobei darunter ca. 900 Lernende (Auszubildende) zählen. Der Umsatz im Jahr 2008 betrug rund 1,1 Mrd. Euro und konnte im Vergleich zu den Vorjahren kontinuierlich gesteigert werden. Es stellt sich die Frage, welche Umstände und Bedingungen einen Arbeitgeber attraktiv machen für reifere Menschen, die in der zweiten Hälfte ihres Berufs- und Arbeitslebens stehen und bereits viele Erfahrungen gemacht haben. Dabei schauen wir in erster Linie auf die Menschen, die bereits in unserer Arbeitsgemeinschaft sind und noch einen bedeutenden Teil ihres Berufslebens vor sich haben. Welche Rahmenbedingungen, Ziele, Wege und Maßnahmen sind attraktiv, um eine sinnvolle und nutzenstiftende zukünftige Beschäftigung gestalten zu können? Wir bei tegut... richten den Blick auf die drei Ebenen, die die Fragen stellen nach dem Wozu – Sinn Wie – Strategie Was – Maßnahmen und auf denen wir unsere Antworten nachfolgend ausführen (Stand: 2012).
56
Employer Branding
2
Wozu – Sinn
2.1
Leitbild
In unserem Leitbild sprechen wir von Arbeitsgemeinschaft: „Wir gründen unsere Arbeitsgemeinschaft auf ein christliches Menschen- und Weltbild und orientieren uns an den Idealen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. So wollen wir mit Kopf, Herz und Hand aufbauend wirken... sinnvoll und wahrhaftig in den Gedanken... mit echtem Interesse am Anderen des Anderen... mit Mut und Dienstbereitschaft in der Tat.“ Unsere Arbeitsgemeinschaft kann man als Zweckgemeinschaft erleben im Austausch von Leistungen. Unter dem Aspekt Lebensgemeinschaft sehen wir den zeitlichen Rahmen des Zusammenwirkens und die Ausgestaltung des gemeinsamen Berufs-Lebens oder des Zusammen-Lebens eines bedeutenden Zeitanteiles im beruflichen Zusammenhang. Als Geistgemeinschaft könnte man das gemeinsame Denken und Verständnis sowie Interesse und Bewegen von Fragestellungen zu Grundsätzen, übergeordneten Ansichten zu Menschenund Weltbildthemen und zur Kultur im Unternehmen sehen. Es ist sicher individuell zu sehen, durch welche Ebene der Arbeitsgemeinschaft der Einzelne sich mehr oder weniger angesprochen und involviert fühlt. Gleichzeitig bieten wir die Möglichkeit auf allen Ebenen einbezogen zu sein und eine Verankerung in der Gemeinschaft zu finden.
2.2
Geschäftspolitik
In unserer Geschäftspolitik sind unter dem Aspekt der Ressourcensicherung insbesondere auch die Menschen angesprochen, die ihre Fähigkeiten einbringen. Dabei ist es Aufgabe des Unternehmens diese Fähigkeiten zu erhalten und zu entwickeln. „Wir kennen unsere Verantwortung, den Mitarbeitenden und ihren Familien die Existenzgrundlage sichern zu müssen.“ Die Geschäftspolitik Mensch und Arbeit konkretisiert weiter: „Der demographischen Bevölkerungsentwicklung tragen wir Rechnung und bieten älteren Mitarbeitenden die Möglichkeit, ihre Berufs- und Lebenserfahrung in die Arbeitsgemeinschaft einzubringen. Wir werden unsere Organisation stärker darauf vorbereiten, dass der Anteil der Mitarbeitenden wächst, die bis zum Eintritt in den gesetzlichen Ruhestand mit 65 oder 67 Jahren berufstätig sind.“ Es ist uns wichtig, neben der Anpassung und Entwicklung von Mensch und Bildung auch die Entwicklung von System und Organisation mit einzubeziehen.
tegut…
Abb. 2.1
3
57
Geschäftspolitik Mensch und Arbeit; Quelle: eigene Darstellung
Wie – Strategie
Wie kann ein nachhaltiges Sichern der Beschäftigungsfähigkeit erreicht werden? Aus der Sicht des Unternehmens geht es darum, Berufserfahrung, Alter und Persönlichkeit anzuerkennen und nutzenbringende Beschäftigungsmöglichkeiten zu gestalten. Aus der Sicht der Menschen ist das nachhaltige Sichern und Entwickeln der individuellen Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit bis zum versorgten Ruhestand wichtig. Welche Handlungsfelder betrachten wir?
3.1
Unternehmenskultur
Wir bearbeiten unter anderem das Thema „Lebenslauf des Menschen“ und betrachten seine Entwicklung in Lebensphasen von je sieben Jahren. Dabei geht es darum, zu wissen, wahrzunehmen und anzuerkennen, dass bei Menschen in verschiedenen Lebensphasen jeweils
58
Employer Branding
andere Aspekte im Erfahrungs- und Entwicklungsfeld im Vordergrund stehen, die wieder Basis für die nächste Entwicklungsstufe sind. Weitere Themen sind die Förderung von Vertrauenskultur, Gesprächskultur, Gemeinschaftskultur sowie ganzheitlichem Lernen und Leben.
3.2
tegut... Schule, Bildung und Entwicklung für alle bei tegut...
Ziel ist, dass sich alle Mitarbeitenden als Lernende verstehen, in allen Hierarchieebenen, Tätigkeitsfeldern und allen Altersgruppen. Hierzu gehört maßgeblich, bewusst zu halten, dass in allem, was getan wird, eine Lernmöglichkeit steckt. Es gilt, die Potenziale derer, die im Unternehmen sind und derer, die hinzukommen wollen, zu erkennen und zu fördern. Ein weiteres Ziel ist, die Herzensbildung des Unternehmens als Organismus und die Herzensbildung des Einzelnen, um das (Über-) Leben von tegut... zu sichern, indem Mitarbeitende und Kunden ein gesundes Klima spüren.
3.3
Salutogenese
Salutogenese ist der Fachbegriff für die Forschung und Erkenntnisse in der Gesundheitsförderung. Ursprung des Wortes: von der römischen Gottheit „Salus“ und vom griechischen „Genesis“ (Geburt, Schöpfung) Bedeutung des Wortes: „Gesundheitsentstehung“ oder „Ursprung von Gesundheit“ Das Konzept wurde von dem israelisch-amerikanischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky (1923 bis 1994) in den 1970er Jahren entwickelt. Aaron Antonovsky: „Wem es gelingt mit sich selbst und seiner Um- und Mitwelt im ‚Reinen‘ zu sein, der verfügt über den besten Gesundheitsschutz.“ Danach ist Gesundheit kein Zustand, sondern muss als Prozess verstanden werden. Gesundheit und Wohlbefinden sind ganzheitlich zu betrachten und auf drei Säulen aufgebaut: 1.
Ernährung = Grundvoraussetzung für unser körperliches, geistiges und seelisches Wohlbefinden ebenso wie für die Leistungsfähigkeit unseres Körpers.
tegut…
59
2.
Bewegung = Der ideale Weg, die eigene Vitalität und damit indirekt auch das eigene Wohlbefinden spürbar zu steigern.
3.
Bewusstsein (im Sinne von Balance) = Dieser Bereich stellt eine wichtige, übergeordnete Sichtweise auf unser persönliches Leben, auf das eigene ICH dar.
Es geht um die Stärkung des eigenen ICH und der eigenen Gesundheit, um somit ein größeres Wohlbefinden zu schaffen. Ziel ist es, sich der Herausforderung zu stellen, nicht zu resignieren, sondern den Weg zu finden, den Lasten ihre Macht zu nehmen und die Lust auf das Leben als solches zu stärken.
3.4
Funktionsentwicklung
Wir möchten die Menschen mit ihren Fähigkeiten und ihrer Persönlichkeit weiterentwickeln, das impliziert, dass auch die Funktion als Herausforderung oder Konsequenz sich ändern, ergänzen oder entwickeln muss. Alle neuen Stellen, insbesondere Führungspositionen, werden vornehmlich intern vor extern besetzt und damit Entwicklungschancen geboten. Erfahrene Mitarbeitende können Aufgabenerweiterungen wahrnehmen oder komplexere Führungs- oder Fachaufgaben sowie Funktionen, in denen Knowhow-Transfer wichtig ist, übernehmen.
3.5
Gesundheitsförderung
Seit einigen Jahren hat tegut… einen eigenen Betriebsarzt verpflichtet. Dieser erfüllt einerseits die Anforderungen der Arbeitssicherheit und initiiert, gestaltet und begleitet andererseits zusätzlich aktive Gesundheitsförderung. Durch den Wandel der Arbeitswelt von den körperlichen und einseitigen Belastungen hin zu mentalen (seelisch, psychisch, nervlich, geistig) Beanspruchungen ist der traditionelle Ansatz der Arbeitsmedizin weiterhin wichtig. Darüber hinaus ist eine Vorgehensweise bedeutsam, die den Menschen in seiner Ganzheit in der Arbeitswelt sieht. Dabei soll das Bewusstsein für Prävention im Berufsleben und im Privaten gefördert werden. Aktivitäten werden in Verbindung mit der Arbeit oder in Beziehung zur Arbeit gestaltet und die Eigenverantwortung der Menschen soll gestärkt werden.
60
Employer Branding
4
Was – Welche Maßnahmen werden aktiv angeboten?
Ausgangsbasis ist unser Bild, dass nur durch eine abgestimmte Bearbeitung der Felder Mensch (Bildung) und System (Organisation) eine nachhaltige Entwicklung gewährleistet werden kann.
4.1
Mensch – Bildung
Ziele der Seminare für erfahrene Mitarbeitende:
Reflexion zum Übergang in eine neue Lebensphase: - Kenntnisse und Wissen, - Knowhow und Erfahrung, - Führung und pädagogische Fähigkeiten, - außerberufliche Situation,
Initiative für neues Lernen gestalten, auf der Basis neu einzubringender Kenntnisse und Erfahrungen,
Mut und positives Selbstbewusstsein fördern für die zukünftigen Ziele, Bewusstsein für Anerkennung sowie innere Zufriedenheit als Spannung zwischen Herausforderung und Erfolg erlangen,
Salutogenese, Bewusstsein für Gesundheit als Lebensbasis entfalten.
4.2
Seminare
Mit unseren Bildungsmaßnahmen wollen wir Gelegenheit geben, vielfältige Erfahrungen, Fähigkeiten und Kenntnisse auszutauschen, zu vertiefen und zu erweitern. Denn mit zunehmender Lebensreife verändern sich nicht nur Prioritäten, sondern es entstehen auch neue Fragen. Das Seminar „Führen durch Menschenkenntnis“ (zwei Tage) befasst sich mit Rhythmen des menschlichen Lebenslaufs. Dabei werden biografische Aspekte auf das Lebensalter der Teilnehmer abgestimmt und individualisiert: Wo stehe ich persönlich? Wie gewinne ich Entwicklungsaspekte für das eigene Leben?
tegut…
61
Im Seminar „Pädagogische Fähigkeiten“ (ein Tag) werden Schwierigkeiten und Chancen im Umgang mit Mitarbeitenden reflektiert und ausgetauscht und unter anderem der Frage nachgegangen: Welche Verantwortung kommt mir als Führungspersönlichkeit gegenüber den Jüngeren zu? Im Seminar „Salutogenese“ (ein Tag) werden die Aspekte der körperlichen und geistigen Gesundheit des Lebensabschnitts behandelt. Diese werden unter medizinischen Gesichtspunkten betrachtet sowie aus der inneren Haltung zu den Dingen heraus. Im IT-Seminar (ein Tag) werden frei und offen eventuelle Schwierigkeiten der Handhabung mit dem PC besprochen. Hierbei werden der Umgang mit dem tegut...-Portal, Outlook und den anderen Komponenten von MS Office besprochen. Die Inhalte ergeben sich aus den konkreten Fragen der Teilnehmer und auf der Basis bestehender Erfahrungen.
4.3
Vorträge
Vorträge werden von Experten den interessierten Menschen kostenfrei angeboten, zum Beispiel zu Themen wie Stress, Burnout, Sucht, Ernährung, alternative Heilmethoden, Schichtarbeit, Körperrhythmus, aber auch Sach- und Forschungsthemen können Gegenstand sein.
4.4
Arbeitsjubiläen
Wir erkennen Betriebszugehörigkeitszeiten an und insbesondere dabei, neben der Treue zum Unternehmen, auch die Leistung, die Fähigkeiten sowie die Erfahrung. Neben den Leistungen des Unternehmens zum Arbeitsjubiläum ist die ehrliche Anerkennung und Würdigung durch die Geschäftsleitung und den Unternehmer wichtig, um zu unterstreichen, dass Erfahrungen gern gesehene Basis für die zukünftige Arbeit sind.
4.5
Aktivitäten der Gesundheitsförderung
Progressive Muskelrelaxation nach Jakobson (PMR) Teilnehmer können in mehreren Seminaren PMR an sich selbst erfahren und anwenden. In den Gruppen von bis zu 20 Teilnehmern wurden die An- und Entspannungsübungen bei regelmäßigen Sitzungen trainiert; eine Übungs-CD für den Privatbereich bietet die Möglichkeit des Heimtrainings.
62
Employer Branding Arbeitsplatz-Ergonomie-Coaching Mitarbeitende haben die Möglichkeit, ihren Arbeitsplatz durch den Betriebsarzt checken zu lassen. Die für den Menschen optimale ergonomische Haltung in Verbindung mit Stuhl, Tisch, Bildschirm und Tastatur kann gesundheitlichen Beschwerden vorbeugen.
Stressbewältigung durch Achtsamkeit Acht Kursabende stehen für das MBSR-Konzept (Mindfulness-Based Stress Reduction) nach Prof. Jon Kabat-Zinn (University of Massachusetts) zur Verfügung. Die Teilnehmer erlernen Grundübungen von Yoga und Meditation.
Blutgefäß-Check-Aktion „Der Mensch ist so alt wie seine Gefäße“, sagt Ulrich Strunz. Über 50-jährige Mitarbeitende hatten die Möglichkeit, an einem kostenfreien Gesundheitstag von verschiedenen Ärzten die Blutgefäße mittels modernster Medizintechnik untersuchen zu lassen sowie die allgemeine Befindlichkeit, Blutdruck und Blutzucker. Darauf folgte eine ärztliche Beratung mit Hinweisen auf eventuelle Risiken.
ANITA Ambulantes-Nikotin-Therapie-Angebot Die Teilnehmer konnten über drei Monate lang an regelmäßigen Treffen auf dem Weg zu einem nikotinfreien Leben an einem von der Uni Würzburg und Uni Freiburg in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Krebsforschungsinstitut entwickelten Seminar teilnehmen. Es handelt sich um ein integratives Therapiekonzept, welches Elemente der Verhaltenstherapie mit medikamentöser Unterstützung und Konzepten zur Selbsthilfe kombiniert.
Salutogenese-Aktivitäten Ernährung: Hierbei ist die Ernährung die Grundvoraussetzung für unser körperliches, geistiges sowie seelisches Wohlbefinden und somit für die Leistungsfähigkeit unseres Körpers. Neben dem Vertrieb von „gesunden“ Lebensmitteln wird auch bei tegut… intern auf die gesunde Ernährung geachtet, zum Beispiel bietet das tegut…-Bistro täglich frische biologische Mittagsgerichte an und führt ein überwiegend biologisches Sortiment. Weitere Angebote sind: Vorträge externer Referenten zum Thema Gesundheitsförderung mit unterschiedlichen Themen aus den Bereichen Ernährung und Gesundheit, Projekt zum Thema „Was ist gesunde Ernährung?“, Schulungsmaßnahmen für Mitarbeitende zum Thema „gesunde Ernährung“, „Die gute Ess-Idee“, Rezepte mit Wellness-Tipp zum saisonalen Obst- und Gemüseangebot, Kochkurse für alle Interessierten zu verschiedenen Themenbereichen, Lebensgut-Wasser für Mitarbeitende – frei zur Verfügung stehendes sauerstoffangereichertes Wasser für mehr Energie und bessere Abwehrkräfte,
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63
verschiedene Lernprogramme im Lebensmittelbereich, die allen interessierten Mitarbeitenden zur Bearbeitung zur Verfügung stehen; mehrere tausend Mitarbeitende haben diese Lernprogramme absolviert und eine Qualifikation mittels abgelegter Prüfung erworben. Bewegung: Die Bewegung ist der Weg, die eigene Vitalität und damit auch das eigene Wohlbefinden zu fördern. Hier sind bei tegut… seit Jahren Übungen implementiert, die speziell für die einseitige Bewegung der tegut...-Mitarbeitenden im Vertrieb und in der Verwaltung entwickelt wurden. Diese werden regelmäßig während der Arbeitszeit in den einzelnen Bereichen, zur Lockerung der beanspruchten Muskulatur, durchgeführt. Sie sind fester Bestandteil von Seminaren, von Sitzungen usw. Weitere Angebote sind zum Beispiel der tegut…-Lauftreff, welcher wöchentlich stattfindet, sowie die gemeinsame Teilnahme an Sportveranstaltungen, wie beispielsweise einem regionalen Challenge-Lauf. Darüber hinaus: Drei-Länder-Lauf, jährlicher Lauf für alle Interessierten am Drei-Länder-Eck, Thüringen, Hessen, Bayern, Unterstützung externer Projekte, zum Beispiel Aids-Lauf, Rhönlauf, Nordic Walking, Halbmarathon, Fulda Marathon, tegut… sponsert gesunde Lebensmittel, tegut…-Fußballturnier, jährliches Fußballturnier für Mitarbeitende des Vertriebs, der Logistik, der Produktionsbetriebe und der Zentralen Dienste, Information über externe Fitnessangebote. Bewusstsein: Bewusstsein für das eigene ICH – stellt die dritte Säule dar. Sie wird geprägt durch die übergeordnete Sichtweise auf unser persönliches Leben und somit auf das eigene ICH. Im Bereich Bewusstsein gibt es die Punkte Lockerung, Denkübungen, Meditation und Balance. Zusätzlich bietet tegut… in diesem Bereich die Eurythmie als Kurs an sowie auch Kurse und Vorträge zu:
Tai-Chi Qi Gong Yoga Feldenkrais
64
Employer Branding
4.6
System-Organisation
Altersgemischte Teams tegut… hat altersgemischte Kunden und möchte den Ansprüchen der Menschen an Qualität und Beratung optimal entsprechen. Die Kombination von älteren und jüngeren Mitarbeitenden in Arbeitsteams bietet die maximale Bündelung an Fähigkeiten und Erfahrungen, die sich sowohl im fachlichen Bereich bei der Wissenserweiterung als auch im Beziehungsbereich in der Zusammenarbeit positiv auswirken.
Funktionsgestaltung Aufgaben für Erfahrungsträger: Menschen wollen und sollen ihre Erkenntnisse und Erfahrungen in die Arbeit einbringen können. Aufgaben können erweitert werden oder entsprechende Funktionen übernommen werden. Lernen und Weiterentwicklung werden angestoßen und gefördert, Anerkennung und Wertschätzung sowie das gesunde Selbstbewusstsein ermöglicht. Dazu eignen sich Aufgabenstellungen wie zum Beispiel:
Projektaufgaben, Projektleitungen, Ausbildungsbeauftragte, Weiterbildungspate für Fördermitarbeiter, Fachtrainer, Multiplikatoren bei Prozessänderungen, Sicherheitsbeauftragte, Revisionsaufgaben, Gleichstellungs- oder Suchtbeauftragte, Mentoren für die Fach- und Persönlichkeitsentwicklung junger Führungskräfte, Seniorberater und projekterfahrene Bedienkräfte.
Erfahrene Mitarbeitende, die Sinn und Gespür für Kunden und den qualitätsbewussten Umgang mit der Ware haben, wurden in einem Workshop mit der Frage befasst: Wie können wir auf freundschaftliche, kollegiale Weise junge Lernende stützen, fördern und begleiten in ihrem Verhalten zu Kunden? Diese Herausforderung und die gemeinsam erarbeiteten Handlungsfelder wurden als eine hohe Motivation und sinnvolle Herausforderung von den erfahrenen Mitarbeitenden erlebt. Neben ihrer eigentlichen Aufgabe wurde ihre Kompetenz anerkennend wertgeschätzt von Vorgesetzten als auch von den jungen Lernenden.
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65
Projekt „Gesunder Rücken beim Heben und Bücken“ in der Logistik Der Altersdurchschnitt in der Logistik beträgt 44 Jahre, und die körperliche Belastung führt vermehrt zu muskuloskeletalen Erkrankungen. Daher wurde ein umfangreiches Projekt unter Einbeziehung der Berufsgenossenschaft, einer Krankenkasse, externen Beratern, Betriebsarzt, Betriebsrat und den betroffenen Unternehmensbereichen für die Mitarbeitenden in der Kommissionierung durchgeführt. Arbeitsunfähigkeitsanalysen der Krankenkasse sowie eine videogestützte Bewegungsanalyse waren Basis für die umfangreiche weitere Bearbeitung der Möglichkeiten in der Verhaltens- und Verhältnisprävention. Lösungswege wurden aufgezeigt und gemeinsam mit den Mitarbeitenden in der Logistik umgesetzt. Dazu gehörten, neben Fachvorträgen zur Rückengesundheit durch den Betriebsarzt, auch arbeitsplatzbezogene Bewegungstrainings und Ausgleichsübungen, die regelmäßig am Arbeitsplatz wiederholt wurden. Ein Eurythmiekurs wurde erfolgreich durchgeführt, und zur Nachhaltigkeit wird ein so genannter Rücken-TÜV vom Betriebsarzt angeboten, der, neben dem Blick auf den Menschen, die Arbeitssituation und auf Wunsch auch das Gesundheitsverhalten im Privatbereich mitbetrachtet. Im Bereich der Verhältnisprävention wurden verschiedene Investitionen in Arbeitsmittel getätigt, die sich nach Einbeziehung der Mitarbeitenden als unterstützend und sinnvoll erwiesen. Das Projekt und die Ergebnisse wurden von der Berufsgenossenschaft für Handel und Warendistribution mit einem Ehrenpreis ausgezeichnet.
5
Fazit
tegut... sieht die Menschen ganzheitlich und gestaltet die Beziehungen zum Unternehmen auf den Ebenen des Sinns (Wozu), der Strategie (Wie) und der Maßnahmen (Was). Mit Blick auf reifere Menschen geht es darum, deren Fähigkeiten und Kompetenzen zu erhalten, zu entwickeln und zu aktualisieren. Insbesondere diese Menschen haben oft eine längere Betriebszugehörigkeit und Treue zum Unternehmen und können auf der Basis ihrer Erfahrungen und ihrer Persönlichkeitsreife auch zukünftig bedeutende Aufgaben in altersgemischten Teams tragend und verantwortungsvoll ausführen.
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Employer Branding
Als große Handlungsfelder sieht tegut..., neben einer gelebten Unternehmenskultur zur Wahrnehmung, Einbeziehung und Wertschätzung der Menschen, die Gesundheitsförderung sowie die Ansätze zur Salutogenese. Die tegut...-Schule (Bildung für alle), die Organisationsentwicklung sowie vielfältige Maßnahmen dienen der Mitarbeiterzufriedenheit und der Sicherung der Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit bis zum Eintritt in den Ruhestand.
Zur Theorie des Employer Brandings im demografischen Wandel verweisen wir auf das Lehrbuch „Erfolgreiches Personalmanagement im demografischen Wandel“ von Dagmar Preißing (Hrsg.), 2. Auflage, das 2014 bei De Gruyter Oldenbourg erschienen ist, ISBN 9783-11-035124-8.
Konzeption und Umsetzung einer demografieorientierten Personalentwicklung der Gothaer Thomas Barann und Petra Dick Thomas Barann ist seit 2002 Leiter der Abteilung Personal im Gothaer Konzern. Die Personalabteilung der Gothaer Versicherungen ist Serviceprovider für den Vorstand, das Management und alle Mitarbeiter der Gothaer. Die wichtigsten Verantwortungsfelder liegen in den Bereichen Personalstrategie, -planung, -administration, -entwicklung, Inhouse-Consulting, Compensation & Benefits, Leistungs- und Potenzialanalyse, Payroll und Personalcontrolling. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften war Thomas Barann in der Konsumgüterindustrie (Henkel KGaA), der Bauindustrie (Hochtief AG) und in einer amerikanischen Unternehmensberatung (Towers Perrin) tätig. Dr. Petra Dick ist seit 2001 im strategischen Personalmanagement des Gothaer Konzerns in Köln tätig. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind die Themen Demografie, Frauen im Management, betriebliches Gesundheitsmanagement, Funktionsbewertung und Vergütung. Zuvor war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Führung und Personalmanagement der Universität St. Gallen.
Inhalt 1
Der Gothaer Konzern
69
2
Zentrale personalstrategische Herausforderungen in der Gothaer
69
2.1
Gewinnung und Bindung qualifizierter Mitarbeiter ................................................. 70
2.2
Sicherstellung der Managementnachfolge ............................................................... 70
3
Das Gothaer Demografiemanagement im Überblick
71
4
Lösungsansätze im Umgang mit demografischen Risiken aus dem Bereich Personalentwicklung
72
4.1
Lösungsansatz 1: Nachwuchsentwicklung und -bindung......................................... 73
4.2
Lösungsansatz 2: Nachfolgeplanung auf der Basis von Job Families ...................... 75
4.3
Lösungsansatz 3: Erschließung der Zielgruppe „Frauen“ – Projekt „Frauen im Management“ ........................................................................................ 77
4.4
Lösungsansatz 4: Das Senior Expert Modell – Neue Aufgabenfelder für erfahrene Manager ................................................................................................... 79
4.5
Lösungsansatz 5: Betriebliches Gesundheitsmanagement ....................................... 81
4.6
Lösungsansatz 6: Familienbewusste Personalpolitik ............................................... 82
5
Fazit und Ausblick
84
6
Literatur
84
1
Der Gothaer Konzern
Die Gothaer gehört mit rund 4 Mrd. Euro Beitragseinnahmen und über 3,5 Millionen Versicherten zu den großen deutschen Versicherungskonzernen und ist einer der größten Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit in Deutschland. Der Gothaer Konzern bietet Versicherungsleistungen in den Sparten „Schaden/Unfall“, „Leben“ und „Kranken“ sowie Dienstleistungen im Bereich Vermögensberatung und persönliche Vorsorgestrategien. Hierbei positioniert sich das Unternehmen als Serviceversicherer. Unter dem Motto „Lösungsorientierung“ werden flexible Produkte und Serviceleistungen angeboten, die über reine Versicherungs- und Versorgungsfragen hinausgehen. An der Konzernspitze steht die Gothaer Versicherungsbank VVaG, ein Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit. Die finanzielle Steuerung des Konzerns erfolgt über die Gothaer Finanzholding AG. Träger des operativen Geschäfts sind die Gothaer Allgemeine Versicherung AG, die Gothaer Lebensversicherung AG, die Gothaer Krankenversicherung AG, die ASSTEL Versicherungsgruppe, die Janitos Versicherung AG sowie die in Osteuropa angesiedelten Tochtergesellschaften Gothaer Towarzystwo Ubezpieczeń S.A. und Gothaer Asigurari Reasigurari S.A. Im Jahr 2012 waren im Durchschnitt 6.042 Mitarbeiter bei der Gothaer beschäftigt. Hauptstandort des Gothaer Konzerns ist Köln.
2
Zentrale personalstrategische Herausforderungen in der Gothaer
Zu den größten strategischen Herausforderungen an die Personalarbeit im Gothaer Konzern zählen die Gewinnung und Bindung qualifizierter Mitarbeiter im Allgemeinen sowie die Sicherstellung der Managementnachfolge im Besonderen.
70
Kompetenzentwicklung
2.1
Gewinnung und Bindung qualifizierter Mitarbeiter
Hierfür sind – neben den generellen demografischen Veränderungen – zwei Entwicklungen verantwortlich: Aufgrund komplexer werdender Aufgaben und verstärkt benötigter Fachspezialisierung steigen die Anforderungen an die Bewerber. Gleichzeitig wird die Rekrutierung von Fach- und Führungskräften zunehmend schwieriger. Neben der demografischen Entwicklung sind wesentliche Ursachen hierfür:
Abnehmende Wechselbereitschaft angesichts der im Zuge der Finanzkrise instabilen Wirtschaftslage,
unzureichende Qualität der Ausbildung durch Schulen und Hochschulen,
Attraktivitätsnachteile der Versicherungsbranche gegenüber anderen Branchen – insbesondere bei Hochschulabsolventen sowie
begrenzte Personalbudgets aufgrund von Kostendruck und Sparprogrammen.
In Köln, dem zweitgrößten Versicherungsstandort in Deutschland, kommt erschwerend ein besonders intensiver Wettbewerb um Fachkräfte hinzu.
2.2
Sicherstellung der Managementnachfolge
Die Herausforderungen des demografischen Wandels wurden bereits 2005 identifiziert. Damals lag das Durchschnittsalter der Gothaer Beschäftigten bereits über dem Branchendurchschnitt. Aufgrund dessen war klar, dass die Anzahl von Altersaustritten – auch und besonders bei Führungskräften – mittelfristig stark ansteigen wird. Da in vielen Bereichen zu wenig Potenzialträger für weitergehende Aufgaben vorhanden waren und der interne Pool der Managementnachwuchskräfte nicht ausreichte, um den Neubesetzungsbedarf in den beiden oberen Führungsebenen in den nächsten Jahren zu decken, stieg das Risiko, Managementpositionen nicht schnell genug oder nur mit hohem Aufwand und hohen Kosten extern besetzen zu können. Fazit: Aufgrund dieser Sachlage gewann die demografische Entwicklung für die Gothaer besondere Bedeutung. Es drohte ein Mangel an qualifiziertem Nachwuchs sowie ein Verlust an Erfahrungswissen bei Pensionierung größerer Mitarbeitergruppen – Gefahren, die erkannt wurden und denen die Gothaer gezielt begegnet.
Gothaer
3
71
Das Gothaer Demografiemanagement im Überblick
Die Gothaer verfügt über einen umfassenden, ganzheitlichen Ansatz, der auf vier Eckpfeilern basiert: 1. Demografische Risikoanalyse – Bestandsaufnahme und Zukunftsprojektion Um altersstrukturelle Risiken möglichst frühzeitig zu identifizieren, werden in der Gothaer schon seit Jahren regelmäßig Analysen zur Altersstruktur der Belegschaft durchgeführt. Mit dem Erwerb eines innovativen Analyse- und Prognose-Tools im Jahr 2009 und dessen Weiterentwicklung zur Anwendungsreife wurde der Fokus nochmals deutlich erweitert. Mit diesem Excel-basierten Instrument können neben Ist-Analysen auch Zukunftssimulationen zur Entwicklung der Altersstruktur und Austritte, des Personalbestands und Personalbedarfs erstellt werden. Durch Veränderung der Planungsparameter, wie zum Beispiel Personalbedarfsentwicklung oder Fluktuation, lassen sich unterschiedliche Zukunftsszenarien simulieren, die die Grundlage für die Ableitung altersstruktureller Chancen und Risiken und die Entwicklung adäquater Handlungsstrategien bilden. Ergänzend zu diesen kollektiven Analysen wird auf individueller Ebene das Instrument der Entwicklungs- und Nachfolgeplanung eingesetzt. Dabei werden auf Basis von Leistungs- und Potenzialbeurteilungsergebnissen und unter Einbezug von Vorständen und Führungskräften Nachfolgekandidaten für Führungspositionen identifiziert. 2. Personalstrategische Ziele zum Thema „demografischer Wandel“ Im Rahmen der Gothaer Personalstrategie – dem Wegweiser für die Personalarbeit von Vorständen, Führungskräften und Personalbereich – nimmt das Thema „Demografie“ einen zentralen Stellenwert ein. Bezüge dazu finden sich in verschiedenen in der Personalstrategie dokumentierten Zielen (zum Beispiel deutlicher Ausbau der Arbeitgeberattraktivität) und Maßnahmen (zum Beispiel Optimierung von Personalmarketing und Rekrutierung). 3. Maßnahmen – Wege aus der Demografiefalle Das Unternehmen verfügt mittlerweile über ein umfassendes Portfolio konkreter personalwirtschaftlicher Handlungsansätze zur Bewältigung demografischer Herausforderungen, darunter auch mehrere aus dem Themenkreis „Personalentwicklung“. Diese werden im folgenden Kapitel im Detail beschrieben.
72
Kompetenzentwicklung
4. Controlling – Erhebung von Zahlen, Daten, Fakten – Evaluation von Maßnahmen Die Gothaer legt viel Wert auf ein systematisches Demografie-Controlling. Dazu zählt zum ersten die Bewertung der aktuellen und zukünftigen demografischen Risiken als Basis für die Ableitung von Maßnahmen. Über das bereits erwähnte Tool zur quantitativen Risikoanalyse hinaus, werden beispielsweise Risikocockpits im Rahmen der Entwicklungs- und Nachfolgeplanung für Führungskräfte erstellt. Auf Basis der Anzahl altersbedingter Austritte und potenzieller Nachfolgekandidaten wird darin das kurz- und langfristige Risiko der Nachbesetzung von Führungsfunktionen in Ampelfarben dargestellt. Zum zweiten evaluiert die Gothaer regelmäßig den Erfolg der Maßnahmen zur Risikosteuerung. Ein Beispiel hierfür ist der so genannte GesundheitsIndex – ein innovatives Instrument, in dem verschiedene gesundheitsrelevante Daten zusammenfließen. Dieses wurde entwickelt, um Qualität und Akzeptanz von Maßnahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements langfristig noch besser steuern zu können. Fazit: Die stringente Verknüpfung der zentralen Elemente Analyse, Strategie, Maßnahmen und Evaluation, im Rahmen eines kontinuierlich fortlaufenden Prozesses gewährleistet Systematik und Nachhaltigkeit – zwei Faktoren, die erfolgskritisch für die Bewältigung der demografischen Herausforderungen sind.
4
Lösungsansätze im Umgang mit demografischen Risiken aus dem Bereich Personalentwicklung
Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen Ansätze aus dem Bereich Personalentwicklung.
Gothaer
73
Lösungsansätze aus dem Bereich Personalentwicklung Lösungsansatz 1:
Lösungsansatz 2:
Nachwuchsentwicklung und -bindung
Nachfolgeplanung auf der Basis von Job Families
Lösungsansatz 3:
Lösungsansatz 4:
Erschließung der Zielgruppe „Frauen“
Senior Expert Modell – Neue Aufgabenfelder für erfahrene Manager
Weitere Lösungsansätze
Abb. 4.1
4.1
Lösungsansatz 5:
Lösungsansatz 6:
Betriebliches Gesundheitsmanagement
Familienbewusste Personalpolitik
Lösungsansätze im Überblick; Quelle: Gothaer
Lösungsansatz 1: Nachwuchsentwicklung und -bindung
Mit attraktiven, aufeinander abgestimmten Entwicklungsprogrammen betreibt die Gothaer gezieltes Talentmanagement, um dem demografiebedingten Fach- und Führungskräftemangel zu begegnen: 1. Konsequente Fortsetzung der Erstausbildung Die Gothaer bietet folgende Ausbildungsgänge an:
Erstausbildung zum/zur Kaufmann/-frau für Versicherungen und Finanzen (KVF): Berufsausbildung mit IHK-Abschluss deutschlandweit,
Ausbildung nach dem Kölner Modell (KM): Kombination aus Berufsausbildung und Fachhochschulstudium am Standort Köln mit IHK- und Bachelor-Abschluss,
Ausbildung zum Bachelor of Arts (BA): Studium an Berufsakademie an den Standorten Stuttgart und Mannheim mit Bachelor-Abschluss,
Ausbildung zum Integrierten Master (IM): berufsbegleitendes Studium mit Masterabschluss am Standort Köln.
74
Kompetenzentwicklung
Die Zahl der Ausbildungsplätze für KVF und KM in den Gothaer Kerngesellschaften bewegt sich seit Jahren auf gleichbleibend hohem Niveau. Mit der Zahl der Bewerbungen pro Ausbildungsplatz liegt die Gothaer seit Jahren über dem Branchendurchschnitt (2012: Gothaer 20,2; Branche: ca. 15). Eine Mitarbeiterbefragung unter den Auszubildenden im Jahr 2011 erbrachte zudem hohe Zufriedenheitswerte mit der Ausbildung bei der Gothaer. Die Ausbildungsgänge zum „Bachelor of Arts“ und „Integriertem Master“ wurden 2008 eingeführt. Zusammen mit der Ausbildung nach dem Kölner Modell unterstützen sie die angestrebte Erhöhung des Akademikeranteils im Unternehmen. 2. Studentenprogramm Mit Praktikumsangeboten wird guten Studenten die Möglichkeit geboten, Einblicke in die Arbeitswelt zu gewinnen, theoretisches Wissen in der Praxis anzuwenden, Neues hinzuzulernen und dadurch den eigenen Marktwert zu steigern. Mit Studenten, die sich hierbei als Potenzialträger erweisen, wird aktiv Kontakt gehalten. Damit verbinden sich gleich mehrere Nutzenpotenziale:
Die Gothaer wird als Arbeitgeber bekannter.
Das Arbeitgeberimage der Gothaer wird verbessert.
Der Aufbau eines Pools von Potenzialträgern sichert eine schnelle und kostengünstige Rekrutierung von Absolventen.
Die Einarbeitungs- und Integrationszeit wird verkürzt.
Aktuelle wissenschaftliche Methoden und Ergebnisse werden genutzt.
3. Hochschulabsolventenprogramm „Management Start Up“ Zur langfristigen Sicherstellung von Führungsnachwuchs hat die Gothaer 2006 die bis dato bereits bestehenden Management-Entwicklungsprogramme um einen weiteren Baustein – das so genannte Management Start Up-Progamm – erweitert. Dieses zweijährige Programm richtet sich an Hochschulabsolventen mit Entwicklungspotenzial für Führungsaufgaben. Die Teilnehmer starten je nach Studienschwerpunkt und persönlichem Interesse in einer der 20 Job Families. Durch Rotation im Unternehmen lernen sie innerhalb von zwei Jahren alle wichtigen Bereiche und Schnittstellen der jeweiligen Job Family intensiv kennen. Der Personalbereich begleitet und unterstützt die Start Ups durch regelmäßige Gespräche sowie durch individuelle und kollektive Entwicklungsmaßnahmen. Gegen Ende des Programms planen die Programmbetreuer gemeinsam mit jedem Teilnehmer seine weitere Zukunft. Teilnehmer, die in einem abschließenden Assessment Center von ihrem Führungspotenzial überzeugen können, erhalten die Chance am aufbauenden Management Programm teilzunehmen. Die Erfahrungen sind durchwegs gut: Das Programm zeigt sehr gute Resonanz am Bewerbermarkt (über 1.500 Bewerbungen für die Besetzung der fünften Staffel bei neun Plätzen) und im Unternehmen (hohe Nachfrage nach Start Ups in den Fachbereichen).
Gothaer
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Die Fluktuationsquote unter den Teilnehmern liegt vom Programmstart bis heute (1. Quartal 2014) auf niedrigem Niveau. 4. Management Programm Im Management Programm finden Potenzialträger mit Berufserfahrung Unterstützung bei der Entwicklung in eine Managementfunktion oder auch bei der Wahrnehmung erster Führungsaufgaben. Das Management Programm basiert auf vier Prinzipien:
Entwicklung in der Aufgabe: Die Teilnehmer lernen und wachsen durch die Übernahme von anspruchsvollen Aufgaben. Sie werden hierbei von ihren Führungskräften unterstützt und speziell gefördert.
Individuelle Förderung: Die Förderung erfolgt bedarfsorientiert und kann sowohl „on the job“ als auch „off the job“ erfolgen. Obligatorischer Bestandteil des Programms ist ein „Praxisbaustein Vertrieb“ für alle Teilnehmer, die über keine Vertriebserfahrung verfügen.
Kollektive Entwicklungsmaßnahmen: In den ersten zwei Jahren des Management Programms finden mehrere gemeinsame ein- bis zweitägige kollektive Entwicklungsmaßnahmen im Kreise aller Programmteilnehmer statt. Diese Veranstaltungen haben auch den Anspruch, die bereichsübergreifende Vernetzung zu fördern.
Talentpool: Das Management Programm schafft Voraussetzungen für die Übernahme weiterführender Managementaufgaben. Bei der Suche nach geeigneten Nachfolgekandidaten werden die Programmteilnehmer regelmäßig in das Auswahlverfahren einbezogen.
Auch dieses Programm erweist sich als erfolgreich: 81% der Management ProgrammTeilnehmer 2002 bis 2007 sind um mindestens eine Hierarchiestufe aufgestiegen. Im Zeitraum 2008 bis 2012 konnten 45,7% der Programmteilnehmer einen Aufstieg verbuchen.
4.2
Lösungsansatz 2: Nachfolgeplanung auf der Basis von Job Families
Die Gothaer befindet sich seit 2001 in einem Prozess der Neuausrichtung. Mit dem „Gothaer Zukunftsprogramm“, einem Modell, das auf die Verbesserung der Kosten- und Ertragssituation, die Stärkung der Marke und den Ausbau der vertrieblichen Leistungskraft abzielt, begegnet der Konzern mit Erfolg den verschärften Markt- und Wettbewerbsbedingungen. Mit dem Gothaer Zukunftsprogramm, das vor einigen Jahren aufgelegt wurde und seither regelmäßig weiterentwickelt wurde, gehen auch strukturelle Veränderungen einher, die eine mittel- und langfristige Nachfolgeplanung erschweren.
76
Kompetenzentwicklung
In diesem Zusammenhang schaffen die so genannten Job Families Erleichterung. Job Families sind Bündelungen inhaltlich verwandter Aufgaben und Funktionen, die vergleichbare erfolgskritische Fähigkeiten von den Funktionsinhabern fordern. Tabelle 4.1 illustriert dies am Beispiel der Gothaer Job Family „Recht/Steuern“, die Funktionen aus unterschiedlichen Bereichen und Abteilungen einschließt. Tab. 4.1
Merkmale der Job Family „Recht/Steuern“; Quelle: Gothaer
Kernsatz
Typische Aufgaben
Erfolgskritische Skills
Schnittstellen
Gestaltung und Durchsetzung von Rechtspositionen des Unternehmens im Bereich des Gesellschafts-, Vertrags-, Arbeits- und Steuerrechts; Festlegung und Implementierung der Steuerpolitik sowie Umsetzung von Steueroptimierungen Vertretung des Unternehmens in rechtlichen Angelegenheiten nach außen Zusammenarbeit mit externen Anwaltskanzleien Erstellen von Rechtsgutachten und Analysen über Implikationen von Gesetzesänderungen Beratung des Vorstands und der Fachabteilungen Gestaltung und Prüfung von Verträgen Verbandsarbeit Sicherstellung der Einhaltung aller Steuergesetze und -vorschriften Entwicklung und Umsetzung von Konzepten zur Reduzierung der Steuerbelastung steuerliche Beratung bzgl. Produktplanung und -ausrichtung Vertretung gegenüber den Finanzbehörden vertiefte Kenntnisse des relevanten Rechtsgebietes Verhandlungsgeschick analytisches, konzeptionelles, strategisches Denken Fähigkeit, komplexe Sachverhalte verständlich zu erläutern Fähigkeit, sich als Berater zu positionieren, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen Job Families: Finanzen/Controlling/Risikomanagement, Personalmanagement
Job Families sind unabhängig von bestehenden Strukturen und bleiben daher auch bei Umstrukturierungen stabil. Sie ermöglichen es, differenzierte altersstrukturelle Risiken und Chancen im Konzern transparent zu machen und bilden damit eine solide Grundlage für die Entwicklung geeigneter Strategien und Maßnahmen. Im Jahr 2008 wurden die bestehenden Job Families überarbeitet und von 14 auf 20 erweitert. Abbildung 4.2 zeigt die aktuellen Job Families.
Gothaer
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Krankenversicherung Betrieb/Leistung Lebensversicherung Betrieb/Leistung
Servicecenter
IT BPO Business-Prozess-Optimierung Personalmanagement
Produktentwicklung Kompositversicherung
Produktentwicklung Personenversicherungen
Kompositversicherung Betrieb/Schaden Privatkunden
Recht/Steuern
Kompositversicherung Betrieb/Schaden Unternehmerkunden
Finanzen/Controlling/ Risikomanagement Asset Management
Marketingorientierte Tätigkeiten
Rückversicherung Vertrieb
Allgemeine Verwaltung Einkauf/Logistik/ Facility-Management
Assistenz Corporate Security
Abb. 4.2
Revision
Übersicht Job Families; Quelle: Gothaer
Aufgrund ihrer Unabhängigkeit von bestehenden, vielfach volatilen Strukturen bilden sie eine geeignete Basis für:
eine systematische Entwicklungs- und Nachfolgeplanung,
eine zielgerichtete fachliche Entwicklung im Rahmen des Management Start UpProgramms,
einen strukturierten Aufbau von Laufbahnkonzepten.
4.3
Lösungsansatz 3: Erschließung der Zielgruppe „Frauen“ – Projekt „Frauen im Management“
Obwohl die Gothaer über eine hohe Anzahl qualifizierter Frauen verfügt, sind Frauen im Management – wie bei den meisten deutschen Unternehmen (vgl. Hoppenstedt, 2012) unterrepräsentiert. Vor dem Hintergrund der aktuellen Herausforderungen avanciert die gezielte Erschließung der Zielgruppe „Frauen“ für Managementpositionen nunmehr allerdings zum kritischen Erfolgsfaktor.
78
Kompetenzentwicklung
Aus diesem Grunde wurde bereits 2007 das Projekt „Frauen im Management“ aufgesetzt, mit dem zwei Zielsetzungen verbunden sind: 1. Spürbare Erhöhung des Frauenanteils im Management Bis 2016 soll in allen Strukturebenen eine Steigerung des Frauenanteils gegenüber 2005 erreicht werden: Strukturebene 1 – Leitung Hauptabteilung: von 5,6% auf 15% Strukturebene 2 – Leitung Abteilung: von 5,9% auf 20% Strukturebene 3 – Leitung Gruppe: von 30,1% auf 40% 2. Steigerung des Unternehmenswertes Eine gezielte Karriereförderung für Frauen verspricht eine Steigerung von Produktivität, Rentabilität und Unternehmenswert durch:
eine bessere Nutzung des vorhandenen Humankapitals und Führungspotenzials,
eine Steigerung der Zufriedenheit und des Engagements der Mitarbeiterinnen,
eine Erhöhung der Flexibilität, Kreativität und Innovationskraft sowie effektivere Problemlösung durch Förderung von Vielfalt und Heterogenität („Diversity“),
die Gewinnung und Bindung qualifizierten Personals durch Verbesserung des Arbeitgeberimages und
eine Verbesserung der Kundenzufriedenheit durch positive Beeinflussung des Unternehmensimages.
Folgerichtig hat die Gothaer die Erhöhung des Frauenanteils in Führungspositionen als Ziel in ihrer Personalstrategie verankert und erarbeitet unter der Federführung des Personalbereichs einschlägige Konzepte und Maßnahmen auf Basis von vertiefenden Analysen, wissenschaftlichen Befunden sowie brancheninternen und -externen Benchmarks. Zentrale Handlungsfelder sind hierbei diverse Ansätze zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf im Rahmen einer familienbewussten Personalpolitik, die in Kapitel 4.6 noch gesondert beschrieben werden, sowie ein Mentoring Programm für Frauen. Mentoring bezeichnet die Unterstützung von Talenten („Mentees“) auf ihrem Karriereweg durch erfahrene Führungskräfte („Mentorinnen/Mentoren“) jenseits der hierarchischen Beziehungen. Mentoren helfen und beraten, wirken als Vorbilder und Lernmodelle, fördern das Verständnis für unternehmensinterne „Spielregeln“ und verschaffen Zugang zu karriereförderlichen Netzwerken. Das 2009 aufgelegte Mentoring Programm richtet sich an Frauen, die nachweislich über Managementpotenzial verfügen oder bereits eine erste Führungsaufgabe als Gruppenleiterin wahrnehmen. Das Programm hat eine Dauer von einem Jahr. Mentorinnen und Mentoren sind erfahrene Führungskräfte der Strukturebenen 1 und 2, die im Konzern gut vernetzt sind
Gothaer
79
und Frauen bei deren Entwicklung in weiterführende Managementaufgaben unterstützen wollen. Der Personalbereich unterstützt mit Methoden und Instrumenten sowie mit persönlicher Beratung. Bislang wurden bereits zwei Staffeln des Mentoring Programms mit Erfolg abgeschlossen – die dritte Staffel startete im Herbst 2013. Die Resonanz der Beteiligten ist durchwegs positiv, und von den Mentees der bisherigen Staffeln ist bereits ein Drittel in eine höhere Hierarchieebene aufgestiegen. Ein statistischer Abgleich der Ausgangslage 2005 mit der Situation 2013 offenbart eine positive Entwicklung: Der Frauenanteil bei den Gothaer Führungskräften ist in allen Ebenen prozentual gestiegen. Die größte Steigerung verzeichnet dabei Strukturebene 2 (Abteilungsleitung) mit einem Zuwachs von 68% (siehe Tabelle 4.2). Tab. 4.2
Anteil weiblicher Führungskräfte im Zeitvergleich; Quelle: Gothaer
Ausgangslage 31.12.2005
Zwischenstand 31.12.2013
Frauenanteil Führungskräfte insgesamt: 15,8%
Frauenanteil Führungskräfte insgesamt: 20,8%
Frauenanteil Führungskräfte:
Frauenanteil Führungskräfte:
Strukturebene 1: 5,6%
Strukturebene 1: 7,5%
Strukturebene 2: 5,9%
Strukturebene 2: 9,9%
Strukturebene 3: 30,1%
Strukturebene 3: 35,8%
Eine Fortsetzung des Aufwärtstrends wird zum einen durch eine konsequente Weiterführung der bisherigen Aktivitäten und die Suche nach neuen Handlungsfeldern – wie beispielsweise dem Aufbau eines systematischen „Gendercontrollings“ – unterstützt, zum anderen aber auch durch die erfreulich hohen Frauenanteile in den Programmen zur Nachwuchs- und Führungskräfteentwicklung gefördert.
4.4
Lösungsansatz 4: Das Senior Expert Modell – Neue Aufgabenfelder für erfahrene Manager
Obwohl im Zuge des allgemeinen „Jugendkultes“ vielfach Vorurteile gegenüber älteren Mitarbeitern bestehen (vgl. Adecco, 2005), belegen wissenschaftliche Befunde, dass das Alter – insbesondere bei Bürotätigkeiten – weniger Einfluss auf die Leistungsfähigkeit hat als gemeinhin angenommen (vgl. Eckhardstein, 2004; Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA), 2005; Hacker, o.J.). Das heißt: Ältere Mitarbeiter sind keineswegs generell und rundum
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Kompetenzentwicklung
leistungsschwächer als ihre jüngeren Kollegen. Sie haben vielmehr spezielle Stärken, wie zum Beispiel strategisches Denken und Handeln, Markt-/Kundenorientierung, Fachkenntnisse, Erfahrung, Qualitätsbewusstsein und Kommunikationsfähigkeit, deren gezielte Nutzung und Förderung besondere Chancen eröffnet. Dennoch stehen mit einer deutlich steigenden Anzahl älterer Mitarbeiter diesen Chancen auch Risiken gegenüber:
Mit steigendem Renteneintrittsalter droht ein Anstieg der Verweildauer in Führungspositionen („Sektkorkensyndrom“).
Aufgrund des Trends zu schlanken Strukturen und flachen Hierarchien stehen weniger Führungsfunktionen zur Verfügung. Zugleich wächst der Bedarf, junge Leistungsträger durch attraktive Arbeitsangebote an das Unternehmen zu binden.
Einkommenszuwächse bei einem steigenden Anteil älterer, vergleichsweise gut bezahlter Mitarbeiter scheinen kaum noch finanzierbar.
Nicht alle Führungskräfte können beziehungsweise wollen sich den Belastungen einer Führungsfunktion bis zum Austritt aus dem Arbeitsleben aussetzen.
Einen Beitrag zur Lösung dieser Problematik sieht die Gothaer in der Schaffung neuer attraktiver Aufgabenfelder für ältere Führungskräfte, im Rahmen derer sie ihre Stärken zum Einsatz bringen können, ohne sich weiterhin dem Stress einer Führungsfunktion auszusetzen. Unter dieser Maxime wurde das Gothaer Senior Expert Modell entwickelt und bereits mehrfach mit Erfolg umgesetzt. Hierbei übernehmen Top-Manager Funktionen wie „Senior Consultant“ oder „Senior Project Manager“, die sich wie folgt charakterisieren lassen:
Es handelt sich um anspruchsvolle Stabsfunktionen, die in der Regel direkt unterhalb des Vorstands oder in der darunter liegenden Ebene angesiedelt sind.
Die Funktionen umfassen typischerweise Aufgabenfelder, die Unternehmenskenntnis, Erfahrung und Einbindung in Netzwerke erfordern. Dazu zählen insbesondere komplexe, bereichsübergreifende Projekte oder strategische Themen, teilweise auch Interimsmanagement.
Die Ausgestaltung der Rahmenbedingungen (zum Beispiel Arbeitszeit, Vergütung) erfolgt gemäß individueller Absprache.
Dieser Ansatz erscheint vielversprechend, denn er beinhaltet sowohl aus Unternehmens- als auch aus Mitarbeiterperspektive große Nutzenpotenziale und ermöglicht somit „Win-WinSituationen“.
Gothaer Tab. 4.3
81 Nutzenpotenziale des Senior Expert Modells; Quelle: Gothaer
Nutzenpotenziale für das Unternehmen
Nutzenpotenziale für den Mitarbeiter
Erhalt, Nutzung und Weitergabe von Erfahrungswissen
Neue Herausforderung durch anspruchsvolle und angesehene Tätigkeit
Nutzung, Pflege und Weiterentwicklung von Netzwerken
Entlastung von Linienaufgaben und Führungsverantwortung
Kostenersparnis durch Reduzierung teurer externer Beratereinsätze
Verbesserung der Work-Life-Balance
Schaffung von Karriereperspektiven für jüngere Potenzialträger
Gleitender Ausstieg aus dem Arbeitsleben
Vermeidung von Fluktuationskosten durch Bindung jüngerer Potenzialträger
Weitere Lösungsansätze im Umgang mit demografischen Risiken Die bislang beschriebenen Ansätze aus dem Bereich der Personalentwicklung werden durch zwei weitere Maßnahmenpakete – betriebliches Gesundheitsmanagement und familienbewusste Personalpolitik – ergänzt.
4.5
Lösungsansatz 5: Betriebliches Gesundheitsmanagement
Im Kontext des demografischen Wandels und der Erhöhung des Renteneintrittsalters gewinnt betriebliche Gesundheitsförderung besondere Bedeutung: Sie liefert wertvolle Beiträge zum Erhalt von Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit der steigenden Anzahl älterer Mitarbeiter wie auch zur Schaffung attraktiver Arbeitsbedingungen für den zunehmend knappen Nachwuchs. Im Gothaer Konzern hat betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) eine lange Tradition und gilt als wichtiges Element einer zeitgemäßen und zukunftsgerichteten Personalarbeit. Es ist daher strategisch, strukturell und instrumentell umfassend im Unternehmen verankert. Mit der Konzerntochter MediExpert Gesellschaft für betriebliches Gesundheitsmanagement mbH verfügt das Unternehmen über ein eigenes Kompetenzzentrum für betriebliche Gesundheitsförderung, das auch extern den Gothaer Firmenkunden ein breites Spektrum an Gesundheitsdienstleistungen anbietet (www.gesunde-firma.de).
82
Kompetenzentwicklung
Die Aktionsschwerpunkte des Gothaer BGM decken folgende Themenfelder ab:
Ergonomie am Arbeitsplatz: zum Beispiel Ergo-Coaching, aktive Bewegungspausen
Sport und Bewegung: ein breitgefächertes Sportangebot, zum Beispiel ein Kursangebot mit den Schwerpunkten Rückentraining, Entspannung und Cardiotraining,
Ernährung: Aktionen zur gesunden Ernährung in der Kantine,
Stress: vielfältige Angebote zur Stressprävention und -bewältigung,
Führung: zum Beispiel Führungskräftetrainings,
Sucht,
medizinische Angebote: zum Beispiel Gesundheitsscreenings und
Gesundheitsschutz und Sicherheit.
Zu den zentralen Erfolgsfaktoren des Gothaer Gesundheitsmanagements zählen die von der Konzerntochter MediExpert entwickelten und umgesetzten Konzepte der Direktansprache der Mitarbeiter am Arbeitsplatz. Dabei gehen Fachkräfte im Rahmen von Aktionen durch die Büros und bieten Mitarbeitern Coachings von 10 bis 15 Minuten an – beispielsweise ein Ergo-Coaching zur gesundheitsgerechten Einstellung des Arbeitsbereichs, eine angeleitete Aktivpause zur Lockerung verspannter Muskeln, eine kurze Entspannungsübung zur besseren Bewältigung akuter Stresssituationen oder ein so genanntes BioFeedback, bei dem muskuläre Spannungszustände im Schulter-Nacken-Bereich erhoben und Verbesserungspotenziale aufgezeigt werden. Handouts, die zusätzliche Ausbildung von Multiplikatoren sowie bedarfsgerechte Verweise auf weiterführende Angebote unterstützen die Nachhaltigkeit. Mit diesen Konzepten werden zwischen 60 und 80% der Mitarbeiter erreicht. Das ausgereifte BGM der Gothaer wurde mehrfach ausgezeichnet – unter anderem mit dem „Deutschen Unternehmenspreis Gesundheit“ in den Jahren 2008 und 2011. 2013 gewann die Gothaer zudem – zum zweiten Mal nach 2011 – den „Corporate Health Award“ im Bereich „Finanzen/Versicherungen“.
4.6
Lösungsansatz 6: Familienbewusste Personalpolitik
Wie Studien belegen, gewinnt die „Work-Life-Balance“ für die im Zuge der demografischen Entwicklung zunehmend wichtigere Mitarbeiterbindung an Bedeutung (vgl. Towers Perrin, 2007, S. 11; Hauser et al., 2005, S. 107). Die Gothaer fördert daher gezielt die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ihrer Beschäftigten. Die entsprechenden Angebote lassen sich unter drei Themenschwerpunkten zusammenfassen:
Gothaer
83
1. Ansätze im Bereich „Arbeitszeit“ Hierzu zählen in erster Linie flexible, familienfreundliche Arbeitszeitregelungen. So existiert zum Beispiel in der Hauptverwaltung Köln, dem größten Betrieb der Gothaer, ein Gleitzeitmodell ohne Kernarbeitszeiten. Weiterhin gibt es im Konzern ein breitgefächertes Spektrum an individuellen Teilzeitlösungen, die passgenau auf persönliche Bedürfnisse und betriebliche Erfordernisse zugeschnitten sind. Und schließlich erlaubt eine offene Kultur auch hochrangigen Führungskräften die Inanspruchnahme von Familienpausen ohne Imageverlust. 2. Ansätze im Bereich „Kinderbetreuung“ Die Gothaer kooperiert seit 1998 mit dem pme Familienservice, der Eltern in Fragen der Kinderbetreuung berät und maßgeschneiderte Betreuungslösungen (zum Beispiel Tagesmütter, Au-pairs, Ferienprogramme) vermittelt. Zwischenzeitlich wurde das Angebotsspektrum um den Baustein „Notfallbetreuung“ erweitert. Seit 2008 fördert das Unternehmen zudem eine örtliche Kinderbetreuungseinrichtung in unmittelbarer Nähe der Konzernzentrale in Köln. Hierdurch wird Gothaer Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern insbesondere ein erleichterter Zugang zu den knappen Betreuungsplätzen für unter Dreijährige eröffnet. 3. Konzept zur Mitarbeiterbindung während Familienpausen Um Knowhow- und Erfahrungsverlust während einer Familienauszeit zu vermeiden, die Bindung von Müttern und Vätern an die Gothaer zu stärken und den Wiedereinstieg zu erleichtern, wurde ein Ansatz entwickelt, der konkrete Maßnahmen für verschiedene Phasen – zum Beispiel Übersendung von Glückwunschkarte und Babyhandtuch zur Geburt – vorsieht. Ein Kernstück dieses Konzeptes zur Mitarbeiterbindung ist das so genannte Patenkonzept. Dieses gibt werdenden Eltern die Möglichkeit, vor Beginn von Mutterschutzfrist beziehungsweise Elternzeit einen Ansprechpartner („Paten“) zu gewinnen, der sie während der Familienpause mit relevanten Informationen über die Gothaer und ihren Arbeitsbereich versorgt. Um das Engagement für Familien auch nach außen hin sichtbar zu machen, ist die Gothaer 2008 dem Unternehmensnetzwerk „Erfolgsfaktor Familie“ – einer Initiative des Bundesfamilienministeriums und des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, der bereits über 4.000 Unternehmen angehören – beigetreten. Gleichzeitig hat sie die „Gemeinsame Erklärung Erfolgsfaktor Familie“ unterzeichnet – ein Impulspapier, mit dessen Unterzeichnung sich Unternehmen unter anderem verpflichten, familienbewusste Unternehmensführung als Teil der Unternehmenskultur zu verstehen und Eltern bei der Kinderbetreuung oder beim Wiedereinstieg in den Beruf zu helfen.
84
5
Kompetenzentwicklung
Fazit und Ausblick
Mit den skizzierten Ansätzen aus verschiedenen Bereichen der Personalarbeit ist die Gothaer auf einem guten Weg, der gefürchteten „Demografiefalle“ zu entkommen und „demografische Fitness“ zu erlangen. Deshalb wird auch in Zukunft konsequent – unter Einbindung des operativen Managements – an diesen und neuen Handlungsfeldern gearbeitet. Die sich aus der demografischen Entwicklung erschließenden Zukunftsperspektiven/Chancen können genutzt werden, indem:
das Thema „Demografie“ dauerhaft und nachhaltig im Zentrum unternehmens- und personalstrategischer Überlegungen verankert bleibt,
die aktuellen Entwicklungen in Wissenschaft und Praxis weiterhin gezielt beobachtet und für Verbesserungen genutzt werden,
auf Basis verfeinerter Altersstrukturanalysen und Zukunftsszenarien weiterhin systematisch differenzierte demografische Chancen und Risiken im Konzern identifiziert und geeignete Handlungsstrategien entwickelt werden und
die Relevanz der Thematik „Demografie“ auch zukünftig über die Grenzen des Personalbereichs hinaus in die operativen Fachbereiche des Gothaer Konzerns transportiert wird.
Damit wird deutlich: Wenngleich bereits eine solide Grundlage zur Bewältigung demografischer Risiken geschaffen wurde, gibt es noch einiges zu tun. Dieser Herausforderung soll gezielt begegnet werden – getreu der Devise „Gothaer – wir machen das“.
6
Literatur
Adecco (2005): Demografische Fitness. (K)ein Thema für Unternehmen in Deutschland, o. O. Eckhardstein, D. v. (2004): Demographische Verschiebungen und ihre Bedeutung für das Personalmanagement, in: zfo, Heft 3/04, S. 128-135
Gothaer
85
Hauser, R., Schubert, A., Aicher, A.: Unternehmenskultur, Arbeitsqualität und Mitarbeiterengagement in den Unternehmen in Deutschland, Forschungsprojekt Nr. 18/05 Hoppenstedt (2012): Frauen im Management. Hoppenstedt-Studie 2012 Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA) (Hrsg.) (2005): Demographischer Wandel und Beschäftigung, 2. Auflage, Dortmund Towers Perrin (2007): Reward Challenges and Changes 2007 – Aktuelle und zukünftige Herausforderungen im Vergütungsmanagement, Frankfurt am Main Internetquelle Hacker, W. (o. J.): Leistungsfähigkeit und Alter, in: doku.iab.de/grauepap/2003/lauf_Hacker_vortrag.pdf, Abrufdatum 08.01.2009
Zur Theorie der Kompetenzentwicklung im demografischen Wandel verweisen wir auf das Lehrbuch „Erfolgreiches Personalmanagement im demografischen Wandel“ von Dagmar Preißing (Hrsg.), 2. Auflage, das 2014 bei De Gruyter Oldenbourg erschienen ist, ISBN 9783-11-035124-8.
Mitarbeiter schulen Mitarbeiter – Ein Projekt der Voestalpine AG Ernst Balla und Wolfgang Danner Dr. Ernst Balla ist Konzernpersonalentwickler in der Voestalpine AG. In seiner Funktion ist er für alle divisionsübergreifenden Managemententwicklungsmaßnahmen im Konzern zuständig, die vor allem die weltweite Führungskräfte-Entwicklung umfassen. Davor war er in der strategischen Personalentwicklung eines großen österreichischen Gesundheitskonzerns tätig.
Wolfgang Danner arbeitete nach seinem Studium der Betriebsinformatik mehr als ein Jahrzehnt im EDV-Bereich. Über ein Projekt und eine daraus resultierende Unternehmensgründung kam er mit dem Personalbereich in intensiven Kontakt und erlag dessen Faszination. Nach einer Ausbildung zum Personalentwickler ist er heute für Qualifizierungsprojekte in der Voestalpine Steel Division tätig.
Inhalt 1
Das Unternehmen Voestalpine
89
2
Das LIFE-Programm der Voestalpine: Mitarbeiter schulen Mitarbeiter
90
3
Evaluation des LIFE-Programms
95
4
Fazit
97
1
Das Unternehmen Voestalpine
Die weltweit tätige Voestalpine Gruppe ist ein stahlbasierter Technologie- und Industriegüterkonzern mit Sitz in Österreich. Der Konzern ist mit seinen qualitativ höchstwertigen Produkten einer der führenden Partner der europäischen Automobil- und Hausgeräteindustrie sowie der Öl- und Gasindustrie weltweit. Mit rund 48.000 MitarbeiterInnen in vier Divisionen wurde 2013/14 ein Jahresumsatz von ca. 11 Mrd. Euro erzielt. Die rund 500 Produktions- und Vertriebsgesellschaften befinden sich in fast 50 Ländern auf allen Kontinenten. Dem Firmenslogan „einen Schritt voraus“ entsprechend werden in allen Teilbereichen Toppositionen erzielt. So ist die Voestalpine Weltmarktführer für Weichen und Werkzeugstahl, europäische Nummer 1 bei Schienen, veredeltem Draht, Sonder- und Spezialprofilen sowie europäischer Top-Player bei hoch qualitativem Stahlband und Grobblech. Ebenso wird eine Spitzenposition im europäischen Automobilzuliefer-Geschäft eingenommen. Der Voestalpine Konzern besteht aus vier Divisionen, die mit ihren Leistungen in folgender Grafik angeführt sind.
Voestalpine Konzern Führende Position in den Kernsegmenten
Steel
Special Steel
Metal Engineering
Metal Forming
Weltweite Qualitätsführerschaft
Weltweite Führerschaft
Weltweite Führerschaft
Weltweite Führerschaft
voestalpine AG |
Abb. 1.1
|
Die Voestalpine Divisionen, Quelle: Voestalpine AG
90
Wissensmanagement
2
Das LIFE-Programm der Voestalpine: Mitarbeiter schulen Mitarbeiter
Die diesem Buch zugrunde liegende demografische Problemstellung ist bei einem sehr wissensintensiven Erzeugungsprozess naheliegend. Die Voestalpine AG hat zu dieser Thematik bereits 2001 das so genannte LIFE-Programm gestartet, in dem sechs systemische Handlungsfelder definiert wurden, die unter anderem den Führungskräften eine Orientierung über die lebensphasenbezogene Mitarbeiterführung geben. In diese Betrachtungsweise fallen auch das lebensbegleitende Lernen und die Wissensweitergabe.
Die strategischen Handlungsfelder ganzheitlicher Ansatz von LIFE
Die richtigen Talente finden und diese nachhaltig begeistern.
Lebensbegleitendes Lernen fordern und fördern. Wissen weitergeben.
Gesundheits- und Sicherheitsbewusstsein fördern. Fürsorgepflicht des Unternehmens.
2
Die Zusammenarbeit der Geschlechter und Generationen fördern und ihr kreatives Potenzial sichern.
| voestalpine AG
Abb. 2.1
Strategische Handlungsfelder LIFE; Quelle: Voestalpine AG
Beruf und Familie besser vereinen. Belastungen aus Schichtarbeit reduzieren.
Arbeitsanforderungen und Arbeitsplätze an jeweiliges Alter anpassen. Stärken jeder Generation optimal unterstützen.
Voestalpine
91
Das im Folgenden angeführte Projekt „Mitarbeiter schulen Mitarbeiter“ wurde im Hochofenbereich in der Division Stahl durchgeführt, deren 9.000 MitarbeiterInnen zu zwei Drittel „blue-collared worker“ sind. Knapp 25% der MitarbeiterInnen in der Voestalpine Stahl GmbH sind über 51 Jahre alt. Im konkreten Teilbereich, dem Hochofen, arbeiten ca. 300 teilweise ungelernte Arbeiter, die laufend modifizierte und geänderte Anlagen bedienen müssen. Überdurchschnittlich viele Mitarbeiter scheiden altersbedingt aus, und aufgrund der neuen Technologien verschieben sich die Anforderungen zum Teil von körperlichen auf geistige Herausforderungen.
Altersstruktur Voestalpine Konzern GJ 2007/08 Altersstruktur voestalpine 2007/08 18,00% 16,00% 14,00% 12,00% 10,00%
Arbeiter Angestellte
8,00% 6,00% 4,00% 2,00%
60% der Mitarbeiter
0,00% bis 20
21-25
26-30
31-35
36-40
41-45
46-50
51-55
56-60
über 60
Lebensjahre
3
| voestalpine AG
Abb. 2.2
Altersverteilung Voestalpine Stahl GmbH; Quelle: Voestalpine AG
Die Erkenntnis, dass der Konzern in einigen Jahren zwar die technisch besten Anlagen zur Roheisenproduktion besitzen würde, aber niemanden hätte, der sie bedienen könnte, zwang Voestalpine zum Handeln. Es ist auch leicht nachzuvollziehen, dass fehlendes Knowhow in einem sehr technischen und prozessorientierten Produktionsbereich größere Auswirkungen und unmittelbarere Folgen hat als zum Beispiel in einem wirtschaftlichen Verwaltungsbereich. Fehlbedienungen können Arbeitsunfälle nach sich ziehen, die in Anbetracht der Herstellungsprozesse oft weitreichende Folgen haben.
92
Wissensmanagement
Als Beispiel für die Erhebung der erforderlichen Kenntnisse ist hier stellvertretend für die unterschiedlichen Job-Familien der „1. Ofenmann“ (aus der Bedienmannschaft des Hochofens) angeführt: Tab. 2.1
Anforderungsportfolio 1. Ofenmann; Quelle: Voestalpine AG
Fachlich
Persönlich, sozial
MUSS Prozess Detailkenntnisse Ofen Sicherheit Störfälle PC Gerätebedienung Eigenverantwortung Selbstständigkeit Steuerung Kostenbewusstsein
SOLL Prozess Detailkenntnisse
Eigenverantwortung Selbstständigkeit Wissensmanagement Teamfähigkeit Flexibilität
Für die Anforderungen in den Bereichen Prozesskenntnis, Detailkenntnisse Ofen und Umgang mit Störfällen fehlten 2004 noch die passenden Schulungen im Weiterbildungsangebot. Das notwendige Wissen wurde über klassisches Anlernen personenbezogen und unstrukturiert vermittelt. Lernen durch Beobachtung war der pragmatische Weg der Wissensaneignung. Darum wurde 2004 eine Projektgruppe aufgesetzt, die ein Konzept entwickelte, das eine tätigkeitsspezifische Ausbildung (je Prozessgruppe) sicherstellen sollte. Schon bald zeigte sich, dass hier externe Trainer nicht zum Zug kommen können, weil die fachliche Einschulung zu aufwändig wäre. Bei der Wissensweitergabe sind sowohl die fundierte Fachkenntnis als auch die didaktischen Fähigkeiten gefragt. Darum entschied sich die Projektgruppe, ein Train-the-Trainer-System aufzusetzen, das den MitarbeiterInnen ermöglichen sollte, ihr fundiertes Wissen an KollegInnen weiterzugeben. Dadurch wurde folgendes Szenario ermöglicht:
Voestalpine
93
Mitarbeiter schulen Mitarbeiter Tätigkeitsspezifische Ausbildung (je Prozessgruppe) MA 1
MA 2
MA 1 MA 1 MA 1 Schicht A
4
Teamkoordinator
MA 3
MA 4
MA 5
MA 1 MA 1 MA 1
MA 1 MA 1 MA 1
MA 1 MA 1 MA 1
Schicht B
Schicht C
Trainer
Themenbetroffene Mitarbeiter
Schicht D
| voestalpine AG
Abb. 2.3
Train-the-Trainer-Konzept; Quelle: Voestalpine AG
Ein Teamkoordinator hat eine Gruppe von MitarbeiterInnen, die eine Trainerqualifizierung durchlaufen und die er bei den Trainings entsprechend unterstützt. Dieses Maßnahmenbündel umfasst:
Train-the-Trainer-Ausbildung (2 Tage Ausbildung + 1 Tag Review),
Unterstützung durch professionelle Moderatoren für die Konzepterstellung, Präsentationen usw.,
Freistellung zur Erarbeitung der Schulungsunterlagen,
Zugriff auf alle zur Verfügung stehenden Ressourcen (EDV, Unterlagen, Fotos, Kamera, USB-Sticks usw.),
Personelle Unterstützung von jeglicher Seite (Meister, Vorarbeiter, Ingenieure usw.).
94
Wissensmanagement
Diese ausgebildeten TrainerInnen haben auch die Funktion von ThemenkoordinatorInnen, die für die Sammlung der funktionsbezogenen Lernfelder und die Ausarbeitung der Schulungsunterlagen sowie für die Planung, Organisation und Durchführung der Schulung zuständig sind. Die Inhalte werden bei Änderungen in den Anlagen, Arbeitsabläufen und Tätigkeiten unverzüglich aktualisiert. Auftretende Anlagenstörungen, bei denen nicht richtig gehandelt wurde, werden ebenso unmittelbar aufbereitet und als Thema in der funktionsbezogenen Schulung eingearbeitet. In die durch die von den TrainerInnen erstellten Schulungsunterlagen flossen Informationen der Führungskräfte, Meister, MitarbeiterInnen der Instandhaltung, Technik und Personalentwicklung mit ein. Ebenso wurden Informationen von externen Lieferunternehmen mit einbezogen. Das Ergebnis sind maßgeschneiderte Schulungsunterlagen mit technischen Daten, Anleitungen und Fotos der konkreten Anlagen:
Mitarbeiter schulen Mitarbeiter Beispiel Schulungsunterlage Dampfturbine
5
| voestalpine AG
Abb. 2.4
Schulungsunterlage Dampfturbine; Quelle: Voestalpine AG
Voestalpine
3
95
Evaluation des LIFE-Programms
Bei der Evaluierung wurden folgende Ergebnisse rückgemeldet:
Die MitarbeiterInnen, die als TrainerInnen fungierten, lernten selbst sehr viel dabei und wurden zu Experten.
Es gab eine Verbesserung des eigenen Fachwissens durch die Erstellung der Schulungsunterlagen (technisch, EDV-Kenntnisse etc.).
Die Zusammenarbeit auf den 4-Schicht-Gruppen wurde durch die schichtübergreifenden Schulungen erheblich verbessert.
Auf den verschiedenen Schichten führte das Programm zu einer Vereinheitlichung der Arbeitsweise.
Die MitarbeiterInnen sind sehr motiviert durch die neue Herausforderung, was auch ihr Selbstwertgefühl gesteigert hat.
Die Treffsicherheit der Maßnahmen ist sehr hoch. Die Schulungsthemen entsprechen zu 100% den Anforderungen der Tätigkeit.
Erfolgsrelevant bei diesem Projekt war das Zusammenspiel unter den KollegInnen im eigenen Bereich. Die fundierten Fachkenntnisse der erfahrenen MitarbeiterInnen wurden mit einer Schulung im Bereich Wissensvermittlung ergänzt und die noch nicht so erfahrenen KollegInnen waren durch die strukturierten Schulungen zum Wissenserwerb nicht mehr ausschließlich auf ihre eigenen Beobachtungen angewiesen. Es entstand daraus ein „Bildungskatalog Hochofen“ mit mehr als 60 neuen Bildungsveranstaltungen. Das Programm „Mitarbeiter schulen Mitarbeiter“ war die erste Initiative in diesem Bereich. Es folgten weitere Projekte (zum Beispiel Inbetriebnahme der Schubbeize), die von der Herangehensweise ähnlich waren, jedoch immer als neues Projekt aufgesetzt wurden. Aus diesem Grund etablierten sich auch unterschiedliche Bezeichnungen, zum Beispiel „Fit im Job“. Als wichtiger Erfolgsfaktor sei hier noch einmal die Einbeziehung des Expertenwissens aus den eigenen Reihen hervorgehoben, das durch die Erstellung und Erarbeitung von den MitarbeiterInnen im eigenen Bereich nachhaltig gesichert wurde. Durch die Betrachtung als eigenständige Projekte, die von den in den Bereichen zugehörigen Personen durchgeführt wurden, konnte das „Not-invented-here-Syndrom“ vermieden werden, das heißt die Akzeptanz gesteigert und eigene Ideen beziehungsweise Anforderungen eingebracht werden. So wurde das Konzept von „Mitarbeiter schulen Mitarbeiter“ in einem anderen Bereich mit Mentoring-Elementen erweitert.
96
Abb. 3.1
Wissensmanagement
„Fit für den Job“, Wandzeitung Nr. 25 der Voestalpine Stahl GmbH, 20.02.2006; Quelle: Voestalpine AG
Voestalpine
4
97
Fazit
Diese Form der Wissensvermittlung etablierte sich als selbstverständlicher Teil der täglichen Arbeit bei der Voestalpine, was zu weiteren Projekten von „Mitarbeiter schulen Mitarbeiter“ geführt hat, so zum Beispiel im Bereich der Kokerei. Dort übernahmen 2013 drei MitarbeiterInnen die Qualifizierung der KollegInnen. Sie wurden von ihrer früheren Tätigkeit – ohne Nachbesetzung – entbunden, erhielten eine Trainerausbildung, erstellten Schulungsunterlagen und schulten in einer einjährigen Probephase neue KollegInnen und die anzulernenden MitarbeiterInnen auf den einzelnen Schichten. Der Probelauf war ein voller Erfolg. Die Ausbildung läuft durch ihre Struktur und die Unterlagen schichtübergreifend einheitlich und garantiert so die hohe Qualität der Ausbildung. Auch der Bereich Instandhaltung bescheinigt den KollegInnen der Kokerei hervorragende Kenntnisse und reduzierte Ausfallzeiten. Aufgrund dieses Erfolgs hat die Voestalpine das Projekt auf unbestimmte Zeit verlängert. Dabei sind die drei internen TrainerInnen voll in das Störfall-Handling eingebunden und tragen somit dazu bei, besondere Fragestellungen und deren Lösung kurzfristig aus erster Hand auf sämtliche Schichten zur Verfügung zu stellen. Dieses Beispiel eines erfolgreichen Voestalpine „Mitarbeiter schulen Mitarbeiter“-Projekts wird 2014 auch in einer Masterarbeit an einer Fachhochschule bearbeitet.
Zur Theorie des Wissensmanagements im demografischen Wandel verweisen wir auf das Lehrbuch „Erfolgreiches Personalmanagement im demografischen Wandel“ von Dagmar Preißing (Hrsg.), 2. Auflage, das 2014 bei De Gruyter Oldenbourg erschienen ist, ISBN 9783-11-035124-8.
Strukturiertes Wissensmanagement bei DMT – Kontinuität im demografischen Wandel Roland Rehage Roland Rehage ist seit Jahren Personalentwickler bei der DMT GmbH & Co. KG, ein internationales, unabhängiges Ingenieurund Consultingunternehmen der TÜV Nord Group. Zuvor absolvierte er das Studium der angewandten Sozialwissenschaften, später folgte das Studium der Erziehungswissenschaften mit den Schwerpunkten Erwachsenenbildung und Weiterbildung. Roland Rehage war zunächst knapp zwei Jahre als Trainer und Consultant bei einer Unternehmensberatung tätig. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten bei DMT gehören die Führungskräfteentwicklung, die Nachwuchsförderung sowie das Wissens- und Kompetenzmanagement der Mitarbeiter.
Vorwort Vor dem Hintergrund der Auswirkungen des demografischen Wandels von Belegschaften ist ein systematischer und integrierter Wissensmanagement-Prozess von zentraler Bedeutung für die Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen. Der Nutzen eines erfolgreichen Wissensmanagements ist auf unterschiedlichen Ebenen nachweisbar, insbesondere zielt das Wissensmanagement darauf ab, die Umsatz- und Ergebnissicherung des Unternehmens beziehungsweise einzelner Bereiche langfristig zu gewährleisten. Darüber hinaus wird prozessimmanent auch eine interne Unternehmensentwicklung der Organisation in Richtung auf eine erhöhte Lern- und Innovationsfähigkeit bewirkt beziehungsweise die Organisation dahingehend optimiert. Wissensmanagement kennzeichnet verschiedene Handlungsfelder, wobei unter dem Stichwort Demografiewandel die Prozesse des Wissenstransfers und der Wissensbewahrung für die Überlebensfähigkeit eines Unternehmens die wohl höchsten Prioritäten erhalten. Ein systematischer und strukturierter Wissenstransfer-Prozess wird zukünftig eine der wesentlichen unternehmenskulturellen und führungsbezogenen Herausforderungen von Organisationen darstellen. Strategische Unternehmens- und Personalpolitik sollte die Vorteile des innerbetrieblichen Wissens- und Knowhow-Transfers als Wettbewerbsvorteil intern vermarkten und den betrieblichen Mehrwert – letztlich zum Nutzen der Kunden – herausstellen, um die oft geringe Akzeptanz der zeitaufwändigen Lern- und Veränderungsprozesse in der Belegschaft zu steigern. Zur Begriffsbestimmung sei angeführt, dass Wissen die Gesamtheit aller kognitiven organisierten Informationen und ihrer wechselseitigen Zusammenhänge darstellt, wobei Knowhow das Handlungswissen bezeichnet, also die Fähigkeit (Wissen wie?) über prozedurale Vorgänge und Lösungswege zu verfügen. Wissensmanagement ist dann ein Managementkonzept, mit dem relevantes Wissen und das Knowhow ganzheitlich, zielgerichtet und zukunftsorientiert als wertsteigernde Ressource gestaltet und im Unternehmen nutzbar gemacht wird. Da der Wissenstransfer-Prozess durch und von Menschen geleistet wird, erhalten – so zeigt es zumindest die betriebliche Praxis – primär die Akteure aus dem Human Resources Management (HRM) hier ein neues und zukunftsweisendes Handlungsfeld, welches zum Teil heute schon in Verbindung mit angrenzenden Dienstleistungen aus dem Bereich Human Resources (HR) verknüpft ist (zum Beispiel Nachfolgeplanung, Personalrisikomanagement etc.).
Inhalt 1
Einleitung
102
1.1
Vorstellung des Unternehmens ............................................................................... 102
1.2
Hintergrund und Problemstellung für ein strukturiertes Wissensmanagement bei DMT ................................................................................................................. 103
1.3
Ziele und Rahmenbedingungen eines Wissenstransfer-Prozesses bei DMT .......... 105
2
Der strukturierte Wissenstransfer-Prozess bei DMT: Ein Konzept für den systematischen Erhalt und die Weitergabe von Knowhow zwischen Generationen
106
2.1
Prozessschritte im Wissenstransfer-Prozess ........................................................... 106
2.2
Auswahl der Mitarbeiter für den Wissenstransfer .................................................. 107
2.3
Analyse transferrelevanter Schlüsselkompetenzen................................................. 108
2.4
Ansprache der Beteiligten (Wissensgeber, Wissensnehmer) ................................. 111
2.5
Planung des Wissenstransfers ................................................................................. 113
2.6
Durchführung des Wissenstransfers und Transfercontrolling ................................ 114
2.7
Erfolgskontrolle ...................................................................................................... 115
3
Fazit und Ausblick
116
1
Einleitung
1.1
Vorstellung des Unternehmens
Die demografische Entwicklung von Belegschaften wirkt sich als Alterung von KnowhowTrägern und zunehmend als Abwanderung von Knowhow über Verrentungen möglicherweise erfolgskritisch auf Unternehmen aus, so dass der Erhalt des Knowhows im Unternehmen und der Transfer relevanter Kompetenzen auf nachfolgende Mitarbeitergenerationen als die zukunftweisenden Herausforderungen identifiziert werden können. Die gleichen Ziele eines Wissensmanagements gelten ebenso für kurzfristig drohende „Wissensverluste“ aufgrund eines ungeplanten Ausscheidens von Mitarbeitern aus welchem Grund auch immer, die also nicht speziell demografisch geprägt sind. Aufgrund einer traditionsreichen und historischen Entwicklung des Unternehmens lassen sich diese Aufgabenstellungen eines systematischen Wissensmanagements auch für das Unternehmen DMT ableiten, wobei der zunehmende Fachkräftemangel insbesondere auf dem Ingenieurmarkt in der Region noch zusätzlich eine innerbetriebliche Belastung darstellt. Es gilt dabei zunächst, die entstehende Lücke des Personalabgangs zu schließen, also grundsätzlich geeignete neue „Wissensträger“ beziehungsweise „Wissensnehmer“ zu finden. Das Unternehmen DMT ist eher mittelständisch geprägt und zeichnet sich als ein hoch spezialisiertes Ingenieurdienstleistungsunternehmen aus, welches mit seinen sechs Geschäftsfeldern eine breite Spanne ingenieur- und naturwissenschaftlicher Dienstleistungen abbildet. Die DMT GmbH & Co. KG ist ein international tätiges, unabhängiges Ingenieur- und Consultingunternehmen mit Schwerpunkt auf den Gebieten Bergbau und Lagerstättenerkundung, Kokereitechnik, Bauwesen, Maschinen- und Anlagentechnik, Produkt- und Gebäudesicherheit sowie industrielle Prüf- und Messtechnik. Die Tätigkeiten sind vielfältiger Art und umfassen insbesondere Prüfung, Beratung, Begutachtung, Planung und Zertifizierung sowie Forschung und Entwicklung. DMT weist – aufgrund von verschiedenen Vorgängerorganisationen des deutschen Steinkohlenbergbaus – eine über 150-jährige Unternehmenshistorie auf und wurde in der heutigen Form 1990 gegründet. DMT ist ein Unternehmen der TÜV Nord Group und erwirtschaftete 2013 einen Umsatz von ca. 113 Mio. Euro, bei rund 570 Mitarbeitern.
DMT
1.2
103
Hintergrund und Problemstellung für ein strukturiertes Wissensmanagement bei DMT
DMT ist ein „wissensintensives“ Unternehmen. Etwa 70% der Beschäftigten sind Ingenieure, Naturwissenschaftler und hoch qualifizierte technische Fachkräfte (zum Beispiel Meister, Techniker). Die individuellen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kompetenzen der Mitarbeiter spielen für den Unternehmenserfolg und die Zukunft eines Dienstleistungsunternehmens eine zentrale Rolle. Knowhow-Vorteile sind Wettbewerbsvorteile: Der Geschäftserfolg der DMT beruht im Wesentlichen auf den Kompetenzen der Mitarbeiter, ihrem Wissen, und ihren Erfahrungen, wobei es insbesondere darauf ankommt, dieses explizite Wissen in der Organisation nachhaltig zu sichern und dauerhaft zu bewahren. Die Personalstruktur der Belegschaft ist von einigen Besonderheiten gekennzeichnet: Im Unternehmen existiert eine „Alterspyramide“ im Bereich der 47 bis 55 Jahre alten Mitarbeiter. Kennzeichnend für die Altersstruktur bei DMT ist eine hohe Betriebszugehörigkeit der Fach- und Führungskräfte, die in den letzten Jahren durchschnittlich bei ca. 18 Jahren lag. Das Durchschnittsalter eines Mitarbeiters bei DMT liegt bei ca. 45 Jahren, so dass sich aus diesen aktuellen personalwirtschaftlichen HR-Kennzahlen latent der Bedarf eines nachhaltigen Wissenstransfer-Prozesses ableiten lässt. Obwohl die Fluktuationsrate gering (unter 3%) und auch der durchschnittliche Krankenstand als eher unkritisch zu bezeichnen sind, stellen das extrem hohe Expertenwissen sowie weitergehend die zum Teil mehrfach vorhandenen Alleinstellungsmerkmale von „Schlüsselkräften“ ein potenzielles Risiko dar, welches zwar heute noch nicht „drückt“, aber welches als Verlust von „Erfahrungswissen“ bereits heute schon spürbar ist. Das Ausscheiden von Fach- und Führungskräften aus dem Unternehmen – sei es altersbedingt planbar oder durch zum Beispiel Eigenkündigung unplanbar – stellt bei DMT eine erhebliche Herausforderung dar. Mit ausscheidenden Mitarbeitern verlässt sehr oft wertvolles Wissen unwiederbringlich das Unternehmen. Ein unkoordinierter Wissensverlust hat Auswirkungen auf Innovation, Produktivität und damit letztlich auf das Unternehmensergebnis. Es besteht die Gefahr, dass aufgrund des Personalwechsels ein Projekt oder ein Auftrag nicht wie geplant von dem Nachfolger (sofern überhaupt vorhanden) abgewickelt werden kann. Des Weiteren kann es im Einzelfall dazu führen, dass manche hoch spezialisierte Dienstleistung den Kunden in Zukunft nicht mehr angeboten werden kann. Bei DMT war, insbesondere aufgrund von altersbedingten Austrittsfällen, der Anspruch ein Wissensmanagement-Prozess zu implementieren aber noch ein anderer. Nicht selten wird insbesondere das Ausscheiden aus dem Unternehmen nach 20, 30 oder gar mehr Berufsjahren als „massiver Bruch“ empfunden: Für Führungskräfte, die einen kompetenten und wichtigen „Knowhow-Träger“ verlieren, und für den ausscheidenden Mitarbeiter, der seine Berufslaufbahn abschließt und gegebenenfalls sein „Lebenswerk“ an nachrückende (junge) Mitarbeiter übergibt. Mitarbeiter, die aus dem Unternehmen ausscheiden, hinterlassen im Team nicht nur auf zwischenmenschlicher Ebene, sondern insbesondere fachlich durch ein teilweise erfolgskriti-
104
Wissensmanagement
sches „Monopolwissen“ eine große Lücke, oft mit nachhaltigen Auswirkungen. Diese Lücke kann oft nur mühsam geschlossen werden und fängt schon damit an, einen (fachlich) geeigneten Nachfolger und neuen „Wissensträger“ zu finden. Um diese schwierige Situation zu meistern, ist bei DMT ein Projekt aufgelegt worden, mit dem dieser demografiebedingte Wandel gestaltet werden kann. Dabei ist die Grundidee des Konzeptes die, dass ältere ausscheidende Mitarbeiter ihr Knowhow systematisch und strukturiert in die Hände von jüngeren nachrückenden Mitarbeitern weitergeben sollen. In der Vergangenheit erfolgte bei Ausscheiden eines Mitarbeiters der Transfer des Wissens eher unregelmäßig, spontan und unkontrolliert. Ob eine Wissensübertragung auf neue oder vorhandene Kollegen stattfand, war stark von den handelnden Personen, insbesondere dem Vorgesetzten, abhängig, zumal es bis dato keinen definierten Prozess im Unternehmen gab. Schwierige oder konfliktgeladene Fälle blieben außen vor, so dass im schlimmsten Fall überhaupt kein Wissenstransfer stattfand. Somit stellte der Weggang von Wissensträgern zunehmend ein unkalkulierbares (Umsatz-) Risiko für einzelne operative Geschäftsbereiche beziehungsweise für das Unternehmen DMT insgesamt dar. Darüber hinaus wurde eine systematische fachliche Übergabe oder die Einarbeitung des neuen Mitarbeiters oft nur auf Anstoß durch die Führungskraft oder den Personalbereich und fast ausschließlich ohne Methodenkompetenz der Beteiligten durchgeführt. Vor diesem Hintergrund ist auf Veranlassung von einzelnen Führungskräften und aufgrund der Initiative des HR-Bereiches im Rahmen eines innerbetrieblichen Risikomanagements ein so genannter Wissenstransfer-Prozess aufgesetzt worden, der dann zur Anwendung kommt, wenn ein „Schlüsselmitarbeiter“, das heißt eine Fach- oder Führungskraft mit fest definierten Alleinstellungskompetenzen, als solcher identifiziert wird und ein Ausscheiden aus dem Unternehmen DMT absehbar ist. In der Phase der Planung und ersten Projektorganisation und -durchführung waren, neben den Vertretern aus dem HR-Bereich (Projektleitung) und der Arbeitnehmervertretung, insbesondere operative Mitarbeiter und Führungskräfte der verschiedenen Ebenen eingebunden. Der Zeitraum von der Projektinitiierung bis zur Implementierung des Prozesses einschließlich einer Pilotphase dauerte ca. 1,5 Jahre. Das Projekt wurde auch unter Beteiligung eines externen Kooperationspartners durchgeführt. Insbesondere wurden die prozessunterstützenden Instrumente, wie Checklisten oder Formulare, für einen systematischen und strukturierten Wissenstransfer-Prozess gemeinsam mit dem externen Projektpartner entwickelt und implementiert. Fragestellungen, die sich mit der Implementierung des Prozesses und im Projekt ergaben, waren unter anderem folgende:
Nach welcher Methodik soll vorgegangen werden?
Wie wird der Prozess bei DMT verankert?
Wie wird Akzeptanz erzeugt und ein „Mehrwert“ für das Unternehmen geschaffen?
Antworten hierauf finden sich in der Darstellung der Prozessphasen und der wesentlichen Erfolgsfaktoren des Prozesses im zweiten Kapitel.
DMT
1.3
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Ziele und Rahmenbedingungen eines Wissenstransfer-Prozesses bei DMT
Das Ziel des Wissenstransfer-Prozesses ist die Weitergabe besonders wichtiger Kompetenzen, Wissensbestände und Erfahrungen von ausscheidenden „Wissensgebern“ zu nachrückenden „Wissensnehmern“. Damit ist nicht zuletzt auch das betriebswirtschaftliche Ziel verbunden, potenzielle Umsatz- und Ergebnisrisiken weitestgehend zu vermeiden beziehungsweise zu reduzieren. Im Wesentlichen sollen die Führungskräfte Hilfestellungen bei der Bewältigung der Schwierigkeiten eines Knowhow-Transfers erhalten und durch einen klar strukturierten, effizienten Prozess, einschließlich beigestellter Checklisten und Formulare, unterstützt werden. In diesem Sinne wurde das Projekt mit dem Ziel aufgelegt, die relevanten Prozessschritte, Instrumente und Monitoringkriterien zu entwickeln, so dass ein Transfer kontrolliert, gleichmäßig und geplant durchgeführt werden kann. Letztlich soll dadurch der Erhalt des Wissens kalkulierbar werden. Die Führungskraft des ausscheidenden Mitarbeiters ist dabei in erster Linie „Prozessowner“ und für die Durchführung des jeweiligen Transferprozesses, also für die Erhaltung der Kompetenzen im Bereich verantwortlich. Der Wissenstransfer-Prozess durchläuft unterschiedliche Phasen:
Auswahl der Mitarbeiter für Wissenstransfer,
Analyse transferrelevanter Schlüsselkompetenzen,
Ansprache der Beteiligten (Wissensgeber, Wissensnehmer) und ihre Gewinnung für den Prozess,
Planung des Wissenstransfers,
Durchführung des Wissenstransfers,
Transfercontrolling und Erfolgskontrolle.
Die Führungskräfte werden in den erfolgskritischen Phasen, zum Beispiel bei der „Analyse transferrelevanter Schlüsselkompetenzen“ oder der „Ansprache der Beteiligten (Wissensgeber, Wissensnehmer)“, nach Bedarf von dem Personalbereich (HR) unterstützt. Die Abteilung HR kann auf Anfrage die Analyse der Kompetenzen des ausscheidenden Mitarbeiters vornehmen, kann den Transferprozess – anstelle der Führungskraft – gemeinsam mit dem Wissensgeber inhaltlich, methodisch-didaktisch und zeitlich organisieren und die Durchführung punktuell und fakultativ unterstützen. Fachlich-inhaltlich und disziplinarisch bleibt der Wissenstransfer-Prozess vollständig verantwortlich in den Händen der Führungskräfte. HR ist primär als „Prozesstreiber“ aktiv und hält die Durchführung der einzelnen Transferprozesse nach beziehungsweise evaluiert deren Qualität. Insbesondere in den auf Wissensgeberseite „kritischen“ Transferprozessen wurde HR – so zeigte sich – als Unterstüt-
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Wissensmanagement
zer und Moderator von den Führungskräften angefordert und eingebunden. Auch bei der laufenden Durchführung des Prozesses wurde HR um Begleitung gebeten. Um den innerbetrieblichen Stellenwert, die strategische Bedeutung und die Sensibilität einer nachhaltigen „Wissensbewahrung/-sicherung“ im Unternehmen zu fördern, empfiehlt es sich, ein derartiges HR-Projekt oder den Prozess im Rahmen einer übergreifenden HR-Strategie zu verankern. Auch sollte die Anknüpfung an weitere HR-Managementprozesse, zum Beispiel Talent Management, hergestellt werden.
2
Der strukturierte Wissenstransfer-Prozess bei DMT: Ein Konzept für den systematischen Erhalt und die Weitergabe von Knowhow zwischen Generationen
2.1
Prozessschritte im Wissenstransfer-Prozess
In dem Projekt wurde eine detaillierte Beschreibung des Wissenstransfer-Prozesses, eine grafische Prozessdarstellung, eine Sammlung mit Informationsmaterial und Formularen zur Begleitung und Dokumentation des Prozesses erarbeitet, die exemplarisch im Folgenden dargestellt sind. Der Wissenstransfer-Prozess bei DMT gliedert sich in sechs Schritte: 1.
Auswahl der Mitarbeiter für den Wissenstransfer,
2.
Analyse transferrelevanter Schlüsselkompetenzen,
3.
Ansprache der Beteiligten (Wissensgeber, Wissensnehmer) und ihre Gewinnung für den Prozess,
4.
Planung des Wissenstransfers,
DMT
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5.
Durchführung des Wissenstransfers,
6.
Transfercontrolling und Erfolgskontrolle.
1. Auswahl der Mitarbeiter für den Wissenstransfer
2. Analyse transferrelevanter Schlüsselkompetenzen
3. Ansprache der Beteiligten
4. Planung des Transfers
5. Durchführung des Wissenstransfers
6. Erfolgskontrolle
Transfercontrolling
Abb. 2.1
2.2
Wissenstransfer-Prozess bei DMT; Quelle: DMT
Auswahl der Mitarbeiter für den Wissenstransfer
In einem ersten Schritt werden diejenigen Mitarbeiter identifiziert, die als Wissensgeber und Wissensnehmer an dem Wissenstransfer-Prozess teilnehmen sollen. Für die weitere hier folgende Darstellung der Prozessschritte wird der Fall eines altersbedingten Ausscheidens wegen bevorstehendem Ruhestand angenommen. Grundsätzlich sind die Prozessschritte aber ähnlich bei unterschiedlichen Austrittsgründen anwendbar und fallbezogen zu adaptieren. Die Abteilung HR bei DMT analysiert mindestens einmal jährlich die Altersentwicklung der Belegschaft und den Stand der altersbedingten Fluktuation beziehungsweise Nachfolgeplanung. Weiterhin werden im Rahmen des HR-Risikomanagements zusätzlich „Schlüsselkräfte“ in der Mitarbeiterschaft identifiziert und anhand von Risikokriterien, zum Beispiel Ausfallrisiko Umsatz und andere, bewertet. Diese Informationen erhalten zeitnah durch HR die jeweiligen operativ verantwortlichen Geschäftsbereichsleiter beziehungsweise die zuständige direkte Führungskraft (Abteilungsleiter) als Entscheidungsgrundlage für einen Wissenstransfer-Prozess. Die Führungskraft entscheidet in der Regel nach Abstimmung mit HR, ob ein Wissenstransfer-Prozess eingeleitet wird. Der zeitliche Vorlauf dieser Information liegt bei einem Ausscheiden aus Altersgründen in der Regel bei ca. zwei Jahren, bei einer arbeitnehmerseitigen Kündigung erfolgen die Informationen umgehend. Die Führungskraft prüft nun, ob das (Fach-) Wissen des ausscheidenden Mitarbeiters transferiert werden soll oder nicht, weil es zum Beispiel auch anderen Mitarbeitern zur Verfügung steht. In dem Projekt sind nachstehend aufgeführte Leitfragen zur Entscheidungshilfe für die Führungskräfte entwickelt worden. Die Führungskraft informiert HR anschließend darüber, ob ein Transfer stattfinden soll.
108 Tab. 2.1
Wissensmanagement Leitfragen für Führungskräfte; Quelle: DMT
Knowhow
Bedeutsam Um welches für den Knowhow Transfer? handelt es sich genau?
Besondere Zusatzqualifikationen (zum Beispiel Fachkraft für Arbeitssicherheit, Gefahrgutbeauftragter, Anerkennung als Sachverständiger für XY...) Besondere EDV-Kenntnisse (Betriebssysteme, Datenbankkenntnisse, Programmierkenntnisse...) Besondere Fähigkeiten aus dem Arbeits- und Tätigkeitsschwerpunkt (zum Beispiel Planen, Messen von Gasen, Prüfen von Maschinen, Begutachten, Konstruieren von Teilen, Abrechnung von Aufträgen…) Besonderes berufliches Fachwissen (zum Beispiel Kenntnisse von Rechtstexten, Richtlinien, Normen, Expertise in besonderen Sach- und Fachgebieten/-themen...) Besonders wichtige Kontakte (zum Beispiel zu Kunden, Behörden, zur Öffentlichkeit, zu den Lieferanten...) Wichtige Mitgliedschaften (zum Beispiel Berufsverbände, Gremien zur Normierung, Ausschüsse...) Besonders herausragende Projekterfahrung (zum Beispiel F & E-Projekte, Multi- oder Großprojektmanagement, Vertriebsprojekte, IT-Projekte) Besondere persönliche Fähigkeiten, Eigenschaften etc. (zum Beispiel beim Organisieren, Präsentieren, im Umgang mit Kunden, bei Anbahnung von Geschäftskontakten…)
2.3
Analyse transferrelevanter Schlüsselkompetenzen
In diesem zweiten Schritt wird detailliert herausgearbeitet, welche Kompetenzen des ausscheidenden Mitarbeiters mit welchem Ergebnis transferiert werden sollen. Zusätzlich wird die Ansprache und – bei „kritischen“ oder „schwierigen“ Mitarbeitern – die Gewinnung des Wissensgebers für einen Wissenstransfer vorbereitet.
DMT
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Nach der grundsätzlichen Prüfung und Entscheidung aus dem ersten Schritt werden nun die Kompetenzen des Wissensgebers analysiert, die weitergegeben werden sollen. Die Durchführung dieses Schrittes erfolgt optional in zwei alternativen Vorgehensweisen: 1.
Sie erfolgt in einer selbstständigen Reflexion der Führungskraft. Sie wird in einem Formular dokumentiert und HR in Kopie zur Verfügung gestellt.
2.
In einem leitfadengestützten Interview durch HR werden die Kompetenzen gemeinsam mit dem Vorgesetzten analysiert und dokumentiert und zur Vorbereitung der Ansprache des Wissensgebers der Führungskraft zur Verfügung gestellt.
Die Alternative 2 ist besonders – so hat es die Erfahrung in den durchgeführten Prozessen gezeigt – bei den „kritischen Wissensgeberfällen“ zu empfehlen, da es im Dialog mit den „neutralen“ HR-Akteuren sehr viel leichter fällt, das angestrebte Tiefenniveau der zu transferierenden Kompetenzen mit der Führungskraft festzulegen. Wichtig ist hierbei, die entscheidenden Kompetenzen herauszufiltern und daraufhin zu überprüfen, ob sie mit Aussicht auf Erfolg auch transferiert werden können. Mit anderen Worten: In diesem Analyseschritt liegt aus methodischer Sicht einer der erfolgskritischen Aspekte des jeweiligen Wissenstransfer-Prozesses, der eine Zusammenarbeit mit HR empfiehlt. Nicht zuletzt erspart sich die Führungskraft die Aufbereitung der Kompetenzanalyse und deren Dokumentation, wenn HR bereits die Analyse übernimmt. Dieser Arbeitsschritt wird durch ein so genanntes Formular „Analyse transferrelevanter Schlüsselkompetenzen“ unterstützt. Hier werden sowohl die zu transferierenden Kompetenzen festgehalten als auch die wohl erfolgreichste Anspracheform für den Wissensgeber gemeinsam mit dem Vorgesetzten ausgewählt (zur Anspracheform siehe unten). Die Kompetenzen sollen so weit wie möglich detailliert beschrieben und operationalisiert sein, dass sie sehr „greifbar“ und damit vermittelbar werden. Es sollte erkennbar sein, woran der Erfolg des Transfers der Kompetenz nachher feststellbar ist. Die Anspracheform soll sich an der Persönlichkeit des wissensgebenden Mitarbeiters orientieren. Auch in diesem Punkt kann HR beratend unterstützen. Der HR-Leitfaden für das Interview mit der Führungskraft und die Reflektion dient drei Zielen: 1.
Wesentliches Ziel ist die Herausarbeitung relevanter Kompetenzen, Wissensbestände und Erfahrungen. Welche Kompetenzen sind es genau gewesen, die den ausscheidenden Mitarbeiter unabdingbar gemacht haben? Mit welchen Leistungen ist dies verbunden? In welchen Situationen zeigte sich dies?
2.
Die zum Transfer anstehenden relevanten fachlichen und überfachlichen Kompetenzen werden zudem in eine Rangfolge gebracht.
3.
Darüber hinaus wird erarbeitet, welchen Rahmenbedingungen und Argumenten gegenüber der Wissensgeber (aber auch Wissensnehmer!) offen ist, um sich am Transferprozess verbindlich zu beteiligen.
110
Wissensmanagement
Der Leitfaden stellt mögliche Eckpunkte eines Gesprächs dar, keinesfalls jedoch eine abschließende Sammlung von Fragen. Wichtig ist das Ergebnis, das sich durch diese und andere Fragen erzielen lässt. Das Gespräch, so war die Erfahrung, hat sich von zunächst allgemeinen Beschreibungen immer weiter zu detaillierten Bewertungen und relevanten Kriterien bewegt. Deshalb wurden dieselben Fragen mehrfach behandelt, bis das gewünschte „Tiefenniveau“ der zu transferierenden Kompetenzen erreicht wurde. Beispiel: Ein ausscheidender Mitarbeiter verfügt über ein großes Netzwerk an beruflichen Kontakten. Mithilfe dieses Netzwerks findet er schnell die richtigen fachlichen Ansprechpartner. Dieses ist sein besonderes Knowhow. Im ersten Zugriff wird die Idee entstehen, das Netzwerk beziehungsweise die Kontakte weiterzugeben. Bei weiterer Analyse wird aber deutlich, dass das Netzwerk erst das Ergebnis der Anwendung einer Kompetenz ist: dem Aufbau von Geschäftskontakten und Netzwerken. Diese wiederum findet auf unterschiedlichen Ebenen mit unterschiedlichen Wertigkeiten statt:
Netzwerkarbeit kann zum Beispiel auf Ebene von Berufs- und Fachverbänden stattfinden,
auf Ebene der „Scientific community“ (zum Beispiel Erfahrungsaustausch-Kreise),
auf Ebene von öffentlichen Verwaltungen wie Behörden etc.
Hier kann wieder unterschieden werden, welche persönlichen Fähigkeiten und Kompetenzen genau (zum Beispiel Kommunikationsfähigkeit, Beziehungsaufbau) von besonderer Bedeutung sind. Jetzt kann überlegt werden, welche Anstrengungen (daraus ableitend Maßnahmen) für den Wissensnehmer nötig sind, um sich diese Kompetenz durch Anleitung des Gebers anzueignen. Das Ergebnis eines handhabbaren Transferniveaus ist erreicht, wenn:
Situationen/Aufgaben herausgearbeitet wurden, in denen der ausscheidende Mitarbeiter besonders unabdingbar war, zum Beispiel besonders gut „performt“ hat (genau beschreiben, worin die „Performance“, also die herausragende Leistung und die Schwierigkeit der Situation/Aufgabe begründet war),
hieraus besonders relevante Kompetenzen (dies sollten nicht mehr als fünf sein) abgeleitet und auf relevante Teilaspekte/Teilkompetenzen heruntergebrochen worden sind (genau überlegen, welche Handlungen/Erfahrungen/Kompetenzen zur Performance beitragen),
deutlich wurde, wie die Kompetenzen angeeignet wurden (Situationen, Aufgaben, Umstände, Personen usw., in und von denen das „Wie?“ gelernt wurde),
deutlich wird, wie sich ein Erfolg des Transfers der Kompetenzen feststellen lässt (Parameter aufstellen, anhand derer sich der Erfolg eines Wissenstransfers bemerkbar macht beziehungsweise beobachten lässt).
Es hat sich gezeigt, dass es im Zweifel besser ist, Kompetenzen exakt herunterzubrechen als in den Anforderungen vage zu bleiben. Eine zu vage Bestimmung führt zu einer zu „diffusen“ Aufgabe, die möglicherweise im Rahmen des Transferprozesses vom Wissensnehmer
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nicht gelöst werden kann. Das heißt hier besteht eine Gefahr, den Wissensnehmer zu überfordern und den Prozess im Ergebnis scheitern zu lassen. Also: Besser genauer analysieren und möglicherweise mehr Zeit investieren, als zu früh aufzuhören und das gesamte Ergebnis zu gefährden. Einige ausgewählte Fragen aus dem Leitfaden sind beispielhaft nachfolgend dargestellt:
In welchen Situationen hat sich der ausscheidende Mitarbeiter besonders unabdingbar gemacht?
Was hat die Situation/Aufgabe so schwierig gemacht? Was hat sie von anderen unterschieden? Woran sind oder könnten andere, insbesondere der Wissensnehmer, scheitern?
Welche Aufgaben/Teilaufgaben hatte er hierbei zu erledigen?
Wie ist er diese Aufgaben angegangen (zeitlich, inhaltlich...)?
Was hat ihn hierbei so unabdingbar gemacht?
Worin lag die besondere Bedeutung dieser Erfahrung? Wie hat sie sich geäußert?
Welche Kompetenzen liegen hinter dieser Erfahrung/Leistung?
Hilfsweise zur Verdeutlichung: Warum konnten andere Mitarbeiter diese Aufgabe nicht so gut erfüllen, was fehlt ihnen konkret?
Wie hat sich der Mitarbeiter diese unabdingbaren Kompetenzen angeeignet?
2.4
Ansprache der Beteiligten (Wissensgeber, Wissensnehmer)
Sind die transferrelevanten Schlüsselkompetenzen definiert, erfolgt die Ansprache des Wissensgebers und im zweiten Schritt auch des Wissensnehmers. Ziel ist das „Commitment“ beider Parteien, am Wissenstransfer-Prozess teilzunehmen, insbesondere vom Wissensgeber. Im Grunde geht es um die Beantwortung folgender Frage: „Mit welchen Argumenten kann der ausscheidende Mitarbeiter (Wissensgeber) für einen Wissenstransfer-Prozess gewonnen werden?“ Die Klärung dieser Frage soll der Führungskraft helfen, die richtigen Worte bei der Ansprache ihres ausscheidenden Mitarbeiters zu finden und ihn für den Wissenstransfer-Prozess zu gewinnen. Bezüglich der Kommunikationsstrategie gibt es unterschiedliche Arten, wie der Wissensgeber angesprochen und zu einer Mitarbeit im Rahmen des Transferprozesses motiviert werden kann: Neben der eher moralischen beziehungsweise verpflichtenden Ansprache kann auch ein stark „emotionaler“ Bezug, zum Beispiel „Stolz auf die eigene berufliche Lebensleistung“ erzeugt werden.
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Wissensmanagement
Die Letztere ist als häufigste Anspracheform gewählt worden und ist besonders bei kritischen oder schwierigen Mitarbeitern zu empfehlen. Um die optimale Ansprache des Wissensgebers zu finden, ist es ganz wichtig, sich in die Lage des Mitarbeiters zu versetzen und zu versuchen, dessen Motivlage und Befindlichkeiten, gegebenenfalls in der Vergangenheit liegend, zu ergründen. Welche Form der Ansprache wird ihn besonders motivieren, welche wird ihn möglicherweise gar nicht erreichen oder gar verärgern? Gewählt werden sollte die für ihn passendste Ansprache. Die Führungskraft verdeutlicht in einem persönlichen Gespräch dem Wissensgeber, dass der Mitarbeiter zu Recht stolz ist auf seine in der Vergangenheit erbrachten Leistungen. Wenn das dem Mitarbeiter bewusst ist und das Unternehmen es ihm in der Vergangenheit auch so kommuniziert hat, wird die Nachfrage nach seiner Transferbereitschaft ihm dies noch einmal deutlich machen. Der Transfer gibt ihm noch einmal die Gelegenheit, sich des großen Danks des Unternehmens zu vergewissern. Wenn sich aber ein Mitarbeiter eher unter „Wert verkauft“ fühlt, macht ihm die Nachfrage nach seiner Transferbereitschaft schnell deutlich, dass er damit Recht hatte. Erst wenn er geht, wird es „denen da oben“ klar, was er dem Unternehmen bedeutete. In diesem Fall ist ein teilweises Eingeständnis dieses „Fehlers“ durch die Führungskraft oder HR mit Hinweis auf das nun neue Verfahren (Wissenstransfer-Prozess) unabdingbar, zum Beispiel „Das Unternehmen hat verstanden, dass es nötig ist, sich regelmäßig zu vergewissern, was man an den Mitarbeitern hat“. Der Transfer bietet dem Mitarbeiter die „Größe“ sich gegenüber dem „bittenden“ Unternehmen als „gnädig“ zu erweisen. Damit steigt er möglicherweise doch noch mit „Stolz und Würde“ aus dem Unternehmen aus. Eher selten, aber durchaus in der Praxis vorkommend, sind Mitarbeiter mit einer inneren „Blockade- oder Verweigerungshaltung“, die möglicherweise aus „verletztem Stolz“ dem Unternehmen „eins auswischen“ wollen. Der appellative Hinweis an ihn: „Sie entscheiden jetzt selbst, wie man später von Ihnen denkt, wie man Sie in Erinnerung behalten wird“ kann ein möglicher Impuls sein. Der Transfer bietet dem Mitarbeiter letztmalig die Chance, sein Knowhow exklusiv und zum Nutzen weniger weiterzugeben. Nur im Einzelfall kommt es auch zum Abbruch der Einleitung eines systematischen und strukturierten Transferprozesses. Hier müssen dann individuelle Ad-hoc-Lösungen einer Knowhow-Sicherung, unter Moderation von HR, gefunden werden. Die Ansprache und Gewinnung der Wissensgeber findet im Allgemeinen durch die direkte Führungskraft statt. In Ausnahmefällen kann und sollte sie aus Gründen der Symbolkraft und Wirkung durch hierarchisch höhere Führungskräfte und/oder in Zusammenarbeit mit HR erfolgen. Angestrebtes Ergebnis dieser Ansprache ist das mündliche Einverständnis, eine verbindliche Transferpartnerschaft auf Zeit einzugehen. Analog zu diesem Schritt wird parallel dazu der Wissensnehmer in der Regel durch die Führungskraft über den anstehenden Prozess informiert. HR, sofern nicht aktiv beteiligt, wird durch die Führungskraft über das Ergebnis der Gespräche informiert.
DMT
2.5
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Planung des Wissenstransfers
Sind die beteiligten Wissensgeber und -nehmer angesprochen und bereit, einen Wissenstransfer durchzuführen, beginnt nun die inhaltliche, methodisch-didaktische Planung und Organisation des Wissenstransfer-Prozesses. Diese erfolgt wiederum optional in zwei alternativen Vorgehensweisen: 1.
Sie erfolgt in Sitzungen/Workshops, die von der Führungskraft geleitet werden. Teilnehmer sind, neben der Führungskraft, Wissensgeber und Wissensnehmer.
2.
Sie erfolgt in einer oder mehreren Arbeitssitzungen von Wissensgeber und HR, gefolgt durch Abstimmungsgespräche mit den übrigen Beteiligten.
Die letztere Alternative ist zu empfehlen, wenn das Verhältnis zwischen Wissensgeber und Führungskraft eher als „konfliktgeladen“ oder mit „atmosphärisch gestört“ zu bezeichnen ist. Da HR mittlerweile über Spezialwissen hinsichtlich der Methodisierung/Didaktisierung von Wissenstransfer-Prozessen verfügt, kann dieser Prozessschritt dadurch effektiver und effizienter gestaltet werden. Oft ist das methodische Knowhow bei den Beteiligten nur in den seltensten Fällen vorhanden, so dass die inhaltliche Planung nur mit beträchtlichem Aufwand und unsicherem Ergebnis eingebracht werden kann. Mit anderen Worten: In diesem Schritt liegt aus methodischer Sicht der zweite erfolgskritische Aspekt des jeweiligen Wissenstransfer-Prozesses, der eine Zusammenarbeit mit HR empfiehlt. In diesem Prozessschritt sollten jeweils folgende Aufgaben erledigt werden:
Auf Grundlage der Kompetenzanalyse werden die relevanten Kompetenzen für den Transfer inhaltlich aufbereitet.
Anschließend erfolgt die methodisch-didaktische Aufbereitung. Es werden unterschiedliche Maßnahmen und Lern- beziehungsweise Anwendungssituationen erarbeitet (zum Beispiel Übungen oder Analyseaufgaben, Fallbeispiele, gemeinsame Kunden- und Projekttermine etc.), die die Aneignung des relevanten Wissens unterstützen.
Das angestrebte Transferergebnis wird maßnahmenbezogen festgelegt (Wann ist die Maßnahme erfolgreich?). Darüber hinaus werden maßnahmenbezogene Erfolgsparameter definiert (Wie wird der Erfolg messbar nachgehalten?) und es wird erörtert, bei welchen Maßnahmen und in welchem Umfang gegebenenfalls eine Moderation im Rahmen der Durchführung des Transferprozesses, punktuell durch HR sinnvoll unterstützen kann. Die Bereitstellung der Maßnahmenunterlagen zur Durchführung des Transfers erfolgt durch den Wissensgeber, gegebenenfalls optional angeleitet und unterstützt durch HR. Analog zur Festlegung von Maßnahmen wird das Zeitgerüst vorgeschlagen. Der Zeitpunkt für das geplante Ende des Transferprozesses sollte mindestens vier Wochen vor dem tatsächlichen Austrittsdatum des Wissensgebers liegen. Der Transferprozess selbst dauert ca. sechs bis zwölf Monate. Die Ergebnisse dieser Phase werden im so genannten Formular „Transferplan“ festgehalten. Wissensgeber, Wissensnehmer und Führungskraft verabschieden diesen Plan und dokumen-
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Wissensmanagement
tieren dies mit Ihrer Unterschrift. Der Transferplan geht als Kopie wiederum an HR, um später ein Transfercontrolling und die Erfolgskontrolle durchführen zu können. Wenn Wissensgeber und Wissensnehmer sich problemlos auf den Wissenstransfer-Prozess verständigt haben und die Ansprache erfolgreich war, hat sich in der Praxis gezeigt, dass eine Unterstützung durch HR nicht zwingend benötigt wurde. Vor allem war in den meisten durchgeführten Transferprozessen der Aufwand der Dokumentation nicht so hoch, wie zunächst vorgesehen. Aufgrund der formalen Vorgaben der Aufbereitung und der notwendigen „Didaktisierung“ wurde dieser Prozessschritt oftmals „praxisgerechter“ und pragmatischer gestaltet, also weniger formal von allen Beteiligten gelebt. Für die Projektverantwortlichen galt es daher, den Prozess in dieser Phase zu optimieren und einem Review mit ausgewählten Prozessbeteiligten zu unterziehen.
2.6
Durchführung des Wissenstransfers und Transfercontrolling
Nach Abschluss der detaillierten Planung und Verabschiedung des Transferplans erfolgt nun der eigentliche Prozess der Durchführung des Wissenstransfers. Die Kernfrage lautet hier: Wie wird sichergestellt, dass gelernt wird und wie wird der Lernprozess im Arbeitsalltag aufrechterhalten und gelebt? Wichtigste Punkte sind somit die Umsetzung der Vereinbarungen aus dem Transferplan, die Dokumentation der abgearbeiteten Lern- und Transferziele beziehungsweise der erreichten Lernerfolge sowie die laufende bedarfsgerechte „Feinjustierung“ des Prozesses unter den Beteiligten. Die Dokumentationsaufgabe wird im Transferprozess vorwiegend durch den Wissensnehmer erledigt. Er ist insbesondere auch dafür verantwortlich, dem Wissensgeber Rückmeldungen zu geben, wenn er sich mit dem neuen Wissen oder bei der Aneignung der neuen Kompetenz noch nicht sicher fühlt. Dann ist der Wissensnehmer angehalten, darauf hinzuwirken, dass ihm weitere Lernmöglichkeiten eingeräumt werden. Das Transfercontrolling erfolgt regelmäßig parallel zur Durchführung des Wissenstransfers. Durch permanentes Nachhalten der Vereinbarungen des Transferplans durch die Führungskraft oder HR erfolgt begleitend ein Transfercontrolling, analog zum vereinbarten Maßnahmen- und Zeitplan, der im Transferplan festgehalten worden ist. In den Fällen, in denen eine Moderation durch HR fakultativ vorgesehen ist, obliegt es Wissensgeber und Wissensnehmer, im Laufe des Prozesses sukzessive darüber selbstverantwortlich zu entscheiden, ob sie von dem Angebot einer Moderation Gebrauch machen wollen. Aufgabe des HR-Moderators ist es vor allem, den Aneignungsprozess des Wissens durch den Wissensnehmer zu stützen, Gelerntes zu reflektieren und die aktive Umsetzung zu fördern. Das entscheidende Erfolgsmoment ist nun, ob die konsequente Umsetzung der vereinbarten Maßnahmen im betrieblichen Tagesgeschäft gelingt und die Rollen und die Prozessverantwortung bei allen Beteiligten auch wahrgenommen werden. Es hat sich gezeigt, dass der
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Wissenstransfer-Prozess zeitlich wie inhaltlich häufig flexibler durchgeführt wurde. Die terminlichen Vorgaben des Transferplans konnten zum Beispiel aufgrund dringender oder wichtiger betrieblicher Notwendigkeiten im Arbeitsalltag von Wissensnehmer oder/und Wissensgeber oft nicht wie zuvor formal dokumentiert eingehalten werden. Oft war die Zeit für einzelne Lernsequenzen zu eng bemessen, wobei der zeitliche Puffer hier einiges wieder auffangen konnte (der Planungszeithorizont ist daher großzügiger auszulegen). Je häufiger die Aneignung des Wissens innerhalb konkreter praktischer Aufgabenstellungen, zum Beispiel Projektarbeiten, Vertriebstätigkeit, unter anderem in der Durchführungsphase vorgesehen ist, desto mehr ist darauf zu achten, dass entsprechende Möglichkeiten durch die Führungskraft oder den Wissensgeber geschaffen und genutzt werden. Es hat sich herausgestellt, dass der Wissenstransfer-Prozess umso erfolgreicher abläuft, wenn der Wissensnehmer hier als ständiger Prozesstreiber agiert, der stets darauf achten sollte, dass die Verabredungen eingehalten werden und die Knowhow-Übertragung und die Anwendungssituationen, zum Beispiel gemeinsame Projekt- und Kundentermine, beim Wissensgeber auch aktiv einfordert. Auch die aktive Rolle des Vorgesetzten beziehungsweise der Führungskraft sowie begleitend regelmäßige kurze gemeinsame Reviews, gegebenenfalls unterstützt durch den Bereich HR, sind für einen erfolgreichen Wissenstransfer-Abschluss zwingend erforderlich, um auch die Verbindlichkeit und Glaubwürdigkeit des Prozesses zu bestätigen. Grundsätzlich empfiehlt es sich auch, notwendige Wissenstransfer-Prozesse formal im Managementsystem der Abteilung oder in den individuellen Zielvereinbarungsgesprächen mit den jeweiligen Beteiligten – also Führungskraft, Wissensgeber und Wissensnehmer – vorher schriftlich zu verankern. Der Transferprozess endet aber erst nach einem Abschlussgespräch und nach positiv bewerteter Erfolgskontrolle, das heißt voller Kompetenzübertragung und Leistungsfähigkeit beim Wissensnehmer.
2.7
Erfolgskontrolle
Die letzte Phase kennzeichnen die Erfolgskontrolle und die Qualitätssicherung des durchgeführten Wissenstransfer-Prozesses mit allen Prozessbeteiligten. Der Prozessschritt beantwortet die Frage, ob ein Transfer- und Lernerfolg beim Wissensnehmer nun auch tatsächlich wie zuvor definiert stattgefunden hat. Darüber hinaus wird durch den Bereich HR ein offenes Feedback zum Prozess eingefordert und eine Prozessevaluation zum Wissenstransfer durchgeführt, bei der Hinweise zur Optimierung und Vereinfachung des gesamten WissenstransferProzesses zusammengetragen werden. Ziele im Prozessschritt Erfolgskontrolle sind primär die „Erfolgsmessung“ sowie die Bewertung der Leistungsfähigkeit und des Qualitätsniveaus des transferierten Knowhows beim Wissensnehmer. Die Erfolgskontrolle wird in gemeinsamen Gesprächen, aber in mindestens einem Abschlussgespräch zwischen Wissensgeber, Wissensnehmer und Führungskraft anhand des Transferplans vorgenommen. Dort sind, neben zuvor vereinbarten Zielzuständen, Kriterien
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Wissensmanagement
und Parametern zur Erfolgskontrolle, Möglichkeiten gegeben, die Durchführung der jeweiligen Maßnahmen und Meilensteine zu bewerten. Anhand von Soll-Ist-Abgleichen kann die Beurteilung des Qualitätsniveaus des transferierten Wissens und Knowhows objektiv anhand von konkreten Parametern (zum Beispiel Anzahl Kundenbesuche etc.) erfolgen. Diese Bewertung erfolgt bei den Verhaltensthemen, zum Beispiel den „Soft-skill“-Kompetenzen wie Kommunikationsfähigkeit, Präsentations- oder Vertriebskompetenz sowie Beziehungsmanagement und andere, eher auf Basis einer subjektiven Einschätzung durch die Führungskraft. In dem Abschlussgespräch geht es vor allem darum, dem Wissensnehmer die Gelegenheit zu geben, der Führungskraft gegenüber die Kompetenzentwicklung und den Knowhow-Transfer exemplarisch zu verdeutlichen. Der Wissensnehmer berichtet der Führungskraft ausführlich über die gemachten Lern- und Anwendungserfolge. Herausforderung im Abschlussgespräch ist hier insbesondere die Ehrlichkeit, Offenheit und Objektivität der Beurteilung des durchgeführten Wissenstransfers. Die Anerkennung des Prozesses und die Wertschätzung des Engagements des Wissensgebers und -nehmers durch die Führungskraft ist ein weiterer wichtiger Punkt im Abschlussgespräch, der den gesamten Prozess abrunden sollte. Grundsätzlich ist in dem Zusammenhang ebenfalls sensibel zu prüfen, ob die Verabschiedung und der Dank an den Wissensgeber nicht gegebenenfalls von weiter „oben kommt“, zum Beispiel vom Vorgesetzten des Vorgesetzten, also nicht nur allein von der Führungskraft des ausscheidenden Mitarbeiters. Der Transferplan dient auch hier wiederum dazu, das abschließende Urteil über den Erfolg des Transferprozesses zu dokumentieren. HR erhält – wenn nicht an dem Abschlussgespräch beteiligt – durch Übermittlung des Transferplans Kenntnis über das Ende und den Erfolg des Wissenstransfer-Prozesses.
3
Fazit und Ausblick
Die Erfahrungen aus der Praxis nach einigen abgeschlossenen Wissenstransfer-Prozessen bei DMT haben gezeigt, dass zusammenfassend unterschiedliche Faktoren für den Erfolg eines Wissenstransfer-Prozesses definiert werden können. Als wichtig hat sich insbesondere in den Phasen der Projektinitiierung und Projektplanung zunächst herausgestellt, dass die Geschäftsführung das Projekt mitgetragen hat und von Anfang an ausgewählte operative Mitarbeiter und Führungskräfte im Projektsteuerungskreis mitbeteiligt waren. Letzteres erhöhte insbesondere bei der Entwicklung der einzelnen Prozessschritte und Instrumente aber auch insgesamt die Akzeptanz im Unternehmen. Hierfür war auch ein vorgeschalteter PilotTransferprozess sehr aufschlussreich, denn er ermöglichte eine Feinjustierung vor dem eigentlichen Start und dem „Rollout“ im Unternehmen. Die offene Projektkommunikation
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bezüglich der Ziele und der Meilensteine und die ersten Erfahrungsberichte („Testimonials“) erzeugten die notwendige Transparenz in der Belegschaft für das Projekt. Bei der Planung und begleitenden Durchführung des eigentlichen Transferprozesses empfiehlt sich die Unterstützung durch HR oder eines externen Berater-/Moderatorenteams, denn es steigert signifikant die Prozess- als auch die Ergebnisqualität. Insbesondere die Planung des Lern- und Aneignungsprozesses oder die Auswahl der Anspracheform bedarf einer professionellen Hilfestellung, zumal die Führungskräfte in der Regel hierauf nicht vorbereitet sind. Und gerade bei den kritischen Einzelfällen ist eine qualitative Vorbereitung und sensible Planung entscheidend. Die Moderation durch HR bei der Analyse der Kompetenzen brachte dann oft auch mehr zu Tage als die eigene Reflexion durch eine Führungskraft. Quasi als Nebenprodukt konnte das Ergebnis der Analyse der Schlüsselkompetenzen unter anderem als Input für Stellenbesetzungsverfahren miteinfließen, zum Beispiel als Anforderungsprofil für die Suche nach einem geeigneten Nachfolger. Von den Führungskräften wurde positiv wahrgenommen, dass sich der oft anfangs als problematisch empfundene Weggang eines Mitarbeiters durch das sehr strukturierte Vorgehen als recht überschaubar darstellte. Und es wurde in allen durchgeführten Fällen deutlich, dass das Wissen und das Knowhow des ausscheidenden Mitarbeiters weitestgehend im Bereich bewahrt und gesichert werden konnte. Es zeigte sich aber auch, dass eben nicht alles an individuellen Erfahrungen und Knowhow transferrelevant beziehungsweise auch einiges nicht transferierbar ist. Teilweise gab es auch kritische Anmerkungen und Situationen, so dass manche Wissenstransfer-Prozesse auch regelrecht „auf der Kippe standen“ und im Alltagsgeschäft zu „versanden“ drohten, oder es bestand die Gefahr, dass der Prozess gar ganz abbricht. Von einigen Beteiligten wurde die fehlende Nutzerfreundlichkeit kritisiert und dass das Vorgehen „zu formal“ sei; auch erschien der Dokumentationsaufwand bei der didaktischen und methodischen Aufbereitung zu hoch. Häufig bemängelt wurde die detaillierte Dokumentation der Maßnahmen („Wir wissen schon Bescheid, was zu tun ist“). In dieser Phase haben die Bereiche vereinzelt eigene „kreative“ Lösungen geschaffen. Wichtig war allen Verantwortlichen nur, dass das Ergebnis und der Erfolg des Transfers der definierten Schlüsselkompetenzen am Ende sichergestellt waren. Die Form und der Weg sind dabei im Einzelfall und nach gemeinsamer Absprache zweitrangig bewertet worden. In den Phasen, in denen die Führungskräfte beziehungsweise die Vorgesetzten nicht das Selbstverständnis des Prozessowners angenommen hatten, verliefen die WissenstransferProzesse und auch die abschließende Bewertung des Erfolges nicht optimal. Wenn es also nicht gelingt, die Führungskraft als Prozessowner zu gewinnen, und Wissensgeber und Wissensnehmer nicht jeweils eigenverantwortlich agieren, ist ein Prozess oft zum Scheitern verurteilt. Da hilft es auch wenig, wenn der Bereich HR als Prozesstreiber im Rahmen des Transfercontrollings die Beteiligten vor Ort zum aktiveren Handeln auffordert. Eine formale Verankerung des individuellen Wissenstransfer-Prozesses im Rahmen bestehender Management- und Führungsprozesse, wie Führungskräfte-Zielvereinbarung oder Mitarbeitgesprächsbogen, ist dann sicher hilfreich.
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Wissensmanagement
Auch können Wissenstransfer-Prozesse qualitativ durch die strukturellen, zeitlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen vor Ort geprägt sein und Störungen verursachen, zum Beispiel durch Umstrukturierungen, Versetzungen, Kündigungen, krankheitsbedingten Ausfällen, Arbeitsbelastungen, Auslastung etc. Insgesamt betrachtet aber ist zum Wissenstransfer-Prozess mehrheitlich positives Feedback gegeben worden. Der Prozess ist „nutzbringend“, „selbsterklärend“, und „bringt gute Ergebnisse“, so einige Zitate. Die Moderationsunterstützung durch HR bringt eine Qualitätssteigerung und macht auch kritische Fälle handhabbar, so die einheitliche Meinung. Für die Projektverantwortlichen gilt es daher, den Wissenstransfer-Prozess in einzelnen Phasen zu optimieren und zum Beispiel flexibler und weniger dokumentationsaufwändig zu gestalten, um die Nutzerfreundlichkeit zu erhöhen. Geplant ist auch, den Wissenstransfer-Prozess in anderen personalwirtschaftlichen Kontexten, wie zum Beispiel bei innerbetrieblichen Versetzungen, bei Neueintritten oder bei kurzfristigen Austritten, etwa bei Eigenkündigungen, zu adaptieren und die Instrumente und Hilfsmittel anzuwenden. Alle Beteiligten bestätigen, dass die angestrebten Ziele und die Maßnahmen zur Wissensbewahrung den betrieblich notwendigen und nachhaltigen Nutzen gestiftet haben, und dieses ist mittlerweile auch belegbar. Fazit: Mit dem strukturierten Wissenstransfer-Prozess hat DMT ein hochwertiges Instrument zur Verfügung, um erfolgreich die Kontinuität des Unternehmenswissens von DMT auch im demografischen Wandel zu gewährleisten.
Zur Theorie des Wissensmanagements im demografischen Wandel verweisen wir auf das Lehrbuch „Erfolgreiches Personalmanagement im demografischen Wandel“ von Dagmar Preißing (Hrsg.), 2. Auflage, das 2014 bei De Gruyter Oldenbourg erschienen ist, ISBN 9783-11-035124-8.
Wilkhahn: Betriebliches Gesundheitsmanagement als integrierter Bestandteil der Unternehmenskultur Burkhard Remmers Burkhard Remmers, Germanist und Historiker, übernahm 1995 den Bereich Marketing und Public Relations beim Büromöbelhersteller Wilkhahn. Heute verantwortet er die internationale Unternehmenskommunikation. Seine Schwerpunkte sind ganzheitliche Konzepte zu Kommunikation, Raum, Design und Nachhaltigkeit. Für Wilkhahn konzipierte er im Jahr 2000 einen der ersten Nachhaltigkeitsberichte, die in Deutschland erschienen sind. Er ist Autor zahlreicher internationaler Fachartikel und Buchbeiträge. Jüngste Publikation ist das Konzept „Office for Motion“, das die Ergebnisse aus zehn Jahren Forschung und Entwicklung zusammenfasst.
Inhalt 1
Das Unternehmen Wilkhahn – ein Überblick
121
2
Mitarbeiterorientierung als Grundlage des Gesundheitsmanagements
122
2.1
Partnerschaft und Fairness im täglichen Miteinander ............................................ 123
2.2
Von der materiellen zur immateriellen Beteiligung................................................ 124
3
Das betriebliche Gesundheitsmanagement bei Wilkhahn
3.1
Krankenstandsanalyse als Grundlage für die ersten Anfänge ................................ 126
3.2
Kooperationsprojekt zur Weltausstellung Expo 2000 und „prospektiver Beitragsbonus“ ....................................................................................................... 127
3.3
Grundlegende Bewertungskriterien des Gesundheitsmanagements bei Wilkhahn ................................................................................................................ 129
3.4
Die zentrale Bedeutung der Mitarbeiterbefragung ................................................. 132
4
Möglichkeiten, Herausforderungen und Grenzen der betrieblichen Gesundheitsförderung bei Wilkhahn
126
138
1
Das Unternehmen Wilkhahn – ein Überblick
Das mittelständische Unternehmen Wilkhahn entwickelt, produziert und vertreibt Möbelprogramme und Einrichtungskonzeptionen für den hochwertigen Objektbereich, deren Gestaltungsmaximen im Industrial Design der klassischen Moderne wurzeln. 1907 in Eimbeckhausen bei Bad Münder gegründet, beschäftigt Wilkhahn weltweit rund 500 Mitarbeiter, davon 385 am Stammsitz. Mehr als 70% des konsolidierten Gesamtumsatzes (2013: 82 Mio. Euro) werden mit Vertriebstochtergesellschaften, Fertigungsstätten in Spanien und Australien, internationalen Handelspartnern und Lizenzpartnern außerhalb Deutschlands erzielt. Das Unternehmen ist in Privatbesitz, ca. 3,2 Mio. Euro des Gesellschafterkapitals liegen in den Händen aktiver und ehemaliger Mitarbeiter, die seit 1971 als stille Gesellschafter am Ergebnis beteiligt sind. Sämtliche unternehmerischen Aktivitäten, von der Produktentwicklung über die Organisation der Geschäfts- und Produktionsprozesse bis hin zu Vertrieb, Marketingkommunikation und Public Relations, sind darauf ausgelegt, das Markenprofil von Wilkhahn nach innen wie nach außen zu unterstützen. Die Corporate Identity mit den Marken- und Unternehmenswerten, das Corporate Design als wiedererkennbare Visualisierung und die verbindlichen Leitlinien zur Produktgestaltung sind festgeschrieben und geben allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern weltweit Orientierung. Sämtliche Prozesse sind im Rahmen des Qualitätsmanagements nach ISO 9001 und nach den Umwelt-Management-Systemen ISO 14001 und EMAS 3 zertifiziert. Das Unternehmen als Betroffener und Akteur der Gesundheitsförderung Die Wilkhahn-Programme werden für die Kerngeschäftsfelder „Sitzen am Arbeitsplatz“ und „Konferenz“ entwickelt. Hinzu kommt mit wachsender Bedeutung der Bereich „Entspannung und Erholung“. Dabei handelt es sich um diejenigen Einrichtungsbereiche, die der informellen Wissensvernetzung, der Stärkung der sozialen Gemeinschaftsbildung und der persönlichen Erholung dienen. Wilkhahn ist dem Thema betriebliches Gesundheitsmanagement daher in zweierlei Hinsicht verbunden: Zum einen als Unternehmen selbst, das sich mit den Zusammenhängen von Motivation, Erhaltung der Leistungsfähigkeit, demografischem Wandel und verlängerten Lebensarbeitszeiten auseinandersetzt, zum anderen als Anbieter für die Einrichtung moderner Arbeitswelten, der solche Veränderungen und Herausforderungen auch bei den Kunden frühzeitig reflektiert, um daraus innovative Produktangebote für eine zeitgemäße Gestaltung der Arbeitswelt abzuleiten. Beschränkte sich in der Vergangenheit der Gesundheitsaspekt für die Einrichtung von Büroarbeitswelten primär auf Fragen der Ergonomie, etwa durch Bürodrehstühle, die Bewegung und Haltungswechsel fördern, so ist durch
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Betriebliches Gesundheitsmanagement
den heute deutlich erweiterten Gesundheitsbegriff auch hier ein ganzheitlicher Gestaltungsansatz gefordert: Er sollte die Wohlfühl- und Aufenthaltsqualität ebenso berücksichtigen wie die Förderung sozialer Beziehungen. Ziel von Gebäudeausstattung, Innenarchitektur und Produktdesign für Büroarbeitswelten sollte schließlich sein, neben der individuellen Leistungsförderung vor allem die aufgabenbezogenen und sozialen Interaktionen der Menschen innerhalb des Unternehmens zu verbessern. Moderne Konzepte für die Büroeinrichtung berücksichtigen daher Aspekte der Work-Life-Balance, der psychosozialen Bedürfnisse und der arbeitsmedizinischen Erkenntnisse ebenso wie Aspekte der Prozesseffizienz, der Flächenökonomie und des Wissensmanagements.
2
Mitarbeiterorientierung als Grundlage des Gesundheitsmanagements
Wie viele mittelständische Pionierunternehmen wurde auch Wilkhahn vor allem durch die persönlichen Wertvorstellungen eines Inhabers geprägt. Als der Gründersohn Fritz Hahne nach dem Zweiten Weltkrieg in das väterliche Unternehmen eintrat, war er von Anfang an bestrebt, seine Vorstellungen über eine anders geartete Unternehmensführung durchzusetzen. Fritz Hahne, der seine Kindheit im kleinbürgerlichen Milieu der niedersächsischen Provinz als beengend und bedrückend empfunden hatte, wollte schlicht anderes tun, als die Arbeit seines Vaters aus der Vorkriegszeit fortzusetzen. Geprägt durch Fronterlebnisse und Kriegsgefangenschaft entwickelte er in der Nachkriegszeit zwei neue Dimensionen einer Unternehmensvision: Die Profilierung des Unternehmens durch eine völlig neuartige Ausrichtung in der Möbelgestaltung und durch die Gestaltung des internen Miteinanders nach seinen persönlichen Wertvorstellungen, die auf Achtung und Respekt des jeweils anderen gründen. Fritz Hahne war ein Suchender, der sich mit Begeisterung und Enthusiasmus neuen Themen verschrieb, um die Frage nach Sinn und Zweck einer Unternehmung für sich positiv zu beantworten. In der Zusammenarbeit mit der Mitte 1953 gegründeten Hochschule für Gestaltung (HfG) Ulm, an der leidenschaftlich über die Zusammenhänge von Gestaltung und sozialer Gesellschaftsform diskutiert wurde, fanden beide Aspekte zusammen:
Bessere Gebrauchsqualität, dauerhafte Formgebung, Langlebigkeit und Reduzierung der Verschwendung wurden fortan zu verbindlichen Prinzipien für die Produktentwicklung.
Mit der Einführung einer betrieblichen Altersversorgung, mit der Entwicklung eines kooperativen Führungsstils und der zunehmenden Beteiligung der Mitarbeiterinnen und
Wilkhahn
123
Mitarbeiter wurden die Voraussetzungen geschaffen, um Innovation und Qualität fest im Unternehmen zu verankern.
2.1
Partnerschaft und Fairness im täglichen Miteinander
Fritz Hahne hatte beim Militär die Schrecken absoluter Befehlsgewalt selbst miterlebt. Er erlebte, wie Menschen ohne jede Möglichkeit der Selbstbestimmung in den Tod geschickt wurden. Die Zeit der Kriegsgefangenschaft machte ihm deutlich, dass unabhängig von Herkunft und sozialer Hierarchie jeder Mensch seine eigenen Fähigkeiten und Talente besitzt, die zum gemeinsamen Überleben beitragen und gleichermaßen wichtig sind. Respekt und Achtung vor dem Individuum, Verantwortung und Fürsorgepflicht durch den Vorgesetzten wurden daher zu bestimmenden Maximen der Wilkhahn-Unternehmenskultur. Angesichts der fehlenden sozialen Absicherung in der Nachkriegszeit installierte er bereits in den 1950er Jahren eine betriebliche Altersversorgung, ein Thema, das angesichts des demografischen Wandels, der „Riester-Reform“ und der spürbaren Versorgungslücken heute wieder eine hohe gesellschaftliche Aktualität gewonnen hat. Ebenso wichtig wie die materielle Absicherung der Belegschaft aber war ihm der interne Umgang im Unternehmen. „Keine Anweisung ohne Begründung“ wurde zum Führungsgrundsatz, der bis heute noch mehr aussagt, als so manche dicke „Unternehmensbibel“. Das Recht der Mitarbeiter auf Transparenz reflektiert dabei zweierlei: Die Achtung des Vorgesetzten vor dem Mitarbeiter und das Verständnis des Einzelnen für die unternehmerischen Zusammenhänge. In den 1960er Jahren gehörte Fritz Hahne deshalb zu den aktiven Unternehmern, die am „Bad Harzburger Modell“ mitarbeiteten, um neue Wege für ein kooperatives Management in der Wirtschaft zu praktizieren. In Zusammenarbeit mit der „Arbeitsgemeinschaft Partnerschaft in der Wirtschaft“ (AGP) formten sich die Grundlagen für die Beteiligung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Unternehmensgewinn, die 1971 bei Wilkhahn eingeführt wurde. Die materielle Beteiligung der Mitarbeiter entsprang dabei vor allem dem schlechten Gewissen des Unternehmers: Das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit im Allgemeinen und der Erfolg von Wilkhahn im Besonderen hatte zu einem kräftigen Kapitalzuwachs der Eigentümer geführt, während sich die Einkommen der Mitarbeiter im Verhältnis äußerst bescheiden und moderat entwickelt hatten. Mehr aufgrund der Symbolgröße denn aus kaufmännischen Überlegungen heraus wurde fortan zwischen Gesellschaftern und Mitarbeitern „halbe-halbe“ gemacht: Sie wurden bis 1998 aufgrund ihrer Mitarbeit als stille Gesellschafter mit 50% am Unternehmensgewinn beteiligt.
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Betriebliches Gesundheitsmanagement
Neben dem Streben nach sozialer Gerechtigkeit spielten dabei auch die sich abzeichnenden Tarifkonflikte eine gewisse Rolle: Fritz Hahne hielt es für sinnvoller, gemeinsam an einem Strang zu ziehen, als sich in einem polarisierten Rollenverständnis zwischen Unternehmer und Arbeitnehmern aufzureiben. Erste Schritte, die Unternehmenswerte strukturell zu verankern, waren die konsequente Regelung aller Abmachungen und zusätzlichen Leistungen auf Basis von Betriebsvereinbarungen. Feste Kündigungsfristen und der Aushandlungsprozess mit dem Betriebsrat, durch den die Mitarbeiterinteressen repräsentiert werden, sorgen seitdem für verlässliche Grundlagen der Zusammenarbeit.
2.2
Von der materiellen zur immateriellen Beteiligung
Nach den kräftigen Lohn- und Gehaltszuwächsen von Mitte der 1970er bis Anfang der 1990er Jahre verlor das Motiv der „sozialen Gerechtigkeit“ als Grundlage für die Mitarbeiterbeteiligung zunehmend an Bedeutung. Stattdessen wuchs die Einsicht, dass es in erster Linie die Potenziale der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind, die über Veränderungsfähigkeit, Innovationskraft und damit den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens entscheiden. Das zeigte sich vor allem an der neuen Herausforderung, im Unternehmen einen umfassenden, ökologischen Wandel zu vollziehen. Neben die Profilierung durch besonders gestaltete Produkte und die Regelung des sozialen Miteinanders trat nun die ökologische Verantwortung als dritte Säule der Unternehmenskultur – und so, wie sich die Gestaltungsgrundlagen der Moderne mit der sozialen Überzeugung verbinden ließen, so konnte auch der ökologische Aspekt nahtlos in das Unternehmenskonzept integriert werden. Mit der Forderung, „langlebige Produkte zu entwickeln, deren Gebrauchswert zu erhöhen und die Verschwendung zu reduzieren“ hatte die HfG Ulm bereits vierzig Jahre vor dem Umweltgipfel in Rio de Janeiro die Grundlagen für umweltverantwortliche Produktgestaltung gelegt. Und schon 1984 hatte Fritz Hahne für die erneut anstehende Fabrikerweiterung gefordert: „Bei Wilkhahn werden keine zwei Backsteine mehr übereinandergelegt, wenn dabei nicht ein Gebäude entsteht, bei dem Ökologie und Ökonomie, Ästhetik und humane Aspekte auf einem Nenner sind.“
Wilkhahn
Abb. 2.1
125
Wilkhahn-Fertigungspavillon – Humanisierung durch Architektur; Quelle: Wilkhahn
Das Ergebnis waren 1988 vier neue Produktionspavillons des Architekten Prof. Frei Otto, die noch heute beispielhaft vor Augen führen, wie gut sich abstrakte Wertvorstellungen in konkreter Gestaltung begreif- und erlebbar machen lassen. 1989 fasste der Verwaltungsrat von Wilkhahn auf Initiative von Fritz Hahne einen denkwürdigen Beschluss: „Im Zweifelsfall ist das ökologische Anliegen höher zu bewerten als schneller Gewinn.“ Per Betriebsvereinbarung wurde damit der grundlegende ökologische Wandel des gesamten Unternehmens beschlossen. Er umfasste die Entwicklung eines verbindlichen, ökologisch orientierten Designkonzepts, erstreckte sich über Verwaltungs- und Produktionsprozesse bis hin zu Verpackung, Transport, Reparatur und Rückführung der Wilkhahn-Produkte. Als erstes Unternehmen der Branche entwickelte Wilkhahn ein ganzheitliches UmweltManagementsystem. Sichtbare Zeichen dafür wurden die ökologisch konzipierten Fabrikhallen des Architekten Thomas Herzog und das Programm Picto, mit dem ersten Bürostuhl der Welt, der innovative Funktion, eigenständige Ästhetik und konsequent ökologisch ausgerichtete Konstruktion verband. 1996 wurde Wilkhahn, als bislang einziges Unternehmen, nicht für ein einzelnes Umweltprojekt, sondern für das ganzheitliche Konzept unternehmerischer Verantwortung, mit dem Deutschen Umweltpreis der Deutschen Bundesstiftung Umwelt ausgezeichnet. Heute ist die ökologische Verantwortung selbstverständlicher Bestandteil der Unternehmensagenda: So gilt die jüngste Bürostuhllinie ON mit ihrer dreidimensionalen Synchronkinematik Trimension® bei führenden Experten nicht nur als derzeit wohl bestes Bürostuhlkonzept für gesundes Bewegungssitzen, sie wurde 2012 auch mit dem Bundespreis Ecodesign ausgezeichnet.
126
Betriebliches Gesundheitsmanagement
Für diesen, das gesamte Unternehmen umfassenden Veränderungsprozess gab es keine Referenz. Wilkhahn betrat damit absolutes Neuland, was nur mit externer Begleitung durch das Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) und unter aktiver Einbindung fast aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu bewältigen war. Im Zuge des Prozesses zur Ökologisierung des Unternehmens wurde deutlich, dass solche Herausforderungen mit herkömmlichen, arbeitsteilig und hierarchisch geprägten Organisationsformen nicht zu meistern sind. Basierend auf dem Selbstverständnis, dass ein Unternehmen in erster Linie von Menschen und für Menschen geprägt sein sollte, gewann in der Folgezeit die Idee Konturen, aus Mitarbeitern Mitunternehmer zu machen, um den Anforderungen einer sich zunehmend dynamisch entwickelnden Wirtschaftswelt gerecht zu werden. Das Bild des Mitarbeiters als „Unternehmer im Unternehmen“ wurde zur Leitvision der Entwicklung und Einführung neuer Arbeitsformen: 1994 wurden per Betriebsvereinbarung selbst steuernde, teilautonome Organisationsformen wie Gruppen- und Projektarbeit im Unternehmen verankert. Im Bewusstsein, dass die neuen Arbeitsformen neben Mitwirkungsrechten auch erheblich mehr Mitwirkungspflichten und Mitverantwortung für die einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bedeuten, wurde hier explizit die Verantwortung der Vorgesetzten für die soziale und fachliche Qualifikation der Gruppenmitglieder und Gruppensprecher beziehungsweise Projektleiter festgehalten.
3
Das betriebliche Gesundheitsmanagement bei Wilkhahn
3.1
Krankenstandsanalyse als Grundlage für die ersten Anfänge
Das Gesundheitsmanagement bei Wilkhahn wurde bis Anfang der 1990er Jahre eher fallweise und reaktiv betrieben. Beispiele dafür sind die Betriebsvereinbarung über ein generelles Alkoholverbot im Unternehmen, Einzelmaßnahmen zur Verbesserung der Arbeitssicherheit sowie Einzelinitiativen wie etwa die Einrichtung einer Betriebssauna und einer Rückenschule. Im Zuge der Vorarbeiten zu und den ersten Erfahrungen mit den neuen Arbeitsformen gewann jedoch die Einsicht an Bedeutung, dass der betriebliche Gesundheitsschutz ein zentraler Bestandteil ist, um nicht nur der ethischen Verantwortung gerecht zu werden, sondern auch die Leistungsfähigkeit des Unternehmens zu erhalten.
Wilkhahn
127
Nach einer umfassenden Analyse des Krankenstands durch die Allgemeine Ortskrankenkasse im Jahr 1994 startete Wilkhahn eine Gesundheitsoffensive, die unter dem Leitsatz „Gesundheit hat Priorität“ die betriebliche Gesundheitsförderung als Unternehmensziel verankerte. Neben dem gesetzlich vorgeschriebenen Arbeitsschutzausschuss wurde ein „Gesundheitsforum“ ins Leben gerufen, in dem so genannte Gesundheitszirkel mit unterschiedlichen Schwerpunkten durchgeführt wurden. Seitdem wird neben dem normalen Betriebsarzt auch eine psychologische Beratungsstelle angeboten. Durch zahlreiche Einzelmaßnahmen zur Verbesserung der Gesundheitsförderung konnte innerhalb relativ kurzer Zeit der damals hohe Krankenstand nahezu halbiert werden. Für dieses außergewöhnliche Engagement in Sachen Gesundheitsförderung wurde Wilkhahn 1995 durch den Bundesverband der Betriebskrankenkassen mit dem Bundespreis „Gesundheitsförderung im Betrieb“ ausgezeichnet.
3.2
Kooperationsprojekt zur Weltausstellung Expo 2000 und „prospektiver Beitragsbonus“
1995 wurde ein Kooperationsprojekt mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), dem Institut für Arbeits- und Sozialhygiene (IAS), der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) Niedersachsen und der Deutschen Arbeitsschutzausstellung (DASA) aufgelegt, um zur Weltausstellung Expo 2000 die Gemeinschaftsausstellung „Zukunft der Arbeit im Spannungsfeld von Mensch, Natur, Technik und Markt am Beispiel Wilkhahn“ zu realisieren. Dabei standen die Zusammenhänge und Wechselwirkungen von Organisations- und Beteiligungsformen, Wohlbefinden sowie ökologischer und sozialer Verantwortung mit Innovationskraft, Motivation und unternehmerischem Erfolg im Mittelpunkt. Insbesondere in der engen Zusammenarbeit mit der AOK gewann das Verständnis von Gesundheitsförderung als Managementsystem Konturen. Der Versicherungsdienstleister hatte das Konzept „Prospektiver Beitragsbonus“ erarbeitet, das die kostenintensiven Langzeiterkrankungen infolge von Betriebsunfällen und betriebsbedingten Gesundheitsbelastungen reduzieren sollte. Die Grundidee dafür war ebenso bestechend einfach wie überzeugend: Ein Unternehmen, das den betrieblichen Gesundheitsschutz wie andere Aufgabenbereiche auch als systematische Managementaufgabe begreift und praktiziert, wird auf Dauer zu einer verbesserten, gesundheitlichen Verfassung der Belegschaft beitragen und damit sowohl die Krankenkassen als auch die Berufsgenossenschaften entlasten. Als „Belohnung“ sollten das Unternehmen und die Versicherten bei entsprechendem Nachweis im Gegenzug einen Beitragsnachlass von maximal einem Zwölftel der jährlichen Zahlungen erhalten. Das Projekt wurde von der zuständigen Behörde als Pilotprojekt für die „Erprobungsregelung Beitragsbonus“ genehmigt, und die Bewerbung von Wilkhahn um den Bonus wurde nach Prüfung durch das begleitende wissenschaftliche „Institut für Technologie und Arbeit“ der Technischen Universität Kaiserslautern 1998 angenommen. In den Folgejahren gelang es regelmäßig, den Nachweis über ein erfolgreiches betriebliches Gesundheitsmanagement zu führen und damit den Beitragsbonus zu erhalten. 2008 lief das Projekt aus und der Bonus wurde letztmalig gewährt.
128
Abb. 3.1
Betriebliches Gesundheitsmanagement
Drehvorrichtung zur Vermeidung einseitiger Belastungen in der Stuhlmontage; Quelle: Wilkhahn
Wilkhahn
3.3
129
Grundlegende Bewertungskriterien des Gesundheitsmanagements bei Wilkhahn
Durch die Teilnahme am Beitragsbonusprojekt ist das betriebliche Gesundheitsmanagement bei Wilkhahn geprägt von den Kriterien, die das Institut für Technologie und Arbeit entwickelt hatte. Das Modell basiert auf dem Ansatz der Selbstbewertung und orientiert sich bewusst am Europäischen Modell für Business Excellence (Kriterien für den European Quality Award, EQA). Die Verbesserung der Gesundheitssituation wird als integrative Managementaufgabe gesehen, die als Teilmenge in das gesamte Managementsystem integriert ist. Die Betrachtung umfasst dabei zum einen die Managementvoraussetzungen wie Konzepte, Vorgehensweisen und Budgets, zum anderen die Ergebnisse, die sich in Zahlen, Daten und Fakten widerspiegeln. In einem Regelkreis werden die Erfassung der Ist-Werte, die Bestimmung der Soll-Werte, die Ableitung der Maßnahmen, die Anordnung der Maßnahmen und die Kontrolle des Erfolgs angeordnet, so dass ein kontinuierliches Managementsystem entsteht. Durch die bei Wilkhahn synchron entwickelten Prozessinnovationen für neue Arbeitsformen, für den ökologischen Wandel und für die Zertifizierung nach dem Qualitätsstandard ISO 9001 wurde das betriebliche Gesundheitsmanagement von Anfang an als integrativer Bestandteil des gesamten Managementsystems verstanden und implementiert. Insbesondere die vielfältigen sozial-ökologischen Überschneidungen führten frühzeitig zur Integration von Gesundheitszielen in die Umweltziele und umgekehrt, etwa durch die Reduzierung von Gefahrstoffen und Emissionen und durch die ökologischen Designrichtlinien der Produktentwicklung, die von vorneherein die Reduktion und wo möglich Vermeidung gesundheitlich bedenklicher Materialien und Betriebsstoffe in der Produktion einschließen. Insgesamt neun Kriterien des Instituts für Arbeit und Technologie, die unterschiedlich gewichtet werden, bildeten die Gesamtbewertung des Managementsystems zur betrieblichen Gesundheitsförderung bei Wilkhahn. Diesen Dimensionen des Gesundheitsmanagements sind hier der Anschaulichkeit halber beispielhaft die entsprechenden Strukturen, Prozesse und Maßnahmen bei Wilkhahn angefügt. Führung:
Sichtbares Engagement und Vorbildfunktion der Führungskräfte in Bezug auf die betriebliche Gesundheitsförderung (zum Beispiel Einbindung der Führungskräfte in Gesundheitsforum und Gesundheitszirkel; Vertretung der kompletten Geschäftsführung und des Betriebsratsvorsitzenden im Lenkungskreis und im Projektteam; regelmäßige Betriebsbegehungen; Integration von Gesundheitsförderung in die Führungsgrundsätze).
Förderung des betrieblichen Gesundheitsmanagements durch das Bereitstellen geeigneter Ressourcen und aktive Unterstützung seitens der Führungskräfte (zum Beispiel Integration von Gesundheitsfragen in Feedback-Gespräche; Integration von Umweltund Gesundheitszielen in die Zielsetzungen der Führungskräfte; Seminare und Schulungen der Führungskräfte für Rückkehrergespräche, Arbeitsschutz, Umweltschutz).
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Betriebliches Gesundheitsmanagement
Strategie und Planung:
Berücksichtigung der Gesundheitsförderung bei der Entwicklung und Weiterentwicklung von allgemeinen Strategien und Planungen (zum Beispiel Einbindung des Betriebsrats in Investitionsentscheidungen; kooperatives Management von Geschäftsführung und Betriebsrat bei Umbesetzungen und Organisationsentwicklungsprojekten; ökologische Designrichtlinien für die Produktentwicklung, die den gesamten Lebenszyklus umfassen; Mitarbeiterbeteiligung an Innovationsprozessen zur sozial-ökologischen Ausrichtung; ein auch für Gesundheitsverbesserung offenes betriebliches Vorschlagswesen; Erarbeitung und Implementierung von sozial-ökologischen Kennzahlen in das allgemeine, betriebliche Kennzahlensystem),
Entwicklung, Bekanntmachung und Umsetzung spezifischer Strategien und Planungen der betrieblichen Gesundheitsförderung (zum Beispiel Formulierung von Gesundheitszielen mit entsprechenden Maßnahmen wie Förderung von Kinderhortplätzen, gezielten Investitionen zur Reduktion von Emissionen und Schadstoffen sowie in die Verbesserung der Arbeitsplätze mit Hebehilfen, Lüftungsanlagen, Arbeitsplatzergonomie).
Mitarbeiterorientierung:
Management, Pflege und Weiterentwicklung der Human Resources (zum Beispiel Personalentwicklungspläne, Einarbeitungswochen, zweijährliche Mitarbeiterbefragungen, Organisation der Geschäftsprozesse in Gruppen- und Projektarbeit, Sozialkostenstelle zur Verdienstsicherung leistungsgeminderter Mitarbeiter, Betriebsvereinbarung zur Rehabilitierung Suchtkranker, Feedback- und Rückkehrergespräche, systematisches Weiterbildungsprogramm für fachliche und soziale Qualifikationen; betriebliche Altersversorgung),
aktive Einbindung der Mitarbeiter in den Prozess der betrieblichen Gesundheitsförderung (zum Beispiel über das betriebliche Vorschlagswesen, über Gruppen- und Projektarbeit, durch die Verankerung des Systems bei Personalservice und Betriebsrat, Anreizsystem durch Integration der betrieblichen Gesundheitsförderung in das Prämienlohnsystem, Animation zur Teilnahme am jährlichen Gesundheitstag, feste Rubrik der betrieblichen Gesundheitsförderung in der Mitarbeiterzeitschrift Wilkhahn-Aktuell).
Ressourcen:
Management der finanziellen Ressourcen im Rahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung (zum Beispiel Ist-Soll-Vergleich mit Budgetierung der beschlossenen Maßnahmen im Rahmen der Personal- und Investitionsplanung; Planung und Freistellung der Kapazitäten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des betrieblichen Gesundheitsmanagements innerhalb ihrer Arbeitszeiten; Vorhalten von Risikofonds für ungeplante Maßnahmen; Subventionierung der Beiträge für ein Trainingsprogramm im Fitness-Studio; kostenlose Teilnahme an einer Rückenschule, Gesundheitscheck für Führungskräfte; Grippeschutzimpfung),
Management von Information und Knowhow im Rahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM) (zum Beispiel Reporting im Rahmen der Umwelterklärung;
Wilkhahn
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externe Information zur sozial-ökologischen Performance auf der Wilkhahn-Website (Mediencenter, Thema Umweltinformation); regelmäßige Informationen im Führungskreis und bei Betriebsversammlungen; kontinuierliche Zusammenarbeit zwischen BGMTeam, der Fachkraft für Arbeitssicherheit und dem Projektleiter Ökologie in der Redaktion der Beiträge für Wilkhahn-Aktuell; Integration des betrieblichen Gesundheitsmanagements in das weltweite Wilkhahn-Intranet; Ausführliche Vor- und Nachinformation von Führungskräften und Mitarbeiterplenum im Kontext der zweijährlichen Mitarbeiterbefragungen). Betriebliches Gesundheitssystem und Prozesse:
Schaffung geeigneter Strukturen zur Umsetzung des betrieblichen Gesundheitsmanagements (zum Beispiel Besetzung des BGM-Teams; Verankerung bei Betriebsrat, Personalabteilung, Controlling und Geschäftsführung; Gesundheitsforum; Arbeitsschutz mit Arbeitssicherheitsausschuss; Lenkungskreis inklusive Geschäftsführung und Betriebsratsvorsitzendem; Kooperationen mit externen Gesundheitsdienstleistern im betrieblichen Gesundheitsmanagement),
Steuerung der Prozesse des betrieblichen Gesundheitsmanagement (zum Beispiel Fehlzeitenanalysen; Wiedereingliederungs- und Vorsorgegespräche; Ableitung von Maßnahmen aus der Mitarbeiterbefragung; regelmäßige Betriebsbegehungen; Feedback-Reports der Gesundheitsdienstleister),
Mitgliedschaft und aktive Mitwirkung im Netzwerk KMU-Kompetenz (einem Netzwerk zur Gesundheitsförderung in kleinen und mittelgroßen Unternehmen, www.kmu-komp.de),
regelmäßige Durchführung von Gesundheitstagen und verschiedene Angebote zu Bewegungsförderung und Körperbewusstsein.
Gesundheit bei Kunden und Lieferanten: Indikatoren zur Wirksamkeit der betrieblichen Gesundheitsförderung in Bezug auf Kunden und Lieferanten (zum Beispiel Verankerung der Verantwortung durch die Mitgliedschaft von Wilkhahn im UN Global Compact; Umweltprüfungen entsprechend der EMASZertifizierung bei Zulieferern; Monitoring und Auditierung der weltweiten Lieferkette gemäß einer internationalen Rahmenvereinbarung mit der Bau- und Holzarbeiter Internationale (BHI), regelmäßige Ergonomie-Schulungen für die Wilkhahn-Vertriebsmitarbeiter und internationalen Fachhandelspartner; Zertifizierung aller Wilkhahn-Produkte nach strengen internationalen Sicherheits- und Ergonomiestandards; Zertifizierung aller wesentlichen Wilkhahn-Produkte nach Greenguard, dem zurzeit weltweit strengsten Standard für Innenraumluftqualität, um Schadstofffreiheit während der Produktnutzungsphase zu garantieren; Umwelt-Produkt-Informationen für jedes Produkt in Anlehnung an ISO 14020 ff.; Produktanhänger bei Bürodrehstühlen, inklusive Empfehlung und Anleitung für Gymnastikübungen).
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Mitarbeiterzufriedenheit: Indikatoren zur Wirksamkeit der betrieblichen Gesundheitsförderung im Kontext Mitarbeiterzufriedenheit (zum Beispiel zweijährliche Mitarbeiterbefragung; Kennzahlen für Krankenstände und Fluktuationsquote/Eigenkündigungen; Teilnehmerquote an betrieblichen Gemeinschaftsveranstaltungen wie Sommerfest und Jahresendfeier). Gesellschaftliche Verantwortung: Indikatoren für die wirkungsvolle Verbreitung der Idee der Gesundheitsförderung in der Öffentlichkeit, zum Beispiel Auszeichnung mit dem Bundespreis der Betriebskrankenkassen 1995; Auszeichnung mit dem Corporate Conscience Award des Council on Economic Priorities New York 1997; Auszeichnung mit dem European Good Practice Award in Safety and Health at Work der Europäischen Arbeitsschutzagentur 2000; Expo-2000-Projekt zur „Zukunft der Arbeit im Spannungsfeld von Mensch, Natur, Technik und Markt“; Publikation einer der ersten Nachhaltigkeitsberichte in Deutschland „Wilkhahn Mehrwerte“ 2000; Auszeichnung als „Ort im Land der Ideen“ 2007; Auszeichnung von Dr. Jochen Hahne als „Unternehmer des Jahres“ 2010 durch den Verband Die Familienunternehmer in Hannover; Integration der sozial-ökologischen Verantwortung in den Wilkhahn-Hauptkatalog, auf der Wilkhahn-Website, in die Buchpublikationen „Mehr als Möbel – ein Unternehmen in seiner Zeit“, Frankfurt 2000 und „Design made in Germany – Wilkhahn 100 years +“, Bad Münder 2007/2008; Publikationen über die sozial-ökologische Ausrichtung von Wilkhahn in der Wirtschafts- und Tagespresse; Anzahl der Teilnehmer bei Betriebsführungen; Anzahl der Vorträge zur sozial-ökologischen Ausrichtung des Unternehmens durch WilkhahnMitarbeiter in unterschiedlichen Kontexten, Mitwirkung von Wilkhahn im CSR-Forum, das die deutsche Bundesregierung in Sachen Strategie zur Corporate Social Responsibility berät, sowie in Jurys zu sozial-ökologischen Auszeichnungen. Betriebliche Gesundheitssituation: Objektive Indikatoren zur Kennzeichnung des Verlaufs der Gesundheitssituation im Unternehmen (Kennzahlen zu Krankenstand, Fehlzeiten, Erwerbsunfähigkeit und Arbeitsunfällen; Ausbildungsquote und Beschäftigungsquote von Schwerbehinderten; Beitragsnachlässe bei der Berufsgenossenschaft; externe Auswertung und Vergleich der zweijährlichen Mitarbeiterbefragungen).
3.4
Die zentrale Bedeutung der Mitarbeiterbefragung
Die zweijährlichen Mitarbeiterbefragungen, die fünfmal in Zusammenarbeit mit der AOK Niedersachsen durchgeführt wurden, waren bei Wilkhahn das zentrale Instrument des betrieblichen Gesundheitsmanagements. Da Fehlzeiten und Krankenstände nur bedingt Rückschlüsse auf die reale betriebliche Gesundheitssituation zulassen, ist die subjektive (Selbst-) Wahrnehmung der Mitarbeiter ein deutlich aussagefähigerer Indikator. Die Mitarbeiterbefragung bietet über den Zeitraum von mittlerweile zehn Jahren wichtige Anhaltspunkte für die demografische Entwicklung und ihre Auswirkungen bei Wilkhahn, für die Korrelationen
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zwischen wirtschaftlicher Entwicklung des Unternehmens und der individuellen Gesundheitswahrnehmung sowie für die Identifikation und Verortung signifikanter Problembereiche. Zudem bietet die Mitarbeiterbefragung Vergleichswerte mit den Durchschnittswerten anderer Unternehmen und den jeweiligen Benchmarks. Um die datenschutzrechtlichen Bestimmungen zu wahren und analog die Bereitschaft der Mitarbeiter zur Selbstauskunft zu erhöhen, ist dieses Instrument allerdings ausschließlich in Zusammenarbeit mit externen Gesundheitsdienstleistern und unter strikter Einhaltung der Anonymität einsetzbar. Nach längerer Pause, die den Verwerfungen durch die Wirtschafts- und Finanzkrise geschuldet war, ist Ende 2014 wieder eine Mitarbeiterbefragung vorgesehen. Struktur der Mitarbeiterbefragung Die Auswertung der bislang letzten Mitarbeiterbefragung, herausgegeben vom AOK-Institut für Gesundheitsconsulting, umfasst 160 Seiten. Dem Datenmaterial für die Vergleichswerte zum Thema Betriebsklima lagen Befragungen von insgesamt 4.106 Mitarbeitern aus zwölf Betrieben zugrunde, den Vergleichswerten zum Thema körperliche Beschwerden Befragungen von 3.607 Mitarbeitern aus zehn Betrieben. Durch diese breite Befragtenbasis quer durch unterschiedliche Unternehmen und Branchen kann davon ausgegangen werden, dass die für den Vergleich herangezogenen Durchschnittswerte durchaus repräsentativen Charakter haben. Für den internen Vergleich mit früheren Mitarbeiterbefragungen bei Wilkhahn ist die Befragtenstruktur nach Geschlechterzugehörigkeit sowie nach Altersgruppen ausgewiesen und ausgewertet. Dadurch lassen sich Korrelationen einer veränderten Geschlechter- und Altersstruktur mit der objektiven und subjektiven Wahrnehmung der Gesundheitssituation berücksichtigen. Bei der jüngsten Befragung betrug der Anteil der unter 30-Jährigen 12,4%, der 30bis 45-Jährigen 48,2% und der über 45-Jährigen 36,3%. Um den individuellen Datenschutz zu wahren und gleichzeitig dennoch Problembereiche identifizieren und verorten zu können, erfolgte die Sammlung und Auswertung mit Zustimmung des Betriebsrats und nach Information aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, wie bereits in den zwei Befragungen zuvor, nach sechs Kostenstellengruppen, in denen jeweils Einzelkostenstellen zusammengefasst sind. Dadurch ist die Befragtenzahl innerhalb der Kostenstellengruppen groß genug, um keine Rückschlüsse auf einzelne Personen zu ermöglichen, und gleichzeitig lassen sich die Aussagen bestimmten Bereichen, Tätigkeiten und Gebäudekomplexen zuordnen, so dass zielgerichtete Analysen und Maßnahmen zur Verbesserung der Gesundheitssituation ermöglicht werden. Die Kostenstellengruppen umfassen die Bereiche Tischfertigung (Sägerei, Furniererei, CNC-Bearbeitung, Oberfläche und Endmontage), Stuhlfertigung (Zuschnitt, Näherei, Polsterei und Montage), Werktechnik und Entwicklung (Qualitäts- und Umweltmanagement, Entwicklungswerkstätten, Produktentwicklung), Logistik (Beschaffung, Lizenzen, Verpackung, Lager, Versand, Kundendienst), Vertrieb (Vertriebsinnen- und -außendienst, Auftragsbearbeitung, Sonderanfertigung, Produktionsvorbereitung, Planungsabteilung) und allgemeine Verwaltung (Personal, Finanzen und Controlling, IT-Services, Ausbildung, Marketing und Geschäftsführung). Die Rücklaufquote betrug insgesamt 64,4% und war damit gegenüber der letzten Befragung aus 2005 mit 67,6% leicht rückläufig.
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Betriebliches Gesundheitsmanagement
Fragen und Ergebnisse zum Betriebsklima Weil das gesundheitliche Befinden, neben „objektiven“ Belastungsfaktoren, stark vom individuellen Empfinden des Betriebsklimas abhängt, werden mit insgesamt 35 Fragen zur allgemeinen Stimmung, zu Kollegen und Vorgesetzten, zur Qualität der Organisation und zum Thema Information und Mitsprache unterschiedliche Faktoren des Betriebsklimas beleuchtet. In der Gesamtauswertung im Zehnjahresvergleich wird deutlich, dass das Empfinden der allgemeinen Stimmung mit der wirtschaftlichen Situation des Unternehmens korreliert: In Krisenzeiten ist die Einschätzung etwas schlechter, in Wachstumsphasen besser, wobei sehr starke Wachstumsphasen mit entsprechend hoher Mehrarbeit ebenfalls zu einer Verschlechterung der Einschätzung führen. Frauen bewerten das Betriebsklima insgesamt etwas positiver als Männer; Jüngere bewerten es positiver als Ältere. Die Bewertungen liegen bei der allgemeinen Stimmung auf dem durchschnittlichen Niveau im AOK-Vergleich, bei den Kollegenbeziehungen, bei der Organisation und beim Thema Information und Mitsprache schneidet Wilkhahn besser ab, bei der Einschätzung der Vorgesetzten sind die Wilkhahn-Mitarbeiter etwas kritischer. In der Auswertung nach Bereichen wird an den durchgängigen Varianzen deutlich, dass die Einschätzungen der Themen allgemeine Stimmung, Kollegenbeziehungen, Vorgesetzte, Organisation und Information/Mitsprache eng zusammenhängen. Größere Abweichungen zwischen den Bereichen geben Hinweise und Anhaltspunkte, die Situation genauer zu analysieren, Defizite zu identifizieren und entsprechende Verbesserungsmaßnahmen einzuleiten. Fragen zu Beeinträchtigungen am Arbeitsplatz Der Themenkomplex Beeinträchtigungen am Arbeitsplatz umfasst sowohl Umgebungsvariablen wie Lärm und Zugluft als auch ergonomische Aspekte wie Bildschirmarbeit, Mobiliar, Heben und Tragen. Insgesamt 19 Fragen werden zu Temperatur (Hitze, Kälte), Belüftung und Zugluft, Lärmbelästigung, räumlicher Enge, Geruchsbelästigungen, Gefahrstoffen, Feuchtigkeit, Sitzmobiliar, Tischen und Arbeitsflächen, EDV-Sichtgeräten, Schutzkleidung und Schutzmitteln, allgemeiner Unfallgefahr, Zwangshaltungen, Hebelasten und Vibrationsbelastungen gestellt, der Wertebereich bei den Antworten reicht von 1 (= nie) bis 5 (= immer). Hier ist die differenzierte Auswertung nach Bereichen besonders wichtig, weil je nach Tätigkeiten (Produktion und Verwaltung) sehr unterschiedliche Umgebungsfaktoren und Belastungsfaktoren auftreten. Die Analyse und Auswertung dieses Themenkomplexes bietet die Grundlage zur Ableitung ganz konkreter Verbesserungsvorschläge und Maßnahmen etwa in Gebäudetechnik, Hebehilfen und Arbeitsplatzausstattung. Dass Wilkhahn beim Sitzmobiliar den Spitzenwert von 1,35 erreicht, ist kein Zufall: In der gesamten Verwaltung und in der Produktion werden ausschließlich die eigenen Produkte eingesetzt, die international auch in Fragen der Sitzergonomie zum Besten zählen, was der Markt zu bieten hat.
Wilkhahn
Abb. 3.2
135
Montagehilfen am Arbeitsplatz; Quelle: Wilkhahn
Fragen zu Arbeitsunterbrechungen Arbeitsunterbrechungen sind psychologische Belastungsfaktoren und beeinträchtigen auch direkt die Produktivität der Mitarbeiter. Mit vier Fragen wird die Frequenz möglicher Ursachen wie defekte Arbeitsmittel, Geräte und Maschinen, fehlende Informationen oder Unterlagen, fehlendes oder fehlerhaftes Material sowie Unterbrechungen durch Personen und Telefonate ermittelt. Der Wertebereich reicht hier von 1 (= nie) bis 5 (= immer). Die Ergebnisse werden je nach Bereich und Art der Unterbrechungen analysiert und mit Mängelstatistiken abgeglichen. Sie sind wichtige Indikatoren für die Prozessqualitäten und Ansatzpunkte für Produktivitätssteigerungen ebenso wie für eine höhere Arbeitszufriedenheit. Fragen zum Gesundheitsverhalten Die Bewusstseinsbildung für das eigene Gesundheitsverhalten ist ein wesentlicher Baustein für die Verbesserung der betrieblichen Gesundheit. Mit insgesamt elf Fragen werden hier sowohl Aspekte des Gesundheitsverhaltens im Betrieb wie auch individuelle private Aspekte beleuchtet: Vorsorgeuntersuchungen, Bewegung und Sport, Ernährungsbewusstsein, Pausenwahrnehmung, Stressempfinden, Freizeitgefühl, Nutzung von Schutzausrüstung und -mitteln, Nutzung von Hilfsmitteln, Urlaubsfrequenz und -länge, Empfinden von Raucherbelästigung. Hier erfolgt die Auswertung, analog den Fragen nach dem Betriebsklima, nach Geschlechtern, nach Lebensalter und nach Kostenstellengruppen (Betriebsbereichen).
136
Betriebliches Gesundheitsmanagement
Fragen zu Gesundheit und Befinden Der ausführlichste Fragenkomplex umfasst mit 26 Fragen die Themen Schmerz (Schulter, Nacken, Rücken, Arme/Hände, Beine/Füße, Kopf), Schwindel, Schlafstörungen, Verkrampfungen bei der Arbeit, des Weiteren Magen-Darm-Beschwerden, Sodbrennen, Übelkeit, Kreislaufprobleme, Atemnot, Erkältungen, Reizhusten, Schnupfen und Niesreiz. Ein dritter Teilbereich schließlich zielt auf Symptome wie Über- oder Unterforderungsgefühl, Müdigkeit, Konzentrationsstörungen, Reizbarkeit, Launen und Toleranz gegenüber Fehlern anderer. Auch hier erfolgt die Auswertung nach Geschlechtern, nach Altersgruppen und nach Kostenstellengruppen, um Ursachenforschung betreiben und konkrete Verbesserungen entwickeln zu können. Rubrik Wünsche und Anregungen Hier wird den Befragten die Möglichkeit gegeben, völlig frei diejenigen Themen zu beschreiben, die ihnen besonders am Herzen liegen, oder bereits konkrete Vorschläge zu machen. Damit ist der Bereich ein ehrliches, weil anonymes Feedback-Instrument, das auch innerhalb einer Kostenstellengruppe polarisierende Themen artikuliert. In der letzten Befragung wurde beispielsweise bei der Frage nach der Belästigung durch Raucher ein Gesamtergebnis ermittelt, demgemäß sich 37% nie und 16% nur selten belästigt fühlen, 20% manchmal, 7% meistens und 19% immer. In der Rubrik Wünsche und Anregungen allerdings wurde die Forderung nach Rauchfreiheit dermaßen häufig und dezidiert genannt, dass die Geschäftsführung und der Betriebsrat im Nachgang eine Betriebsvereinbarung „rauchfreier Betrieb“ erarbeitet und unterzeichnet haben. Seit 1. September 2007 ist das Rauchen bei Wilkhahn in sämtlichen Gebäuden und Fahrzeugen strikt untersagt. Andere Anregungen und Wünsche betrafen die Neugestaltung der Firmenkantine, Fahrertrainings und Gutscheine für Fitnesstrainings – Vorschläge, die in der Folgezeit ebenfalls geprüft, budgetiert und umgesetzt wurden.
Wilkhahn
Abb. 3.3
137
In doppelter Hinsicht „rauchfreier“ Betrieb – C02-reduziertes Blockheizkraftwerk; Quelle: Wilkhahn
138
4
Betriebliches Gesundheitsmanagement
Möglichkeiten, Herausforderungen und Grenzen der betrieblichen Gesundheitsförderung bei Wilkhahn
Das betriebliche Gesundheitsmanagement ist heute zum festen und integrierten Bestandteil des Managementsystems geworden. Zu den Meilensteinen und Erfolgen zählen die Halbierung des Krankenstands (1991 bis 1997), der sich seitdem relativ konstant auf niedrigem Niveau bewegt, der Rückgang von Arbeits- und Betriebsunfällen, die Umsetzung zahlreicher ökologischer Verbesserungen, die auch gesundheitliche Verbesserungen bedeuteten (Lackieranlage mit lösemittelarmen Wasserlacken, neue Pulverbeschichtungsanlage), die Entwicklung und Einführung von neuen Hebe- und Montagehilfen, die Neugestaltung und Ausstattung der Büroarbeitsplätze gemäß den europäischen Richtlinien für Bildschirmarbeitsplätze und die Rauchfreiheit des Betriebs. Seit Jahren gibt es einen jährlichen Gesundheitstag, auf dem vielfältige Informationen und Tests rund um Gesundheitsfragen geboten werden und der auf große Resonanz stößt. 2008 hat Wilkhahn ein hochmodernes Blockheizkraftwerk mit Kraft-Wärme-Kopplung in Betrieb genommen, seit 2012 wird die Fernwärme einer Biogasanlage genutzt. Der Anteil regenerativer Energien am Gesamtverbrauch konnte dadurch auf über 50% gesteigert werden. Dennoch bleibt die betriebliche Gesundheitsförderung eine tägliche Herausforderung sowohl im Management als auch bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Neben Managementaufgaben wie Monitoring und konkreter Projektarbeit beinhaltet das betriebliche Gesundheitsmanagement vor allem eine wichtige Kommunikationsaufgabe. Wird das Thema nicht kontinuierlich auf der Agenda gehalten, gerät es rasch aus dem Blickfeld und wird von tagesaktuellen Anforderungen überlagert. Schwierig gestaltet es sich zudem, eindeutige UrsachenWirkungszusammenhänge zu definieren, um den Erfolg von Maßnahmen mess- und vergleichbar zu machen. So sagt ein niedriger Krankenstand in wirtschaftlich schwierigen Zeiten nicht zwangsläufig etwas über die gesundheitliche Verfassung der Belegschaft aus. Mit dem zunehmenden Durchschnittsalter der Belegschaft steigt auch der Anteil der Vorschädigungen einerseits und der Anfälligkeit andererseits. Bei Umgebungsfaktoren, die mit Raumgrößen, Klima- und Gebäudetechnik in Bestandsgebäuden zu tun haben, sind die Verbesserungsmöglichkeiten oft durch die erforderliche Investitionshöhe beschränkt. Auf das individuelle Gesundheitsverhalten kann seitens des Betriebs nur appellativ Einfluss genommen werden: Zu einem hohen Maß an Selbstverantwortung der Mitarbeiter gibt es
Wilkhahn
139
keine Alternative. Und nicht zuletzt spielen immer auch Belastungen aus dem privaten Umfeld eine entscheidende Rolle für die gesundheitliche Verfassung im Betrieb. Die Zusammenhänge von Motivation, Identifikation, Zufriedenheit einerseits und Leistungsbereitschaft und -fähigkeit andererseits sind in der Wirtschaft zwar kaum mehr umstritten, aber sie lassen sich häufig nur schwer konkret rechnen. Diese Komplexität gilt auch für das betriebliche Gesundheitsmanagement. Wer hier nur das macht, was sich unmittelbar auszahlt, wird auf Dauer nichts gewinnen. Entscheidend ist vielmehr, welcher Stellenwert dem Menschen im Unternehmen wirklich eingeräumt wird. Geht es nur um den Erhalt oder die Maximierung der Arbeitskraft? Oder sollen die Menschen gerne im Unternehmen arbeiten? Das Wohlbefinden der Mitarbeiter ist bei Wilkhahn seit einem halben Jahrhundert fester Bestandteil der unternehmerischen Zielsetzung und tief in der Unternehmenskultur verankert. Mitbestimmung und Mitverantwortung, Förderung und Forderung, Partnerschaft und Respekt sind unverzichtbare Grundlagen, auf denen das betriebliche Gesundheitsmanagement aufbaut.
Zur Theorie des betrieblichen Gesundheitsmanagements im demografischen Wandel verweisen wir auf das Lehrbuch „Erfolgreiches Personalmanagement im demografischen Wandel“ von Dagmar Preißing (Hrsg.), 2. Auflage, das 2014 bei De Gruyter Oldenbourg erschienen ist, ISBN 978-3-11-035124-8.
Die Hochschule Fulda auf dem Weg zu einer „gesundheitsfördernden Hochschule“ – ein Projektbericht Anja Kroke, Angela Reichelt und Klaus Stegmüller Prof.in habil. Dr. med. Anja Kroke (Master Public Health) ist approbierte Ärztin. Sie studierte Medizin an der Medizinischen Hochschule Hannover und der Freien Universität Berlin, promovierte an der Freien Universität Berlin im Fachbereich Epidemiologie und absolvierte anschließend das Masterstudium „Public Health“ an der University of North Carolina at Chapel Hill, USA. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin war sie am ehemaligen Bundesgesundheitsamt, am Deutschen Institut für Ernährungsforschung und an der Humboldt Universität Berlin (Charité) tätig. Sie habilitierte sich im Fach Epidemiologie an der Charité Berlin. Anschließend war sie vier Jahre stellvertretende Leiterin des Forschungsinstituts für Kinderernährung, Dortmund. Seit Oktober 2006 hat sie den Lehrstuhl für Präventionsstrategien in der Ernährung an der Hochschule Fulda inne und ist als Professorin schwerpunktmäßig in Forschung und Lehre im Bereich Public Health Nutrition aktiv.
142
Gesundheitsmanagement Angela Reichelt studierte zunächst das Lehramt an Grundschulen an der J. W. Goethe-Universität Frankfurt/Main. Nach mehrjähriger Tätigkeit als Grundschullehrerin arbeitete sie in einer Allgemeinarztpraxis mit. Aufgabengebiete waren unter anderem Ernährungsberatung, Kochkurse, Aufbau und Pflege eines Praxis-Qualitätsmanagements. Berufsbegleitend absolvierte sie das Diplomstudium der Oecotrophologie sowie anschließend das Masterstudium Public Health Nutrition an der Hochschule Fulda. Seit 2009 ist sie Projektkoordinatorin der Gesundheitsfördernden Hochschule Fulda.
Klaus Stegmüller, Prof. Dr. rer. med. Dipl. Politologe, studierte Politikwissenschaft, Soziologie, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte und Pädagogik an der Philipps-Universität Marburg/Lahn. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter arbeitete er unter anderem im Institut für Medizinische Soziologie des Zentrums für Gesundheitswissenschaften am Klinikum der J. W. Goethe-Universität Frankfurt/Main und bei der HLT Gesellschaft für Forschung Planung Entwicklung mbH, Wiesbaden. Dort war er Fachgebietsleiter „Gesundheitsversorgung/Gesundheitswirtschaft“. Er bearbeitete in verschiedenen institutionellen Kontexten Fragestellungen der Gesundheitssystemgestaltung und Gesundheitspolitik sowie der settingorientierten Gesundheitsförderung. Seit 1999 ist er Professor am Fachbereich Pflege und Gesundheit der Hochschule Fulda. Seine Forschungsund Arbeitsschwerpunkte sind Gesundheits-/Pflegepolitik, Primärprävention in Settings, Public Health/Gesundheitsförderung.
Inhalt 1
Einführung
144
2
Die Hochschule Fulda als „gesundheitsförderndes Setting“
145
3
Struktur und Strategie – Das Projekt „Gesundheitsfördernde Hochschule Fulda“
147
3.1
Ausgangssituation .................................................................................................. 147
3.2
Ziele und Struktur ................................................................................................... 148
3.3
Arbeitsweisen ......................................................................................................... 151
3.4
Arbeitsfelder ........................................................................................................... 154
4
Fazit und Ausblick
156
5
Literatur
157
1
Einführung
Es wächst nicht nur in Unternehmen die Erkenntnis, dass betriebliche Gesundheitsförderung beziehungsweise betriebliches Gesundheitsmanagement eine zwingend erforderliche Maßnahme ist, um aktuellen Entwicklungen in der Arbeitswelt, wie Verdichtung der Arbeit, steigende Stresswahrnehmung, sowie den Anforderungen des demografischen Wandels erfolgreich zu begegnen. Sondern auch und gerade der öffentliche Sektor muss sich in seiner Vorbildrolle mit den Erfordernissen arbeitsweltlicher und demografischer Veränderungen intensiv auseinandersetzen. Gesundheitsfördernde Betriebe, aber auch gesundheitsfördernde Schulen sind in Deutschland inzwischen häufig anzutreffen. Ganz anders verhält es sich jedoch mit den Hochschulen. In diesem Bereich besteht noch erheblicher Nachholbedarf. Einige Hochschulen und Universitäten haben sich jedoch auf den Weg gemacht, Gesundheitsförderung zu etablieren und umzusetzen. Langsam setzt sich auch hier – bei den Unternehmen in der Wirtschaft ist dies schon lange bekannt – die Erkenntnis durch, dass der Nutzen gesundheitsfördernder Maßnahmen für die Leistungsfähigkeit und Attraktivität von Arbeits-, aber auch Studienplätzen spürbar und nicht zu unterschätzen ist. Diese Erkenntnisse beinhalten auch, dass allein ein jährlicher Gesundheitstag als Beitrag zur Gesundheitsförderung nicht ausreicht. Sollen nachhaltig wirksame gesundheitsfördernde Maßnahmen spürbar werden, muss Gesundheitsförderung als Querschnittsaufgabe verstanden werden, welche die gesamte Einrichtung, also das gesamte so genannte Setting, einbindet. Hierbei gilt es, die Statusgruppen sowie die verschiedenen Handlungsebenen der Organisation Hochschule zu berücksichtigen. Wie sieht nun der Königsweg für die Einführung einer „gesundheitsfördernden Hochschule“ aus? Auf diese Frage gibt es keine einfache Antwort. Die Motive, Ziele und Wege hin zu einer gesundheitsfördernden Hochschule sind so vielfältig wie die Hochschulen selbst. Dennoch kann es hilfreich sein zu erfahren, welche Wege andere Hochschulen gegangen sind, um daraus zu lernen. Im Folgenden werden die Maßnahmen der Hochschule Fulda auf dem Weg zu einer gesundheitsfördernden Hochschule aufgezeigt.
Hochschule Fulda
2
145
Die Hochschule Fulda als „gesundheitsförderndes Setting“
An der Hochschule Fulda wurde für den Weg hin zu einer gesundheitsfördernden Hochschule der so genannte Setting-Ansatz gewählt. Der Begriff „Setting“ umschreibt die alltäglichen Erfahrungs- und Lebenswelten von Personen, also soziale Zusammenhänge, Orte oder auch Organisationen, in denen sich die Menschen aufhalten und bewegen, die Einfluss auf ihre Gesundheit haben. Settings können Betriebe, Hochschulen, Kitas, Wohnquartiere und anderes mehr sein. Ein „gesundheitsförderndes Setting“ beinhaltet entsprechend, dass die gesamte Organisation mit all ihren Mitgliedern eine Veränderung in ihrer Gesundheitsstrategie und -struktur verfolgt. Gemäß dem Setting-Ansatz wurde also ein Prozess eingeleitet, der sowohl alle Statusgruppen der Hochschule – Studierende, Lehrende, wissenschaftliche und administrativ-technische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – einbezieht als auch gesundheitsrelevante Rahmenbedingungen der Verwaltung und in den Managementstrukturen der Organisation berücksichtigt. Thematische Schwerpunkte waren hier zum Beispiel Stressbewältigung am Arbeitsplatz, körperliche Aktivität, Ernährung, Nichtraucherschutz, Führung und Gesundheit und anderes mehr. Diese Aspekte galt es, unter Einbezug und Mitsprachemöglichkeiten aller Beteiligten auf möglichst allen Handlungsebenen unter dem Blickwinkel der Gesundheitsförderung zu analysieren und konzeptionelle Verbesserungsvorschläge zu entwickeln. Hochschulen bieten ein großes Potenzial zur Etablierung von Maßnahmen settingbezogener Gesundheitsförderung, denn sie verfügen sowohl über eigenständige Gestaltungsmöglichkeiten ihrer Strukturen als auch über verschiedene Mitglieder in der Organisation, die sich mit ihrer fachlichen und beruflichen Expertise in diesen Prozess einbringen können. So sind drei Zielgruppen im Rahmen gesundheitsfördernder Maßnahmen an einer Hochschule zu berücksichtigen: 1.
Studierende,
2.
wissenschaftliche und technisch-administrative Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,
3.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als Lehrende und Forschende.
Die Studierenden Mit den hohen Zahlen an Studierenden, die Hochschule Fulda hat aktuell ca. 8.000 eingeschriebene Studierende, hat die Hochschule eine große Verantwortung auch gegenüber diesen jungen Menschen im Hinblick auf deren Gesunderhaltung während des Studiums und darüber hinaus sowie auf das künftige Erwerbsleben. Diese große Gruppe junger Menschen unterschiedlicher Studienrichtungen kann bereits in den Hochschulen bezüglich gesundheitsfördernder Lebensweisen erreicht und angesprochen und zur Mitarbeit aufgefordert werden. Als künftige Entscheidungsträger in Unternehmen, als Ausbilder oder Wissenschaftler haben
146
Gesundheitsmanagement
sie eine Multiplikatorenfunktion in Wirtschaft, Politik, Forschung und Lehre auf allen gesellschaftlichen Ebenen und können somit ihr Wissen und ihre Erfahrungen, die sie selbst mit gesundheitsfördernden Strukturen an Hochschulen gesammelt haben, in alle gesellschaftlichen Sektoren einbringen. Gleichzeitig handelt es sich in der Regel um junge Menschen, für die mit Aufnahme ihres Studiums ein neuer Lebensabschnitt beginnt, in dem ihr Lebensstil für einige Jahre entscheidend durch die Hochschule geprägt wird. In diesem Lebensabschnitt des Übergangs vom Jugend- ins Erwachsenenalter entwickeln und verfestigen sich Verhaltensmuster, die durch entsprechende Rahmenbedingungen und Strukturen im Sinne eines gesundheitsförderlichen Verhaltens möglicherweise positiv beeinflusst werden können. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Auch die Statusgruppe der Beschäftigten in den Bereichen Verwaltung und Technik ist eine wichtige und geeignete Zielgruppe für die settingbezogene Gesundheitsförderung. Hier gilt es, zur Gesunderhaltung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beizutragen, möglicherweise über ein gesamtes Erwerbsleben hinweg. Dabei sind die Komplexität der Anforderungen, die Gewährleistung von Handlungs- und Entscheidungsspielräumen, die Anerkennung und Förderung durch Vorgesetzte, die Arbeitsverdichtung und vieles anderes mehr bei der Planung und Umsetzung gesundheitsförderlicher Maßnahmen zu berücksichtigen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Für diese Gruppe gilt, dass sie mehrdimensionale Aufträge an der Hochschule erfüllen muss, wie Forschung und Lehre sowie administrative Aufgaben. Selbst vor dem Hintergrund prinzipiell positiver Arbeitsbedingungen, die geprägt sind von Selbstbestimmtheit, Zeitflexibilität und Handlungsautonomie1, gibt es bei dieser Zielgruppe jedoch auch Belastungsmomente, wie beispielsweise Zeitnot, Entscheidungsdruck, Rollenkonflikte oder die Zunahme administrativer Aufgaben, mit all ihren negativen Konsequenzen auf die Gesundheit. Unter Berücksichtigung dieser unterschiedlichen Zielgruppen ergibt sich eine hohe Komplexität der Anforderungen an ein gesundheitsförderndes Setting. Denn die hohe Diversität der Zielgruppen geht mit der Notwendigkeit einer sehr spezifischen, bedarfsgerechten Konzeptentwicklung gesundheitsfördernder Strukturen und Maßnahmen einher.
1
vgl. Faller, G., 2006, S. 35-56
Hochschule Fulda
3
Struktur und Strategie – Das Projekt „Gesundheitsfördernde Hochschule Fulda“
3.1
Ausgangssituation
147
Ausgangspunkt der Überlegungen zur Entwicklung einer „Gesundheitsfördernden Hochschule Fulda“ waren zunächst drei Aspekte, die einen solchen Schritt nahelegten: 1. Vorhandene Fachkompetenz Im Falle der Hochschule Fulda liegt eine breite Fachkompetenz im Bereich gesundheitsbezogener Themen vor. Drei der acht Fachbereiche sind ernährungs- beziehungsweise gesundheitswissenschaftlich ausgerichtet, knapp 30% der Studierenden sind in diese Fachbereiche eingeschrieben. Seit 2006 wird an der Hochschule Fulda zusätzlich zu bereits bestehenden gesundheitsbezogenen Studiengängen, der bundesweit erste Masterstudiengang Public Health Nutrition angeboten, ein fachbereichsübergreifender Studiengang der Fachbereiche Oecotrophologie sowie Pflege und Gesundheit. Seine Lehrinhalte beschäftigen sich mit Fragen bevölkerungsbezogener Gestaltungsmöglichkeiten im Gesundheitswesen und der Ernährung unter gesundheitlichen, bevölkerungsbezogenen Aspekten. Dazu werden neue Wege in Prävention und Behandlung lebensstilassoziierter Erkrankungen erarbeitet. 2. Angestrebte Partizipation Die Hochschule Fulda benennt in ihrem Leitbild Partizipation und Empowerment2 und für ihre weitere Profilierung die Weiterentwicklung der Schwerpunkte Gesundheit, Ernährung und Lebensmittel3. Partizipation aller zum jeweiligen Setting Gehörenden ist ein wesentliches Grundprinzip gesundheitsfördernder Aktivitäten4.
2
„Empowerment“ meint die Befähigung von Menschen, ihre eigene Lebenswelt gestalten und so auch zu ihrer gesundheitsfördernden Verbesserung beitragen zu können.
3
vgl. www.fh-fulda.de/index.php?id=2184; www.fh-fulda.de/index.php?id=6389; Stand: 05.06.2014
4
vgl. Meier, S., 2007, S. 71-79
148
Gesundheitsmanagement
3. Aktuelle Entwicklungen an der Hochschule Fulda Als weitere Impulse waren der geplante Neubau einer Mensa und die Campus-Neugestaltung hinzugekommen. Diese Bauaktivitäten stellten sich als optimale Möglichkeit dar, bisherige, eher vereinzelte Aktivitäten im Bereich der Gesundheitsförderung zu bündeln, Akteure zu vernetzen und das Projekt „Gesundheitsfördernde Hochschule Fulda“ (GFH) zu initiieren.
3.2
Ziele und Struktur
Leitidee der Gesundheitsfördernden Hochschule Fulda ist die Umsetzung des von der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO) propagierten Konzeptes gesundheitsfördernder Hochschulen in Form eines Good-practice-Modells5. Begleitet durch wissenschaftliche Forschung soll unter Einbindung der personalen und organisationalen Kompetenzen gezeigt werden, dass ein ganzheitlicher Ansatz, der verhaltens- und verhältnispräventive Ansätze verbindet, zielführend und nachhaltig zu einem verbesserten, weil gesundheitsförderlichen Studier-, Arbeits- und Lebensumfeld führen kann. Forschung und Lehre gehen daher eine enge Verknüpfung ein. Ein weiteres Ziel und Prinzip der GFH ist es, offen zu sein für Anregungen durch die Hochschulmitglieder oder für die Teilnahme an aktuellen Aktivitäten. Hierfür ergaben sich im Verlauf der Arbeit der GFH zahlreiche Gelegenheiten. Zunächst musste für das Projekt ein formeller und organisatorischer Rahmen geschaffen werden. Erste Ziele des Projektes waren daher:
die Bekanntmachung des Vorhabens an der gesamten Hochschule und
die Etablierung eines Arbeitskreises „Gesundheitsfördernde Hochschule Fulda“.
Des Weiteren musste eine Projektstruktur (Abb. 3.1) aufgebaut werden. Diese basierte auf Vorschlägen, die in einer Masterarbeit zur Konzeption einer gesundheitsfördernden Hochschule gemacht wurden6. Dabei wurde sich im Wesentlichen an den Überlegungen von Faller zu Strategien der Kompetenzbildung und Organisationsentwicklung gesundheitsfördernder Hochschulen orientiert7.
5
vgl. www.who.int/healthpromotion/conferences/previous/jakarta/declaration/en; Stand: 01.03.2008
6
vgl. Reichelt, A., 2008
7
vgl. Faller, G., 2006, S. 57-79
Hochschule Fulda
Abb. 3.1
149
Projektstruktur Gesundheitsfördernde Hochschule Fulda; Quelle: eigene Darstellung
Ausgehend von dieser Masterarbeit wurde durch die betreuenden Professoren ein Drittmittelantrag beim Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz gestellt. Dessen Bewilligung ermöglichte die Etablierung des Forschungs- und Entwicklungsprojekts „Gesundheitsfördernde Hochschule Fulda“ (GFH) und war die finanzielle Grundlage für die ersten drei Jahre. Mit den gewährten finanziellen Mitteln konnte eine Koordinationsstelle mit einer halben Stelle besetzt und das Projekt somit auf organisatorisch sichere Beine gestellt werden. Aufgrund der hohen Akzeptanz der geleisteten Projektarbeit und der eingetretenen Dynamik im Bereich Gesundheitsförderung an der Hochschule Fulda entschied das Hochschulpräsidium, dieses Projekt an der Hochschule zu verstetigen, zeitnah mit thematisch relevanten Abteilungen zu vernetzen und mittelfristig in die bestehende Organisationsstruktur der Hochschule einzubinden. Praktisch bedeutete dies die nachhaltige Einbindung der Aktivitäten der GFH in die Hochschule Fulda, als Teil der Hochschulorganisation, jetzt finanziell getragen durch die Hochschule Fulda und die Techniker Krankenkasse, für weitere drei Jahre. Grundprinzip der Projektarbeit war es, vorhandene Strukturen zu nutzen, um die Entstehung von Parallelstrukturen zu vermeiden. Außerdem wurde aus Gründen der Synergie und Akzeptanzsicherung auf vorhandene Akteure und Aktivitäten zurückgegriffen. Dennoch war der Aufbau einiger neuer Strukturkomponenten notwendig. Zunächst wurde von der Projektleitung die Koordinationsstelle mit einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin besetzt, deren Aufgabe es war, alle bereits vorhandenen Akteure, Aktivitäten und Ressourcen zusammenzuführen und zu nutzen beziehungsweise neue zu akquirieren. Inzwischen hat sich diese Stelle auch in ihrer Funktion als Ansprechpartner und Koordinator etabliert und wird von Studierenden wie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern intensiv kontaktiert. Die Kompetenzen der
150
Gesundheitsmanagement
Koordinationsstelle werden inzwischen regelhaft in Prozesse der Verwaltungsorganisation (zum Beispiel Präsidium, Personalrat, AStA8, Personalentwicklung, Baukommission, familiengerechte Hochschule, Mensa-Team) und die Organisation der Fachbereiche eingebunden. So konnten im Bereich der Gesundheitsförderung erste Schritte zur Vernetzung aller Beteiligten und zur Bearbeitung anstehender Entscheidungen und Maßnahmen im Sinne einer Querschnittsaufgabe gegangen werden. In einem zweiten Schritt wurde ein Arbeitskreis „Gesundheitsfördernde Hochschule Fulda“ etabliert. In ihm fanden sich Vertreter und Vertreterinnen aller relevanten Personengruppen und Organisationseinheiten der Hochschule:
Präsidium (Präsident und Vizepräsidenten),
Personalrat,
AStA,
Mensa-Planung und Gebäudemanagement,
Arbeitssicherheit und
Hochschulsport.
Die Aufgabe des Arbeitskreises war es, Impulsgeber und Garant für die Einbindung der Hochschulorganisation sowohl auf akademischer wie auch auf der Verwaltungsebene zu sein sowie die operative Arbeit des Projektteams zu unterstützen. Im Durchschnitt fanden ein bis zwei Sitzungen des Arbeitskreises pro Semester statt. Die behandelten Inhalte gingen weit über die ursprünglichen Themen der Mensa- und Campusgestaltung hinaus. Sämtliche gesundheitsrelevante Themenstellungen, die an den Arbeitskreis herangetragen wurden, wurden aufgenommen und bearbeitet. Parallel dazu wurde eine Steuerungsgruppe Gesundheitsfördernde Hochschule Fulda etabliert, in der die Projektleitung, das Präsidium, Vertreter aller Fachbereiche, das Personalmanagement, der Hochschulsport, der Personalrat, der AStA sowie Schwerbehinderten-/ Frauenbeauftragte vertreten waren. Aufgabe dieses in der Regel einmal pro Semester tagenden Gremiums war es, strategische Rahmenentscheidungen zu treffen und Maßnahmen zu beschließen. Im Zuge der Etablierung und Verstetigung der Gesundheitsfördernden Hochschule Fulda wurden die beiden Gremien Arbeitskreis und Steuerungsgruppe in einem Gremium zusammengefasst, um zeitliche und personelle Ressourcen zu schonen. Das nun neugefasste Steuerungsgremium ist, unter Wahrung der Repräsentanz aller Personen- und Statusgruppen, als Austausch- und Entscheidungsgremium weiterhin für die Zielvorgaben und die Festsetzung der durchzuführenden Maßnahmen zuständig.
8
AStA: Allgemeiner Studierendenausschuss; die durch die Studentenschaft gewählte Vertretung der Studierenden
Hochschule Fulda
151
Von Anfang an zeigte sich, dass regelmäßige Teambesprechungen zwischen Projektkoordinatorin und Projektleitung (den beiden das Projekt initiierenden Professoren) sowie den mitarbeitenden Praktikantinnen, Praktikanten und Studierenden unerlässlich sind. Hierzu wurde ein wöchentlich stattfindender Jour fixe eingerichtet, in dem aktuell anfallende Entscheidungen und Arbeiten sowie kurzfristig zu lösende Probleme besprochen und bearbeitet werden. Je nach Fragestellungen werden auch weitere Personen zu diesen Treffen hinzugezogen. Dieses Gremium hat sich zur wichtigsten operativen Arbeitseinheit entwickelt, die die Arbeit der Projektkoordinatorin maßgeblich unterstützt. Durch das Team werden Sichtweisen erweitert und aktuell notwendige Entscheidungen zeitnah getroffen, Zuständigkeiten und Arbeitsaufgaben unter synergetischen Gesichtspunkten zugeteilt und bearbeitet. Die Projektkoordination muss dabei im operativen Alltagsgeschäft häufig auf informellem Wege flexibel, schnell und manchmal unkonventionell erfolgen, um die komplexen, bereichsübergreifenden und zum Teil neuen Aufgaben von settingbezogener Gesundheitsförderung effektiv und nachhaltig etablieren und umsetzen zu können. Um unterschiedliche gesundheitsrelevante Themen partizipativ zu erarbeiten und Lösungswege unter Einbindung der Betroffenen (Empowerment) zu finden, wurden von der Steuerungsgruppe im Rahmen und auf Initiative des Projektes zahlreiche Gesundheitszirkel einberufen. Diese stellen ein Instrument dar, das sich in der betrieblichen Gesundheitsförderung seit Langem bewährt und als sehr produktiv erwiesen hat.9 Auch im Rahmen gesundheitsfördernder Hochschulen wurden sie bereits erfolgreich eingesetzt10. Die dort eingesetzten Gesundheitszirkel, wie auch die an der Hochschule Fulda, arbeiten überwiegend auf Grundlage des Düsseldorfer Modells nach Slesina11. Dies bedeutet, dass konkrete gesundheitsrelevante Themen in Gesundheitszirkeln mit den jeweiligen „Experten“ und „Betroffenen“ bearbeitet werden. Dadurch können am ehesten zeitnahe, effektive und weitgehend akzeptierte Problemlösungen und Maßnahmen erarbeitet werden. Um die genannten Aktivitäten zu unterstützen, wurde mit Beginn des Projekts eine eigene Homepage aufgebaut, die aktuell sowohl allgemeine gesundheitsbezogene als auch spezielle Informationen zum Projekt und seinen Aktivitäten für die Hochschulmitglieder bereitstellt und deren Zugang zum Projekt erleichtert (www.hs-fulda.de/GFH).
3.3
Arbeitsweisen
Die Arbeitsweise der Gesundheitsfördernden Hochschule Fulda folgt, wie bereits beschrieben, dem Setting-Ansatz (Abb. 3.2), der mit der Verabschiedung der Ottawa-Charta im Jahr 1986 von der WHO als die Schlüsselstrategie der Gesundheitsförderung propagiert wird12.
9
vgl. Slesina, W., 2001
10
vgl. Meier, S., 2007, S. 71-79, Unold, K., Walter, U., 2007
11
vgl. Slesina, W., 2001
12
vgl. www.who.int/healthpromotion/conferences/previous/ottawa/en/print.html; Stand: 26.02.2007
152
Gesundheitsmanagement
Einbezogen werden dabei alle Statusgruppen der Hochschule, da die Einbeziehung der gesamten Organisationsmitglieder eine besonders erfolgversprechende Strategie darstellt13. Zur Bearbeitung der Fragestellungen, Aufgaben und Probleme sollen entsprechend einer Kombination des Bottom-up- und des Top-down-Ansatzes14, also dem so genannten Parallel tracking15, alle Betroffenen direkt oder durch entsprechende Vertreter eingebunden und somit Partizipation ermöglicht werden. Die vorhandenen Kompetenzen sollen genutzt und Maßnahmen im Sinne eigenverantwortlichen Verhaltens entwickelt und umgesetzt werden. Auf die positiven Auswirkungen von Partizipation und Empowerment im Bereich der Gesundheitsförderung weisen eine Vielzahl von Studien hin16.
Es wird unterschieden zwischen „Gesundheitsförderung in einem Setting“ und „gesundheitsförderndem Setting“. Gesundheitsförderung in einem Setting meint die Durchführung verhaltensorientierter Maßnahmen, in deren Mittelpunkt das Individuum steht, zum Beispiel die Durchführung eines Gesundheitstages. Gesundheitsfördernde Settings hingegen setzen einen Politik- und Strategiewechsel voraus. Sie schließen die gesamte Organisation und alle Mitglieder des Settings ein und sind in erster Linie verhältnisorientiert. Die Gesundheitskultur des gesamten Settings steht im Mittelpunkt. Die Evaluation der gesundheitsfördernden Maßnahmen ist unerlässlich.
Abb. 3.2
Gesundheitsförderung in einem Setting – gesundheitsförderndes Setting; Quelle: eigene Darstellung
13
vgl. Wallerstein, N., 2006
14
„Bottom-up“ ist eine Verfahrensweise, bei der die unmittelbar Betroffenen motiviert werden, ihre eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen zu nutzen und einzubringen, um Problemlösungen sowie Veränderungsvorschläge in der Aufbauorganisation von „unten“ nach „oben“ anzuregen. Im Gegensatz dazu gehen beim „Topdown“-Ansatz die Veränderungsimpulse von den übergeordneten Hierarchieebenen aus.
15
„Parallel tracking“ meint die alltagsorientierte Verwendung beider Ansätze, da es je nach Themenstellung und Problematik die Vorzüge des jeweiligen Ansatzes zu nutzen beziehungsweise deren Nachteile zu vermeiden gilt.
16
vgl. Wallerstein, N., 2006
Hochschule Fulda
153
Der gesamte Arbeitsprozess orientiert sich am Public Health Action Cycle17:
Abb. 3.3
Evaluation
Analyse
Umsetzung
Planung
Public Health Action Cycle; Quelle: eigene Darstellung, basierend auf Ruckstuhl et al., Förderung der Qualität in Gesundheitsprojekten. Der Public Health Action Cycle als Arbeitsinstrument, Bern 1997
Nach der Analyse der Ausgangssituation mittels Erhebung von Basisdaten zur Ermittlung von Bedarf, Wünschen und Ressourcen erfolgt nach Ableitung kurz-, mittel- und langfristiger Ziele die Planung entsprechender Maßnahmen. Nach deren Umsetzung erfolgt eine Evaluation mit dem Ziel, situationsangepasste, optimierte Maßnahmen erneut zu benennen und gegebenenfalls umsetzen zu können. Grundlage der Arbeit ist die interne Vernetzung mit Akteuren und deren Aktivitäten in gesundheitsrelevanten Bereichen. Besonderer Wert wird darauf gelegt, dass die gesundheitsfördernde Hochschule als Koordinationsinstanz in Fragen der Gesundheit und Gesundheitsförderung verstanden wird, um synergistisch und effizient gestaltend für gesundheitsfördernde Rahmenbedingungen an der Hochschule Fulda einzutreten. Die Zusammenarbeit mit der Hochschulleitung ist dabei unerlässlich. Darüber hinaus ist für die Durchführung und Akzeptanz der erarbeiteten Maßnahmen die Unterstützung durch die Interessenvertretungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und der Studierenden – Personalrat und AStA – zwingend notwendig. Zu besonderen Themen und Fragestellungen gibt es intensive Kontakte und eine enge Zusammenarbeit, zum Beispiel mit dem Bereich Hochschulsport, dem Gebäudemanagement oder speziellen Arbeitsgemeinschaften (etwa der Arbeitsgemeinschaft Nachhaltigkeit). Prinzipiell werden Kontakte zu möglichst allen Einrichtungen an der Hochschule ge-
17
vgl. Habicht, J., 1999, S. 10-18
154
Gesundheitsmanagement
sucht, um deutlich zu machen, dass Gesundheitsförderung als eine Querschnittsaufgabe des Settings Hochschule zu betrachten ist. Auch die externe Vernetzung ist ein wichtiger Aspekt in der Arbeit einer gesundheitsfördernden Hochschule18. Im Sinne des 10. Gütekriteriums für gesundheitsfördernde Hochschulen, aufgestellt vom bundesweiten Arbeitskreis Gesundheitsfördernder Hochschulen19, hat sich die Hochschule Fulda sowohl mit anderen Hochschulen als auch Institutionen in der Region vernetzt. Ganz oben steht die deutschlandweite Vernetzung mit dem bundesweiten Arbeitskreis Gesundheitsfördernde Hochschulen, über den Kontakte zu anderen Hochschulen hergestellt und gepflegt werden. Ein weiteres zentrales Anliegen der GFH ist die wissenschaftliche Begleitforschung unter Einbindung von Studierenden und damit einhergehend eine enge Verknüpfung von Forschung und Lehre. Die Vernetzung von Theorie und Praxis, von Forschung und Lehre steht dabei im Vordergrund. Dadurch werden auf vielfältige Weise wissenschaftliche Lehrinhalte und Forschungsergebnisse in die eigene Arbeits- und Lebenswelt „Hochschule“ übertragen.
3.4
Arbeitsfelder
Wie bereits erwähnt, war der geplante Mensa-Neubau Impulsgeber zur Entwicklung des Projekts der Gesundheitsfördernden Hochschule Fulda. Daher wurde zunächst bei der Neukonzeption der Mensa und ihres Verpflegungsangebotes mit gesundheitsfördernden Maßnahmen angesetzt. Unter Beteiligung der zukünftigen Nutzer der Mensa sowie der Hochschulleitung und dem Mensa-Betreiber wurden Anforderungen und Wünsche an die künftigen Angebote formuliert. So wurde besonderer Wert darauf gelegt, dass die neue Mensa:
eine dem studentischen Leben angemessene, gesunde und ökologisch einwandfreie Verpflegung anbietet,
den Ernährungsansprüchen der Verwaltung und Lehrenden gerecht wird,
den hohen Ansprüchen an die Verarbeitung und Herkunft der Lebensmittel entspricht,
weitestgehend auf Fertigprodukte verzichtet sowie
die eigene Gemüse- und Salatvorbereitung vor Ort berücksichtigt.
Zu diesen initialen Aktivitäten kamen in den folgenden Jahren zahlreiche hinzu. Es wurden Datenerhebungen zur Statusbestimmung und Bedarfsanalyse beispielsweise zu folgenden Themen durchgeführt:
18
vgl. www.who.int/healthpromotion/conferences/previous/jakarta/declaration/en; Stand: 01.03.2008
19
vgl. www.gesundheitsfoerdernde-hochschulen.de/HTML/D_GF_HS_national/D2_Guetekriterien1.html; Stand: 11.03.2008
Hochschule Fulda
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Verpflegungsangebot an der Hochschule Fulda,
Bewegungsförderung,
Stressbelastung Studierender,
Arbeitssituation der administrativ-technischen und wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an der Hochschule Fulda,
externes Netzwerk Ernährungsbildung.
Aus den Ergebnissen der Statuserhebungen wurden Maßnahmenkataloge zur Verbesserung der gesundheitsfördernden Strukturen und Angebote der Hochschule Fulda formuliert und bereits teilweise umgesetzt. Konkret waren dies im Bereich des Verpflegungsangebots:
Festschreibung der Wünsche der Mensa-Nutzer aus dem Onlinefragebogen im Nutzungs- und Überlassungsvertrag zwischen Hochschule und Mensa,
Etablierung eines Runden Tisches zwischen Hochschule Fulda und dem MensaBetreiber,
Konzeptvorschlag zur Einrichtung zusätzlicher kostenfreier Tafelwasseranlagen auf dem Campus.
Im Bereich der Bewegungsangebote an der Hochschule Fulda arbeitete die GFH eng mit der Abteilung Hochschulsport zusammen. Folgende Maßnahmen wurden formuliert und implementiert:
„FiduS – Fit durchs Studium“: ein Angebot von Bewegungspausen in den Lehrveranstaltungen.20
„Pausenpower“: 20-minütiges Bewegungsangebot des Hochschulsports für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Mittagspause.
Bewegungsanregungen per E-Mail an interessierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter innerhalb der Arbeitszeit.
Zum Themenkomplex „Stressbelastung Studierender“ entwickelte sich aus einem Gesundheitszirkel eine studentische Interessengruppe, die Verbesserungsvorschläge für unterschiedliche Themen erarbeitet und nach Möglichkeit auch umsetzt. Zur Arbeitssituation administrativ-technischer und wissenschaftlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an der Hochschule Fulda wurde in enger Zusammenarbeit mit dem Personalmanagement eine Onlinebefragung durchgeführt. Anhand der Auswertung der Befragung konnten Bereiche identifiziert werden, bei denen Verbesserungs- und Handlungsbedarfe bestehen. So zum Beispiel in den Themen-
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„FiduS – Fit durchs Studium“ ist ein an der Hochschule Fulda entwickeltes, als Marke angemeldetes Angebot für angeleitete Bewegungspausen in Lehrveranstaltungen. Die Bewegungspausen dauern ca. fünf Minuten, werden von ausgebildeten FiduS-Übungsleiterinnen und -Übungsleitern durchgeführt, können unter Berücksichtigung von Raumgröße, Zielrichtung der Übungen sowie Behindertengerechtigkeit online gebucht werden. Auch Videoclips stehen zur Verfügung.
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Gesundheitsmanagement
bereichen Führung und Gesundheit, Befristungen von Arbeitsverhältnissen bei wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und dem Themenkomplex der Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie weitere Aspekte der so genannten Work-Life-Balance. Basierend auf diesen Erkenntnissen werden aktuell – unter anderem auch im Rahmen von Gesundheitszirkeln – eine Reihe von Handlungsempfehlungen erarbeitet und zur Implementierung empfohlen.
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Fazit und Ausblick
Die Gesundheitsfördernde Hochschule Fulda sah und sieht weiterhin ihre Rolle darin:
das Thema Gesundheit in der Hochschule wahrnehmbar zu machen,
die Koordination von Aktivitäten im Bereich der Gesundheit zu übernehmen,
mit hochschulinterner und externer Gesundheitskompetenz zu beraten und zu vermitteln sowie in Fragen der Gesundheit eine Anschub- und Impulsgeberfunktion zu übernehmen.
Um diese Aufgaben wahrnehmen zu können, sind folgende strategische Ansatzsatzpunkte weiterzuverfolgen:
organisatorische Verankerung in der Verwaltungsstruktur der Hochschule,
Berücksichtigung des Querschnittthemas Gesundheit in sämtlichen administrativen Prozessen der Hochschule (Health mainstreaming),
Einbettung des Querschnittsthemas Gesundheit in den Qualitätsmanagement-Prozess.
Aber auch inhaltlichen Ansatzpunkten muss nachgegangen werden, wozu gehören:
die Favorisierung eines ressourcenorientierten Ansatzes der Gesundheitsförderung21, in Ergänzung und Ausweitung des risikofaktorenorientierten Ansatzes22, beispielsweise im Arbeitsschutz (Prävention und Gesundheitsförderung),
die weitere Sensibilisierung der Entscheidungsträger der Hochschule für gesundheitliche Belange,
21
Ressourcenorientierter Ansatz in der Gesundheitsförderung meint im Sinne Antonovskys die Ausnutzung und Förderung vorhandener Möglichkeiten und Kompetenzen, aber auch die Schaffung neuer Chancen zur Verbesserung gesundheitsförderlicher Rahmenbedingungen.
22
Der risikofaktorenorientierte Ansatz meint die Vermeidung und Eliminierung von gesundheitsgefährdenden Situationen und Rahmenbedingungen.
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ein pfleglicher und gesundheitsorientierter Umgang mit Ressourcen der Beschäftigten und Studierenden (Human capital approach),
die Einhaltung von Grundsätzen der Anforderungsgerechtigkeit (Effort-reward imbalance).
Hochschulen und Universitäten haben nicht nur ein enormes Potenzial, sondern sie sollten auch die gesellschaftlich notwendige Aufgabe wahrnehmen, sowohl im eigenen Setting gesundheitsfördernd tätig zu werden wie auch als Multiplikatoren der Gesundheitsförderung nach außen zu wirken. Gesundheitsfördernde Hochschulen stellen die konsequente Weiterführung entsprechender Aktivitäten in anderen Settings (Unternehmen, Schulen) dar. Die spezifischen Strukturen und Voraussetzungen an Hochschulen erlauben jedoch nicht die simple Übertragung von Strukturen und Konzepten aus anderen Bereichen. Auch werden Inhalte und Umsetzung gesundheitsfördernder Maßnahmen an Hochschulen so unterschiedlich ausfallen wie die einzelnen Hochschulen selbst sind. Daher gibt es nicht „die gesundheitsfördernde Hochschule“, sondern immer nur passgenaue Varianten. Generell ist eine gesundheitsfördernde Hochschule jedoch nicht statisch, sondern ständig im Fluss und immer ausgerichtet auf und durch ihre Mitglieder.
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Literatur
Faller G.: Gesundheit und Arbeit aus Sicht der verschiedenen Statusgruppen an Hochschulen, in: Faller G., Schnabel P.-E. (Hrsg.): Wege zur gesunden Hochschule. Edition sigma, Berlin 2006, S. 35-56 Faller G.: Hochschulgesundheit als Projekt: Strategien der Kompetenzbildung und Organisationsentwicklung, in: Wege zur gesunden Hochschule. Edition sigma, Berlin 2006, S. 57-79 Habicht J.: Evaluation designs for adequacy, plausibility and probability of public health programme performance and impact, in: International Journal of Epidemiology 1999, (28) 1, S. 10-18 Laverack G. (Hrsg.): Gesundheitsförderung & Empowerment – Grundlagen und Methoden mit vielen Beispielen aus der praktischen Arbeit. Verlag für Gesundheitsförderung, WerbachGamburg 2010 Meier S.: Gesundheitszirkel im Setting Hochschule, in: Krämer A., Sonntag U., Steinke B., Meier S., Hildebrandt C. (Hrsg.): Gesundheitsförderung im Setting Hochschule. Juventa, München 2007, S.71-79
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Gesundheitsmanagement
Reichelt A.: Konzeptionelle und praktische Überlegungen zum Aufbau einer Gesundheitsfördernden Hochschule Fulda – unter besonderer Berücksichtigung des Aspekts Ernährung. Hochschule Fulda, Fachbereich Oecotrophologie, Fulda 2008 Slesina W.: Evaluation betrieblicher Gesundheitszirkel, in: Pfaff H., Slesina W. (Hrsg.): Effektive betriebliche Gesundheitsförderung. Juventa, München 2001 Unold K., Walter U.: Universität Bielefeld – Konzepte für eine gesunde Hochschule, in: Krämer A., Sonntag U., Steinke B., Meier S., Hildebrandt C. (Hrsg.): Gesundheitsförderung im Setting Hochschule. Juventa, München 2007 Wallerstein N.: What is the evidence on effectiveness of empowerment to improve health? Copenhagen, WHO Regional Office for Europe (Health Evidence Network Report) 2006, Stand: 18.03.2008, www.euro.who.int/Document/E88086.pdf Quellen Arbeitskreis Gesundheitsfördernde Hochschulen, Stand: 11.03.2008 www.gesundheitsfoerderndehochschulen.de/HTML/D_GF_HS_national/D2_Guetekriterien1.html www.fh-fulda.de/index.php?id=2184 www.fh-fulda.de/index.php?id=6389 Stand: 05.06.2014 WHO, Jakarta 1997, Stand: 01.03.2008 www.who.int/healthpromotion/conferences/previous/jakarta/declaration/en WHO, Ottawa 1986, Stand: 26.02.2007 www.who.int/healthpromotion/conferences/previous/ottawa/en/print.html
Zur Theorie des Gesundheitsmanagements im demografischen Wandel verweisen wir auf das Lehrbuch „Erfolgreiches Personalmanagement im demografischen Wandel“ von Dagmar Preißing (Hrsg.), 2. Auflage, das 2014 bei De Gruyter Oldenbourg erschienen ist, ISBN 9783-11-035124-8.