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German Pages 405 [408] Year 1996
Thomas Althaus Epigrammatisches Barock
Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als
Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von
Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer
Herausgegeben von
Ernst Osterkamp und Werner Röcke
9 (243)
W DE G Walter de Gruyter · Berlin · New York
1996
Epigrammatisches Barock von
Thomas Althaus
W DE G Walter de Gruyter · Berlin · New York
1996
Textredaktion Jörg Gallus
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
Die Deutsche Bibliothek -
CIP-Einheitsaufnahme
Althaus, Thomas: Epigrammarisches Barock / von Thomas Althaus. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1996 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte ; 9 = (243)) Zugl.: Münster, Univ., Habü.-Schr., 1995/96 ISBN 3-11-015433-1 NE:GT
ISSN 0946-9419 © Copyright 1996 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen Printed in Germany Einbandgestaltung: Sigurd Wendland, Berlin Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin
für Birgit
Vorwort Die Arbeit hat im Wintersemester 1995/96 dem Germanistischen Institut der Universität Münster als Habilitationsschrift vorgelegen. Für den Druck ist wenig geändert worden, nur das Schlußkapitel wurde erweitert. Inzwischen erschienene Forschungsliteratur konnte nicht mehr berücksichtigt werden. Hinweise zur Texteinrichtung und Zitation: Mit Ausnahme der Majuskeln werden graphische Hervorhebungen (Frakturvarianten, Antiqua, Fett- und Sperrdruck, Kursivierung, Kapitälchen und allgemein von der Grundschrift abweichende Schriftgrade) durch Kursivierung wiedergegeben. Geminationsstriche, Überschreibungen des Umlautes, Ligaturen werden aufgelöst, Initialen und Versalien normalisiert. Die Virgel ist durchgehend ohne Abstand zum voranstehenden, mit Abstand zum folgenden Wort gesetzt. Den Versumbruch kennzeichnet der Längsstrich. Konjekturen und Zusätze erscheinen in eckiger Klammer. Übersetzungen sind durch einfache Anführungen gekennzeichnet. Ich habe auf die tätige Hilfe vieler in vielen Situationen vertrauen können. Matthias Moehrs sah Teile des Manuskripts durch. Cordula Braun, Esther Tischler und Sigrid Wolf halfen bei der Texteinrichtung. Jörg Gallus erstellte die Druckvorlage. Den Herausgebern der „Quellen und Forschungen" sei für die Aufnahme in die Reihe gedankt. Bedeutende Förderung habe ich durch meinen Münsteraner Lehrer Helmut Arntzen und durch meinen Kollegen und Freund Eckehard Czucka erfahren. Ohne den Rückhalt, den ich an meiner Frau hatte, wäre wenig zustande gekommen. Ihr sei diese Arbeit gewidmet.
Münster, im Sommer 1996
Th.A.
Inhalt
Vorwort
VII
I. TEIL. ZERBROCHENE ERKENNTNIS Einleitung Negative Voraussetzungen - Versteckte Epigramme Epigrammatischer Sprechansatz und Theorie des Epigramms Enthymeme - Rückkehr zur Gattungsbestimmung
II. TEIL. GATTUNGSPARADIGMA EPIGRAMM 1. Konstellation des Schreibens. Die Epigramme in den "Teutschen Poemata" von Martin Opitz
51
Epigrammatisches Mosaik - Vers und Reim: Genese poetischen Sprechens - Denkumstellung und Deutungsunsicherheit - Epigramme, "allezeit anders als wir verhoffet netten" 2. Weg Herrlin, weg kherlin. Der implizite Komparativ der Gattung und Weckherlins Negationen Epigrammatisches Korrektiv - Konzentrationen des Poetischen Konkurrenz mit Opitz - Negationen
83
Inhalt
III. TEIL. EPIGRAMMATISCHE FORMATIONEN 3. Schickliche Fügung. Friedrich von Logaus "Deutscher Sinn=Getichte Drey Tausend"
115
Minderung, Erhöhung des Gattungsanspruchs - "Sensualische Sprache" - Spruchweisheit - Identität und Kongruenz
4. Poetae minores? Reihenbildung und Variation
151
Wiederholungen - Analogien bei Gryphius - Emblematik - Anagramme
5. Allegorien. Sigmund von Birkens "XII Dutzet Kurze Tagseufzer/ in soviel Quadrains oder Vierreimen begriffen"
185
Zufällige Andachten - Barocke Allegorie - Widersprüche des Glaubens - "Redgebände"
Exkurs: Atome und Buchstaben
219
Literarische Induktionen - Natur und Sprache - Grammatik der deutschen Sprache - Auflösung der Grammatik der deutschen Sprache
IV. TEIL. EXTREME 6. Widerspruch als Lösung. Die gattungsgeschichtliche Pointe des geistlichen Epigramms in Johannes Schefflers "Cherubinischer Wandersmann oder Geist=Reiche Sinn= und Schluß=Reime zur Göttlichen beschauligkeit anleitende" Unmögliche Sprunge - Extreme Gegensätze, Umkehrungen Sterben, Leben - Das Hin und Her - Das Echo Gottes Größte Schwierigkeit: das schlichte Vorhandensein
245
Inhalt
7. Mehrdeutiges, Zweideutiges. Radikalität und Aufhebung des Epigrammatischen in Christian Hoffmann von Hoffmannswaldaus "Poetischen Grab=Schriften" (mit Hinweisen zur Rezeption in der galanten Lyrik)
XI
285
"sonderbahr", "unverhoft", "unvergleichlich" - Wahrheit Inkohärenz und erotische Fixierung - Die Neukirchsche Sammlung
V. TEIL. KRITIK DES EPIGRAMMS 8. Gemäßigte argutia. Kontrolle des Epigrammatischen in Christian Wernickes "Uberschrifften"
315
"Verstand" als Kategorie der Textkritik - Pritschmeisterei? Deutlichkeit - Gattungskritik -Übergang zur Prosa
Schluß
345
Bibliographie
359
Personenregister
391
I. TEIL. ZERBROCHENE ERKENNTNIS
Einleitung Bereits bei Justus Lipsius, in seinem Traktat „Von der Bestendigkeit" (1599), finden sich die 'barocken Sätze' über „Krieg/ Rauben/ Morden/ Plackerey/ Pestilentz/ Hunger/ &c.",' in denen man den Krieg von 30 Jahren, von 1618-1648, zu erkennen meint: Du sihest das allenthalben die Ecker verwüstet/ die Dörffer zerrissen vnd geplündert/ die Städte angezündet vnnd vmbgekehret/ die Leute gefangen vnd zu Todt geschlagen: die ehrliche Weiber geschendet/ die Jungfrawen weniger gemacht werden: vnnd was sonsten mehr im Kriege zu folgen pfleget (B, Bl. 20)
Europa, das ist „entweder Krieg/ oder envartung deß Krieges" (B, Bl. 130). Zwar ließen sich diese Sätze von Lipsius ihrerseits auf „das Elend des Niderlandes" in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zurückbeziehen. Einer Figur aber, die so argumentiert, wird heftig widersprochen: „Du sagst/ das diese vnsere zeit die aller vnglückseligste sey. Ho/ ho/ das ist ein alt Lied." (B, Bl. 131) Zum Erweis der Kontinuität des Schrecklichen - als der einzigen Kontinuität, die es gibt - wird eine Geschichte der Massenmorde entworfen. Die Zahl der erschlagenen Israeliten während der römischen Unterdrückung wird genannt: „Die gantze Summ/ (vber die so vnzelich viel durch hunger/ elend vnnd jammer vmbkommen) thut Zwölf/hundert vnd viertzig tausent" (B, Bl. 133f.) JEilff hundert/ vnd zwey vnd neuntzig tausent Menschen" hat Caesar „in seinen Kriegen zu todt geschlagen", „vnd zwar Rhumsweise" - „behüte Gott welch ein Pest vnd verderb deß Menschlichen Geschlechts ist der gewesen" (B, Bl. 135). Der Volesus Mesalla, als er Proconsul Asiae war/ hat in einem tage drey hundert mit dem Beil richten lassen/ vnnd darnach die Hende auff den Rücken geleget/ zwischen den entleibten aus hoffart herümb spatziret/ als wann er eine großmechtige herrliche That begangen/ vnnd geruflen: Das ist ein rechtschaffen Königlich stücklein. (B, Bl. 143)2
Justus Lipsius: Von der Bestendigkeit [De Constantia]. Faksimiledruck der deutschen Übersetzung des Andreas Viritius nach der zweiten Auflage von c. 1601 mit den wichtigsten Lesarten der ersten Auflage von 1599. Hrsg. von Leonard Forster. Stuttgart 1965. Vorrede an den Leser. o.S. Im fortlaufenden Text nachgewiesen mit der Sigle: B. Lipsius zitiert hier Seneca: De ira. Lib. II. 5. Vgl. L. Annaeus Seneca: Philosophische Schriften. Bd. 1. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Manfred Rosenbach. Darmstadt 1976. S. 96-311, hier S. 157. Lucius Valerius Messalla Volesus war 11 oder 12 v. Chr. Prokonsul der römischen Provinz Asia.
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Zerbrochene Erkenntnis. Einleitung
Krieg ist der Charakter von Welt, das Erscheinen ihres Wesens, keineswegs etwas Abnormes (eine Norm ist einfach nicht angebbar). Er macht erkennbar, was wir sind, nämlich „gleichsam als in einem vngestümmen Meer von den Winden der mancherley Aufflauff vnnd Auffruhr hie vnd dorthin geworffen vnnd getrieben/ also/ das man nirgend sicher oder ruhsam sein oder wohnen mag." (B, Bl. 2) Ebenso herrscht unter den „Elementen" Krieg („dann auch diese gegeneinander zu Felde ligen" [B, Bl. 46]), und im Menschen selbst geht es „nicht anders daher/ als wann jmmer zwey theil gegen einander zu Felde legen/ vnd alle stunde mit einander scharmützelten" (B, Bl. 12). Daß der Seneca-Herausgeber Lipsius dann aber „Stoische reden" (B, Bl. 34) führt, mit übrigens großer Wirkung in der Zeit, ist mehr denn lediglich ein Versuch, eine alte Philosophie zu restituieren. Angesichts der Situation ist es die Suche im Bisherigen nach einem festen Punkt des Denkens, der für „des Gemüts ruhe vnd Bestendigkeit gleichsam in einer rechtmessigen/ gleichhengenden Wagschalen" (B, Bl. 18) sorgen kann. Constantia wird verändert von einer bestimmten philosophischen Perspektive zur grundsätzlichen Voraussetzung, philosophieren zu können. Die entscheidende Differenz zur antiken Stoa, deren Argumentationen ja eigentlich nur fortgeführt werden, liegt mit der Totalität der Perspektive nun darin, daß Philosophie nicht mehr als weltdefinierender Bereich ihre Prinzipien setzen und auf deren Befolgung, weil sie das Gemäße wäre, dringen kann. Denn eigentlich dürfte man nur noch, was abgelehnt wird, „halbe vnd zerbrochene wort" (B, Bl. 35) sprechen. Philosophie ist bei Lipsius bewußte Inkonsequenz geworden, für alle Fälle des Irdischen jedenfalls. Der neustoische Ansatz zeigt zu Beginn des 17. Jahrhunderts die Denktradition als dem Geschehen unvermittelbares Postulat. Diesem neuen Denken ist dann allerdings nichts entsprechender als ein „Krieg/ 30. geschlagener Jahr aneinander"3. Er läßt, wie jetzt gedacht wird, im Tun erscheinen. Dabei bleibt unsicher, was er als historische Erfahrung im einzelnen gewesen ist. Die Verwüstung der Pfalz durch die Truppen Ludwig XIV. im Frühjahr 1689 scheint als ein Schreckensdatum einschneidender gewirkt zu haben. Hingegen verbinden sich mit dem Dreißigjährigen Krieg Gewöhnungen an den Schrecken. Die Katastrophe als Lebensform: der Pfarrer Michael Lebhardt im Pfarrdorf Agawang, nahe Augsburg, stellt am 3. Februar 1635, zur Zeit der schwedischen Besetzung, als das Land hungert, eine Untersuchung unter Gemeindemit-
3
Wencel Scherffers [von Scherffenstein] Geist= und Weltlicher Gedichte Erster Theil [...] Zum Briege 1652. Zuschrift Denen Durchlauchten Hochgebornen Fürsten und Herren [...] Gebrüdem Hertzogen in Schlesien/ zur Liegnitz und Brieg. o.S.
„Krieg"
gliedern an. Es sind übrigens gottesfürchtige Leute. Lebhardt will von ihnen wissen, wieviel sie menschen verzerht, und ob sie Alles davon geeßen haben? sagten sie einhellig, sie haben zwo Weiber mit namen Barbara Mayrinn und Maria Weldeßhoverin, so vor 14 Tagen gestorben, sampt 2 Mennern, alß Oregon thüringer am 5ten Tag nach seinem tod aufiF ain mal und sitzend verzerth. Item Jacob khreiner, welcher 3 ganzer Wochen in seinem hauß unvergraben gelegen, auf zweimal hingericht, Ich fragt darüber, wie es Ihnen geschmeckht und vorkhommen were: antwortten, „es habe ihnen wohlgeschmeckht, und sey das beste an Ihnen gewesen, daß Hüm, Herz und Nieren".4
Offenbar ist die Differenz verloren zwischen dem Berichteten und dem ins Alltägliche zielenden Fragen. Dies enthebt das Geschehen dem Zufall und dem, was je den schlechten Verhältnissen geschuldet werden muß. Oder wenigstens wären die Beispiele (exempla, zu denen es keine Lehre mehr gibt) durch das 17. Jahrhundert, in den Hunger-, Kriegs- und Pestberichten der Zeit derart zu häufen, daß vor den Symbiosen des Normalen und der Katastrophe das Rückführen auf Ursachen sich erübrigt. Es droht falsch zu werden in seiner Voraussetzung erkenntnisfähiger Zusammenhänge. Der „Ordnungsgedanke des Barock"5 bleibt ein dringlich geäußerter Wunsch, „Ordnungszwang",6 „Ordnungsmetaphysik"7. 'Nichts ist schöner, nichts fruchtbarer als Ordnung.' Damit beginnt Johann Heinrich Alsted 1630 seine „ENCYCLOPAEDIA". 'Die Ordnung sorgt auf dem riesigen Theater der Welt für den Stellenwert der Dinge.'8
Zwey merkwürdige Aktenstücke über die zur Zeit des Schwedenkriegs im Winter des Jahrs 1634/35 zu Agawang geherrschte grässliche Hungersnoth. Mitgeteilt von Franz von Baader. In: Jahrs-Bericht des historischen Vereins für den Regierungs-Bezirk von Schwaben und Neuburg. Für die Jahre 1839 und 1840. Augsburg 1841. S.71f. [Ohne die Worterklärungen und die Hervorhebungen Baaders]. Erich Trunz: Weltbild und Dichtung im deutschen Barock. In: Aus der Welt des Barock. Dargestellt von Richard Alewyn, Wilhelm Boeck, Hans Heinrich Eggebrecht u.a. Stuttgart 1957. S. l bis 35, hier S. 33. Wolfram Mauser: Dichtung, Religion und Gesellschaft im 17. Jahrhundert Die 'Sonnete' des Andreas Gryphius. München 1976. S. 188. Conrad Wiedemann: Barocksprache, Systemdenken, Staatsmentalität Perspektiven der Forschung nach Bamers „Barockrhetorik". In: Internationaler Arbeitskreis für deutsche Barockliteratur. Erstes Jahrestreffen in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 27.-31. August 1973. Vorträge und Berichte. Wolfenbüttel 1973. S. 21-51, hier S. 29. Johann Heinrich Alsted: Encyclopaedia. Faksimile-Neudruck der Ausgabe Herborn 1630 mit einem Vorwort von Wilhelm Schmidt-Biggemann und einer Bibliographie von Jörg Jungmayr. Bd. 1. Stuttgart-Bad Cannstadt 1989. S. 1: „ORDINE nihil pulchrius, nihil fructuosius esse nemo non videt [...] Ordo siquidem in amplissimo hujus mundi theatro rebus omnibus conciliat dignitatem".
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Zerbrochene Erkenntnis. Einleitung Es ist etwas Göttliches um die Ordnung; selbige macht die Schönheit der Welt/ und die soll auch die Schönheit der durchgehenden Wissenschaft machen/ welche das Ebenbild des Welt=Gerüstes ist.9
Was sind Wissen und Wissenschaft diesseits des Wunsches nach solcher Erfüllung jetzt wirklich? Negative Voraussetzungen In Giordano Brunos Symposion „Das Aschermittwochsmahl" („La cena de le ceneri") von 1584 zitiert der Gelehrte alter Prägung, als nurmehr komische Figur, fragend Cicero: „Nonne a dißnitione et a nominis explicatione exordiendum, wie uns Cicero lehrt?" 'Muß man nicht mit einer Definition und Worterklärung beginnen?'10 Es macht keinen Unterschied mehr, ob man hierin den Scholastiker wiedererkennen will, der die quaestio mit der Berufung auf Autoritäten beginnt, oder den Humanisten, der sich dabei auf Cicero bezieht. Beides erscheint jetzt als ein die neuen Erkenntnisgegenstände aus der Erfahrung verstellender Nominalismus („grammatische Spitzfindigkeiten" [A, S. 84]), als das Auslassen von Empirie, für die es unter der Herrschaft der Nomenklaturen eigentlich noch gar keinen 'Titel' gibt. Die Tradition wird distanziert durch die Imitation eines Musenanrufs, der nun den „Musen Englands" gilt - „nicht Euch rufe ich an, Musen vom Helikon, die Ihr in geschwollenen und stolzen Versen sprecht" (ebd.). Gegen die „geschwollenen und stolzen Verse" können das Epigramm und die Prosa helfen. Doch ist das Epigramm eigentlich zu kurz: zu Euch, Musen Englands, spreche ich: Inspiriert mich, beseelt mich, erwärmt, entzündet mich, löst mich auf und laßt mich nicht nur mit einem kleinen, feinen, gedrängten, kurzen und bündigen Epigramm hervortreten, sondern mit einer reichen und weiten Ader langer, strömender, kräftiger und derber Prosa. (A, S. 85)
Imitiert wird mit dem Musenanruf ironisch auch die Redeweise des Abzulehnenden, wobei aber hier dem Rhetorischen eine neue Funktion zuwächst. Die rednerische Prosa eines neuen Cicero wäre eine solche, die vor der Aufbrechung des alten Weltbildes, von der gleich im Anschluß die Rede ist („Seid bitte so gut und sagt mir, was Ihr von Kopernikus 9
10
Claude Sorel: Von menschlicher Vollkommenheit [...] [Übersetzt von Johann Wilhelm von Stubenberg]. Nürnberg 1660. S. 365. Damit kritisiert Sorel aber auch schon wieder „schlechte Theilungen" in „des Alstedius Encyclopaedia" (S. 364). Giordano Bruno: Das Aschermittwochsmahl. Übersetzt von Ferdinand Fellmann. Mit einer Einleitung von Hans Blumenberg. Frankfurt a.M. 1981. S. 84. Im fortlaufenden Text zitiert mit der Sigle: A.
Negative Voraussetzungen
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haltet." [A, S. 87]), nicht verstummte. Hingegen erscheint das Epigramm in der ironischen Brechung seiner Qualität ('klein, fein, gedrängt, kurz und bündig') von einem Gattungscharakter zu einem Indikator dafür verwandelt zu sein, daß sich der, der hier in Epigrammen spräche, der neuen Situation doch nicht recht gewachsen zeigte. Bruno sucht den philosophischen Text zu wahren, gegen eine Bescheidung des Denkens auf das sehr 'Endliche' von Epigrammen, mit denen Ganzheitlichkeitsansprüche in keinem Fall zu vertreten sind. Er schreibt die „lange" und wohl auch „kräftige und derbe Prosa". Die Vermeidung des Epigrammatischen hängt sonach schwerwiegend damit zusammen, daß die positive Einschätzung durchzusetzen ist, es habe das neue Denken, wo es „die Grenzen der Welt überschritten und die erdichteten Mauern der ersten, achten, neunten, zehnten und weiteren Sphären zerstört" hat (A, S. 92), „den menschlichen Geist und die Erkenntnis befreit, die in dem engen Kerker der irdischen Lufthülle eingeschlossen waren" (A, S. 91). Aber die Öffnung der Himmel, des mittelalterlichen Stufenkosmos ist nicht lediglich eine Weitung des Blicks nach außen. Sie ist zugleich der Verlust des Zentrums („kein Körper im absoluten Mittelpunkt" [A, S. 152]) und dann als eine Weitung auch nach innen kaum aufzuhalten. „Die Teile [sind] in ständiger Wandlung und Bewegung begriffen", „Leben" ist „Ein- und Ausfluß der Stoffe", 'wir' sind „unzählige Einzelwesen [...] in uns" (A, S. 159). Letztlich erscheint alles Überschaubare nur noch als Ergebnis einer begrenzten Wahrnehmung. Das bedeutet: alles ist Teil des Unendlichen und auch als dieser Teil nicht fixierbar. Daß gleichzeitig vom Erhalt der Materie ausgegangen wird, schafft statt eines letzten Einheitsprinzips eine letzte Steigerung der Wandlung und Bewegung. Sind auch „die Dinge [...] nicht beständig", „so verewigen sich die Substanzen, die nicht immer dasselbe Aussehen bewahren können, dadurch, daß sie ständig ihr Gesicht wechseln." (A, S. 207) „Tod" und „Auflösung" sind ein solcher Wechsel („und wenn wir sagen, etwas sterbe, so dürfen wir nicht so sehr glauben, daß es vergehe, sondern vielmehr, daß es sich lediglich verwandele" [A, S. 159]). Dann kann es auch keine festen Zustände im Weltlichen und keine festen, verläßlichen Charakterisierungen der Zustände geben. „Daher ist die Höhe dasselbe wie die Tiefe, der Abgrund ist ein noch unangezündetes Licht, die Finsternis ist Klarheit [...]", heißt es in dem weiteren, im gleichen Jahr erschienenen Dialog Brunos „Von der Ursache, dem Anfangsgrund und dem Einen" („De la causa, principio et uno")." Giordano Bruno: Von der Ursache, dem Anfangsgrund und dem Einen. Verdeutscht und erläutert von Ludwig Kuhlenbeck. (Gesammelte Werke. Bd. 4). Jena 1906. S. 14. Im fortlaufenden Text zitiert mit der Sigle: U.
8
Zerbrochene Erkenntnis. Einleitung
Die Gefahr ist groß, übergroß, daß das Denken als Philosophie und Naturforschung im Kriterienverlust und in der Auflösung seiner Konturen am meisten wahr wird. Provokationen des Widerspruchs in der zitierten Art, als Aufhebung des Satzes der Identität finden sich bei Bruno immer wieder. Es hat „der armselige Aristoteles [...] den ganzen Weg verfehlt, indem er behauptet, Gegensätze könnten in Wirklichkeit nicht an einem und demselben Substrat zusammen sein." (U, S. 136f.) „Entgegengesetzte und widersprechende Charaktere" sind die Konstitutiva (U, S. 29), so „daß die Gegensätze in den Prinzipien [...] sich vereinigen, daß daher dieselben Geister, die für hohe, tugendhafte und edelmütige Handlungen am meisten veranlagt sind, auch am tiefsten sinken können" (U, S. 30). Bruno entscheidet sich, den Wechsel und das Bestimmungslose positiv zu sehen. Aus dem „allgemeinen Wechsel im All" wird geschlossen, daß „es kein Übel gibt, dem man nicht entgehen, noch irgend ein Gut, dessen man nicht teilhaftig werden könnte".12 Nichts hindert aber die gegenteilige Konsequenz. Gleich richtig wäre es zu sagen, daß es kein Glück gibt, das man behalten kann, und kein Unglück, dem man entgeht. „Verschiedene philosophische Anschauungsweisen" sind nebeneinander geltend, denn die Materie „verbirgt sich unter [...] verschiedenen Gestalten, weshalb der eine sie so, der andere wieder anders auffaßt, je nach seiner ihm eigentümlichen Anschauungsweise" (U, S. 9). „So meinen Sie, daß man die Materie ohne Irrtum und ohne auf Widerspruch zu stoßen, verschieden definieren kann?" - „Allerdings!" (U, S. 87) Natürlich ist dabei der Verlust des Wahrheitskriteriums kein Argument mehr für die Rückkehr in die alten Systeme des Philosophierens. Der Verlust gründet ja maßgeblich in der Erkenntnis, wie orientierungsunfähig jene geworden sind. Aber das neue Denken kann seine eigenen Kriterien nicht angeben, nur diesen Zustand selbst als Kriterium, ein Indifferenzprinzip.13 Es fußt auf Beobachtungen, die Schlüsse nicht mehr erlauben. Vielmehr bewirken jene Beobachtungen „die Einsicht in die große Entfernung zwischen dem Gegenstande der Erkenntnis und dem erkennenden Vermögen, der Erkenntnis selbst" (U, S. 6). Die Auflösungen des Denkens sind die Vollzüge des Denkens.14 Wir sind ein „in Wort 12
13
14
Giordano Bruno: Zwiegespräche vom unendlichen All und den Welten. [1584]. Obersetzt und erläutert von Ludwig Kuhlenbeck. (Gesammelte Werke. Bd. 3). Darmstadt 1993. (Nachdruck der 2. Aufl. Jena 1904). S. 20. Vgl. Hans Blumenberg: Aspekte der Epochenschwelle: Cusaner und Nolaner. Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von „Die Legitimität der Neuzeit", vierter Teil. Frankfurt a. M. 1976. S. 132. Vgl. Ferdinand Fellmann: Giordano Bruno und die Anfange des modernen Denkens. In: Die Pluralität der Welten. Aspekte der Renaissance in der Romania. Hrsg. von Wolf-Dieter Stempel,
Negative Voraussetzungen
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und Ingenium verwirrtes und durcheinandergebrachtes Geschlecht", heißt es dann 1591 in dem Lehrgedicht „Über die Monas" („De Monade").15 Das Denken selbst, auch das eigene Brunos, ist nicht mehr durch die Kontinuität der Tradition und noch nicht durch seine Entwicklungen gesichert. Es wirkt fast bodenlos. Die neue Zeit beginnt als Krise. Sie verlangt - in ihren Gefahren wie in ihren Möglichkeiten unabsehbar - nach demjenigen Ausdruck, den Bruno als Einbekenntnis des Scheiterns der Philosophie nicht will: „laßt mich nicht nur mit einem kleinen, feinen, gedrängten, kurzen und bündigen Epigramm hervortreten". Das Induktionsprinzip Francis Bacons ist eine nachgerade lebenspraktisch zu nennende Konsequenz aus Brunos Auflösungen. Nur im kleinen findet sich der Mensch zurecht. Es heißt im „Novum organum" („Novum organum sive indica vera de interpretatione naturae") von 1620, dem Zentral text der „Großen Erneuerung", der „Instauratio magna" (1605 bis 1627): Der menschliche Geist ist also, nach der jedesmaligen Laune des Einzelnen, ein unbeständiges, schwankendes, vom Zufalle abhängendes Wesen. Trefflich sagt Heraklit, daß die Menschen ihr Wissen aus den kleinem Welten, nicht aus der großen allgemeinen Welt schöpfen.16
Solche Feststellungen werden von Bacon freilich methodisch genutzt. Sie sind ihm keineswegs Einschränkungen des Erkenntnisanspruchs, vielmehr Basis für seine Formulierung. Kaum daß sie desillusionierend wirken auf die Expansionen des Forschens, wie sie bei Bruno begegnen. Es „sollen sich die Menschenkinder aufmuntern, und kühn unendliche Schritte wagen und immer vorwärts schreiten", heißt es in „Über die Würde und den Fortgang der Wissenschaften" („De dignitate et augmentis scientiarum") von 1623.17 Auf dem Titelkupfer der „Instauratio magna" fährt ein Schiff in die unentdeckten Weiten jenseits der Säulen
15
10
17
Karlheinz Stierte. München 1987. S. 449-488, hier S. 454: „Das intensive Denken macht Verluste spürbar, ohne sie freilich ersetzen zu können." Giordano Bruno: Über die Monas, die Zahl und die Figur als Elemente einer sehr geheimen Physik, Mathematik und Metaphysik. Mit einer Einleitung hrsg. von Elisabeth von Samsonow. Kommentar von Martin Mulsow. Hamburg 1991. S. 10. Francis Bacon: Neues Organ der Wissenschaften. Übersetzt und hrsg. von Anton Theobald Brück. Darmstadt 1981. (Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1830). S. 33. Im fortlaufenden Text zitiert mit der Sigle: NO. Lord Franz Bacon [...] über die Würde und den Fortgang der Wissenschafiften. Verdeutschet und mit dem Leben des Verfaßers und einigen historischen Anmerkungen hrsg. von Johann Hermann Pfingsten. Darmstadt 1966. (Nachdruck der Ausgabe Pest 1783). S. 46. Im fortlaufenden Text zitiert mit der Sigle: W. „Über die Würde" ist die Überarbeitung und Erweiterung von „The Advancement of Learning" (1605), als der erste einleitende Teil der „Großen Erneuerung", vor der Entwicklung der neuen Methode, des „Novum organum" als dem zweiten Teil.
10
Zerbrochene Erkenntnis. Einleitung
des Herkules.18 Nur führt die Fahrt jetzt weiter in der Gegenrichtung, die Bruno schon bezeichnete. Das „alle Dinge begreifende Universum" ist „in den kleinsten Theilen der Dinge zu untersuchen" (W, S. 181f.). Bacon kann sich auf die Induktion bei Aristoteles berufen. Aber sie bleibt bei ihm nicht aristotelisch die Begründung eines Schlusses in der Evidenz der Wahrnehmung; sie entsteht als „Vernei[n]ung oder Beraubung oder Ausschließung" (W, S. 460), als Zerteilung des Erkenntnisgegenstandes. Die „grobe Induktion", die aristotelische, erscheint bereits im frühen Versuch „Valerius Terminus von der Interpretation der Natur" („Valerius Terminus of the Interpretation of Nature"), wahrscheinlich von 1603, als unzureichende Methode der Wesensbestimmung: „ohne das einzelne Ding zu zerbrechen und es durch Exklusion und Inklusion auf einen bestimmten Punkt zurückzunehmen".19 Diese Vorgehensweise der Isolierung von Elementen bedingt Konsequenzen für das Darstellungsverfahren, und zwar schon bei der Formulierung des Prinzips. Das „Novum organum" ist in sprachlicher Hinsicht der Versuch, die logischen Schlußformen und Argumentationsmodi der philosophischen Tradition durch die Abfolge von Einzelbeobachtungen, wissenschaftlichen Aphorismen zu ersetzen. In „Über die Würde" wird auf den praktischen Nutzen der „Sinnsprüche" verwiesen („nicht bloß zum Vergnügen und zur Zierde, sondern sie dienen auch bei den Geschäften und bürgerlichen Verhandlungen"). Sie sind „gleichsam die Beile oder Schwererer der Ausdrücke, welche die Knoten der Dinge und Geschäfte mit einer gewißen Schärfe zerschneiden und durchdringen" (W, S. 228f.). Das wirkt selbst schon wie die Zerlegung eines Gegenstandes im Experiment: die Erklärung und die Ausschweifung wird abgeschnitten; die Mannigfaltigkeit der Beyspiele wird abgeschnitten; die Herleitung und Zusammenverbindung wird abgeschnitten; die Beschreibung der Ausübung wird abgeschnitten; daß zur Materie der Aphorismen nichts übrig bleibt, als ein sehr reicher Vorrath von Beobachtungen [...] Da endlich die Aphorismen nur einige Theile und gleichsam abgebrochene Stücke der Wißenschaften darlegen, so reizen sie an, daß auch andere etwas beyfugen und herlegen. (W, S. 516f.)
„Abgebrochene Stücke der Wißenschaften", zerbrochene Erkenntnis. So hat Bacon zunächst, im „Valerius Terminus", nur das auf Gott gerichtete Erkennen genannt. Gott entziehe sich menschlichem Wissen, lasse „nur 18
19
Vgl. dazu Philipp Rippel: Francis Bacons allegorische Revolution des Wissens. In: F.B., Weisheit der Alten. Hrsg. und mit einem Essay von Ph.R. Übersetzt von Marina Münckter. Frankfurt a. M. 1990. S. 93-127. Francis Bacon: Valerius Terminus Von der Interpretation der Natur mit den Anmerkungen von Hermes Stella. Englisch/ Deutsch. Übersetzt von Franz Träger, Hildegard Träger. Eingeleitet und hrsg. von F.T. Würzburg 1984. S. 93. Im fortlaufenden Text zitiert mit der Sigle: VT.
Negative Voraussetzungen
11
ein abgebrochenes Nachdenken" („contemplation broken off') zu (VT, S. 34/35). Daraus wird in dem Weiteren merkwürdig eine wörtliche Entsprechung zur Naturerfahrung: die Gotteserkenntnis („no perfect knowledge, [...] broken knowledge") ist in genau der Hinsicht unmöglich, in der die Erkenntnis der irdischen Dinge möglich ist („Aphorisms, representing a knowledge broken").20 Unter den anderen Verhältnissen der Gegenstandsanalyse wird das Zerbrochene zu Qualitativem.21 Bacons Reflexion entwickelt in den Einzelbestimmungen, Detaillierungen, zu denen sie allein noch berechtigt erscheint, eine destruktive Kraft, die an jedem allgemeineren Satz entdeckt, daß er eine erfundene Gleichheit zur Voraussetzung hat. „Der menschliche Geist [...] dichtet [...] gern Parallelen und correspondirende Verhältnisse" (NO, S. 34). Es wird deshalb in der Weise kritisch philosophiert, daß „bei Aufstellung eines jeden Axioms die Vermuthung für das Negative stärker ist" (NO, S. 35). Da helfen „gewiße scharfsinnige und abgekürzte Sprüche", mit denen Gegensätze sogar provoziert werden, daß vorschnelle Analogien und Assoziationen zu vermeiden sind (W, S. 554; 555-594). So wertet Bacon den kleinen Text auf. Die Länge des Textes wird geradezu das Maß der Verfälschung des im Ansatz Wahren. Das „Verzeichniß aller Gegenstünde des Universums" als „Ziel der Untersuchung" (NO, S. 137) wird eigentlich aber mit jedem Erkenntnisvorgang neuer Zerteilung („um gleichsam eine Particulargeschichte der zu untersuchenden Materie für den sie bearbeitenden Verstand zu haben" [NO, S. 155]) weiter ins Ferne gerückt. Es unterliegt die Darstellung der „Inductionsmethode" selbst bereits den Induktionen, „zerfällt in zwei Abtheilungen", „zerfällt wieder in drei Theile"... (NO, S. 107) Und nichts, auch das Alltägliche nicht, ist noch selbstverständlich. Jeder Gegenstand ist der Induktion zu unterziehen. So wird, um alles sicherer zu machen, auch „das scheinbar Gemeine", der Lebenszusammenhang zu Rätselhaftem (NO, S. 87). Das Postulat „Alles ohne Ausnahme" bewirkt bei noch nicht absehbaren Ergebnissen, ja bei einer im neuzeitlichen Sinne als Progreß unabschließbaren Forschung das Aufgeben der Konstanten auch für jene Bereiche, die bisher außerhalb der Naturerforschung lagen, etwa für „Zorn, Furcht, Scham und andre Gemüthsbewegungen", „Fälle aus dem bürgerlichen Leben", „Geistesthätigkeiten, Gedächtniß, Combinations= und Abstractionsvermögen, Urtheilskraft u. dgl.", „Wärme und
21
Francis Bacon: Advancement of Learning. In: The Works of Francis Bacon. Hrsg. von James Spedding, Robert L. Ellis, Douglas D. Heath. Bd. 3. Stuttgart-Bad Cannstadt 1963. (Nachdruck der Ausgabe London 1859). Buch 1. S. 267 u. Buch 2. S. 405. Vgl. Michael Hattaway: Bacon and „Knowledge Br Broken": Limits for Scientific Method In: Journal of the History of Ideas 39 (1978). S. 183-197.
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Zerbrochene Erkenntnis. Einleitung
Kälte, Licht, Vegetation u.s.w." (NO, S. 93) Die Auflösung der Wissensstrukturen, die im Kopernikanismus Brunos zunächst die Stufen des alten Himmels betraf, setzt sich mit Bacons Induktionen im kleinen fort. Sie betrifft jeden 'Punkt' des Lebens. Dabei ist es zwar deutlich nicht um Auflösung zu tun, sondern um die Konstitution von Wahrnehmungszusammenhängen. Im Vorgang dieser Konstitution bedingen sich jedoch Wissen und Nichtwissen gegenseitig. Notwendig bleiben die Forschungsergebnisse partikulare. Bacons Programm der wissenschaftlichen Erneuerung und des wissenschaftlichen Fortschrittes wird zu „einem unerreichbaren, utopischen Massenproblem von Einzelinventionen"22 mit Folgen für jeden Augenblick des Lebens. Schwerwiegender und die Fragen wissenschaftlichen Fortschritts übersteigend ist aber noch, daß die Induktion in ihrem Generellen keineswegs als konstruktivistisch erscheint, vielmehr als Systematisierung der primären Vorgänge in der Gegenstands- und Welterfassung. Dies nun bedingt die Vorstellung eines im Konkreten auf Partialisierung angelegten menschlichen Bewußtseins. In Harsdörffers „Philosophischen und Mathematischen Erquickstunden" wird eine entsprechend aus punktuellen Bezügen entstehende Wahrnehmung argumentativ zur Voraussetzung der Induktion als wissenschaftliches Verfahren bei Bacon: Wie wir nur eine Sache recht und eigentlich ansehen und betrachten können; also mag das Äug unsers Verstandes mehr nicht/ als eine Sache/ in gleicher Linie anschauen/ und gleichsam von Punct auf Punct (wie aus der Sehkunst bewust ist) anstralen [...] zumaln Verulamius erheischet/ daß man von jeder Sache/ als von dem Schwefel/ dem Saltz/ von jeder Gewürtze/ &c. besondere Bücher schreiben solle/ darmit unser Wissen nicht in allgemeinen/ sondern in absonderlichen und unterschiedlichen Arten eines jeden Geschlechtes beruhen möge; da es doch wol dahin kommet/ daß alles/ was wir wissen/ das wenigste ist von dem/ das wir nicht wissen.23
Erkenntnis strikt als methodisch angeleitete festzulegen ist Bacons widerspruchsvolles Verfahren, das Denken mit der Unendlichkeit seiner Gegenstände zu konfrontieren und gleichzeitig vor ihr bewahren zu wollen. Daß es ein produktives Verfahren und wirklich ein „Novum organum" als Grundlegung der Wissenschaften geworden ist, mindert nicht die Schwierigkeiten der Erkenntnissituation, macht sie nur noch größer. Der archimedische Punkt der Erfahrung kann lediglich noch die Regel sein, die sie sich selbst gibt. 1644 formuliert Descartes „Die Prinzipien der Philosophie" („Principia philosophiae") neu. Das Künstliche dieser Prinzipien 22
23
Wilhelm Schmidt-Biggemann: TOPICA UNIVERSALIS. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft. Hamburg 1983. S. 224. Georg Philipp Harsdörffer: Delitiae Philosophicae et Mathematicae. Der Philosophischen und Mathematischen Erquickstunden Dritter Teil. Hrsg. und eingeleitet von Jörg Jochen Berns. Frankfurt a.M. 1990. (Nachdruck der Ausgabe Nürnberg 1653). Vorbericht. S. 23.
Negative Voraussetzungen
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wird Bedingung der Erkenntnis von Zusammenhängen jeglicher Art. Die „Universalien" sind 'Zustände des Denkens', „nicht in den erschaffenen Dingen, sondern bloß abstrakt oder im allgemeinen betrachtet", Subsumtion ähnlicher Ideen unter eine.24 Ihre Rechtfertigung als Prinzipien der Philosophie liegt in ihrem eigenen Modus, darin daß nichts außer ihnen klare und deutliche Erkenntnis gewähren kann. Der Bestimmungsvorgang bedeutet Abstraktion als Setzung einfachster Verhältnisse; dies nicht trotz, sondern wegen des Anspruchs auf eine Methode der Erkenntnis clare et distincte, denn erst durch die Abstraktion zu Einfachem wird die Natur der regelgeleiteten Analyse zugänglich.25 Es steht die Definition von Bewegung als „Überführung" eines Materiellen aus der Nachbarschaft von Körpern, die es unmittelbar berühren, in die anderer Körper unter der notwendigen vereinfachenden Voraussetzung: „Ich verstehe hier unter einem Körper oder einem Teile der Materie alles das, was gleichzeitig übergeführt wird, wenn es auch aus vielen Teilen besteht, die untereinander andere Bewegungen haben." (P, S. 42) Auch gilt es, jeweils „nur die Bewegung an jedem Körper zu betrachten, welche ihm eigentümlich ist" (z.B. nur die der Uhrräder in der Uhr, nicht auch die des Mannes, der die Uhr trägt, die des Schiffes, mit dem der Mann fährt, die des Meeres, auf dem das Schiff fährt, die der Erde) (P, S. 45). So wird die Abstraktion aber auch zum Selbstschutz des Denkens vor den eigenen Konsequenzen. Wenn die analytische, induktive Erschließung des Lebenszusammenhangs für sich gelten soll, verwandelt dieser sich in das Unabsehbare. Auf demselben Papier wird dieselbe Feder mit derselben Tinte, je nachdem das Ende der Feder geführt wird, Buchstaben einzeichnen, welche in der Seele des Lesers die Vorstellungen von Schlachten, Stürmen, Furien und die Affekte des Unwillens und Schmerzes erregen; wird aber in anderer, ziemlich ähnlicher Weise die Feder geführt, so wird sie ganz andere Vorstellungen von Ruhe, Frieden, Vergnügen und die ganz entgegengesetzten Empfindungen der Liebe und Fröhlichkeit bewirken. (P, S. 240f.)
„Ich unterscheide [...] verschiedene Teile; [...] ich bemerke auch bei einiger Aufmerksamkeit unzählige Einzelheiten an Gestalt, Zahl, Bewegung usw., [...] unzählige Vorstellungen irgendwelcher Dinge".26 Den 24
25
26
Rene Descartes: Die Prinzipien der Philosophie. Übersetzt von Artur Buchenau. 4. Aufl. Leipzig 1922. S. 20. Im fortlaufenden Text zitiert mit der Sigle: P. So ist „nach Descartes etwa die kopemikanische Theorie der Planentenbewegung der ptolemäischen nur unter dem Gesichtspunkt der Einfachheit überlegen. Grundsätzlich könnten aber das ptolemäische und das kopemikanische Weltbild nebeneinander bestehen." (Wolfgang Rod: Descartes' Erste Philosophie. Versuch einer Analyse mit besonderer Berücksichtigung der Cartesianischen Methodologie. Bonn 1971. S. 43). Rene Descartes: Meditationen über die Erste Philosophie. Aus dem Lateinischen übersetzt und hrsg. von Gerhart Schmidt. Stuttgart 1980. Fünfte Meditation. S. 84f.
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eigenen Kopf, das Gehirn bestimmen - aber wie? - „die beweglichsten und feinsten Teilchen", „die Lebensgeister", die nur die Eigentümlichkeit haben, daß sie sehr klein sind und sich, wie die Teile der Flamme einer Fackel, sehr schnell bewegen. Sie verweilen deshalb nirgends, und in dem Maße, wie die einen in die Gehimhöhlen eintreten, treten andere durch die Poren der Gehimsubstanz wieder aus, gelangen von da in die Nerven und Muskeln und setzen damit den Körper auf alle mögliche Art in Bewegung.27
Die neue Philosophie im Konnex mit der beginnenden Naturwissenschaft produziert Situationen des Wissens oder vielmehr Nichtwissens, gegen die die eigenen Erkenntnisideale dieser Philosophie immer weniger durchzusetzen sind. Spinoza versucht, Descartes' Philosophie nach ihren eigenen Prinzipien zu ordnen. Er betont in „Descartes' Prinzipien der Philosophie auf geometrische Weise begründet" („Renati Des Cartes principiorum philosophiae [...] more geometrico demonstratae") von 1663, was Descartes methodisch aufzufangen trachtete: immer schließt das klar und deutlich Erkennbare, das auf die Begriffe führen kann, Wahrnehmungen von Unendlichem ein, und dieses ist nicht klar und deutlich erkennbar. Durch die unendliche Teilbarkeit der Materie entziehen sich die Gegenstände der „Abstraktion" zum Allgemeinbegriff gewissermaßen nach innen unserer Fassungskraft. Spinoza interessiert an der Philosophie, „auf geometrische Weise begründet", gerade die Grenze ihrer Möglichkeit: daß es zur Wahrnehmung innerhalb des Verfahrens selbst wird, wie hier „sich eine solche Feinheit (subtilitas) der Natur [ergibt], daß sie (geschweige durch die Sinne) durch keine Vorstellung bestimmt oder erfaßt werden kann."28 Der Sinn der Erkenntnis more geometrico wird eine Hypothesenbildung ohne Wahrheitskriterium („nach Belieben"), die für sich berechtigt ist, „wenn ich nur alle Naturerscheinungen daraus in mathematischer Beweisform abzuleiten vermag" (DP, S. 101). Erfaßt habe ich sie nicht. Die Ausdrücke 'wahr' und 'falsch', die „Ideen" sind letztlich nur als Fiktionen sicher, „eben nur geistige Erzählungen oder Geschichten der Natur" (Anhang, enthaltend metaphysische Gedanken; DP, S. 123). Differenzierende Betrachtung und Analyse sollen der Vorzug des neuen Denkens sein. Wenn aber Gegenstände jeglicher Art nur in der Weise zugänglich werden, ist der Substanzbegriff dem Denkvorgang entzogen. Dies gilt zuallererst für die Vorstellung: Ich. Die Seele, heißt es in 27
28
Rene Descartes: Über die Leidenschaften der Seele. (Philosophische Werke. 4. Abt.). Obersetzt und erläutert von Artur Buchenau. 3. Aufl. Leipzig 1911. Art. 10. S. 6. Baruch de Spinoza: Descartes' Prinzipien der Philosophie auf geometrische Weise begründet. [Mit einem] Anhang, enthaltend metaphysische Gedanken. 3. Aufl. Neu übersetzt und hrsg. von Artur Buchenau. Leipzig 1907. S. 98. Im fortlaufenden Text zitiert mit der Sigle: DP.
Negative Voraussetzungen
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Spinozas „Ethik nach geometrischer Methode dargestellt" („Ethica ordine geometrico demonstrata") von 1677, nimmt Affektionen wahr, die anderen affizierenden Körper und den eigenen affizierten.29 Dabei ist jeder Körper als „Ein Individuum" aber wieder aus Körpern zusammengesetzt, „die unendlichfach wechseln" (E, S. 68), Individuum aus Individuen von Körpern. „Der menschliche Körper ist aus sehr vielen Individuen (von verschiedener Natur) zusammengesetzt, deren jedes überaus zusammengesetzt ist" (ebd.). So ist eine Affektion als Einzelrelation zwar theoretisch zu erwägen. Aber es sind Teile von Teilen von Teilen, auf viele Weise, durch viele Körper Affizierendes und Affiziertes, darin unüberschaubar, „nicht klar und deutlich sondern verworren" (E, S. 79). Die Seele in ihren Befindlichkeiten entzieht sich durch die Masse der je anders einwirkenden Körper einer Erklärung. Es gibt keine Möglichkeit einer Psychologie als System, nur Verschiedenheiten ohne Zahl. Zwar werden drei ursprüngliche Affekte festgestellt (Begierde, Freude, Trauer). Doch dient diese Feststellung einer genaueren Auffassung der „Schwankungen des Gemüts" (die Lipsius benannt hatte), der inneren Unbestimmtheit des Festgestellten also. Aus meiner Darstellung erhellt, daß wir von äußeren Ursachen auf viele Weise bewegt werden und hierhin und dorthin schwanken wie die von entgegengesetzten Winden bewegten Wellen des Meeres, unkundig unseres Ausgangs und Schicksals. (E, S. 166)
Die Infragestellung der Identität des eigenen Körpers und der Person aus dem unsicher Schwankenden der Bestimmungen ist zunächst nur am Todes- und am Krankheitsfall orientiert. „Es kommt nämlich manchmal vor, daß ein Mensch derartige Veränderungen erleidet, daß ich nicht leicht sagen würde, er sei noch der selbe". Aber dann ist auch das Leben überhaupt, seine Geschichte der Fall einer solchen Infragestellung: was sollen wir da von den Kindern sagen? Deren Natur sieht ja der erwachsene Mensch als so verschieden von der seinigen an, daß er sich nicht davon würde überzeugen lassen, daß er jemals ein Kind gewesen sei, wenn er nicht von anderen auf sich den naheliegenden Schluß machte. (E, S. 225)
Es ist „ein und der selbe Mensch veränderlich und unbeständig", er kann „von einem und dem selben Objekt verschiedenartig affiziert werden" (E, S. 214), es ist „eine und die selbe Handlung bald gut und bald schlecht" (E, S. 241), abhängig von den Dispositionen, die beim Affizierenden, beim Affizierten und in dem Affekt selbst je andere sind. Das heißt: 'ein und das selbe' gibt es nicht. 29
Baruch de Spinoza: Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt. Übersetzung, Anmerkungen und Register von Otto Baensch. Einleitung von Rudolf Schottländer. Hamburg 1963. T. 2. S. 70. Im fortlaufenden Text zitiert mit der Sigle: E.
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Die 'Lösung' der Philosophie soll in der genauen Betrachtung ihrer Gegenstände liegen. Das ist aber nach den Voraussetzungen, die zu machen waren, und bei dem zunehmend Verworrenen, das die Analyse gerade ja offenlegt, nur im einzelnen und für das Einzelne möglich, wenn überhaupt. Philosophie ist selbst Klärung im einzelnen, für das Einzelne („die Einzeldinge" betreffend [E, S. 270]), okkasionell, kasuistisch. Aber es ist zugleich der Neubeginn systematischen Philosophierens, der Systemphilosophien. Hier verhindert die gegengerichtete Abstraktion, daß die Problematik, die das philosophische Denken aufzufassen trachtet, nicht auf es selbst übergreift. Man kann davon abstrahieren, zeigt die Philosophie. Darauf ist jedoch die der Philosophie eigene Entgegnung oder Einräumung zumindest: man muß aber auch davon abstrahieren, wenn man die Dinge, welche immer, zusammenhängend verstehen will. Ordnung ist ein Traum von Ganzheit. Den Systemen des Denkens und der Wissenschaft im 17. Jahrhundert verengt sich der Horizont derart total, daß sie, mit welchem ganzheitlichen Anspruch auch immer, das viele Einzelne nicht umfassen. Statt dessen umfaßt das viele Einzelne sie. Ausdruck dessen und auch schon Reaktion mit eigener Systematik sind die Klugheitslehren der Zeit, das topische Denken, die Scharfsinnspoetik, das 'politische' Verhalten, die Atom- und Korpuskeltheorien der neuen Wissenschaft, die Florilegien, die Apophthegmatasammlungen, vieles mehr, vor allem aber dasjenige, das man eine Ästhetik der Antithesen nennen könnte, ein nahezu manisch werdendes Entgegensetzen von Perspektiven. Die Stichomythien des barocken Trauerspiels sind hierfür kennzeichnend. Die Vorstellung der harmonia mundi schrumpft zu Kernen des philosophisch, wissenschaftlich, künstlerisch, literarisch und sprachlich Geltenden, das in einer Art Umstülpung ganzheitlichen Denkens durch Widerspruch zu anderem sich formiert und Welt als Disharmonie zum Kontext hat. Versteckte Epigramme Alles bedarf, um noch ein Status der Reflexion sein zu können, innerer Begrenzungen. Deren konkreteste, graphische Prägung ist die Herrschaft der Virgel im barocken Text, die „Schriftschneidung", als „Marck= und Gränzstein/ so da berichtet/ was zusammen gehöret und gesondert werden muß/ in dem sie die Rede fein Gliedweis teilet und durchordnet",30 „dem 30
Kaspar Stieler: Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs oder Teutscher Sprachschatz. Mit einem Nachwort von Stefan Sonderegger. München 1968. (Nachdruck der Ausgabe Nürnberg 1691). T. 3. S. 32.
Versteckte Epigramme
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Leser als Ruhestäte/ dabey er gleichsam still stehen/ ein wenig ruhen/ und etwas bedenken mag",31 während gleichzeitig die Texte durch Figuren der Häufung und Reihung rhetorisch disponiert erscheinen. Das Komma, das die Zeile nicht mehr schneidet, graphisch eher wie ein nach unten gezogener Akzent und eine Rhythmusangabe erscheint, ist bereits seit 1566 durch die Druckvorschriften des Venezianers Aldus Manutius für die lateinische Schrift gebräuchlich. Darin erscheint das Lateinische als Überlieferung geordneter Sprache, was auch die neulateinische Dichtung noch im Barock als ein Festhalten an Ordnungen verstehen läßt. Für die deutsche Druckschrift, den Fraktursatz, wird die Virgel erst um 1700, mit dem Ende des Barock, allmählich aufgegeben. (Dann aber erscheint das Schreiben überhaupt als an „ein gut iudicium" gebunden, das „von den Grenzen oder der Verknüpfung des Verstandes, in Absicht der Theile eines periodi recht urtheilen" läßt.32) Die vorliegende Arbeit wird so weit wie möglich auf zeitgenössische Drucke oder auf faksimilierte Ausgaben der barocken Texte zurückgehen, um die bereits im zäsurierten Satz wirkende Dialektik des Sistierens und der Flucht von Vorstellungen mitzitieren zu können. „Wie nun alles/ was wir Menschen besitzen/ in stets schwebender Unbeständigkeit verharret; [...] wie solle man dann in einem flüchtigen Wortlaut einige Beständigkeit erhärten oder bejahen können?"33 Unter dieser Voraussetzung auch des Flüchtigen von Sprache und Schrift wirken die Virgeln wie Balken gegen die Sukzession. Es bildet sich ein Schema der Reflexion aus, in dem die Gegenstände entsprechend den Kriterien des Textaufbaues kleiner gedanklicher Einheiten gefügt werden. Längere Texte, so in hohem Maße die Sonettlyrik, Gedichte überhaupt, scheinen Extensionen aus Zentren einzelner „Reimschlüsse" zu sein. Das ist zunächst in zwei Ausprägungen an Texten zu zeigen, die ihrem eigenen Gattungscharakter nach vom Epigramm so weit unterschieden sind, wie sich Gegenstände in den Poetiken des Barock überhaupt unterscheiden können: an einem barocken Roman und einer barocken Komödie. Dabei werden spezifische Überlegungen zur Gattung des Epigramms selbst noch zurückgehalten, um die Arbeit aus einer Perspektive zu eröffnen, die nicht schon unter den Bedingungen ihres Gegenstandes steht. 31
33
Justus Georg Schotte!: Ausführliche Arbeit Von der Teutschen HaubtSprache. 2 Teile. Hrsg. von Wolfgang Hecht. Tübingen 1967. (Nachdruck der Ausgabe Braunschweig 1663). S. 669. Friedrich Andreas Hallbauer: Anweisung Zur verbesserten Teutschen Oratorie [...] Kronberg/Ts. 1974. (Nachdruck der Ausgabe Jena 1725). T. 1. S. 193. Georg Philipp Harsdörffer: Poetischer Trichter. Die Teutsche Dicht= und Reimkunst/ ohne Behuf der Lateinischen Sprache/ in VI. Stunden einzugiessen. Darmstadt 1969. (Nachdruck der Ausgabe Nürnberg 1648-1653). T. 1. Anhang. S. 123f.
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Lohensteins Romanuniversum „Großmüthiger Feldherr Arminius oder Herrmann, Als Ein tapfferer Beschirmer der deutschen Freyheit/ Nebst seiner Durchlauchtigen Thußnelda In einer sinnreichen Staats= Liebes= und Helden=Geschichte [...]" (1689/90) zeigt in besonderer Weise die eingangs dargestellte Dialektik von Ordnungsverlust und Ordnungsbestreben. Einerseits wird für bestimmte Erzählbereiche eine strikte allegorische Bindung erreicht. Das Geschehen „ist auf Analogien, auf einen Kontext, einen geistreichen Aspekt oder Horizont des Verstehens hin bezogen." Andererseits „scheint die Vielfalt seines heterogenen und kaum ausschöpfbaren Materials [...] kaum mehr einen verbindlichen Kontext zu kennen, der es als Ganzes und gleichermaßen umgreift."34 Es wird bis zum Extrem undurchschaubarer Verwirrung, als Synonym für Welt und Geschichte, die Differenz zwischen kurzen und langen Textdistanzen derjenigen zwischen der Bildung von Vorstellungen und dem Verlust ihres Zusammenhangs vergleichbar. Dabei finden sich in weitem Abstand inschriftliche Formulierungen, die den Gattungsursprung des Epigramms erinnern ( , Aufschrift, Inschrift). Es wird wertgelegt auf die Fiktion einer anderen Schrift von materieller Qualität, einer Schrift von anderer Konsistenz als derjenigen des Buches selbst. Die Wörter werden „in Stein gehauen", „in einer Agat=Taffel eingegraben", „gegossen", „mit güldener Schrifft verzeichnet" oder „mit Blute geschrieben".35 Es ist der metaphorische Ausdruck der Beständigkeit ihrer Geltung, wohingegen die Textmasse des Romans, mit den ungeheuren Verwicklungen des Geschehens, als solche bedeutet, daß der „Verstand so voller Irrthümer/ als die Lufft Sonnen=Staubes" voll ist (das heißt in der Naturforschung: voll der Atome), daß „die Irrthümer [...] ins gemein unsere Wegweiser" sind (Ar II, S. 234). Dann haben die epigrammatischen Verseinlagen in den Labyrinthen des Epischen die Funktion und Qualität von Zwischenresümees, als Grabschriften und „Gedächtnüs=Maale" der verstorbenen Helden, die „fürnemlich die Lebenden wol anweisen" (Ar I, S. 1422). Oder sie sind Orakel, die ins Zukünftige seherisch die letzten Auflösungen voraussagen. Im dritten Buch des ersten Teils hört Thußnelda die Geschichte der Armenierin Erato, die „zu Athen in dem Tempel des guten Glückes für dem Bilde der Hoffnung" gebetet hatte. Dort waren „viel Wachs=
34
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Hans Geulen: Erzählkunst der frühen Neuzeit. Zur Geschichte epischer Darbietungsweisen und Formen im Roman der Renaissance und des Barock. Tübingen 1975. S. 115. Daniel Casper von Lohenstein: Großmüthiger Feldherr Arminius. 2 Teile. Hrsg. und eingeleitet von Elida Maria Szarota. Bern, Frankfurt a. M. 1973. (Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1689/90). T. 1. S. 356 u. 639. T. 2. S. 760, 951 u. 911. Im fortlaufenden Text zitiert mit der Sigle: Ar I/II.
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Taffein/ darein die Betenden mit einem Griffel ihre Wüntsche und Gelübde zu schreiben pflegen". Erato las dies, aufs zierlichste in Wachs gedrückt: Die Hoffnung kan nicht fehin/ es muß der Wuntsch bekleiben/ Wenn wir ein Reich verschmähn/ und treu im Lieben bleiben. Diese sich auf meinen Zustand so wol schickende Schlifft befestigte mein Gemüthe mehr als vorhin nichts anders; weil ich sie für nichts anders/ als für eine Göttliche Antwort hielt/ und ich lasse sie auch noch niemals aus meinen Gedancken. (Ar I, S. 207)
Das aber ist wie ein delphisches Orakel an der Stelle seines Erscheinens im Roman nur falsch zu verstehen, da es nicht das Verhältnis Eratos zu ihrem Geliebten Zeno, wie sich herausstellen wird: zu ihrem eigenen Bruder Artaxias betrifft und auch nicht das Verhältnis zu ihrem späteren Geliebten Flavius, denn dann, am Ende des Romans, kommen „Reich" und „Lieben" für sie gerade zusammen. Im ersten Fall verhält sich Erato dem Orakel gemäß und gibt die armenische Krone auf („hiermit lege ich Krön und Zepter nieder" [Ar I, S. 315]), ohne daß dies ihrer Liebe zu Zeno helfen kann. Im zweiten Fall läßt sie sich die cheruskische Krone antragen („Es wurde auch die Thußnelden zugedachte Cron durch etliche Abgeordneten des Landes der Erato in ihr Zimmer überbracht" [Ar II, S. 1638]), und es schadet ihrer Liebe zu Flavius nicht. „Streng genommen ist also dieses Orakel falsch."36 Aber es betrifft Thusnelda, der es berichtet worden ist. Zusammen mit Herrmann gibt sie die ihnen zukommende Krone der Cherusker an das andere Paar Erato-Flavius weiter. Herrmann und Thußnelda bezeugen hierdurch, wie man „Hersch=Sucht nach dem Befehl der gesunden Vernunfft beherschet" (Ar II, S. 1636). Erato hatte bei ihrer Abdankung ebenso argumentiert („ich wil [...] euch ein Beyspiel zeigen/ daß dieser der mächtigste König sey/ der über seine Begierden vollmächtig zu gebieten hat." [Ar I, S. 315]), aber es blieb dies wie das Orakel selbst ein richtiger Satz an falscher Stelle in falschem Munde, überging Erato doch im Verweis auf die Begierde nach Ruhm ihre eigene Begierde nach Liebe. „Seltzame Umwechselungen" (Ar I, S. 249) bestimmen das Romangeschehen, vom Kriegsglück, das beständig wechselt, über Figuren, die sich verwandeln (Männer in Frauen, Frauen in Männer), bis zu Namen, die der Roman in Anagramme verwandelt: „Bulissa.) Libussa/ Königin in Böhmen", „Sarpimil.) Primislaus/ ein Böhmischer Ackersmann", „Astinabes/ der glückseligen Inseln König.) Sebastian/ König in Portugal",
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Thomas Borgstedt: Reichsidee und Liebesethik. Eine Rekonstruktion des Lohensteinschen Arminiusromans. Tübingen 1992. S. 256, Anm.
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„Lucosar.) Carolus VIII. König von Franckreich"...37 Darüber verliert jedoch die spruchhafte Formel nicht ihren Sinn, wenn sie auch den Umkehrungen scheinbar ausgesetzt ist, weil sie die nicht meint, der sie geweissagt wurde, weil sie die nur als Stimme nutzte. (Erato ist auch die Muse der erotischen Poesie.) Die Formel repräsentiert innerhalb der weltabbildenden Verwirrungen auf mehr als 3000 Seiten eine andere, bündige Textform, einen „ARMINIUS ENUCLEATUS", und einen anderen Autor, „LOHENSTEINIUS SENTENTIOSUS".38 Der Zweizeiler schafft dem Roman dann sogar eine Bedeutungsstruktur über den Wechsel seiner Verfasser hinaus.39 „Die Hoffnung kan nicht fehin/ es muß der Wuntsch bekleiben/| Wenn wir ein Reich verschmähn/ und treu im Lieben bleiben" das legt einen Textkern frei, eine leitende Vorstellung des Schreibens. Herrmann und Thußnelda werden in ihrem Festhalten aneinander zum Spiegel der großen Einheit: „Deutschland genaaß nunmehr so wohl der edlen Siegs=Frucht/ nemlich der Freyheit/ als der grosse Feldherr Herrmann der süssesten Liebe." (Ar II, S. 8) So beginnt der zweite Teil des Romans. Die Liebenden bewähren diesen Einleitungssatz, der die Erzählbereiche in ein allegorisches Verhältnis bringt, und bewähren sich im Sinne des constantia-Ideals durch ihr Beharren auf der Inschrift, freilich ohne daß dies im Chaos des Geschehens ihnen selbst erfahrbar werden könnte. Das Chaos, die atomisierte Welt, hat im Roman das „treu im Lieben", „Gemeinschafft", „gleich=gesinnte Gemüther" zum Kontrast. Ohne die treue Liebe, deren „fürnemste Quell" „die Aehnligkeit so wohl der Seele als des Leibes" ist, „kan so wenig/ als des ungleich geeckten Sonnen=Staubes/ oder anderer sich nicht zusammen=fügender Dinge Vereinbarung geschehen." (Ar II, S. 12) Die epigrammatische Wendung distanziert romanorganisierend „Reich", als Unordnung und Krieg, und „treu im Lieben", als Vorbild der Vermittlung. Trotzdem ist damit der Roman 37
38
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Anmerckungen über Herrn Daniel Caspers von Lohenstein Arminius: Nebenst beygefügtem Register derer in selbigem Werck befindlichen Merckwürdigen Nahmen und Sachen. Leipzig 1690. Anhang zu Ar II, S. 26ff. So die Titel der aus Lohensteins Werk gezogenen Sentenzensammlungen von Johann Christoph Männling: ARMINIUS ENUCLEATUS. Das ist: Des unvergleichlichen D. Caspari von Lohenstein/ Herrliche Realia, Köstliche Similia, Vortreffliche Historien/ Merkwürdige Sententien, und sonderbahre Reden. Als Köstliche Perlen und Edelgesteine aus dessen deutschen Taciti oder Arminii Ersterem (und 2. Theile. Mit fleiß dehnen Liebhabern der Deutschen=Wohl=Redenheit/ Nebst einem vollkommenem Register zusammen getragen. Stargard, Leipzig 1708; LOHENSTEINIUS SENTENTIOSUS, Das ist: Des vortrefflichen Daniel Caspari von Lohenstein/ Sonderbahre Geschichte/ curieuse Sachen/ Sinn=reiche Reden/ durchdringende Worte/ accurate Sententien [...] Wie aus einem verborgenem Schatze zusammen colligiret [...] Breslau 1710. Vgl. Anhang zu Ar II, S. 22: „Endlich ist zu mercken/ daß in denen ersten siebenzehen Büchern nichts als Lohensteins Arbeit zu finden/ das letzte Buch aber von einer anderen Hand hinzugethan sey."
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natürlich nicht in seinen unterschiedlichen Aspekten erfaßt, als ließe sich dies alles auf einen Zweizeiler zurückführen. Eher wird aus dem Totalen der Verwirrungen nach 2700 Seiten die neuerliche Orientierung an dem Zweizeiler notwendig. Er erklärt nicht das Ganze, vielmehr bedarf es der Kenntnis des Ganzen, um den Spruch in seiner Rätselstruktur wie in deren Auflösung zu verstehen. Nur erhöht das eher noch seine Bedeutung, statt sie zu mindern: die epigrammatische Wendung ist ein Anfang des Schreibens und ein Ziel der Lektüre. Dieser Ursprung einer Lösung bei Lohenstein zeigt eine generelle Qualität des Epigrammatischen als Zentrierung des Gedankens. Hier wirkt sich Kürze statt als Einschränkung als Bedingung konzeptueller Erwägungen aus, wie der Roman deutlich macht, daß größere Zusammenhänge eben keine mehr sind, sondern Verwirrungen ins Unabsehbare, Fehldeutungen des im kleinen Wahren auch, sogar das Falschwerden dieses Wahren. Harsdörffers „MELJSA/ Oder Der Gleichniß Freudenspiel" (1643) von 80 Seiten hat als eine Art Nachsatz ein Epigramm, mit dem mögliche dramentheoretische Argumentationen gegen das Stück von vorneherein dadurch abgewiesen werden, daß es Epigrammatisches statt Dramatisches zu seinem Maßstab erhebt: MELJSA. Du sagst es sey zu kurtz der Gleichniß Freudenspiel/ Mit einer Hand voll Saltz würtzt mancher mehr als viel.40
Dabei meint „der Gleichniß Freudenspiel" dieses Stück mit diesem Nebentitel, ein Spiel um Heirat, Werbung und Abweisung, als „Zugabe" zum dritten Teil der „Frauenzimmer Gesprächspiele". Aber in ihm läßt sich die Konstellation des Harsdörfferschen Werkes neu eröffnen: „Der Herr gibt uns Anlaß zu einem Gesprächspiel", sagt Melisa einmal zu den anderen Figuren (M, S. 406). So meint der Nebentitel einfach auch, was er sagt, „der Gleichniß Freudenspiel" in den großen Konturen der poetischen Reflexion des „Spielenden", worauf die Vorrede aufmerksam macht: „Die schöne Verfassung dieses gantzen Weltgebäus/ ist an sich Selbsten nichts anders/ als eine durchgehende Vergleichung in allem und jedem; und hat der höchstmächtige Gott dem Menschen eine sondere Begierde eingepflantzet/ solche Wunderfügnissen zu erlernen." (Vorrede Von der Gleichniß Vortrefflichkeit und Verstandmächtigen Eignungen; M, S. 356) Im selben Vorgang des Spielerischen kann die ganze „schöne Verfassung" aber auch in Unsinnsbeziehungen ausarten und in einen 40
Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele. Hrsg. von Irmgard Böttcher. T. 1-8. Tübingen 1968f. (Nachdruck der Ausgabe Nürnberg 1643-49). T. 3. Zugabe genant: MELISA S. 351-432, hier S. 432. Diese Zugabe wird im folgenden zitiert mit der Sigle: M.
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Zerbrochene Erkenntnis. Einleitung
Verlust des Ethischen, eine Umkehrung der „Nikomachischen Ethik" des Aristoteles: Welche behaubten wollen/ daß das summum bonum in der Tugend bestehet/ haben bey jederman/ als bey mir nicht/ das Feld erhalten. Ich argumentire also: Weßwegen sich alle Menschen in dieser Welt bemühen/ das ist das höchste: Nun bemühen sich alle Menschen um wolzuleben/ Ergo, ist das wol leben das höchste Gut [...} daher wird der Mensch animal rationale genennt/ quiafacit rationem: zu Teutsch heist man bescheidene Leut die gerne bescheid thun. (M, S. 389f.)
Bei so ,,durchgehende[r] Vergleichung" als Spiel mit Wörtern und Sachen wird „die herrliche Krone [...] dem Ehestand zugeeignet [...]/ und dieser ist die Fruchtbarkeit der Erden; die Vnsterblichkeit der Sterblichen; das Band der Gemeinschaft; die Freystatt der Vnglükseligen"; oder ist er „ein schweres Joch/ eine grosse güldene Ketten/ welche viel fast zu Boden reist/ und die rechte Krön der Gedult [...] eine fast unerträgliche Dienstbarkeit"? (M, S. 395f.) Das richtige Spiel unter allen möglichen wird dann zu einer Frage der Entscheidung für tugendhaftes Verhalten. Melisa gibt schließlich unter allen Bewerbern, Figurationen des so oder so Denkbaren, Reinhold die Hand, der einmal, ein einziges Mal aber nur, für „gute Sittenlehre" eintritt. Er will dadurch dem Hin und Wider der Ehe-Vergleiche geschickt ein für ihn günstiges Ende setzen: Ich wolte wünschen/ mit der Jungfrau zu erfahren/ wie ein sanfRes Joch der Ehestand sey/ wie ein güldenes Band/ das niemand beschweret/ ein tägliches Wolleben/ ja der rechte Weg zur Glükseligkeit; in dem die Freyheit in den Gehorsam bestehet/ welchen uns gute Sittenlehre furschreiben. (M, S. 396)
Ohne die Fixierung eines solchen 'Punktes' müßte das Vergleichen an der Fülle seiner Möglichkeiten scheitern. Die Figuren jedenfalls werden eher desorientiert. Auch redet Melisa der einen und anderen nach dem Munde: „Ich [...] kan nicht Wort finden/ meine Gegenliebe außzudruken", zu dem Bewerber Narcissus (M, S. 373); „Den Narrn zisch ich auß", über ihn (M, S. 381). „Wer mein Erbe seyn wil/ der mag mich seiner Gunsten berauben", zu dem Bewerber Parabolano (M, S. 383), und über ihn: „Es verfolgt mich Parabolano mit seiner ungeschikten Höflichkeit" (M, S. 424). Melisas Verhalten hat damit zu tun, daß Narcissus und Parabolano „Höflichkeit" als Gesprächskultur (urbanitas, honnete)41 nicht zuwege bringen. Da ist Reinhold schon ausgenommen. Keineswegs aber werden die Dinge durch „der Gleichniß Freudenspiel", wie er es perfektioniert, klarer. Er muß sofort wieder daran erinnert werden, was „uns gute Sittenlehre fürschreiben" will, als Melisa zu jenem „Gesprächspiel" 41
Vgl. dazu Jean-Daniel Krebs: Harsdörffer als Vermittler des honnetete-Ideals. In: Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter. Hrsg. von Italo Michele Battafarano. Bern, Berlin, Frankfurt a.M., New York, Paris, Wien 1991. S. 287-311.
Versteckte Epigramme
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im Spiel auffordert mit der Frage: „Von was Holtz die Liebe jhr Pfeile mache? Die geringste Antwort ist Pfandbar." (M, S. 406) Die Figuren antworten so verschieden, wie sie eben verschiedene sind. Dabei vertritt Reinhold die Position des Textes selbst, was augenscheinlich aber als Norm nicht genügt. Seinem Ein freundlich Schertzgespräch/ mit höflichen Geberden/ Kan recht der schärfste Pfeil der Lieb genennet werden.
dichtet Melisa das Ihre entgegen: Die Tugend ist der Pfeil/ der Adeliche Hertzen Verwundt und heilt zugleich mit Hönigsussen Schmertzen. (M, S. 409f.)
Aber damit ist die Tugendberufung nur als ein Moment in einer Konkurrenz von Epigrammen wirksam. Von deren Art folgen hundert weitere in einem Anhang (ANHANG HVNDERT SPJELREJMEN. Dergleichen Bey Außübung der Gesprächspiele/ zu Widerlösung der Pfände/ Beliebet werden mögen42). Das kann im Widerspiel und Wechsel der Positionen lediglich je „meiner Erachtens" richtig sein, wie Melisa selbst über ihre Tugendberufung sagt (M, S. 410), ja diese Berufung besticht in ihrem Epigrammatischen gerade als unerwartete Wendung des Gesprächs. Deshalb fügt sie sich nur merkwürdig assoziativ in die Handlung des Stücks und kann sie nie wirklich bestimmen. Bestimmt wird sie, so scheint es wenigstens, durch die Rückkehr von Melisas „Vatter/ welcher leider bald mit Anfang dieses annoch beharrenden Krieges/ gefänglich weggeführt worden" (M, S. 402). Bis der Vater zurückkommt, ist Melisa eine neue Penelope („[...] daß ich verfahren muß wie Vlysses Gemahlin"), die Jhre unverschämte Buhler" durch falsche Reden ruhigstellt. Als er aber zurück ist, bewährt sich Melisas Tugend bloß inhaltsleer darin, daß sie in der Heiratsfrage dem Willen des Vaters folgt („Meinen Willen/ will ich hierinnen/ wie in allem anderen/ meinem Herrn Vattern unterworffen haben." [M, S. 431]). Nur hat der Vater gar keinen eigenen Willen („Was sagst du darzu/ Tochter Melisa?"). Er läßt sich vielmehr von Reinhold bestimmen, dem Apologeten des „freundlich Schertzgespräch/ mit höflichen Geberden", das alles zu sagen erlaubt, die ganze Folge sich widersprechender Epigramme und Anthologien weiterer „Spielreime", die „bey Außübung der Gesprächspiele [...] Beliebet werden mögen". Reinhold repräsentiert wieder das Ganze, und in diesem Ganzen ist die vermeintliche Perspektive des Stücks lediglich ein Epigramm unter Epigrammen.
42
Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele, a.a.O. T. 3. S. 433-458.
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Zerbrochene Erkenntnis. Einleitung
In der „Vorrede Von der Gleichniß Vortrefflichkeit und Verstandmächtigen Eignungen" werden trotzdem die Möglichkeit der „Wunderfugnisse" und „die schöne Verfassung dieses gantzen Weltgebäus" erwogen. Aber das Nachwort entzieht die Überlegung, den ganzen Text und das ins Weite führende Vergleichen einer räumlich orientierten Vorstellung. „Du sagst es sey zu kurtz der Gleichniß Freudenspiel". Dafür macht es das Epigrammatische zum Prinzip seiner Genese. Auch das auf Universalität dringende Denken unterliegt dem Gesetz der nur für Stellen erreichbaren Klärung, so wie die von Harsdörffer gesammelten Apophthegmata „denckwürdige Lehrsprüche" sind, mit weiten Perspektiven manchmal, aber mit einer situationsbezogenen Geltung nur, als Zeugnisse dafür, daß man sich durch die in jedem Augenblick andere Welt helfen kann, daß jedoch ebensogut „der Rathschläge ausschlag [...] gleich einem Würffelspiel [...] meinstentheils änderst fält/ als man vermeinet."43 Ein Wissen spielt mit, daß das Erkenntnisglück der „Wunderfügnisse" das Punktuelle nicht überschreitet und daß gleichzeitig diese Einschränkung ihre eigenen Möglichkeiten hat, den Scharfsinn, die „Hand voll Saltz", mit der „mehr als viel" zu erreichen ist. „Mit einer Hand voll Saltz würtzt mancher mehr als viel." Epigrammatischer Sprechansatz und Theorie des Epigramms Barock und Epigrammatik sind intensiver aufeinander bezogen, als es eine auf Einflüsse gerichtete Untersuchung erkennbar machen kann. Der intensive Bezug liegt außerhalb der Perspektive solchen Fragens. Gerade dort, wo „die Gattung Epigramm für das 17. Jahrhundert in der ganzen Breite ihrer Erscheinungsform zu erfassen" war,44 entstand ein Erklärungsdruck, der lediglich auf Spezifikationen zielen ließ, auf das Epigramm als „genuines Element der Literatur des Gelehrtenstandes", beitragend „zum Statuserhalt der nobilitas literaria".45 Demgegenüber sind zunächst einmal ursprüngliche Nennfunktionen zu beachten. So wird in Birkens „Der Pegnitz-Schäfere Gesellschaft-Weide und Frülings-Freude" die Welt mit epigrammatischen Wendungen in ein emblematum über verwandelt.
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Georg Philipp Harsdörffer: Ars Apophthegmatica. Das ist: Kunstquellen Denckwürdiger Lehrsprüche und Ergötzlicher Hofreden. Bd. 1. Hrsg. und eingeleitet von Georg Braungart. Frankfurt a.M. 1990. (Nachdruck der Ausgabe Nürnberg 1655). Nr. 1074. Rathschläge. S. 239. Jutta Weisz: Das deutsche Epigramm des 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1979. S. 21. Weisz: Das deutsche Epigramm des 17. Jahrhunderts, a.a.O. S. 180.
Epigrammatischer Sprechansatz und Theorie des Epigramms
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In dem zeitvertrieb/ dieselbe reden zumachen/ suchet er zuweilen seine Poetische Wollust/ und schreibet etwan/ an einen Baum/ in dessen Rinden: Wer etwas bey mir sucht/ findt Schatten/ Holz und Frucht. Wiederum an den Zaunpfal einer grasreichen Blum= und Kräuterwiesen: Ich/ das Haar der Erden/ weide Äug und Heerden. Oder an eine Weidenwurzel/ die sich/ am Ufer/ in das fisch= und schiffreiche Wasser strecket: Ich netze/ und nütze/ ich trage und lenke/ ich lalle und spiegle/ ich bade und tränke.46
Es gibt, im poetologischen Entwurf jedenfalls, eine Praxis epigrammatischer Orientierung. Balthasar Kindermann denkt an solche Dinge/ so taglich in allgemeinen Zusammenkünften/ und offtmahls unversehens vorgehen [...] Zum Exempeh Ich frage/ was für ein Unterscheid zwischen einen klugen und Narren sey? Und wird mir hierauf geantwortet: daß jener nur zu Nacht träume/ dieser auch bey Tage: Daraus mache ich nun folgendes Gedicht: Wil man wissen/ wie die Beyden/ Klug und Narren zuentscheiden? Sprich: Ein kluger/ träumt zu Nacht/ Narren/ wan sie aufgewacht.47
Das Ursprüngliche des literarischen Phänomens schien auf in den Anfängen der neueren Barockforschung. Es war eine Wahrnehmung, die sich nicht mehr durch die „'Gattungsgeschichte der Sieger'",48 die bloß nebenordnenden Bestimmungen des Epigramms in den Poetiken begrenzen ließ und die andererseits noch nicht den aus der Forschungsentwicklung notwendig folgenden Differenzierungspostulaten unterlag. Man sprach noch unbedenklicher von der Epigrammatik als „Urform des Barock"49 und „lyrischen Grundtypus der Zeit",50 von „der inneren Epigrammatik des barocken Stiles".51 Vorliegende Arbeit sucht die Evidenz dieser 'ersten Erfahrung' erneut wirksam werden zu lassen. Dabei sind die Entwicklungen der Barockforschung natürlich nicht zu revidieren. Aber wohl soll ohne Widerspruch zu den Ausdifferenzierungen des Barockbegriffes wie46
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Sigmund von Birken: Der Pegnitz-Schäfere Gesellschaft-Weide und Früling-Freude: beschrieben durch Floridan. [Nürnberg] 1645. S. 64. Balthasar Kindermann: Der Deutsche Poet. Hildesheim, New York 1973. (Nachdruck der Ausgabe Wittenberg 1664). § 40f. S. 257f. Theodor Verweyen, Günther Witting: Das Epigramm. Beschreibungsprobleme einer Gattung und ihrer Geschichte. In: Simpliciana. Schriften der Grimmelshausen-Gesellschaft 11 (1989). S. 161180, hier S. 166. Herbert Cysarz: Deutsche Barockdichtung. Renaissance. Barock. Rokoko. Leipzig 1924. S. 11. Günther Müller: Deutsche Dichtung von der Renaissance bis zum Ausgang des Barock. 2. unveränderte Auflage Darmstadt 1957. S. 225. Paul Hankamer: Deutsche Gegenreformation und deutsches Barock. Die deutsche Literatur im Zeitraum des 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1935. S. 66.
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Zerbrochene Erkenntnis. Einleitung
der eine „allgemeine Rede vom Barock" möglich werden, die auf „gewalttätige Vereinfachung der Phänomene", wie Adorno warnte,52 verzichten kann, jedoch nicht auf den „spekulativen Elan", trotzdem das Ganze denken zu wollen, von welchem Elan inzwischen „wenig geblieben" ist.53 Es soll ein Epochenverständnis von Barock neu durch die Aufmerksamkeit auf die verdeckte Dominanz des Kleinen, die Epigramme erreicht werden. Die Gattungsstruktur soll erkennbar werden als orientierender Rahmen für die Selbstinterpretation, bis hin zu epigrammähnlichen Formationen der Wahrnehmung, in der Zeit und den Zeiten zwischen etwa 1620 und 1700. Dabei ist zunächst zu beachten, daß sich die Literatur und das literarische Sprechen in diesem Zeitraum maßgeblich an Versuchen, Epigramme zu schreiben, konstituieren. Die Versuche, in hohem Maße auch Übersetzungsversuche, werden keineswegs in eine Entstehungsgeschichte der Werke abgedrängt. Sie sind vielmehr vorzuweisender Teil derselben. Es können mit einem „Oder: [...] Oder: [...] Oder: [...]" zwei, drei, vier eigene Textvorschläge variiert werden, um etwa einer Passage bei Ovid in der Übersetzung epigrammatisch zu genügen (siehe Kap. 4 Poetae minores). Offenbar ist dafür weniger die Vorstellung leitend, ein Epigramm zu schreiben. Vielmehr scheint es darum zu gehen, öffentlich, in einem durch den Druck mitvollziehbaren Versuch, die eigenen Sätze an das Gattungsmuster zu gewöhnen. Die so entstehenden Texte zeigen zunächst einmal das Bemühen, einen Gedanken epigrammatisch aufzufassen. Ehe man beginnet aus eignem Kopf etwas zu erfinden und zu machen/ kan man in der Übersetzung oder Translation sich üben. Solches aber mag anfangs/ mit kleinen Sachen und Epigrammatibus, geschehen: und lernet man also kurz und nachdrücklich schreiben.54
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Theodor W. Adorno: Der mißbrauchte Barock. In: Th.W.A., Ohne Leitbild. Parva Aeslhetica. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1968. S. 133-159, hier S. 136. Zur Forschung vgl. neben vielem die Textauswahl von Richard Alewyn: Deutsche Barockforschung. Dokumentation einer Epoche. Hrsg. von R.A. Köln, Berlin 1965, die umfängliche Forschungsgeschichte von Herbert Jaumann: Die deutsche Barockliteratur: Wertung - Umwertung. Eine wertungsgeschichtliche Studie in systematischer Absicht. Bonn 1975, und Knut Kiesant: Die Wiederentdeckung der Barockliteratur. Leistung und Grenzen der Barockbegeisterung der zwanziger Jahre. In: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910-1925. Hrsg. von Christoph König, Eberhard Lämmert. Frankfurt a.M. 1993. S. 77-99. Zum Begriff des Barock siehe Wilhelm Emrich: Deutsche Literatur der Barockzeit. Königstein/Ts. 1981. S. 9-18; Gerhart Hoffmeister: Deutsche und europäische Barockliteratur. Stuttgart 1987. S. 1-8. Wilfried Barner: Stilbegriffe und ihre Grenzen. Am Beispiel 'Barock'. In: DVjs 45 (1971). S. 302-325, hier S. 309. Sigmund von Birken: Teutsche Rede-bind und Dicht-Kunst/ oder Kurze Anweisung zur Teutschen Poesy/ mit Geistlichen Exempeln [...] Hildesheim, New York 1973. (Nachdruck der Ausgabe Nürnberg 1679). T. 2. S. 175f.
Epigrammatischer Sprechansatz und Theorie des Epigramms
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Der Eindruck drängt sich auf, daß erst richtig gedacht ist, was im Epigramm gedacht ist. Deshalb auch betrifft das Übersetzen hier nicht allein die spezifische Tradition der Epigrammatik selbst, die insbesondere von der „Anthologia Graeca", von Martial und von John Owen bezogenen Texte. Tradition überhaupt erscheint in bedeutendem Maße als etwas, das, um jetzt wahrgenommen zu werden, über 'die Brücke' des Epigramms muß, durch ein entsprechend isolierendes, epigrammatisierendes Zitieren von je zwei oder je vier Versen, ob es sich nun um eine Komödie von Plautus handelt oder eine Ekloge Vergils. Und umgekehrt können die Epigramme 'integrativ', im Kleinen das Große zitieren, Werkzusammenhänge in einem Quatrain entfalten (siehe Kap. 2 Weckherlin). Das ist alles möglich, und es zeigt, so oder so, die Überlieferung in ihrem Wert an der einzelnen Fügung. Christoph Forsch überführt den Text, die Heilige Schrift nahezu systematisch in epigrammatische Strukturen, in einen „Geistlichen Kirch= Hof/ Vorstellende Sechshundert Lust= und Lehr=reiche Biblische Grab= Schrifften" (Danzig 1687). Wie alles andere ist auch die Bibel, Spinozas Kritik zufolge, in sich different, „aus verschiedenen Büchern [...] zu verschiedenen Zeiten, für verschiedene Menschen und von verschiedenen Verfassern", mit Stellen, „die eine [...] der anderen entgegengesetzt" sind.55 Fehlende Kohärenz war seit je das Problem der Bibelauslegung; jetzt wird daraus ein Problem und eine Möglichkeit. Die Epigramme von Porsch verändern die exegetische Bemühung um den Textzusammenhang in eine Wahrnehmung von Differenz, so in der satirischen Brechung der typologischen Schriftdeutung in der Grabschrift [Des Judas Ischarioths.] Eine Andere. Dem Adam bracht' ein Baum höchst jammerreiche Noht/ Und dem Ischarioth den ewig herben Tod. Denn jener hat zu weit die Gurgel auffgesperret/ Und dieser allzustreng und enge zu gezerret.56
Dabei greift hier die epigrammatische Darstellungsintention nur auf den biblischen Text über. Wenn früher schon Michael Albinus in seiner „Güldenen Rose von sechsmal Sechtzig Poetischen Sinnsprüchen auff unsers Heylandes JESU CHRISTI Heiliges Leben Leyden und Herrligkeit" von 1651 epigrammatische „Perlen und Edelgesteine" „in dem trüben Bach auf dem Wege nach Golgatha" sammelt, sind sie ihm „Erfin55
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Baruch de Spinoza: Tractatus theologico-politicus. Hrsg. von Günter Gawlick, Friedrich Niewöhner. Darmstadt 1979. (Opera. Lateinisch und Deutsch. Bd. 1). S. 451 u. 453. Christoph Forschen [...] Geistlicher Kirch=Hof7 Vorstellende Sechshundert Lust= und Lehrreiche BiblischeGrab=Schrifflen [...] Dantzig 1687. Grab=SchrifRen Aus dem Evangelisten Luca. Nr. 33. S. 314f.
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Zerbrochene Erkenntnis. Einleitung
düngen des heiligen Geistes" selbst: „Hier sind wenig Wort/ aber Wort von vieler Krafft und grossem Nachdrukk/ja Worte des ewigen Lebens".57 Damit ist bereits eine epigrammatische Grundstruktur der Offenbarung vorausgesetzt. Alles läßt sich epigrammatisieren. Dies bedingt eine oft relative literarische Qualität der Texte. Möglicherweise bezieht die Gattung gerade aus der Quantität, aus Häufung und Reihenbildung, aus dem Provisorischen, selbst dem Nichtgelingen von vielem ihre generelle Relevanz als Sprechansatz. Das Auftreten von Hunderten, Tausenden negiert den Stellenwert des Einzelnen und bedeutet andererseits die Weitung, Universalisierung des Gattungsbereichs: das Richten des epigrammatischen 'Blicks' auf hunderte, tausende Phänomene, weltliche und geistliche. Die Epigrammtheorie des Barock gruppiert immer von neuem die drei bestimmenden Termini „brevitas", „argutia", „acumen". Opitz bezieht dies von Scaliger, Kindermann von Opitz, Johann Gottlieb Meister von diesen allen, Omeis wieder von Opitz, der 1624 definiert: Das Epigramma setze ich darumb zue der Satyra/ weil die Satyra ein lang Epigramma/ vnd das Epigramma eine kurtze Satyra ist: denn die kürtze ist seine eigenschaffV vnd die Spitzfindigkeit gleichsam seine seele vnd gestallt; die sonderlich an dem ende erscheinet/ das allezeit anders als wir verhelfet betten gefallen soll: in welchem auch die Spitzfindigkeit vornemlich bestehet. Wiewol aber das Epigramma aller sachen vnnd Wörter fähig ist/ soll es doch lieber in Venerischem wesen/ vberschrifften der begräbniße vnd gebäwe/ Lobe vornemer Männer vnd Frawen/ kurtzweiligen schertzreden vnnd anderem/ es sey was es wolle/ bestehen/ als in sportlicher hönerey vnd auffruck anderer leute laster vnd gebrechen. Denn es ist eine anzeigung eines vnverschämten sicheren gemütes/ einen jetwedern/ wie vnvemünfftige thiere thun/ ohne vnterscheidt anlauffen.58
Das „Buch von der Deutschen Poeterey", in dem in dieser Weise 'eng' bestimmt wird, ist aber gleichzeitig durchzogen von kleinen Texten mit zwei oder vier Versen, die als Beispiele fungieren für die verschiedensten poetischen Erscheinungen, und es gibt in ihm jene Übersetzungen ganz anders strukturierter Texte, z.B. „aus dem Griechischen bey dem Anacreon",59 die Übertragungen zugleich in solche Konstellationen sind. Und die „Poeterey" beginnt mit dem Hinweis auf den Anfang aller Poesie, die ersten Verse, die - Diogenes Laertes folgend - Linus, der Sohn des
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Michaels Albinen Güldene Rose von sechsmal Sechtzig Poetischen Sinnsprüchen auff unsers Heylandes JESU CHRISTI Heiliges Leben Leyden und Herrligkeit gerichtet. Danzig 1651. Vorrede. o.S. Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey. In: M.O., Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe. Hrsg. von George Schulz-Behrend. Bd. 2, 1: Die Werke von 1621-1626. Stuttgart 1978. S. 331-416, hier S. 366. Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey, a.a.O. S. 389.
Epigrammatischer Sprechansatz und Theorie des Epigramms
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Hermes und der Muse Urania, „von erschaffung der weit" geschrieben haben soll: Es war die zeit da erstlich in gemein Hier alle ding' erschaffen worden sein.60
Es ist das erste literarische Zitat im „Buch von der Deutschen Poeterey", mit einer sich offenbar zu allem hin öffnenden Pointierung („alle ding'"), ein Reimschluß als Öffnung, wobei auch das zu bemerken ist, daß das bei Diogenes Laertes Zitierte nur in der Übersetzung durch Opitz diesen im weitesten Sinn epigrammatischen Charakter hat: das Reimen in zwei oder vier 'wohlabgemessenen' Versen. - Darauf folgt bei Opitz der Hinweis auf „so viel herrliche Sprüche" früher Dichtung, worin „die worte in gewisse reimen vnd maß verbunden/ so das sie weder zue weit außschritten/ noch zue wenig in sich hatten/ sondern wie eine gleiche Wage im reden hielten". An der Stelle, an der in den Dichtungslehren das Epigramm behandelt wird, läßt das Interesse an Einteilung und Begrenzung auf die paradigmatische Geltung der kleinen Texte eher unaufmerksam werden, ja es schützt förmlich vor den Extensionen. Doch wird bei der Vorstellung anderer Gattungstypen in den Poetiken deutlich, wie der Vergleich zum Epigramm als Erklärungshorizont gesucht wird, beim Sonett insbesondere („so eine Art der Epigrammaten"61)· Aber auch das Madrigal ist „nichts anders als ein Epigramme/",62 das Emblem ist „gleichsamb ein gemahltes Epigramma",63 Jacob Masen findet im Epigrammatischen das Dramatische, die Trauerspiele in ihrer Kunst der Täuschung und Verkennung vorgebildet: „Poeta qui Dramaticum errorem adornat, aliquid simile 60
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Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey, a.a.O. S. 345. Opitz bezieht sich auf diese Stelle bei Diogenes Laertes: Linos aber soll ein Sohn des Hermes und der Muse Urania sein. Er soll eine Kosmogonie gedichtet haben mit Schilderungen des Laufes von Sonne und Mond und der Erschaffung der lebenden Wesen sowie der Früchte. Der Anfang dieses seines Gedichtes lautet folgendermaßen: Einstmals war eine Zeit, wo alles zugleich war erschaffen. (Leben und Meinungen berühmter Philosophen. Aus dem Griechischen übersetzt von Otto Apelt. Hrsg. sowie mit Vorwort, Einleitung und neuen Anmerkungen zu Text und Übersetzung versehen von Klaus Reich. 2. Aufl. Hamburg 1967. Prooemium. S. 4). Augustus Buchner: Anleitung zur deutschen Poeterey. Hrsg. von Marian Szyrocki. Tübingen 1966. (Nachdruck der Ausgabe Wittenberg 1665). S. 175. Caspar Ziegler: Von den Madrigalen. Mit einer Einleitung und Anmerkungen von Dorothea Glodny-Wiercinski. Frankfurt a.M. 1971. (Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1653). S. 31. Daniel Georg Morhofens Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie. Hrsg. von Henning Boetius. Bad Homburg v.d.H., Berlin, Zürich 1969. (Nachdruck der Ausgabe Lübeck, Frankfurt 1700). S. 366.
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Zerbrochene Erkenntnis. Einleitung
Epigrammati."64 Wernicke sieht in vergleichbarer Perspektive das Epigramm als Nukleus des Lustspiels. Epigramme „sind gleichsam kleine Lustspiele/ in welchen nach einer langen Verwirrung! in dem letzten Aufftritt alles in eine richtige Ordnung gebracht wird."65 Die Charakterisierung des Literarischen überhaupt ist von dieser Art, daß es sich am besten im Epigramm zeigen und erweisen kann. Die Bestimmung des Poetischen bei Zesen zielt in einer Klimax auf die Konstellation der Gattung: Kurtz: ein volkommener Dichtmeister mus großmüthige/ hohe/ wohlausgearbeitete/ eigendliche/ tief und wohlausgesonnene/ nicht schlechte/ sondern alzeit verblühmte/ wahrscheinliche/ und doch nicht langschweiffige/ sondern kurtzbündige/ nachdenkliche und gantz durchkernte dichterische reden führen.66
Auf den ,,expansive[n] Charakter des Epigramms"67 wird in der Epigrammtheorie von Opitz her nur summarisch und regulierend eingegangen („das Epigramma aller Sachen vnnd Wörter fähig"). Die Gattungsdefinitionen sind der Versuch einer Limitation ihres Gegenstandsbereichs, auch eine Art von Ordnungssuche. Vor einer Epigrammatisierung des Denkens wollen sie gerade bewahren. Die ganze argutezza-Poetik wird vorsichtig umgangen, zum Erhalt der Theoriefähigkeit des Epigramms und zur Abwehr einer - wie es sich dem Polyhistor darstellen mag - Anarchie der Bedeutungen.68 Morhof sagt es ausdrücklich: Die Scharffsinnigkeit wird auch hierinne mißbrauchet/ wenn sie gar zu häuffig und zuviel gesuchet ist. Die Italiäner gehen offimahls zu weit/ und besetzen fast alle Zeilen der Rede mit acuminibus, welchen andere unbedachtsamer Weise folgen.69
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Jacob Masen: PALAESTRA Eloquentiae Ligatae. DRAMATICA. Pars III. Köln 1657. Lib. II. Cap. II. §1. S. 119. Christian Wernicke: Poetischer Versuch/ In einem Helden=Gedicht Und etlichen Schäffer=Gedichten/ Mehrentheils aber in Uberschriffien bestehend [...] Hamburg 1704. An den Leser. o.S. Philipp von Zesen: Hochdeutsche Helikonische Hechel [...] In: Ph.v.Z., Sämtliche Werke. Hrsg. von Ferdinand van Ingen. Bd. 11. Bearbeitet von Ulrich Mache. Berlin, New York 1974. S. 275 bis 402, hier S. 299. Weitz: Das deutsche Epigramm des 17. Jahrhunderts, a.a.O. S. 26. Zur argutezza-Poetik vgl. neben den bekannten Arbeiten von Gustav Rene Hocke (Die Welt als Labyrinth. Manier und Manie in der europäischen Kunst. Hamburg 1957) und Ernesto Grassi (Macht des Bildes: Ohnmacht der rationalen Sprache. Zur Rettung des Rhetorischen. Köln 1970) Klaus-Peter Lange: Theoretiker des literarischen Manierismus. Tesauros und Pellegrinis Lehre von der „acutezza" oder von der Macht der Sprache. München 1968. S. 116-130, und Stefan Matuschek: Über das Staunen. Eine ideengeschichtliche Analyse. Tübingen 1991. S. 136-154. Wilfried Barner weist auf den Zusammenhang von argutia-Bewegung und Epigrammtheorie hin (Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970. S. 44-46). Morhof: Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie, a.a.O. S. 357. Natürlich ist auch hier (insbesondere für das Epigramm) der spanische Einfluß, Baltasar Graciäns: „Argudeza y arte de ingenio" (Madrid 1642) mitzudenken.
Epigrammatischer Sprechansatz und Theorie des Epigramms
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In bestimmter Hinsicht sind damit die Epigrammtheorien paradoxenveise auch Einschränkungen der Gattungsintention. Für die Öffnung des Gattungsbegriffs sind andere Zusammenhänge wirksam, denen sich die Poetik des Epigramms integrieren läßt. Sie führen zu dem Kompetenzgewinn und zum Paradigmatischwerden der Gattung. Durch sie gerät das Epigramm als Gedicht und literarischer Text in engste Beziehung zu den Wissenslehren und zu den Erkenntnistheorien der Zeit. Die leitende Vorstellung ist, daß Epigramme „zum öftern tiefgesuchte und Nachsinnens= würdige Sinnsprüche" sind und daß „eine iede Kunstrede von ihnen gleichsam durchsternet wird".70 Eigentlich ist das Epigrammatisieren gar kein eigenes Schreibvorhaben zu nennen, wenn Johann Heinrich Traunsdorff erklärt, es sei ihm darum gegangen, „die hin und wider in meinen manuscriptis operibus zerstrewt vnnd eingebrachte deutsche Reimen/ so wol dem günstigen Leser/ als auch mir selbst zur recreation vnd langweiliger/ doch nutzlicher Zeit=vertreibung zusammen zutragen/ in sonderbahre opuscula von tausend zu lausenden zu verfassen".71 Andererseits erscheinen mit dieser Einstellung zum Werk die Epigramme als die eigentlichen Resultate und die umfänglichen Texte als das Zerstreute, das rückgeführt werden muß auf seine einzelnen, konzentrierteren Passagen. In Alsteds „Encyclopaedia" wird die epigrammatische Struktur ohne ein direktes Verändern oder sogar Aufgeben der Gattungseigenschaften für diese Situation des Denkens geöffnet. Im Unterschied zum Darstellungsschema in den Poetiken läßt Alsted der Generalbestimmung der Gedichte, „Poema est concinna versuum in unum systema collocatio", und einer kursorischen Verslehre zunächst die Darstellung des Epigramms folgen. Danach erst werden andere Gattungen, insbesondere das „Carmen lyricum" und das „Poema dramaticum" behandelt. Eine generelle Aufteilung („Ex ideä poema est exegeticum, melicum, vel dramaticum.") läßt das Epigramm eingegrenzt sein auf Nichtlyrisches („Exegeticum est epigrammaticum, [...] Melicum dicitur lyricum.").72 Darin liegt tatsächlich aber eine Entgrenzung, die Vermeidung eines enger zu fas-
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G[eorg] Neumarks [...] Fortgepflantztes Musikalisch=Poetisches Lustwaldes Dritte Abtheilung [...] Jena 1657. Zuschrift. o.S. Johann Heinrich Traunsdorff: Erstes tausend/ Deutscher weltlicher POEMATVM, von allerhandt täglich furfahender Materien/ vnnd Handlungen/ mancherley Sprüchwörtem vnnd Gleichnissen/ schönen dictis vnnd Sentenzien, und auß deß Authoris operibus manuscriptis vnnd Ethicomora/ischen Emblematibus also zusammen getragen. Bern 1642. [Widmungsvorrede] Der Wohl= Edelgebomen viel Ehren=Tugendreichen Frawen/ FRANCESCAE GRAVISSET, Frawen zu Liebeck [...]o.S. Alsted: Encyclopaedia. Bd. l, a.a.O. Lib. Decimus, Exhibens: Poeticam. Sect. I. Cap. XII. De poemate. S. 524.
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Zerbrochene Erkenntnis. Einleitung
senden Bestimmungsbereichs. Während nämlich „De carmine melico" zu sagen ist: „Hoc poSma gaudet vocum sonorumque concentu",73 ist für das Epigramm jenseits einer Funktionszuweisung eine eigene kleine Enzyklopädie zu beginnen: Genera epigrammatis sunt varia. Sunt enim epigrammata genethliaca, epithalamia, propemptica, scolia, epinicia, panegyrica, threni, epitaphia [...] Epigrammatum materia sunt symbola, scommata, erotica, hypotyposes, apologetica, signa, stemmata, onomasteria, apologiae, apologi, hieroglyphica, aenigmata, mythologiae, anticategoriae, emblemata, eaq; historica, ethica, vel physica.74
Horoskope, Hochzeitslied, Geleitgedicht, Trinklied, Preislied... Sinnbild, Ironisches, Erotisches, Detaillierung, Gegenrede, Zeichen... Die Reihe ist entweder nicht abschließbar („[...] mythologiae, anticategoriae, emblemata, eaq;"), oder sie ist es mit einem schließlich alles betreffenden Bezug: „[...] historica, ethica, vel physica." Enthymeme Unter welchen Voraussetzungen konnte so das Epigramm zum Schema eines poetisch orientierten Philosophierens werden? Die universalwissenschaftlichen und polyhistorischen Projekte der Zeit, zu denen Alsteds „Encyclopaedia" gehört, haben ja offenbar ihre Realisierung nicht in Kleinem. In den Kombinationskünsten des Lullismus kennen sie überhaupt keine Grenzen der Formation mehr, ja sie werden erst mit weltartiger Ausführlichkeit ihren eigenen Ansprüchen adäquat. Andererseits bedarf es der Rekonstruktion des Wissensaktes zur Feststellung der Prinzipien, nach denen die scientia universalis zu entfalten ist, besonders deshalb, weil ohne eine 'interne' Strukturierung das Wissen in seiner Vermehrung sich selbst verlieren muß. Dies erklärt, warum in der ramistischen Methodenlehre schon das Disponieren als Erkennen erscheint. Friedrich Beurhaus übersetzt 1587 die „Dialektik" des Petrus Ramus und benennt das Vorhaben: „alles wird mit Argumenten durch Klarsprüche vnd Schlusreden in richtige Ordnung ausgelegt".75 Dabei erklärt der 73 74
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Alsted: Encyclopaedia. Bd. l, a.a.O. S. 525. Alsted, Encyclopaedia. Bd. l, a.a.O. S. 525. Theodor Verweyen macht für Logau und für die Epoche insgesamt aufmerksam auf die gegenüber den Bestimmungen Scaligers „weitaus repräsentativeren Ausführungen Johann Heinrich Alsteds", auf die hier „systematisch noch nicht eingeschränkte Weite" der Epigrammtheorie (Friedrich von Logau. In: Deutsche Dichter. Leben und Werk deutschsprachiger Autoren. Hrsg. von Gunter E. Grimm, Frank Rainer Max. Bd. 2. Stuttgart 1988. S. 163-173, hier S. 167). P. Rami Dialectica verdeutscht/ vnd mehrers teils mit Biblischen Exempeln/ wie auch mit etlichen Anzeigungen erklert. Zu dem Ende/ das die anbefohlene Jugend/ in vergleichung der Spra-
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Übersetzer, ,^4xiomata, das ist/ Klarsprüche", „Syllogismos, das ist/ Schlußreden". Insofern scheint nur wieder der Weg der traditionellen Logik gegangen zu werden mit einer Entwicklung der Modi in der Urteilsfindung. Aber das würde das enzyklopädische Verfahren auf das an den Extensionen des Denkens Begriffsfähige zurücknehmen, während doch, nach einer Formulierung des Cusaners, dem Kosmographen „eine Stadt mit den fünf Toren der Sinne eigen ist", und beständig „treten die Boten aus der ganzen Welt ein und geben Kunde von der gesamten Lage der Welt".76 Deshalb zielt die ramistische Methode innerhalb des eigenen Anspruchs der Logik von den Konklusionen zurück auf die Prämissen, „die Argument". „Die Argument aber sein e[i]ntzle Funde oder Dinge vnd Wörter/ daraus die Sprüche gemacht werden".77 Dadurch erscheinen auch die Axiome und Syllogismen als topisch erworbene Kenntnisse, als allgemeine Gesichtspunkte für den Gebrauch in der Rede. Und statt der Axiome und Syllogismen sind „herrliche Sprüche" und „Sprüchwörter"78 das Vorbild, etwa im Fall von „Vergleicheten (Comparata)" für „die Folgredlein/ die wol aus Widerigen dingen entspringen": 1. Der Poet Martialis schertzet also auffeinen der von Noth war körnen zu Brot/ vnd wolle sich grossen Herren gleich achten: Wenn du deinn Vater scheltest einn Herrn So bekenstu fein mit solchn ehm/ Das du ein knecht seist eign geborn/ Vnd seist doch nicht so hochgekom 2. Der Ouividius klaget auch also über der Welt Sitten: Die Reichen sein in grosser Ehr/ Die Armen werdn geacht nicht mehr.79
Die Methode rekurriert auf primäre Denkfunktionen (Vergleich, Verhältnisbestimmung, Unterscheidung, Verbindung80); diese wiederum haben in
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chen/ als in der rechten/ dieser Kunst/ erkendtnis/ vnd weitleuffigem lieblichem Gebrauche desto fleissiger vnterrichtet vnnd geübet werde. Durch Fridericvm Bevrhevsivm. [Dortmund] 1587. [Widmungsvorrede] Dem Edlen vnnd Ehrnvehsten/ Johann von Altenbochum/ zur Heide/ & Dietrichen von Altenbochum/ zu Heringen. o.S. Nikolaus von Kues: Kompendium. In: N.v. K., Philosophisch-theologische Schriften. Hrsg. von Leo Gabriel. Übersetzt und kommentiert von Dietlind und Wilhelm Dupre. Bd. 2. Wien 1966. S. 683-731, hier S. 707. Beurhaus: P. Rami Dialectica, a.a.O. Das erste Buch/ der VemunfflKunst/ von der Erfindunge. Cap. I. o.S. Beurhaus: P. Rami Dialectica, a.a.O. Buch 1. Cap. XXXIII. o.S. Beurhaus: P. Rami Dialectica, a.a.O. Buch 1. Cap. III. o.S. Vgl. Thomas Leinkauf: Scientia universal!s, memoria und status corruptions. Überlegungen zu philosophischen und theologischen Implikationen der Universal Wissenschaft sowie zum Verhältnis von Universalwissenschaft und Theorien des Gedächtnisses. In: Ars memorativa. Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst 1400-1750. Hrsg. von Jörg Jochen Berns, Wolfgang Neuber. Tübingen 1993. S. 1-34, hier S. 18.
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Zerbrochene Erkenntnis. Einleitung
epigrammatischen Konstellationen ihre erste Abbildung. Die RamusÜbersetzung von Beurhaus bleibt dabei auf den ersten Blick ein philosophisch unbedeutender Text. Ihr Zweck ist es, dem Nebentitel nach, daß „die anbefohlene Jugend/ in vergleichung der Sprachen/ als in der rechten/ dieser Kunst/ erkendtnis/ vnd weitleuffigem lieblichem Gebrauche desto fleissiger vnterrichtet" werde. Derart überprüft Beurhaus die deutsche Sprache auf ihre eigene Fähigkeit zum „Spruch". Das heißt jetzt aber: überprüft wird die deutsche Sprache in ihrem direkten Konnex zum Denken. Entsprechend schließt bald 80 Jahre später Schotteis kompendienartige „Ausführliche Arbeit von der Teutschen HaubtSprache" von 1663 mit Sprichwortlisten, die diese Fähigkeit erkennen lassen. Das sind „gleichsam Landleuffige Schlußreden/ Sprichwörter [...]: Der Kern der Wissenschaft/ der Schluß aus der Erfahrung/ der Menschlichen Hendel kurtzer Ausspruch und gleichsam des weltlichen Wesens Spiegel"81 (vgl. Exkurs Atome und Buchstaben). Das erste und zentrale Kapitel in Jacob Masens „ARS NOVA ARGVTIARVM" von 1649 betrifft die „ARGVTIAS EPIGRAMMATICAS ex varijs Fontibus deductas".*2 Dabei ist diese Kunst („hac argute loquendi Arte"), wie es im Vorwort heißt, deshalb wichtig, weil sie nicht nur die Fertigkeiten der Rede, auch die Wahrheitsfindung und die Begriffsfeststellung betrifft („praesertim cüm ex ilia, non sola elocutionis, verum & conceptuum ratio magnopere illustretur"). Der ganzheitliche, redeübergreifende Zusammenhang veranlaßt Masen, das Epigrammatische nun methodisch in eine Relation zu Denken überhaupt zu bringen. Die Modi des Denkens werden in einer Cicero folgenden Lehre „DE QVATVOR Epigrammatum fontibus"*3 als Bewegungen des Widerspruchs und der Beziehung entworfen: „Föns I. repugnantium sine oppositorum", „Föns H. Alienatorum", „Föns III. comparatorum", „Föns IV. Lusus verborutn".*4 Die daraus 'fließenden' Fragen („Quis? quid? vbi? quae causa? modus? tempusque loquendi?" „Quis? quid? vbi? quibus auxilijs? cur? quomodo? quando?"85) sind schulmäßig zu traktieren. Es wird ein zu Epigrammatischem fähiger Fall konstruiert: der häßliche, aber schön gemalte Bembus. Durch die Beobachtung der Fontes werden über 30 Zwei-, Vier- oder Sechszeiler nach den Leitfragen erzielt, und zwar der81 82
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Schottel: Ausfuhrliche Arbeit Von der Teutschen HaubtSprache, a.a.O. Lib. V. S. 1102. Jacob Masen: ARS NOVA ARGVTIARVM HONESTAE RECREATIONIS IN TRES PARTES DIVISA. CONTINET I. ARGVTIAS EPIGRAMMATICAS ex varijs Fontibus deductas. II. ARGVTIAS FAMILIÄRES. III. ARGVTIAS EPIGRAPHICAS, SEV Variarum Inscriptionum. Köln 1649. Masen: Ars Nova Argutiarum, a.a.O. S. 9ff. Masen: Ars Nova Argutiarum, a.a.O. S. 18, 54, 86 u. 108. Masen: Ars Nova Argutiarum, a.a.O. S. 54 u. 137.
Enthymeme
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art auf didaktischem Wege, daß die Erkenntnisbezüge deutlich auch zum Primären der Vorstellungsbildung gehören. Masen stellt es in einer dialogischen Szene als Gespräch zwischen Lehrer und Schüler vor. Praeeamus viam sub persona Discipuli interrogantis, & Magistri respondents [...] Magister, Qualis est Bembus? Discip. Turpis homo. Magister, quid opponitur turpi? Discip. pulcrum esse. Magister, occurritne tibi aliquifd] Bembo proprium, cuius intuitu eum simul pulcrum dicas? Disc. Imago est, ratione cuius pulcer dici queat [.. .]86
Worum es geht, ist im grundsätzlichen nichts anderes als die Fähigkeit zum scharfsinnigen Satz, „hac argute loquendi Arte", eruiert in allen dafür denkbaren Aspekten. Masen bezieht sich ausdrücklich, in einem eigenen Kapitel,87 auf die Ciceronianische Rhetorik, die Redeanleitung „De Inventione". Invention in der antiken Rhetorik und Logik ist das Disponieren des Aussagegegenstandes nach allgemeinen Formeln, den loci communes. In der humanistisch-rhetorischen Topik sind daraus ausgeführte Kriterienkataloge und Kategorientafeln geworden.88 Dabei wird im topischen Verfahren aber nicht hierarchisiert, und es werden nicht von den Einzelfeststellungen durch Urteilsbildung Gegenstandsbegriffe abstrahiert. Nur die umständliche Gegenstandsaufgliederung (excogitatio) kann genaue Erfassung bedeuten. Derart entsteht eine Dialektik von Partiellem, in der induktiv angelegten Prädikation, und Universellem, im ständig entgrenzten Aufbau des topischen Feldes. Die Asyndetik des Verfahrens und die Notwendigkeit der Orientierung im anwachsenden gelehrten Material bedingen noch zusätzlich eine Eigenstellung der Einzelbestimmung. Daraus erwächst die Parallele zur punktuellen Klärung als Erkenntnisschritt im Epigramm. Deshalb fehlt in Scaligers Definition des Epigramms jeglicher Hinweis auf Poetisches, wie Logau übersetzt: „Ein (Epigrammä) Sinn=Getichte/ ist ein kurtz Getichte/ welches schlecht hin [...] etwas anzeiget/ oder auch etwas fürher setzet/ darauß es etwas gewisses schliesse/ vnd folgere".89 Deshalb auch tendiert um der Mehrung 86 87 88
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Masen: Ars Nova Argutiarum, a.a.O. S. 137. Masen: Ars Nova Argutiarum, a.a.O. Cap. II. Art. III. S. 10-18. Vgl. dazu Rudolph Agricola: De Inventione dialectica libri tres. Drei Bücher über die Inventio dialectica. Auf der Grundlage der Edition von Alardus von Amsterdam (1539). Kritisch hrsg., übersetzt und kommentiert von Lothar Mundt. Tübingen 1992. Kap. 29. S. 187ff. Zur Topik in ihren Auswirkungen auf die Barockpoetiken vgl. Joachim Dyck: Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition. 3., ergänzte Aufl. Mit einer Bibliographie zur Forschung 1966 bis 1986. Tübingen 1991. S. 40-65. Siehe zur Entwicklung der Topik insgesamt Schmidt-Biggemann: Topica Universalis, a.a.O. S. 8f. Friedrich von Logau: Deutscher Sinn-Getichte Drey Tausend. Hildesheim, New York 1972. (Nachdruck der Ausgabe Breslau 1654). Erstes Motto zum Ersten Tausend, als Zitat aus Scaligers Poetik (Julius Caesar Scaliger: Poetices libri septem. Mit einer Einleitung von August Bück. Stuttgart-Bad Cannstadt 1964. [Nachdruck der Ausgabe Lyon 1561]. Lib. III. Cap. CXXVI. S. 170).
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Zerbrochene Erkenntnis. Einleitung
des Gewissen willen das epigrammatische Schreiben zur Anthologie. Früh, im 16. Jahrhundert bereits, bei Erasmus, Melanchthon, Agricola, gibt es den engen Zusammenhang zwischen solcher Einzelbestimmung und Gegenstandsauffassung überhaupt.90 Aber erst in der hier nur angedeuteten Theorieentwicklung des 17. Jahrhunderts wird gezielt die Gattungsstruktur des Epigramms über die Toposlehre an die Erkenntnissituation vermittelt, und dies womöglich gegen die anders, zurück auf die Tradition der Epigrammatik, etwa auf Martial, gerichtete Gattungsauffassung. Masens Fontes-Lehre hat hier wirkungsvoll die Epigramm- und die Literaturtheorien der Epoche bestimmt. Die Lehre wird über die Wende ins 18. Jahrhundert hinaus wörtlich fortzitiert, was auch heißt, im direkten Anschluß an Masens Latein: „Föns Repugnantium & Oppositorum, wann widerwärtige Dinge von einem zugleich gesagt werden [...] Föns alienatorum, wann man von einer Person oder Sache etwas bejahet/ das ihr entgegen zu seyn scheinet [...] Föns Comparatorum, wann gleiche/ oder auch ungleiche/ Dinge unter sich artig verglichen werden [...] Föns Allusionum, wann man mit den Wörtern/ Wort-Gleichungen/ Letterwechseln/ Sprichwörtern u.d. schön spielet".91 Johann Gottlieb Meisters „Unvorgreiffliche Gedancken Von Teutschen EPIGRAMMATIBUS" (1698) entwickeln die Texte aus dem Inventionsverfahren mit einer gewissen Distanz bereits. Indes betrifft die Distanz zum Verfahren nicht mögliche Diskrepanzen zwischen dieser Topik und der Gattungsstruktur, sonst würde nicht so ausführlich, über 53 Seiten, „Von Der Invention der EPIGRAMMATUM" gehandelt.92 Vielmehr ist das kritische, manchmal sogar ironische Moment der Darstellung darauf zurückzuführen, daß nunmehr das topische Denken als solches in Frage steht. Die Epigrammatik, die nach den Systemen jenes Denkens erklärbar erscheint, wirkt eben darum auch bereits als eine spezifisch barocke. So liegt das Interesse der Darstellung Meisters darin, im Verweis auf inzwischen veränderte Begriffe von „Natur" und „Naturell", „Conversation [...] nach der ietzigen Gewohnheit in Discursen artig und sinnreich", „Esprit"9* die Notwendigkeit eines ebenso zu verändernden Epigrammbegriffs deutlich zu machen. Aber der Sichtweise des alten Verfahrens, so umständlich es sein mag, 90
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Vgl. Paul Joachimsen: Loci communes. Eine Untersuchung zur Geistesgeschichte des Humanismus und der Reformation. In: Luther-Jahrbuch 8 (1926). S. 27-97. Magnus Daniel Omeis: Gründliche Anleitung zur Teutschen accuraten Reim= und Dicht=Kunst [...] Andere Auflage. Nürnberg 1712. S. 184-187. Vgl. zur Wirkung Weitz: Das deutsche Epigramm des 17. Jahrhunderts, a.a.O. S. 31 f. Johann Gottlieb Meister: Unvorgreiffliche Gedancken Von Teutschen EPIGRAMMATIBUS [...] Leipzig 1698. Cap. III. S. 97-150. Meister: Unvorgreiffliche Gedancken Von Teutschen Epigrammatibus, a.a.O. S. 99, 100 u. 108.
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unterliegen auch die Bestimmungen Meisters noch. Jedenfalls ist er nicht in der Lage, die gattungstheoretischen Überlegungen wirklich von dem alten Schema zu emanzipieren. So referiert er mit skeptischen Kommentaren: [...] es dürffte mancher ein halb Jahr sinnen/ ehe er mit der Substantia fertig würde/ und ehe er auf das Ubi käme/ dürfifte er gar nicht mehr wißen/ wo ihm der Kopff stünde94.
Trotzdem werden „die gesamten Loci Topici" auch hier in Anwendung gebracht. Für eine andere theoretische Fundierung gibt es keine Evidenz. Nur deutet sich an, wie solche theoretische Fundierung bald insgesamt als 'pedantisch' abgewiesen werden wird. Noch heißt es aber umständlich, damit z.B. „die merckwürdige^c//ow [...]/ welche im vorigen Seculo bey Pavia in Italien vorgieng", epigrammatisch zu fixieren ist: 1. Qvis? Carolus V. welcher dem König in Franckreich in der Käyser=Wahl vorgezogen wurde. 2. Cuftts (auxiliö) des Hertzogs von Savoyen/ der Graubündter/ der Teutschen. 3. Cui (Fini?) damit der Frantzoß auff die Praetension von Meyland renunciren möchte. 4. Qvem? Franciscum I. des Käysers AEmulum. [...] Und dieses wäre die rohe Materie; will man sie etwas beßer zu Epigrammatibus adjoustirenf so könnte man den Versuch auf folgende Art thun: 1. Unglückselig sind die Neben=Buhler/ welche nicht nur die Braut einbüssen/ sondern bey der neuen Familie sich gar zu Knechten machen lassen müßen. 2. Caroli Anschlag muste von statten gehen. Denn er folgte drey guten Räthen: dem Savoyer/ welcher mit Gelde riethe/ denen Graubündtem/ welche den Feind verriethen/ und dene Teutschen/ welche Francisco gar in die Haare geriethen. 3. Franciscus hatte sich verschrieben/ und vor Meyland Mein Land gesetzt/ doch weil solches im Stylo Curiae ungewöhnlich war/ führte ihn Carolus nach Spanien in die Schule.
[...]"
Auch ohne daß man Meisters Favorisierung neuer Kategorien wie „Naturell" und „Esprit" folgen muß, die in der Entwicklung die Epochengrenze markieren, ist die Invention der Epigramme in ihrer umständlichen Weite kraß unterschieden von den überlieferten Gattungskriterien selbst. In Morhofs „COMMENTATIO DE DISCIPLINA ARGUTIARUM" von 1693 wird, an Masen orientiert, die Kürze zur Länge beinahe. „Brevitas indefmita est: neque enim simpliciter necessarium est, ut uno vel altero disticho terminetur epigramma, sed polest interdum ad 40. vel 50.
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Meister: Unvorgreiffliche Gedancken Von Teutschen Epigrammatibus, a.a.O. S. 117f. Meister: Unvorgreifiliche Gedancken Von Teutschen Epigrammatibus, a.a.O. S. 119f. In der Schlacht von Pavia 1525 war König Franz I. in die Hände der kaiserlichen Truppen gefallen. Er wurde von Karl V. im Vertrag von Madrid zum Verzicht auf Mailand gezwungen.
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Zerbrochene Erkenntnis. Einleitung
versus extendi [...]"% Wie lang aber auch immer und gerade, weil es um das Primäre der Vorstellungsbildung geht: das 'Sekundäre', das philosophisch aber Relevante, genaue Schlußfolgerung und Urteil werden hierdurch nicht erreicht. „De Enthymematibus Argutis"97 - es kann eben nur um kurze Reflexionen gehen, Enthymeme. In der Rhetorik mögen sie viel gelten.98 In der Logik sind sie nur unvollkommene Schlüsse, letztlich keine Schlüsse also. Die Relevanz des Epigramms, das Paradigmatischwerden der Gattung scheint so seine Grenze zu finden an genau der Stelle, wo in der generellen Perspektive das Poetische dem Philosophischen subordiniert wird. Die Unterordnung setzt jedoch voraus, daß das Philosophische in seinen Zielen unirritiert den Niedergang der prima philosophia, der Metaphysik, überstanden hat, welcher Niedergang maßgeblich das neuzeitliche Denken bestimmt. Es wird davon so sehr bestimmt, daß Leibniz schließlich fragen muß, wie weit ausgreifend etwas Zusammenhängendes überhaupt noch sein darf, bevor es inneren Trennungen unterliegt, die es als zusammenhängend nicht mehr übersehen lassen. Das „Gemüth" muß ahn einem orth sein, da alle [...] Linien visüs, auditüs, tactüs zusammen fallen, vndt also in einem purtct. Geben wir dem Gemüth einen grösern platz alß einen punct, so istß schon ein Cörper, vndt hat partes extra partes, ist daher sich nicht selbst intime praesens vndt kann also nicht auffalle seine stücke vndtActiones reflectiren, darinn doch die Essentz gleichsamb deß Gemüthß bestehet."
Mit „Bemerkungen zum allgemeinen Teil der Kartesischen Prinzipien" (1692) bezieht Leibniz die ersten taktilen und optischen Erfahrungen in die Verunsicherung ein: daß es „doch feststeht, daß eine und dieselbe Hand das, was ihr soeben noch sehr warm erschien, gleich darauf schon als lauwarm empfindet; daß man ferner eine Mischung als grüne Farbe ansieht, in der man gleich darauf mit bewaffnetem Auge nicht mehr
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DANIELIS GEORGII MORHOFI COMMENTATIO DE DISCIPLINA ARGUTIARUM. [Leipzig] 1693. S. 202. Morhof: Commentatio De Disciplina Argutiarum, a.a.O. Sectio I. Cap. III. S. 49-70. Vgl. Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Hrsg. und übersetzt von Helmut Rahn. Darmstadt 1972. T. 1. Buch V, 24. S. 661: Das Enthymem wird von den einen als rednerischer Syllogismus, von anderen als Teil eines Syllogismus bezeichnet, weil ein Syllogismus unbedingt Schlußfolgerung und Behauptung hat und mittels aller Teile erreicht, was er behauptet hat, das Enthymem aber sich begnügt, nur verstanden zu werden. Gottfried Wilhelm Leibniz: An Herzog Johann Friedrich, vom 21.5.1671. In: G.W.L., Philosophischer Briefwechsel. Hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 1: 1663 bis!685. (Sämtliche Schriften und Briefe. II, 1). Darmstadt 1926. Nr. 58. S. 105-110, hier S. 108.
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Grün, sondern eine Mischung von gelb und blau bemerkt [...]"10° Wissenschaft ist die methodische Durchführung eines solchen 'Gleich darauf geworden. Leibniz nimmt Baconsche Argumentationen wieder auf, ohne allerdings die Induktion noch als das erkenntnissichernde Verfahren gelten lassen zu können. Es führte, gegen die erklärte Absicht, nur immer noch weiter ab von der Möglichkeit umfassend(er) geltender Sätze. Leibniz werden so neue, methodisch angeleitete Wissenschaft und alte ramistische Wissenslehre in gleicher Hinsicht fragwürdig: wir haben „statt erhellender Definitionen kleinliche Unterscheidungen, statt wahrhaft universaler Axiome topische Regeln".101 Diese Auffassung läßt für das topische Argumentieren nur Nebenfunktionen zu. In Zusammenhängen, in denen die Gewährleistungen der philosophischen Methode nicht selbst auch in Frage stehen, ist das lediglich noch als 'exoterische Methode' brauchbar: 'manches wird ohne Beweis festgestellt, aber durch gewisse Entsprechungen und topische Argumente bestätigt'.102 Grundsätzlich ist der epigrammatische Ansatz jetzt „Enthymem", was ja auch Morhof betont, freilich in einem eher darauf abzielenden Verständnis. Für die darüber hinaus zu führende Erkenntnis wäre es, wenn strikt Wahrheit gefordert ist, in Leibniz' Auffassung „sehr oft besser [...], beim Ausdruck auf die Sicherheit zu sehen, statt ihr die Kürze und Eleganz vorzuziehen."103 Aber gleichzeitig erkennt er ja, wie dieses Epigrammatische als minderer Grad von Erkenntnis auf die Aporien der höheren Grade hinweist, auf die Probleme, die den Erkenntnisvorgang strukturell betreffen. Nie kann der Prozeß des Erkennens die Verunsicherung von Wahrnehmung, Vorstellung und Erfahrung wirklich aufheben. Das Kleinste kann größte Wirkungen haben: 100
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Gottfried Wilhelm Leibniz: Bemerkungen zum allgemeinen Teil der Kartesischen Prinzipien. In: G.W.L., Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. Übersetzt und mit Einleitungen und Erläuterungen hrsg. von Ernst Cassirer. 3., ergänzte Aufl. 2 Bde. Hamburg 1966. Bd. 1. S. 287 bis 328, hier S. 302. Gottfried Wilhelm Leibniz: Über die Verbesserung der ersten Philosophie und über den Begriff der Substanz. In: G.W.L., Kleine Schriften zur Metaphysik. Opuscules Metaphysiques. Hrsg. und übersetzt von Hans Heinz Holz. Frankfurt a.M. 1965. S. 194-201, hier S. 195. Gottfried Wilhelm Leibniz: Dissertatio de stilo philosophico Nizolii. In: Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz. Hrsg. von C. J. Gerhardt. Bd. 4. Berlin 1880. S. 127 bis 176, hier S. 146: Est tarnen inter philosophandi modos discrimen ingens, alius enim est, ut sie dicam, Acroamaticus; alius Exotericus. Acroamaticus est in quo omnia demonstrantur, Exotericus in quo quaedam sine demonstratione dicuntur, confirmantur tarnen congruentiis quibusdam et rationibus topicis [...]. Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Obersetzt, eingeleitet und erläutert von Ernst Cassirer. Nachdruck der 3. Aufl. Hamburg 1971. S. 501.
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Zerbrochene Erkenntnis. Einleitung Ich pflege zu sagen, eine Fliege könne den ganzen Staat verändern, wenn sie einen großen König vor der Nase herumsauset, so eben in wichtigen Rathschlägen begriffen; denn weil es kommen kann, daß sein Verstand gleichsam in der Wage sey, ja dann beyderseits starke Gründe sich finden, so kann doch kommen, daß diejenigen Vorschläge den Platz gewinnen, bey denen er sich mit Gedanken am meisten aufhält, und das kann die Fliege machen, und ihn eben verhindern und verstören, wenn er etwas anders recht betrachten will, so ihm hernach nicht just wieder auf solche Art ins Gemüth kommt. Diejenige so die Artillerie in etwas verstehen, wissen, wie eine kleine Aenderung machen kann, daß eine Kugel einen ganz ändern Lauf nimmt; daher hat es an einem kleinen gelegen, daß Turenne (zum Exempel) getroffen worden, und wenn das gleichwohl nicht geschehen, hätte der ganze damalige Krieg anders laufen können, und also wären auch die jetzigen Sachen anders herauskommen.104
Ähnlich hatte schon Descartes für den Akt des Schreibens auf die 'kleinen Änderungen' verwiesen, die „die Vorstellungen von Schlachten, Stürmen, Furien" oder „die ganz entgegengesetzten Empfindungen der Liebe und Fröhlichkeit bewirken". Die Schlachten selbst können eine unerwartete Wendung nehmen durch 'etwas ganz Kleines', wie denn der Vicomte von Turenne, der Generalmarschall der französischen Truppen im Krieg gegen die Niederlande und ihre Alliierten am 27.7.1675 („als er bey dem Dorffe Salasbach den Deutschen, mit welchen er sich in ein Treffen einlassen wolle, nahe kam") „mit einer Stück=Kugel aus dem Deutschen Lager erschossen" wurde.105 Das war für den Verlauf des Krieges entscheidender, als es Sieg oder Niederlage in einer der vielen Schlachten hätten sein können. Eben deshalb scheinen bei Bacon alte, „polyhistorische, topische Argumentationsmuster"106 durch. Das topische Denken wird noch wieder als verdeckter Hintergrund der neuen Methoden erkennbar. Es ist gerade in seiner Beschränkung auf Annahme, Unvollständigkeit und situative Klärung den Erkenntnisbedingungen adäquater. Überraschend verändert das als Beginn der Neuzeit gedachte Aufkommen der Naturwissenschaften und das in ihrem Gefolge grundstürzend andere Denken die Struktur des Erklärungshorizontes nicht. Die Topik zeigt sich in intensiver Weise mit Dispersionen affin, die unter den Bedingungen der neuen naturwissenschaftlichen Begriffsbildung erst entstehen.107 Das Problem der Topik, die 104
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Gottfried Wilhelm Leibniz: Von dem Verhängnisse. In: G.W.L., Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. Bd. 2, a.a.O. S. 129-134, hier S. 130. Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges UNIVERSAL-LEXICON Aller Wissenschaften und Künste [...] Bd. 24. Graz 1962. (Nachdruck der Ausgabe Leipzig, Halle 1745). Art. Tour, (Heinrich von la) Vicomte von Turenne. Sp. 1704-1709, hier Sp. 1708. Schmidt-Biggemann: Topica Universalis, a.a.O. S. 214. Peter Hess (Zum Toposbegriff in der Barockzeit. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch. Hrsg. von Joachim Dyck, Walter Jens, Gert Ueding. Bd. 20: Rhetorik der frühen Neuzeit. Tübingen 1991. S. 71-88, hier S. 86) hält, aus anderer Perspektive und ohne Bezug auf die 'Textform' des Topischen, alte und neue Wissenschaft gerade in dieser Hinsicht für unvereinbar: „Im neuen
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inneren Auflösungen in die von Unordnung kaum mehr unterscheidbaren universellen Ordnungen der Folianten, wie sie die Dialektik von Systematisierungsdrang und Partialisierung immer von neuem antreiben, ist auch die Möglichkeit ihres Fortdauerns durch das Jahrhundert. Harsdörffer bringt in Memorialversen die Kriterien der Gedächtnisleistung zur Sicherung des Wissensbestandes nach den loci topici zusammen. Das impliziert die Einzelfeststellungen. Die epigrammähnliche Qualität gedanklicher Fügung in diesen Einzelfeststellungen wird hier daran kenntlich, daß der die Fragerichtungen im gleichen Modus, als eine Einzelfeststellung, verbindende Text, selbst epigrammatisch gebildet wird. So läßt sich seine Memoria-Funktion am besten erfüllen. Wie die Buchstaben in einem Notarikon fungieren gereihte Fragewörter als Initialen des Vorstellungsaufbaues. „Quis? quid? vbi? quibus auxilijs? cur? quomodo? quando?", fragt Masen. Harsdörffer folgt dem: Etliche halten diese Ordnung/ eine Sache nach allen Umbständen zu betrachten/ wie in nachgehenden Reimzeilen verfasset ist: Hier waltet der GedächtnisRuhm: Ob? Vas? \ves? Svem? Jwohin? *woher? 7wie? *wann? 9mit was Gewinn? "Wlang? "wieofft? "wardurch? "warumb?108
Gerade das Fragen im einzelnen führt zu den Universalbildungen barokker Wissenschaft, und sie führen zu dem Fragen im einzelnen. Das liegt in der Auffassung von Methode als System, collocatio topisch gewonnener Erkenntnisse. Polymathie ist das Erkenntnisideal. Dies begründet die elementare Bedeutung der ars memorativa. Doch kann auch sie nicht verhindern, daß die Häufung idealiter aller Aspekte der Bestimmung eines Gegenstandsbereichs proportional zur erstrebten Genauigkeit den Verlust der Orientierung angesichts der Fülle der Materialien mit sich führt. Das betrifft nicht nur die Gefahr, wiewohl sie groß genug ist, bei aller Kunst das immer auf das Ganze bezogene Gedächtnis zu verlieren. Daß man es nicht verliert, ist fast gefährlicher noch, weil nämlich „die natürliche Memoria vnnd Gedächtnuß" durch diese Kunst bißweilen dermassen turbirt vnnd verwirret wird/ mit jhren mannigfaltigen vnnd wunderseltzamen Bildern vnd Figuren/ daß offermals die/ so sie begehren zu lernen/ gantz
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wissenschaftlichen Denken, das sich im 17. Jahrhundert entwickelt, - sei es Empirik, sei es Kartesianismus - findet sich kein Raum für die topische Methodik." Harsdörffer: Der Philosophischen und Mathematischen Erquickstunden Dritter Teil, a.a.O. I. Von der Schreib= und Rechenkunst. S. 52.
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Zerbrochene Erkenntnis. Einleitung verstürtzet vnd wahnsinnig werden/ daß sie nicht mehr wissen noch gedencken/ woran sie sich halten sollen109.
Es erhöht sich hierdurch im Aufbau des enzyklopädischen Feldes der polyhistorischen Unternehmungen die Wertigkeit der kurzen Lehrsätze, wie sie aus der Beachtung des rhetorischen Dispositionsschemas nach loci communes gewonnen werden: „At praecepta finita sunt, et in singulis artibus adeo breuia, ut si tautologias, si falsa ac commentitia documenta, si aliena et heterogenea theoremata resecemus: liberalibus artibus nihil breuius, nihil facilius dicere queamus."110 Die Lehrsätze sind nicht nur aus Gründen der gebotenen Übersichtlichkeit kurz; sie sind 'kurz, damit aus ihnen Tautologien, falsche und erdichtete Zeugnisse, unsinnige und in sich unzusammenhängende Theoreme erkennbar werden'. Trotz der universellen Anlage des Konzeptes wird mit einer darin beständig wirkenden Umwertung des Kriteriums Kürze Bedingung von Wahrheit. Rückkehr zur Gattungsbestimmung Diese Tendenz zum Kleinen wird begleitet von einem anderen, unauffälligen Philosophieren, das die Epoche bestimmt, neben den großen philosophischen Texten her, indem es induktiv auf sie reagiert: ein Eklektizismus, der das je für ihn Wichtige ausschreibt, eine Exzerpierkunst. Sie kann durchaus für eine methodisch reflektierte Position gelten. Denn sie registriert, wie die Systementwürfe des Denkens ihre Evidenz nicht in dem angestrebten Globalen haben, das sie sein wollen, sondern nur in der einzelnen Überlegung. Gerhard Johannes Vossius fordert 1657 zum Ausschreiben auf: „Flores enim ex omnibus sectis legemus, & inde corollam plectemus capiti nostro, quae quanto plus traxerit ex vero bonoque, tanto erit pulcrior atque odoratior, tanto etiam minus marcescet."1" Der Eklektizismus ist das Ergebnis der ihre metaphysischen Ansprüche zurückdrängenden Philosophien. Er impliziert die Valenz der nur in sich, ohne weite Dimensionen geltenden Einzelbemerkung. Vossius' Anleitung zum Sammeln und Exzerpieren bezieht sich in ihrer Metaphorik, „Flores [...] legemus", „corollam plectemus", „pulcrior atque odoratior", „marcescet", 109
Tomaso Garzoni: PIAZZA UNIVERSALE: Das ist: Allgemeiner Schawplatz/ Marckt vnd Zusammenkunft aller Professionen [...] Frankfurt a.M. 1659. Sechzigster Discurß. S. 605. 110 Johann Thomas Freigius: Petri Rami Professio Regia. Basel 1576. [Widmung]. Zit. nach Schmidt-Biggemann: Topica Universalis, a.a.O. S. 52f. 1 '' Gerhard Johannes Vossius: Tractatus philologici de rhetorica, de poetica, de artium et scientiarum natura ac constitutione III. De artium et scientiarum natura ac constitutione libri 5, nach der Ausgabe Amsterdam 1696. S. 315. Zit nach Schmidt-Biggemann: Topica Universalis, a.a.O. S. 253.
Rückkehr zur Gattungsbestimmung
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strikt zurück auf die Florilegien. Sie ist in diesem Zusammenhang auch eine theoretische Auffassung des Texttypus der Epigrammanthologie, die bei Opitz als Fortsetzung humanistischer Bestrebungen, als „FLORILEGIVM VARIORVM EPIGRAMMATVM" (1639) erscheint: JMRT. OPITIVS Ex vetustis ac recentioribus Poetis congessit & versibus Germanicis reddidit". Das führt zur deutschsprachigen Anthologie hinüber, wird ein eigenes Werk des Sammlers. Es ist ein besonderer Aspekt der auch in diesem Kontext genereller zu fassenden Epigrammtheorie, daß sich die Situation im Übergang von der collectio des Polyhistors, die ihre eigene Herkunft in der ramistischen Wissenschaft hat, zum literarischen Schreiben gar nicht prinzipiell verändern muß. Der Autor bleibt weiterhin und am Ende noch sich selbst gegenüber ein Sammler. Der Autor Traunsdorff führt es vor mit seinen „dictis vnnd Sentenzien [...] auß deß Authoris operibus manuscriptis", „so wol dem günstigen Leser/ als auch mir selbst [...] zusammen [getragen". Epigrammatik läßt sich begreifen als induktives Verfahren im Feld des eigenen Wissens, die Bedingtheit dieses Wissens wie auch die dem Gewußten je eigene und die prinzipielle Bedingtheit (die mit „vanitas" und „fortuna" so oft beschriebene) umgehend. - Es sind wahre Sätze möglich durch die Isolierung von in ihrer Kürze gerade dann richtigen und wichtigen gedanklichen Zusammenhängen, wenn die Auflösung der Bezugsrahmen registriert werden muß, desjenigen der Metaphysik, desjenigen der scientia generalis und desjenigen der Erfahrung durch die neuen Wissenschaften, trotz des „Novum organum" Bacons, trotz und wegen der neuen grundstürzenden Erkenntnisse. Nur im kleinen noch ist Wahrheit möglich. „Le parier bref convient ä verite".112 Ist im kleinen noch Wahrheit möglich? Es gibt jetzt Epigramme, bei denen man nicht mehr sicher sein kann, ob sie etwas in der kurzen Formulierung gedanklich erfassen oder ob sie zeigen, daß selbst dies nicht erreichbar ist, weil es dafür keinen Deutungsrahmen mehr gibt. Ein Beispiel ist Johann Grobs bloß konventionell wirkendes Epigramm Auf einen Hochzeiter. Weil deinem schönen lieb' ihr bäuchlein wil geschwellen So hast du hohe zeit ein' hochzeit anzustellen."3
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Les QUATRAINS Du Seigneur DE PYBRAC. In: Les QUATRAINS Des Sieurs De PYBRAC, FAVRE, Et Les Tablettes De La Vie & de la Mort De MATTHIEU [...] Corrige de nouveau & mis en beau Fran?ois. Amsterdam 1699. S. 5-25, hier S. 17. LXXIV. S. 17. Vgl.: Deß Herren Von Pibrac TETRASTICHA Oder Vier= Verse/ Von Martin Opitzen Deutsch gegeben. In: M.O., Weltliche Poemata 1644. Hrsg. von Erich Trunz. T. 1. Tübingen 1967. S. 515-536, hier S. 527. Johann Grob: Dichterische Versuchgabe. Bestehend In Teutschen und Lateinischen Aufschriften/ Wie auch etlichen Stimmgedichten oder Liederen [...] Der Aufschriften oder Kurzgedichte Anderes Buch. Nr. 42. S. 65.
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Zerbrochene Erkenntnis. Einleitung
Zwei einander überlagernde Lektüren sind möglich. Die eine faßt das Epigramm als spruchhafte Formel auf und sieht darin die Intention normorientierter Satire rigoros bestätigt, findet damit auch Stelle und Stellenwert des Epigramms als „kurtze Satyra" nach der Opitzschen Theorie wieder. Die andere Lektüre faßt die spruchhafte Formel als Epigramm auf und sieht sich dann zur Infragestellung jener ersten Sicht gezwungen. Das 'Übel des vorehelichen Geschlechtsverkehrs' wird zu dem, für das es gilt, erst durch die Erhebung von Ehe zum Maßstab. Geht es um die fraglose Behauptung des Maßstabes, so kann die gedankliche Leistung des Epigramms nur darin liegen, daß Voraussetzung und Schluß mit einiger Scharfsinnigkeit koinzidieren, also in einer argutia ohne acumen, ohne Überraschung. Aber „hochzeit" ist im Wortspiel schlicht auflösbar in die Forderung, daß man sich mit ihr beeile: es ist „hohe zeit". Vom Maßstab ist nur noch der Befolgungsdruck vorhanden, der jedoch so, daß etwas anderes als die Erfüllung des Gebotes, eine Alternative, welche auch immer, außerhalb des Denkbaren liegt. Normorientierte Satire hingegen müßte immer noch auf die Erfüllung des Gebotes dringen; sie ist keineswegs sicher, ja unwahrscheinlich sogar, aber eine Notwendigkeit doch, deren Sinn aus Mißstand und Nichtbefolgung erhellt. Das Epigramm Grobs kann, in scheinbarer Nähe dazu, pointierend auf seine satiregeschichtlichen Voraussetzungen reagieren. Es zeigt die Geltung der Norm. Nur handelt es sich bei ihr um einen nicht einmal mehr im Äußerlichen zu wahrenden Schein. Denn es ist längst eingetreten, was nicht hätte geschehen sollen, „weil deinem schönen lieb' ihr bäuchlein wil geschwellen." Die Verse „Auf einen Hochzeiter" stehen unwiderruflich in der 'falschen' Reihenfolge. Trotzdem ergeben sie, bis zur Kausalität verstärkt, von einem zum anderen wie von der Ursache zur Wirkung die 'richtige' Regel. An die Stelle der normorientierten Satire, an die sich der Text im harmlos Sentenziösen und in der Sinnfälligkeit seines Reims zu halten scheint, tritt ein fast nostalgisch zu nennendes Erinnern, daß sie einmal möglich war. Jetzt ist alles durcheinander. Regeln werden mißachtet, aber es hat bei dieser Folge: „So hast du hohe zeit ein' hochzeit anzustellen", nichts mehr zu bedeuten. Regeln werden beachtet, aber es hat bei dieser Ursache, „weil deinem schönen lieb' ihr bäuchlein wil geschwellen", nichts mehr zu bedeuten. Dabei wird eines erkennbar: Das Irrelevantwerden der Norm läßt die Satire nicht andere Wege gehen, eben die ihrer weiteren Geschichte.114
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Siehe dazu Helmut Aratzen: Satire in der deutschen Literatur. Geschichte und Theorie. Bd. 1. Vom 12. bis zum 17. Jahrhundert. Darmstadt 1989. S. 1-17, und ders.: Der Ursprung der modernen Satire. Zur Satiretheorie der Aufklärung. In: H.A., Zur Sprache kommen. Studien zur
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Vielmehr kehrt sie, im Grunde paradox, wieder zur Norm um. Das Problem des Satirischen in der barocken Epigrammatik ist das des barocken Bewußtseins überhaupt. Die Bezugshorizonte eines kritischen Denkens sind derart weggebrochen, daß die schon in einem ersten kritischen Ansatz verloren zu gebenden Normen am Ende das Einzige, das Letzte trotzdem sind, auf das in einer längst Konstrukt gewordenen Ethik noch gezielt werden kann und das darum eben doch nicht verloren gegeben werden darf. Die erste Lektüre von Grobs Epigramm als eine spruchhafte Formel tritt in ihr Recht zurück. Die Pointe ist keine; um Lessingsche, an Martials satirischer Epigrammatik entwickelte Kategorien vom barocken Text aus zu antizipieren: der „Aufschluß" ist die Bestätigung der „Erwartung". Der Text strebt zurück in die Konventionalität. Am Ende bleibt seine ganze Wahrheit, daß man in ihm das Affirmieren von dem Negieren nicht mehr trennen kann. Die Kürze wird im bündig Sinnfälligen der Formulierung sich selbst verdächtig, der Scharfsinn ist von seinem Gegenteil nicht zu unterscheiden, besteht auch wirklich in seinem Gegenteil, denn 'die Pointe' ist kontradiktorisch die Vermeidung einer unerwarteten Lösung. Wo der barocken Epigrammatik - auch (muß man sagen) - das satirische Moment eignet, ist sie zugleich mit sich im Streit über dessen innere Möglichkeit und Legitimation. Sind die Verluste noch von einer Art, daß sich Kritik dimensionieren läßt, und ist die Kritik nicht längst von der Problematik ihrer Gegenstände eingeholt? Die satirische Darstellung in der barocken Epigrammatik, das ausnehmend satirische Epigramm ist in merkwürdiger Umkehrung beider Intentionen, sowohl der satirischen wie der epigrammatischen, gerade das konventionelle. Es bedeutet den Erfolg, etwas in dem traditionellen Lasterkatalog oder doch in überschaubaren Weiterungen desselben halten zu können. Hingegen löst das konsequenter Epigrammatische das Satirische durch Universalisierung der Problematik auf. Das betrifft alles Anzusprechende, die Situation des Sprechens selbst, besetzt von Zweifeln darüber, ob es das 'Kurzbündige, Nachdenkliche und ganz Durchkernte' wirklich geben kann, jedenfalls nie anders als für den Augenblick von zwei oder vier Versen, und auch da nur so, daß man sich auf eine Überraschung gefaßt zu machen hat. In ausgreifenden Zusammenhängen zu denkende Lösungen werden utopisch. Johann Kaysers Epigramm „Die verkehrte Welt"115 macht in
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Literatur- und Sprachreflexion, zur deutschen Literatur und zum öffentlichen Sprachgebrauch. Münster 1983. S. 281-298. M. JOHANNIS Kaysers PARNASSUS CLIVENSIS oder Clevischer Musen=Berg und Seine darauff gewachsene Poetische Früchte/ nemblich Hundert ANAGRAMMATA und Zwey=hundert EPIGRAMMATA [...] Kleve 1980. (Nachdruck der Ausgabe Kleve 1698). Nr. CLXVIII. S. 170.
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Zerbrochene Erkenntnis. Einleitung
seinem Graphischen bereits deutlich, wie hier Erkenntnis und momentane Geltung von Erkenntnis, Denken und Inkonsistenz von Denken, Orientierung und Desorientierung zusammen sind:
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