Enzyklopädie des Märchens: Band 10 Nibelungenlied - Prozeßmotive 9783110908305, 9783110168419


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Enzyklopädie des Märchens: Band 10 Nibelungenlied - Prozeßmotive
 9783110908305, 9783110168419

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Enzyklopädie des Märchens Band 10

W DE G

Enzyklopädie des Märchens Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung Begründet von Kurt Ranke Mit Unterstützung der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen herausgegeben von Rolf Wilhelm Brednich, Göttingen zusammen mit Hermann Bausinger, Tübingen Wolfgang Brückner, Würzburg · Helge Gerndt, München Lutz Röhrich, Freiburg · Klaus Roth, München Redaktion Ines Köhler-Zülch - Ulrich Marzolph Christine Shojaei Kawan - Hans-Jörg Uther, Göttingen Band 10 Nibelungenlied · Prozeßmotive

2002 Walter de Gruyter · Berlin · New York

Lieferung 1 (2000) Nibelungenlied-Pakistan Lieferung 2 (2001) Pakistan-Phädrus Lieferung 3 (2002) Phädrus-Prozeßmotive

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-AINSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt

Die Deutsche Bibliothek



CIP-Einheitsaufnahme

Enzyklopädie des Märchens : Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung / begr. von Kurt Ranke. Hrsg. von Rolf Wilhelm Brednich zusammen mit Hermann Bausinger ... — Berlin ; New York : de Gruyter. Bd. 1 - 4 hrsg. von Kurt Ranke zusammen mit Hermann Bausinger ... Bd. 10. Nibelungenlied - Prozeßmotive. - 2002 ISBN 3-11-016841-3

© Copyright 2000/2001/2002 by Walter de Gruyter GmbH & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Datenkonvertierung: Meta Systems GmbH, Elstal Druck: Karl Gerike, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Fuhrmann KG, Berlin

Gefördert mit Mitteln der Bund-Länder-Finanzierung/Akademienprogramm

HINWEISE FÜR DIE BENUTZUNG Anordnung der Stichwörter Die Stichwörter sind in alphabetischer Reihenfolge geordnet. Die Umlaute ä, ö, ü, äu werden wie a, o, u, au behandelt, der Buchstabe ß gilt als ss. Bei manchen Stichwörtern folgen Singularund Pluralformen direkt aufeinander, woraus sich geringfügige Abweichungen von der alphabetischen Anordnung ergeben (Baum, Bäume, Baumann). Dem Familiennamen vorangehende Zusätze werden in der landesüblichen Weise alphabetisiert (Friedrich von der Leyen unter: Leyen, Friedrich von der; Carl Wilhelm von Sydow unter: Sydow, Carl Wilhelm von; Aulnoy, Marie Catherine d'; dagegen: De Gubernatis, Angelo). Transkriptionen Namen, Werktitel und Begriffe aus Sprachen, die nicht das lateinische Alphabet benutzen, sind nach den heute wissenschaftlich gebräuchlichen Transkriptionssystemen umgeschrieben (siehe: Schürfeld, C.: Kurzgefaßte Regeln für die alphabetische Katalogisierung an Institutsbibliotheken. Bonn 41970). Abkürzungen Das jeweilige Stichwort wird innerhalb des Artikels abgekürzt. Alle anderen Abkürzungen sind im Verzeichnis der Abkürzungen aufgelöst; Flexionsendungen können den abgekürzten Substantiven angefügt sein. Ethnische, geographische und Religionsgemeinschaften betreffende Adjektive werden um die Endungen gekürzt, soweit sie nicht eigens im Abkürzungsverzeichnis aufgeführt sind. Für die biblischen Bücher und außerkanonischen Schriften ist das in Die Religion in Geschichte und Gegenwart (31957) t. 1, p. XVI sq. verwendete Abkürzungssystem maßgebend. Die für wichtige Sammlungen, Nachschlagewerke, Buchreihen und Zeitschriften gebrauchten Kurztitel können anhand des Verzeichnisses 2 aufgeschlüsselt werden. Literaturangaben und Anmerkungen Weiterführende Literatur ist am Ende jedes Artikels, bei längeren Artikeln auch unter einzelnen Abschnitten in einem chronologisch oder nach Ethnien geordneten Verzeichnis angegeben. Anmerkungen zu einzelnen Textstellen sind mit hochgestellter Zahl gekennzeichnet. Manche Autoren verwenden auch die Kurzzitierweise (Autor, Jahr, Seite), die anhand der Literaturangabe aufgeschlüsselt werden kann. Was Erzähltypen und -motive betrifft, so richtet sich die EM nach den Anordnungsprinzipien und dem Nummernsystem des international verwendeten Typenkatalogs Aarne/Thompson (AaTh), des Motiv-Index von Stith Thompson (Mot.) und der zahlreichen Regionalverzeichnisse. Die Angaben von Typen und Motivnummern im Text oder in den Anmerkungen sind als weiterführende Hinweise zu verstehen. Werktitel, Erzähltypen und -motive werden im Text kursiv wiedergegeben. Verweise auf andere Artikel sind durch Pfeile (Verweiszeichen: -•) angezeigt.

VERZEICHNIS DER ABKÜRZUNGEN* 1. Allgemeine Abkürzungen Abb. Abhdlg a. Chr. n. afrik. ags. ahd. Akad. allg. amerik. Anh. anthropol. app. aram. Art. Assoc. Α. T. Aufl. Aug. Ausg. Ausw.

Abbildung Abhandlung ante Christum natum afrikanisch angelsächsisch althochdeutsch Akademie allgemein amerikanisch Anhang anthropologisch appendix aramäisch Artikel Association Altes Testament Auflage August Ausgabe Auswahl

Bearb., bearb. Beitr. Ber. bes. betr. Bibl. bibl. Bibliogr. Biogr., biogr. Bl., Bll. bret. bulg. byzant. bzw.

Bearbeitung, bearbeitet Beitrag Bericht besonders, besonderer betreffend Bibliothek, bibliotheque etc. biblisch Bibliographie, bibliography etc. Biographie, biography; biographisch, biographic etc. Blatt, Blätter bretonisch bulgarisch byzantinisch beziehungsweise

ca cf. chin. col.

circa confer chinesisch columna

d. Ä. Dez. d. Gr. d. h. Diet. Diss. d. J. dt. ead. ed., edd.

Einl. Enc., Enz. erg. erw. etc. ethnol. ethnogr. etymol. europ.

Einleitung Encyclopedia, encyclopedie, Enzyklopädie etc. ergänzt erweitert et cetera ethnologisch ethnographisch etymologisch europäisch

Faks. Febr. Festschr. fol. Forts. frz.

Faksimile Februar Festschrift folio Fortsetzung französisch

geb. gedr. geogr. germ. Ges. gest. G. W.

geboren gedruckt geographisch germanisch Gesellschaft gestorben

H. Hb., Hbb. hebr. hist. Hl. hl. Hs., Hss. hs. Hwb.

Gesammelte Werke

der Ältere Dezember der Große das heißt Dictionary, Dictionnaire Dissertation der Jüngere deutsch

ibid. id. ide. idg. i. e. ill. indon. Inst. internat. isl. ital.

Heft Handbuch, Handbücher hebräisch historisch Heilige(r) heilig Handschrift, -en handschriftlich Handwörterbuch ibidem idem indoeuropäisch indogermanisch id est illustriert indonesisch Institut international isländisch italienisch

eadem edidit, editor, editores etc.

J. Jahrber.

Journal Jahresbericht

* Hier nicht aufgelöste Abkürzungen siehe Verzeichnisse in den vorherigen Bänden.

Verzeichnis der Abkürzungen

VII

Jan. jap. Jb., Jbb. Jg Jh.

Januar japanisch Jahrbuch, Jahrbücher Jahrgang Jahrhundert

rätorom. Reg. rev. Rez. rom.

rätoromanisch Register revidiert, revised Rezension romanisch

Kap. kgl. Kl. Kl.(re) Sehr.

Kapitel königlich Klasse Kleine(re) Schriften

lat. Lex. Lfg Lit. literar.

lateinisch Lexikon Lieferung Literatur literarisch

MA., ma. masch. mhd. Mittig Monogr. monogr. Ms., Mss.

sine anno Sitzungsbericht Schriften schriftlich schweizerisch September skandinavisch sine loco Sammlung slovenisch Societe, society etc. sogenannt soziologisch sequens, sequentes Sankt, Saint etc. südlich Supplement sub verbo (voce)

mündl. mythol.

Mittelalter, mittelalterlich maschinenschriftlich mittelhochdeutsch Mitteilung Monographie monographisch Manuskript, -e; manuscript, -s etc. mündlich mythologisch

s. a. Sb. Sehr. schriftl. Schweiz. Sept. skand. s. 1. Slg slov. Soc. sog. soziol. sq., sqq. St. südl. Suppl. s.v.

Nachdr. ndd. ndl. N. F. nördl. norw. not. Nov. N. R. N. S. Ν. T. num. η. u. Ζ.

Nachdruck niederdeutsch niederländisch Neue Folge nördlich norwegisch nota November Neue Reihe Neue Serie, New Series etc. Neues Testament numerus nach unserer Zeitrechnung

t. Tab. theol. typol.

tomus Tabelle theologisch typologisch

u. a. Übers. übers. u. d. T. ukr. ung. Univ. Unters. u. ö.

und andere, unter anderem Übersetzer, Übersetzung übersetzt unter dem Titel ukrainisch ungarisch Universität, university etc. Untersuchung und öfter

V. Var. verb. Verf. Veröff., veröff. Verz. Vietnam. Vk. Vorw. v. u. Z.

Vers vide Variante verbessert Verfasser Veröffentlichung, veröffentlicht Verzeichnis vietnamesisch Volkskunde Vorwort vor unserer Zeitrechung

Wb., Wbb. westl. Wiss., wiss.

Wörterbuch, Wörterbücher westlich Wissenschaft, wissenschaftlich

Z. ZA. ζ. B. Zs., Zss. z.T. Ztg

Zeile Zeitalter zum Beispiel Zeitschrift, -en zum Teil Zeitung

V.

Okt. Orig. österr. östl.

Oktober Original österreichisch östlich

Ppass. p. Chr. n. phil. philol. port. Proc. Progr. prov. Pseud. psychol. Publ.

pagina passim post Christum natum philosophisch philologisch portugiesisch Proceedings Programm provenzalisch Pseudonym psychologisch Publikation, publication etc.

Qu. Quart.

Quelle Quarterly

VIII

Verzeichnis der Abkürzungen

2. Lexika, Motiv- und Typenkataloge, Textausgaben, Fachliteratur, Reihentitel und Zeitschriften AaTh Acta Ethnographica ADB Afanas'ev Amades Andreev Angelopoulou/Mprouskou Aprile Aräjs/Medne ArchfNSprLit. Arewa ARw. AS Äsop/Holbek Babrius/Perry Balys Barag Basset Baughman Bausinger Bebel/Wesselski Bedier Benfey Berze Nagy BFP

Bjazyrov

Boberg Badker, Indian Animal Tales Boggs Bordman BP

Aarne, A./Thompson, S.: The Types of the Folktale. A Classification and Bibliography. Second Revision (FFC 184). Helsinki 1961 (41987). Acta Ethnographica Academiae Scientiarum Hungaricae. Allgemeine Deutsche Biographie 1-56. Leipzig 1875-1912. Afanas'ev, A. N.: Narodnye russkie skazki 1 - 3 . ed. V. Ja. Propp. Moskva 1957. Amades, J.: Folklore de Catalunya. Rondallistica. Barcelona 1950. Andreev, N. P.: Ukazatel' skazocnych sjuzetov po sisteme Aarne. Leningrad 1929. Angelopoulou, A./Mprouskou, Α.: Epexergasia paramythiakön typön kai parallagön AT 700-749. Athen 1994. Aprile, R.: Indice delle fiabe popolari di magia. 1: AT 300-451. (Berlin 1995) Firenze 2000. Aräjs, K./Medne, Α.: Latviesu pasaku tipu rädltäjs (The Types of the Latvian Folktales). Riga 1977. Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen. Arewa, Ε. Ο.: Α Classification of the Folktales of the Northern East African Cattle Area by Types. Diss. Berkeley 1966. Archiv für Religionswissenschaft. Acta Sanctorum. Ν. F. Paris 1864 sqq. Holbek, Β.: yEsops levned og fabler 1 - 2 . Christiem Pedersens oversaettelse af Stainhöwels yEsop. Kebenhavn 1961/62. Babrius and Phaedrus. ed. Β. E. Perry. London/Cambridge, Mass. 1965. Balys, J.: Lietuviy pasakojamosios tautosakos motyvy katalogas. Motif-Index of Lithuanian Narrative Folk-Lore. Kaunas 1936. Barah, L. R. [Barag, L. G.]: Sjuiety i matyvy belaruskich narodnych kazak. Minsk 1978. Basset, R.: Mille et un contes, recits et legendes arabes 1 - 3 . Paris 1924-26. Baughman, E. W.: Type and Motif-Index of the Folktales of England and North America. TTie Hague 1966. Bausinger, Η.: Formen der Volkspoesie. Berlin (1968) 21980. Wesselski, A. (ed.): Heinrich Bebels Schwänke 1 - 2 . München/Leipzig 1907. Bedier, J.: Les Fabliaux. Paris (1893) 51925. Benfey, T.: Pantschatantra 1 - 2 . Fünf Bücher indischer Fabeln, Märchen und Erzählungen. Leipzig 1859 (Nachdruck Hildesheim 1966). Berze Nagy, J.: Magyar nepmesetipusok 1 - 2 . Pees 1957. Daskalova-Perkowska, L./Dobreva, D./Koceva, J./Miceva, E.: Katalog na bülgarskite folklorni prikazki. Sofia 1994 (dt. Fassung: Daskalova Perkowski, L./Dobreva, D./Koceva, J./Miceva, E.: Typenverzeichnis der bulgarischen Volksmärchen, ed. K. Roth [FFC 257]. Helsinki 1995). Bjazyrov, A. C.: Opyt klassifikacii osetinskich narodnych skazok po sisteme Aarne-Andreeva. In: Izvestija jugo-osetinskogo naucno-issledovatel'skogo instituta Akademii nauk Gruzinskoj SSR 9 (1958) 310346. Boberg, I. M.: Motif-Index of Early Icelandic Literature. Kobenhavn 1966. B0dker, L.: Indian Animal Tales. A Preliminary Survey (FFC 170). Helsinki 1957. Boggs, R. S.: Index of Spanish Folktales (FFC 90). Helsinki 1930. Bordman, G.: Motif-Index of the English Metrical Romances (FFC 190). Helsinki 1963. Bolte, J./Polivka, G.: Anmerkungen zu den Kinder- u. Hausmärchen der Brüder Grimm 1 - 5 . Leipzig 1913—32 (Nachdruck Hildesheim 1963 u. ö.).

Verzeichnis der Abkürzungen Brückner

Camarena/Chevalier Chauvin Chavannes

Child Childers Childers, Tales Choi Christiansen, Migratory Legends

Cifarelli Cirese/Serafini CL Clarke Coetzee Cosquin Cross D'Aronco, Italia D'Aronco, Toscana DBF

Dekker/van der Kooi/Meder

Del Monte Tämmaro Delarue Delarue/Teneze Dh. Dicke/Grubmüller

DJbfVk. Dömötör DSt. DVldr DVLG Dvorak DWb. Eberhard/Boratav

IX

Brückner, W. (ed.): Volkserzählung und Reformation. Ein Handbuch zur Tradierung und Funktion von ErzählstofFen und Erzählliteratur im Protestantismus. Berlin 1974. Camarena, J./Chevalier, M.: Catälogo tipolögico del cuento folklörico espanol. Madrid 1995 sqq. Chauvin, V.: Bibliographie des ouvrages arabes 1-12. Liege 1892— 1922. Chavannes, E.: Cinq cents Contes et apologues extraits du Tripifaka chinois et traduits en fran^ais 1 - 4 . Paris 1910—35 (Neudruck Paris 1962). Child, F. J.: The English and Scottish Popular Ballads 1 - 5 . (Boston/ New York 1882-98) New York 31965. Childers, J. W.: Motif-Index of the Cuentos of Juan Timoneda. Bloomington 1948. Childers, J. W.: Tales from the Spanish Picaresque Novels. A MotifIndex. Albany 1977. Choi, I.-H.: A Type Index of Korean Folktales. Seoul 1979. Christiansen, R. T.: The Migratory Legends. A Proposed List of Types with a Systematic Catalogue of the Norwegian Variants (FFC 175). Helsinki 1958. Cifarelli, P.: Catalogue thematique des fables esopiques franfaises du XVIe siecle. Paris 1993. Cirese, A. M./Serafini, L.: Tradizioni orali non cantate. Roma 1975. Cesky lid. Clarke, K. W.: A Motif-Index of the Folktales of Culture Area 5, West Africa. Diss. Bloomington 1958. Coetzee, A./Hattingh, S. C./Loots, W. J. G./Swart, P. D.: Tiperegister van die Afrikaanse Volksverhaal. In: Tydskrif vir Volkskunde en Volkstaal 23 (1967) 1-90. Cosquin, E.: Contes populaires de Lorraine 1 - 2 . Paris 1886. Cross, T. P.: Motif-Index of Early Irish Literature. Bloomington 1952. D'Aronco, G.: Le fiabe di magia in Italia. Udine 1957. D'Aronco, G.: Indice delle fiabe toscane. Firenze 1953. Briggs, Κ. Μ.: A Dictionary of British Folk-Tales in the English Language. Part A: Folk Narratives 1 - 2 . London 1970; Part B: Folk Legends 1 - 2 . London 1971. Dekker, T./Kooi, J. van der/Meder, T.: Van Aladdin tot Zwaan kleef an. Lexicon van sprookjes: ontstaan, ontwikkeling, variaties. Nijmegen 1997. Del Monte Tämmaro, C.: Indice delle fiabe abruzzesi. Firenze 1971. Delarue, P.: Le Conte populaire frangais 1. Paris 1957. Delarue, P./Teneze, M.-L.: Le Conte populaire franpais 2 sqq. Paris 1964 sqq. Dähnhardt, Ο. (ed.): Natursagen 1 - 4 . Leipzig/Berlin 1907-12 (Nachdruck Hildesheim 1983). Dicke, G./Grubmüller, K.: Die Fabeln des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Ein Katalog der deutschen Versionen und ihrer lateinischen Entsprechungen. München 1987. Deutsches Jahrbuch für Volkskunde. (Fortgesetzt unter dem Titel:) Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte. Dömötör, Ä.: A magyar protestäns exemplumok katalogusa. Budapest 1992. Danske Studier. Deutsche Volkslieder mit ihren Melodien 1 - 4 . Berlin 1935-59; t. 5 sqq. Freiburg 1965 sqq. Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Dvorak, K.: Soupis staroceskych exempel. Praha 1978. Deutsches Wörterbuch der Brüder Grimm u. a. Leipzig 1854 sqq. Eberhard, W./Boratav, P. N.: Typen türkischer Volksmärchen. Wiesbaden 1953.

χ

Verzeichnis der Abkürzungen

Eberhard, Typen 1

EI EI 2 El-Shamy, Folk Traditions EM ERE Ergis Erk/Böhme Espinosa FFC FL Flowers Frenzel, Motive Frenzel, Stoffe Frey/Bolte Gasparikovä Gesta Romanorum Ginzberg Goldberg Gonzalez Sanz Gonzenbach Granger Grimm DS Grimm, Mythologie Grimm, Rechtsalterthümer GRM Guerreau-Jalabert Guilakjan Günter 1949 György Haboucha Hahn Hansen Haring HDA HDM HDS

Eberhard, W.: Typen chinesischer Volksmärchen (FFC 120). Helsinki 1937. Enzyklopaedie des Isläm 1 - 5 . Leiden/Leipzig 1913-38. The Encyclopaedia of Islam. New Edition. Leiden/London 1960 sqq. El-Shamy, Η. M.: Folk Traditions of the Arab World. A Guide to Motif Classification 1 - 2 . Bloomington/Indianapolis 1995. Enzyklopädie des Märchens. Hastings, J. (ed.): Encyclopaedia of Religion and Ethics 1-13. Edinburgh 1908-26. Ergis, G. U. (ed.): Jakutskie skazki 2. Jakutsk 1967. Erk, L./Böhme, F. Μ.: Deutscher Liederhort 1 - 3 . Leipzig 1893/94. Espinosa, Α. M.: Cuentos populäres espafioles 1 - 3 . Madrid 2 1946-47. Folklore Fellows Communications. Helsinki u.a. 1907sqq. Folklore. Flowers, H. L.: A Classification of the Folktales of the West Indies by Types and Motifs. Diss. Bloomington 1953. Frenzel, E.: Motive der Weltliteratur. Stuttgart 1976. Frenzel, E.: Stoffe der Weltliteratur. Stuttgart (1963) 71988. Jacob Freys Gartengesellschaft (1556). ed. J. Bolte. Tübingen 1896. Gasparikovä, V.: Katalog slovenskej l'udovej prozy/Catalogue of Slovak Folk Prose 1 - 2 . Bratislava 1991/92. Oesterley, H.: Gesta Romanorum. Berlin 1872 (Nachdruck Hildesheim 1963). Ginzberg, L.: The Legends of the Jews 1—7. Philadelphia 1909-38 (21946—59). Goldberg, H.: Motif-Index of Medieval Spanish Folk Narratives. Tempe 1998. Gonzalez Sanz, C.: Catälogo tipolögico de cuentos folkloricos aragoneses. Zaragoza [ca 1996]. Gonzenbach, L.: Sicilianische Märchen. [München 1—2.] Leipzig 1870. Granger, Β. H.: A Motif Index for Lost Mines and Treasures Applied to Redaction of Arizona Legends, and to Lost Mine and Treasure Legends Exterior to Arizona (FFC 218). Helsinki/Tucson 1977. Brüder Grimm: Deutsche Sagen, t. 1 - 2 ed. H.-J. Uther; t. 3 ed. B. Kindermann-Bieri. München 1993. Grimm, J.: Deutsche Mythologie 1—3. ed. Ε. Η. Meyer. Gütersloh/ Berlin 1876/78. Grimm, J.: Deutsche Rechtsalterthümer 1 - 2 . ed. A. Heusler/R. Hübner. Leipzig 1899. Germanisch-Romanische Monatsschrift. Guerreau-Jalabert, Α.: Index des motifs narratifs dans les romans arthuriens fran9ais en vers (XII e -XIII e siecles). Genf 1992. Gullakjan, S. Α.: Ukazatel' sjuzetov armjanskich volsebnych i novellisticeskich skazok. Erevan 1990. Günter, H.: Psychologie der Legende. Studien zu einer wissenschaftlichen Heiligen-Geschichte. Freiburg 1949. György, L.: A magyar anekdota törtenete es egyetemes kapcsolatai. Budapest 1934. Haboucha, R.: Types and Motifs of the Judeo-Spanish Folktales. New York/London 1992. Hahn, J. G. von: Griechische und albanesische Märchen 1 - 2 . Leipzig 1864. Hansen, T. L.: The Types of the Folktale in Cuba, Puerto Rico, the Dominican Republic, and Spanish South America. Berkeley/Los Angeles 1957. Haring, L.: Malagasy Tale Index (FFC 231). Helsinki 1982. Bächtold-Stäubli, Η. (ed.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens 1-10. Berlin/Leipzig 1927-42 (Nachdruck Berlin 1986). Mackensen, L. (ed.): Handwörterbuch des deutschen Märchens 1 - 2 . Berlin 1930-40. Peuckert, W. E. (ed.): Handwörterbuch der Sage. Lieferung 1 - 3 . Göttingen 1961-63.

Verzeichnis der Abkürzungen Herbert

Hervieux HessBllfVk. Hodne Hodscha Nasreddin

Hoffmann Honti Höttges Hubrich-Messow

IFA Ikeda Jacques de Vitry/Crane JAFL Jason Jason, Indic Oral Tales Jason,Iraq Jason, Types Jauhiainen

JFI Jolles JSFO Kecskemeti/Paunonen Keller Keller/Johnson Kerbelyte Kerbelyte, LPTK KHM/Rölleke KHM/Uther Kippar Kirchhof, Wendunmuth Kirtley

XI

Herbert, J. Α.: Catalogue of Romances in the Department of Manuscripts in the British Museum 3. London 1910 (Nachdruck 1962). (Band 1 - 2 - Ward). Hervieux, L.: Les Fabulistes latins 1 - 2 . . Paris 1883/84 (21893); t. 3 - 5 . Paris 1894-99. Hessische Blätter für Volkskunde. Hodne, 0.: The Types of the Norwegian Folktale. Oslo/Bergen/Stavanger/Tromso 1984. Wesselski, Α. (ed.): Der Hodscha Nasreddin. Türkische, arabische, berberische, maltesische, sizilianische, kalabrische, kroatische, serbische und griechische Märlein und Schwänke. 1 - 2 . Weimar 1911. Hoffmann, F.: Analytical Survey of Anglo-American Traditional Erotica. Bowling Green, Ohio 1973. Honti, H.: Verzeichnis der publizierten ungarischen Volksmärchen (FFC 81). Helsinki 1928. Höttges, V.: Typenverzeichnis der deutschen Riesen- und riesischen Teufelssagen (FFC 122). Helsinki 1937. Hubrich-Messow, G. (ed.): Schleswig-holsteinische Volksmärchen. Tiermärchen (AT 1—299), Märchen vom dummen Unhold (AT 10001199), aus dem Zentralarchiv der deutschen Volkserzählung in Marburg an der Lahn. Husum 2000. Israel Folktale Archives. Universität Haifa. Ikeda, H.: A Type and Motif-Index of Japanese Folk-Literature (FFC 209). Helsinki 1971. Crane, Τ. F.: The Exempla, or, Illustrative Stories from the Sermones Vulgares of Jacques de Vitry. London 1890. Journal of American Folklore. Jason, H.: Types of Jewish-Oriental Oral Tales. In: Fabula 7 (1965) 115-224. Jason, H.: Types of Indic Oral Tales. Supplement (FFC 242). Helsinki 1989. Jason, H.: Folktales of the Jews of Iraq. Tale-Types and Genres. Or Yehuda 1988. Jason, H.: Types of Oral Tales in Israel 2. Jerusalem 1975. Jauhiainen, M.: The Type and Motif Index of Finnish Belief Legends and Memorates. Revised and Enlarged Edition of Lauri Simonsuuri's „Typen- und Motiwerzeichnis der finnischen mythischen Sagen" (FFC 182). Helsinki 1998 (FFC 267). Helsinki 1998. Journal of the Folklore Institute. Jolles, Α.: Einfache Formen. (Halle 1930) Tübingen 61982. Journal de la Societe finno-ougrienne (Suomalais-ugrilaisen Seuran aikakauskirja). Kecskemeti, I./Paunonen, H.: Die Märchentypen in den Publikationen der Finnisch-ugrischen Gesellschaft. In: JSFO 73 (1974) 205-265. Keller, J. E.: Motif-Index of Mediaeval Spanish Exempla. Knoxville, Tennessee 1949. Keller, J. E./Johnson, J. H.: Motif-Index Classification of Fables and Tales of Ysopete Ystoriado. In: SFQ 18 (1954) 85-117. Kerbelyte, B.: Lietuviy liaudies padavimy katalogas. Vilnius 1973. Kerbelyte, B.: Lietuviy pasakojamosios tautosakos katalogas/The Catalogue of Lithuanian Narrative Folklore 1 - 2 . Vilnius 1999/2001. Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen 1 - 3 . ed. Η. Rölleke. Stuttgart 1980/80/283. Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen 1 - 4 . ed. H.-J. Uther. München 1996. Kippar, P.: Estnische Tiermärchen. Typen- und Variantenverzeichnis (FFC 237). Helsinki 1986. Kirchhof, H. W.: Wendunmuth. Buch 1 - 7 . ed. H. Österley. t. 1 - 5 . Tübingen 1869. Kirtley, B. F.: Α Motif-Index of Traditional Polynesian Narratives. Honolulu 1971.

XII Klapper, MA. Klipple Kl. Pauly KNLL Köhler/Bolte Kongreß Kiel/Kopenhagen 1959

van der Kooi Krzyzanowski Kurdovanidze

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Lambrecht Laport LCI Legenda aurea/Benz Legenda aurea/Graesse Legros

Liungman Liungman, Volksmärchen LKJ

Lo Nigro Loorits Lörincz LThK Lüthi, Märchen Martinez Marzolph Marzolph, Arabia ridens

MdW Megas Megas/Puchner

de Meyer, Conte de Meyer/Sinninghe MGH MNK

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Verzeichnis der Abkürzungen Montanus/Bolte Moser-Rath, Predigtmärlein Moser-Rath, Schwank

Mot. MPG MPL MSFO Müller/Röhrich NDB Neugaard Neuland Neuman Nowak Noy NUC Nyman

Ο Süilleabhäin/Christiansen ÖZfVk. Pauli/Bolte Pauly/Wissowa Penalosa Perry

Phaedrus/Perry Pino Saavedra Plenzat Poggio

Polivka Pujol Qvigstad RAC Ranke

XIII

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XIV Raudsep Rausmaa Rausmaa, SK RDK Rehermann RGG

Robe Röhrich, Erzählungen

Röhrich, Märchen und Wirklichkeit Röhrich, Redensarten Roth Rotunda RTP RusF Sabitov

SAVk. SbNU Scherf Schmidt Schullerus Schwarzbaum Schwarzbaum, Fox Fables SE Seki SF SFQ Simonsuuri Sinninghe Smith Soboleva SovE StandDict. STF

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Verzeichnis der Abkürzungen Stroescu SUS

Sveinsson von Sydow 1001 Nacht

Thompson/Balys Thompson/Roberts Tille Tille, Soupis Ting

Toldo 1 9 0 1 - 1 9 0 9

Tomkowiak TRE Tubach Verflex.

Virsaladze de Vries Wander Ward

Waterman Wesselski, Arlotto Wesselski, M M A Wesselski, Theorie WF Wickram/Bolte Wienert ZDMG ZfdA ZfVk.

XV

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XVI

Verzeichnis der Abkürzungen

2. Verlagsorte Amst. Antw. B. Berk. Bloom. Bud. Buk. Cambr. Chic. Fbg Ffm. Hbg Hels. Kop.

Amsterdam Antwerpen Berlin Berkeley Bloomington Budapest Bukarest Cambridge Chicago Freiburg im Breisgau Frankfurt am Main Hamburg Helsinki Kopenhagen

L. L. A. Len. Lpz. M. Mü. Ν. Y. Ox. P. Phil. SPb. Stg.

w. Wash.

London Los Angeles Leningrad Leipzig Moskau München New York Oxford Paris Philadelphia St. Petersburg Stuttgart Warschau Washington

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Nibelungenlied

2

Nibelungenlied

er seine Liedertheorie (-» Epos; cf. Kap. 3.5.1) entwickelt hatte. Ihm traten von der Epos1. Überlieferung - 2. Text nach *B - 2.1. Gliedetheorie her zunächst A. Holtzmann 5 , später rungsstrukturen - 2.2. Inhalt - 3. Vorleben des F. Zarncke 6 entgegen, die beide die Priorität Stoffes — 3.1. Mythos - 3.2. Märchen - 3.3. Sage von *C nachzuweisen suchten, bis K. - Naturpoesie) führte J. Grimm das N. auf ein autogenetisch gewordenes Epos zurück, das die , Kindheit' der vom ,Nibelungischen' ergriffenen Germanen spiegelte34. Demgegenüber rekonstruierte Lachmann 35 in Anlehnung an die Homerhypothese F. A. Wolfs unter Elision des ,Unechten' zwanzig, von Diaskeuasten zusammengefügte .romanzenar-

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tige Lieder'. Seine das 19. Jh. beherrschende Theorie wurde durch die mit Hilfe der skand. Überlieferung und der Epostheorie von W. R Ker 36 erstellte Stufentheorie von Heusler 37 abgelöst, die für die 1. Hälfte des 20. Jh.s fast kanonische Geltung erlangte und die die Heldensage (= Heldendichtung) nicht hinter das heroische ZA. zurückführte, den Weg vom Lied zum Epos als .Anschwellung' definierte und dabei für die Brünhilddichtung drei (zwei Lieder und Teil 1 des N.es), die Burgundenuntergangsdichtung vier (zwei Lieder, ein Epos Ältere Not um 1160 und Teil 2 des N.es) Vorstufen annahm. Jüngere Forschung betont demgegenüber die Vielfalt der Überlieferung von Heldensage vor und außerhalb der Dichtung 38 , oder sie begreift heroische Dichtung als dialektische Auseinandersetzung mit der Geschichte, die ihrerseits die Aufschwellung des Lieds zum Epos bedingt39; auch findet bisweilen eine bedingte Rückkehr zu Heuslers Ansichten statt 40 . Schon Heusler41 und J. Körner 42 , dann aber vor allem die Interpretation der werkimmanenten Epoche 43 haben für das N. den Begriff des Romans, eines ,Kriemhildromans', in Anspruch genommen. Nun stellt Kriemhild zwar eine zentrale Handlungsträgerin dar, dies jedoch neben Siegfried und Hagen und auch im zweiten Teil erheblich stärker und psychol. konsequenter als im ersten. Die in der Romanform verlangte Konzentration auf einen Protagonisten und auf Entwicklung seines .Charakters' und die absolute Beziehung des Geschehens auf ihn ist insgesamt im N. jedoch so wenig erreicht wie die im Epos verlangte Geschichte einer Gemeinschaft, so daß in diesem Punkt die Kriterien von keiner der beiden Gattungen auch nur tendenziell erfüllt sind44. Der Nibelungenepiker pflegte die Stilistik des Epos und im allg. dessen objektive (neutrale) Erzählhaltung — bis hin zu der Tatsache, daß er sich den ,välandinne'-Vorwürfen Dietrichs und Hagens nicht anschloß und bis zum Schluß Kriemhild ,daz edele wip' (Strophe 2377) nannte. 3.5.2. M ü n d l i c h k e i t . Schrift- und Bildquellen deuten auf eine reichhaltige mündl. Überlieferung des Nibelungenmythos hin. Vor allem durch die an M. -» Parry und Α. B. - Nation) während des 19. Jh.s und vor allem durch die Genese des .Dritten Reiches' und die Intensivierung völkischer Theorien mehr und mehr nationalistisch, chauvinistisch und rassistisch verengte (-• Nationalsozialismus)72. Mythische Stereotype verfestigten sich durch die Aufnahme von N. und Nibelungensage in die Schullektüre. Richard Wagners Ring des Nibelungen intensivierte die Verschwisterung des — bei ihm auf nord. Basis ruhenden — Mythos mit dem Nationalgedanken in der staatstragenden Klasse.

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Nibelungenlied

So wehrte sie im Mythos von Siegfried 73 die Trauerarbeit nach dem 1. Weltkrieg ab (,Dolchstoßlegende') 74 oder verklärte die Niederlagen des 2. Weltkrieges mit den heroischen Visionen des Mythos (cf. H. Görings Rede zu Stalingrad 75 ). Nach 1945 war die nationale Karriere des Nibelungenmythos beendet. Er verblieb im Comic-Heft und im Kinder- und Jugendbuch 76 . Die Kunst holte ihn zunächst im allg. nicht mehr verklärend, sondern im Blick auf seine nationale Rezeptionsgeschichte ironisierend oder kritisch zurück 77 , bis sie sich seit den ausgehenden 80er Jahren unter dem Fantasy-Etikett seiner neu erinnerte 78 - auch Internat. 79 und auch wieder im Jugendbuch 80 . Neben der politischen Instrumentalisierung des Mythos blühte immer auch eine regionale Pflege an wirklichen oder imaginierten N.Stätten wie Worms und Passau, Alzey und dem Odenwald mit der Nibelungenstraße, der nibelungischen Reiseroute entlang der Donau oder Soest und Xanten 81 . 1 Jüngere Gesamtdarstellungen: Curschmann, M.: N. und Klage. In: Verflex. 6 (21987) 926-969; Ehrismann, Ο.: N. Epoche - Werk - Wirkung. Mü. 1987; Heinzle, J.: Das N. Mü./Zürich 1987; Hoffmann, W.: Das N. Stg. 1992; Mackensen, L.: Die Nibelungen. Stg. 1984; McConnell, W.: The N. Boston 1984; Reichert, Η.: N. und Nibelungen-Sage. Wien/ Köln 1985; Schulze, U.: Das N. Stg. 1997. - 2 cf. vor allem Brackert, H.: Beitr.e zur Hss.-Kritik des N.es. B. 1963. - 3 cf. u. a. Ehrismann, O.: Das N. in Deutschland. Mü. 1975; Kolk, R.: Berlin oder Leipzig? Eine Studie zur sozialen Organisation der Germanistik im „Nibelungenstreit". Tübingen 1990. — 4 Lachmann, K.: Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth [1816]. In: id.: Kl. Sehr. ed. K. Müllenhoff. B. 1869, 1-80. 5 Holtzmann, Α.: Unters.en über das N. Stg. 1854. - 6 cf. Zarncke, F.: Zur Nibelungenfrage. Lpz. 1854; id.: Das N. Lpz. 1856. - 7 Bartsch, K : Unters.en über das N.Wien 1856. - 8 Braune, W.: Die Hss.Verhältnisse des N.es. In: Beitr.e zur Geschichte der dt. Sprache und Lit. 25 (1900) 1-222. - 9 Jackson, W. Τ. H.: The Hero and the King. An Epic Theme. N.Y. 1982. - 10 Frenzel, Motive, 342-360. "cf. Ehrismann, O.: Tarnkappe und Gestaltentausch. Erinnerungen an Siegfried. In: Doppelgänger. ed. I. Fichtner. Bern/Stg. (im Druck). - 12 cf. Frenzel, Motive, 223 sq. - 13 ibid., 160-170, 504. 14 cf. Holzhauer, Α.: Rache und Fehde in der mhd. Lit. des 12. und 13. Jh.s. Göppingen 1997. - 15 cf. Frenzel, Stoffe, 174 sq. - 16 cf. Grönbech, W.: Kultur und Religion der Germanen 1. Darmstadt 1991, 57—113. — 17 cf. Ehrismann, O.: „ze stücken was ge-

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houwen dö daz edele wip". The Reception of Kriemhild. In: A Companion to the Ν. ed. W. McConnell. N.Y. 1998, 18-41. - 18 cf. Wachinger, B.: Die ,Klage' und das N. In: Hohenemser Studien zum N. ed. A. Masser. Dornbirn 1981, 90-101. - "Wolf, Α.: Mythos und Geschichte in der Nibelungen-Sage und im N. In: N. Ausstellungskatalog Bregenz 1979, 41-54, hier 52. - 20 Höfler, O.: Siegfried, Arminius und die Symbolik. In: Festschr. F. R. Schröder. Heidelberg 1959, 11-121. 21 Mone, F. J.: Unters.en zur Geschichte der teutschen Heldensage. Quedlinburg/Lpz. 1836. — 22 Lachmann, K : Kritik der Sage von den Nibelungen. In: Rhein. Museum für Philologie 3 (1829) 435—464. — 23 Müller, W.: Siegfried und Freyr. In: ZfdA 3 (1843) 43-53. - 24 Schröder, F. R.: Mythos und Heldensage [1955]. In: Zur germ.-dt. Heldensage. ed. K. Hauck. Darmstadt 1965, 285-315. 25 Göttner-Abendroth, H.: Die Göttin und ihr Heros. Mü. 41984. - 26 Lecouteux, C.: Der NibelungenHort. Überlegungen zum mythischen Hintergrund. In: Euphorion 87 (1993) 172-186. - 27 Panzer, F.: Sigfrid. Mü. 1912; id.: Das N. Entstehung und Gestalt. Stg. 1955, 286; id.: Nibelungische Ketzereien. 1: Das Brautwerbermärchen [1950]. In: Hauck (wie not. 24) 138-172. - 28 cf. Störmer, W.: NibelungenTradition als Hausüberlieferung in frühma. Adelsfamilien? In: N. und Klage, ed. F. P. Knapp. Heidelberg 1987, 1-20. - 29 Störmer, W.: Die Herkunft Bischof Pilgrims von Passau (971-991) und die Nibelungen-Überlieferung. In: Ostbair. Grenzmarken (1974) 62-67. - 30 cf. Haymes, E. R./Samples, S. T.: Heroic Legends of the North. Ν. Y./L. 1996. 31 Hauck, Κ.: Brieflicher Hinweis auf eine kleine ostnord. Bilder-Edda. In: id. (wie not. 24) 427-449. 32 Zimmermann, G.: Isländersaga und Heldensage. Wien 1982. - 33 cf. Wais, K : Frühe Epik Westeuropas und die Vorgeschichte des N.es. Tübingen 1953. - 34 cf. Ehrismann, O.: Philologie der Natur - die Grimms, Schelling, die Nibelungen. In: Brüder Grimm Gedenken 5. ed. L. Denecke. Marburg 1985, 35 - 59. - 35 Lachmann (wie not. 4). - 36 Ker, W. P: Epic and Romance. L. 1897 (21908). - 37Heusler, Α.: Ν. und Nibelungen-Sage. Dortmund 1921 (61965). - 38 Kuhn, H.: Heldensage vor und außerhalb der Dichtung [1952], In: id.: Kl. Sehr. 2. B. 1971, 102-118; cf. auch Fromm, H.: Kap. 168 der Thidrekssaga. In: DVLG 33 (1959) 237-256. 39 Haug, W.: Andreas Heuslers Heldensagenmodell [1975]. In: id.: Strukturen als Schlüssel zur Welt. Tübingen 1989, 277-292. - 40 cf. Andersson, Τ. M.: The Epic Source of Niflunga Saga and the Ν. In: Arkiv för nordisk filologi 6,6 (1973) 1-54. 41 Heusler (wie not. 37) 32. - 42 Körner, J.: Das N. Lpz. 1921, 65, 83. - 43 cf. u. a. die einflußreichen Versuche von Nagel, B.: Das N. Stoff - Form Ethos. Ffm. 1965, 38; Schröder, W.: N.-Studien. Stg. 1968. - 44 cf. Ehrismann (wie not. 1) 224-228; Schulze (wie not. 1) 104-112; Hoffmann, W.: Das N. - Epos oder Roman? In: Knapp (wie not. 28) 124-151; cf. allg. Fenik, B.: Homer and the

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Nicolas de Troyes

N. Comparative Studies in Epic Style. Cambr., Mass. 1986. - 45 cf. Haymes, E. R.: Mündl. Epos in mhd. Zeit. Göppingen 1975. - 46 cf. Bäuml, F./ Ward, D. J.: Zur mündl. Überlieferung des N.es. In: DVLG41 (1967) 351-390. - 47 Borghart, Κ. H. R.: Das N. Amst. 1977. - 48 cf. Bäuml/Ward (wie not. 46); Fromm, H.: Der oder die Dichter des N.es [1974]. In: id.: Arbeiten zur dt. Lit. des MA.s. Tübingen 1989, 275-288; HofTmann (wie not. 1) 81-87. - 49 cf. Lohse, G.: Die Beziehungen zwischen der Thidrekssaga und den Hss. des N.es. In: Beitr.e zur Geschichte der dt. Sprache und Lit. 81 (1959) 295-347; Ritter-Schaumburg, H.: Die Nibelungen zogen nordwärts. Mü./B. [1981]. - 50 cf. Panzer 1955 (wie not. 27) 483. 51 HofTmann (wie not. 1) 91-103. - "Panzer 1955 (wie not.27) 330sq. - "ibid., 397-399. - 54 ibid., 467. - 55 ibid., 481. - 56 Rosenfeld, H.: Die Datierung des N.es Fassung *B und *C durch das Küchenmeisterhofamt und Wolfger von Passau [1969]. In: id.: Ausgewählte Aufsätze. Göppingen 1987, 68-84. - 57 Ehrismann (wie not. 1); id.: Strategie und Schicksal - Hagen. In: Wunderlich, W. (ed.): Literar. Symbolfiguren. Bern/Stg. 1989, 89-115. 58 Kaiser, G.: Dt. Heldenepik. In: Neues Hb. der Lit.-Wiss. 7. Wiesbaden 1981, 181-216. - 59 Roos, R.: Begrüßung, Abschied, Mahlzeit. Studien zur Darstellung höfischer Lebensweise in Werken der Zeit von 1150-1320. Diss. Bonn 1975. - 60 Ehrismann, O.: Überlegungen zur Gabe im N. Rüedeger und die Burgonden. In: N. und Klage, ed. D.-R. Moser/M. Sammer. Mü. 1998, 361-382. 61 cf. die einzelnen Positionen bei Ehrismann (wie not. 1) 117. - 62 cf. Althoff, G.: Spielregeln der Politik im MA. Darmstadt 1997; Ehrismann, O.: „Ich bin ouch ein recke und solde kröne tragen". Siegfried, Gunther und die Spielregeln der Politik im MA. In: Festschr. R. Bräuer. (im Druck). - " H o f f mann, W.: Das N. Mü. 21974. — 64 Nagel (wie not. 43) 263; Moser, D.-R.: Vom Untergang der Nibelungen. In: Lit. in Bayern 30 (1992) 2-19. - 65 Ehrismann (wie not. 1) 232-241. - "Deshalb bleiben auch Versuche, im Ν. ,Schichten der Ethik' zu trennen, rekonstruktiv-unhist.; cf. Nagel (wie not. 43); Neumann, F.: Schichten der Ethik im N. [1924]. In: id.: Das N. in seiner Zeit. Göttingen 1967, 9 - 3 4 . 67 Heinzle, J.: heldes muot. Zur Rolle Dietrichs von Bern im N. In: Festschr. E. Neilmann. Göppingen 1995, 225-236; cf. Grenzler, T.: Erotisierte Politik - politisierte Erotik. Göppingen 1992, 348-368. 68 Ehrismann, O.: Dietrich oder die Produktivität der Tränen - verhinderte Trauerarbeit am N. In: Diskussion Deutsch 18 (1987) 306-320. - 69 HofTmann, W.: Die .Kudrun'. Eine Antwort auf das N. [1970], In: N. und Kudrun. ed. H. Rupp. Darmstadt 1976, 599-620; Bender, Ε.: N. und Kudrun. Ffm./ Bern/N. Y./P. 1987. - 70 cf. u. a. Ehrismann (wie not. 3); Wunderlich, W.: Der Schatz des Drachentödters. Stg. 1977; Schulte-Wülwer, U.: Das N. in der dt. Kunst des 19. und 20. Jh.s. Gießen 1980; Heinzle, J./ Waldschmidt, A. (edd.): Die Nibelungen. Ffm. 1991;

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Martin, B. R.: Nibelungen-Metamorphosen. Mü. 1992; Hard, J. E.: Das Nibelungen-Epos. Tübingen/ Basel 1996. 71 cf. zur Forschungsgeschichte Hoffmann (wie not. 1) 1 - 3 9 . - 72 Brackert, Η.: N. und Nationalgedanke. In: Medisevalia litteraria. Festschr. H. de Boor. Mü. 1971, 343-364; Ehrismann, Ο.: N. und Nationalgedanke. In: Damals (1980) H. 11,942-960 u n d H . 12, 1033-1046; ibid. (1981) H. 1,21-35 und H. 2, 115-132; See, K. von: Das N. - ein Nationalepos? In: Heinzle/Waldschmidt (wie not. 70) 43-110. - 73 Ehrismann, O.: Siegfried. Ein dt. Mythos? In: Herrscher, Helden, Heilige, ed. U. Müller/ W. Wunderlich. St. Gallen 1996, 367-387. 74 Wunderlich (wie not. 70) 70-80. - 75 Krüger, P.: Etzels Halle und Stalingrad. Die Rede Görings vom 30.1.1943. In: Heinzle/Waldschmidt (wie not. 70) 151-190. - 76 Schmidt, S.: Die Nibelungen in der Jugend- und Unterhaltungslit. zwischen 1945 und 1980. In: MA.-Rezeption. ed. P. Wapnewski. Stg. 1986, 327-345. - 77 Storch, W. (ed.): Die Nibelungen. Mü. 1987; Kimpel, H./Werckmeister, J.: Leidmotive. Möglichkeiten der künstlerischen Nibelungen-Rezeption seit 1945. In: Heinzle/Waldschmidt (wie not. 70) 284-306. - 78 cf. ζ. B. Hohlbein, W.: Hagen von Tronje. W. 1986; Lodemann, J.: Siegfried. Stg./W. 1986; außerdem die Romanreihe „Die Nibelungen". Düsseldorf 1997 (Eisele, M.: Der Feuerstern; Held, J.: Die Flammenfrau; Hennen, B.: Das Nachtvolk; Kästner, J.: Das Runenschwert; Meyer, K.: Der Rabengott; Nix, Α.: Das Drachenlied; id.: Die Hexenkönigin; Terhart, F.: Der Runenkrieg). - 79 Paxson, D. L.: Wodan's Children. Ν. Υ. 1993 (dt.: Die Töchter der Nibelungen. BergischGladbach 1997). - 80 Lehane, B.: Heldensagen. Augsburg 1995 (amerik. Orig. 1984 als Time-LifeBuch). 81 Huber, W./Gööck, M.: Auf der Suche nach den Nibelungen. Gütersloh 1981.

Gießen

Otfrid Ehrismann

Nicolas de IVoyes, frz. Autor des 16. Jh.s. Über seine Person gibt nur das kurze Vorwort zum - einzig erhaltenen - 2. Band seines Grand Parangon des nouvelles nouvelles Aufschluß: Danach war er Sattler, aus Troyes in der Champagne gebürtig und lebte zur Zeit der Abfassung seines Werks, zwischen Mai 1535 und März 1536 (nach der Rechnung des Julianischen Kalenders), in Tours. Der erst im 19. Jh. gedr. Grand Parangon1 ist nach den burgund. -» Cent Nouvelles nouvelles und der gleichnamigen Sammlung des Kaufmanns Philippe de Vigneulles aus Metz eine der ältesten frz. Sammlungen, die das Wort Novelle im Titel führen (-• Novellistik).

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Nicht nur bei den burgund. Cent Nouvelles nouvelles macht N. eine Anleihe in seinem Titel, sondern vielleicht auch beim Parangon des nouvelles honnestes et delectables (1531), einer Übers, verschiedener ital. und dt. Bücher2. N.' Werk umfaßt ca 400 Seiten; den 180 darin enthaltenen Erzählungen geht ein Inhaltsverzeichnis mit kurzen Zusammenfassungen voraus. Jede Erzählung ist einem bestimmten Erzähler zugeschrieben, der mit Namen, Spitznamen, Beruf oder (manchmal scherzhafter) Funktion in Zusammenhang mit einer geheimnisvollen, unerklärt bleibenden ,Brücke' bezeichnet ist3. Die Skizzierung des Rahmens bleibt daher ebenso summarisch wie in N.' frz. Vorbildern. Im Vorwort nennt N. auch seine Quellen: ζ. T. hat er die Erzählungen 'mehreren Büchern' entnommen, andere hat er von mehreren guten Kameraden' gehört, und schließlich war er bei einigen Vorfällen Augenzeuge oder Protagonist. Seine Bibliothek war nicht reichhaltig und bestand aus neuen Drucken bekannter frz. oder ins Französische übers. Werke sehr unterschiedlichen Charakters. Auszüge daraus hat er relativ treu wiedergegeben, wobei er sie manchmal seinen Absichten angepaßt hat. Von 132 Erzählungen sind die Quellen ermittelt: die burgund. Cent Nouvelles nouvelles (60 Texte), -» Boccaccios Decamerone in der 1485 u. d. T. Des cent Nouvelles bei A. Verard gedr., stark bearb. Ausg. der frz. Übers, von Laurent de Premierfait von 1414 (57 Texte), Pierre Gringores Fantasies de Mere Sötte (1516), eine an den Gesta Romanorum inspirierte moralisierende Sammlung (10 Texte), Les quinze Joyes de mariage (2 Texte), ein Kapitel aus den Chroniques (1373-1400) von Jean Froissart, ein anderes aus dem Roman de - Pfand des Liebhabers) geprellt. Die

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Herrin, die ihre Dienerin beim Rendezvous ertappen will, erliegt selbst dem Ungestüm eines Bäckers (num. 66); eine Ehefrau wird von ihren sexuellen Wünschen abgebracht, indem sie durch eine List glauben gemacht wird, sie bringe damit ihren Mann in Gefahr (num. 73); eine andere wird von ihrem jungen Ehemann verspottet, den sie gern besser ausgestattet' sähe (num. 101). Vorgetäuschte sexuelle Unwissenheit bildet die Grundlage einer Erzählung, in der die Braut mit einem ,Lehrer' der Hochzeit vorgreift (num. 122 = Mot. Κ 1315.7.1); wirkliche Unwissenheit begegnet bei einer naiven Frau, die glauben gemacht wird, sie habe ihren Mann geschwängert (num. 4 = cf. AaTh 1739: Priester soll Kalb gebären). In mehreren Erzählungen steht hinter der List Geld als Triebkraft menschlichen Handelns. Um des Geldes willen gelingt es einer alten Frau, ein in Eintracht lebendes Ehepaar zu entzweien (num. 6 = AaTh 1353: Böses Weib schlimmer als der Teufel). Ein Adliger will sich am Grundbesitz einer Abtei bereichern (num. 36 = AaTh 922: Kaiser und Abt). Gewinnsucht bringt einen dummen Bauern dazu, seine eigene (vom Nachbarn gestohlene) Kuh, die er nicht wiedererkennt, zu verkaufen, und das Geld dem Dieb auszuhändigen (num. 45 = Mot. Κ 258.1). Um mühelos etwas Geld zu verdienen, nimmt ein Mitglied der Gemeinde die Verheißung des Evangeliums ,centuplum accipies' wörtlich und entlohnt sich anhand der Kollekte (num. 53 A = cf. AaTh 1735: Die zehnfache Vergeltung). Ein schlauer Mönch erlangt seinen von Soldaten gestohlenen Besitz wieder, indem er sie öffentlich vor ihrem Fürsten verklagt (num. 62 Β). Zur Verschleierung der Zeche, die sie in der Schenke gemacht haben, beschuldigen zwei Frauen vor ihren Ehemännern den Esel, er habe einen Schaden angerichtet, für den sie hätten aufkommen müssen (num. 105).

sich einem Gottesurteil anvertrauen, um den Ort für die Erbauung der zur Sühne geforderten Kapelle zu bestimmen, werden von einem Hund unter den Galgen geführt (num. 76 = cf. Mot. Β 151.1.1.2.1: Ass carries usurer's body to the gallows). List wird auch zur Rache eingesetzt: Der Pfarrer und der Mönch, die man ihrer Konkubinen beraubt hat, rächen sich — der erste, indem er die Entführer öffentlich in der Kirche beschimpft (num. 53 Β), der zweite, indem er — allerdings mit edler Motivation — mögliche Käufer eines alten Esels, der dem Kloster gehört, abschreckt (num. 56 = Mot. V 461.2: Truthful monk refuses to cheat even for his order). Als wirkungsvoll erweist sich die List des Kardinals, der die Papstwahl durch eine falsche Prophezeiung beeinflußt (num. 95), ebenso die des Königs, der sich aus der Gewalt der Räuber rettet (num. 79 A = AaTh 920: -• Scheinbuße\ num. 62 A = Mot. J 1261.7: Judgment Day a long way o f f , num. 49 A = Mot. Η 1142.2: Task: drinking the sea dry + Mot. Η 1143: Task: dipping out the sea with a spoon: countertask: stop all the rivers), unglaubliche Übertreibungen (num. 49 Β = AaTh 1920 Ε: cf. Lügenwette; cf. AaTh 1960 F, J, L: cf. Die ungewöhnliche Größe), Doppeldeutiges (num. 34 Β = AaTh 1347: Lebendes -* Kruzifix gewünscht·, num. 43) oder kluges Verhalten (num. 91). Der Grand Parangon ist ein Werk ohne große Ansprüche, jedoch interessant, ausgewogen und abgeklärt. Die - aus der Tradition geschöpften oder von der Realität inspirierten - Erzählungen sind gut ausgewählt, wohlstrukturiert und werden in einer schlichten Sprache dargeboten, die manchmal ungeschickt ist, aber natürlich und voller Schwung in den Schilderungen ebenso wie in den Dialogen. 1 Le Grand Parangon des nouvelles nouvelles. ed. E. Mabille. Brüssel 1866 (P. 1869); Le Grand Parangon (Choix). ed. K. Kasprzyk. P. 1970. - 2 Parangon des nouvelles honnestes et delectables [1531]. ed. G. A. Perouse u. a. P/Genf 1979. - 3 Kasprzyk (wie not. 1) xxxi-xxii; ead.: Le Grand Parangon de N. de T. et son public. Mise en forme et communication. In: Festschr. L. Sozzi. Ρ 1996, 177-193. - 4 ead. (wie not. 1) 58-61; ead.: N. de T. et le genre narratif en France au XVIe siecle. W./P. 1963, 247-277; Frautschi, R. L.: Some New Sources of Le Grand Parangon des nouvelles nouvelles. In: Studies in Philology 57 (1960) 30-43. - 5 cf. Sozzi, L.: Le „forme semplici" di N. de T. In: La Nouvelle fransaise de la Renaissance. Genf/P. 1981, 223-249; Lajarte, P. de.: Structures et fonctions des personnages dans les recueils de contes de la Renaissance issus de la tradition orale. In: Ethnologie fran^aise 11 (1981) 77-81. — 6 Kasprzyk (wie not. 1) 191 sq.

Warschau

Krystyna Kasprzyk

Nider, Johannes, * Isny um 1380, f Nürnberg 13.8.14381. N. trat 1402 bei den Domimikanern in Colmar ein, absolvierte etwa

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1410-13 das ordenseigene Studium generale in Köln und nahm in unbekannter Funktion am Konstanzer Konzil (1414-18) teil. Es folgten ein Italienaufenthalt (Chioggia bei Venedig), 1422 die Immatrikulation an der theol. Fakultät Wien, 1425 die Promotion; anschließend reformierte er Konvente in Nürnberg und Basel, wurde Generalvikar der Teutonia und spielte 1431-34 eine bedeutende Rolle auf dem Basler Konzil; die Lehrtätigkeit als Theologieprofessor in Wien (ca 1435-38) wurde mehrfach unterbrochen durch Visitations· und Reformreisen (Nürnberg, Elsaß, Tulln). N.s Tätigkeit ist geprägt von der Auseinandersetzung mit Häresien (namentlich mit dem Hussitimus), vom Kampf für die Einführung der strikten Observanz und für die Reform der gesamten Kirche und Gesellschaft; als Maß (auch für die Laienfrömmigkeit) gilt ihm dabei der monastische Aszetismus. Diese Ziele spiegeln sich in einem umfangreichen, mehrheitlich lat. abgefaßten Traktat- und Predigtwerk; dabei vertritt er unter deutlicher Bindung an die Traditionen der Patristik und der Hochscholastik des 13. Jh.s eine praxisbezogene, nicht spekulative Frömmigkeitstheologie2. Mit Sicherheit sind ihm folgende lat. Werke zuzuschreiben3: De abstinentia esus carnium (ca 1434 — 364), Consolatorium timoratae conscientiae, Dispositorium moriendi, Formicarius (1436—38), De lepra morali, Manuale confessorum, Praeceptorium divinae legis, De reformatione status coenobitici (1431 oder später), Contra heresim Hussitarum, De contractibus mercatorum, De vigore consuetudinis et dispensatione canonica, De saecularium religionibus, De vera et falsa nobilitate, De paupertate perfecta saecularium, Sermones de tempore et de sanctis, Epistulae. Dt. Werke sind5: Die 24 goldenen Harfen (1427-29), Predigtreihen (Große Predigtsammlung [nach 1431], Colmarer Predigtsammlung), Einzelpredigten, Sendbriefe in Sammlung {Colmarer Sendbriefsammlung) und in Einzelüberlieferung (Reformbrief nach Schönensteinbach [1428]), verstreute Gebete und Traktate. Unsicher 6 ist N.s Verf.schaft bei fünf weiteren Werken (De clausura monialium, De religiosis proprietariis, De bello morali, De modo bene vivendi, Alphabetum divinae amoris)1. Die meist erhebliche Breite der hs. Tradierung zeigt die bedeutende, über den Orden

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hinausgehende Rezeption innerhalb des 15. Jh.s; eine Langzeitwirkung bis ins 16. und 17. Jh. entfalteten namentlich (in Klammern das Jahr des letzten Drucks): das Manuale confessoriaη (1514), das Praeceptorium (1611) und der Formicarius (letzter vollständiger Druck 1692, daneben zahlreiche Teildrucke des 5. [dämonologischen] Teils im Rahmen der Überlieferung des -> Malleus maleficarums); die Druckgeschichte der Harfen endet dagegen schon im frühen 16. Jh. Kein einziges Werk liegt in einer modernen Edition vor 9 ; damit sind die Bedingungen für die Erzählforschung denkbar schlecht, und so sind hier eher Desiderate als Ergebnisse10 festzuhalten. Die beiden bedeutendsten Werke N.s, Die 24 goldenen Harfen11 und der Formicarius12, weisen eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf: das Lehrgespräch als Grundform (einmal in Anlehnung an die Collationes des Johannes Cassianus [gest. 430], einmal nach dem Bonum universale de apibus des ->· Thomas Cantipratanus), sodann die Erörterung von Fragen der christl. Lebensführung als Thema, schließlich die nutzbar gemachten Quellen (darunter viele, die für die Tradierung von Erzählstoffen wichtig sind13): Augustinus, der Dialogus des Sulpicius Severus (gest. um 420), -> Gregors d. Gr. Dialogi, die - Vincent de Beauvais, die Legenda aurea des Jacobus de Voragine, Thomas von Aquin. Als naturwiss. Autoritäten erscheinen: Aristoteles, Plinius, Solinus, -» Isidor von Sevilla, Albertus Magnus. Die Lehrgespräche (zwischen Germanus, Cassianus und 15 Altvätern in den Harfen, zwischen dem Theologus und dem Piger im Formicarius) illustrieren und argumentieren mit zahlreichen Exempla14. In den vielen, die er nicht aus schriftl. Quellen bezog, verarbeitete N. selber Erlebtes oder ihm von Augenzeugen Zugetragenes15. Gemäß Prolog will er den lau gewordenen Glauben der Zeitgenossen durch die allseits geforderten mira und miracula aus der eigenen Gegenwart, sofern vertrauenswürdig, stärken. Eine Reihe der dämonologischen Exempla aus dem 5. Teil des Formicarius erscheint im Malleus maleficarum (1487)16 und gelangte — wobei unklar ist, ob über diesen oder direkt —

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in die Protestant. Erzählliteratur des 16./ 17. Jh.s 17 . Ein weiteres Rezeptionszeugnis zum Formicarius liegt in der Emeis des Johann Geiler von Kaysersberg, einem Fastenpredigtzyklus, vor. Einen oft hohen Anteil von Exempla weisen manche der dt.sprachigen Predigten auf 18 . I Tschacher, W.: Der Formicarius des J. N. von 1437/ 38. Studien zu den Anfangen der europ. Hexenverfolgungen im SpätMA. Diss. Aachen 1998. - 2 ibid., Kap. 1.6. - 3 Kaeppeli, T.: Scriptores Ordinis Praedicatorum Medii Aevi 2. Rom 1975, 500-515 (Ergänzungen in t. 4 [1993] 164 sq.); cf. Hillenbrand, E.: N., J. In: Verflex. 6 (21987) 972-976. - 4 Bailey, Μ.: Abstinence and Reform at the Council of Basel. J. N.'s De abstinencia esus carnium. In: Mediaeval Studies 59 (1997) 225-260, hier 229. - 5 Brand, M.: Studien zu J. N.s dt. Sehr. (Diss. Mü.) Rom 1998. 6 Hillenbrand (wie not. 3) 976. - 7 cf. Brand (wie not. 5) Kap. II.2. - 8 cf. Schnyder, Α.: Malleus maleficarum. [...]. Kommentar zur Wiedergabe des Erstdrucks von 1487. Göppingen 1993, 7 - 2 3 . - 9 Eine kritische Ausg. des Formicarius (mit frz. Übers.) von C. Chene, Lausanne, ist in Vorbereitung; cf. N., J.: Formicarius (livre II, chap. 4 et livre V, chap. 3,4,7). ed. C. Chene. In: L'Imaginaire du sabbat. ed. M. Ostorero/A. Paravicini Bagliani/K. U. Tremp, unter Mitarbeit von C. Chene. Lausanne (im Druck); cf. auch Biedermann, H. (ed.): J. Nyder, Formicarius. Graz 1971 (moderner Abdruck einer [schwer lesbaren] Inkunabel); der 5. Werkteil auch im Nachdr. eines Drucks von 1669: Mallevs maleficarvm. Brüssel 1969 (t. 1, 305-354); eine Teiledition von „De abstinentia esus carnium" bei Bailey (wie not. 4) 243 -260; ferner die vier auf Texten des Jacobus von Voragine beruhenden Adventspredigten bei Dahmus, J. W.: A Medieval Preacher and His Source. J. N.'s Use of Jacobus de Voragine. In: Archivum Fratrum Praedicatorum 58 (1988) 121-176. - 10 cf. Galbreth, Β.: N. and the Exemplum. A Study of the Formicarius. In: Fabula 6 (1964) 55-72 (unergiebig). II Brand (wie not. 5) Kap. III.4.4. - 12 Tschacher (wie not. 1) Kap. 2.2. - 13 Umfassende Qu.nlisten ibid., Kap. 2.4.3 und Brand (wie not. 5) Kap. III.5.7. 14 Tschacher (wie not. 1) Anh. 7 (Repertorium der .zeitgenössischen Exemplageschichten'); cf. Chene, C.: La Moralisation animale ä la fin du Moyen Age: Le Formicarius (1435—1437) de Jean Nider. In: Le Monde animal et la societe des hommes au Moyen Age. Turnhout (im Druck). - 15 Biedermann (wie not. 9) Kap. la. - 16 cf. Schnyder (wie not. 8) 415. "Brückner, Namenreg. s.v. N. - 18 cf. Brand (wie not. 5) Kap. IV.3.

Muri bei Bern

Andre Schnyder

Niederlande. In den N.n werden zwei Sprachen gesprochen, das Niederländische und, bes. im Norden in der Provinz Friesland

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(= Westfriesland), das Friesische (-• Friesen). Darüber hinaus ist das Niederländische die Standardsprache des fläm. Teils Belgiens (-• Flamen). Im folgenden werden die ndl.sprachige Überlieferung des Gesamtgebietes bis zum Anfang des 19. Jh.s und die mündl. lediglich des ndl.sprachigen Teils der N. ab 1800 vorgestellt. Seit dem 13. Jh. sind in der mittelndl. Lit. Texte, die sich Erzähltypen zuordnen lassen, nachweisbar. Wenn sie auch noch nicht eigentliche Märchentexte darbieten, so weisen doch bereits die Romane Karel ende Elegast (13. Jh.; cf. AaTh 952: König und Soldat)', Ferguut (13. Jh.; cf. AaTh 314 A: Hirt und die drei Riesen)2 und Walewein (ca 1260; cf. AaTh 550: Vogel, Pferd und Königstochter)3 strukturelle oder motivische Verwandtschaft mit bestimmten Erzähltypen auf. In einer Episode des Torec von Jacob van Maerlant (ca 1260) läßt sich AaTh 301: Die drei geraubten Prinzessinnen erkennen 4 , und das weltliche Spiel Esmoreit (14. Jh.) zeigt auffallende Übereinstimmungen mit AaTh 652: ->• Prinz, dessen Wünsche in Erfüllung gingen5. Inwieweit es sich hier um Vor- oder Frühformen dieser Märchen typen handelt, ist jedoch eine offene Frage. Genaueres läßt sich über die vielen in Exempel- und Fabelsammlungen überlieferten Erzählungen aussagen, bei denen es sich hauptsächlich um Übers.en handelt. Es kursierten in volkssprachigen Versionen6 ζ. B. die Legenda aurea des -> Jacobus de Voragine (Passionael), die -» Vitae patrum (Vaderboec), die Dialogi Gregors d. Gr., der Dialogus miraculorum des Caesarius von Heisterbach, das Bonum universale de apibus des Thomas Cantipratanus (Bienboec7), der Uber de moribus hominum [...] sive super ludum scachorum des Jacobus de Cessolis (ScaecspeP) und mehrere Slgen von Marienlegenden9. Auch die ->· Gestα Romanorum wurden übersetzt (Die gesten of gheschiedenissen van Romen10). Tiermärchen und Fabeln finden sich in den Reineke Fuchs-Epen Van den Vos Reynaerde (Mitte 13. Jh.) und Reinaerts Historie (ca 1375), in der Romulus-Bearb. Esopet (zwischen 1250 und 1375), in den Parabelen van Cyrillus (-» Fabelbücher), der Twispraec der Creaturen (-» Dialogus creaturarum) und in den über die frz. Übers, von Julien Macho auf

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den Esopus von Heinrich Steinhöwel zurückgehenden Hystorien ende fabulen van Esopus11. Mancher Erzähltyp wurde auch Thema der um 1400 beliebten, mündl. vorgetragenen kurzen Verserzählungen, die ,sproken' oder, wenn sie komischer Natur waren, .boerden' genannt wurden, ζ. B. AaTh 50, 50 A, 155,165 B*, 222 A, 243 A, 841, 887, 1361, 1363, 1423, 1525 Η 2 , 1861 Α und 193012. Bekannteste mittelndl. Verserzählung wurde die Marienlegende Beatrijs, eine Var. von AaTh 770: Nonne, die in die Welt ging13. Im spätma. und neuzeitlichen gedr. ndl. Schrifttum erhielt die Volkserzählung einen festen Platz. Alte und neue Erzählstoffe wurden durch Volksbücher14 tradiert, wie ζ. B. Ulenspieghel (ca 1519; -» Eulenspiegel), De wonderlycke Historie van den wandelenden Jode (1725; AaTh 777: Ewiger Jude), Warachtighe Historie van Doctor Iohannes Faustus (1592; Faust), Een nieuwe historie van Fortunatus borse ende van sijnen wunsch-hoet (1610; AaTh 566: Fortunatus15), Die Hystorie van Reynaert die Vos (1479; Reineke Fuchs), Een schone Ende Miraculeuse Historie vanden Ridder Metter Swane (1651; Schwanenritter), Die historie van die seuen wijse mannen van Romen (1479; ->• Sieben weise Meister), Virgilius (ca 1525; -+ Vergil). Eine frühe Version von AaTh 592: ->• Tanz in der Dornhecke findet sich im aus dem Englischen übers. Vanden Jongen geheeten Jacke (erstmals 1528)16. Weitere Dramatisierungen von Erzählstoffen gibt es seit der frühen Neuzeit17, namentlich aber im 17. und 18. Jh. 1700 ζ. B. wurde bereits die 5. Bearb. von AaTh 940: Das hochmütige -> Mädchen aufgeführt 18 . Dieser Stoff wurde, wie so mancher andere Schwank (ζ. B. AaTh 1540: Student aus dem Paradies oder AaTh 1678: Junge weiß nichts von Frauen)19, auch in Liederbüchern oder als Bänkelsang verbreitet. Altes und Neues, oft dt., frz., ital. oder engl. Quellen wie Anekdotensammlungen über Claus Narr, Werken von Johannes Pauli, Valentin Schumann, Georg Wickram, Julius Wilhelm -> Zincgref, Sieur d' Ouville, Marguerite de Navarre, Matteo Bandello, -» Boccaccio oder -> Poggio Bracciolini entnommen, bieten vom 16. bis zum frühen 19. Jh. die vielen Novellen-, Anekdoten- und Apophthegmatasammlungen und ,kluchtboeken' (Schwankbücher) 20 , wie das Een nyeuwe

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clucht boeck (Antw. 1554), das 231 seiner 253 Schwänke Paulis Schimpff und Ernst entlehnte21, und Jan Zoets Het Leven en Bedrijf van Clement Marot (Amst. 1655)22. Blütezeit dieser Schwankbücher war das 17. Jh. 23 Viele Erzählungen fanden seit dem frühen 17. Jh. auch einen Platz in den Kalendern 24 sowie in mancher Slg von Kuriositäten 25 . Wie beliebt das Anekdotische und Komische damals war und wie groß deren kulturelles Gewicht, auch für das gebildete Publikum, zeigen mehrere, manchmal sehr umfangreiche hs. Slgen26, wie die Anecdota sive historiae jocosae (2440 Nummern) des Aernout van Overbeke (1632-74) 27 . Zaubermärchen sind in Quellen dieser Art selten. So begegnet eine Var. von AaTh 550: Vogel, Pferd und Königstochter in einem Schwankbuch von 1647 und eine von AaTh 513 A: -> Sechse kommen durch die Welt in einem Kalender für 172528. Die Fabel bleibt durchgehend beliebt und wird auch in spezifischen Slgen dargeboten. Seit 1548 gibt es Buchübersetzungen von -> Äsop, seit 1672 von -> Phädrus, seit 1786 von Jean de -» La Fontaine und seit 1623 vom Buch der Beispiele der alten Weisen von Anton von Pforr 29 . Die erste ndl. Ubers, von Tausendundeinenacht erschien 1709, die erste der Märchen von Charles Perrault 1754 als Verteilingen van Moeder de Gans. Damit beginnt ein ständig anschwellender, anfangs bes. von frz. und dt. Quellen, später von Vorbildern aus aller Welt gespeister Strom von Märchenpublikationen für Kinder 30 . Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm kommen dabei erst recht spät ins Bild. Die erste ndl. Übers, von 1820 hatte wenig Erfolg, der Siegeszug dieser Slg fing erst mit der Ausg. Sprookjes uit de nalatenschap van Moeder de Gans (Leiden 1870) an 31 . Ebenfalls in erster Linie für Kinder bestimmt war die populäre Druckgraphik (-• Bildquellen, -Zeugnisse, Kap. 6) des 18. und 19. Jh.s mit alten und neuen Geschichten von Eulenspiegel, dem Ewigen Juden, -• Genovefa, -» Münchhausen (-»• Münchhausiaden), Richard Wittington (AaTh 1651: Katze als unbekanntes Tier) und den Märchen von Perrault 32 . Im Laufe des 19. Jh.s verschwanden die klassischen Schwank- und Volksbücher33, wenn auch nicht alle — Eulenspiegel ζ. B. wurde bis weit ins 20. Jh. immer wieder neu

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aufgelegt —, sowie auch nach und nach die Bilderbogen. Die Popularität der Volkserzählung als Lese-und Vortragsstoff hielt jedoch an, nahm zeitweise sogar noch zu. Die Märchenliteratur für Kinder und Jugendliche blühte, die Kalender mit ihren Geschichten und die Volks- und Bänkellieder blieben bis zum 2. Weltkrieg beliebt, und neue Medien wie Familienzeitschriften, Heimatkalender und Mundartliteratur bevorzugten traditionelle Erzählstoffe oder wandten sich unter Einwirkung der sich entfaltenden wiss. und ideologischen Vorstellungen über die mündl. Tradition der heimischen Überlieferung zu 34 . Sie bewirkten ein reges, von vielen populären Ausgaben gespeistes Interesse für das Märchen beim breiten Publikum, trotz der Tatsache, daß das Sammeln von Volkserzählungen in den N.n, die Sage weitgehend ausgenommen, nie richtig vorangekommen ist und ihre wiss. Erforschung marginal blieb35. Die kulturellen Eliten wurden eher von der Blütezeit des 17. Jh.s als von der germ. Vorzeit und vom MA., eher von der Weltliteratur als der eigenen älteren Volksliteratur angeregt36. J. Grimms Aufrufe zum Sammeln von Märchen (1811 und 1812) fanden denn auch kaum Widerhall, und es spricht für sich, daß ein Versuch, die Ndl. Sagen (1843) von J. W. -> Wolf ins Niederländische zu übersetzen, mangelnden Interesses wegen scheiterte37. Erst seit dem letzten Viertel des 19. Jh.s, als in den Landprovinzen eine neue, aus der Mittelschicht stammende Elite die regionale Volkskultur und Sprache entdeckte und als Gegengewicht gegen den Staatszentralismus und vermeintliche gesellschaftliche Verfallserscheinungen zu verwenden suchte, kam es gelegentlich zu Sammelaktivitäten, die jedoch nur selten zu umfangreicheren Publ.en führten. Nur in der Provinz Groningen gab es dabei eine gewisse Kontinuität. Dort hatte bereits 1804 der elfjährige G. Arends Arends in einem Schulheft die Märchen der Näherin Trijntje ->• Soldaats (Trijntje Wijbrands, 1749-1814) aufgezeichnet, darunter Var.n von AaTh 310 A, 312, 326, 327 C, 513 A, 540, 700, 910 B, 992, 1535, 1539 und 1875. Die meisten dieser Typen zeichneten in derselben Gegend später auch J. Onnekes (1844-85) und E. J. Huizenga-Onnekes (1883-1956) auf 38 . Andere Groninger Sammler, zugleich erfolgreiche Herausgeber

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von Anthologien, waren K. ter Laan (1871 —1963)39 und T.W. R. de Haan (1919-83) 40 , der als erster in den N.n die wechselseitigen Beziehungen zwischen der literar. und der mündl. Überlieferung im Blick hatte und die 14teilige ndl.-fläm. Gesamtschau Onze Volksverhalen (1979-82) initiierte41. Überregionale, rein wiss. Sammelaktivitäten waren noch seltener. Seit 1893 sammelte G. J. -» Boekenoogen (1868-1930) über Zeitungsaufrufe Volkserzählungen, die er teilweise (134 Nummern) in der Zs. Vk. veröffentlichte42. Das meiste bekam er aus Groningen und Nordholland, wo der Arzt C. Bakker (1863-1933) aus Broek in Waterland vieles von seinen Patienten aufzeichnete. 1943 klassifizierte J. R. W. Sinninghe, der sich als Herausgeber von regionalen Sagensammlungen einen Namen gemacht hatte, das bis dahin Vorhandene nach dem System von A. Aarne 43 . Versuche nach 1955, dieses mittels einer Stichting tot Codificatie van de Nederlandse Volksverhalen weiterzuführen, hatten kaum Erfolg 44 . Man meinte, so der bekannteste ndl. Erzählforscher J. de - Vries (1890-1964) bereits 1929, daß die Niederländer (ähnlich wie die Engländer) von allen europ. Völkern den Sinn für das Märchen am gründlichsten verloren hätten 45 , und hielt diese Gattung in den N.n für ausgestorben 46 . Erst als die fries. Sammler D. Jaarsma (1914-91) und Y. Poortinga (1910-85) zeigten, daß es auch in der Nachkriegszeit noch viele Märchenerzähler gab, änderte sich diese Meinung, aber abgesehen von Westfriesland und dem geldr. Liemers, wo A. Tinneveld (1907-76) eine schöne Sammlung von Märchen zusammenbrachte 47 , blieb doch die Sage das wichtigste Sammelobjekt. So wurden von Mitarbeitern des Meertens Inst.s in Amsterdam im Rahmen eines Atlasprojektes viele Tausende von Sagen aufgezeichnet48. Zur Zeit werden in diesem Inst, alte und neue ndl. Volkserzählungen, einschließlich des heutzutage im Mittelpunkt des Interesses stehenden sagen- und schwankhaften Erzählguts der Gegenwart 49 , in einer Datenbank gespeichert50. Die ndl. Märchenforschung war lange Zeit primär text- und stofforientiert 51 . Erst in den letzten Jahrzehnten werden auch die Lebensbedingungen des Märchens beachtet, Kontexte und Tradierungsprozesse untersucht und

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Erzähler und Erzählgemeinschaften heute und damals vorgestellt52. An den ndl. Univ.en spielte und spielt die Erzählforschung kaum eine Rolle53, abgesehen von gelegentlichen, meist literaturhist. ausgerichteteten Diss.en, die (vor 1950) öfter die Erzählwelt der seinerzeitigen ndl. Kolonien, namentlich Ostindien, zum Gegenstand hatten 54 . Zur Zeit wird einzig an der Univ. von Groningen von J. van der Kooi Erzählforschung gelehrt. Der heutige Wissensstand wird im Lex. Van Aladdin tot Zwaan kleef aan skizziert55. Die Qualität der in den N.n aus dem Volksmund gesammelten Erzählungen ist sehr unterschiedlich. Auch wenn die Sammler inhaltsorientiert waren, gingen sie dennoch oft sehr frei mit dem Gehörten um. Die Wiedergabe des Dialekts der Erzähler war vor 1940 die Ausnahme und auch später nicht die Regel. Nur wenige jüngere Sammler benutzten ein Tonbandgerät, doch auch diese überarbeiteten im Falle einer Publ. ihre Texte mehr oder weniger nach den Wünschen des Lesepublikums, entweder einer an Region und eigener Identität interessierten Gruppe oder des breiten Publikums, dem sie fesselnde und moralisch vertretbare Lesestoffe bieten wollten. Dies führte dazu, daß sie fast alles, was sie für unanständig hielten, verharmlosten oder ausmerzten. Die ndl. Erzähllandschaft war, bedingt durch die geogr. Lage sowie auch durch die vielschichtigen literar. Einflüsse, eine ausgesprochene Übergangsregion zwischen einerseits den rom., bes. den frz., anderseits den nördl. und östl., namentlich den ndd. Traditionen. Staats- und Sprachgrenzen waren keine Barrieren, eher Religionsgrenzen, wie die zwischen reformierten und kathol. Gruppen, oder soziokulturelle Grenzen, wie die zwischen Marsch und Moor und Sand56. Schwank und Witz herrschten vor, Märchen wurden nur von wenigen erzählt. Dabei überwogen die Tier-, Legenden- und Novellenmärchen. Auch Märchen vom dummen Teufel wurden gerne erzählt, Zaubermärchen dagegen waren recht selten. Meistens brachten Zaubermärchen es nur dann zu einer größeren Beliebtheit, wenn sie das Zauberische mit dem Schwankhaften verbanden (ζ. B. AaTh 330: Schmied und Teufel), bes. für Kinder geeignet (ζ. B. AaTh 327 C: Junge im Sack der Hexe), eher moralisch-didaktische Erzählungen als Zaubermär-

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chen waren (ζ. B. AaTh 555: -> Fischer und seine Frau) und/oder zur Sage hin tendierten (ζ. B. AaTh 720: - Kannibalismus). Der hl. N. überführt den Wirt und erweckt die Schüler zum Leben (-> Wiederbelebung). Dies ist neben der Jungfrauenlegende die wohl am häufigsten in der Ikonographie dargestellte Legende18. Auf ihr gründet das Patronat des Heiligen über die Schüler bzw. als Kinderbischof und der Bescherbrauch am Vorabend des Festes des Heiligen19. Eine Inversion der Schülerlegende findet sich in Heinrich Hoffmanns -> Struwwelpeter (1845). Hier taucht N. drei Knaben, die sich über einen Mohren wegen dessen Hautfarbe lustig gemacht haben, in ein Tintenfaß. In den Motivbereich der Schülerlegende gehört auch die Erzählung von der Ermordung eines reisenden Kaufmanns und seiner Wiedererweckung durch N., die nur bei dem normann. Kleriker Wace (Anfang 12. Jh.) überliefert ist20. - Legende von dem ins Meer gefallenen Knaben und dem Becher: Nach Anrufung von N. wird einem vornehmen Ehepaar ein Sohn geboren. Der Vater gelobt, zum Grab des Heiligen zu pilgern und ihm einen goldenen Becher zu opfern. Der angefertigte Goldbecher gefallt dem Vater so gut, daß er ihn behält und für N. eine Kopie anfertigen läßt. Auf der Seereise zum Grab des Heiligen fällt der Sohn, als er mit dem ersten Becher Wasser schöpfen will, ins Meer. Traurig kommen die Eltern nach Myra und wollen den zweiten Becher opfern, aber der fallt immer wieder vom Altar; da erscheint plötzlich der Knabe mit dem ersten Becher in der Hand und sagt, der hl. N. habe ihn vor dem Tode bewahrt. Nun opfert die Familie beide Becher. Die Legende ist wahrscheinlich im 12. Jh. in Nordfrankreich entstanden21. — Ein Mann läßt den Juden, von dem er Geld geliehen hat, einen Stab halten, in den er vorher das Geld gesteckt hatte; dann schwört er, daß er das Geld zurückgegeben habe (AaTh 961: -» Geld im Stock)22. Auf dem Heimweg verunglückt der Betrüger tödlich, der Jude will das Geld nur zurücknehmen, wenn N. als Bürge es bewirkt, daß der Tote selbst den Sachverhalt bezeugt. N. erweckt ihn wieder zum Leben, der Jude läßt sich taufen. Die Heiligkeit des N. bewies sich bereits darin, daß er als Säugling jeweils am Freitag die Mutterbrust verweigerte, um zu fasten 23 . N. kann die Schlechtigkeit von Menschen an deren Geruch erkennen 24 , über das Wasser 25 wandeln und fliegen 26 . In der populären Überlieferung erscheint N. häufig zusammen mit Christus 27 , dem hl. Georg und/oder -> Elias auf Erdenwanderung 28 . Zusammen mit Elias fungiert er in einem südslav. Volkslied als Fährmann der Toten 29 . Die Verbindung zum Tod geht wohl auf seine Stellung als Fürbitter beim Sterben zurück 30 . In der slav. Tradition tritt er zusammen mit dem hl. Georg als Herr der Tiere (Wölfe) auf. In der Überlieferung der Komi ist N. der Jagdhelfer, der

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Nixe — Nixe im Teich

den Jägern reiche Beute verschafft und auf seinen Anteil verzichtet31. N.' Patronat der Seeleute und Schiffer wirkt bis in den modernen Schlager fort 32 . Als Helfer und Wundertäter tritt er in Erzählungen aus dem Balkan auf, er hilft Fischern und in Seenot geratenen Schiffern, zieht einen Bauernwagen aus dem Sumpf oder hilft, einen umgefallenen Schlitten33 bzw. Heuwagen 34 wieder aufzurichten. Helfend, strafend und belehrend erscheint er auch in der rumän. Erzählüberlieferung 35 . Gelegentlich erscheint N. auch als Helfer anstelle eines dankbaren Toten (cf. AaTh 505-508), so bei -> Johannes Gobi Junior (14. Jh.) 36 oder in einer russ. Var. zu AaTh 307: Prinzessin im Sarg)37. Zahlreiche, ζ. T. gereimte N.spiele belegen die Popularität des Heiligen bes. im Alpenraum seit der Mitte des 18. Jh.s 38 . Sie basieren auf der Schüler- und der Jungfrauenlegende. Beide wurden in der Gegenreformation zur Grundlage des bereits um die Mitte des 16. Jh.s belegten 39 Einkehrbrauchs, bei dem im wesentlichen zwei Formen zu unterscheiden sind: das meist nächtliche, dem N. zugeschriebene, aber von den Eltern vorgenommene Gabeneinlegen in von Kindern bereitgestellte Schuhe, Strümpfe, Teller oder Schüsseln und die wirkliche Einkehr des N. und seiner Begleiter in die Häuser mit Befragung, Belehrung, Ermahnung und abschließender Beschenkung der Kinder. Neben Stubenspielen pflegen einzelne Orte Tirols szenisches Brauchtum an der Vigil des Heiligenfestes. Spielhafter Brauch - Stubenspiel und Umzugsspiel, verbunden mit der Einkehrszene und Bescherung - zeigt N. in Begleitung verschiedener brauchtümlicher Gestalten (Habergeiß, Tod, Bräute, Engel, Wilde Männer, Krampus, Klaubauf, Buttenmandl, Ganggerl, Percht etc.). Hier vermischt sich vieles mit Bräuchen des Mittwinter- und Faschingsbrauchs 40 . Zahlreiche dieser Bräuche erfuhren eine Belebung durch das Predigtexempel41. 1

Petzoldt, L.: N. von Myra (von Bari). In: LCI 8 (1976) 45-58; Brückner, Α.: Ν. von Myra. In: TRE 24 (1994) 566-568; ead./Restle, M./Onasch, Κ.: N. von Myra. In: Lex. des MA.s 6. Stg./Weimar 1999, 1173-1176. - 2 Humbert, R.-P.: N. In: Hwb. zur dt. Rechtsgeschichte 3. B. 1984, 1008-1014. - P e t zoldt (wie not. 1). - 4 Meisen, K.: N.kult und N.brauch im Abendlande. Düsseldorf 1931; Jones, C. W.: St. Nicolas of Myra, Bari and Manhattan.

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Biogr. of a Legend. Chic./L. 1978. - 5 Anrieh, G.: Hagios Nikolaos. Der hl. N. in der griech. Kirche 1 - 2 . Lpz./B. 1913/17. - 6 Legenda aurea/Benz, 26-34. - 7 Anrieh (wie not. 5) t. 2, 277-288; cf. Meisen (wie not. 4) 217 sq. - 8 MGH Scriptores rerum Merovingarum 7, 530, 574. - 9 Anrieh (wie not. 5) 84; cf. Dreves, G.: Analecta Hymnica Medii Aevi. Lpz. 1886, XXII, 208, num. 350; Meisen (wie not. 4) 233. - 10 ibid., 245. "Anrieh (wie not. 5) 396. - 12 Meisen (wie not. 4) 250. - "ibid., 253 sq.; Anrieh (wie not. 5) 408. 14 Meisen (wie not. 4) 261—269. - 15 Anrieh (wie not. 5) 151, 274, 434. - 16 Meisen (wie not. 4) 270. - 17 ibid., 261. - 18 ibid., 289-333. - 19 Klöck, J.: Der hl. N. Sein Leben und seine Verehrung im Brauchtum und im kirchlichen Bereich. Schongau 1982; Mezger, W.: St. N. zwischen Kult und Klamauk. Ostfildern 1993. - 20 Delius, N.: Maistre Wace's St. Nicolas. Ein altfrz. Gedicht des 12. Jh.s aus Oxforder Hss. Bonn 1850, 1080-1143; Fissen, K.: Das Leben des hl. N. in der altfrz. Lit. und seine Qu.n. Göttingen 1921; Meisen (wie not. 4) 286 sq. 21 ibid., 272. - 22 ibid., 281 sq. - 23 Legenda aurea/ Benz, 28; Günther 1949,98; cf. Rahmer, Α.: N.legenden. Mü. 1964. - 24 Toldo 1901, 346 sq. - " K a r a dzic, V.: Srpske narodne pripovijetke. Belgrad 41937, 270, num. 9. - 26 EM 8, 1256. - 27 Karlinger, F./ Mykytiuk, B.: Legendenmärchen aus Europa. MdW 1967, num. 67. - 28 Loorits, O.: Der hl. Georg in der russ. Volksüberlieferung Estlands. B. 1955, 93. 29 Krauss, F. S.: Sitte und Brauch bei den Südslawen. Wien 1885, 191. - 30 Meisen (wie not. 4) 384, 430; Schuhladen, H.: Die N.spiele des Alpenraumes. Innsbruck 1984, 231. 31

Fokos-Fuchs, D. R.: Volksdichtung der Komi (Syrjänen). Bud. 1951, num. 67. - 32 Freddy Quinn: St. Niklas war ein Seemann (Polydor 2041361; ca 1972). - 33 Karlinger/Mykytiuk (wie not. 27) 304. 34 LCI 8, 55 sq. - "Karlinger, F./Turczynski, E.: Rumän. Sagen und Sagen aus Rumänien. B. 1982, num. 96. - 36 Röhrich, Erzählungen 2, 181 sq. — 37 Zelenin, D. K : Velikorusskie skazki Vjatskoj gubernii. Petrograd 1915, num. 128. - 38 Schuhladen (wie not. 30). - 39 ibid., 233. - 40 Greinz, I.: Die N.-Volksschauspiele in Österreich. Diss. Innsbruck 1934; Schmidt, L.: Das dt. Volksschauspiel. B. 1962, Reg. s. v. hl. N.; Wolfram, R.: Das N.brauchtum in Tirol. In: Tiroler Heimat 37 (1973) 127-179; Schuhladen, H.: Das N.spiel der Pragser. In: ÖZfVk. 87 (1984) 249-284. 41 Moser-Rath, E.: Dem Kirchenvolk die Leviten gelesen ... Stg. 1991, 162, 165, 223-225, 234.

Innsbruck

Leander Petzoldt

Nixe -» Wassergeister Nixe im Teich (AaTh 316), Zaubermärchen mit zweiteiliger Struktur, das durch die Figur des auch aus Volksglaubensvorstellungen ver-

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Nixe im Teich

trauten weiblichen ->· Wassergeists bestimmt ist (cf. auch AaTh 667: -» Pflegesohn des Waldgeistes). Das AaTh-Lemma The Nix of the Mill-pond geht auf den Titel der Brüder -» Grimm (KHM 181: Die N. im Teich) zurück. AaTh 316 hat folgenden Inhalt: (1) Ein armer -»• Fischer (-> Müller) verspricht wissentlich (unwissentlich) einer Wasserfrau, ihr seinen Sohn in einem bestimmten Alter zu übergeben (-> Kind dem Teufel verkauft oder versprochen), sie ihrerseits sichert ihm dafür Wohlstand zu. Das Kind wird von den Eltern ängstlich vom Wasser ferngehalten. Als der Tag der Übergabe naht, erfährt der Sohn vom Versprechen des Vaters und entzieht sich durch Flucht. Unterwegs teilt er ein totes Tier zwischen Löwe, Falke, Ameise (anderen Tieren) ihren Eigenarten entsprechend auf und erhält als Dank die Gabe, sich in deren Gestalt verwandeln zu können (-» Dankbare [hilfreiche] Tiere; -> Tierverwandlung). Mittels dieser Fähigkeit gewinnt der junge Mann die Königstochter zur Frau. (2) Unachtsam nähert er sich nach einer gewonnenen Schlacht (auf der Jagd) dem Wasser und wird von der N. ergriffen und hinuntergezogen (verschluckt). Dreimal lockt seine Frau durch das Zeigen kostbarer Gegenstände (meist drei goldene Äpfel) die N. an die Wasseroberfläche und erreicht von ihr, daß sie im Tausch gegen diese Gegenstände stufenweise ihren Mann sehen darf. Beim dritten Mal, als die N. seine ganze Gestalt aus dem Wasser heraushebt, verwandelt er sich in einen Vogel und entkommt.

Aus den vorhandenen Belegen ergibt sich ein eigentümliches Verbreitungsbild, das wohl nicht nur auf die Aufzeichnungsintensität in den jeweiligen Regionen zurückzuführen ist: Insgesamt ist AaTh 316 in Europa nicht sehr zahlreich, sondern eher sporadisch belegt. Abgesehen von drei bulg. finden sich keine slav. Var.n, aber auch ζ. B. keine aus den Niederlanden, hingegen sind neben einzelnen west- und nordeurop. Var.n über 150 ir., fast 50 griech. und in der Anzahl folgend zehn dt.sprachige Belege bekannt, denen vereinzelte europ. beeinflußte Var.n aus Nord-, Mittel- und Südamerika gegenüberstehen1. Die älteste bekannte Fassung findet sich bei -» Straparola (3,4). Sie enthält die wesentlichen Elemente von AaTh 316 wie Bedrohung des Helden durch eine Wasserfrau, Verteilung des toten Tiers, Erringung der Königstochter dank der Verwandlungsfähigkeiten, Rettung aus der Gewalt der Sirene durch seine Frau mittels eines bronzenen, silbernen und goldenen Apfels (-• Kupfer, Silber, Gold). Aller-

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dings wird in der Eingangspassage das Kind nicht dem Wasserwesen versprochen, sondern eine Pflegemutter verflucht ihren Pflegesohn, falls er einmal über das Meer fahren würde, solle er von der ->• Sirene in die Tiefe gezogen werden. Trotz fester Struktur erscheint das Märchen in verschiedenen Ausformungen. Vor allem in griech., aber auch in bulg., schott. und ir. Var.n bildet nicht immer eine wirtschaftliche Notlage den Anlaß, das oft noch ungeborene Kind dem dämonischen Wesen zu versprechen, sondern auch lange Kinderlosigkeit2. In solchen Var.n ist der Vater manchmal ein König, und öfters findet sich dann das Motiv von der wunderbaren Empfängnis eingefügt: Die Wasserfrau gibt dem Kinderlosen ζ. B. Fischschuppen oder bestimmte Früchte zum Verzehr für seine Frau oder auch für ihn selbst3. Variationen zeigen sich bes. in der Passage von der Gewinnung der Königstochter. Während in der einfachsten Form der Held sich in Gestalt eines Vogels von der Königstochter fangen und in ihrem Zimmer in einem Käfig aufstellen läßt, diesen nachts als Ameise verläßt, sich der Prinzessin in Menschengestalt präsentiert und beide im Laufe der Nacht beschließen zu heiraten 4 , gehen andere Var.n meist zusätzlich Kontaminationen vorwiegend mit solchen Erzähltypen und -motiven ein, in denen der Held dank seiner Verwandlungsfähigkeiten die Aufgaben lösen kann. Vor allem in griech. Var.n verdingt sich der Held nach seiner Flucht vor der Wasserfrau zunächst als Hirte, kann als einziger die Milch noch warm zur Prinzessin in den entfernten Palast bringen und erhält sie daraufhin zur Frau 5 . Ebenfalls in griech. Var.n findet sich die Kontamination mit AaTh 329: Versteckwette, womit meist eine Variation des Motivs von den dankbaren Tieren verbunden ist: Der Protagonist erhält einerseits wie üblich die Verwandlungsgabe, und andererseits kann er die Tiere auch zur Hilfe herbeirufen, damit sie ihn vor der Prinzessin verstecken6. Häufig ist AaTh 316 mit AaTh 302: -«· Herz des Unholds im Ei kontaminiert: Der Held muß erst einen Oger in seinen verschiedenen Metamorphosen töten, ehe er die Königstochter heiraten kann 7 . In lapp. Var.n gewinnt der Held die Prinzessin, weil er am schnellsten das vom König verges-

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Nixe im Teich

sene Schwert holen kann (cf. AaTh 665: ->· Mann, der wie ein Vogel flog und wie ein Fisch schwammf. Gelegentlich erscheint das Motiv von den drei gleichaussehenden Königstöchtern, unter denen der Held die Richtige erkennen muß (cf. AaTh 554: cf. -» Dankbare [hilfreiche] Tiere)9. Die thematisch und strukturell meist gut eingebundenen Erweiterungen wurden wohl nicht nur eingefügt, um die Erzählung zu verlängern, sondern auch, um die Heldentaten des Protagonisten zu vermehren. Der erste Teil bis zur Hochzeit ist durch seine Aktivitäten bestimmt, im zweiten hingegen ist seine Frau die Handelnde. Der Held gerät in den Machtbereich der Wasserfrau, manchmal durch die Machenschaften eines Nebenbuhlers, der ihn ins Wasser wirft 10 . Nach dem Verschwinden des Helden wird in einigen Var.n versucht, seiner Frau einen ähnlich aussehenden Mann als Ehemann zu unterschieben11, doch sie läßt sich nicht beirren, sucht ihn am Meeres- oder Seeufer und rettet ihn durch den geschickten Einsatz der kostbaren Gegenstände. Nur in einigen Var.n spielt dabei -» Musik eine Rolle. Allein in der Fassung bei Straparola verlockt die Sirene den Helden durch den Wasserfrauen eigenen verführerischen Gesang, ansonsten ist es umgekehrt: sie läßt sich durch das Klarinetten· oder Violinspiel der Ehefrau 12 , durch den Gesang eines Mädchenchors 13 , durch Harfen· 14 oder Flötenspiel (KHM 181) betören. Eine Sonderstellung nehmen KHM 181 und die weniger stilisierte Fassung L. -» Bechsteins15 ein, die beide auf einer 1841 veröff. Var. aus der Oberlausitz beruhen 16 . Hier heiratet der Held ein Mädchen aus dem Dorf; das Motiv der dankbaren Tiere fehlt, die Ehefrau benötigt die Hilfe einer alten Frau, die das Paar auch, als Wasserfluten es zu verschlingen drohen, rettet und in einen Frosch und eine Kröte verwandelt; beide finden erst nach einer Zeit der Trennung in Menschengestalt wieder zueinander 17 . Die Beweggründe des dämonischen Wesens für sein Verlangen nach dem Kind werden in den Texten selten erläutert. Manchmal heißt es, daß das dämonische Wesen den Sohn fressen will18. In einer griech. Var. hat die Meerfrau drei Töchter und redet den Jungen als ihren Sohn an 19 , die Meerfrau einer ir. Var. mit ebenfalls drei Töchtern hat ihn als Schwieger-

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sohn vorgesehen20. Einige Var.n lassen den Helden als den von der Meerfrau für sich selbst gewünschten Partner erscheinen21. Die Beziehung zwischen der Wasserfrau und dem Helden spielt eine entscheidende Rolle für Interpretationen des Märchens. W. Scherf sieht diese Beziehung als eine neben der Partnerschaft fortwährende dämonisierte S o h n Mutter—Bindung und interpretiert AaTh 316 als Beschreibung eines Ablösungs- und Selbstfindungsprozesses des jungen Mannes 22 . Auch für E. Storck geht es um einen Reifungsprozeß, doch er betont allg.er den Kampf zwischen dem dämonischen, dunklen Bereich des Elementarischen in Gestalt der N. und dem geistig-seelischen, der durch die Gestalt der Frau verkörpert sei23. Eindeutig auf das Verhältnis zwischen Mann und Frau bezieht J. F. Konrad die Fassung der KHM, die den meisten Interpretationen zugrunde liegt: Für ihn ist es eine Geschichte über die Liebe der Frau, die ihren Mann aus dem Bann einer fremden Frau löst24. Auch V. Kast begreift das Märchen als Problemlösungsweg eines Paares, in dem allerdings Mann wie Frau den gleichen Grundkonflikt — Angst vor Emotionalität haben; die Grimmsche Fassung zeige einen mühsamen Trauer- und Entwicklungsprozeß25. Daß sich Erwachsene durch dieses Märchen angesprochen fühlten, das nicht nur über das Leben der Helden bis zur Hochzeit berichtet, sondern auch über die Zeit danach, bezeugt die Erzählerin Charlotte Rougement für Soldaten, die nach dem 2. Weltkrieg vor ihrer Entlassung aus dem Lazarett standen: Sie setzten das Geschehen in der KHM-Fassung in Analogie zu ihrer langen Trennung von Frau und Familie und ihren Ängsten vor einem Nichtwiederfinden, Nichterkennen und Auseinanderleben26. 1

Ergänzend zu AaTh: Ο Süilleabhäin/Christiansen; Hodne; Aräjs/Medne; Kecskemeti/Paunonen; MNK; BFP *316*; Archiv G. A. Megas, Athen; Camarena/ Chevalier; Flowers (Var. 2); Robe; Baughman; Krzyzanowski 316 nicht zutreffend; Andreev 316 gibt keine russ. Var. an; in einigen ostslav. Var.n zu SUS 665 gerät der Held in die Gewalt eines Meereszaren, z.B. Afanas'ev, num. 259. - 2 Dawkins, R. M.: Modern Greek Folktales. Ox. 1953, num. 7; Megas, G. Α.: Griech. Volksmärchen. MdW 1965, num. 25; Hahn, num. 5; Haralampieff, K.: Bulg. Volksmärchen. MdW 1971, num. 26; Aitken, H./MichaelisJena, R.: Schott. Volksmärchen. MdW 1965, num. 2 (= Campbell, J. F.: Popular Tales of the West High-

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lands 1. L. 21890, num. 4); Bealoideas 7 (1937) 47-50. — 3 Megas, Dawkins, Aitken/Michaelis-Jena und Bealoideas (wie not. 2). — 4 z. B. Köhler-Zülch, I./Shojaei Kawan, C.: Schneewittchen hat viele Schwestern. Gütersloh 21991, num. 11 (bulg.). 5 Dawkins und Hahn (wie not. 2); Klaar, Μ.: Die Pantöffelchen der Nereide. Kassel 1987, 110-117 (griech.); Folk-Lore 11 (1900) 113-115 (griech.); auch Haralampieff (wie not. 2). - 6 Megas (wie not. 2); Hüllen, G.: Märchen der europ. Völker 6. Münster 1965, 76-83. - 7 Pröhle, H.: Kinder- und Volksmärchen. Lpz. 1853 (Nachdr. Hildesheim/N. Y. 1975), num. 6; Wisser, W.: Plattdt. Volksmärchen. N. F. 2. MdW 1927, 65-77; Aitken/Michaelis-Jena (wie not. 2); Pino-Saavedra, Y.: Folktales of Chile. Chic./L. 1967, num. 4. - 8 Poestion, J. C.: Lappländ. Märchen, Volkssagen, Räthsel und Sprichwörter. Wien 1886, num. 51; Qvigstad, J.: Lappiske eventyr og sagn 3. Oslo 1929, num. 4. — 'Schönwerth, F.: Aus der Oberpfalz 2. Augsburg 1858, 219-225; Jahn, U.: Volksmärchen aus Pommern und Rügen 1. Norden/Lpz. 1891, num. 62; Wolf, J. W.: Dt. Hausmärchen. Göttingen/Lpz. 1851, 377-382; Luzel, F. M.: Contes populaires de Basse-Bretagne 2. P. 1887, num. 10 (Held heiratet jedoch keine der drei). - 10 Pröhle (wie not. 7); Qvigstad (wie not. 8); Cosquin, num. 15; Luzel (wie not. 9). 11 Hahn, num. 5; Klaar (wie not. 5); Köhler-Zülch/ Shojaei Kawan (wie not. 4). — 12 Poestion und Qvigstad (wie not. 8); cf. Cosquin, num. 15 (Bettler geigt vom Wal verschluckten Helden frei). - 13 Uffer, L.: Rätorom. Märchen. MdW 1973, num. 34. - "Aitken/Michaelis-Jena (wie not. 2); Zentralarchiv der dt. Volkserzählung, Marburg, num. 192 545 (Siebenbürgen). - 15Bechstein, L.: Sämtliche Märchen, ed. W. Scherf. Mü. 1965, num. 41. - 16 Mitgeteilt von M. Haupt in ZfdA 1 (1841) 202-205 (= Peuckert, W.-E.: Schlesiens dt. Märchen. Breslau 1932, num. 60). - "Anklänge an KHM 181 lassen erkennen: Allardt, A./Perklen, S.: Nyländska folksagor och -sägner. Helsingfors 1896, num. 43; Foresti Serrano, C.: Cuentos de la tradition oral chilena 1. Madrid 1982, 69-74; Zentralarchiv (wie not. 14); Campbell, M.: Tales from the Cloud Walking Country. Bloom. 1958, 40-42. - 18 Hüllen (wie not. 6) (griech., mit negativem Ausgang, eine Gorgona frißt den Enkel); cf. Folk-Lore 11 (1900) 113-115 (griech., Ungeheuer will Vater fressen, der bietet Sohn an, wird jedoch selbst gefressen); Hahn, num. 5 (Drakos will Sohn fressen); Klaar (wie not. 5) (großer goldener Fisch will Sohn fressen). — 19 Dawkins (wie not. 2); cf. auch Megas (wie not. 2) (Gorgona läßt ihn freiwillig gehen und hilft ihm bei Versteck wette). - 20 Curtin, J.: Irish Folk-Tales, ed. S. Ο Duilearga. Dublin 3 1956, 38-48. 21 Poestion (wie not. 8); Pino-Saavedra (wie not. 7); Jahn (wie not. 9). - 22 Scherf 1, 914. - 23 Storck, E.: Alte und neue Schöpfung in den Märchen der Brüder Grimm. Bietigheim 1977, 126-131. - 2 4 Konrad, J. F.: Tränen der Liebe. Das Grimmsche Märchen von der „N. im T." neu erzählt und didaktisch

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erschlossen. In: Zs. für Religions-Pädagogik (1979) H. 6, 191-195. - 25 Kast, V.: Wege aus Angst und Symbiose. Märchen psychol. gedeutet. Olten/Fbg (1982) "1984, 83-102. - 26 Rougement, C.: ... dann leben sie noch heute. Erlebnisse und Erfahrungen beim Märchenerzählen. Münster 1962, 48-50. Göttingen

Ines Köhler-Zülch

Noah, zentrale Gestalt der alttestamentlichen Sintfluterzählung. Erzählungen über N . sind möglicherweise mit der zweiten semit. Wanderungswelle (um 2000 a. Chr. n.) n a c h Mesopotamien u n d in die Levante gelangt u n d d o r t von der j ü d . Überlieferung ü b e r n o m m e n worden. Der N a m e N . ist in altbabylon. Texten als theophores Element (Gottheit N ä h ) v o n Personennamen verwendet worden, was analog z u m unsterblichen Wesen der altoriental. Sintfluthelden Ziusudra u n d Utnapistim ( - • Gilgamesch) zu Spekulationen über den semigöttlichen Status N.s geführt hat 1 . I m Α . T. ist N . der zehnte in der Reihe der Erzväter von -+ A d a m bis -> A b r a h a m , ein Sohn des Lamech (Gen. 5,28) u n d Vater v o n Sem, H a m u n d Jap h e t (Gen. 5,32; 7,13; 9,18; 10,l) 2 . D e r N a m e N . wird etymol. in Z u s a m m e n h a n g mit R u h e (hebr. nwch ,ruhen') bzw. Trost (hebr. n e h m ,trösten') gedeutet 3 . D e r f r o m m e u n d gerechte N . k o n n t e zusamm e n mit den Seinen u n d mit Vertretern der Tierwelt in einer selbstgebauten Arche (Gen. 7 sq.; cf. Tubach, n u m . 3478) das Strafgericht Gottes überstehen. Er wurde nach dem erneuerten Bund mit Jahwe z u m A h n h e r r n der neuen Menschheit u n d zugleich Träger einer neuen L e b e n s o r d n u n g (Gen. 5,28—10,32). Als L a n d m a n n u n d erster Weinbauer richtete sich N . wieder auf der E r d e ein (Gen. 9,20) 4 . E r soll im Alter von 950 Jahren (Gen. 9,28) gestorben sein. Die N a c h k o m m e n seiner Söhne sind die Semiten, Hamiten u n d Japhetiten, n a c h talmud. Z ä h l u n g 70 Völker. In den alttestamentlichen A p o k r y p h e n u n d Pseudepigraphen wird N . als M a n n der Gerechtigkeit dargestellt u n d seine Enthaltsamkeit als Tugend gelobt. Er erscheint als Vermittler esoterischer Erkenntnisse, der die Kunst des Heilens, der T r a u m - u n d N a t u r d e u t u n g u n d der Geisterbeschwörung beherrschte 5 . Auch der Islam k e n n t die u m teils auf agadischer Überlieferung basierende legendäre

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Züge erweiterte bibl. Figur6. Im Koran erscheint N. als Prophet, dem die 71. Sure gewidmet ist. Für Mohammed war N. eine wichtige Identifikationsfigur: Ebenso wie N. bei seinem Aufruf zu Frömmigkeit und Glauben von seinen Landsleuten ausgelacht wurde, fühlte Mohammed sich von den heidnischen Mekkanern behandelt 7 . Von frühchristl. Zeit an wird N. bärtig dargestellt und vorwiegend als älterer Mann charakterisiert; nur in der westl. Sepulkralkunst erscheint N. als bartloser jugendlicher Beter mit Tunika. Der Bildtypus wurde durch Motive angereichert, die einen direkten Bezug zur alttestamentlichen Sintflutgeschichte (Taube, aasfressender Rabe, Regenbogen) und zur Weinentdeckersage (Kelch, Weintraube oder -stock) aufweisen8. In der agadischen Überlieferung ist N. der Erfinder von Ackergeräten (Tanchuma 11) und verfügt als erster Mensch über eine geteilte -> Hand mit frei beweglichen Fingern. Während der Fahrt in der Arche soll N. durch einen Hieb von einem ausgehungerten Löwen gelähmt worden sein, weswegen er später vom Priesteramt ausgeschlossen wurde (Bereschit Rabba 30,6). In Volksglauben und Brauch erscheint N. als Schutzheiliger einerseits der Schiffbauer und Zimmerleute, andererseits der Faßbinder und Winzer9. Die bibl. und nachbibl. Exegese zeichnet ein positives Bild von N. als Ruhe- und Trostbringer: Schon nach N.s Geburt ging die jährliche Überschwemmung der Erde zurück (Bereschit Rabba 25,2), war die zweite große Hungersnot überwunden und wurde die Erde wieder fruchtbar 10 . Der Bericht von N. als Weinbauer (Gen. 9,20-27) enthüllt aber auch eine weniger erfreuliche Seite von N.: Berauscht vom Wein (-• Trunkenheit) verliert er die Aura des frommen Asketen. Der Erzähltyp AaTh 825: The Devil in N.'s Ark bündelt verschiedene Erzählungen, die in Zusammenhang mit dem Bau der Arche und der darauffolgenden Fahrt stehen: (1) N. erhält von Gott (Engel) den geheimen Auftrag zum Bau der Arche im Wald, weil die sündhafte Welt untergehen wird (Mot. A 1018, A 1021). Geräuschlose Werkzeuge (Hammer, Axt; cf. Mot. Η 1116.1) helfen ihm, das Geheimnis zu wahren. Der ->· Teufel verführt N.s Frau und verlangt von ihr, daß sie ihren Mann betrunken macht und über sein Geheimnis ausfragt (Mot. Κ 2213. 4. 2). Zu diesem Zweck bringt er ihr das Schnapsbrennen (Weinkel-

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tern, Bierbrauen) bei (Mot. A 1427.1). Ν. verrät sein Geheimnis, worauf der Teufel die Arche zerschlägt. Beim Anblick der Trümmer weint N., und ein Engel gebietet ihm, die Arche wiederaufzubauen; durch ein Ritual (Waschritual, Wasserkreis) kann N. den Teufel von der Arche fernhalten. (2) Ein Gongschlag ruft die Tiere auf, sich bei der Arche zu versammeln. N. verweigert manchen Tieren den Zutritt, die aber dennoch in die Arche gelangen: der - Einhorn (Mot. A 2214.3), dem Vogel Greif (-» Phönix; Mot. A 2232.4), den Riesen (Mot. F 531.5.9). Der Teufel gelangt durch eine -» List in die Arche: Er versteckt sich bei N.s Frau (Busen, Nähkasten, Schatten), die auf sein Geheiß so lange mit dem Hineingehen zögert, bis N. sie mit einem Fluch, der den Teufel (Satan) anspricht, dazu auffordert (Mot. C 12.5.1, Κ 485). (3) An Bord knabbert der Teufel in Gestalt einer -> Maus ein Loch in den Boden der Arche, um sie zu versenken (Mot. A 1853.1), worauf er von der -» Katze, die aus den Nüstern eines niesenden -» Löwen (Mot. A 1811.2) oder aus N.s Handschuh springt, aufgefressen wird. Hilfreiche Tiere (Schlange, Hase, Hund) bieten sich bei N. an, das Loch mit einem Körperteil (Schwanz, Nase) abzudichten; kleinere Tiere (Schildkröte, Salamander, Hase) werden als Pflöcke benutzt. Die Schlange verlangt für ihre Hilfe täglich süßes (Menschen-)Blut. Nach der überstandenen Sintflut entspricht N. dieser Bitte nur indirekt: Er wirft die Schlange in heiliges Feuer. Ihre Asche verbreitet sich im Wind und verwandelt sich in blutsaugende -» Flöhe, -» Läuse oder - Mücken (Mot. A 2001).

F. L. ->· Utley hat 280 Var.n dieses Zyklus nachgewiesen". Als feststehendes Schema ergibt sich, daß der Teufel sich mit List Eingang in die Arche verschafft, um diese zu versenken, daß aber seine Arglist zuschanden wird 12 . Herkunft und Verbreitung von AaTh 825 sind kaum auszumachen, denn apokryphe, literar. und mündl.-volkstümliche Var.n sind eng miteinander verwoben. Die Nachweise aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s konzentrieren sich auf ein osteurop. Verbreitungsgebiet, von Finnland über Estland, Rußland, Ungarn bis zum Balkan. Für die dubiose Rolle, die N.s Frau — eine eher blasse Gestalt im alttestamentlichen Geschehen — bei der Zerstörung der Arche spielt, findet sich schon ein Hinweis beim griech. Kommentator Epiphanos: Er führt eine gnostische Erzählung von N.s Frau Pyrrha an, die eigenhändig die Arche in Asche legt13. In der islam. Überlieferung, so bei dem arab. Chronisten at-Tabarl (gest. 923), ist nicht N.s Frau Verbündete des

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Teufels, sondern der Esel, unter dessen Schwanz sich der Teufel versteckt hat 14 . Nach at-Tabarl wurde das Schwein erschaffen, um den Kot in der Arche zu verzehren; als aus seiner Nase die Maus fahrt, schlägt N. dem Löwen so auf den Kopf, daß ihm die Katze aus der Nase springt15. In Europa findet sich eine frühe Bearb. vom listigen Betreten der Arche in -> Jansen Enikels Weltchronik (1276; V. 1775); auch Hans Sachs16, Martin Luther und Wolfgang Bütner haben den Stoff verwertet. Zu erwähnen sind ferner zwei engl.sprachige Bearb.en: Queen Mary's Psalter (14. Jh.) 17 und ein N.-Mysterienspiel (15. Jh.) 18 , wobei der erstgenannte Text von einer ikonographischen Wiedergabe des apokryphen Geschehens begleitet wird, die u. a. Wandmalereien in südschwed. Kirchen beeinflußt hat 19 . AaTh 825 begegnet nur selten in seiner vollen Form. Meist werden einzelne Szenen oder Motive erzählerisch ausgeschmückt, mit ätiologischen Pointen angereichert und als selbständige N.-Erzählungen tradiert, die gelegentlich als dualistische Schöpfungsgeschichten ausgeformt sind20: So erscheint der Teufel als Schöpfer der Fliege (ung.) oder Maus (poln.), N. dagegen als Schöpfer von Löwe (russ.), Schwein (arab.), Katze (arab., ung., russ.) oder Mücke (rumän., türk.). Auch das spezifische Aussehen des Hasen (schwanzlos, gespaltene Lippe, große Testikel), des Bären (kurzer Schwanz), der Schlange (gespaltene Zunge) oder der Schwalbe (Gabelschwanz) wird auf Ereignisse während der Fahrt in der Arche zurückgeführt. Der Riesenkönig Og wurde gerettet, weil N. ihm einen Platz im Gitterwerk außerhalb der Arche einräumte und ihn täglich durch eine Öffnung fütterte (jüd.; Mot. F 531. 5. 9); die Elster dagegen wurde wegen ihres dauernden Schnatterns aufs Dach verbannt (Mot. A 2542.1). Da Ν., der auf Gottes Geheiß die Wesen paarweise aufnehmen soll, der Lüge den Eintritt zunächst verweigerte, verbündete sich diese mit dem Unglück, wodurch beide die Sintflut überleben21. Die Ätiologien, die sich um den -» Raben entwickelt haben (schwarze Farbe, krächzender Ruf, sexuelle Eigenart, Verhalten während der Brutzeit, aasfressend), sind von dem Gedanken geprägt, daß er von N. als Meldevogel ausgesandt wurde, jedoch nicht zurückkehrte, worauf N. ihn wegen seines Ungehorsams auf ewig verfluchte (Mot. A 2234.1) 22 .

Auch die Erzählung darüber, wie N. den Wein entdeckte, hat eine apokryphe Erweiterung erfahren. Bereschit Rabba (36,3) und Tanchuma (zu Gen. 9,20) berichten von einem Vertrag zwischen N. und dem Teufel bei der

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Weinanpflanzung 23 . Die Folgen dieser Partnerschaft bzw. des Weingenusses haben in der jüd. 24 und islam.25 Erzähltradition weitere Ausgestaltung erfahren (Mot. A 2851): Ν. (Adam) oder der Teufel tränken den Weinstock mit dem Blut von vier (drei) Tieren (Pfau, Affe, Löwe, Schwein; Lamm, Löwe, Schwein), deren verschiedene Eigenschaften die Stufen der Trunkenheit veranschaulichen. Dieser Stoff (Tubach, num. 5093) erfuhr leicht variiert (unterschiedliche Wirkung des Weins auf den Menschen) durch die -> Gesta Romanorum (num. 159) eine weite Verbreitung in den europ. Lit.en 26 . Im Zustand der Trunkenheit verflucht N. seinen Sohn Ham, der ihn wegen seiner Nacktheit verspottet, daß dessen Nachkommen dereinst Sklaven der Nachkommen seiner Brüder sein werden (Gen. 9,20-23; Tubach und Dvorak, num. 3479). Der verhängnisvolle, in der Bibel allerdings knapp gehaltene Vater-Sohn-Konflikt reizte zu einer stärkeren psychol. Durchdringung und plausibleren Motivierung in der jüd. Lit. Aus dem Vergleich mit dem Schicksal des griech. Gottes Uranos, der von seinem Sohn Chronos mit einer Sichel entmannt wurde, ergibt sich eine mögliche Erklärung des alttestamentlichen Geschehens; demnach hätte sich N. betrunken an Hams Frau vergriffen, worauf er von diesem kastriert wurde 27 . Der babylon. Talmud (Sanhedrin 108 b) dagegen weiß um ein anderes Vergehen: Ham habe sich — ebenso wie der Hund und der Rabe — nicht an N.s Gebot der Keuschheit in der Arche gehalten28; daraufhin wurden die drei Übertreter von N. bestraft: Ham mit einer dunklen Haut und die beiden Tiere mit einer sexuellen Eigenart 29 . Diese Geschichte fand ihren Weg in die jüd. Lit. wie Bereschit Rabba oder das Alphabet des Ben Sira, drang in die christl. Lit. des Orients ein und wurde im 13. Jh. von Peter von Riga, der sie aus Petrus Comestors Historia scholastica kannte, mit der Verspottung von N. (Gen. 9,20—27) verbunden 30 ; bei Jansen Enikel wird sie als Episode des Zyklus AaTh 825 erzählt31. Hist, gesehen handelt der abschließende Teil der Weinentdeckersage von den Herrschaftsansprüchen der aram.-israelit. Einwanderer gegen die einheimischen Kanaanäer. Hams Verfluchung begründet die gegenwärtigen Völkerverhältnisse, wobei Ham als Stammvater

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der Schwarzen gilt (Bereschit Rabba 37,9; Tanchuma [zu Gen. 9,18]; Neger) 32 . Eine beliebte Variation zu der Völkerätiologie, zugleich eine Parallele zu AaTh 758: Die ungleichen Kinder -> Evas, ist die Zurückführung der ma. Stände der Freien, Ritter und Leibeigenen auf N.s Söhne, wie sie Honorius Augustodunensis (Anfang 12. Jh.) lehrt 33 . Im Spätmittelalter wurden N.s Söhne häufig als Stadtgründer (-» Gründungssagen) genannt 34 . Eine misogyn-schwankhafte Erweiterung hat die Figur N.s schließlich in der jüd. und islam. Tradition erfahren: Als drei Freier um N.s einzige Tochter werben, gibt er dem ersten Freier die richtige Tochter, den beiden anderen in Frauen verwandelte Tiere (Ziege, Eselin; Mot. D 332.1, cf. D 341.1). Seitdem gibt es drei Typen von Frauen, wobei die intelligenten, ruhigen und fleißigen von N.s Tochter, die faulen und störrischen von der Eselin und die zickigen von der Ziege abstammen 35 . 1 Bailey, L. R.: N. The Person and the Story in History and Tradition. Columbia, S. C. 1989, 165-168. - 2 Koffmahn, E.: Noe. In: LThK 7 (21968) 1016 sq.; Fohrer, G.: N. In: RGG 4 (1960) 1501 sq. - 3 Bailey (wie not. 1) 168-170. - "Rost, L.: N. der Weinbauer. In: Geschichte und Α. T. Festschr. A. Alt. Tübingen 1953, 169-178. - 5 Lewis, J. P.: Α Study of the Interpretation of Ν. and the Flood in Jewish and Christian Literature. Leiden 1968, bes. 10—41. 6 Heller, B.: Nüh. In: EI2 8 (1995) 108 sq. 7 Schwarzbaum, Η.: Biblical and Extra-Biblical Legends in Islamic Folk-Literature. Walldorf 1982, bes. 21. - 8 Daut, R.: Noe (N.). In: LCI 4 (1972) 611-620; Hohl, Η.: Arche Noe. In: LCI 1 (1968) 178-180; N. (Noe). In: LCI 8 (1976) 67; Utley, F. L.: N., His Wife, and the Devil. In: Patai, R. (ed.): Studies in Biblical and Jewish Folklore. Bloom. 1960, 59-91, bes. 67-71. - «Röhrich, L.: Ν. und die Arche in der Volkskunst. In: Vk. Festschr. L. Schmidt. Wien 1972, 433-442, bes. 438; Sartori, P.: Ν. In: HDA 5 (1934-35) 1114 sq. - 10Ginzberg, L.: N. and the Flood in Jewish Legend [1909]. In: Dundes, A. (ed.): The Hood Myth. Berk./L. A./L. 1988, 319-335, bes. 321. "Ergänzend zu AaTh: Aräjs/Medne; Kecskemeti/ Paunonen; 0 Suilleabhäin/Christiansen; van der Kooi; Cirese/Serafini; MNK; BFP; SUS; Ting; Schwarzbaum, 387; Utley, F. L.: The Devil in the Ark (AaTh 825). In: Kongreß Kiel/Kopenhagen 1959, 446-463, bes. 457-463 (= Dundes [wie not. 10] 337-356). - 12 McCartney, Ε. S.: N.'s Ark and the Flood. Α Study in Patristic Literature and Modern Folklore. In: Papers of the Michigan Academy of Science, Arts and Letters 18 (1939) 71-100. 13 Utley (wie not. 8) 71, 89. - 14 at-Tabari: Annales

1. ed. Μ. H. Zotenberg. Leiden 1879, 110. - 15 ibid., 112. - 16 Stiefel, A. L.: Zur Schwankdichtung von Hans Sachs. In: ZfVk. 8 (1898) 278-284. - "Warner, G. (ed.): Queen Mary's Psalter. L. 1912. 18 Waterhouse, O. (ed.): The Non-Cycle Mystery Plays. L. 1909, 19-25; Miller, J. Α.: N.'s Wife Again. In: Publ.s of the Modern Language Assoc. of America 56 (1941) 613-626. - 19 Lindblom, Α.: Den apokryfa N.sagen i medeltidens konst och litteratur. In: Nordisk tidskrift for vetanskap, konst och industri (1917) 358-368; Utley, F. L.: Some N. Tales from Sweden. In: Humaniora. Festschr. A. Taylor. Locust Valley, Ν. Y. 1960, 258-269. - 20 Dähnhardt, O.: Beitr.e zur vergleichenden Sagenforschung 1. In: ZfVk. 16 (1906) 369-396; Dh. 1, bes. 257-294. 21 Schwarzbaum, 194-196. - 22 Rooth, A.B.: The Raven and the Carcass. An Investigation of a Motif in the Deluge Myth in Europe, Asia and North America (FFC 186). Hels. 1962. - 23 Schwarzbaum, 196. - 2 4 Dh. 1, 298-314, bes. 309 sq.; Schwarzbaum, Fox Fables, XL, not. 19 sq. - 25 Dh. 1, bes. 298; Marzolph, Arabia ridens 2, num. 561. - 26 Pauli/ Bolte 1, num. 244. - 27 Rooth (wie not. 22) bes. 42; Ginzberg (wie not. 10) 334. - 28 Utley, F. L.: N.'s Ham and Jansen Enikel. In: The Germanic Review 16 (1941) 241-249, bes. 242 sq.; cf. Dh. 1, 291; Grünbaum, Μ.: Neue Beitr.e zur semit. Sagenkunde. Leiden 1893, 79-89, bes. 86; Lewis (wie not. 5) 121-155. - 29 Ginzberg 5, 55 sq.; Weil, G.: Bibl. Legenden der Muselmänner. Ffm. 1845, 46. - 30 Utley (wie not. 28) bes. 245 sq. 31 ibid., bes. 247. - 32 cf. Dh. 1, 290. - 33 BP 3, 311. - 34 Matter, H.: Engl. Gründungssagen von Geoffrey of Monmouth bis zur Renaissance. Heidelberg 1922, 128 sq., 378 sq.; Wüscher-Becchi, H.: Italische Städtesagen und Legenden. Lpz. 1900, 7-16. 35 Noy, D.: Folktales of Israel. Chic. u. a. 1963, num. 52; Schwarzbaum, 313. Mariakerke

Harlinda Lox

Nonne 1. Allgemeines - 2. Religiöse Erbauungsliteratur - 2.1. N.nlehren - 2.2. Exempel und Legendenhaftes - 2. 2. 1. Ma. Hauptthemen und räumlich begrenzte Überlieferung - 2. 2. 2. Asiat. Erzählmotive - 2.3. Predigtmärlein und schwankhafte Exempel 2.4. Reformationsschwank - 3. Profane Erzählliteratur - 3.1. Schwank - 3.2. Novelle - 3.3\ Witz 3.4. Sage - 4. Sprichwort und Volkslied 1. A l l g e m e i n e s . N., Lehnwort aus spätlat. nonna (etwa: ehrwürdige Mutter, lat. im Sinn von virgo monialis, virgo consecrata) 1 . Der Begriff bezeichnet die Angehörige eines Frauenordens, die in einem feierlichen Bekenntnis

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(Profeß, Einkleidung) die drei ewigen Gelübde (Keuschheit, Gehorsam, Armut) abgelegt hat und in einem Kloster (cf. auch Mönch) lebt. Durch die Profeß wird die Aufnahme ins Kloster und die Anerkennung der Ordensregel rechtsgültig. Zu unterscheiden sind Stiftsdamen und Kanonissen (ζ. B. Hrotsvit von Gandersheim [um 9 3 5 - n a c h 973]), die den Kanones, bischöflichen Vorschriften, gemäß lebten, jedoch durch kein Gelübde gebunden waren; ebenso Beginen (12./13. Jh.), unverheiratete Frauen und Witwen, die in kleineren oder größeren Gemeinschaften ein klosterähnliches Leben führten 2 . Das Urchristentum, das die Gleichheit aller Gläubigen predigte, bot den Frauen die Möglichkeit, ihre traditionelle Rolle als Gattin und Kindergebärerin abzulehnen und in christl. Gemeinden ein jungfräuliches Leben zu führen, indem sie Armen und Schwachen dienten 3 . Die ersten Frauenklöster wurden 386 p. Chr. n. durch ->· Hieronymus in Bethlehem und um 420 durch Johannes Cassianus in Marseille gegründet; die erste N.nregel (Regula sanctarum virginum) verfaßte 512/534 Caesarius von Arles4. Sie ist vom altmönchischen Geist geprägt und verlangt absolute Unterwerfung (Gehorsam, Disziplin, Askese, totale Klausur: Keine N. darf das Kloster lebend wieder verlassen). Um 530 gründete Scholastica, die Zwillingsschwester des Benedikt von Nursia, in der Nähe von Monte Cassino ein N.nkloster, das sie Benedikts Führung und Regel unterstellte. Die Benediktregel, die in 73 Kapiteln das Leben im Kloster regelt, wurde durch Bonifatius zur Mönchsregel des Abendlandes erhoben 5 . Im Hochmittelalter kam es aufgrund einer starken weiblichen Frömmigkeitsbewegung zur Gründung von Frauenklöstern durch die meisten Ordensgemeinschaften: In Deutschland gab es um 900 etwa 70, um 1100 ca 150 und um 1250 rund 500 N.nkloster 6 . Die Frauen übten jahrhundertelang die Rolle aus, die ihnen zugestanden wurde: Sie beteten für die Menschheit und vollbrachten Werke der Nächstenliebe — bis in die heutige Zeit und oft unter Einsatz des eigenen Lebens 7 . Der Klosteralltag der N.n war hart: in regelmäßigen Abständen Messen sowie geistige und körperliche Bußübungen, wenig Schlaf, karges Essen außer an Festtagen, körperliche und geistige

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Arbeit zur Selbstversorgung des Klosters wie ζ. B. Haus- und Gartenarbeit, Herstellung von Arzneien, kunstvolle Handarbeiten, Abschrift und Illuminierung von Hss. (N.n als Trägerinnen wertvoller Kulturarbeit) 8 . Klosterbildungen außerhalb des Christentums gab es bereits seit dem 5. Jh. a. Chr. n. in Indien, Tibet und Japan sowie in anderen buddhist. und jainist. Gebieten; Arbeit und Bildungsgrad sind verschieden, Zölibat wird immer gefordert 9 . Die erste Predigt Buddhas begründete zugleich die Ordensgemeinschaft buddhist. Mönche; Frauen nahm er erst nach anfanglicher Ablehnung in seinen Orden auf 10 . Im Jainismus (-• Jainas), der in Indien entstand, wurden von dessen Begründer Vardhamäna Mahävlra gleichzeitig Mönchs- und N.norden eingerichtet. Seit dem 1. Jh. p. Chr. n. ist diese Religionsgemeinschaft in die Digambaras (mit dem Luftraum Bekleidete), die in Südindien leben und keinen N.norden dulden, und in die Svetämbaras (Weißgekleideten) aufgeteilt". Der Wunsch, N. zu werden, geht auf eine tiefe Religiosität zurück (religiöse Berufung, Augenzeugin eines Wunders, Visionen, die Sorge um das eigene Seelenheil,,Verlangen nach dem Himmel' 12 ). Eine Reihe bekannter Äbtissinnen und Mystikerinnen (Hildegard von Bingen 13 , Clara von Assisi, Katharina von Siena, Theresia von Avila, Christine Ebner, genannt die N. von Engelthal) fühlten sich schon in der Kindheit zum N.ndasein berufen 14 . Andere Beweggründe sind auf persönliche, zumeist tragische Lebenserfahrungen zurückzuführen: Flucht vor dem Freier (Königstochter Ebba, die spätere Äbtissin des Klosters Coldingham 15 ) oder dem Ehemann (Radegunde 16 ), eine unglückliche Liebesbeziehung (Heloi'se17), verschmähte Liebe (Louise de La Valliere, Favoritin Ludwigs XIV. 18 ) oder der frühe Tod des Lebensgefährten (hl. Elisabeth von Thüringen, hl. Brigitta von Kildare). Als weitere Motive für den Klostereintritt kommen in Betracht: späte Bekehrung oder das Bedürfnis, noch rechtzeitig für begangene Sünden zu büßen, weibliches Emanzipationsbestreben bzw. der Wunsch, dem Verheiratetwerden zu entgehen, aber auch elterliche Bestimmung, die jahrhundertelang selbstverständlich war.

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Kinder im Alter von sieben oder acht Jahren wurden im MA. dem Kloster als ,oblates' (Darbietungen an Gott) übergeben, wenn sie nicht gar schon vom Tage der Geburt an oder vorher (Mot. Μ 364. 7. 4) zum Klosterdasein bestimmt waren. Bis ins 18./19. Jh. wurden vor allem Mädchen aus unterschiedlichen Gründen (Tod eines Elternteils, keine Heiratschancen, körperliches Gebrechen etc.) ins Kloster .abgeschoben', oft auch nur deshalb, um der männlichen Nachkommenschaft das Gesamterbe zu erhalten oder um die Mitgift zu sparen. Für die so zum N.ndasein Gezwungenen, die mit anderen Klosterfrauen tagtäglich auf engstem Raum leben mußten und einem äußerst strengen Verhaltenskodex unterworfen waren, konnte diese Art von Existenz zum .klösterlichen Inferno' werden19. 2. Religiöse E r b a u u n g s l i t e r a t u r 2.1. N . n l e h r e n . Seit dem späten 13. Jh. kam es zu einer Flut von Unterweisungs-, Erbauungs- und Gebrauchsliteratur, die ganz im Typendenken der kathol. Morallehre stand und an deren Ausbildung hauptsächlich die Orden beteiligt waren 20 . In regelrechten Verhaltensanleitungen für N.n 21 wurde den Klosterfrauen das tugendhafte Verhalten einer .Braut -» Christi' beispielhaft vor Augen geführt (doppelte -• Jungfräulichkeit, kompromißlose Weltabkehr, Demut und Keuschheit nach dem Vorbild der Jungfrau Maria und der Mahnung des Apostels -» Paulus). Dagegen sollten die Sündenspiegel des 15. Jh.s (ζ. B. Spiegel des Sünders)22 und andere „bebilderte Sammlungen von kleinen Moralitäten" 23 , ζ. B. die Erfurter Moralität24, durch abschreckende Beispiele Todes- und Höllenangst verbreiten. 2.2. E x e m p e l u n d L e g e n d e n h a f t e s . Am besten geeignet zur Veranschaulichung von kathol. Sittenlehre und Klosterregel waren Beispielgeschichten (-• Exempla), kurze Erzählungen über sittliches oder unsittliches Verhalten, die jahrhundertelang überliefert wurden. Im Exempelkatalog des Jesuiten G. Stengel (1651) sowie in M. Pruggers Beispielkatechismus (1724, 261887)25 etwa handeln zahlreiche Beispiele von N.n, Mystikerinnen und Heiligen (Hildegard von Bingen, Perpetua, Brigitta, Clara, Justina, Katharina, Elisa-

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beth von Thüringen); ζ. B. sieht die hl. Maria Magdalena de'Pazzi eine Äbtissin im Fegefeuer, weil diese eine N. für ihre Sünden nicht genügend bestraft hat 26 . Oft kommt es zu Überschneidungen mit Sagen- und Schwankmotiven in den Exempeln, und vor allem in Legenden und Heiligenviten überlagern sich Keuschheitsexempel, Mirakelerzählung und Beichtlegende, ζ. B. in einer Redaktion von AaTh 712: Crescentia27 mit dem Motiv der unschuldig verfolgten Frau (Kap. 3.1.2). In der religiösen Druckgraphik beliebt sind seit jeher kindgerechte ill. Darstellungen von Heiligenlegenden, ζ. B. die Legende der hl. Theresia von Avila28. 2.2.1. M a . H a u p t t h e m e n u n d r ä u m lich b e g r e n z t e Ü b e r l i e f e r u n g . In den Exempeln ist das N.ndasein vom Klostereintritt bis zum Tod thematisiert: Berufung — Tugend (Frömmigkeit, Fleiß, Demut, Geduld, Gehorsam, Naivität) - Keuschheit - Selbstverstümmelung — Krankheit (als Notwendigkeit für das Seelenheil) — Mystik - Normverletzungen, unkeusche N.n — Teufelsmotivik (Teufelsabwehr, -buhlschaft) • Beichte — Jenseits. Berufung (Zukunftsbestimmung, Berufung, Verweigerung): Ungeborenes Mädchen soll N. werden (Mot. Μ 364.7.4); Mädchen will nicht heiraten, sondern N. werden (Mot. Q 431.3); eitles Mädchen mit schönem Haar möchte nicht den Schleier nehmen, Gott straft es mit Haarausfall 29 ; heidnische Nachbarin eines Priesters sieht im Spiegel das Bild des dornengekrönten Christus, wird bekehrt und geht ihrer Sünden wegen ins Kloster30; Witwe wird N. 31 Tugenden: Frömmste, fleißigste, beste N. eines Klosters täuscht Dummheit vor (Tubach, num. 2118), wird nur von einem Heiligen erkannt (Tubach, num. 3504), von den Mitschwestern als die schlechteste betrachtet (Mot. V 461.1); Ν. stellt sich verrückt, um sich in christl. Demut zu üben 32 ; Demut führt zur Seligkeit33; demütige Äbtissin wäscht Kranke 34 ; Geduldsprobe einer Äbtissin im Umgang mit einer schwierigen N. (Tubach, num. 3623). Krankheit (als Sühne): hl. Adelgundis, hl. Edeltrudis bitten um Krankheit 35 ; kranke N. erträgt geduldig ihre Schmerzen und ruft immer dann die drei hl. Namen aus, wenn sie am stärksten sind36; Paradiesvision einer todkranken N. 37 ; selige Benediktinerin erscheint den Mitschwestern und ermutigt sie, Krankheiten mit Geduld zu ertragen, und sei es nur um das Verdienst eines Ave Maria 38 ; Heiliger verwandelt Maden in den Wunden einer N. in kostbare Steine (Mot. V 222.15); - Petrus heilt kranke N., die aufrichtig betet (Tubach, num. 3719). Mystikerinnen, Heilige: Zukunftsprophezeiung der Hildegard von Bingen39; Tod und Nachfolge ei-

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nes Abtes von N. vorausgesagt (Tubach, num. 18); Zukunftsprophezeiung einer als Heilige verehrten N. für Graf Rudolf10; Gründung des Ciarissenordens durch die hl. Clara sowie Brot- und Ölwunder in ihrem Kloster41; hl. Justina durch Kreuzzeichen vor dem Teufel bewahrt42; hl. Brigitta erbittet Verunstaltung um der Keuschheit willen (cf. -> Kümmernis)43; hl. Lydwina gelobt Gott Jungfräulichkeit, er schickt ihr eine Krankheit (Lähmung)44. Keuschheit: Keusche N. weigert sich, den hl. -> Martin anzusehen (Mot. Τ 362.1); Ν. läßt sich von Einsiedler nicht verführen (Tubach, num. 3501); Krankheit45, Verwandlung in Bär46, Bartwuchs (Tubach, num. 763) oder Selbstverstümmelung als Schutz der Keuschheit47. Maria, Jesus: Jesuskind wird von N.n geliebt (Mot. V 211.1.8.2)48; Christusvision einer N. (als Kleinkind, als 12- und als 30jähriger; Tubach, num. 1012); Marienvision einer N. im Trancezustand (Tubach, num. 5110); selige N. offenbart den Mitschwestern, daß sie wegen ihrer Marienverehrung im Himmel aufgenommen wurde49; Keuschheit mit Marias bzw. Jesu Hilfe bewahrt: Eine N. widersteht durch Christusvision (Umarmung) der Versuchung (Tubach, num. 4749); Jungfrau Maria hindert N. am Verlassen des Klosters (Mot. V 265); Bild versperrt N. den Weg zum Stelldichein (Mot. V 122); Ν. hat Höllenvision, wird durch Marias Hilfe vor Sünde bewahrt (Tubach, num. 2511). Unkeuschheit: Unkeusche N. (Mot. V 465.1.2); lüsterne N. wird vom Beichtvater verachtet (Tubach, num. 3499): Ν. verläßt Kloster, um zu sündigen (Mot. V 254.5; Mot. Q 226); Marienbild versucht vergeblich, N. am Verlassen des Klosters zu hindern (Mot. V 265.1); Ν. mit Kind (Mot. Τ 640.1, V 254.5); Ν. behauptet, ihr Kind sei vom Hl. Geist (Mot. J 1264.6). Teufel: Naive N. vom Teufel geärgert (Tubach, num. 5001); als Mädchen verkleidete Jünglinge verführen N.n mit Hilfe des Teufels (Mot. G 303.3.1.12.1); ein als N. verkleideter Teufel verhindert beinahe die Beichte eines Sterbenden (Tubach, num. 1551); vergewaltigte N. tötet ihr Kind (Teufelseinflüsterung; Tubach, num. 4036); Teufelsbuhlschaft von N.n50; vom Teufel bessenene N.n 51 . Teufelsabwehr: N. befreit sich durch das Bekenntnis .Christiana sum' vom Teufel; N. entzieht sich durch den Englischen Gruß einer Bedrohung; Inclusa spricht das Wort ,benedicte' aus; sterbende N., die vom Teufel fast zur Verzweiflung getrieben wird, durch letzte Ölung gerettet (Tubach, num. 1938); fromme N. bespuckt auf dem Sterbebett das Kruzifix — in Wahrheit den Teufel, der sich zwischen sie und den Heiland gedrängt hat 52 . Jenseits (Bitte um Losbeten bzw. Sühne nach dem Tod): Verdammte N.n erscheinen den Mitschwestern (in einem Feuerball; Tubach, num. 2044), der Äbtissin oder anderen Personen und offenbaren ihnen den Grund ihrer ewigen Sühne: verleumderisches Geschwätz (Tubach, num. 4146), ungezügelte Zunge (Tubach, num. 4915), unkeusche Gedanken (Tu-

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bach, num. 4843), Flüstern bei der Messe (Tubach, num. 5257), Verschweigen einer Sünde bei der Beichte (Tubach, num. 1188), Schwangerschaft und Kindsmord (Tubach, num. 3502). Zur Sühne verdammte N.n bitten Mitschwestern um Wiedergutmachung ihrer Sünden durch Gebet (Tubach, num. 5257, 3506); Ν. erlöst durch Gebet (Tubach, num. 3894), durch den hl. Bernhard (Tubach, num. 583); fromme Dominikanerin, die um Christi willen oft Durst gelitten hat, von Engel aus Fegefeuer erlöst53. Die meisten Exempel waren in Süddeutschland, Italien, Frankreich, Spanien und Irland verbreitet: -> Kreuzzeichen beim Essen vergessen (Mot. G 303.16.2.3.4); AaTh 770: - N., die in die Welt ging; Entbindung einer Äbtissin mit Hilfe der Jungfrau Maria (Mot. Τ 401.1); -> Selbstverstümmelung (Augen ausgestochen = Tubach, num. 4744 [cf. AaTh 706 B: Die keusche -» TV.], Nasen abgeschnitten = Tubach, num. 3490)54; Ν. wegen böser Zunge, aber keuschen Körpers nur zur Hälfte verdammt (Tubach, num. 723); Heilung einer verliebten N. durch Ohrfeige von Maria (Mot. V 265). Andere Motive sind nur vereinzelt belegt. Deutschland und Ungarn: N. widersteht durch Vision Christi der Versuchung (Tubach, num. 4749); England: Zerstörung des Doppelklosters Coldingham (Tubach, num. 3505); erschreckte Rückkehr einer entlaufenen N. (Tubach, num. 3498); Seeleute sehen verdammte N.n (Tubach, num. 4146); wegen unkeuscher Gedanken verdammte N. (Tubach, num. 4843); Irland: Zukunftsprophezeiung für ungeborenes Mädchen (Mot. Μ 364.7.4); Frau lebt in zwei Ehen keusch, um N. zu werden (Mot. Τ 315.3); Italien: Sündige N.n werden zu Tode gesteinigt (Mot. Q 220.1.1); Liebespaar geht ins Kloster (Mot. Τ 93.2.1); Spanien: Ν. weigert sich, Mann anzusehen (Mot. Τ 362); Jungfrau Maria zeigt einer frommen N. das Jesuskind (Mot. V 265.1). In den evangel. Glaubensgebieten bis Schweden waren dagegen die durch die konfessionelle Polemik verbreiteten Exempel beliebt (ζ. B. Tubach, num. 438, 746). 2.2.2. A s i a t . E r z ä h l m o t i v e Drama, Epos, Schwank).

(religiöses

China und Indien: Mädchen, das N. werden möchte statt zu heiraten, wird wegen Ungehorsams bestraft (Mot. Q 431.3); Wette um Keuschheit einer N. (Mot. Ν. 15.2). Mongolei: Ein Tempeldrama lehrhaften Charakters (Höllenfahrt der Frau Coyiji, 16. Jh.) handelt vom totentanzähnlichen Auftritt von Jung und Alt, Arm und Reich vor dem Höllenfürsten zwecks Befragung und Beurteilung ihrer Tugenden und Sünden; eine fromme Frau wäre gerne N. geworden, hätte man sie nicht schon als Kind verheiratet; eine fette N., die nicht alle ihre Sünden aufzählt, wird durch den Tugendspiegel entlarvt und wegen ihrer Lüge verdammt55. Im Epos Aradnabajar wird

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der Titelheld, der mit seinen Geschwistern einer alten, abseitslebenden N. böse Streiche („die drei männlichen Spiele") gespielt hat, mit einem Riesen konfrontiert, der Züge dieser N. trägt 56 . Die Hauptfigur der Spielmannsdichtung Sürükei Bai'atur, der junge, starke Sürükei, der vom König den Auftrag erhält, das mongol. Reich gegen chin. Eindringlinge zu schützen, trifft auf dem Weg die junge, schöne Sayiyulai, die bei ihrer verwitweten, N. 57 gewordenen Mutter Mamar lebt und ihm vom Schicksal als Kampfgefährtin und Gattin bestimmt ist. In einem der zahlreichen Badarcin-Schwänke, in denen der Lama oder die N. als gesellschaftliche Außenseiter Zielscheibe des Spotts sind, besucht ein Badarcin das Haus einer N. und weigert sich, ihr seine Verehrung zu bezeigen58.

2.3. P r e d i g t m ä r l e i n u n d s c h w a n k h a f t e E x e m p e l . In den Predigtmärlein und Exempeln, die lehrhaftes Gedankengut illustrieren, spiegelt sich deutlich die Diskrepanz zwischen dem hohen religiösen Tugendideal und menschlicher Unzulänglichkeit. Ernstes wird mit Lächerlichem vermischt — ein Grundzug der ma. Kultur —, selbst in Legenden und Heiligenviten (ζ. B. -> Legenda aurea), die vom Komischen eigentlich weit entfernt sind (E. R. Curtius: „hagiographische Komik") 59 . Didaktisch-moralische Beispielerzählung und schwankhaftes Predigtmärlein novellistischen Charakters gehen daher in der Exempelliteratur nahtlos ineinander über. Neben dem Exempeltyp AaTh 706 Β steht ζ. B. bei Jacques de Vitry das Exempel von der naiven, von einem Edelmann verfolgten N., die sich mit einem Kuckucksruf selbst verrät (Tubach, num. 3497). In der Mensa philosophica finden gleich mehrere schwankhafte Exempel, teilweise in spätere Schwanksammlungen hannes Pauli, Johann Sommer u. a.) gegangen sind:

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sich die (Joein-

In einem Kloster herrscht der Brauch, daß eine N., die geboren hat, von den anderen N.n besucht und beschenkt wird. Damit die Ordenszucht nicht ganz zugrunde gehe, erhält sie „wegen der Hurerey" von jeder drei Streiche mit einem Fuchsschwanz60. Eine ältere N. wird von jüngeren, die eine strenge Äbtissin bekommen haben, ob ihrer schönen Jugend und des Verlusts der Jungfernschaft beneidet (Tubach, num. 16). Eine unkeusche N. beichtet dem Bischof ihren Fehltritt und begründet ihn damit, daß sie nur den Bibelspruch ,Prüfet alles' befolgt habe (Tubach, num. 3977). Eine N. wird gefragt, warum sie nicht um Hilfe geschrien habe, als sie vergewaltigt wurde; sie antwortet, es sei während des Silentiums

geschehen (Mot. J 1264.4). Eine schamhafte N. verklagt eine andere unzüchtiger Reden halber bei der Äbtissin, wird aber, als sie das von ihr gebrauchte Wort umschreiben soll, noch unzüchtiger61.

2.4. R e f o r m a t i o n s s c h w a n k . Im 16./ 17. Jh. kommt es auf Protestant. Seite zu einer Häufung antiklerikaler Schwänke und Geistlichensatiren, die hauptsächlich auf Verspottung des kirchlichen Gebots der Enthaltsamkeit abzielen (Kaspar -»• Goltwurm, Wunderwerck und Wunderzeichen, 1557; Hieronymus ->· Rauscher, Hundert auserwählte papistische Lügen, 1562; Andreas Hondorff, Promptuarium exemplorum, 1568; J. P. de Memel, Lustige Gesellschaft, 1656)62. Erzählungen aus dem Stoffkreis Liebeslust63 und kühle Keuschheit sowie Exempel von Krankheit und Selbstverstümmelung um der Keuschheit willen schienen den Reformatoren höchst lächerlich (ζ. B. die Erzählung vom Mönch, der von N.n allzusehr gereizt wird und dem daher Engel zu Hilfe kommen, indem sie ihn kastrieren 64 ). 3. P r o f a n e E r z ä h l l i t e r a t u r 3.1. S c h w a n k . Die Figur der N. erscheint im ma. Schwank hauptsächlich als einfaltige, weltfremde Person, die von anderen zum Narren gehalten wird (einer N., die seit dem 5. Lebensjahr das Kloster nicht mehr verlassen hat, wird von einer Mitschwester beim Anblick eines Ziegenbocks erzählt, daß den Weltweibern im Alter Hörner und Bart wüchsen [Tubach, num. 2307])65 oder die auf plumpe Verführungskünste hereinfallt (Themenkreise Verführung und erotische Naivität): Die N. im Bade (sittsames Nönnchen läßt sich von Mönch .massieren')66; Der Sperber (Klosterschülerin von ausnehmender Schönheit tauscht in ihrer Unwissenheit Minne gegen Vogel eines Ritters) 67 . Zu den gröbsten Schwänken der dt. Novellistik gehört die Erzählung Das N.nturnier (Motiv vom personifizierten Geschlechtsteil): Ein naiver Ritter kastriert sich auf den rachsüchtigen Rat seiner Dame hin selbst und versteckt sein Genital unter der Treppe eines Frauenklosters, wo es von den N.n entdeckt wird. Der Streit um des Ritters ,Zagel' soll in einem Turnier geschlichtet werden, die Trophäe ist aber plötzlich verschwunden68. In den großen Schwanksammlungen des 16. Jh.s (ζ. B. Heinrich Bebels

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Facetiae), die aus der ma. Exempelliteratur schöpfen, ist zwar der männliche Klerus (Beichtvater, Mönch, Pfaffe, Prediger) weitaus stärker vertreten, jedoch auch hier findet man kurze Erzählungen über (unkeusche) N.n (N.n haben Kinder; Beichtvater schwängert N.) 69 . 3.2. N o v e l l e . Sexuelle Beziehungen zwischen N.n und Priestern bzw. Mönchen, teils durch die Nähe von Mönchs- und N.nklöstern begünstigt, sind ein durchgängiges Motiv der ital. Novellistik. Bei -> Boccaccio (3,1) ζ. B. wird Maszetto von Lamporecchio durch vorgebliche Stummheit zum Gärtner in einem N.nkloster und insgeheim zum Beischläfer seiner Bewohnerinnen (Mot. Κ 1323)70; in einer weiteren Erzählung zieht eine Äbtissin, die eine unkeusche N. ihres Klosters eines Nachts beim Stelldichein überraschen möchte, versehentlich die Beinkleider des eigenen Liebhabers über den Kopf und stellt sich dadurch selbst bloß (9,2; Mot. Κ 1273). Eine Novelle Matteo - Bandellos (3,61) handelt von einem Mönch, der sich auf den Rat einer N. hin selbst kastriert (Mot. J. 1919.5.2).

Ambivalent dargestellt ist die N. in der span. (Juan -> Ruiz), frz. (-• Cent nouvelles nouvelles, num. 15, 21, 46, 60) und engl. Novellistik (-> Chaucer). Von keuschen N.n erzählt -» Marguerite de Navarre im Heptameron: Floride d'Arande weist nach dem Tod ihres Gatten die Werbung Amadours zurück und tritt ins Kloster ein (num. 10); ein Liebespaar geht wegen der Unmöglichkeit seiner Beziehung ins Kloster (num. 19; Mot. Τ 93.2.1); Schwester Marie Heroet erträgt geduldig einen falschen Prior und wird als Belohnung zur Äbtissin eines N.nklosters ernannt (num. 22; Mot. Q 87.3); eine naive N., die von einem heuchlerischen Mönch verführt und geschwängert wurde, beichtet aufrichtig (num. 72). Zwischen frommer Erbaulichkeit und Unkeuschheit bewegen sich Chaucers N.n in den Canterbury Tales: die einfache Kaplanin-N., welche die Legende von der hl. Cäcilie vorträgt, und die selbstgefällige Priorin (Madame Englantine). Während sich letztere mit ihrer Geschichte vom Martyrium eines kleinen Christenknaben, durch dessen Lobgesang Gottes über den Tod hinaus sein gewaltsames Ende aufgedeckt wird (Mot. V 254.7; The Nun's Tale), als fromme N. ausgibt71, wird sie in der Rahmenhandlung als eitles und ausschweifendes Wesen charakterisiert72.

3.3. W i t z . N.nwitze harmloser Art (N. als Braut Christi begehrt Einlaß in den Himmel, Petrus ist erstaunt, daß der Juniorchef heira-

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ten möchte 73 ) bis zur Zote haben fast immer einen sexuellen Inhalt 74 ; sie tradieren gängige Klischees über unberührte Frauen (-• Alte Jungfer) und deren unterdrückte Sexualität (-+ Erotik, Sexualität). Im Unterschied zu den Klosterschwänken vergangener Jh.e haben sich nach Feststellung L. - Aggressionstendenzen jedoch völlig verlagert. Im zeitgenössischen N.nwitz geht es weniger um die faktische Mißachtung des Keuschheitsgebots als vielmehr um unterschwellige und verdrängte Sexualwünsche der N.n, ζ. B. im Witz von der erwünschten Vergewaltigung: Eine junge N., die im Wald von einem Burschen überfallen und vergewaltigt wurde, fragt eine ältere N., was sie nun tun solle; diese antwortet ihr, sie solle Sauerampfer essen, damit sie kein so verklärtes Gesicht mache, wenn sie ins Kloster zurückkommen 75 . 3.4. S a g e . Während die Figur der N. im Märchen kaum eine Rolle spielt, erscheint sie in der Sage in einer breiten Motivik, ζ. T. mit belehrender Tendenz, wobei es zu Überschneidungen mit exempelhaften Erzählungen kommen kann. Selbst im Schreckmärchen von der dicken N., das das Klischee von der Wohlleibigkeit der Klosterfrauen tradiert (AaTh 366: Mann vom Galgen), überwiegen sagenhafte Züge: Ein Totengräber schneidet ein Stück vom dicken Bein einer verstorbenen N. für eine kranke Frau ab, die durch den Verzehr gesundet; ihre kleine Tochter wird daraufhin von der umgehenden N. mit dem Schrei: ,Dat heat din Mouter freaten!' erschreckt 76 . N.nsagen, die erst in den Sagensammlungen des 19. Jh.s gedruckt vorliegen, unterscheiden sich nach verschiedenen Motivgruppen 77 : Klostergründung und -Untergang78, Frevel (vor allem Verletzung des Keuschheitsgelübdes) und Bestrafung, ungelöste Verbindung (Umgang), Angang (-• Erster, Erstes, Zuerst). Die Begegnung mit einer N., bes. am Morgen, bedeutet im Volksglauben Unglück oder Mißerfolg bei beginnenden Handlungen, ζ. B. in bret. Fischersagen; nach einer picard. Überlieferung berührt man als Mittel gegen den ungünstigen Angang ein Stück Eisen oder Kupfer - dann wird der Angang sogar als Glückszeichen betrachtet 79 . Wer einer spukenden N. begegnet, hat zumeist Unglück zu erwarten 80 .

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In hist, und ätiologischen Sagen erscheint die N. in ambivalenter Gestalt. Während sie in Klostergründungssagen durchweg eine positive Rolle spielt (drei N.n, die mit ihrem Kloster versunken sind, erscheinen in Tiergestalt und weisen die Stelle, an der ein neues Kloster entstehen soll81; dankbare N.n lassen alljährlich Klosterbrote in den Nachbargemeinden verteilen82 oder schenken zwei Dörfern für ihre Rettung den Wald, in dem sie sich verirrt hatten 83 ), tradieren Ruinensagen das stereotype ma. Bild von der unkeuschen N. Hierher gehört der Stoffkreis vom unterirdischen Gang zwischen Männer- und Frauenklöstern, zu dessen Überlieferung auch die antiklerikalen Schriften Protestant. Autoren (Rauscher, Hondorff u. a.) beigetragen haben. In den Dörfern des Albtals (Karlsruhe bis Bad Herrenalb) ζ. B. lebt noch die Sage vom unterirdischen Gang zwischen den Klöstern Herrenalb und Frauenalb 84 ; eine andere Lokalsage führt den Untergang des Frauenklosters auf den Fluch der letzten Äbtissin zurück, die nach der Säkularisation 1803 mit ihren N.n das alte Benediktinerinnenkloster verlassen mußte 85 . Stürme über dem Chiemsee sowie die Unfruchtbarkeit der zwischen Herrenchiemsee und Frauenchiemsee liegenden ,Krautinsel' werden als Gottesstrafe für heimliche Treffen zwischen N.n von Frauenchiemsee und Mönchen von Herrenchiemsee gedeutet86. Die Zerstörung des Klosters Marienau in Breisach während der Bauernkriege wird nach einer Lokalsage auf ein Bündnis der N.n mit den Belagerern der Stadt zurückgeführt, das der Magistrat rechtzeitig entdeckte 87 . Wie ma. Exempel haben Sagen über NormVerletzungen eine moralisierende Funktion. Dazu gehören Erzählungen, in denen entweder das Kloster zerstört wird oder die N.n durch Steinigung (Mot. Q 220.1.1, Q 226, Q 551.3.4.3) oder -> Einmauern bestraft werden88. Weitere Sagenmotive sind der N.nraub 89 , die Flucht aus dem Kloster (in der Sage vom verwunschenen Wirtshaus werden Mönch und N. auf der Flucht vom Wirt verraten und im Wirtshaus eingemauert90), Verkleidung als N. 91 ; schließlich der Umgang (ζ. B. falsche N.n, die eine blinde Mitschwester um ihre Erbschaft betrogen haben [-» Scheffelmaß] 92 , auch als Schatzhüterin 93 , weiße Frau oder Todesverkünderin 94 , die Teilnahme an

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der - Wilden Jagd (als Eule, Mot. Ε 501. 4. 5) oder das Aufführen nimmer endender Tänze95. Vorwiegend in evangel. Glaubensgebieten verbreitet waren Reformationssagen zu den folgenden Themen: Übertritt zum evangel. Glauben, Heiratswunsch der N.n 96 , Verteufelung der kathol. Gegnerinnen 97 (N.n beten Pfarrer zu Tode98; cf. die kathol. Antilegende, nach der der Antichrist aus der Verbindung eines Mönchs mit einer N. stammt) 99 . 4. S p r i c h w o r t u n d Volkslied. Während das Sprichwort das klischeehafte N.nbild des MA.s, bes. Schwankhaftes, tradiert (,Die N.n kommen, wenn nicht als Jungfrauen, doch als Märtyrerinnen in den Himmel'; ,Die N.n fasten, daß ihnen die Bäuche schwellen'; .Dreizehn N.n, vierzehn Kinder" 00 ), weist das Volkslied Themen und Motive sämtlicher Erzählgattungen von der religiösen Erbauungsliteratur bis zur Geistlichensatire auf. Schwankhaftes (bis Derbes) ist in Spott- und erotischen Standesliedern (Kaminkehrer-, Uhrmacher-, Soldaten-, Studentenlieder) enthalten, die mit dem Gelübde reichlich Spott treiben (ζ. B. Die Mönche wollten ein Klösterlein bauen101 \ Es war'n einmal zwölf N.ni02; Der Abt, der reit' aus dem Studenten-Schmauß (Lpz. 1626) von J. H. Schein. Die falsche N. spielt in der Ballade von den Königskindern 103 sowie in der -» Robin-Hood-Ballade Robin Hoods Death and Burial104 eine fatale Rolle. Die unterschiedlichen Gründe für den Eintritt ins Kloster sind seit dem 14. Jh. in geistlichen N.nliedern (Ich hab mir auserwählet Jesumldas Blümelein105), Legendenliedern und -bailaden (ζ. B. Die Kommandantentochter von Großwardeini06), jedoch auch in Liebesklagen (Der mir sein Lieb verwiesen hatwl), sozialkritischen Standesliedern (Graf und N.]0H) sowie in N.nklagen (planctus monialis)109 dargelegt. Diese ergreifenden Anklagen gegen die väterliche Autorität (ζ. B. Vater, ist denn nicht erschaffen!Für mich eine Männlichkeit^1°), die als Genre bereits seit dem 14. Jh. belegt sind, bringen offen die Sehnsucht der Eingesperrten nach dem Leben draußen zum Ausdruck (Ο Klosterleben, ο Einsamkeitlu; Ich arme Nonn oft heimlich klag'112; Ach Gott, wem soll ichs klagen!Das heimlich Leiden mein11*; Ich eß nicht gern Gerste, steh auch nicht gern früh auf14; Gott geb ihm ein verdorben Jahr, der mich macht zur N.n115).

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Nonne

DWb. 7, 881; Lanczkowski, J.: Lex. des Mönchstums und der Orden. Wiesbaden 1997, 187. 2 Lanczkowski (wie not. 1) 57 sq., 140, 209 sq. 3 ibid., 12; RGG 2 (31958) 1069 sq.; cf. Anderson, B. S./Zinsser, J. P.: Eine eigene Geschichte. Frauen in Europa 1. Ffm. 1995, 103-123. - 4 Favier, J.: Diet, de la France medievale. Poitiers 1993, 229. 5 ibid., 63 sq.; Pernoud, R.: La Femme au temps des cathedrales. P. 1980, 33-38. - 6 Ennen, E.: Frauen im MA. Mü. 21986, 113. - 7 cf. Kempner, Β. M.: N.n unterm Hakenkreuz. Leiden, Heldentum, Tod. Würzburg 1978. - 8 Ennen (wie not. 6) 112; RGG 2 (31958) 1071 sq. - 9 RGG 3 (31959) 1671. - 10 Meyers Großes Universallex. 3. Mannheim 1981, 23. "ibid. 4 (1981) 109. - 12 Leclerq, J.: Wiss. und Gottverlangen. Zur Mönchstheologie des MA.s. Düsseldorf 1963, 65 sq. - 13Verflex. 3 (21981) 1257-1280; Schäfer, T.: Visionen, Werk und Musik der Hildegard von Bingen. Mü. 1996; Militello, C.: Mütter und Geliebte, N.n und Rebellinnen. Frauen, die Geschichte machten. Köln 1997, 112-120. 14 Legenda aurea/Benz, Reg.; Militello (wie not. 13). - 15Militello (wie not. 13) 75-81. - 16 ibid., 71-75. - 17 Durant, W.: Das hohe MA. und die Frührenaissance. Mü. [1978], 108-111; Militello (wie not. 13) 130-137. - 18 Le Petit Robert 2. P. 1991, 1035 sq. - "Militello (wie not. 13) 254sq.; Brown, J. C.: Schändliche Leidenschaften. Das Leben einer lesbischen N. in Italien zur Zeit der Renaissance. Stg. 1988. - 20 Rupprich, H.: Die dt. Lit. vom späten MA. bis zum Barock 1. Mü. 1970, 309-313. 21 Verflex. 9 (21993) 67-76; Bernards, Μ.: Speculum virginum. Geistigkeit und Seelenleben der Frau im HochMA. Köln/Graz 1955; Verflex. 5 (21985) 376-379. - 22Verflex. 9 (21993) 127-130. 23 Rupprich (wie not. 20) 300. - 24 Verflex. 2 (21980) 575—582. - 25 Hofmann, L.: Exempelkatalog zu Martin Pruggers Beispielkatechismus von 1724. Würzburg 1987. - 26 ibid., num. 669. - 2 7 Kartschoke, D.: Geschichte der dt. Lit. im frühen MA. Mü. 1960, 362 sq. - 28 Richomme, Α.: Sainte Therese de l'Enfant-Jesus. La plus grande sainte des temps modernes. P. 1967. - 29 Zählung nach Schneider, Α.: Exempelkatalog zu den „Iudicia Divina" des Jesuiten Georg Stengel von 1651. Würzburg 1982, num. 718. - 30 Hofmann (wie not. 25) num. 57. 31 Schneider (wie not. 29) num. 578, 579, 763. 32 ibid., num. 1118. - 33 Hofmann (wie not. 25) num. 567. - 34 Schneider (wie not. 29) num. 1372. 35 ibid., num. 1337. - 36 ibid., num. 1362. - 37 ibid., num. 1361. - 38 Hofmann (wie not. 25) 205, num. 1. - 39 ibid., num. 142. - 40 ibid., num. 135; cf. Petzoldt, L.: Hist. Sagen 2. Mü. 1977, 36 sq. 41 Schneider (wie not. 29) num. 962. - 42 ibid., num. 1517. - 43 ibid., num. 613, 164, 757. - 44 ibid., num. 765. - 45 ibid. - 46 ibid., num. 766. - 47 Uther, H.J.: Behinderte in populären Erzählungen. B./N. Y. 1981, 36-39. - 48 Die Liebe zum .kleinen Jesulein' war in manchen Klöstern so stark ausgeprägt, daß fast jede N. ihre eigene Wiege mit einer ChristkindPuppe hatte, cf. Zglinicki, F. von: Die Wiege. Re-

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gensburg 1979, 124. - 49 Hofmann (wie not. 25) num. 444. - 50 Janson, S.: Jean Bodin - Johann Fischart. De la Demonomanie des Sorciers (1580) — Vom Außgelaßnen wütigen Teuffelsheer (1581) und ihre Fallberichte. Ffm/Bern/Cirencester 1980, num. 68, 132. 51 ibid., num. 131. — 52 Hofmann (wie not. 25) num. 361. - 53 ibid., num. 503. - 5 4 Uther (wie not. 47). - S5Heissig, W.: Geschichte der mongol. Lit. 1 - 2 . Wiesbaden 1972, hier t. 1, 121-124. - 56 ibid., 417 sq. - 57 ibid. 2, 865. - 58 ibid., 751. - 59 Curtius, E. R.: Europ. Lit. und lat. MA. Bern/Mü. 51965, 419-434, hier 425-228; Gurjewitsch, A. J.: Ma. Volkskultur. Mü. 21992, 269. - 60Wesselski, Α.: Mönchslatein. Lpz. 1909, num. 38. 61 id.: Johann Sommers Emplastum Cornelianum und seine Qu.n. In: Euphorion 15 (1908) 1 - 1 9 , hier 4, num. 5. - 62 Brückner, 206, 671. - 63 Zum Heiratswunsch von N.n cf. Rublack, H.-C.: ... hat die N. den Pfarrer geküßt? Aus dem Alltag der Reformation. Gütersloh 1991, 108-122. - 64 Brückner, 211. - 65 Schäfer (wie not. 13) 22 sq. - 66 Viviani, Α.: Die N. im Bade und andere deftige Schwanke des MA.s. Königstein 1986, 76-80. - 67 FroschFreiburg, F.: Schwankmären und Fabliaux. Göppingen 1971, 23-43. - 68 Williams-Krapp, W.: Das N.nturnier. In: Verflex. 6 (21987) 1180-1182. 69 Bebel/Wesselski 2, num. 91; 3, num. 19. - 7 0 Uther (wie not. 47) 94 sq. 71 Chaucer, G.: Die Canterbury Tales. Nach der Ausg. von A. von Düring bearb. und eingeleitet von L. Hoevel. Köln 1969, 195-202. - 72 ibid., 24 sq.; cf. Daichman, G. S.: Wayward Nuns in Medieval Literature. Diss. Ν. Υ. 1986, 137-160. - 73 Röhrich, L.: Der Witz. Stg. 1977, 200 sq. - 74 Legman, G.: Der unanständige Witz. Theorie und Praxis. Hbg 1970, 380-385; Röhrich (wie not. 73) 199 sq.; Bemmann, H.: Der klerikale Witz. Mü. "1978, 56-61. 75 Röhrich (wie not. 73) 200. - 76 Scherf 1, 170-172. - 77 Jungwirth, Ε.: N. In: HDA 6, 1115-1118. 78 HDA 4 (1931-32) 1551-1553. - 79 Sebillot, P.: Le Folk-lore de France 4. P. 1907,256. - 80 Zingerle, I. V.: Sagen aus Tirol. Innsbruck 21891, 465; Dietz, J.: Aus der Sagenwelt des Bonner Landes. Bonn 1965, num. 263; Böck, E.: Sagen aus Niederbayern. Regensburg 1977, num. 181. — 81 Panzer, F.: Bayer. Sagen und Bräuche 2. Mü. 1855, num. 306. — 82 Rochholz, E. L.: Schweizersagen aus dem Aargau. Aarau 1856, 429. - 83 Panzer (wie not. 81) num. 266. — 84 Mündl., Umkreis von Karlsruhe (von Verf.in gehört). - 85Vögely, L.: Sagen rund um Karlsruhe. Karlsruhe 1988, 120. 86 Panzer (wie not. 81) num. 436. - 87 Gutmann, K.: Die Volkssagen von Breisach. Breisach 1924, 32 sq. - 88 Zaunert, P.: Rheinland Sagen 1. Jena 1924, 224; cf. HDA 2, 711-714. - 89 Heyl, J. H.: Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol. Brixen 1897, 55; Zaunert (wie not. 88) 223. - 90 Vögely (wie not. 85) 25. 91 Mündl., Karlsruhe (um 1960 vom Vater gehört), Var. der Sage ,Behaarte Hand' (cf. Brednich, R. W.:

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Nonne, die in die Welt ging

Die Spinne in der Yucca-Palme. Mü. 1990, num. 4). - 92 Panzer (wie not. 81) num. 217; cf. auch Uther (wie not. 47) 126 sq. - "Peuckert, W.-E.: Dt. Sagen 2. B. 1962, num. 204, 456; id.: Westalpensagen. B. 1965, num. 302; Petzoldt, L.: Dt. Volkssagen. Mü. 1970, num. 527. - 94 Müllenhoff, K.: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Kiel 1845, num. 232. - 95 Sebillot (wie not. 79) 260; cf. HDA 6, 1118; Freuler, K./Thürer, H.: Glarner Sagen. Glarus 1953, 175. 96 Brückner, 312, cf. 298. - 97 ibid., 260-325. 98 ibid., 315. - "ibid., 286. - 100 Wander 3, 1039-1042. 101 Brednich, R. W.: Erotische Lieder aus 500 Jahren. Ffm. 1979, 15 sq. - 102 ibid., 31 sq. - 103 DVldr, num. 20. - 104 Ritson, J.: Robin Hood. A Collection of All the Ancient Poems, Songs, and Ballads. L. 1823 , 231-23 3. - 105 Erk/Böhme, num. 2137. 106 ibid., num. 2119; Röhrich, L./Brednich, R. W.: Dt. Volkslieder 1 - 2 . Düsseldorf 1965, hier t. 1, num. 58. - 107 Erk/Böhme, num. 916. - 108 DVldr, num. 155. - 109 Erk/Böhme, num. 915-922; Röhrich/ Brednich (wie not. 106) t. 2, num. 57. - 110 Erk/ Böhme, num. 922. — "'ibid., num. 921 a. - 112 Simrock, K.: Die dt. Volkslieder. Ffm. 1851, num. 226. - 113 Erk/Böhme, num. 918. - 114 ibid., num. 920. - 115 ibid., num. 915.

Freiburg/Br.

Waltraud Linder-Beroud

Nonne, die in die Welt ging (AaTh 770), ma. Marienlegende1: Eine Nonne (häufig mit dem Namen Beatrix) bricht ihr -» Gelübde und verläßt (aus Liebe oder Leidenschaft) das -> Kloster. Während ihrer Abwesenheit nimmt Maria ihre Stelle in der Klostergemeinschaft ein. Bei der Rückkehr der N. in das Kloster wird das Wunder offenbar (-» Stellvertreter).

Als Grundform dieser im MA. weitverbreiteten -> Mirakelerzählung ist wahrscheinlich die Fassung in der Gemma ecclesiastica (2,11; um 1197) des -> Giraldus Cambrensis anzusehen 2 : Danach verabredet sich eine N. mit einem Soldaten zu einem Stelldichein, doch gelingt es ihr - selbst durch Anwendung von Gewalt — nicht, das Kloster zu verlassen, weil ein Kruzifix ihr den Türausgang versperrt. Die Nachwirkung geht von Caesarius von Heisterbach aus, der die Legende im Dialogus miraculorum (7,34; 1219—23) motivlich ausschmückte und in leicht veränderter Form in die wenig später abgeschlossenen Libri octo miraculorum (3,11) übernahm. Die Geschichte von der klosterflüchtigen N. Beatrix findet

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sich in vielen bekannten Exempel- und Predigtsammlungen der Folgezeit, etwa bei Etienne de Bourbon (num. 91), -> Jacques de Vitry (Sermones vulgares, num. 60), im -> Alphabe tum narrationum (num. 468), bei Nicole Bozon (num. 80) und Johannes Herolt (num. 25), 3 . Neben den lat. gibt es zahlreiche volkssprachliche Fassungen, die berühmteste unter ihnen ist das ndl. Beatrijs-Gedicht (ca 1374)4. Für die Beliebtheit des Stoffes im MA. spricht auch seine Übertragung auf Katharina von Alexandrien, neben Maria die zweite zentrale weibliche Heiligenfigur5. Im Verlauf der Neuzeit verlor die Legende im Vergleich zu der außerordentlich breiten ma. Rezeption zunehmend an Bedeutung, was möglicherweise auf die veränderten Formen der Heiligenverehrang im allg. und der Marienverehrung im bes. zurückzuführen ist6. Desungeachtet läßt sich die Erzählung bis ins 20. Jh. hinein in unterschiedlichsten Kontexten und Interpretationszusammenhängen nachweisen: Protestant. Kompilatoren der Reformationszeit wie Andreas -» Hondorff und Hieronymus -» Rauscher verwendeten das Marienmirakel im Zuge ihrer antikathol. Polemik7; es begegnet bei span. Barockautoren wie Calderön (El purgatorio de San Patricio, jornada 1) oder Lope de -» Vega (La encomienda bieri guarda ο la nuena guardaf. Der Stoff interessierte Clemens Brentano und Ludwig Kosegarten ebenso wie Gottfried -• Keller; Maurice Maeterlinck nahm ihn als Vorlage für ein Singspiel (1901)9. Aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s sind nur wenige Belege von AaTh 770 dokumentiert, vornehmlich aus kathol. Ländern 10 . Bereits im MA. gab es unterschiedliche Versionen von AaTh 770; Verschmelzungen mit anderen Erzählmotiven nahmen in der Neuzeit zu". In vielen Fassungen übt die N. ein Amt im Kloster aus, meist ist sie Küsterin oder Pförtnerin, manchmal sogar Äbtissin. Erheblich differieren können die Umstände, die zum Verlassen des Klosters führen, sowie die Dauer der Abwesenheit und die Gestaltung des außerhalb der Klostermauern geführten Lebens. Hier zeigen sich auch bes. krasse Unterschiede zwischen den ma. Fassungen und den modernen Belegen aus mündl. Überlieferung: In der vermutlich ältesten Version bei Giraldus Cambrensis wird die Begegnung der N. mit

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Nonne: Die keusche N.

dem Liebhaber auf mirakulöse Weise verhindert (cf. Tubach, num. 536). Erst bei Caesarius folgt die N. ihrem Liebhaber in die Welt und muß sich später als Prostituierte durchschlagen, während eine ital. Fassung aus dem 19. Jh. Eitelkeit12, eine luxemburg. von 1933 den „unerklärlichen Drang der Sehnsucht nach der Außenwelt" 13 als Fluchtmotiv nennt. AaTh 770 gehört zu den im MA. bes. zahlreichen Erzählungen über die außerordentliche Gnade und Güte Marias. Dabei konnten die mit den Marienlegenden verbundenen Intentionen der einzelnen Autoren durchaus erheblich differieren14. Das Beispiel der N. Beatrix diente zweifelsohne der Einübung religiöser Nonnen und bestimmter Regeln des Klosterlebens. Die bes. Beliebtheit der Erzählung dürfte sich vor allem daraus erklären, daß sie mit der Verheißung auf Vergebung selbst schwerster Vergehen großes Verständnis für die Nöte der Menschen angesichts der Fallstricke des alltäglichen Lebens zeigt. 1 Frenzel, Stoffe, 81-86; Beatrijs. Een middeleeuws Mariamirakel. ed. W. Wilmink/T. Meder. Amst. 1995; Duinhoven, Α. M.: De geschiedenis van Beatrijs 1. Utrecht 1989; Guiette, R.: La Legende de la sacristine. P. 1927; Watenphul, W.: Die Geschichte der Marienlegende von Beatrix der Küsterin. Neuwied 1904. - 2 EM 5, 1260. - 3 Guiette (wie not. 1); Tubach und Dvorak, num. 536; Neugaard Κ 1841.1. - 4 Wilmink/Meder und Duinhoven (wie not. 1). 5 Assion, P.: Die Mirakel der hl. Katharina von Alexandrien. Diss. Heidelberg 1969, 302-323. - 6 Conrad, Α.: Nähe und Distanz — kathol. Frauen im Spannungsfeld der frühneuzeitlichen Mariologie. In: Opitz, C. u. a. (edd.): Maria in der Welt. Zürich 1993, 175—190; allg. zur Marienverehrung cf. Duby, G.: Marie. Le Culte de la Vierge dans la societe medievale. P. 1996; Röckelein, H./Opitz, C.: Maria. Abbild oder Vorbild. Tübingen 1990; Schreiner, K.: Maria. Jungfrau, Mutter, Herrscherin. Mü./Wien 1994. - 7 Brückner, 212, 672 sq. - 8 Frenzel, Stoffe, 81-86; Chevalier, M.: Cuentos folkloricos en la Espana del Siglo de Oro. Barcelona 1983, num. 46. - 9 Guiette und Watenphul (wie not. 1). — 10 Ergänzend zu AaTh: Ο Süilleabhäin/Christiansen; de Meyer, Conte; Delarue/Teneze; Smits, P.: Latviesu tautas teikas un pasakas 10. ed. H. Biezais. Waverly, Iowa 21968, 60-62; Top, S. (unter Mitwirkung von E. Tielemans): Volksverhalen uit Vlaams-Brabant. Utrecht/Antw. 1982, num. 53; Warker, N.: Was unser Volk hüben und drüben erzählt. Luxemburg 1933, 74; Karlinger, F./Greciano, G.: Prov. Märchen. MdW 1974, num. 32; Busk, R. Η.: The Folk-Lore of Rome. L. 1874, 228-231. -

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11 Dokumentation bei Watenphul (wie not. 1) 90-106. - 12 Busk (wie not. 10). - 13 Warker (wie not. 10). — 14 cf. Opitz u.a. und Röckelein/Opitz (wie not. 6).

Göttingen

Michaela Fenske

Nonne: Die keusche N. (AaTh 706 B). Die Erzählung von einer jungen Frau, die einen Körperteil (meist die Augen) verstümmelt (-> Selbstschädigung, Selbstverstümmelung), um den Nachstellungen eines verliebten Mannes zu entgehen, ist in religiös geprägten Überlieferungen außerordentlich weit verbreitet. Als Musterbeispiel für die Tugend der -»• Keuschheit findet sie sich in zahlreichen religiösen Werken (Tubach und Dvorak, num. 4744 b). Die älteste Version ist in der chin. Übers, des buddhist. Tripitaka (ca 6. Jh. p. Chr. n.) enthalten': Eine junge Frau von vornehmer Herkunft zieht sich von der Welt zurück, um ihr Leben -» Buddha zu weihen. Als sie eines Tages vor der Stadt spazierengeht, verliebt sich ein Mann in sie. Auf seine Erklärung hin, die Schönheit ihrer Augen sei der Grund dafür, reißt sich die junge Frau ein Auge aus und zeigt es ihm. Beim Anblick ihres blutüberströmten Gesichts vergeht dem Mann sein Verlangen. Später setzt Buddha das Auge wieder ein.

In der Folgezeit findet sich AaTh 706 Β in der islam, und der westl. Überlieferung. In der arab. Lit. ist die Geschichte rudimentär schon bei dem Theologen und Mystiker al-Gazäl! (gest. 1111) belegt2; eine ausführlichere Version steht in der Anekdotensammlung von asSirwänT (Anfang 19. Jh.)3: Ein in seine Sklavin verliebter Mann vernachlässigt seine religiösen Pflichten. Nachts reißt sich die Sklavin die schönen Augen aus und stirbt. Nachdem der Mann im Traum eine Stimme gehört hat, die ihm mitteilt, daß Gott die Sklavin zu sich genommen habe, findet er morgens unter dem Kissen das Geld, das er für ihren Kauf bezahlt hatte. Die arab. Lit. kennt seit dem 9. Jh. auch eine weitläufig verwandte, allerdings anders motivierte schwankhafte Erzählung, in der sich eine dumme Frau die Haare abschneidet, die ein fremder Mann zufallig unbedeckt gesehen hat 4 . Die reiche literar. Überlieferung in lat. Sprache geht auf den ursprünglich auf Griechisch verfaßten Leimön (Wiese) des Johannes

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Nonne: Die keusche N.

Moschos (6./7. Jh.) zurück. Die Erzählung, die der Mönch in Alexandria gehört haben will, ist deutlich christianisiert: Eine N. sticht sich die Augen aus, um den Verfolgungen eines Verliebten zu entgehen; als der junge Mann begreift, daß er auf Einflüsterung des Teufels gehandelt hat, geht er in ein Kloster 5 . In der Folgezeit findet sich die Erzählung in der Exempel- und Mirakelliteratur sowie der hagiographischen Überlieferung. In Exempelsammlungen, Beichtbüchern oder Predigtsammlungen kommt AaTh 706 B, bes. seit dem 13. Jh., mit geringfügigen Veränderungen vor, u. a. bei -+ Jacques de Vitry (Sermones vulgares, num. 57), -> Etienne de Bourbon (num. 500), Odo of Cheriton {Parabolae, num. 120), Johannes Gobi Junior (Scala coeli, num. 90), im -» Alphabetum narrationum (num. 136) und bei John Bromyard (Summa predicantium C 3,5). Ende des MA.s erscheinen volkssprachliche Versionen in Exempelbüchern wie dem -> Libro de los e(n)xemplos6, dem katalan. Recull d'exemplis (num. 115)7 und Johannes Paulis Schimpf und Ernst (num. 11); sie werden ohne Änderungen in didaktische Abhandlungen wie den -> Fiore di virtu und seine zahlreichen Übers.en 8 sowie in verschiedene Beichtbücher, ζ. B. das anonyme Libro de confesiön (15. Jh.) aus Medina de Pomar, übernommen 9 . Dank der Popularität von Jacques de Vitry und der Aufnahme seiner Texte in gedr. Exempelsammlungen wie das -> Speculum exemplorum (9,23) lebt die Geschichte in Predigten der Renaissance und des Barock weiter10. Im 16. Jh. greift Alonso de Villegas' (16. Jh.) Fructus sanctorum (10,55) auf die Moschos-Version zurück 11 ; in der 2. Hälfte des 19. Jh.s erfährt die Erzählung durch Ramon de Campoamor y Campoosorio eine literar. Neubearbeitung 12 . Die Abweichungen in diesen Texten sind minimal: Der (manchmal namenlose) Verführer wird, so etwa bei Etienne de Bourbon, häufig mit dem engl. König Richard Löwenherz identifiziert13; dies entspricht einer aus Chroniken und Exempelsammlungen überlieferten Darstellung, nach der ihm die Schuld an Zwistigkeiten unter den Kreuzzugsteilnehmern gegeben wird 14 . In einer Breslauer Hs., die sich auf die .Chroniken der Engländer' beruft, ist der Verführer ein Graf von Poitou 15 . Die junge Frau ist nur in seltenen Fällen namentlich be-

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nannt: Bei B. Kybler (1678) und O. Schreger (1766) erscheint als Heldin eine (in Frankreich und Spanien als Selige verehrte) Dominikanernonne Lucia 16 . Die Lokalisierung in Fontevrault (Fonte Ebraldi) begegnet sowohl bei Odo of Cheriton als auch im Libro de los exemplos, während Alonso de Villegas die Geschichte wie Johannes Moschos in Alexandria ansiedelt; dort endet sie mit der Wendung, daß die N. am nächsten Tag ihre Augen wiedererlangt. Dieser Schluß verbindet die Geschichte mit der Mirakelliteratur und dem hagiographischen Schrifttum. Als verstümmeltes Körperteil werden in der religiösen Überlieferung meist die Augen angeführt. Zur Groteske wird die Erzählung, wenn alle N.n eines Klosters sich nach dem Vorbild ihrer Äbtissin die Nasen abschneiden, um der Versuchung zu entgehen (Tubach, num. 3490)17. Wenn als Objekt der Begierde kein bes. Körperteil genannt wird, stirbt die junge Frau lieber oder zieht sich von der Welt zurück, bevor sie ihre Keuschheit verliert (Tubach, num. 537, 4894; Mot. Τ 328)18. Während in allen bislang angeführten Var.n eine Frau im Mittelpunkt steht, wird in einem seltener belegten Strang westl. Texte sowie in -ι· Somadevas Kathäsaritsägara19 ein männlicher Protagonist angeführt. Somadevas Version steht der buddhist. Erzählung nahe: Der Protagonist ist hier ein Einsiedler, in den sich die Frau eines Händlers verliebt; um seine Keuschheit zu bewahren, reißt er sich eines seiner von der Frau bewunderten Augen heraus lind übergibt es ihr. Die häufigste Version geht auf Valerius Maximus (4,5, externae 1) zurück, bei dem der schöne Espurina sein Gesicht verstümmelt, um nicht von Frauen begehrt zu werden (Mot. Τ 333.3). Diese im MA. auch dank ihrer Aufnahme in den Traktat De virginitate (Kap. 3) des hl. Anselm weitverbreitete Erzählung greifen u. a. die Castigos de Sancho IV (2. Redaktion, nach 1345), der Espelho dos reis (1341—43) von Alvaro Pais, der Libro de los exemplos (num. 370), der Liber de moribus hominum (1275) des Jacobus de Cessolis oder der Fructus sanctorum (77,3) auf 20 . Espurinas weibliches Gegenstück ist Sinfronia, eine vornehme Römerin, die sich vor dem Kaiser, der sie begehrt, Verletzungen im Gesicht beibringt (Goldberg Τ 327. 8. I) 21 . Von Demokrit und Tertullian wird erzählt,

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Nonne: Die keusche N.

daß sie sich die Augen ausstachen, um nicht von Frauen begehrt zu werden (Tubach, num. 1945)22. Nähere Gründe für diese Selbstverstümmelung gibt die von Walter Burley (ca. 1275—1343) in seine Vita et moribus philosophorum aufgenommene Version an, auf die das Alphabetum narrationum (num. 748, 799) und seine katalan. Übers. (Recull de exemplis, num. 652, 687) zurückgreifen 23 . Allerdings ist die Tat der Philosophen eher darauf gerichtet, Möglichkeiten der Ablenkung von ihrer Suche nach Weisheit zu unterbinden, und entfernt sich damit vom Grundgedanken von AaTh 706 B. Auch die zahlreichen Exempla der religiösen Überlieferung, in denen Einsiedler oder Mönche sich körperlicher Martern unterziehen, sind nur entfernt verwandt. Bes. in der Vita der hl. Lucia läßt sich ein Zusammenfluß des Exemplums mit der Hagiographie beobachten. Die Lebensbeschreibung der Heiligen aus dem sizilian. Syracus enthält in den alten, vom Martyriologum Romanian abhängigen Legendensammlungen noch keinerlei Erwähnung der Augen24. Spätestens seit dem 16. Jh. verband sich die Legende mit der Vita der Heiligen25. Für diese Verschmelzung gibt es zwei mögliche Gründe: Einerseits beginnt in der Exempelüberlieferung Anfang des 15. Jh.s die Zuschreibung an die Dominikanernonne Lucia 26 ; andererseits kann ein Zusammenhang zwischen dem Namen der hl. Lucia und dem lat. Wort lux in Assoziation mit dem semantischen Feld des Sehens angeführt werden. In der Ikonographie der hl. Lucia erscheint das Augenmotiv seit dem 14. Jh. 27 -> Einäugigkeit zur Bewahrung der Keuschheit wird von der hl. -+ Brigitta von Kildare berichtet (Tubach, num. 786). Deren Geschichte ist als Var. von AaTh 706 Β zu betrachten, da die Heilige selbst zu Gott betete, ihr eine Mißbildung zur Abwehr möglicher Bewerber zu verleihen (-• Kümmernis), woraufhin sie ihr Augenlicht verlor; beim Eintritt ins Kloster erlangte sie die Sicht wieder28. Einen anderen mit dem Keuschheitsideal verbundenen Fall von Selbstverstümmelung führt die -> Legenda aurea über Papst Leo d. Gr. an, der wegen der Lust, die er empfand, als eine kommunizierende Frau ihm die Hand küßte, sich diese abschlägt; die Jungfrau Maria fügt sie ihm wieder an (Tubach, num. 2419)29.

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Verbindungen bestehen auch zu AaTh 706: Mädchen ohne Hände. In der bis ins MA. zurückgehenden schriftl. Überlieferung erscheint dieser Erzähltyp in Verbindung mit ->• Inzestwünschen des Vaters (Bruders), die von der tugendhaften Protagonistin zurückgewiesen werden, indem sie sich die Hände als Gegenstand der Begierde abschneidet (cf. ζ. B. Basile 3,2)30. In der mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s ist AaTh 706 Β nur spärlich belegt. Eine Mischfassung von AaTh 510 Β I—II: cf. -» Cinderella und AaTh 706 B, in der sich die Tochter zur Vermeidung des Inzests mit dem Vater die Hände abschneidet, wurde 1980 in Neukastilien aufgezeichnet31. Die Entstehung von Sonne und Mond wird von den Tanaina in Südalaska mit einer Geschichte erklärt, in der sich die Schwester zur nach dem an ihr begangenen Inzest die Brüste abschneidet und ihrem Bruder in einer Schüssel überreicht 32 . Eine hist. Ätiologie mit der Erinnerung an die Exempelüberlieferung kombiniert eine katalan. Var., die erklären will, warum die Ruinen der Burg von Ferrän Malacara heißen33. Stärker mit der Exempelüberlieferung verbunden ist eine Sage aus Valencia, die auf die Zeit der Sertorius-Kriege (1. Jh. a. Chr. n.) zurückgeht: Als röm. Soldaten eine Einheimische vergewaltigen wollen, reißt sie sich mit den Fingernägeln die Augen aus und wirft sie den Soldaten zu 34 . Hinsichtlich der verstümmelten Körperteile hat A. Dundes aus psychoanalytischer Sicht eine symbolische Äquivalenz von Brüsten und Augen gesehen35. Der Selbstverstümmelung der Augen liegt darüber hinaus allg. der Topos der Augen als Weg, durch den die Liebe eindringt, zugrunde; sie dient gleichermaßen zur Exemplifizierung der Keuschheit wie zur Veranschaulichung der Beziehung zwischen der ->• Sünde und den fünf Sinnen. Diese Interpretation findet sich explizit bei Jacques de Vitry (Sermones vulgares, num. 57). Die Verstümmelung als Mittel zur Wahrung der Keuschheit ist aus christl. Sicht in Verbindung mit Mt. 5,29-30 zu sehen: „Wenn dir aber dein rechtes Auge Ärgernis schafft, so reiß es aus und wirf's von dir. Es ist besser, daß eins deiner Glieder verderbe und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen werde" (cf. ähnlich Mk. 9,47). In diesem Sinn ist AaTh 706 Β eine narrative Exemplifizierung des Bibelspruches.

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Nonsens

1 Chavannes 2, num. 188. - 2 cf. Marsan, R.: Itineraire espagnol du conte medieval. P. 1974, 227. — 3 Basset 3, 543, num. 331; cf. Gonzalez Palencia, Α.: La doncella que se saco los ojos. In: Revista de la biblioteca, archivo y museo del ayuntamiento de Madrid 11 (1932) 181-200, 272-294 (= id.: Histories y leyendas. Madrid 1942, 9—75). - 4 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 213. - 5 M P G 87, 2911; MPL 74, 148; cf. Gonzalez Palencia 1932 (wie not. 3) 188 sq. — 6 cf. Chevalier, M.: El libro de los exenplos y la tradition oral. In: Dicenda 6 (1978) 83-92. 7 Ysern Lagarda, J. Α.: Arnoldus Leodensis. Recull d'exemples i miracles ordenat per alfabet. Diss. Valencia 1994, 151 — 153. - 8 Fiore di virtü. Neapel 1870, 109; Flors de virtut. ed. A. Cornagliotti. Barcelona 1975, 170 sq.; Azäceta, J. M. (ed.): Estos son los capitulos [...] de Flor de Virtudes. In: Cancionero de Juan Fernandez de Ixar. Madrid 1956, 685-752. - 9 Bizzarri, H. O./Sainz de la Maza, C.: El Libro de confesiön de Medina de Pomar 2. In: Dicenda 12 (1994) 19-36; cf. auch Menendez Peläez, J.: Una ,Disciplina clericalis' castellana en la Baja Edad Media. In: Archivum 41-42 (1991/92) 345-388, hier 366 sq.; Soriano, C./Miranda, Α.: Nueva description del manuscrito 77 (Miseria de omne) de la Biblioteca Menendez Pelayo de Santander. In: Revista de literature medieval 5 (1993) 279-285. - 10 Brückner, 216 (bei H. Rauscher); Moser-Rath, Predigtmärlein, num. 201; Vollmer, R.: Die Exempel im „Wunderspiegel" des P. Benignus Kybler S. J. von 1678. Würzburg 1989, num. 813. "Aragües Aldaz, J.: El Fructus sanctorum de Alonso de Villegas (1594). Zaragoza 1993. 12 Amores, M.: Catälogo de cuentos folcloricos reelaborados por escritores del siglo XIX. Madrid 1997, num. 61. — 13 cf. auch Gonzalez Palencia 1932 (wie not. 3) 190—192; Bohigas, P.: Miracles de la Verge Maria. Barcelona 1956, num. 9; Neugaard Τ 327.1. — 14 Hook, D.: The Figure of Richard I in Medieval Spanish Literature. In: Richard Coeur de Lion in History and Myth. ed. J. L. Nelson. L. 1992,117-140; cf. Ayerbe-Chaux, R.: El conde Lucanor. Madrid 1975, 113-117, 218 sq. - 15 Klapper, MA., num. 20; zur Namensnennung cf. auch die (anders verlaufende) Geschichte von der Tochter des Grafen von Poitou bei Johannes Gobi, Scala coeli, num. 180. - ^Vollmer (wie not. 10); Moser-Rath, E.: Kl. Sehr, zur populären Lit. des Barock, ed. U. Marzolph/I. Tomkowiak. Göttingen 1994, 310; cf. Gonzalez Palencia 1932 (wie not. 3) 194; Kretzenbacher, L.: Santa Lucia und die Lutzelfrau. Mü. 1959, bes. 14 sq. 17 Brückner, 216. - 18 cf. Bolte, J.: Die märk. Sage von der keuschen Nonne. In: ZfVk. 35 (1925) 98-103; Rosenfeld, H.: Die Legende von der keuschen N. In: Bayer. Jb. für Vk. (1953) 43-46. 19 The Ocean of Story 3. Übers. C. Η. Tawney. ed. Ν. Μ. Penzer. (L. 1923) Nachdr. Delhi/Benares/ Patna 1984, 19-21. - 20 cf. Petrus Abelardus, Theologia Christiana 2,102; Gayangos, P. (ed.): Escritores en prosa anteriores al siglo XV. Madrid 1860, num. 140 a; Pais, Α.: Espelho dos reis. ed. M. Pinto de

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Meneses. Lissabon 1955, 364-365; Jacobus de Cessolis: El juego del ajedrez ο dechado de fortuna. ed. M. J. Lemarchand. Madrid 1991, 67; MPL 35, 2356. 21 MPG 20, 786; Welter, J. T.: Le Speculum laicorum. P. 1914, num. 485; Especulo de los legos, ed. J. M. Mohedano. Madrid 1951, num. 483. - 22 Diogenes Laertios 9,36; cf. Johannes Gobi, Scala coeli, num. 193. — 23 Ysern Lagarda (wie not. 7); Montesino, Α.: Epistolas y evangelios por todo el afio. Zaragoza [ca 1514], fol. 96v; Burley, W. de: De vita et moribus philosophorum. Tübingen 1886, 178 sq. 24 Legenda aurea/Benz, 35-38. — 25 Früheste Erwähnung bei Bautista Mantuano: Parthenice Septem. Alcalä de Henares 1536; cf. Gonzalez Palencia 1932 (wie not. 3) 195-197. - 26 cf. Kretzenbacher (wie not. 16). - 27 cf. Squarr, C.: Lucia von Syrakus. In: LCI 7 (1974) 415-420. - 28 cf. auch Glösa castellana al Regimiento de prineipes de Egidio Romano 2. ed. J. Beneyto Perez. Madrid 1947, 215. 29 cf. Mussafia, Α.: Studien zu den ma. Marienlegenden. In: Sb.e der phil.-hist. Classe der kaiserlichen Akad. der Wiss.en 115 (Wien 1888) 5-92, hier 90; ibid. 119 (1889) 1 - 6 6 , hier 24; Alfonso X: Cantigas de Santa Maria, ed. W. Mettmann. Madrid 1988, num. 206; Schneyder, J. B.: Jacobus de Bovenato (Benevento) Ο. P. In: Repertorium der lat. Sermones des MA.s für die Zeit von 1150—1550. t. 2. Münster 1971, 6-43; Cerulli, E.: II libro etiopico dei miracoli di Maria [...]. Rom 1943, 437. - 30 cf. Beiträn Llavador, R.: La leyenda de la doncella de las manos cortadas. Tradiciones italiana, catalana y castellana. In: Historia y ficciones. Coloquio sobre la literatura del siglo XV. ed. R. Belträn/J. L. Canet/J. L. Sirera. Valencia 1992, 25-36. 31

Camarena/Chevalier 706 B. - 32 Konitzky, G. Α.: Nordamerik. Indianermärchen. MdW 1963, num. 57. - 33 Amades, num. 1688; cf. Garcia de Diego, V.: Antologia de leyendas de la literatura universal. Barcelona 1953 , 421. - 34 ibid., 429. - 35 Dundes, Α.: Wet and Dry, the Evil Eye. In: Folklore Studies in the Twentieth Century, ed. V. J. Newall. Woodbridge/Totowa, N. J. 1980, 37-63, hier 47.

Zaragoza

Maria Jesüs Lacarra Ducay

Nonsens. Der zuerst in Ben Jonsons Komödie Bartholomew Fayre (4,4; 1614) belegte Begriff weist seit dem 18. Jh. eine vielfältige, stark differenzierte Bedeutung auf. Allg. verbindliche Abgrenzungen bestehen bis heute nicht 1 . Nachdem bereits 1909 G.K.Chesterton 2 auf die Zeitlosigkeit des N. hingewiesen hatte, beschrieb E. Cammaerts 1925 als erste einige Techniken des N. und analysierte seine psychol. und künstlerische Bedeutung3. In der

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ästhetisch-psychol. Lit. spricht S. Freud 1905 von einer „Lust des Menschen am Unsinn" 4 , die im ernsthaften Leben bis zum Verschwinden verdeckt sei. Der Husserlschüler W. Blumenfeld nennt 1953 das Vermögen, bewußt vollkommenen Unsinn erzeugen zu können, ein Zeichen von Intelligenz und unterscheidet, analog zu den fünf Sinnen, fünf Unsinnsarten: (1) semantischen Unsinn (das Fehlen der Relation des Zeichens zum Gegenstand), (2) telischen (Zweckunsinn), (3) eidischen (Gestaltunsinn, bes. der bildenden Kunst), (4) logischen Unsinn, (5) Motivationsunsinn 5 . E. Leimert initiiert 1937 die literaturwiss. dt. N.-Forschung und bezeichnet das Phänomen als eine typisch engl., bes. viktorian. Form von Humor 6 , läßt in ihrer Wertung des N. als märchenhaft, absurd und grotesk allerdings fehlende Definitionsschärfe erkennen. Auch A. Schöne grenzt N. nicht gegen andere Bereiche der Komik ab 7 . Sie erarbeitet an den Werken der beiden Hauptvertreter des engl, literar. N., Edward Lear (1812—88) und Lewis Carroll (1832—98; ->• Alice im Wunderland), grundsätzliche Stilmittel und charakterisiert N. im wesentlichen als zweckfreies intellektuelles Spiel mit Worten, Gedanken und Begriffen, als Erschaffung einer irrealen Welt, aber auch als Flucht in ein Refugium und Auflehnung gegen logische, praktische und ideelle Normen 8 . In weiteren Unters.en bezieht Schöne auch Volksüberlieferungen ein, etwa, wenn sie den Wortwitz in Opposition zu Klangspielen setzt (cf. ζ. B. Zungenbrecher, Calembour[g])9. E. Sewells Standardwerk The Field of Nonsense, die einzige ags. Erfassung des gesamten Phänomens, sieht N. als geistiges Spiel der Gegner Ordnung und Unordnung 10 . Auf einen weiteren Bezug des (sprachlichen) N. weist u. a. M. Esslin hin, wenn er diesen als ein metaphysisches Unterfangen im eigentlichen Wortsinn bezeichnet, als ein Streben, die Grenzen des materiellen Universums und dessen Logik zu überschreiten11. Den Wirkungsbezug zum Rezipienten sieht L. Foster in der Herstellung einer Struktur, die aus sich selbst heraus zufriedenstellend ist12. R. Hildebrandt widerspricht der Vorstellung, daß N. eine Gattung sei; vielmehr gehe er, als ästhetische Kategorie und formales Phänomen, lediglich vielfach Verbindungen mit anderen Bereichen der

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Komik ein und bediene sich fremder Strukturelemente13. Seine Unters, definiert das Verhältnis von N. bes. zu Logik, -> Ironie, -+ Satire, ->• Parodie und Witz. In N. und -> Märchen erkennt er die Verwendung gleichartiger Techniken14. Humor erachtet Hildebrandt nicht als systemnotwendig; N. sei am ehesten als pointeloser Witz zu bezeichnen15. Hildebrandt untergliedert N. in (1) Volks-N. als frühe Form, die teilweise in der Kinderfolklore gegenwärtig sei, (2) ornamentalen N. (ζ. B. Wortspiel) und (3) literar. N. A. Liede gebraucht in seiner hist, und vergleichend orientierten Arbeit Dichtung als Spiel16 statt N. den Begriff Unsinn; er wendet sich gegen die These, daß N. als gegensätzlich zur Zeitströmung oder als Krisensymptom der Gegenwart zu interpretieren sei, indem er Unsinnsparodie vorrangig als Ausdruck des menschlichen Spieltriebs deutet 17 . Liedes Dreistufenmodell ist hierarchisch zu verstehen: (1) semantisch unsinnige Zeichen, (2) Übergang vom unsinnigen zum sinnvollen Zeichen, (3) Veränderung von sinnvollen zu unsinnigen Zeichen. Liede bespricht umfassend formale Techniken des N., wobei er zahlreiche Kleingattungen der mündl. Überlieferung aufzählt: (1) Asemantische und semantisch unsinnige Zeichen; (1.1) sinnloser Refrain; (1.2) Kindervers als Übergang vom Zeichen ohne Bedeutung zum Spiel mit dem gegebenen Sprachstoff; (1.2.1) Variation des Anlauts in der Wiederholung; (1.2.2) Vokalvariation in der Wiederholung; (1.3) Spiel mit der gegebenen Sprache; (2) Gattungen der Unsinnspoesie; (2.1) unliterar. Spiele; (2.1.1) Kindervers (Auszählreim, Neckvers, Reim auf unnütze Fragen); (2.1.2) Spiele der Erwachsenen (Beispielsprichwort, Wetterregel, Grabschrift und Marterl, - Schlaraffenland [AaTh 1930], -> Volkslied); (2.2) literar., gesellschaftliche und gelehrte Spiele; (2.2.1) Übergang von den unliterar. zu den literar. Spielen (Wortungeheuer, Interpunktionsscherze, Cross-Reading, Wort in Zahlen, Merkvers, Studentenlied, Stumpfsinnsvers, Klapphornvers, Quodlibet, Priamel, Vielspruch, unsinnige Aufzählung, -> Rätsel, Scherzfrage); (2.2.2) eigentliche literar. und gelehrte Spiele; (2.2.2.1) Buchstabenspiele (Anagramm, Akro-, Meso-, Telestich und Notarikon; Chronogramm, Chronostich, Abcdarius, Vokalfolge AEIOU, Lipogramm, Tautogramm, Palindrom, Schüttelreim); (2.2.2.2) Silbenspiele (einsilbige Verse und andere Verse von bestimmter Silbenzahl, Tmesis); (2.2.2.3) Reimspiele; (2.2.2.3.1) Reimreichtum (Allreim, Schlagreim, Binnenreim, Mittel-, In- und Anfangsreim, endschallender Reim, Echoreim); (2.2.2.3.2) Reimarmut (Tira-

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denreim, rührender Reim, identischer Reim, grammatischer Reim, gebrochener Reim, Waise, Reimwetzeler); (2.2.2.3.3) Reimverkettung (Korn, Irreim, Pause, Kettenreim, übergehender Reim); (2.2.2.3.4) seltene Reime; (2.2.2.4) Versfigurenspiele (Versus rapportati, Proteusvers, Spaltvers, Versus concordantes, aufgegebene Reime und Ähnliches: Satz und Gegensatz, Kontrafaktur, Leberreim; Annominatio im Vers); (2.2.2.5) einzelne größere Spiele; (2.2.2.5.1) Wortspiel, Paradoxon, Oxymoron, Worthäufung; (2.2.2.5.2) Figurengedicht; (2.2.2.5.3) makkaronische Poesie u. a. Arten der Sprachmischung; (2.2.2.5.4) Cento (Beispielsprichwort); (2.2.2.5.5) Parodie, -» Travestie; (2.2.2.5.6) Niemand (cf. AaTh 1135-1137: -» Polyphem)·, (2.2.2.5.7) Lautdichtung (Lautdeutung, Vokalfarbenleitern, Lautmalerei, künstliche Sprachen, spielerische Lautdichtung, moderne Lautdichtung); (2.3) in der dt. Lit. fehlende Gattungen; (2.4) Spiele in Magie und Mystik (semantisch unsinnige Zeichen, Lügendichtung, Verkehrte Welt, Quodlibet, Priamel, Leberreim, Rätsel, Buchstabenmagie, Anagramm, Gematria, Notarikon, Akrostichon, Abcdarius [-> Lesebuch], Güldenes ABC, Lipogramm, Tautogramm, Palindron, Satorformel, Echo, Kettenreim, Proteusvers, Wechselsatz, Wortspiel, Kenning, Paradoxon, Figurengedicht, Geheimsprachen, Lautdeutung, Sprachmischung, Zeruph).

Den linguistischen Gegensatz von N. und Quatsch (gibberish) hat M. Holquist herausgestellt18. D. Petzold hebt den Lustgewinn und die spielerische Haltung des N. hervor, billigt ihm aber ebenfalls eine phil. Dimension zu, wenn er N. als Gleichnis für die absurde Situation des Menschen überhaupt und bes. des modernen Menschen interpretiert 19 . Petzold entwickelt fünf Kennzeichen des literar. Ν.: (1) sinnlose Aneinanderreihung von Wörtern und Begriffen, (2) fehlende Kausalität in Gedankenführung und Handeln, (3) bewußte Aussprache von Trivialitäten, (4) bewußt falsche Verwendung von Wörtern, (5) Wortneuschöpfungen ohne definierbaren Sinn20. R. B. Henkle stellt den Gegensatz von rigider konventioneller Form und anarchischem Inhalt heraus 21 . Dem Ansatz des Soziologen R. A. Hilbert liegt die Annahme zugrunde, daß dem menschlichen Bewußtsein das Konzept einer nicht widersprüchlichen Natur der Wirklichkeit zugrunde liegt, die vom N. durchbrochen werde22. Soziol. ist auch der Ansatz von S. Stewart, die als erste auf die Kulturabhängigkeit logischer Prinzipien aufmerksam macht 23 . W. Nöth benennt in bezug auf Carrolls Alice in Wonderland (1865) sieben allg.gültige Ebenen der N.-Manifestation: (1)

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linguistisch, (2) soziol., (3) physisch, (4) biologisch, (5) semiotisch, (6) psychol., (7) phil./ ideologisch. Weiter bezeichnet Nöth N. als graduelles Phänomen, dessen höchster Grad in einem Text erreicht wird, der keinerlei semantische Interpretation zuläßt und damit ein Maximum von Verstößen gegen die Textkonstitution aufweist24. W. Tigges semiotisch orientierte Diss. 25 arbeitet in vorbildlicher Weise die bisher vorhandene Sekundärliteratur kritisch auf und betont im Sinne von J. Huizinga 26 den prozessualen Charakter des N.-Spiels, bei dem nicht das Ergebnis, sondern der Vorgang an sich das wichtigste Element sei. Tigges untersucht literar. und volkskundliche Gattungen (ζ. B. Witz, -» Fabel, Märchen, Kinderreim) auf das Vorhandensein von N. 27 und definiert umfassend und stringent: „Nonsense is [...] a narrative genre in which the seeming presence of one or more ,sensible' meanings is kept in balance by a simultaneous absence of such meaning. The balance is established by the absence of emotionally laden connotations and associations, and by a creative play with the rules of language, logic and form. The play manifests itself by the occurrence of one or more of five procedures: inversion, negativity or mirroring; imprecision, mixture or incongruity; infinite repetition; simultaneity; and arbitrary arrangements of elements."28

Von den Schriftstellern und Dichtern, die Ν. verwenden, sind bes. zu erwähnen: Aristophanes, -> Cervantes, Rabelais; im ags. Raum, neben Lear und Carroll, u. a. - Gruß, Grüßen), Modalitäten der Zeiteinteilung, Regularitäten im Kleidungsverhalten und ähnliches. Schon diese l a tenten' N.en scheinen in dem Augenblick auf, in dem deutliche Abweichungen registriert

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werden - die Grußverweigerung, das (zu) späte Aufstehen, die unpassende Kleidung. N.en, die nicht nur als das Übliche, sondern als ethische Werte (-• Ethik, -> Moral) durch rechtliche oder religiöse Vorschriften legitimiert sind, treten stärker ins Bewußtsein. Sie werden dadurch abgesichert und stabilisiert, daß ihre Befolgung positiv sanktioniert wird (in der Form von Zustimmung, Lob, -» Belohnung) und die Abweichung negative Sanktionen nach sich zieht (in der Form von Mißachtung, Tadel oder Strafe). Der Effekt, daß sowohl normgerechtes Handeln - n ( + ) H wie normwidriges Verhalten — n ( - ) H - über die Art der Sanktionen - s(+) oder s ( - ) zur Aufrechterhaltung von N.en - n(+) beiträgt, läßt sich vereinfacht in einer an T. Geigers rechtssoziologischen Bestimmungen 2 orientierten Formel darstellen: n(+)H - s(+) - n ( + ) n ( - ) H - s ( - ) - n(+). Träger und Garant der Sanktionen ist dabei die jeweilige Bezugsgruppe, die durch einzelne Individuen oder auch (vor allem bei Rechtsnormen) durch Institutionen repräsentiert werden kann. Der „Prozeß, durch den Konformität erreicht wird", ist die „soziale Kontrolle", die über die Einhaltung von N.en wacht 3 . In jeder Gesellschaft sind starke Kräfte wirksam, um N.en und damit auch Traditionen aufrechtzuerhalten. Aber keine Gesellschaft ist völlig statisch, und es gibt ständig Veränderungen im N.engefüge. Abweichungen von einer N. können allein durch ihr Auftreten eine Umwertung und schließlich neue N.en erzeugen; der Rechtshistoriker G. Jellinek sprach in diesem Sinn von der normativen Kraft des Faktischen 4 . Die Verbindlichkeit einer N. kann von verschiedenen Gruppen verschieden eingeschätzt werden, und in jeder Gesellschaft gibt es konkurrierende N.en, die jeweils nur in bestimmten Bezugsgruppen gültig sind. So kommt es zu N.konflikten, zur Liberalisierung von N.en und zu N.Veränderungen. Die Mechanismen und Bezüge, die N.en stärken oder verändern, spiegeln sich auch in Erzählungen. Vor allem das ->· didaktische Erzählgut, das ja in verschiedene Gattungen hineinreicht, hat eine wichtige Funktion in der Schilderung und Betonung von N.en; Sanktio-

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Norm und Normverletzung

nen spielen dabei eine große Rolle. Erzählungen greifen aber auch Konstellationen und Fälle auf, in denen N.verletzungen nicht geahndet werden; sie zeigen Schlupflöcher im realen N.engeflecht und demonstrieren den Spielraum, den viele N.en lassen. Der fiktionale Anteil, der in allen - auch den realistischen - Erzählungen enthalten ist, vergrößert diesen Spielraum; die erzählerische Phantasie kann sehr verbindliche N.en in Frage stellen und problematische N.verletzungen mit positiven Vorzeichen versehen. Dies liegt deshalb nahe, weil jede Normierung einengt und Möglichkeiten abschneidet. Erzählungen können das ,Lustprinzip' auch dort zur Geltung bringen, wo es in der Realität wenig Chancen hat; S. Freud, der die psychoanalytische Opposition von Lustprinzip und Realitätsprinzip begründete, hat dies am Beispiel des Witzes in differenzierter Weise gezeigt5. Die Volkserzählung bietet so hinsichtlich N. und N.verletzung ein sehr buntes und uneinheitliches Bild. 2. N . e n u n d N . v e r l e t z u n g e n in Volkse r z ä h l u n g e n . Die Orientierung an N.en ist ein so zentrales Lebenselement, daß sie implizit in praktisch allen Erzählungen enthalten ist. Es gibt aber auch eine große Gruppe von Erzählungen, die N.fragen explizit thematisieren. An erster Stelle sind hier die moralischen Geschichten zu nennen, deren Hauptgegenstand moralische Handlungen sind, die belohnt, und unmoralische Handlungen, die bestraft werden. Dabei wird häufig auch dort, wo die Handlung in rein weltlichen Zusammenhängen steht, letztlich auf eine religiöse Instanz verwiesen, die den Gang der Dinge nach moralischen Maßstäben dirigiert6. In diesem religiösen Schwerpunkt zeigt sich der innere Bezug zum Exemplum, das Zeichen der alles durchdringenden göttlichen Weltordnung vor Augen stellt. Religiöser Glaube schließt in der Regel Vorstellungen normgerechten Verhaltens ein; in Erzählungen über Religionsstifter (-• Christus, Mohammed, ->· Buddha; cf. auch -» Luther, -> Propheten) wird deren durch Vorbild und Belehrung wirksame N.begründung hervorgehoben. Auch Anekdoten um große Persönlichkeiten stellen oft deren Eintreten für N.en heraus.

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Die -• Legende übersteigt zwar die menschlichen N.en; in ihrem Mittelpunkt stehen Taten oder Duldungen, die alles Maß überschreiten und den Charakter des -> Wunders tragen. Aber es sind doch meist Steigerungen vorbildhaften Verhaltens, das an den für alle geltenden N.en ausgerichtet ist. Es gibt außerdem ausgesprochene Warnlegenden, in denen beispielsweise erzählt wird, wie Barmherzigkeit belohnt, Geiz und Hartherzigkeit bestraft werden 7 . Die -» Fabeln bezeichnete Lessing als ,Exempel der praktischen Sittenlehre'8. Wenn allerdings zwischen ,Klugheitslehren' und .Tugendlehren' unterschieden wird — J. M. Sailer hat dies für das ebenfalls um N.en kreisende Sprichwort getan 9 —, dann wird man die Fabel überwiegend der Klugheitslehre zuordnen: In der Fabel gewinnt meist der Schlaue, der Listige, und zwar ohne Rücksicht auf seine moralische Integrität. Hier zeigt sich eine N.enkonkurrenz: sittliche N.en werden zugunsten von N.en der Klugheit beiseite geschoben. Auch das ma. - Gut und böse); und wenn das Glück für den Jüngsten, die Ärmste, die Schwächsten bestimmt ist, so erweist sich das Märchen als Wunschdichtung, die realen N.en entgegengestellt wird. Am bedeutsamsten ist das Thema im Bereich von Schwank und Witz, die ein vieldeutiges Spiel mit N.en und N.Verletzungen betreiben. Die -» Komik dieser Erzählformen entsteht großenteils aus einer N.endiskrepanz. Sie sind entweder in einer Sphäre lokalisiert, deren N.en überraschend durchbrochen werden; so operiert ein Großteil des älteren Schwankguts mit sakralen Gegebenheiten, in die plötzlich banale Alltagsrealität einbricht. Oder die Gedanken der Hörer/Leser werden in die Richtung eines bestimmten N.bereichs geführt, während die Erzählung schnell eine Wendung in einen anderen nimmt. Im Witz ist dies offenkundig; aber auch das scherzhafte -»• Rätsel lockt die Assoziationen ζ. B. oft in den Umkreis des Sexuellen, um dann eine denkbar harmlose Auflösung zu präsentieren. Die komische Behandlung von N.en und N.verletzungen kann vielfaltige Funktionen haben. Primär ist zunächst, daß die in den Geschichten präsentierte N. vom Üblichen abweicht und dadurch in die Perspektive der Komik rückt. So werden im sog. ethnischen Witz Minoritätsgruppen N.en unterstellt, die im komischen Widerspruch zu den N.en der Mehrheit stehen. Komische Geschichten können Fremdstereotype verstärken und der Ausgrenzung dienen (ethnische Stereotypen). Auf der anderen Seite werden geltende N.en durch N.abweichungen auch relativiert. Ein Beispiel für die Vieldeutigkeit15: In einem Schwank aus dem 17. Jh. wird „eine geschwängerte Dirne" vor das Konsistorium zitiert und gibt an, sie sei zum Verkehr gezwungen worden. Auf die Frage, warum sie nicht um Hilfe gerufen habe, antwortet sie: „Ich kunte vor Lachen nicht darzu kommen." Im Hintergrund steht hier als feste N. die Enthaltsamkeit der unverheirateten Frau; sie wird gerade über die N.verletzung erkennbar. Im Bekenntnis der Frau klingt aber auch die Lust körperlicher Liebe an; die N.verletzung verweist auf eine mögliche Gegennorm.

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Norm und Normverletzung

Schwankgeschichten, in denen eine Frau durch List die Herrschaft im Haus übernimmt 16 , werden gleichfalls als komische Verkehrung einer N. erfahren (-» Verkehrte Welt). Auf diese Weise kann die N. noch gefestigt werden; auf der anderen Seite schließt aber auch hier die N.verletzung durch die Frau die Möglichkeit einer neuen N. ein. Insofern sind solche Geschichten ambivalent, je nach Kontext frauenfeindlich oder emanzipatorisch. Die zahlreichen Geschichten, in denen eine junge Frau in naiver Weise ihre verlorene Jungfräulichkeit wiederherzustellen sucht, beweisen aber auch, daß Erzählungen nicht an die real existierenden N.en gebunden sind. Jede Erzählung schafft sich einen eigenen Horizont, so daß auch real überholte N.en als Gegenstand und Motiv in einer Geschichte fungieren können; die betreffenden N.en müssen nur innerhalb der Geschichte gültig und glaubhaft sein. N.en und N.verletzungen können im übrigen auch dort präsent sein, wo sie nicht ausdrücklich thematisiert werden. Da diskursive Äußerungen immer auch mit Bewertungen zu tun haben, werden in vielen Gesprächen, ohne daß es immer betont würde, N.en ausgehandelt. Auch in den moderneren Erzählformen spielen N.en und N.verletzungen eine wichtige Rolle. A. -» Jolles prägte die Gattungsbezeichnung -» Kasus für Geschichten, in denen über konkurrierende, jeweils in sich schlüssige N.en entschieden werden muß. Vor allem geht es dabei um den Zusammenstoß von Rechtsnormen (-• Rechtsvorstellungen) und N.en der -» Gerechtigkeit, die keineswegs immer übereinstimmen. Moderne Sagen (contemporary legends) präsentieren, wie die älteren Sagenerzählungen, häufig unheimliche Vorgänge und Phänomene; aber die Konfrontation mit ihnen setzt oft Verfehlungen voraus, die den Charakter von N.verletzungen haben. Als Beispiel kann die gezielte Infektion mit AIDS angeführt werden, die in der Erzählung Menschen trifft, die sich durch sexuelle Libertinage oder durch Vorurteile schuldig gemacht haben 17 . Im Klatsch werden N.verletzungen angeprangert und durch diese Denunziation bestehende (Gruppen-)N.en aktualisiert (cf. auch -> Gerücht). Diese moralische Seite scheint die Indiskretion zu legitimieren. Auch autobiographische Erzählungen (-* Autobiographie) set-

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zen sich mit N.en und N.verletzungen auseinander; die Rechtfertigungsgeschichten18 ζ. B. suchen N.verletzungen im eigenen Leben durch andere, meistens höhere N.en zu legitimieren. 3. R ä u m l i c h e u n d h i s t . D i f f e r e n z i e r u n g . Für den interkulturellen Vergleich der Funktionen von N. und N.verletzung gibt es kaum Vorarbeiten. Prinzipiell kann das Vorhandensein von N.en und das Auftreten von N.verletzungen als universelle Gegebenheit verstanden werden: In jeder Gesellschaft gibt es Übereinkünfte über gültige N.en, und in jeder Gesellschaft ist der Verstoß gegen solche N.en und ihre Verteidigung bzw. Wiederherstellung ein Bestandteil von Erzählungen. Die Akzentuierung muß dabei aber keineswegs die gleiche sein wie im mitteleurop. Erzählgut. L. Röhrich greift das Beispiel des Schwanks AaTh 1537: Die mehrmals getötete -* Leiche auf und zeigt, wie diese weitverbreitete Geschichte in einer westafrik. Version zu einer ernsthaften Beipielerzählung wird, zu einer moralischen Geschichte19. Während in den europ. Var.n die Komik der scheinbaren Tötung einer in Wirklichkeit schon toten Person im Vordergrund steht, ist die N.verletzung in der Erzählung von der Elfenbeinküste zu groß und zu ernsthaft, als daß sie die komische Perspektive erlaubte: Der Tote ist ein Mann, mit dem sich ein Mädchen einlassen wollte — dies muß unbedingt verborgen bleiben, und so wird die Leiche auf den Rat der Großmutter weggebracht und über verschiedene Stationen geschoben. Deutlicher als in der Schwankgeschichte, in der durch die Komik der folgenden Akte auch die vorausgegangene Verfehlung in ein harmloseres, heiteres Licht rückt, wird hier die Richtigkeit der sittlichen N. über die mühsamen Versuche, die N.verletzung zu vertuschen, betont. Allerdings ist nicht ohne weiteres auszuschließen, daß es in der betreffenden Kultur auch eine heitere Perspektive auf solche N.verletzungen gibt. Auch innerhalb kulturell einheitlicher Traditionsräume lassen sich Unterschiede nachweisen, hist. Verschiebungen, welche die N.en selbst und den Blick auf N.en und N.verletzungen verändern. K. Ranke hat Schwank und Witz als Schwundstufen interpretiert 20 . Er zielt damit auf die Transponierung ernst-

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Norm und Normverletzung

haften und oft moralischen Erzählguts in die Perspektive des Komischen. Auch das heitere Phantasiespiel des Märchens kann als relativ späte Form verstanden werden; voraus gingen in vielen Fällen ernste Erzählungen, in den Worten W. Grimms: „Das Märchen spielt sozusagen mit dem, was früher Bedeutung hatte." 21 Diese Bedeutung kann in der Vermittlung mythischer Glaubensbestände liegen wie in den frühen Formen des sog. Brüdermärchens (AaTh 303: Die zwei Brüder), in der legendären Stilisierung christl. N.en wie in den Vorstufen zum Aschenputtel-Märchen (AaTh 510 A: cf. ->• Cinderella) oder auch in der -> Katechese christl. Glaubenssätze (-• Altersbestimmung des Märchens) 22 . 4. N . e n u n d N . V e r l e t z u n g e n im Perf o r m a n z b e r e i c h . N.en spielen nicht nur inhaltlich in der Volkserzählung eine wichtige Rolle; sie regeln auch die Gestaltung der Erzählungen und den Vorgang des Erzählens. Diese N.en werden kaum einmal thematisiert oder diskutiert; sie werden aber sofort offenkundig, wenn N.verletzungen passieren. Bei den von A. Olrik herausgestellten Eigenheiten epischer Volkspoesie (-• Epische Gesetze)23 handelt es sich natürlich nicht um verbindliche, unumgehbare Gesetze, aber doch um N.en, welche den Aufbau der Volkserzählungen sehr stark prägen. Wenn Olrik Achtergewicht in Verbindung mit der Dreizahl als „das vornehmste merkmal der Volksdichtung" bezeichnet24, so besagt dies nicht, daß immer und überall in der Volkserzählung der Jüngste triumphiert und die episch wichtigste Person an das Ende gesetzt wird; aber es besteht eine Erwartungsnorm in diese Richtung, so daß Erzählungen mit abweichender Struktur leicht befremdlich erscheinen können. Ähnliches gilt für die Konturen einzelner Gattungen. Der gängige Aufbau ist die N.; Abweichungen gelten als N.Verletzung, die nicht ohne weiteres akzeptiert wird und gegebenenfalls eigens begründet werden muß. Man kann sich dies leicht vergegenwärtigen, indem man sich die Wirkung von Märchen mit schlechtem Ausgang in einem Erzählkreis vorstellt. Kinder haben ein bes. starkes Bedürfnis nach Einhaltung erzählerischer N.en; schon abweichende Formulierungen bei einzelnen

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Textstellen werden von ihnen gerügt. Bei der Herausbildung von Gattungsnormen wirken vermutlich mehrere Faktoren zusammen: die Gewöhnung an eine bestimmte Form durch wiederholten — aktiven oder passiven — Gebrauch; die präskriptive Wirkung wiss. Gattungseinteilungen; aber auch die spezifische innere Logik in der Ausdifferenzierung der einzelnen -> einfachen Formen. Die Normierung betrifft aber nicht nur die Ausgestaltung von Erzählungen, sondern auch die Erzählvorgänge. Die Wahl der Erzählgegenstände und -gattungen hängt stark von der gegebenen Situation ab (-• Kontext). Die Indiskretion des Klatsches setzt in der Regel eine gewisse Nähe der Kommunizierenden voraus 25 , die Erzählung heiterer Geschichten eine aufgelockerte Stimmung. Eine Märchenrunde fordert andere Voraussetzungen als eine Witzrunde. Vor allem wird der Rahmen für mögliche Erzählungen sehr stark durch die zuerst vorgetragenen Geschichten bestimmt; es wird erwartet, daß der angeschlagene Ton beibehalten wird. Es ist zwar nicht unmöglich, daß nach einer Anzahl von Witzen eine Legende erzählt wird, aber es handelt sich dann jedenfalls um eine N.Verletzung, die einer bes. Begründung bedarf — oder die einen bes., provokativen Zweck verfolgt. Eine Reihe von Sagenberichten kann ζ. B. ironisch gekippt werden durch witzige Erzählungen, in denen sich das scheinbar Übersinnliche als handfeste und banale Realität erweist (Frage an das vermeintliche Gespenst hinter einem Gebüsch: „Geist, was begehrst du?" Antwort: „Ein Stück Papier" 26 ). Die N. einer einigermaßen einheitlichen Stimmungslage für aufeinanderfolgende Erzählungen gilt nicht nur für die ausgeprägten Erzählgattungen, sondern auch für alltägliches Erzählen. Wenn nach dem erzählenden Bericht über schmerzliche Ereignisse bei einer Reise einer von den Zuhörern einsetzt: „Mir ist unterwegs auch etwas ganz Komisches passiert", dann ist dies eine N.verletzung, obwohl die Erzählung im Raum des Genres Reiseerzählung bleibt. Auch die Reservierung bestimmter Erzählungen oder Erzählgattungen für einzelne Personen, die aus traditionellen Erzählgemeinschaften verschiedentlich berichtet wird 27 , ist unter den flüchtigeren Bedingun-

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Normalform

gen m o d e r n e n Erzählens nicht ganz verlorengegangen. Schon unter E h e p a a r e n u n d kleinen Freundesgruppen besteht häufig Einvernehmen darüber, wer welche Geschichte erzählen k a n n u n d darf. Normiert ist schließlich auch die Art des Vortrags. Wenn Witze pathetisch vorgetragen werden, ist dies ebenso eine N.Verletzung wie die b l o ß buchhalterische Aufzählung, die bei m a n c h e n Witzsammlern grassiert - der Witz verlangt eine eher beiläufige, aber doch konzentrierte Darbietung. Auch das Zelebrieren von auswendig gelernten M ä r c h e n 2 8 ist gegenüber dem unbekümmert-lebendigen M ä r c h e n erzählen eine N.Verletzung — vorsichtiger gesagt: es genügt einer anderen N., die sich im Zuge florierender Märchenpflege hie u n d da eingeschlichen hat. 1 cf. Jeggle, U.: Alltag. In: Bausinger, H. u. a. (edd.): Grundzüge der Vk. Darmstadt 31993, 81-126. 2 Geiger, T.: Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts. Neuwied/B. 1964, 138-149 und pass.; cf. Bausinger, H.: Vk. Tübingen 51988, 132 sq. - R o mans, G. C.: Theorie der sozialen Gruppe. Köln/ Opladen 1960, 271; cf. auch Scharfe, M.: Zum Rügebrauch. In: HessBllfVk. 61 (1970) 45-68. - 4 Jellinek, G.: Der Kampf des alten mit dem neuen Rechte. Heidelberg 1907. - 5 Freud, S.: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. Lpz./Wien 1905. - 6 cf. Bausinger, H.: Das Gebet in populärer Erbauungslit. In: Wiora, W. u. a. (edd.): Triviale Zonen in der religiösen Kunst des 19. Jh.s. Ffm. 1971, 158—178. - 7 cf. Järvinen, I.-R.: Transmission of Norms and Values in Finnish-Karelian Sacred Legends. In: Arv 37 (1981) 27-33. - 8 Lessing, G. E.: Abhdlgen über die Fabel. In: id.: G. W. 4. Lpz. 1854, 231-314, hier 234. - 'Sailer, J. M.: Die Weisheit auf der Gasse, oder Sinn und Geist dt. Sprichwörter. Augsburg 1810. Ausw. ed. D. Narr. Wiesbaden 1959, 43. — 10 Leino, P.: Morminrikkomus ja varoitustarinan maailmankuva (Vergehen gegen die N. und das Weltbild der Warnerzählung). In: Suomen antropologi 9 (1984) 165-175. 11 BP 4, 4. - 12 Von „Ökonomie der Wunscherfüllung" spricht Groth, P.: Die ethische Haltung des dt. Volksmärchens. (Diss. Greifswald) Lpz. 1930, 48. 13 cf. ζ. B. Doderer, K. (ed.): Über Märchen für Kinder von heute. Essays zu ihrem Wandel und zu ihrer Funktion. Weinheim/Basel 1983; KHM/Uther, Reg. s.v. Erziehung. - 14 cf. Bastian, U.: Die „Kinderund Hausmärchen" der Brüder Grimm in der lit.pädagogischen Diskussion des 19. und 20. Jh.s. Ffm. 1981. - 15 Moser-Rath, Schwank, 90. - 16 z. B. ibid., 118. - 17 cf. Schneider, I.: Geschichten über AIDS. Zum Verhältnis von Sage und Wirklichkeit. In: ÖZfVk. (1992) 11-27. - 18 cf. Lehmann, Α.: Rechtfertigungsgeschichten. In: Fabula 21 (1980) 56-69.

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- "Röhrich, L.: Die Moral des Unmoralischen. Zwischen Schwank und Exempel. In: Rhein. Jb. für Vk. 26 (1985-86) 209-219. - 20 Ranke, K : Schwank und Witz als Schwundstufe. In: Festschrift W.-E. Peuckert. Mü. 1955, 41-59. 21 Zitiert nach Leyen, F. von der/Schier, K.: Das Märchen. Heidelberg "1958, 106 und pass. - 22 cf. Moser, D.-R.: Christi. Märchen. Zur Geschichte, Sinngebung und Funktion einiger „Kinder- und Hausmärchen" der Brüder Grimm. In: Janning, J. u. a. (edd.): Gott im Märchen. Kassel 1981, 92-113, 174-178. - 23 Olrik, Α.: Epische Gesetze der Volksdichtung. In: ZfdA 51 (1909) 1 - 1 2 . - 24 ibid., 7. 25 cf. Bergmann, J. R.: Klatsch. Zur Sozialform der diskreten Indiskretion. B./N.Y. 1987. - 26 cf. Bausinger, H.: Lebendiges Erzählen. Studien über das Leben volkstümlichen Erzählguts auf Grund von Unters.en im nordöstl. Württemberg. Diss, (masch.) Tübingen 1952, 149. - 27 Degh, L.: Märchen, Erzähler und Erzählgemeinschaft. B. 1962, pass. — 28 Preußler, O.: Von den zwei Arten, Märchen zu erzählen. In: Lit. in Bayern 19 (1990) 17-21, hier 17; Röhrich, L.. Das Märchen und das Lachen. In: Kuhlmann, W./Röhrich, L. (edd.): Witz, Humor und Komik im Volksmärchen. Regensburg 1993, 23-44, hier 38 sq. Tübingen

H e r m a n n Bausinger

Normalform, Terminus der -> geogr.-hist. Methode. W. Anderson benutzte 1923 den Begriff N . f ü r die aus den ursprünglichen Z ü gen aller Var.n einer Volkserzählung zu erschließende F o r m , die der U r f o r m entspreche 1 . D e n Regelfall im Überlieferungsprozeß bildete f ü r ihn eine a u f g r u n d der -» Selbstberichtigung sich durch die Jh.e nicht verändernde N . einer Erzählung ( - • Kontinuität). D o c h sei es möglich, d a ß sich eine Abweichung v o n der N o r m durchsetze, weil sie vollk o m m e n e r sei, den Z u h ö r e r n besser gefalle etc., u n d d a ß diese A u s n a h m e zur Regel werde u n d somit zur Bildung einer bes. lokalen -> Redaktion führe. In seltenen Fällen, wie ζ. B. beim Schwank von Kaiser und Abt (AaTh 922), k ö n n e diese Abweichung wiederum das gesamte Verbreitungsgebiet eines Erzähltyps beeinflussen, d a n n stimme die N . der Erzählung nicht mehr mit ihrer U r f o r m überein. 1935, in seiner Auseinandersetzung mit A. -» Wesselski 2 über Probleme der Stabilität mündl. Überlieferung bzw. des Zerfalls einer Erzählung (-+ Zersägen, zersingen), beschrieb A n d e r s o n 3 die N . als festes, unveränderliches Z e n t r u m , u m welches alle -» Varianten einer

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Nornagest

Erzählung ,oszillierten'. Var.n, ob des 14. oder 20. Jh.s, wichen immer in dem einen oder anderen Punkt von der N. ab, ohne daß von einer Degeneration oder Evolution zu sprechen sei. Nur selten verschiebe sich das Oszillationszentrum, und „die neue Normalform stimmt mit der alten — bzw. der Urform — nicht mehr überein". Im Fall des Schwanke von Kaiser und Abt handle es sich um eine Evolution, um eine Verbesserung der N. einer Volkserzählung (cf. Zielform) 4 . In Andersons programmatischem HDM-Art. Geogr.-hist. Methode (ca 1938) ist von der N. kaum die Rede, im Vordergrund stehen die Termini Urform und Lokalredaktion 5 . 1926 bezeichnete K. Krohn 6 , obwohl er Andersons N.-Passagen ausführlich und zustimmend zitierte, die zu erstellende, alle Var.n umfassende Form einer Überlieferung nicht als N., sondern als -» Grundform, die sich ihrerseits aus N.en ableite. N.en sind für Krohn zeitlich wie räumlich begrenzt und jeweils aus den Var.n eines geogr. Gebiets zu bestimmen. So differiert der Gebrauch des Begriffs N. bereits bei zwei sich über die Methode einigen Gelehrten: Andersons N. korrespondiert mit Krohns Grundform sowie der Urform bzw. dem -» Archetypus (Kap. 2) einer Erzählung, Krohns N. findet ihre Entsprechung in Andersons lokaler Redaktion, dem durch C. W. von ->• Sydow geprägten Begriff Ökotyp und S. - Grimm behandelten sie ahistorisch, unabhängig von regionalen und sozialen Kontexten. In ihren Dt. Sagen kontaminierten sie die Legenden der hl. N. von Rattenberg und der hl. N. von Hochhausen 17 , indem sie die in ihrer regionalen Herkunft, sozialen Zuordnung und patronalen Zuständigkeit unterschiedlichen Heiligen zu einem Legendenkonstrukt montierten, das noch bis in die undifferenzierte N.-Darstellung des HDA nachwirkt 18 . Im späten 19. Jh. wurde das Sichelattribut als Beleg mythol. Kontinuität (-• Demeter, Freya, Holda [-• Frau Holle]) ausgedeutet 19 , aber auch energisch zurückgewiesen20. L. Schmidt hat am Beispiel der N.-Sichel den gewissermaßen strukturalistischen Ansatz seiner Gestaltheiligkeitstheorie präzisiert21. Die für die neuere Erzählforschung bezeichnenden kontextorientierten und diffusionsanalytischen Zugänge hat Moser am Beispiel der um die N.-Legende gruppierten gegenreformatorischen Liedtypen herausgearbeitet 22 . ' A S 31. Okt. (1883) 836-841; Reau, L.: Iconographie de l'art chretien 3,2. P. 1958, 996; LThK 7 (31998) 922. - 2 AS 26. Jan. (1643) 750 sq.; Stückel-

berg, Ε. Α.: St. N. Vidua, die Patronin der Mehrgeburten. In: SAVk. 12 (1908) 191-200; Schenda, R.: Wallfahrt. In: Scharfe, M. u. a. (edd.): Volksfrömmigkeit. Stg. 1967, 76-95, hier 89; Kult- und Andachtsstätten der Diözesen Freiburg, Fulda, Limburg, Mainz, Rottenburg-Stuttgart und Speyer, ed. B. Plück. Würzburg 1998, 36 (num. 1.038). - 3 Huffschmid, M.: Hochhausen am Neckar und die hl. N. In: Zs. für die Geschichte des Oberrheins N. F. 1 (1886) 385-401; Mattes, W.: Weibliches Wirken im unteren Neckartal. In: Württemberg. Jb. für Vk. 2 (1956) 15-18; Liebig, F.: Die N.sage, geschichtlich gesehen. In: Bad. Heimat 38 (1958) 159-170; Plück (wie not. 2) 52 (num. 1.107). - 4 AS 14. Sept. (1868) 709-768; Pfaundler, W.: St. N. Eine Heilige aus Tirol. Wien/Mü. 1962 (mit Lit.). - 5 ibid., 228; Grass, F.: Guarinonius, Hippolytus. In: LThK 4 (21960) 1261. - 6 Bachmann, H.: Die hist. Grundlagen der N.legende. Zum ma. Eigenkirchenwesen des Achenseegebietes. In: Tiroler Heimat 24 (1960) 5-49. 7 AS 14. Sept. (1868) 748. - 8 Moser, H.: Zwei N.Spiele aus dem bayer. Inntal. In: Beitr.e zur Heimatkunde des nordöstl. Tirol. Festschr. M. Mayer. Innsbruck 1954, 151-162. - 9 cf. die ausführliche Bibliogr. bei Pfaundler (wie not. 4) 282-300. - 10 wie not. 5. 11 Moser, D.-R.: Verkündigung durch Volksgesang. B. 1981, 235-243. - 12 AS 15. Mai (1680) 512-557; Moser (wie not. 11) 229-235. - 13 cf. Korff, G.: Heiligenverehrung und soziale Frage. In: Wiegelmann, G. (ed.): Kultureller Wandel im 19. Jh. Göttingen 1973, 102-111. - 14 Goerres, G.: Die Sichel der hl. Nothburga. In: Zingerle, I. V.: Sagen aus Tirol. Innsbruck 1850, 4 1 - 4 3 (Gedicht); Stolz, Α.: Legende oder der christl. Sternenhimmel 3. Fbg 51872, 381-386. - 15 N.-Kalender 1 - 6 1 . Donauwörth 1879-1939. - 1 6 N. Eine Freundin aller Dienenden 1-62. Donauwörth 1877-1939. - " G r i m m DS 351; cf. Liebig (wie not. 3); auch Grimm DS t. 1, p. 316. - 18 Sartori, P.: Ν., hl. In: HDA 6 (1934-35) 1137 sq. - 19 Simrock, K.: Hb. der Dt. Mythologie. Bonn 1887, 400; Buschan, G.: Altgerm. Überlieferungen in Kult und Brauchtum der Deutschen. Mü. 1936, 72. - 20 Steub, L.: Drei Sommer in Tirol 1. Mü. 31895, 144. 21 Schmidt, L.: Gestaltheiligkeit im bäuerlichen Arbeitsmythos. Studien zu den Ernteschnittgeräten und ihrer Stellung im europ. Volksglauben und Volksbrauch. Wien 1952, 151 sq. - 22 Moser (wie not. 11).

Tübingen

Gottfried Korff

Nothelfer -> Vierzehn Nothelfer Notker Balbulus ([N. der Stammler], Ν. I. von St. Gallen), * bei Jonschwil (bei St. Gallen) um 840, { St. Gallen 6. 4. 912, Dichter,

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Notker Balbulus

Gelehrter 1 . Die Bezeichnung Ν. I. dient der Unterscheidung von Ν. II. (N. der Arzt), einem St. Galler Hymnendichter (gest. 975), sowie von N. III. (N. Labeo, N. der Deutsche), dem Verf. von ahd. und lat. geistlichen und gelehrten Schriften (gest. 1022), der ebenfalls in St. Gallen wirkte und dessen Bedeutung vor allem auf dem Gebiet der Übers.sliteratur liegt. N., der Sproß eines grundherrlichen Adelsgeschlechts, kam, früh verwaist, aus der Obhut seines Ziehvaters ins aufblühende Benediktinerkloster St. Gallen. Zunächst war er Urkundenschreiber, Bibliothekar und Hospitar des Klosters, arbeitete dann aber auch als Dichter und Gelehrter sowie als Lehrer. Schon bei seinem Tod genoß er hohe Verehrung, wie die N.-Anekdoten bei Ekkehard IV. (Casus sancti Galli, 11. Jh.) bezeugen. Diese Tradition setzt sich in der legendarisch ausgeschmückten Lebensbeschreibung Vita Notkeri Balbuli (13. Jh.) und deren dt. Fassung (1522) fort 2 . Die früh einsetzenden Bemühungen um eine Kanonisierung, auf die wohl auch die lat. Vita abzielte, führten erst 1513 zur Seligsprechung des Autors. Der Beiname Balbulus erklärt sich durch N.s Sprachfehler, auf den er selbst mehrfach in seinen Werken ironisch anspielt3. Berühmt wurde N. vor allem durch sein epochemachendes, um 884 abgeschlossenes Hauptwerk Liber Ymnorum, eine Slg von Sequenzen, die sich als liturgische Chorgesänge zum Gebrauch für alle Sonntage des Kirchenjahres über ganz Europa ausbreiteten. Die von N. begründete Sequenzendichtung hatte auf das gesamte MA. prägenden Einfluß und wirkte selbst auf die weltliche Lyrik (etwa die sog. Leichs) ein. Diesem Werk verwandt sind die Lesehymnen De sancto Stephane (um 883; ->• Stephan, Hl.), die dem Schutzheiligen der Metzer Kathedrale gewidmet sind, und die in Form von Wechselgesängen gestaltete Gründungsgeschichte des Klosters St. Gallen, Metrum de vita sancti Galli (884/890). Weitere Schriften wie etwa Formulae (Formelbuch, 890), eine Briefmustersammlung von poetischem Anspruch und zum praktischen Gebrauch, die beiden theol. Lehrbriefe Notatio de viris illustribus (um 885), die zehn gereimten und sieben Prosa-Briefe an seine Schüler und Freunde (zwischen 879 und 890) sowie sein gelehrtes Heiligengedenkbuch Mar-

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tyrologium (nach 896) bezeugen seine literar. und pädagogischen Neigungen wie auch seinen geistlichen und pragmatischen Sachverstand. Das knappe Scherzepigramm Versus de fungo ist überdies ein Beleg für N.s humoristisches Talent. Das Scherzgedicht vom Wunschbock (Tres iuvenes frat res) wird ihm fälschlich zugeschrieben. Auch die Fabeln vom Kalb und Storch sowie vom Floh und Podagra (AaTh 282 A*: -» Fliege und Floh tauschen) stammen ebensowenig aus seiner Feder wie die Tiergeschichte vom kranken Löwen (AaTh 50: Der kranke Löwe), in der das Motiv vom Abtragen der Schuhe Verwendung findet4. In solchen Zuschreibungen, die bis ins 20. Jh. hineinreichen, schlägt sich eine N.-Rezeption nieder, die in dem Autor einen ,Hans Sachs des lat. MA.s' und einen Dichter von schalkhaftem Humor' 5 sah und die von der jüngeren Forschung revidiert worden ist. Für die europ. Erzähldichtung bedeutsam sind bes. N.s Gesta Karoli Magni Imperatoris (883/887)6. Diese ursprünglich auf drei Teile angelegte Geschichte über -+ Karl d. Gr., die u. a. die Karlsvita (835) von Einhard benutzt und ergänzt, ist nur fragmentarisch erhalten: Das Vorwort, der Schluß des zweiten und das ganze dritte Buch fehlen. Die Verf.schaft der (anonym überlieferten) Gesta Karoli wurde erst 1886 geklärt. Erkennbar ist N.s Bestreben, in eingestreuten anekdotischen Episoden und fabulierenden Berichten ein Bild Karls d. Gr. als Priester- und als Kriegerkönig, als Reformer und Politiker zu entwerfen, das fernab hist. Richtigkeit dem ma. Ideal eines -> Herrschers entspricht. Diesem Zweck dienen auch die unterhaltsamen Motive, die Parabeln und Humoresken, die den Gesta Karoli bei den Gelehrten bisweilen den schlechten Ruf eingetragen haben, bloßer ,Anekdotenklatsch' zu sein7, dem Werk aber neben erhöhter didaktischer Wirksamkeit zugleich eine sympathisch inoffizielle Note verleihen. Schwank- und sagenhafte Züge tragen folgende Erzählungen und Episoden8: 1,16 = Kaiser Karl demütigt einen eitlen Bischof dadurch, daß er ihn über einen geschäftstüchtigen Juden dazu verleitet, für eine einbalsamierte -» Maus, die der Händler als kostbares Kleinod ausgibt, einen hohen Preis zu zahlen. Später beschämt Karl den düpierten Bischof durch öffentlichen Tadel

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Nourry, Emile Dominique — Novalis

für dessen Verschwendungssucht. Die Anekdote ist der erste Beleg für das Auftreten des Juden als komische Person in der mittellat. Lit. in Mitteleuropa. — 1,20 = Ein schlauer Vasall erschleicht sich die Gunst seines hochmütigen Bischofs mit der schmeichelhaften Lügengeschichte, ein Fuchs, den er in Wahrheit mit Hunden gefangen hatte, habe sich dem Jäger ergeben, als dieser ihn im Namen des Bischofs dazu aufforderte (cf. Jägerlatein). — 1,23 = Ein geiziger Bischof, der während einer Hungersnot seine gehorteten Vorräte teuer verkauft, wird zum gerechten Ausgleich für solchen Wucher von einem Schrat, der in seinen Weinkeller einbricht, bestohlen und geschädigt. Der Spukgeist aber wird ertappt und öffentlich ausgepeitscht. - 1,24 = Der -» Teufel, der in den Gesta Karoli als Gegenspieler zahlreicher Figuren eine bedeutende Rolle spielt9, verwandelt sich hier in ein stattliches Maultier, das ein begehrlicher Bischof einem Armen für einen hohen Preis abhandelt. Als er auf ihm reitend einen Fluß durchqueren will, zieht der verwandelte Teufel den Bischof mit in einen tiefen Strudel. Nur mit Hilfe von Soldaten und Fischern kann der Blamierte sich retten. - 2,6 = Ein fränk. Gesandter verstößt am byzant. Hof bei Tisch gegen das Gesetz, daß der servierte Fisch nicht umgewendet werden dürfe. Wegen dieses Vergehens zum Tode verurteilt, äußert er als letzten -> Wunsch (AaTh 927 A; letzte -> Gnade), daß alle Augenzeugen seiner Tat geblendet werden mögen. Daraufhin mag ihn keiner der Anwesenden mehr beschuldigen. Das Motiv, das bei N. erstmals auftritt, kehrt u. a. in den -> Gesta Romanorum, bei dem engl. Kleriker Alexander Neckam und in der ist. Mägus-Saga wieder10. — 2,12 = Die Figur des riesenhaften Thurgauer Eishere taucht bei den Brüdern -» Grimm (cf. Grimm DS 18) auf, und auch die Erzählung vom eisernen Karl (2,17) zeigt die Neigung zu sagenhafter Verklärung des Kaisers (cf. Grimm DS 447). ' Steinen, W. von den: N., der Dichter und seine geistige Welt. Bern 1948; Langosch, K.: Profile des lat. MA.s. Geschichtliche Bilder aus dem europ. Geistesleben. Darmstadt 1965, 137-180; Haefele, H. F.: Ν. I. von St. Gallen. In: Verflex. 6 (21987) 1187-1210; Vollmann, Β. Κ.: Ν. B. In: Killy, W. (ed.): Lit. Lex. 8. Mü. 1990, 456-466; Ochsenbein, P./Schmuki, K.: Die Notkere im Kloster St. Gallen. St. Gallen 1992. - 2 cf. Stotz, P.: Ν. Β. In: Verflex. 6 (21987) 1185 sq. - 3 Belege bei von den Steinen (wie not. 1) 519 sq. — 4 N.s Verf.schaft für diesen Text verfechten (ohne Zustimmung in der übrigen Forschung) Kaczynski, B. N./Westra, H. J.: Aesop in the Middle Ages. The Transmission of the Sick Lion Fable and the Authorship of the St. Gall Version. In: Mittellat. Jb. 17 (1982) 31-38. - 5 Reich, H.: Zur Einführung in die dt. Dichter des lat. MA.s. In: Winterfeld, P. von (ed.): Dt. Dichter des lat. MA.s in dt. Versen. Mü. 1922, 94; von den Steinen (wie not. 1) 499 sq. - 6 Gesta Karoli Magni Imperatoris. ed. H. F. Haefele (MGH SS, N. S. 12). B. 1959 (21980); Brügmann, K.: Die Geschichte von Karl d. Gr. Lpz.

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1914. - 7 cf. Siegrist, T.: Herrscherbild und Weltsicht bei Ν. B. Unters.en zu den Gesta Karoli Magni. Zürich 1963, 7 - 2 2 . - 8 cf. Koegel, R.: Geschichte der dt. Litteratur bis zum Ausgange des MA.s 1,2. Straßburg 1897, 245-251. - «Haefele, H. F.: Teufel und Dämon in den Gesta Karoli. In: SAVk. 50 (1954) 5-20; Goetz, H.-W.: Strukturen der spätkarolingischen Epoche im Spiegel der Vorstellungen eines zeitgenössischen Mönchs. Eine Interpretation der „Gesta Karoli" N.s von St. Gallen. Bonn 1981, 62-69. - 10 cf. Schneider, J.: Die Geschichte vom gewendeten Fisch. Beobachtungen zur mittellat. Tradition eines literar. Motivs. In: Festschr. B. Bischoff. Stg. 1971, 218-225. Chemnitz

Rüdiger K r o h n

Nourry, Emile Dominique -> Saintyves, Pierre

Novalis (seit 1797 Dichtername des G e o r g Philipp Friedrich Freiherr von Hardenberg), *Oberwiederstedt bei Mansfeld 2 . 5 . 1772, t Weißenfels 2 5 . 3 . 1 8 0 1 , dt. Dichter der R o m a n t i k 1 ; Sohn eines Gutsbesitzers und Salinendirektors; pietistische Erziehung durch die Mutter; 1790 Studium in Jena (u. a. bei Schiller), 1791 Rechtsstudium in Leipzig und Wittenberg, seit 1796 Salinenauditor, 1797 Stud i u m an der Bergakademie in Freiberg, 1799 Salinenassessor in Weißenfels, ab 1800 Amtsh a u p t m a n n , etwa gleichzeitig Ausbruch seiner tödlichen Schwindsucht. Neben Begegnungen u n d engsten persönlichen und künstlerischen Verbindungen mit den dt. Schriftstellern der F r ü h r o m a n t i k (u. a. den Brüdern August Wilhelm u n d Friedrich Schlegel sowie Ludwig -> Tieck) prägten die Verlobung mit der 13jährigen Sophie von K ü h n und deren Tod (1797) seine Biogr. (Todesmystik u n d -sehnsucht, trotz erneuter Verlobung 1798) u n d seine Dichtung nachhaltig ( H y m n e n an die Nacht, entstanden seit 1797; die Fassung in freirhythmischer Prosa erschien 1800 in der von den Brüdern Schlegel ed. Zs. Athenaeum)2. D u r c h Krankheit und f r ü h e n Tod, aber auch im Gefolge der romantischen -» Fragmententheorie blieben viele Werke von N . unvollendet und erschienen bis auf einige Gedichte und Fragmente 3 erst p o s t h u m (ζ. T. von Tieck geordnet u n d ergänzt), ζ. B. die R o m a n e Heinrich von Ofterdingen (B. 1802) und Die

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Novalis

Lehrlinge zu Sais (B. 1802) sowie der Essay Die Christenheit oder Europa (B. 1826). N.' Werk ist trotz ausgeprägter Neigung zu romantischem Universalismus und phil. Irrationalismus zugleich auch durch realistische Natur- und Staatslehren bestimmt. Die genuine Vermischung und Vertauschung der Traum-, Phantasie- und Märchenwelten mit der Vorstellung sozialer und psychol. Gegebenheiten (.magischer Idealismus') 4 in einer hochromantischen, melodiösen Sprachgebung machen ihn zum bedeutendsten Dichter der Frühromantik, deren Dichtungen und Lit.theorie er nachhaltig bestimmte. Theoretisch wie praktisch hat sich kein Romantiker so dezidiert mit dem Märchen befaßt und es zugleich so hoch eingeschätzt wie N. - biogr.: „Im Märchen glaub ich am besten meine Gemütsstimmung ausdrücken zu können"; poetologisch: „Das Märchen ist gleichsam der Kanon der Poesie - alles poetische muß märchenhaft sein"; „Alle Romane, wo wahre Liebe vorkommt, sind Märchen - magische Begebenheiten"; „In einem echten Märchen muß alles wunderbar - geheimnisvoll und unzusammenhängend sein — alles belebt [...]. Die ganze Natur muß auf eine wunderliche Art mit der ganzen Geisterwelt vermischt sein"; phil.: „Der echte Märchendichter ist ein Seher der Zukunft"; „Märchen [...] - die Zeit der allgemeinen Anarchie - der Gesetzlosigkeit - Freiheit - der Naturstand der Natur [...]. Diese Zeit vor der Welt liefert gleichsam die zerstreuten Züge der Zeit nach der Welt [...] die durchaus entgegengesetzte Welt der Welt der Wahrheit (Geschichte) — und eben darum ihr so durchaus ähnlich, wie das Chaos der vollendeten Schöpfung." 5 N. bestimmt in seiner romantisch-triadischen Denkstruktur die Rolle des Märchens in der Gegenwart einerseits als Zeugnis des ursprünglichen, vorgeschichtlichen Chaos (bes. in der Gestalt des Volksmärchens) und andererseits als Prophetie des künftigen geordneten Chaos nach der Zeit (bes. in der Form des -> Kunstmärchens) 6 . Zugleich betont er die Nähe oder gar die Identität von Märchen und -• Traum 7 . Im Ofterdingen-Roman wird das nachmalige Symbol der Romantik, die wunderwirkende blaue Blume, zunächst im Traum geschaut, ehe sie nach einer märchenhaften und den Romanhelden isolierenden Suchwanderung gefunden wird (analog zu Johann Heinrich ->• Jung-Stillings Märchen Jorinde und Joringel [AaTh 405]).

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Die drei Kunstmärchen des N . sind sämtlich abgeschlossene Binnenerzählungen innerhalb seiner fragmentarischen Romane 8 : Thema des Sa/s-Romans ist Natur- und Selbsterkenntnis, zu der sich die Lehrlinge wechselseitig in Gesprächen anleiten; dabei wird das Märchen Hyazinth und Rosenblüte erzählt. Der Märchenheld, dessen Name auf den gleichnamigen ätiologischen Mythos und damit auf Apollo als Repräsentant der Kunstsphäre verweist9, lebte kindlich vorbewußt in Einklang mit sich, den Eltern und der Geliebten (die gemäß ihrem Namen auch die Sphäre der Natur repräsentiert). Ein zauberkundiger Mann erweckt in ihm unbestimmte Sehnsucht und Unruhe; eine alte Frau weist ihm die Richtung nach Sais, dem Ort der Weisheitsmysterien. Auf seiner Suchwanderung erfahrt er die zunächst entfremdete Natur zunehmend märchenhaft vertrauter. Im Traum entschleiert er das Bild der Göttin und erkennt in ihr Rosenblüte: Er hat das Geheimnis der Natur aufgefaßt, die Geliebte und sich selbst in Form einer Spiralbewegung auf einer höheren Ebene wiedergefunden; in eins damit gehen Kunst und Natur die innigste Verbindung ein. N. nimmt die Volksmärchenstrukturen und -elemente durchweg ernst, auch wenn er sie zuweilen milde ironisiert10. Nur in dieser Form schien es ihm möglich, das romantische Thema der „wunderbare^] Identität von Suchendem und Gesuchtem" zu gestalten11. Der Held im Märchen von Atlantis (Ofterdingen 1,3) ist Naturkundler, die von ihm geliebte Prinzessin Künstlerin. Beide und beider Fähigkeiten gehen eine Symbiose ein: Der Jüngling kann nun als Naturdichter von der Herrlichkeit des vorzeitlichen Atlantis und dessen einstiger Wiederkehr singen. Er wird Thronfolger im Sinn einer .naiven' Märchenmoral (-ι· Naivität), aber auch des N.schen Kunstmärchenverständnisses von der Rolle der Kunst in der Gesellschaft. Eros und Fabel (Oferdingen 1,9) wird vom sagenhaften ma. -«• Zauberer und Sänger Klingsor erzählt. Umfassend sind mythol., märchenhafte und naturwiss. Figuren und Elemente in Verbindung gebracht. An -> Goethes Mährchen (1795) angelehnt, aber konsequent allegorisch aufgefaßt, läßt N. Eros (Liebe) und Fabel (Poesie) die in Selbstsucht erstarrte Welt zu einer harmonischen und friedvollen erlösen12. Wie dieses mannigfach bedeutsame Märchen den Schluß des ersten Romanteils bildet, so sollte der ganze Roman schließlich in ein Märchen münden denn „alles poetische muß märchenhaft sein"13. 1 Allg. cf. Kurzke, Η.: N. Mü. 1988, 108-112; Uerlings, H.: Friedrich von Hardenberg, genannt N. Werk und Forschung. Stg. 1991; Mayer, M./Tismar, J.: Kunstmärchen. Stg./Weimar 31997, 70 sq. — 2 Athenaeum 3 (1800) 188-204. - 3 cf. ibid. 1 (1798) 70-106. — 4 Albrecht, L.: Der magische Idealismus in N.' Märchentheorie und Dichtung. Diss, (masch.) Marburg 1948. — 5 Fragmente (v. Ausg.n) num.

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Novellat - Novelle

1459-1464. - 6 cf. Benz, R.: Märchen-Dichtung der Romantiker. Gotha 1908, 92-94; Rehle, Α.: Märchen und Wirklichkeit bei N. In: DVLG 19 (1941) 70-110; Thalmann, M.: Das Märchen und die Moderne. Stg. 1961, 17-34; Fink, G.-L.: Naissance et apogee du conte merveilleux en Allemagne, 1740-1800. P. 1966, pass.; Lewis, L. J.: Fairy Tale Elements in N.' „Kunstmärchen". In: Folklore Internat. Festschr. W.D.Hand. Hatboro, Penn. 1967, 131-138; N. ed. H.-J. Mähl. Passau 1976, 170-175; Wührl, P.-W.: Das dt. Kunstmärchen. Heidelberg 1984, 72-74, 106-111; Klotz, V.: Das europ. Kunstmärchen. Stg. 1985, 138-148. - 7 Mayer/Tismar (wie not. 1) 66. — 8 Nur das „Hyazinth"- und das „Atlantis"-Märchen erschienen häufig selbständig in Anthologien, cf. ζ. B. Zauberei im Herbst, ed. H.-H. Ewers. Stg. 1987, 162-166, 172-189. - 9 cf. Ovid, Metamorphosen, Kap. 10. - 10 cf. Kniep, C.: Gans - Bach — Stein. Zu einem Satz in N.' „Die Lehrlinge zu Sais". In: Wirkendes Wort 34 (1984) 409 sq. 11 Mayer/Tismar (wie not. 1) 67. — 12 cf. Schuhmacher, H.: Narziß an der Quelle. Wiesbaden 1977, 13—35. — 13 Fragmente (v. Ausg.n) num. 1464.

Ausg.η: Ν.: Werke 1 - 4 . ed. J.Minor. Jena 1907 (81923). - N.: Werke. Hist.-kritische Ausg. 1 - 4 . ed. P. Kluckhohn/R. Samuel. Lpz. 1929. - N.: Fragmente 1. ed. E. Wasmuth. Heidelberg 1957. - N.: Sehr. 1 sqq. ed. R. Samuel u. a. Darmstadt 21960 sqq.

Wuppertal

Heinz Rölleke

Novellat, von C. W. von Sydow 1937 eingeführter Begriff, formal nach dem Muster von Fabulat, Memorat etc. gebildet1. Von Sydow entwickelte sein selbstgeprägtes Gattungssystem immer weiter, und daher kann dieselbe Kategorie bei ihm unter verschiedenen Begriffen auftreten. Für N. legte er nie eine stringente Definition vor. Er verwendete den Terminus im Zusammenhang mit seiner Behandlung semit. -> Novellenmärchen2. Seinen Schülern L. Bodker und J.-Ö. Swahn zufolge hat von Sydow nicht zwischen N. und Novellenmärchen unterschieden. In den von Bodker herausgegebenen Studien von Sydows steht N. für Novellenmärchen und schwed. novellsaga3. In seinem terminologischen Wb. definierte Bedker N. ebenso als „an international equivalent to novellenmärchen and novellsaga"4. In der internat. Erzählforschung hat der Begriff ansonsten nie eine Rolle gespielt.

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1 Sydow, C. W. von: Popular Prose Traditions and Their Classification. In: Saga och sed (1938) 17—32, hier 18 (= von Sydow, 127-145). - 2 id.: Das Volksmärchen unter ethnischem Gesichtspunkt. In: FeilStribinn Eöin Mic Neill. Dublin 1940, 567-580, hier 569 (= von Sydow, 220-242, hier 223). - 3 id.: Kategorien der Prosa-Volksdichtung. In: Volkskundliche Gaben. Festschr. J. Meier. B./Lpz. 1934, 253-268 (= von Sydow, 60-88, hier 86); id.: On the Spread of Tradition. In: von Sydow, 11-43, hier 20. - 4 Bedker, L.: Internat. Diet, of Regional European Ethnology and Folklore. Kop. 1965, 216.

Bergen

Reimund Kvideland

Novelle, ital. novella (Neuigkeit, [neue] Nachricht; dann auch [mündl. oder schriftl.] Erzählung) wird erstmals in -> Boccaccios Decamerone als Bezeichnung für eine literar. Gattung verwendet. Die N. der Renaissance von älteren Formen novellistischen Erzählens (->• Novellistik) abzugrenzen fällt schwer, da Boccaccio zahlreiche Schwänke, Exempla, Legenden etc. ma. Quellen nacherzählt; man hat grundlegende Unterschiede der Figurenkonzeption (selbstverantwortetes Handeln gegenüber Orientierung an allg.verbindlichen Normen in den ma. Versionen; komplexere Charaktere) und Handlungsführung zu erweisen versucht1, die jedoch näherer Überprüfung nicht standhalten 2 . Distinktives Merkmal der Renaissance-N. scheint die Problematisierung des Exemplarischen3 zu sein: Während sich im Exemplum eine allg. Regel konkretisiert, verweisen die N.n auf Ausnahmen, die freilich ihrerseits (konkurrierenden) Regeln folgen. Wenn eine N. den Konflikt zweier -» Normsysteme zum Gegenstand hat, rückt sie in die Nähe des Kasus 4 . W. Pötters 5 glaubt jede N. auf eine syntaktische Struktur aus zwei ineinandergeschachtelten Konzessiv- bzw. Kausalsatzgefügen zurückführen zu können: Das Geschehen ist ,neu', weil es der Alltagserfahrung widerspricht, aber dennoch schlüssig motiviert. Gewöhnlich gewinnt man die Gunst eines anderen nicht dadurch, daß man ihm eine Bitte abschlägt; in Boccaccios Falkennovelle {Decamerone 5,9; Mot. Ν 345) aber kann Federigo der Dame, um die er lange vergeblich geworben hat, seinen kostbaren Falken nicht geben, denn er hat ihn geschlachtet, um sie bewirten zu können. Obwohl er ihren Wunsch nicht erfüllt, heiratet ihn die Dame wenig spä-

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Novelle

ter, weil er ihr dadurch, daß er den Falken, seine letzte Habe, opferte, einen unwiderlegbaren Beweis seiner Liebe gegeben hat 6 . Das Verhältnis von Regel und Ausnahme wird sicher nicht in jeder N. der Renaissance thematisiert (und umgekehrt lassen sich auch zahlreiche ma. Kurzerzählungen, ζ. B. Schwänke, in einem Gefüge aus Konzessivund Kausalsatz zusammenfassen). Freilich existiert die N. bis ins 17. Jh. nicht als Einzeltext, sondern nur als Bestandteil einer Slg (des ,Novellarium')7. Die Verbindlichkeit der Regeln, die sich aus den N.n des Decamerone ableiten lassen, wird häufig durch Gegengeschichten relativiert, die aus einer vergleichbaren Ausgangssituation ein diametral entgegengesetztes Resultat entwickeln8; zwar lassen sich Bedingungen angeben, unter denen diese oder jene Regel gilt, aber es bleibt ein Rest des Zufalligen, den die frühe Neuzeit in der Figur der Fortuna personifiziert. Die Rahmenfiktion (-> Rahmenerzählung) bietet die Möglichkeit, auch den Akt des Erzählens zu problematisieren: Ob Boccaccios fiktive Erzähler den Sinn ihrer eigenen Geschichten vollständig erfassen, ob ihre Urteile über die handelnden Figuren immer zutreffend sind, scheint zumindest zweifelhaft9. Mit dem Decamerone hat Boccaccio ein Modell geschaffen, dessen Komplexität von späteren Autoren nur selten erkannt und nachgeahmt worden ist. In Slgen des 15. und 16. Jh.s dient die Rahmenerzählung gewöhnlich nur dazu, die Illusion mündl. Kommunikation zu erzeugen (deshalb kann sie, wie in den Cent nouvelles nouvelles, zur bloßen Nennung von ,Erzählern' schrumpfen) 10 . Für sich betrachtet scheinen viele N.n darauf angelegt, eine exemplarische Lehre zu verdeutlichen; da sich jedoch aus anderen N.n derselben Slg eine gegenteilige Aussage ableiten läßt, ist es wie im Decamerone dem Leser aufgegeben, nach den Bedingungen für die Anwendbarkeit der einen oder der anderen Regel zu suchen. Zumindest ein Teil der Widersprüche kommt dabei durch die Heterogenität der benutzten Quellen, unabhängig von der Autorintention, zustande; deshalb vermitteln auch Slgen, die kein anderes Ziel verfolgen, als das Publikum zu unterhalten, das Bild einer kontingenten (bzw. von konkurrierenden Normen bestimmten) Welt. Wie das Exemplum ist auch die N. ,Konservie-

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rungs- und Transportform' 11 für Stoffe unterschiedlicher Herkunft (aus mündl. wie schriftl., antiken, ma., europ. wie oriental. Quellen) und Gattungszugehörigkeit. Noch vor Boccaccio entstand der ital. -> Novellino als Slg kurzer Geschichten, die meist in einer schlagfertigen Antwort gipfeln und so auf die Fazetie vorausweisen. Von Florenz aus verbreitete sich (spätestens seit Franco -> Sacchetti) die beffa als ital. Sonderform der Schwanknovelle; sie handelt von einem originellen Streich, den ein mehr oder weniger prominenter Zeitgenosse einem anderen gespielt hat. Der Typus der unglücklich endenden Liebesgeschichte, der schon bei Boccaccio und später ζ. B. bei Matteo Bandello häufig ist, erscheint im Frankreich des 16. Jh.s als histoire tragique, mit den beiden Spielarten der (tragischen) Liebes- und der Rachenovellen (cf. Mordgeschichten)12. Den genannten N.nformen scheint das Merkmal des .Realismus' (verstanden als Abwesenheit wunderbarer Elemente) gemeinsam zu sein; dagegen finden sich in der Slg -» Straparolas bereits etliche Zaubermärchen, Basile behandelte später überwiegend Märchenstoffe. Die produktive Rezeption der ital. Muster in anderen europ. Ländern bewirkt eine weitere AusdifFerenzierung: So verbindet Cervantes in den Novelas ejemplares exemplarische' Intention mit psychol. Vertiefung; in Frankreich knüpft Marguerite de Navarre explizit an das Vorbild Boccaccios an; in Deutschland sind Schwänke und Anekdoten beliebter als tragische Liebesnovellen. Alle diese Beobachtungen lassen es geraten scheinen, die Renaissancenovelle nicht als Gattung, sondern als ,Inszenierungstyp' 13 zu betrachten. Das 17. Jh. markiert die „große Wende" 14 in der Geschichte der Gattung: N.n werden nicht länger als Teile der größeren Einheit des ,Novellariums' aufgefaßt, es wird möglich, Einzelnovellen zu schreiben und zu veröffentlichen 15 . Indem La Fontaine die Quellen seiner Versnovellen (Boccaccio, Ariosto etc.) ausdrücklich nennt, beläßt er jedem Stück seine Eigenständigkeit; die einzelnen Contes et nouvelles erhellen und relativieren sich nicht mehr wechselseitig. Der Titel verweist auf eine terminologische Unklarheit: Im Französischen werden conte und nouvelle unterschiedslos gebraucht 16 . Im Spanischen17 und Englischen

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Novelle

bedeutet novel(a) .Roman', so daß der Terminus als Bezeichnung für eine kurze Erzählform nicht zur Verfügung steht. Im Endeffekt erweist es sich als unmöglich, zwischen N. und Erzählung bzw. (im 20. Jh.) short story, Kurzgeschichte etc. scharf zu trennen 18 . Seit dem 17. Jh. bildete sich in den europ. Lit.en eine Vielzahl von N.nformen heraus, vom conte philosophique Voltaires und der Aufklärer bis zur phantastischen N. von Ε. Τ. A. -»• Hoffmann und seinen (ζ. B. frz.) Nachahmern und zu den unterschiedlichen Spielarten psychol. N.n (von Madame de La Fayette bis Thomas Mann, von Guy de Maupassant bis Luigi Pirandello). Im dt. Sprachraum nahm das Interesse an der N. erst seit ca 1760 zu19; für das 19. Jh. sind hier (neben den Werken bedeutender N.ndichter von Heinrich von Kleist bis Gottfried Keller und Conrad Ferdinand Meyer) gewichtige Beiträge zur Theorie der N. 20 zu verzeichnen. Auf allg. Zustimmung kann am ehesten -• Goethes berühmter Definitionsvorschlag „was ist eine Novelle anders als eine sich ereignete unerhörte Begebenheit"21 rechnen: Wer eine Gattung N. von benachbarten Erzählformen abgrenzen will, wird in der Tat beim „Vorrang des Ereignisses vor den Personen und Dingen" 22 (= Begebenheit) und bei der Neuheit (= unerhört) des als wahr erzählten (= sich ereignet) Vorfalls anzusetzen haben 23 . Dagegen erheben konkretere Versuche, das Wesen der N. idealtypisch zu beschreiben, jeweils Merkmale nur eines hist, faßbaren N.ntypus zur Norm und werden daher der Vielfalt ihrer Erscheinungsformen nicht gerecht; das gilt für die Definition A. W. Schlegels („Die Novelle bedarf entscheidender Wendepunkte, so daß die Hauptmasse der Geschichte deutlich in die Augen falle" 24 ) wie für P. Heyses aus der Falkennovelle Boccaccios abgeleitete Forderung, jede N. müsse einen ,Falken' als „das Specifische, das diese Geschichte von tausend anderen unterscheidet" 25 , haben. Im übrigen bestätigt die Art, wie dt. und europ. Autoren des 19. und 20. Jh.s die Gattungsbezeichnung N. gebrauchen, eindrucksvoll die These von W. Pabst, daß es nicht ,die' N., sondern nur N.n gibt26. Der Verwendung des Begriffs N. im Internat. Typenkatalog (AaTh 850-999: Novelle [Romantic Tales]) liegt keine konsistente Gat-

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tungsdefinition zugrunde (-+ N.nmärchen). Der Abschnitt erscheint nach E. Yassif als „a kind of miscellaneous storage section for tales which did not fit in anywhere else"27; zwischen Untergruppen wie The Princess's Hand is Won (AaTh 850-869), The Good Precepts (AaTh 910-915) und Robbers and Murderers (AaTh 950-969) sind weder thematische noch strukturelle Gemeinsamkeiten auszumachen. Übereinstimmungen dürften (wenn überhaupt) eher die allg. Tendenz zum Romanesken als eine spezifisch novellistische Erzählweise betreffen: Gleichgültig, ob die Geschichten von Brautwerbung, Ehe, Treueproben etc. (AaTh 850—909) oder von guten Ratschlägen, klugen Einfällen, schicksalhaften Ereignissen etc. handeln (AaTh 910-949), sie bestehen häufig28 aus mehreren Episoden, in denen der Protagonist sowohl höchstes Glück wie schlimmstes Unglück erfahrt (daß ein Abschnitt Robbers and Murderers [AaTh 950—969] angeschlossen wird, läßt sich kaum anders als durch die auch hier dominierende Episodenstruktur rechtfertigen, cf. AaTh 950: Rhampsinit). Yassif^9 hat versucht, die N. als volkstümliche Erzählgattung gegen das Märchen abzugrenzen; als ihre distinktiven Merkmale nennt er (1) realistische Atmosphäre; (2) komplexe, bewußt stilisierte Struktur; (3) Inhalt: Geschichten von Liebe und/oder Klugheit und Witz; (4) unterhaltende Funktion. Ob die Trennschärfe der Kriterien ausreicht, um eine eigene Gattung zu konstituieren, scheint fraglich; so hätte die populäre Ν. ζ. B. die Merkmale (1), (3), (4) mit dem ->• Schwank gemeinsam, eine Unterscheidung dieser Gattungen nach der Komplexität der Handlungsstruktur (2) ist aber schon deshalb problematisch, weil sich Komplexität nicht quantifizieren läßt. Überschneidungen ergäben sich auch mit anderen Gattungen wie ζ. B. der -»• Sage. Es scheint sinnvoller, als N.n wie in der frühen Neuzeit ausschließlich die Teile eines Zyklus von (kürzeren) Erzählungen zu bezeichnen; die großenteils nichtzyklischen N.n des 19. und 20. Jh.s unterscheiden sich trotz mancher Gemeinsamkeiten so stark von den älteren Formen, daß man besser von einer neuen Gattung (gleichen Namens) sprechen sollte. 1 cf. Neuschäfer, H.-J.: Boccaccio und der Beginn der N. Strukturen der Kurzerzählung auf der Schwelle zwischen MA. und Neuzeit. Mü. 1969. - 2 cf.

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Novellenmärchen

Heinzle, J.: Boccaccio und die Tradition der N. In: Wolfram-Studien 5 (1979) 41-62; id.: Vom MA. zur Neuzeit? Weiteres zum Thema ,Boccaccio und die Tradition der N.' In: Festschr. W. Haug/B. Wachinger 2. Tübingen 1992, 661-670; Küpper, J.: Affichierte ,Exemplarität', tatsächliche A-Systematik. Boccaccios „Decameron" und die Episteme der Renaissance. In: Hempfer, K. W. (ed.): Renaissance. Diskursstrukturen und epistemologische Voraussetzungen. Stg. 1993, 47-93, hier 47 sq. - 3 cf. Stierle, K.: Geschichte als Exemplum - Exemplum als Geschichte. Zur Pragmatik und Poetik narrativer Texte. In: Koselleck, R./Stempel, W.-D. (edd.): Geschichte — Ereignis und Erzählung. Mü. 1973, 347-375, hier 362-365. - 4 cf. ibid. - 5 Pötters, W.: Begriff und Struktur der N. Linguistische Betrachtungen zu Boccaccios „Falken". Tübingen 1991, 33—37. — 6 cf. ibid., 68 (anders akzentuiert). — 7 cf. Wehle, W.: N.nerzählen. Frz. Renaissancenovellistik als Diskurs. Mü. 21984, 88-109. - 8 cf. Küpper (wie not. 2) 69-77. — 9 cf. Gier, Α.: Narrator in fabula. Boccaccio, Gualtieri und Ser Cepparello. In: Ital. Studien 15 (1994) 57-71. - 10 cf. Jeay, M.: Donner la Parole. L'histoire-cadre dans les recueils de nouvelles des XV e -XVI e siecles. Montreal 1992, 86-100. "Gerhardt, C.: Die Metamorphosen des Pelikans. Exemplum und Auslegung in ma. Lit. Ffm./Bern/Las Vegas 1979, 108; cf. EM 4, 638. - 12 cf. Blüher, Κ. Α.: Die frz. N. Tübingen 1985, 54-61 (Der histoire tragique stellt Blüher Schwank-, Fazetien-und Problemnovellen gegenüber); Wehle (wie not. 7) 29 - 4 4 (unterscheidet zwischen contes joyeux und histoires courtoises). — 13 cf. Kuhn, H.: Entwürfe zu einer Lit.systematik des SpätMA.s. Tübingen 1980, 85. - 14 cf. Pabst, W.: N.ntheorie und N.ndichtung. Heidelberg (1953) 21967, 246. - 15 In Frankreich datiert die erste Einzelpubl. einer N. von 1658, cf. Blüher (wie not. 12) 89. - 16 cf. Pabst (wie not. 14) 234. — 17 cf. Krauss, W.: Novela - novella - Roman. In: id.: Gesammelte Aufsätze zur Lit. und Sprachwiss. Ffm. 1949, 50-67. - 18 cf. Wiese, B. von: N. Stg. (1963) 71978, 81-83. - 19 cf. ibid., 1. - 20 cf. LoCicero, D.: N.ntheorie. The Practicality of the Theoretical. The Hague/P. 1970. 21 Gespräch mit Eckermann am 25. 1. 1827, abgedruckt in Kunz, J.: Ν. Darmstadt 1973, 34. - 22 von Wiese (wie not. 18) 5. - 23 cf. ibid., 5 sq.; Aust, H.: N. Stg. 1980, 10-15. - 24 Schlegel, H. W.: Vorlesungen über Schöne Lit. und Kunst [1803/1804], abgedruckt bei Kunz (wie not. 21) 47; ähnlich auch Ludwig Tieck, cf. ibid., 53-55; kritisch dazu ζ. B. von Wiese (wie not. 18) 15. - 25 Heyse, P.: Einl. zu Dt. N.schatz [1871], abgedruckt bei Kunz (wie not. 21) 68; kritisch dazu von Wiese (wie not. 18) 17 sq. 26 Pabst (wie not. 14) 245. - 27Yassif, E.: The Novella as an Ethnopoetic Genre. In: Papers 2. The 8th Congress for the Internat. Soc. for Folk Narrative Research, ed. R. Kvideland/T. Selberg. Bergen, June 12th-17th 1984. Bergen 1984, 283-289, hier 284. 28 Unter den .Novellen' sind freilich auch verhältnis-

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mäßig einfach strukturierte Schwankerzählungen (ζ. B. AaTh 859: Prahlerei des Freiers) oder Exempla (ζ. B. AaTh 893: Freundesprobe). - 29 cf. Yassif (wie not. 27) 286. Lit.: Auerbach, E.: Zur Technik der Frührenaissancenovelle in Italien und Frankreich. Heidelberg 1921 [21971], - Malmede, Η. H.: Wege zur N. Theorie und Interpretation der Gattung N. in der dt. Lit.wiss. Stg. 1966. - Pohlheim, Κ. K.: Theorie und Kritik der dt. N. von Wieland bis Musil. Tübingen 1969. — Brockmeier, P.: Lust und Herrschaft. Studien über gesellschaftliche Aspekte der Novellistik. Stg. 1972. - Krömer, W.: Kurzerzählungen und N.n in den rom. Lit.en bis 1700. B. 1973. - Eitel, W. (ed.): Die rom. N. Darmstadt 1977. - Wetzel, Η. Η.: Die rom. Ν. bis Cervantes. Stg. 1977. — Degering, T.: Kurze Geschichte der N. Von Boccaccio bis zur Gegenwart. Mü. 1994. - Bessiere, J./Daros, P. (edd.): La Nouvelle. Boccace, Marguerite de Navarre, Cervantes. P. 1996. Bamberg

Albert Gier

Novellenmärchen, eine der Untergattungen des Märchens, im internat. Typenkatalog erfaßt unter A a T h 8 5 0 - 9 9 9 : Novelle (Romantic Tales). Bestimmende M e r k m a l e gegenüber dem -+ Z a u b e r m ä r c h e n sind das weitgehende Fehlen von Zauber- u n d Wundermotiven und stärkere Wirklichkeitsbezüge sowie eine weniger strenge Strukturierung 1 ; an die Stelle der übernatürlichen Helfer u n d der Zaubergaben treten weise Ratgeber oder eigene Klugheit, Zufall oder F ü g u n g des -> Schicksals. Eine genaue Festlegung der Grenze zwischen beiden G a t t u n g e n ist allerdings k a u m möglich 2 . Dies h ä n g t wohl auch zusammen mit der entwirklichenden Stilisierung, die nach M . Lüthi das N . trotz realistischer Details mit dem Z a u b e r m ä r c h e n verbindet 3 . Auf den Unterschied zwischen wirklichkeitsnahen .Novellen' u n d rein fiktiven Amm e n m ä r c h e n hatte schon Charles -> Perrault (am Beispiel von A a T h 1510: Witwe von Ephesus u n d A a T h 887: Griseldis gegenüber A a T h 425: -· Cinderella) im Vorwort seiner Contes hingewiesen 4 . A. -»• Aarne sprach 1910 im ersten internat. Typenverzeichnis von .novellenartigen Märchen' 5 ; bei C. W. v o n -* Sydow findet sich d a n n 1919 der schwed. Terminus novellsaga 6 , 1934 in dt. Übers. N . 7 , später in Einklang mit der von Sydowschen G a t t u n g s -

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Novellenmärchen

terminologie abgewandelt zu dt. -> Novellat8 (engl, novellate9). Der Begriff N. und analoge Bildungen sind über den skand. und den dt. Sprachbereich hinaus gebräuchlich10; dagegen herrscht vor allem in engl.sprachigen Publ.en — und wohl auch bedingt durch S. -» Thompsons Übers, von Aarnes Gattungsbezeichnung11 — eine verbreitete Tendenz, diese novellenartigen Märchen begrifflich nicht von der Novelle zu unterscheiden12, einer aus der -» Novellistik hervorgegangenen Kunstform, der das N. zahlreiche Stoffe verdankt. Auch Thompsons Zusatz .Romantic Tales', der nur auf einen Teil der N. zutrifft, wird des öfteren zur Benennung der Gattung N. allg. verwendet13, im Italienischen manchmal explizit abgewandelt zu ,fiabe d'amore' 14 . Das Abenteuerlich-Phantastische betont der frz. Begriff ,contes romanesques' 15 ; andere Bezeichnungen, die in Typenkatalogen erscheinen, sind ζ. B. ,contes non merveilleux'16 oder ,contes d'enginy' (Scharfsinnsmärchen)17. Teilweise deckungsgleich mit dem N. ist das -» Märlein in der Definition A. -»• Wesselskis: eine volkstümliche (.sachliche') Kunstform, die zwischen der absoluten Kunstform Novelle und der einfachen Form Geschichte steht 18 ; der Begriff hat sich, wie Wesselskis gesamte Gattungsterminologie, nicht durchgesetzt. Im internat. Typenindex sind unter den Nummern AaTh 850-995*, Sub- und Ökotypen eingerechnet, über 300 Erzähltypen klassifiziert; sie sind unterteilt in neun Untergruppen, die — ausgenommen die letzte Kategorie - auf Aarnes Einteilung zurückgehen. Das hier erfaßte Erzählmaterial ist kaum homogen zu nennen. So möchte von Sydow die ersten beiden Gruppen (AaTh 850-879) eher den Zaubermärchen zurechnen, obgleich „sie weder Zauber noch Wunder enthalten, denn ihr Inhalt trägt den Stempel der gleichen unwirklichen Phantasie wie der der Schimäremärchen" (->· Chimäremärchen, Chimerat) 19 . Die 5. und die 6. Kategorie (AaTh 910-929) könnten als ein eigenes Genre, die Weisheitserzählungen (-• Weisheit), begriffen werden20; ähnliches gilt für die siebte Gruppe (AaTh 930—949), die -• Schicksalserzählungen. Andererseits sind aber sowohl von Sydow als auch H. Ellekilde der Ansicht, daß eine Reihe der unter den Schwänken erfaßten Erzählungen eigentlich N. seien

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(z.B. AaTh 1525 A, E: cf. - Meisterdieb; AaTh 1641: Doktor Allwissend)21. Erzählforscher aus dem ostslav. Gebiet und dessen Einflußbereich rechnen die N. gewöhnlich zusammen mit Erzählungen schwankhaftsatirischer Art den sog. Alltagsmärchen (russ.: bytovye skazki) zu 22 , in denen sich tägliches Leben, Alltagssituationen und soziale Spannungen widerspiegeln23; eine völlig einheitliche Auffassung dieser Gattung scheint es aber nicht zu geben (cf. ->• Gattungsprobleme). 1 cf. Aarne, Α.: Verz. der Märchentypen (FFC 3). Hels. 1910, VII; von Sydow, 70 sq., 223; Ellekilde, H.: Danmarks folkeaeventyr. In: Nordisk kultur 9. ed. K. Liestel/C. W. von Sydow. Sth./Oslo/Kop. 1931, 240-263, hier 254; Bedker, L.: Internat. Diet, of Regional European Ethnology and Folklore 2. Kop. 1965, 215-217, cf. auch 241, s. v. realistic tale; Lüthi, Μ.: Das Volksmärchen als Dichtung. Düsseldorf/Köln 1975, 83, 188; Grambo, R.: Folkloristisk handbok. Oslo/Bergen/Stavanger/Tromsa 21985, 32 sq.; Yassif, E.: The Novella as an Ethnopoetic Genre. In: Papers 2. The 8th Congress for the Internat. Soc. for Folk Narrative Research, ed. R. Kvideland/T. Selberg. Bergen 1984, 283-289, hier 285 sq.; Daskalova, L./Dobreva, D./Koceva, J./Miceva, E.: Narodna proza ot Blagoevgradski okrüg (Volksprosa aus dem Kreis Blagoevgrad). Sofia 1985, 12 sq.; Kabasnikov, K. R: Skazka novellisticeskaja [...] (N.). In: Vostocnoslavjanskij fol'klor. Minsk 1993, 320 sq. - 2 Thompson, S.: The Folktale [1946]. Nachdr. Berk./L. A./L. 1977, 8; cf. Liungman, Volksmärchen (subsumiert AaTh 850-981* ebenso wie seine Beispiele für Legendenmärchen den Zaubermärchen). - 3 Lüthi, M.: Das europ. Volksmärchen. Mü. 41974, 130, not. 170, cf. 129, not. 163; Lüthi, Märchen, 18. - 4 Les Contes de Perrault [...]. ed. F. Dillaye. P. 1880, 2 sq. - 5 Aarne (wie not. 1) VII, 36. - 6 cf. Bodker (wie not. 1) 217. - 7 von Sydow, 70 sq.; cf. die dän./norw. und ndl. Termini bei Bodker (wie not. 1) 216 sq. — 8 von Sydow, 223-225. - 9 ibid., 86. - 10 cf. ζ. B. van der Kooi; MNK, t. 4; Cirese/Serafini; Gonzalez Sanz; SUS; BFP; Kabasnikov (wie not. 1). " T h e Types of the Folk-Tale. [...] Antti Aarne's Verz. der Märchentypen [...] Translated and Enlarged by S. Thompson (FFC 74). Hels. 1928, 20, 127. - 12 AaTh und entsprechend zahlreiche in engl. Sprache veröff. Typenkataloge; StandDict. 2, 803; Bodker (wie not. 1) 215 (cf. 102: A. Olriks BegrifT folkenovelle); Yassif (wie not. 1); cf. auch Delarue, 49; Joisten, C.: Contes populaires du Dauphine 1. Grenoble 1971, 16; verwirrend die Terminologie bei Jason, H.: Ethnopoetics. Α Multilingual Terminology. Jerusalem 1975, 44, 46-49, 59; cf. auch ead.: Genre in Folk Literature. In: Fabula 27 (1986) 167-194, hier 190. - 13 Haboucha; Hansen; Jason, Types; cuentos romänticos: Penalosa; Camarena

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Novellino

Laucirica, J.: Cuentos tradicionales de Leon 1. Madrid 1991, 16, 305. - 14 D'Aronco, Toscana; Del Monte Tämmaro. — 15 Massignon, G.: Contes corses. Aix-en-Provence 1963, XIV; Fabre, D./Lacroix, J.: La Tradition orale du conte occitan 1. P. 1974, 311. - 16 de Meyer, Conte; in der 1. Aufl. [FFC 37]: contes ordinaires. - "Pujol. - 18Wesselski, Theorie, 99 sq.; Wesselski, Α.: Die Formen des volkstümlichen Erzählguts. In: Die Dt. Vk. 1. ed. A. Spamer. Lpz./B. 1934, 216-248, hier 216, 219, 233 sq. 19 von Sydow, 70; cf. auch Daskalova u. a. (wie not. 1) 12. - 20 cf. Jason 1975 (wie not. 12) 48, s. v. wisdom novella; Bedker (wie not. 1) 163, s. v. klokhetssaga; ibid., 277, s. v. skarpsindighetseventyr. 21 von Sydow, 70; Ellekilde (wie not. 1) 254, 257-260; Bedker (wie not. 1) 274 sq., s. v. skaemtenovelle; cf. Jason 1975 (wie not. 12) 48 sq., s. v. fool's novella, swindler novella, parson's novella; cf. auch Perraults Nennung der „Witwe von Ephesus" (wie not. 4). - 22 cf. SUS, 15; Propp, V.Ja.: Russkaja skazka (Das russ. Märchen), ed. Κ. V. Cistov/ V. I. Eremina. Len. 1984, 245-291; Judin, Ju. I.: Russkaja narodnaja bytovaja skazka (Das russ. Volksalltagsmärchen). M. 1998; auch südslav., cf. BFP. — 23 Pomeranzewa, E.: Russ. Volksmärchen. B. 1964, 613; Lintur, P.V.: Ukr. Volksmärchen. B. 2 1981, 631-634; Barag, L. G.: Beloruss. Volksmärchen. B. 1968, 565-569; cf. auch Ambainis, O.: Lett. Volksmärchen. Mü. 1989, 470-484.

Göttingen

Christine Shojaei Kawan

Novellino, Ende des 13. Jh.s verfaßte anonyme ital. Novellensammlung, älteste derartige Kompilation in einer rom. Sprache1. Der dem gleichnamigen Werk des -> Masuccio Salernitano entlehnte Titel wird erstmals 1525 erwähnt 2 und ist seit der Ausg. Mailand 1836 gebräuchlich. In der ältesten erhaltenen Hs. 3 heißt das Werk Libro di novelle e di bei parlar gientile, in Carlo Gualteruzzis editio princeps (Bologna 1525) wird es - mit offensichtlichem Bezug auf das 100 Geschichten umfassende Decamerone -* Boccaccios sowie die Cent Nouvelles nouvelles — Le ciento novelle antike genannt. Als Autor hat man Brunetto Latini (ca 1220-ca 1294; mutmaßlicher Verf. der verwandten Slg Fiori e vita di filosaß4), Andrea Lancia (1280—1360; Verf. eines Kommentars zu Dantes Divina commedia) und Francesco da Barberino (1264-1348; Verf. einer verlorenen Slg mit dem Titel Flores novellarum) sehen wollen5; alle diese Zuschreibungen sind letztlich jedoch unhaltbar 6 . Nach Ansicht einiger moderner Lit.wissenschaftler ist das Werk

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möglicherweise von mehreren Autoren verfaßt 7 . Die Anzahl der erhaltenen Hss. (sieben vollständige, zwei Fragmente) 8 belegt den Erfolg des N., der bes. Boccaccio und (nach dem Erscheinen im Druck) die Novellisten des 16. Jh.s beeinflußte. Die Textüberlieferung des Werkes ist nicht einheitlich, die verschiedenen Ausgaben divergieren (teilweise aufgrund von Zensur) mitunter erheblich voneinander. Die Struktur des N. wurde unterschiedlich beurteilt; einerseits wollte man eine thematische Gruppierung von Erzählungen sehen9, andererseits ein einheitliches Konzept, nach dem der N. als Makrotext in gewisser Weise das Decamerone selbst vorwegnimmt10. Die Erzählungen handeln von Angehörigen aller Gesellschaftsschichten, von hochrangigen Persönlichkeiten wie Königen und Rittern (bellatores) über Weise und Gelehrte (oratores) bis hin zu Kaufleuten und Vertretern des Volkes (laboratores). In Anlehnung an die im Prolog angeführten Begriffe kann man die Geschichten den fünf Kategorien fiori di parlare, cortesie, valentie, doni und amori zuordnen. Das Werk beginnt mit exemplarischen Erzählungen über weise Taten (num. 2 - 1 0 ) und Beispiele von Großmut (12-25). Ab der Mitte werden die thematischen Bindungen lockerer. Zahlreiche Novellen behandeln geistreiche Bemerkungen und Witz der Florentiner, Norditaliener, Provenzalen und Franzosen; häufig sind Erzählungen über -> Rechtsfälle. Die behandelten Themen (und damit auch die möglichen Quellen) lassen sich unterteilen in oriental. und antike (ζ. B. num. 2, 3 - 5 , 8, 9, 13, 81; 61, 67-72; cf. Trojaroman), bibl. (ζ. B. num. 6, 12, 36, 37) und ma. (-> Artustradition; u. a. num. 28, 48, 63, 65) Themen, hinzu kommen städtisch-bürgerliche Novellen (ζ. B. num. 26, 39, 47, 75) sowie Tiergeschichten (num. 94, 95)11. Der Autor geht dabei relativ frei mit seinen Quellen um, die ihm meist nur das Thema vorgeben, so ζ. B. in der 62. Novelle, die das -»· Herzmäre (AaTh 992) parodiert: Anders als in den prov. und frz. Quellen, in denen der Liebhaber ein Dichter (Edelmann) ist, erscheint im N. ein alberner Mensch, dem ironisch der hochtrabende Name Baligante beigelegt wird und dessen einziger Vorzug der Besitz eines außergewöhnlichen Genitals ist, mit dem er die Gräfin und ihre Dienerinnen befriedigt12.

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Novellino

E r z ä h l t y p e n und -motive 1 3 : num. 1 (Prolog) = Mot. J 263: Among many vain words may be found some of wisdom. — 2 = -> Priester Johannes (Mot. Η 501.1: Text of wisdom: wise ruler sends man magic gems + Mot. D 1361.19: Magic jewel renders invisible). — 3 = cf. AaTh 655: cf. Die scharfsinnigen -> Brüder. — 4 = Habsüchtiger Spielmann (cf. AaTh 1610: -» Teilung von Geschenken und Schlägen). — 5 = Mot. J 1661.1.7: Deduction: prince plays with children because he has been denied a normal youth. — 6 = Mot. L 415: God punishes David for his pride in the number of his subjects. - 7 = -> Salomo (Mot. J 158.1: Solomon pays heed to angel's warning). — 8 = Mot. J 55: Ruler learns lesson from the example of an exiled king. - 9 = AaTh 1804 B: cf. - Scheinbuße. — 10 = Rotunda J 1179.13: Interpreting the pact. 11 = Mot. Κ 2292: Treacherous physician. — 12 = Mot. W 11.8: General sends for king so that the latter may get credit for victory. — 13 = Rotunda J 1289.19: Ruler plays the zither. - 14 = AaTh 1678: cf. -* Junge weiß nichts von Frauen. — 15 = Mot. Μ 13: Sentence applied to king's own son. — 16 = Mot. W 16: Bishop exchanges places with prisoner so as to have him return to his mother. — 17 = Mot. W 11.4: Man lets himself be sold as slave so as to practice generosity. — 18 = Mot. Μ 368: Prophecy: punishment for misappropriation of property. — 19 = Mot. W 11.9: Prince donates all including a tooth. — 20 = Mot. W 11.10: Ruler protects thief. - 21 = cf. AaTh 681: -> Relativität der Zeit14. - 22 = Rotunda J 1637: Ungracious enemy must be mad. — 23 = Mot. Κ 1812.1: Incognito king helped by humble man. — 24 = Rotunda Η 501.2: Definition of liberty. - 25 = cf. Mot. W 11.2: Munificent monarch. — 26 = -> Merlin (Rotunda D 1810. 0. 2.1: Merlin rebukes woman who has forced her husband to lend money at interest). — 27 = Mot. J 1086: Ignoring the unpleasant. — 28 = -» Lancelot (Rotunda Ρ 615: Disgrace and death for anyone riding in a cart). — 29 = Mot. J 1262.4: Levity regarding biblical passages. - 30 = Mot. Q 323: Unthriftiness punished. - 31 = AaTh 2300: - Endlose Erzählung. - 32 = Mot. Κ 2351.5: Horses frightened by instruments of war are backed into enemy's ranks. - 33 = Mot. J 1305: How the tail pointed. - 34 = Mot. Η 1558.6: Test of friendship: the imagined refusal. — 35 = Rotunda J 2286: The malignant eggplant. — 36 = -> Bileams Eselin. - 37 = Mot. V 232.1: Angel as helper in battle. - 38 = Mot. J 2133.8: Stargazer falls into well (-> Astrologe). - 39 = Rotunda J 1269.18: The bishop who wished to trade stomachs. — 40 = Rotunda J 1365: No reason to rinse his mouth. — 41 = Mot. Q 81.1: Nobleman's perseverance wins him coveted place on reserved bench. — 42 = Mot. J 1182.1: To be beaten by deceiver of husband. - 43 = cf. Mot. J 1310: Repartee concerning wine. — 44 = Mot. J 1364: To be rewarded by his kind. — 45 = Rotunda J 1491: Knight jousting with Lancelot learns his identity. - 46 = -» Narziß (Mot. Τ 11. 5. 1). - 47 = Rotunda J 1369.2: Stick to your business and don't spoil mine. — 48 = Lehrer schlagen Mitschüler des Prinzen, um ihn zu

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bessern. — 49 = Mot. J 1276.2: Too much for his income. - 50 = Rotunda J 1178: Man returns from exile and claims property from his children. — 51 = Mot. J 1284.1: Show me how it is done. — 52 = AaTh 207 C: -> Glocke der Gerechtigkeit. - 53 = Krüppel muß für jedes seiner Gebrechen bezahlen. — 54 = Rotunda Κ 1274.1: Cleric who has been convicted of incontinence by bishop surprises latter in amorous intrigue. — 55 = Rotunda J 1335: Reciprocity suggested. — 56 = Mot. Κ 1623: Lawyer agrees to pay debt on winning his first case (-> Advokat). — 57 = Mot. Κ 2052.1: The bride's (wife's) false modesty. — 58 = Mot. J 411.9: Knight disregards insult by servant. — 59 — AaTh 1510: -> Witwe von Ephesus. - 61 = Mot. J 223: Choice between evils: pay tribute or lose both money and life. — 62 = AaTh 992: Herzmäre. — 63 = Mot. Κ 1812.12: Incognito king comes to the aid of an enemy who has refused to vilify him. — 64 = Rotunda Η 348: Suitor test: to earn forgiveness. — 65 = -» Tristan und Isolde. — 66 = -> Diogenes (Mot. J 1442.1: The cynic wants sunlight). - 67 = cf. AaTh 1381 D: cf. Die geschwätzige -> Frau, Kap. 5 (Mot. J 1546). - 68 = Mot. J 152.3: Philosopher instructs youth regarding conduct. — 69 = Mot. J 1284: Do not leave it to your successor. — 70 = Herakles (Rotunda J 1545.7: Hercules makes an admission). — 71 = Mot. J 152.4: Philosopher consoles woman for loss of son. — 72 = -> Fortuna (Rotunda Ν 111.4.3: Fortuna rebukes ruler who complains). — TS = Rotunda J 462.3.1.2: Ruler trying to confiscate Jew's money asks him which is the true faith. - 74 = AaTh 1689: Das kleinere - Übel. - 75 = AaTh 785: -> Lammherz. — 76 = Mot. W 11.5.9: Warrior gives steed to his enemy. - 77 = Rotunda J 1289.20: Exiled comes back for his slippers. — 78 = Mot. J 157.3: Dream advises against the popularizing of science. — 79 = AaTh 841: Die beiden Bettler. - 80 = Rotunda J 1577: Guest asks host why he burns alum and amber. - 81 = Mot. J 652.4.1: Hector warns Trojans against attacking the stronger Greeks. — 82 = Mot. Τ 81.2: Death from unrequited love. - 83 = AaTh 763: -> Schatzfinder morden einander. — 84 = Mot. Κ 245: King promises beggars new clothes. - 85 = Rotunda Κ 2372: Famine relieved by a trick. - 86 = Mann prahlt mit großem Penis. - 87 = Rotunda J 1264.11: Advice from the wise. - 88 = Mot. W 154.15: Kind magistrate is victim of ingratitude. — 89 = Mot. J 1223: Rebuke for telling a poor and longwinded story. - 90 = Mot. L 315.9: Falcon attacks eagle repeatedly and defeats him. - 91 = Rotunda J 1172.4.1: Judging by intention. — 92 = Mot. J 2103.1.1: The cat and the eel-pie. - 93 = Rotunda J 1263.8: Confession made easy. - 94 = AaTh 47 E: -> Esels Urkunde. — 95 = Rotunda X 536.1: Peasant goes to buy coat. — 96 = Rotunda J 2119.4: Making amends by increasing the wrong. — 97 = Mot. J 1551.9: Half of money thrown into tank. — 98 = Mot. J 1115. 7. 1: Clever merchant profits by being robbed. - 99 = Mot. Τ 92.4: Girl mistakenly elopes with the wrong lover. - 100 = Mot. Κ 1311.0.1: Seduction by masking as woman's husband.

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Novellistik

Anh. 101 = AaTh 921 A: -> Focus: Teilung des Brotes oder Geldes. - 103 = Witwe heiratet trotz gesetzlichen Verbotes wieder. - 104 = AaTh 841. — 105 = AaTh 910 K: Gang zum Eisenhammer (Kalkofen). - 106 = AaTh 1617: Kredit erschwindelt. - 107 = AaTh 981: - Altentötung + AaTh 921: -> König und kluger Knabe. - 108 = Mot. J 1566.1: Philosopher spits in king's beard. - 109 = cf. AaTh 517: cf. -> Prophezeiung künftiger Hoheit. — 110 = AaTh 612: Die drei -> Schlangenblätter. - 111 = AaTh 505: cf. - Dankbarer Toter. - 112 = cf. AaTh 1423: Der verzauberte -> Birnbaum. — 113 = AaTh 653: Die vier kunstreichen -» Brüder. — 114 = Mot. J 1274: His father has been in Rome. — 115 = AaTh 1367*: To Live with Evil Woman. 1 Derzeit verläßlichste Ausg. in Segre, C. (ed.): La prosa del Duecento. Mailand/Neapel 1959, 793-880; eine von A. Conte besorgte kritische Ausg. befindet sich im Druck; weniger tauglich sind Lo Nigro, S. (ed.): N. e conti del Duecento. Turin 1968; Favati, G. (ed.): II N. Genf 1970; cf. auch Die hundert alten Erzählungen. Übers. J. Ulrich. Lpz. 1905; Riesz, J.: II N. In: KNLL 19 (1992) 178 sq. - 2 Deila Casa, G.: Lettera a Carlo Gualteruzzi da Fano. ed. L. M. Rezzi. Imola 1824 (auch in: Opere di Monsignor Giovanni della Casa 4. Venedig 1728, 326). 3 Florenz, Biblioteca Nazionale, Codex Panciatichiano 32 (vormals Panciatichiano-Palatino 138), cf. Biagi, G. (ed.): Le novelle antiche dei codici Panciaticano-Palatino 138 e Laurenziano Gaddiano 193. Florenz 1880; Mostra di codici romanzi delle biblioteche fiorentine. Florenz 1957, 123. - 4 Fiori e vita de filosafi e d'altri savi e d'imperadori. ed. F. D'Agostino. Florenz 1979. - 5 Thomas, Α.: Francesco da Barberino et la litterature proven^ale en Italie au moyen äge. P. 1883; Panzera, M. C.: Per l'edizione critica dei documenti d'amore di Francesco da Barberino. In: Studi mediolatini e volgari 40 (1994) 91-118. - 6 D'Ancona, Α.: Del N. e delle sue fonti [1873]. In: id.: Studi di critica e storia letteraria. Bologna 1912, 3-163. - 7 Mulas, L.: Lettura del Ν. Rom 1984; Battaglia Ricci, L.: N. In: Asor Rosa, A. (ed.): Letteratura italiana 1. Turin 1992, 61-83.

— 8 Sicardi, E. (ed.): Le cento novelle antiche. Straßburg [1909]; Barbi, M.: Studi sul canzoniere di Dante. Florenz 1915, 158. - 'Segre, C.: Sull'ordine delle novelle nel „N." In: Dal Medioevo al Petrarca 1. Festschr. V. Branca. Florenz 1983, 129-139; id.: La novella e i generi letterari. In: id.: Notizie dalla crisi. Turin 1993, 109-119; Conte, Α.: Ur-N. Ipotesi di lavoro. In: Medioevo romanzo 20 (1996) 75—115. — 10Cizek, Α.: Considerations sur la poetique de l'exemplum et de l'anecdote. A propos du N. In: Buschinger, D. (ed.): Le Recit bref. P. 1979, 341-368; Picone, M.: La „cornice" del Ν. In: Studi di filologia e letteratura italiana. Festschr. M. Picchio Simonelli. Alessandria 1992, 221-237; id.: II racconto. In: Brioschi, F./Di Girolamo, C. (edd.): Manuale di letteratura italiana 1. Turin 1993, 604-616. -

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cf. Ulrich (wie not. 1) XLVIII. - 12 Rossi, L.: II cuore, mistico pasto d'amore. Dal Lai Guirun al Decameron. In: Studi provenzali e francesi 82 (1983) 8—128. - 13 Nach den Angaben im EM-Archiv zur Ausg. Ulrich (wie not. 1); num. 1 — 100 folgen der ed. princeps Bologna 1525, num. 101 -107 der Ausg. G. Papanti (Livorno 1871), num. 108-115 der Ausg. Florenz 1572; ausgewertet bei Rotunda nach Di Francia, L. (ed.): Le Cento Novelle antiche. Turin 1930; zu Qu.n und Parallelen id.: Novellistica 1. Mailand 1924, 26-52; Besthorn, R.: Ursprung und Eigenart der älteren ital. Novelle. Halle 1935; Paolella, Α.: Retorica e racconto. Argomentazione e finzione nel N.Neapel 1987. - 14 Krappe, Α. H.: The Source of Ν. XXVIII. In: Neuphilol. Mittigen 26(1925) 13-18. Zürich

Luciano Rossi

Novellistik 1. Begriffsbestimmung - 2. Griech.-röm. Antike - 3. Europ. MA. - 4. Frühe Neuzeit - 5. Moderne 1. B e g r i f f s b e s t i m m u n g . Das Wort N. bezeichnet im Deutschen und Italienischen 1 einerseits die Kunst der -»· Novelle, andererseits die Gesamtheit des novellistischen Schaffens. Das Nebeneinander von Novelle und N. bietet die Chance einer terminologischen Differenzierung: Obwohl die Gattung Novelle eine Schöpfung der Renaissance ist, werden ζ. B. im Französischen, das über kein dem dt. Begriff N. entsprechendes Wort verfügt, auch ma. Erzählungen als nouvelles bezeichnet 2 ; es liegt nahe, solche novellenähnlichen Vorläufer unter der Rubrik N. zusammenzufassen. Damit würde die Unterscheidung zwischen hist, und systematisch-typol. Gattungsbegriff 3 nachvollzogen: Das Novellistische wäre als eine Sonderform des Narrativen zu definieren, die sich kultur- und epochenübergreifend in literar. Gattungen wie ζ. B. der Novelle ausprägt. Als distinktive Merkmale des Novellistischen wären zu nennen: (1) Der verhältnismäßig geringe Umfang. Anders als in den narrativen Großformen -» Epos und Roman wird in novellistischen Texten gewöhnlich nur ein Handlungsstrang geradlinig entwickelt 4 . In der Regel kommt auch nur ein Erzähler zu Wort, im Gegensatz zur Polyphonie des Romans 5 . Andererseits fordert novellistisches Erzählen eine gewisse Anschaulichkeit und plastische Ausgestaltung der Si-

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tuationen, womit ein Kriterium für die Abgrenzung gegenüber den ,Pointetypen der Sprache' 6 wie -»Witz, Anekdote, -+ Fazetie, Fabel etc. gegeben ist. (2) Die Inszenierung einer Erzählsituation. In antiker, ma. und frühneuzeitlicher N. ist gewöhnlich eine Erzählerinstanz präsent, die mit dem Anspruch auftritt, entweder Selbsterlebtes oder Gehörtes (bzw. Gelesenes) zu berichten. In der Form der Rahmenerzählung übernehmen fiktive Figuren diese Rolle; als Einschübe können novellistische Erzählungen auch den Figuren ζ. B. eines Romans in den Mund gelegt werden. In der ma. N. tritt häufig der implizite Autor in einen Dialog mit dem Publikum ein, indem er die Wahrheit des Berichteten beteuert (in festen Formeln, die eher als Fiktionalitätssignale wirken mögen), moralisch wertende Kommentare einfügt etc. Da die N. sich als literar. Forts, mündl. Erzählens präsentiert, ist es nur folgerichtig, daß sie auf traditionelle Stoffe zurückgreift. Hier liegt ein wesentlicher Unterschied zu narrativen Gattungen des 19. und 20. Jh.s wie Novelle, Kurzgeschichte, short story etc., die individuelle Schöpfungen eines (schreibenden) Autors darstellen. (3) Mit dem Exemplarischen (-• Exemplum) bildet das Novellistische einen .polaren Idealtyp' 7 . Während die exemplarischen Gattungen an mehr oder weniger spektakulären Beispielen die Gültigkeit allg. Regeln demonstrieren, geht es in der N. um das Besondere, das der Alltagserfahrung zuwiderläuft. In reiner Form begegnen das Exemplarische wie das Novellistische entweder gar nicht oder nur sehr selten8, konkrete Erzählungen sind gewöhnlich „im mittleren Bereich des polaren Kontinuums" 9 angesiedelt. Die exemplarische Intention ist eine Konstante ma. und frühneuzeitlicher Lit. 10 ; andererseits ist die gleichsam lehrbuchmäßige Bestätigung einer allg. Wahrheit in der Realität eher die Ausnahme, die Exemplarität des schlagenden Beispiels erscheint selbst als Besonderheit. Zu unterscheiden ist demnach zwischen dominant exemplarischen und dominant novellistischen Formen. Beiden gemeinsam ist der häufig als distinktives Merkmal der N. herausgestellte Realismus: Nur für die den Naturgesetzen gehorchende Welt läßt sich zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen unterscheiden; wenn das

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Wunderbare (die Ausnahme schlechthin) als selbstverständlich hingenommen wird, verlieren diese Kategorien ihren Sinn. Das Märchen steht daher außerhalb der Polarität novellistisch versus exemplarisch. Die Knappheit exemplarischer Erzählungen ergibt sich aus der Funktionalisierung auf eine Lehre hin; Ausführlichkeit ist auch deshalb nicht geboten, weil die Geschichten auf Allgemeines zielen, das folglich als bekannt vorausgesetzt werden darf. Dagegen erweisen sich in der N., wo es um das Besondere geht, oft gerade die Einzelheiten als bedeutsam; das führt leicht dazu, daß die Freude am Erzählen sich gegen die Aussageintention durchsetzt, Anschaulichkeit zum Selbstzweck wird. Während exemplarisches Erzählen auf die Belehrung des Publikums zielt, spielt in der N. die Absicht der Unterhaltung eine größere Rolle11. Da sich Novellistisches und Exemplarisches komplementär zueinander verhalten, kann der N. kein scharf abgrenzbares Korpus entsprechen. Die von A. ->· Jolles benannten ->• Einfachen Formen lassen sich kaum eindeutig einem der beiden Pole zuordnen; ζ. B. kann in der -» Legende die ursprünglich exemplarische Intention so weit hinter das Autonomiestreben des Erzählens zurücktreten, daß ein novellistischer Text entsteht. Ein klareres Bild ergibt sich, wenn man sich auf das Gattungssystem einer bestimmten Epoche bezieht: Unter den kleinen literar. Gattungen des Exemplarischen, die H. R. Jauss (im Anschluß an Jolles) für das europ. MA. beschrieben hat 12 , sind zweifellos Parabel, Fabel und Exemplum exemplarischer als Legende (und Mirakel) oder -> Schwank13; in diesen Gattungen gewinnt das autonome Erzählen zunehmend an Bedeutung gegenüber der lehrhaften Intention, so daß es gerechtfertigt scheint, sie als novellistisch zu bezeichnen. Die Gattung Novelle, deren Geschichte mit Boccaccios Decamerone beginnt, problematisiert das Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen und unterscheidet sich dadurch von allen anderen Formen der N. 2. G r i e c h . - r ö m . A n t i k e . Nach R. Merkelbach hat es eine literar. Gattung Novelle im Altertum nicht gegeben14; was die Klassische Philologie als altion. Novelle bezeichnet hat 15 , sind literar. Reflexe mündl. Überlieferung.

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Eine Bezeichnung für Ν. kennt das Altgriechische nicht, Wörter wie logos, mythos, apologos u. a. werden unterschiedslos für novellistische Erzählungen, Fabeln oder Märchen verwendet16. Spuren novellistischer Tradition hat man schon in den Epen -* Homers finden wollen17; die .novellistische Haltung" 8 in der Geschichtsschreibung repräsentiert beispielhaft -» Herodot. Bei ihm verbindet sich der Anspruch auf hist. Wahrheit mit dem Interesse am Besonderen des spektakulären Einzelfalls, das sich in der erzählerischen Ausgestaltung der Geschichten offenbart. Die mündl. Vorformen der N. waren nicht auf Kleinasien beschränkt, aus literar. Zeugnissen läßt sich Vergleichbares auch für Athen erschließen19. Entscheidenden Anteil an der Herausbildung einer literar. (fiktionalen) Form der N. hatten offenbar die Rhetorenschulen: In den juristischen Übungsreden (controversiae) wurden im allg. fiktive Fälle behandelt, die ζ. T. von der mündl. Erzähltradition inspiriert gewesen sein dürften (-• Kasus)20. Zur Unterhaltung wurden solche controversiae auch außerhalb der Schulen dargeboten bzw. schriftl. dokumentiert (ζ. B. von Seneca d. Ä.). Der Schritt zur eigentlichen N. wurde spätestens mit den Milesiaka des Aristeides aus Milet (ca 100 a. Chr. n.) vollzogen; diese Slg, die hauptsächlich erotische Geschichten enthielt, ist verloren, auch von der lat. Übers, des Lucius Cornelius Sisenna sind nur wenige Bruchstücke erhalten. Einzelne Erzählungen (aus den Milesiaka oder aus anderen ähnlichen Quellen) sind in Fabelsammlungen21 oder Romane eingegangen: So erzählt Phädrus, wie ein Esel eine junge Frau vor der Heirat mit einem ungeliebten Mann bewahrte, indem er sie statt zum Bräutigam zu ihrem Liebhaber trug (ähnlich Apuleius, Metamorphosen 4, 23 -26) 2 2 ; in den Satyrica des Petronius (111/112) findet sich die Geschichte von der -» Witwe von Ephesus (AaTh 1510)23. 3. E u r o p . M A . Der Forschung ist es bisher nicht gelungen, sich auf eine konsistente Terminologie im Bereich der ma. N. zu verständigen: Da die meisten ma. Gattungsbezeichnungen (ζ. B. altfrz. Fabliau, -> Lai; dt. Märe) inkonsequent oder widersprüchlich verwendet werden, ist vorgeschlagen worden,

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auf eine Untergliederung zu verzichten und nur allg. von Kurzerzählungen zu sprechen24. Neuerdings bezeichnet W. Haug mit diesem Terminus jedoch „kleinere narrative Stücke, die nicht einer definierbaren Gattung zugerechnet werden können" 25 ; die Texte, die er behandelt, wurden in älteren Arbeiten meist zu den Mären gezählt. Die Germanistik engt die Termini mhd. Versnovelle bzw. mhd. N. einerseits auf die Gattung Märe ein26, andererseits wurde unter der Rubrik Novelle ein heterogenes, legendarische, didaktische und psychol. Erzählungen umfassendes Korpus zusammengefaßt 27 . Der Romanist W. Krömer 28 verwendet Kurzerzählung und Novelle synonym; F. Wolfzettel29 grenzt für das frz. Hochmittelalter die realistisch-psychol. (Schicksals-)Novelle von märchen- und schwankhaften Gattungen ab. Der hier vorgeschlagenen Begriffsbestimmung der N. am nächsten kommt die Definition, die R. Dubuis 30 für die (systematisch-typol. aufgefaßte) Novelle vorschlägt: „le recit, le plus souvent bref [1], d'une aventure, en general recente et presentee comme reelle, qui interesse par son caractere inattendu [3]"; allerdings fehlt das Merkmal (2): Inszenierung einer Erzählsituation, das die Abgrenzung gegen reine Buchdichtung ermöglicht. Ζ. B. gewinnt schon in den Mönchsviten des hl. -» Hieronymus das narrative Element ein so starkes Eigengewicht, daß seine Vita Malchi als „Novelle über die Gefährdungen des Mönchslebens" bezeichnet wurde31; der Text wendet sich jedoch eindeutig an Leser, ungeachtet der Tatsache, daß der Protagonist selbst zu Wort kommt. In der rom. und dt. N. des Hochmittelalters wird der Eindruck (oder die Illusion) mündl. Kommunikation durch die Versform unterstützt (Prosaerzählungen werden erst seit dem 14. Jh. häufiger). Eine strikte Trennung zwischen dem Novellistischen und dem Exemplarischen ist weder auf Gattungs- noch auf Textebene möglich; das Vorhandensein eines Prooder Epimythions taugt keinesfalls als Abgrenzungskriterium32. Unter den Formen geistlicher Narrativik ist die Heiligenvita (-> Hagiographie) bes. stark von der exemplarischen Intention bestimmt; als episodenreiche Lebensbeschreibung sprengt sie auch inhaltlich den Rahmen

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der Ν . (kürzere Fassungen, wie man sie ζ. B. in der -> Legenda aurea findet, sind eher Resümees längerer Viten als eigenständige Erzählungen). I m Zentrum des Mirakels dagegen steht ein Ereignis, das zwar eine exemplarische Lehre verdeutlicht, aber höchst unerwartet eintritt. Dementsprechend gewinnt auch das Erzählen häufig Eigengesetzlichkeit jenseits der exemplarischen Funktionalität (bes. deutlich in den altfrz. Miracles de Nostre Dame des Gautier de Coinci, 1. Hälfte 13. Jh.). Tendenzen zu novellistischer Ausgestaltung sind auch in anderen erbaulichen Gattungen zu beobachten, ζ. B. in den altfrz. Vies des peres (-• Vitae patrum), im conte devot 3 3 oder in der mhd. sog. Frommen Welterzählung 34 . Die komische Wirkung, die in den weltlichen Gattungen Fabliau und Märe vorrangig erstrebt wird, resultiert gewöhnlich aus dem Unerwarteten: aus dem durch List herbeigeführten Sieg des vermeintlich Schwächeren über den Stärkeren, ζ. B. der Frau über ihren Ehemann ( - • Ehebruchschwänke und -witze), aus dem Einfallsreichtum des Tricksters (cf. Douin de Lavesne, Trubert) oder umgekehrt aus extremer Naivität, speziell sexueller Unerfahrenheit (cf. A a T h 1678: -> Junge weiß nichts von Frauen), aus - » Mißverständnissen 35 etc. Den altfrz. Lai mit dem Märchen in Verbindung zu bringen, wie es ζ. B. Jauss36 tut, ist problematisch, da die emotionalen Grenzerfahrungen, von denen jene Gattung handelt, entweder mit den Mitteln des Wunderbaren veräußerlicht oder aber verinnerlicht dargestellt werden können; cf. etwa den ,rein psychol.' 37 Lai de l'Ombre des Jean Renart 38 . Hier schließt im 13. Jh. die Verserzählung von der Chatelaine de Vergi an 39 ; dagegen sind zwei gelegentlich als Novellen bezeichnete Prosatexte des 13. Jh.s40 trotz ihres geringen U m fangs wohl eher im U m f e l d des Romans zu situieren: La Fille du comte de Pontieu variiert das Schema des hellenistischen Romans (cf. ζ. B. Apollonius von Tyrus), Le Roi Flore et la belle Jehanne verbindet zwei heterogene Teile mittels der romanesken entrelacementTechnik 41 . Die Bezeichnung novas für altokzitan. Verserzählungen 42 scheint eine bes. Nähe zur Gattung Novelle zu suggerieren; bei den beiden vollständig erhaltenen Beispielen handelt es sich jedoch um Ehebruchschwänke in der Art

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.höfischer' (d. h. Obszönitäten vermeidender) Fabliaux 43 . Bei der Herausbildung der Gattung Novelle dürften eher die Trobador-Biographien 44 eine Rolle gespielt haben, Prosakommentare zu Leben und Werk eines Dichters (vidas) oder zu einzelnen Liedern (razos), in okzitan. Sprache, aber für ein ital. Publikum abgefaßt. Viele Texte geben nur in wenigen Zeilen wieder, was sich an Information aus den Gedichten selbst herauslesen läßt; unter den umfangreicheren vidas ist ζ. B. eine frühe Version des - » Herzmäre ( A a T h 992). Einzelne Erzählungen aus den Trobador-Biographien sind in den ital. Novellino eingegangen (cf. Kap. 20, 62, 64); im übrigen sind die meisten Stücke dieser Slg eher den Pointetypen Witz, Anekdote oder Fazetie als der N . zuzuordnen. Auch für die mhd. Lit. ist eine strikte Trennung zwischen exemplarischen (für die J. Heinzle 45 die Bezeichnung Bispel vorgeschlagen hat) und novellistischen Gattungen nicht möglich. Ähnlich wie Herodot integriert der anonyme Verf. der Kaiserchronik (ca 1150) in die Geschichtsdarstellung exemplarische Erzählungen, die jedoch zu novellistischer Eigenständigkeit tendieren 46 . Deutlich ausgeprägt sind novellistische Züge im Armen Heinrich -» Hartmanns von Aue. Ganz für sich steht die Verserzählung Moritz von Craün; sie basiert auf einem altfrz. Fabliau, ist aber als Minnekasus aufzufassen 47 . Eine Tradition der mhd. Verserzählung entwickelt sich erst in der Nachfolge des -» Strickers 48 . Gesondert zu betrachten sind die Rahmenerzählungen oriental. Provenienz (ζ. B. Kaiila und Dimna, Sieben weise Meister), die seit dem 12. Jh. in die europ. Sprachen übersetzt wurden; eine wichtige Brücke zwischen Ost und West bildete die Pyrenäenhalbinsel 49 . Hier tragen die handelnden Figuren ihre K o n troversen mittels exemplarischer Erzählungen aus, die als Argumente Pro und Kontra eingesetzt werden; anders als in der Novelle der Renaissance wird die Kategorie des Exemplarischen nicht problematisiert, es ist stets eindeutig erkennbar, wer im Recht ist bzw. die besseren Argumente hat. In manchen Übers.en (ζ. B. Vers- und Prosafassungen des altfrz. Roman des Sept Sages) ist die Tendenz zu .novellistischer' Ausschmückung der Erzählungen spürbar. Auch in genuin span. Slgen wird

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meist die Verwendungssituation des Exemplums inszeniert, so etwa im Conde Lucanor des Infanten Don Juan Manuel: Der Fürst stellt seinem Ratgeber Fragen, die dieser jeweils mit einer Geschichte beantwortet. Infolgedessen ist die span. Kleinepik bis zum Ausgang des MA.s nahezu ausschließlich exemplarisch, erst seit dem 16. Jh. gewinnen novellistische Elemente an Bedeutung.

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zählungen repräsentieren eine frühneuzeitliche Gattung, für die sich wiederum die Bezeichnung Novelle52 aufdrängt; zur Unterscheidung sollte jedoch ein anderer Terminus (etwa Novellenkasus) gewählt werden.

Wesentlichstes Kennzeichen der Novellensammlungen nach Boccaccio ist die heterogene Vielfalt der literar. Gattungen, Inhalte und Erzähltechniken. Direkter Einfluß des (bald auch in Übers.en verbreiteten) Decame4. F r ü h e N e u z e i t . Die Entstehung der rone zeigt sich in der Stoffwahl (ζ. B. bei GioSercambi) wie auch hinsichtlich der Novelle, die in Boccaccios Decamerone erst- vanni mals voll ausgebildet erscheint, bedeutet den Gestaltung des Erzählrahmens (ζ. B. bei wichtigsten Einschnitt in der Geschichte der Marguerite de Navarre); andererseits wird das N.; der Übergang von der im MA. dominie- raffinierte und reflektierte Modell Boccaccios renden Vers- zur Prosaerzählung ist dabei nur auf allgemeinere Strukturen novellistischen ein Aspekt. Da der für die Novelle konstitutive Erzählens reduziert. Spätere RahmenerzähKonflikt zweier Normsysteme häufiger im lungen (oder Surrogate wie die WidmungsVerhältnis der Erzählungen einer Slg zueinan- briefe Matteo Bandellos) tragen nichts mehr der als innerhalb der Einzelerzählung ausge- zur Problematisierung der Geschichten bei, tragen wird, sollte sie nicht als Gattung, son- sondern inszenieren nur noch die Situation des dern als ,Inszenierungstyp' aufgefaßt wer- Erzählens; die immergleiche Konstellation den 50 : Demnach wäre jede in einer Novellen- wird freilich dadurch variiert, daß Repräsensammlung enthaltene Erzählung ihrer Verwen- tanten unterschiedlichster sozialer Schichten, dungssituation nach als Novelle zu vom Hochadel (-• Cent Nouvelles nouvelles) betrachten 51 ; über ihre Zugehörigkeit zu einer bzw. einem Kreis vornehmer Damen (Jeanne (dominant novellistischen oder dominant ex- Flore, Les Contes amoureuxsi, 1531) über Büremplarischen) literar. Gattung wäre damit je- ger (Guillaume Bouchet, Les Serees, doch nichts ausgesagt, Novellen könnten Pa1584—9854) und Bauern (Noel - Du Fail, Prorabeln, Fabeln, Schwankerzählungen oder pos rustiques) bis hin zu Frauen aus dem Volk Märchen, Anekdoten, Fazetien etc. sein. (Giambattista Basile, Pentamerone) das Wort ergreifen. Die Schichtzugehörigkeit der Terminologische Eindeutigkeit wäre am ehesten Autoren ist ähnlich differenziert, von der dadurch zu erreichen, daß ,Novelle' als GattungsbeSchwester des frz. Königs (Marguerite de Nazeichnung nur noch für hochliterar. Erzählungen varre) bis zum Tuchhändler Philippe de Vigspeziell des 19. und 20. Jh.s verwendet würde, in denen das Novellistisch-Besondere nicht mehr in dianeulles und zum Handwerker Nicolas de lektischer Spannung zum Exemplarisch-Allgemeinen Troyes. Seit dem 17. Jh. sind auch Sammlunsteht. Freilich wird in der frühen Neuzeit der Normgen unter dem Namen des Roger Bontemps, konflikt gelegentlich auch innerhalb einer Erzählung der Verkörperung des frz. Bauern bzw. des ausgetragen, cf. ζ. B. die Geschichte von Ser CeppaMannes aus dem Volk, überliefert. rello im Decamerone (1,1): Der todkranke Protagonist wird als beispielhaft schlechter Mensch vorDie relative Kürze der meisten Novellen, die gestellt; im Kontext der Legende könnte er zum Sünwohl eine enge Bindung an die mündl. Überderheiligen werden, wenn er in seiner letzten Stunde lieferung suggerieren soll55, begünstigt das bereute und Vergebung erlangte, oder er könnte (als Eindringen der Pointetypen, speziell der FazeAntiheiliger) verdammt werden. Cepparello aber ertie, in die Slgen. Die Tendenz zur Verknapfindet sein eigenes Leben neu und überzeugt den Beichtvater von seiner einzigartigen Frömmigkeit pung macht auch vor vorhandenen Novellenund Askese; er wird als Heiliger verehrt, und - das sammlungen nicht halt: Lamotte-Roullant hat ist das eigentlich Überraschende — an seinem Grab 1549 „die erzählerische Ausgestaltung" der geschehen Wunder, er ist also offensichtlich erlöst. Cent Nouvelles nouvelles „auf eine ausführliche Die Gnade Gottes nun scheint er seinen Lügen zu Inhaltsangabe reduziert" 56 . verdanken, die zwar eine weitere Sünde darstellen, zugleich aber Ausdruck einer innerweltlich positiv Das unscharfe Profil der Novelle ist u. a. besetzten Ingeniosität sind. Diese und ähnliche Erdurch die inkonsequente Verwendung von

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Gattungsbezeichnungen bedingt, der im übrigen eine stark ausgeprägte Tendenz zur Gattungsmischung (cf. -» Humanismus) entspricht: Sehr häufig ist die Verbindung des Novellistischen mit dem Satirischen (-» Satire). Bandellos Novellen nähern sich der Chronikliteratur; -» Philippe le Picard sammelt in La nouvelle Fabrique des excellens traits de write (1579) fast ausschließlich Lügengeschichten. Autoren wie Bouchet, Nicolas de Cholieres (eigentlich Jean Dagoneau 57 : Neuf Matinees, 1585; Apres-disnees du Seigneur de Cholieres, 1587) oder Francois Beroalde de Verville (Le Moyen de parvenir, 1610) geben ihren Slgen die Form der geselligen Unterhaltung bei einem Gastmahl; in diesem Rahmen können keine Novellen, sondern nur pointierte Anekdoten erzählt werden 58 . Henri Estienne beginnt seine Apologie pour Herodote (1566) in der Absicht, den gegen Herodots Geschichten erhobenen Vorwurf der Unwahrscheinlichkeit durch Beispiele zu widerlegen, gibt aber vor allem seiner Neigung zu antikathol. Polemik nach 59 . Die reiche frz. Novellenproduktion des 16. Jh.s 60 ist wesentlich von ital. Einflüssen geprägt: Bandellos Novellen wurden von Pierre Boaistuau und Francois de Belieferest übersetzt (1559 sqq.), Giovan Francesco Straparolas Piacevoli notti von Jean Louveau und Pierre de Larivey (1560/72)61. Gabriel Chappuys übersetzte u. a. die Hecatommithi von Giovanbattista Giraldi Cinzio (1583) und stellte die Slg Les facetieuses Journees (1584) zusammen, von deren 100 Novellen 86 aus ital. Quellen übernommen sind62. In Deutschland gewann das Novellenmodell Boccaccios63 nie die gleiche Bedeutung wie in Italien und Frankreich; vielmehr entstanden seit Heinrich ->• Bebels Facetiae (1508-12) zahlreiche Schwanksammlungen, deren Geschichten im Spannungsfeld zwischen exemplarischer und novellistischer Intention angesiedelt sind (cf. Johannes Paulis Ankündigung, in Schimpf und Ernst [1522] „exempeln, parabolen und hystorien" bieten zu wollen64). Die Slgen von Jacob - Gott, ->• Christus, - Weib schlimmer Basset hat zunächst 1900 das Kap. zu Guhä als der Teufel. - 39 b (509) = AaTh 1563*: Die ausführlich präsentiert 18 , sodann in seinen schreckliche -> Drohung. — 48 b (1042) = Diener will Mille et un contes19 ausgiebig aus dem N. Lüge seines Herrn nicht bestätigen (Mot. X 907). übersetzt. Bassets Vermutung, bereits A. 52 a (578) = AaTh 1920 F: cf. - Lügenwette. - 52 Galland habe (in seinen Paroles remarquables. b (1043) = AaTh 1920 A: cf. Lügenwette. - 55 b (58) = Schmeichelhaftes Gedicht mit Versprechen P. 1694) das N. benutzt, bleibt - obwohl die belohnt (Mot. J 1551.3; cf. AaTh 1804, 1804 A - B : Pariser Nationalbibliothek mittlerweile drei - Scheinbuße). - 71 a (1079) = Alte Frau braucht Exemplare des Werkes besitzt - unwahrMann als Heilmittel (Marzolph *1476). - 71 b scheinlich 20 . (1070) = Leiche versehentlich als Pökelfleisch verzehrt (Mot. Χ 21)13. - 72 a (684) = cf. AaTh 1169: Über die Rezeption des N. im arab. Um-> Köpfe vertauscht. - 75 a (973) = cf. AaTh 1682: kreis ist wenig bekannt. Die Tatsache, daß nur Pferd fasten lehren. - 76 b (628) = „Bist du der sechs vollständige Hss. (spätes 17.-Anfang Tote oder sein Bruder?" (Mot. J 2234). - 76 b, 96 a 19. Jh.) in westl. Bibl.en aufbewahrt werden, (869) = Mann auf durchgehendem Maultier reitet, deutet auf keine allzugroße Popularität hin. ,wohin das Maultier will' (Mot. J 1483.2; cf. AaTh Andererseits dient die zeitgleiche Existenz 1849*: The Priest on the Cow's Tait)u. - 77 a (649) Dutzender von ähnlichen Slgen als Argument = Dummer dankt Gott, daß er nicht auf gestohlenem Esel saß (Mot. J 2561). - 77 b (1240) = AaTh dafür, daß die Gattung derartiger Kompilatio1529: ^ Dieb als Esel. - 95 a (577) = „Ich bin mein nen relativ beliebt gewesen zu sein scheint 21 . Vater" (cf. Mot. Κ 1354.1.1). - 96 b (1223) = cf. Immerhin ist das Werk bereits relativ kurz AaTh 1572 A*, 1829 A*: Der naschhafte - Heilige. nach seiner Abfassung offenbar nach Indien - 9 7 a (1208) = AaTh 785: - Lammherz. - 104 b bekannt gewesen 22 . (1221) = AaTh 1294: Kopf in der Kanne. - 108 a (340) = Toter wird in ein ,Haus ohne Essen und 1 Trinken' gebracht (Mot. J 2483)15. - 108 a (401) = cf. Marzolph, Arabia ridens 1, bes. 67-71; ibid. 2, AaTh 1567 C: Den großen - Fisch befragen. - 108 294 sq. (Reg.). - 2 [Hammer, J. von:] Rosenöl 2. a (462) = Lügner glaubt an eigene Lüge (Mot. X (Stg./Tübingen 1813 [recte 1815]) Nachdr. Hildes902). - 111 b (932) = AaTh 51: - Löwenanteil. heim/N. Y. 1971, XV. - 3 Catalogue d'une belle col112 a (472) = AaTh 50: Der kranke - Löwe. - 113 lection de manuscrits et livres arabes. P. 1860, num. b (110) = AaTh 63: -«• Fuchs und Flöhe. - 114 a (111) 531. - 4 Ahlwardt, W.: Die Hss.-Verz.se der Kgl.

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Nyman, Äsa Margareta

Bibl. zu Berlin. 19: Verz. der arab. Hss. 7. B. 1895, num. 8427, fol. 43 b - 6 8 a; cf. Brockelmann, C.: Geschichte der arab. Lit. 2. Leiden 21949, 303; S 2 (1938) 413-415. - 5 Marzolph, U.: Philogelos arabikos. In: Der Islam 64 (1987) 185-230. - 6 Inhalt und Stellenangaben nach der Hs. Gotha, Landesund Forschungsbibliothek Schloß Friedenstein, Orient A 2706 (älteste datierte vollständige Fassung, von 1106/1695). - 7 Malti-Douglas, F.: Structures of Avarice. The Bukhalä' in Medieval Arabic Literature. Leiden 1985. - 8 cf. ead.: Structure and Organization in a Monographie Adab Work. Al-Tatfil of al-Khatib al-Baghdädl. In: J. of Near Eastern Studies 40,3 (1981) 227-245. - 9 cf. Sädän, Y.: al-Adab al-'arabl al-häzil wa-nawädir at-tuqalä' (Die arab. humoristische Lit. und Anekdoten über Lästige). Tel Aviv 1983. - 10 Basset, R.: Contribution a l'histoire du sottisier de Nasr Eddin Hodja. In: Keleti szemle 1 (1900) 219-225. " c f . Rosenthal, F.: Humor in Early Islam. Leiden 1956 (dort 140 auch N. als Qu. genannt, allerdings nicht ausgewertet). - 12 cf. id.: A Small Collection of Aesopic Fables in Arabic Tradition. In: Studia Semitica necnon Iranica. Festschr. R. Macuch. Wiesbaden 1989, 233-256. - 13 Ranke, Κ.: Zum Motiv „Accidental Cannibalism" (Thompson X 21) [1973]. In: id.: Die Welt der Einfachen Formen. B./N. Υ. 1978, 286-290. - "Marzolph, Arabia ridens 1, 56-59. - 15 Marzolph, U.: Das Haus ohne Essen und Trinken. In: Fabula 24 (1983) 215-222. 16 von Hammer (wie not. 2) XV (Zitat), 173-198. - 17 Flügel, G.: Einige bisher wenig oder gar nicht bekannte arab. und türk. Hss. In: Z D M G 14 (1860) 527-546, hier 534-538, Zitat 535. - 18 Basset (wie not. 10). - 19 Qu.nangabe bei Basset 1, 38. - 20 Kein Eintrag unter „Nazehat..." (= Nuzhat) in dem weitestgehend aufgrund der Bestände der Kgl. Bibl. verfaßte Werk von Herbelot, B. d': Bibl. Orientale. Maestricht 1776, 663; keine Nennung in der Vorbemerkung bei Galland, Α.: Les Paroles remarquables, les bons mots et les maximes des Orientaux. P. 1694. 21

cf. hierzu bes. die bei Sädän (wie not. 9) ausgewerteten Qu.n. - 22 cf. Rosen, V.: Les Manuscrits arabes de l'Institut des langues orientales 1. (SPb. 1877) Nachdr. Amst. 1971, num. 112.

Göttingen

Ulrich Marzolph

Nyman, Äsa Margareta, * Revsund (Jämtland) 4.6.1921, schwed. Folkloristin. N. Schloß ihr Studium der Vk., nord. und dt. Philologie sowie Psychologie u. a. bei S. Erixon an der Stockholms högskola 1946 mit dem Magister Artium ab. Sie arbeitete 1944-46 am Inst, för folklivsforskning (Inst, für Vk.) und ab 1947 im Landsmäls- und folkminnesarkivet (Dialekt- und Folklorearchiv) in Uppsala zusammen mit A. Campbell. 1972-86 leitete sie

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dort die Abteilung Folklore und war als Dozentin für Ethnologie an der Univ. Uppsala tätig. 1953 reichte N. ihre Lizentiatsarbeit Därfäglar1 ein. 1981 verlieh ihr die Univ. in Umeä die Ehrendoktorwürde der phil. Fakultät. Neben ihren beruflichen Aufgaben, die vor allem im Sammeln, Klassifizieren und Bearbeiten von folkloristischem Material bestanden, verfaßte N. eine Abhdlg über die Geschichte der ethnol. Forschung in Uppsala in den Jahren 1878-1978 2 und arbeitete im Bereich der internat. Kartographie 3 sowie über das schwed. Sennhüttenwesen4. Sie war als Redakteurin für den folkloristischen Teil des Atlas över svensk folkkultur5 tätig und forschte auf dem Gebiet der Sachkultur 6 , der Sagen und des Volksglaubens7 und vor allem der Märchen und anderer Erzähltraditionen. Sie betreute den Schlagwortkatalog des Archivs in Uppsala, klassifizierte alle Märchenbelege nach dem AaTh-System, erstellte Sachregister, Typen- und Motivindizes und gab von anderen Sammlern aufgezeichnete Märchen heraus 8 . Ihre bedeutendste Unters, ist Sagor fron Edsele9, die auf den von F. Bergvall (1903-95) gesammelten Märchen basiert, der vermutlich größten in privatem Besitz befindlichen Märchensammlung aus Norrland 10 . N. erbrachte wichtige Leistungen auf dem Gebiet der farö. Märchenforschung (-• Färöer). In den 1950er Jahren ließ N. als Groschenhefte erschienene Volksmärchen zusammentragen. Gleichzeitig begann sie mit dem Inventarisieren und Aufzeichnen färö. Märchen, einem zu jener Zeit unbeachteten Forschungsgebiet. Dafür führte sie Feldforschungen und Archivarbeiten sowohl in Schweden als auch auf den Färöern durch. In Zusammenarbeit mit färö. Forschern verschickte sie Fragebögen, um Märchen zu sammeln und Angaben über die Märchenerzähler und ihr Milieu zu erhalten. Ihr Interesse galt vor allem der Bedeutung der Märchen und ihrer Funktion in der menschlichen Interaktion. Sie untersuchte die farö. Märchen sowohl aus dem Blickwinkel des Erzählers als auch aus der ethnol. Perspektive und stellte fest, daß die Texte mit ihren wirklichkeitsnahen Beschreibungen Leben und Arbeit auf den isolierten Inseln ungewöhnlich gut widerspiegeln. Hauptsächlich wurden Märchen von Frauen für andere

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Nymphen

F r a u e n oder f ü r K i n d e r e r z ä h l t " . 1984 faßte N . ihre langjährigen Studien über die Färöer in der Arbeit Faroese Folktale Tradition zusammen, in der sie ζ. T. die ältere Forschung, ζ. T. ihre eigenen Unters.en u n d Ergebnisse der neuen Sammelaktivitäten, die sie in den 50er Jahren veranlaßt hatte, vorstellte 1 2 . Weitere Forschungen N.s galten einzelnen M ä r c h e n t y p e n (ζ. B. A a T h 726: Die drei Alten)13 und älteren M ä r c h e n s a m m l e r n (A. Bondeson 1 4 , N . G . -> D j u r k l o u 1 5 , Ο. P. Petterson 1 6 u n d P. A. Säve 17 ). In diesen Arbeiten untersucht sie die Rolle des Individuums - sowohl die des Erzählers u n d des Sammlers als auch die des Herausgebers u n d des literar. Bearbeiters - f ü r die A u s f o r m u n g des Volksmärchens u n d f ü r dessen Stellung innerhalb der Gesellschaft. N.s Unters.en zeichnen sich bes. durch Beachtung materieller, sozialer und sprachlicher Aspekte aus. 1 Ν., Α.: Därfäglar. Ett bidrag tili de folkliga föreställningarna om vissa fäglars skadliga inverkan pa människorna. In: Arv 9 (1953) 1-64. — 2 ead.: De etnologiska undersökningarna i Uppsala. Organisation och utveckling 1878-1978. In: Svenska landsmäl och svenskt folkliv (1979) 72-113. - 3 ead.: Mapping of Popular Beliefs, Legends and Calendar Customs. A Survey of Atlas of Swedish Folk Culture 2. In: Arv 35 (1982) 87-119; ead.: Internationellt samarbete för etnologisk kartläggning av Europa. In: Spräk och tradition. Festschr. S. Benson. Uppsala 1983, 168-181. - 4 ead.: Fäbodmat. Lurar, horn och lockrop. Trolska väsen och vardagsvidskepelse. In: Fäbodar. ed. Η. Lidman. Kristianstad 1963, 115-141, 154—171; ead.: Fäbodarnas osynliga inväre. In: Nordiskt fäbodväsen. ed. G. Rosander. Sth. 1977, 58—67; ead.: Fäbodforskning i Skandinavien. En orientering med anledning av Michel Cabourets doktorsavhandling, La Vie pastorale de la peninsule scandinave, P. 1980. In: Svenska landsmäl och svenskt folkliv (1982) 115-135. - 5 Atlas over svensk folkkultur. 2, 1 - 2 : Sägen, tro och högtidssed. ed. Ä. Campbell/Ä. N.Uppsala 1976. - 6 Ν., Α.: L'Europa del Nord. Etnografia e tradizioni popolari.

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In: Razze e popoli della terra 2. ed. R. Biasutti. Turin 41967, 237-281; ead.: Kufenwiegen in Schweden. In: Ethnologia Europaea 8 (1975) 152—155; ead.: Barnfoten. En egendomlig benämning pa en maltid. In: Svenska landsmäl och svenskt folkliv (1981) 93-96, ead.: Fagelfangst pa Färöarna. In: Festschr. N. Stora. Uppsala 1983,41-45; ead.: Knettir, klabb, kams och palt. In: Nordskandinavisk etnologi. 3: Etnologiska studier tillägnade Phebe Fjellström. Umeä 1984, 83-98. - 7 ead.: Spänna bälte med näcken. In: Svenska landsmal och svenskt folkliv (1976) 30-41; ead.: Olofskult och Olofstraditioner i Jämtland. In: Jämten 72 (1979) 25-42; ead.: Arnljot Geline. En sägengestalt med förnyad aktualitet. In: Oknytt arg 2 (1981) 13-17. - 8 Svenska sagor och sägner. 10: Gotländska sagor upptecknade av P. A. Säve. ed. H. Gustavson. Uppsala 1955-59; N„ Ä.: Källor och kommentarer. In: Stora sagoskatten. Sagor frän heia Europa, ed. D. Sekorovä. Sth. 1971, 171-176. 9 ead.: Sagor frän Edsele. Uppsala 1991; Svenska sagor och sägner. 12: Gotländska sägner upptecknade av P. A. Säve 1 - 2 . ed. H. Gustavson/Ä. N. Uppsala 1959/61. - 1 0 Ν., Ä.: Frans Bergvall 1903-1995. In: Svenska landsmäl och svenskt folkliv (1996) 175-177. - "ead.: Färöiska sagoberättare. In: Frööskaparrit 13 (1964) 62-77; ead.: Etniska särdrag i den färöiska folksagotraditionen. ibid. 18 (1970) 369-385. - 12 ead.: Färöiska folksagor upptecknade efter 1950. ibid. 28-29 (1981) 110-131; ead.: Faroese Folktale Tradition. In: The Northern and Western Isles in the Viking World, ed. A. Fenton/H. Pälsson. Edinburgh 1984, 292-336. 13 ead.: The Oldest on the Farm. In: Gold under the Furze, ed. A. Gailey/D. Ohögäin. Dublin 1982, 185-192. r 1 4 EM 2, 606 sq. - 1 5 EM 3, 727-729. - 16 Ν., Α.: Lappmarkens sagoskatt. Ο. P. Pettersons uppteckningar av sagor i Asele lappmark. In: Petterson, O. P.: Lapplandsforskaren. Fem föredrag. Umeä 1996, 33-53. - 17 ead.: Per Arvid Säve som sagoforskare. In: Per Arvid Säve och hans samtid. ed. U. Palmenfelt u. a. Visby 1992, 32-48. Lit.: Söderström, S.: N., A. In: Norrländsk uppslagsbok 3. ed. L.-E. Edlund. Umeä 1995, 342. Uppsala

Nymphen -» Wassergeister

Agneta Lilja

ο Oben, unten

Richtungssymbolik

Oberen (frz. Auberon). Die literar. Figur des Feenkönigs (Mot. F 252.1) erscheint erstmals im altfrz. Huon de Bordeaux (ca 1260), in dem sie bereits die für die spätere Rezeption relevanten Merkmale trägt: O., der Sohn Julius Caesars und der -» Fee Morgue (Morgana), ist nicht größer als drei Fuß und trotz eines Buckels von strahlender Schönheit, er sieht aus wie ein Fünf] ähriger, wurde aber schon vor der Zeitenwende geboren und ist, im Gegensatz zu anderen übernatürlichen Wesen, Christ. Er verfügt über magische Objekte und Fähigkeiten, mit denen er gewöhnliche Sterbliche davon abhalten kann, in sein Herrschaftsgebiet Monmur einzudringen. Huon hilft er mit seinen Zaubergaben, die von -> Karl d. Gr. gestellte Aufgabe zu bewältigen: Von Bedeutung sind vor allem der magische Trinkbecher, der sich für sündenfreie Menschen mit Wein füllt, sowie das Horn, mit dem O. augenblicklich zu Hilfe gerufen werden kann, welches beim Berühren Unwetter auslöst und das, sanft geblasen, Traurige fröhlich macht bzw. alle Anwesenden zum Singen und Tanzen zwingt (der letzte Zug erscheint erst in der Prosaversion des Huon [15. Jh.]; cf. AaTh 592: -> Tanz in der Dornhecke). Darüber hinaus verfügt O. über einen Fahrzauber, er kann in die Herzen der Menschen bzw. in die Zukunft blicken, aus dem Nichts Paläste, reißende Flüsse und gedeckte Tafeln zaubern, er kennt die Geheimnisse des Paradieses und weiß, daß nach seinem Tod, dessen Zeitpunkt er selbst bestimmen kann, für ihn ein Platz an der Seite Gottes bereit ist. Die christl. Gesinnung O.s manifestiert sich auch in den - für den Handlungsverlauf des Huon wesentlichen - Forderungen an Huon, immer die Wahrheit zu sagen bzw. bis zur Hochzeit mit der Sarazenenprinzessin Esclarmonde keusch zu bleiben.

Die wunderbaren Gegenstände und Fähigkeiten O.s stammen, wie der Anfang des 14. Jh.s verfaßte Roman d'Auberon1 näher ausführt, von Feen: Seine Mutter Morgue schenkte ihm das Horn, seine Großmutter Brunehaut, Tochter des Judas Maccabaeus und selbst Feenkönigin, den Becher und den

später vom Riesen Orgueilleux geraubten Harnisch; drei (im Huon vier) Patenfeen (-> Schicksalsfrauen), unter ihnen eine mißgünstige, haben ihm bei seiner Geburt die Zwergengestalt und den Buckel, aber auch die übernatürlichen Begabungen verliehen (Mot. F 312.1, F 316; cf. AaTh 410: - Schlafende Schönheit). Während der Roman d'Auberon, die anderen spätma. Bearb.en des Huon-Stoffes und auch die neuzeitliche Rezeption der O.-Figur diese übernatürlichen Eigenschaften noch ausschmücken bzw. konkretisieren, wird im ndl. Volksbuch Huyge van Bordeus (16. Jh.) 2 der feenhafte Charakter O.s eher zurückgedrängt: die Wundergaben sind hier Geschenke Gottes, um Huyges Reich vor den Heiden zu schützen, und in der Schlußszene antwortet O. auf den Spott Karls d. Gr., er sei genauso kleinwüchsig wie dessen Vater Pippin. Bereits J. und W. Grimm hatten O.s Namen auf die germ, hypothetische Form alb(i) (Alp, gespenstisches Wesen; cf. -» Elf, Elfen) zurückgeführt und auf die Ähnlichkeiten zwischen O. und dem Zwerg Alberich in der dt. Heldenepik, speziell im Ortnit (ca 1230), hingewiesen3: Alberich ist hier ein 500 Jahre alter Zwergenkönig mit dem Aussehen eines Vierjährigen, er kann sich unsichtbar machen und verfügt über ungeheure Körperkräfte. Ortnit begegnet er zunächst feindselig, gibt sich ihm dann aber als sein Vater zu erkennen, schenkt ihm Rüstung und Schwert und unterstützt ihn schließlich bei der gefahrlichen Werbung um die Tochter des Heidenkönigs Machorel von Tyrus4.

Im Anschluß an die Brüder Grimm und G. Paris 5 versuchte C. Voretzsch, eine gemeinsame (germ.) Vorstufe des Huon und des Ortnit zu rekonstruieren, in der ein elbisches Wesen seinem menschlichen Sohn bei einer schwierigen Brautwerbung hilft; im Gegensatz zum Ortnit habe der Dichter des Huon die Vaterschaft O.s eliminiert, wodurch die Hilfeleistung für den Helden nun unmotiviert er-

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Obsequens, Julius

scheine6. Trotz aller (berechtigten) Einwände gegen Voretzschs Rekonstruktionsversuch 7 konnte gegen die offensichtliche Verwandtschaft der Gestalten O. und Alberich bislang kein entscheidendes Argument vorgebracht werden; es ist allerdings denkbar, daß diese Ähnlichkeit auch auf gegenseitiger Beeinflussung bzw. der Aufnahme beliebter Märchenmotive (ζ. B. des hilfreichen Zwergs, cf. Mot. F 451.5.1) beruht 8 . Schon in der frz. Lit. des 14. Jh.s erscheint O. losgelöst vom Huon-Stoff, so in der Chanson de geste Lion de Bourges9 und im Prosaroman Ysaie le Triste (P. 1520, 1522), in dem der Sohn -» Tristans und Isoldes, begleitet vom Zwerg Tronc, verschiedene Abenteuer besteht und Tronc als Dank für seine treuen Dienste von Feen in O. verwandelt wird. Die freie Verfügbarkeit der O.-Figur ist auch typisch für die literar. Rezeption seit dem Ende des 16. Jh.s, zunächst vor allem in England: In Edmund Spensers allegorischem Versepos The Faerie Queene (1590—96) erscheint O. (= Heinrich VIII.) in der Ahnenreihe der Feenkönigin Gloriana (= Elisabeth I.), in -+ Shakespeares Komödie A Midsummer Night's Dream (1595) löst der Versuch O.s, sich mit seiner Gattin Titania zu versöhnen, eine Kette von Verwicklungen in der Menschenwelt aus, und in Thomas Parnells (1679-1717) Gedicht A Fairy Tale in the Ancient English Style, einer Frühfassung von AaTh 503: -> Gaben des kleinen Volkes, tritt O. als Anführer des tanzenden Elfenvolks auf 10 . -+ Wieland greift dann im Versepos O. (1780) wieder auf den Huon-Stoff zurück und übernimmt von Shakespeare den Streit zwischen O. und Titania, der hier allerdings durch die in -> Chaucers Merchant's Tale geschilderte Begebenheit (AaTh 1423: Der verzauberte -* Birnbaum) ausgelöst wird. Während die älteren musikalischen Bearb.en hauptsächlich an Shakespeare anknüpften (ζ. B. Alfonso Ferrabosco/Ben Jonson: 0., the Fairy Prince, 1640; Henry Purcell: The Fairy Queen, 1692), war im dt.sprachigen Raum vor allem Wielands Epos Ausgangspunkt für zahlreiche Opern: Neben Paul Wranitzkys romantischem Singspiel O., König der Elfen (1789; Libretto von Johann Georg Carl Giesecke und Sophie Seyler) war hier Carl Maria von Webers gleichnamiges Werk (1826) am erfolgreichsten

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und dürfte auch den Ausschlag für die Benennung des 1827 entdeckten Uranus-Mondes O. gegeben haben 11 . 1 Subrenat, J. (ed.): Le Roman d'Auberon. Prologue de Huon de Bordeaux. Genf 1973. - 2 Wolf, F. (ed.): Huyge van Bourdeus. Ein ndl. Volksbuch. Stg. 1860. — 3 cf. [Croker, T. C.:] Ir. Elfenmärchen. Übers, von den Brüdern Grimm. Lpz. 1826, bes. LIX-LXII; Grimm, Mythologie 1, 374 sq. - 4 cf. Dinkelacker, W.: Ortnit. In: Verflex. 7 (21989) 58-67. - 5 cf. Paris, G.: Huon de Bordeaux [1861]. In: id.: Poemes et legendes du moyen äge. P. 1900, 24-96. - 6 Voretzsch, C.: Die Composition des Huon von Bordeaux nebst kritischer Bemerkungen über Begriff und Bedeutung der Sage. Halle 1900, 342 sq.; im „Roman d'Auberon" wird die Hilfeleistung O.s mit der Prophezeiung Brunehauts begründet, daß Huon den Wunderharnisch und das Schloß Dunostre von Orgueilleux zurückgewinnen werde. — 7 cf. Becker, Ρ. Α.: Der pseudohist. Alberich. In: Zs. für rom. Philologie 26 (1902) 265-273. - 8 cf. ζ. B. Scheludko, D.: Neues über Huon de Bordeaux, ibid. 48 (1928) 361-397. - 9 Bibl. Nationale, Paris, Mss. fr. 22555 und 351. - 10 BP 3, 325. "Zwanzig, E.: Vertonte Märchen, Mythen, Sagen, Legenden. Erlangen 1989 (21991), s. v. O.

Graz

Bernd Steinbauer

Obsequens, Julius, lat. Verf., vermutlich 4. Jh., über dessen Leben nichts bekannt ist1. Von O. ist nur ein unvollständiges Werk erhalten. In der Erstausgabe, die 1508 in Venedig bei Aldus Manutius d. Ä. in einem Anh. zu den Briefen des jüngeren Plinius erschien, erhielt es den Titel Ab anno vrbis conditae qvingentesimoqvinto [i. e. 249 a. Chr. n.], prodigiorvm liber imperfectvs2. Über die Herkunft der Hs. verrät der Herausgeber nur, daß Fra Giovanni Giocondo, der auch andere Hss. antiker Verf. entdeckte, sie ihm geschenkt habe3. Das Ms. ist seitdem verschollen, und auch in der antiken und ma. Lit. wird O. nirgends erwähnt 4 . O.' Quelle waren die Ab urbe condita libri des Titus Livius (59 [?] a. Chr. n . - 1 7 p. Chr. n.) bzw. eine Kurzfassung davon 5 . Der erhaltene Text berichtet in chronologischer Ordnung und äußerster Kürze für die Jahre 190 bis 11 a. Chr. n. von Bienenschwärmen, Blitzen, Blut-, Erd-, Milch- und Steinregen (-• Regen, Regenwunder), Erdbeben, schwitzenden und weinenden Götterbildern (-• Hei-

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Obszönitäten

ligenbild, -> Statue), ->• Mißgeburten 6 , einem fliegenden Schild und nächtlichen Sonnen (cf. UFO-Erzählung) und anderen -» Prodigien sowie den Folgen, die diese Ereignisse gehabt hätten. Wahrscheinlich war es O.' Absicht, den Christen zu zeigen, daß die Beachtung von Prodigien und heidnischen Sühneritualen für das Wohl des Gemeinwesens notwendig sei7. Nachdem der Text in Anhängen zu anderen Werken schon ca 25mal gedruckt worden war 8 , brachte die Ausg. des Conrad Lycosthenes aus dem Jahr 1552 mehrere Neuerungen: Lycosthenes ergänzte den Text um ähnliche Prodigien9, versah ihn mit Holzschnitten und stellte ihn an den Anfang eines Bandes, der außerdem zwei Dialoge über Wunderzeichen von Polydor Vergilius und Joachim Camerarius enthält 10 . Bis Ende des 20. Jh.s folgten ca zehn Ausg.n des O. sowie weitere Aufl.n, wobei die Supplemente des Lycosthenes in den meisten Ausg.n bis 1823 enthalten sind11. O.' Slg wurde vor allem in lat. Fassungen verbreitet. Trotz zweier früher Übers.en (ital. Lyon 1554, frz. Lyon 1555)12 hatten volkssprachliche Fassungen nie größeren Erfolg, wenn man einmal von der ital. Übers, eines Ufologen in jüngster Zeit absieht13. Lycosthenes übernahm den größten Teil seiner O.-Ausg. in sein fünf Jahre später in Basel erschienenes ill. Prodigiorvm ac ostentorvm chronicon14, das die Slg weiter ergänzt und Wunderzeichen von der Erschaffung der Welt bis in den Sommer 1557 aufzählt. O., Prodigien (und Lycosthenes' Supplemente) wurden im 16. Jh. zwar gelegentlich zitiert (u. a. von Pierre -» Boaistuau, Ambroise Pare und Johannes -> Weyer)15, doch liegt für die Erzählforschung die Bedeutung des Werks eher darin, daß es - als antikes Vorbild - das Sammeln von Wunderzeichen legitimierte und den Grundstock für Lycosthenes' umfassende Kompilation von 1557 bildete. So trug es zur Etablierung der Prodigienliteratur in der Renaissance bei16. 1 Schmidt, E. L.: Iulius O. und das Problem der Livius-Epitome [...]. Mainz/Wiesbaden 1968, 77-82; Obsecuente, J.: Libro de los prodigios [...]. ed. A. Moure Casas. Madrid 1990, 5, 9. - 2 Plinius d. J.: [E]pistolarum libri decern [...]. Venedig 1508, 495-525; kritische Ausg. in Rossbach, O. (ed.): T. Livi periochae omnivm librorvm [...]. Ivlii Obseqventis prodigiorvm Uber. Lpz. 1910 (u. ö.),

178

149-181; zum Wortschatz cf. Rocca, S.: Ivlii Obsequentis lexicon. Genua 1978 (gleichzeitig eine vollständige Konkordanz); zum Stil cf. Santini, C.: Letteratura prodigiale e „sermo prodigialis" in Giulio Ossequente. In: Philologus 132 (1988) 210-226. 3 Plinius (wie not. 2) fol. *5r; zu Giocondo cf. Lowry, M.: The World of Aldus Manutius [...]. Ox. 1979, 204, 244 sq., 281 sq.; Bigliazzi, L. u. a. (edd.): Aldo Manuzio tipografo [...]. Florenz 1994, num. 101, 105, 113. - "Moure Casas (wie not. 1) 5, 18. 'Schmidt (wie not. 1); Moure Casas (wie not. 1) 5—7. — 6 Sartori, F.: Nascite umane mostruose nel „Prodigiorum liber" di Giulio Ossequente. In: Atti della Soc. italiana di ginecologia e ostetricia 69 (1993) 17-23. - 7 cf. Moure Casas (wie not. 1) 10-17; Schmidt (wie not. 1) 70-83. - 8 Schenda, R.: Die dt. Prodigienslgen des 16. und 17. Jh.s. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 4 (1961-63) 637—710, hier 640 sq.; Ceard, J.: La Nature et les prodiges. L'insolite au XVI e siecle. (Genf 1977) Nachdr. 1996 (mit neuem Vorw., Bibliogr.), 161 sq., 506; Moure Casas (wie not. 1) 43 sq. - 9 cf. Schmidt, P. G.: Suppl.e lat. Prosa in der Neuzeit [...]. Göttingen 1964, 11-13; Nachweis von Lycosthenes' Qu.n bei Moure Casas (wie not. 1) 155-183. - 10 Iulii Obsequentis prodigiorvm liber, ab vrbe condita usque ad Augustum Caesarem, cuius tantum extabat fragmentum, nunc demum historiarum beneficio, per Conradvm Lycosthenem Rubeaquensem, integritati suae restitutus. Polydori Vergilij Vrbinatis de prodigijs libri III. Ioachimi Camerarij Paberg. de ostentis libri II. Basel 1552, 1-128. 11 Rocca (wie not. 2) X sq.; Moure Casas (wie not. 1) 43 sq.; Schmidt (wie not. 9) 12 sq. - 12 Ceard (wie not. 8) 162 sq. - 13 Ossequente, Giulio: II libro dei prodigi [...]. Übers. S. Boncompagni. Florenz 1976 (21981, Rom 31992); diese und die span. Übers, (wie not. 1) bringen auch Kommentare zu den einzelnen Kap.n (einschließlich der Suppl.e des Lycosthenes). - 14 Zur 2. Aufl. und zu Übers.en cf. EM 8, 1324. 15 Ceard (wie not. 8) 128, 253, 475; Pare, Α.: Des Monstres et prodiges. ed. J. Ceard. Genf 1971, 147, 200; Brückner, 441. - 16 cf. Schenda, R.: WunderZeichen [...]. Eine Studie zur Geschichte eines Denkmusters. In: Fabula 38 (1997) 14-32, hier 18-23; Ceard (wie not. 8) 161-163.

Dorpat

Jürgen Beyer

Obszönitäten. Die Bedeutung des Begriffes obszön ist schwer zu konkretisieren, seine Bandbreite liegt bei ,unanständig', schmutzig', ,schamlos', ,unsittlich'1. Das Adjektiv erscheint engl, und frz. seit dem 17. Jh., dt. wird es erst seit Beginn des 20. Jh.s häufiger verwendet. Der Terminus wird angewandt auf verbale Äußerungen, Gesten sowie Handlungen2; die betroffenen Themenbereiche umfas-

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Obszönitäten

sen bes. Sexuelles (-• Erotik, Sexualität; -» Genitalien; Nackt, Nacktheit) und Skatologisches (-• Exkremente)3, im weiteren Sinne etwa auch die unverhohlene Darstellung von Gewalt (-> Grausamkeit) oder offenkundigen Machtmißbrauch; auch Situationen, die allein der Bloßstellung der Beteiligten dienen, sind als obszön bezeichnet worden 4 . Allg. werden O. kulturabhängig definiert5: Eine Sache ist nie an sich obszön, sondern sie wird durch die Überschreitung subjektiv definierter Grenzen als solche aufgefaßt (-• Norm und Normverletzung). Dabei sind gravierende soziokulturelle Unterschiede zu beachten6: Afrik. Redewendungen etwa, die aus europ.-nordamerik. Perspektive obszön erscheinen, gehören im autochthonen Kontext zur akzeptierten Alltagssprache7. Nach L. Marcuse ist die Geschichte der Entrüstung über das Obszöne ein relativ junges Phänomen der europ.-amerik. Gesellschaft 8 . Eine wiss. Unters, von O. findet bes. im Bereich der Lit.- und Rechtswissenschaften statt, die dann kooperieren, wenn es um Fragen der -· Stier austauschbar 3 . Die Eigenschaften und Fähigkeiten werden wie bei anderen Tieren ambivalent, jedoch überwiegend positiv, beurteilt. Daß ein O.nkopf in chin. Höllenschilderungen neben einem Pferdegesicht als Wächtertier des Höllenfürsten agiert4 oder O.n in der emblematischen Lit. mit ihrer Trägheit Unbelehrbarkeit symbolisieren5, scheint eher die Ausnahme. Die -> Hörner der O.n sind seit alters ein weitverbreitetes Mittel gegen den bösen Blick6. An Häusern angebrachte O.n- und allg. Rinderköpfe dienten als magischer Schutz vor Viehsterben, anderen Epidemien sowie als Abwehrzauber gegen böse Geister7. Diesen apotropäischen Funktionen lag die Angst vor dem Verlust der wirtschaftlich wertvollen Tiere zugrunde. O.nkot, glaubte -+ Luther feststellen zu können, halte Hexen von der Verzauberung der -> Milch ab 8 . Gelegentlich begegnen O.n bei den reformatorischen Kompilatoren und später in Sagen als Hexen- und Teufelstier oder als Teufel (Mot. G 303.3.3.10)9; in Sagensammlungen des 19. Jh.s ist der O.nfuß neben dem Bocksfuß mitunter Signum des Teufels10. Ätiologische Sagen, die infolge unterschiedlicher Sammelaktivitäten nur als Einzelbelege aus den verschiedensten Teilen der Welt vorliegen, begründen — ζ. T. mit großer erzählerischer Phantasie - das Aussehen und die Eigenschaften des Tieres11: u. a., warum der O. als Zugtier arbeiten und den Pflug ziehen muß (Mot. A 2252.2, A 2513.5, A 2515.1)12, warum er keine Haare auf den Lippen hat (Mot. A 2221.5.1, A 2342.2), warum er Hörner (manchmal mehr als zwei) besitzt (Mot. A 2247, A 2326.1.4), ein Wiederkäuer 13 oder ein

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Feind bestimmter Tiere (der Antilope: Mot. A 2494.12.3) ist. Eher ambivalente Züge zeigt der O. in (bes. mitteleurop.) Fabeln und Tiermärchen, die jedoch nur bedingt reale Eigenschaften und Fähigkeiten des Tieres reflektieren. Einem stärkeren Tier wie dem Löwen vermag er keine List entgegenzusetzen und wird von ihm in manchen europ. Var.n zu AaTh 51 A: -> Fuchs hat Schnupfen gefressen14. Kann der Löwe gegen mehrere O.n nichts ausrichten, hetzt er sie gegeneinander auf und tötet dann jeden der Kontrahenten einzeln". Innerhalb von Geschichten über den ->• Aufstand der Arbeitstiere (AaTh 207 A) findet sich der O. ebenfalls als unterlegenes Tier. Seinen Versuch, sich krank zu stellen, um der Arbeit zu entgehen, vereitelt der Esel, als er sieht, daß er die Lasten nun allein tragen muß; so redet er dem O.n ein, sein Herr wolle ihn schlachten, worauf der O. die Arbeit wieder aufnimmt 16 . In anderen Erzählungen erscheint der O. als ein furchtsames Tier, vermag sich gegen einen Artgenossen nicht zur Wehr zu setzen, weil er vor dem Löwen fliehen muß 17 , und erschrickt bei seiner Flucht vor dem ihm begegnenden harmlosen Bock, weil er in jedem Tier einen Löwen sieht18. Selbst gegen die kleine Maus hat der O. das Nachsehen und kann sich trotz seiner Kraft des flinken Angreifers nicht erwehren19. Doch gibt es auch die Fabel von dem vermessenen Widder, der glaubt, den O.n besiegen zu können, aber kläglich unterliegt20. Mit O. und Widder auf Futtersuche, beansprucht das Kamel das gefundene (und nicht für alle ausreichende) Gras, indem es behauptet, das größte bzw. älteste Tier (Mot. U 30) zu sein (cf. Rangstreit) 21 . Vor allem die Arbeitsamkeit des O.n (-• Fleiß und Faulheit) wird in Tiergeschichten und Fabeln (auch in Sagen22, Heldenepen23, gelegentlich in Schwänken24) thematisiert. Aus ihnen läßt sich die hohe Wertschätzung ablesen, die ihm entgegengebracht wird. Der O. erscheint gewissermaßen als Prototyp des genügsamen, aber willigen Arbeitstieres, das anderen Zugtieren als Vorbild dient 25 . Er müsse zwar mit Schlägen zur Arbeit gebracht werden, ertrage dann aber geduldig das Joch. Seine Trägheit bei der Arbeit treibt den Bauern manchmal zur Verzweiflung, wie die Eingangssequenz von AaTh 154: Fuchs und

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Ochse

Glieder deutlich macht: Wenn ein Wolf den fleißigen O.n verhöhnt, antwortet der O. mit einer Belehrung über die Verwerflichkeit des Müßiggangs 26 oder klärt das Raubtier auf dessen Frage, warum der O. sich trotz so schwerer Arbeit mit kargem Futter begnüge, über die Folgen der Raublust auf 27 . Die positive Bewertung des Tieres spiegelt sich auch in Märchen und Legenden wider. Charakteristisch für Märchen ist die Funktion des hilfreichen Tieres: In einer Erzählung der Bantu warnt ein O. seinen Besitzer vor Gefahr 28 ; in einer weps. Var. zu AaTh 314: Goldener unterstützt er den Helden 29 . Einem auf einem himmelhohen Baum festsitzenden Mädchen verhilft ein O. dazu, wieder auf die Erde herabzukommen 30 . Als Tierhelfer trägt der O. in AaTh 511 A: Der rote -» O. wie in bestimmten Var.n von AaTh 511: Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein wesentlich dazu bei, daß eine Waise von der Stiefmutter gestellte unlösbar scheinende Aufgaben erfüllen kann 31 . Ein anderer roter O. mit wunderbaren Fähigkeiten (er kann einen Graben voll Wasser leertrinken) stellt sich als Gegenleistung für Speise und Trank in den Dienst des Helden, der auf der Suche nach seinen Geschwistern ist (AaTh 303 A: Brüder suchen Schwestern)32. Weit verbreitet ist die Verwandlung der Brüder in O.n im vor allem in den rom. Ländern bekannten 2. Subtyp von AaTh 451: Mädchen sucht seine Brüder. In Mittelamerika ist mehrfach ein Märchen aus dem Umkreis der unschuldig verfolgten Frau (Kap. 3.1.2) aufgezeichnet worden: Dort werden zwei Waisen nach Genuß einer von der Stiefmutter manipulierten Speise zu O.n, aber vom König wieder in ihre ursprüngliche Gestalt rückverwandelt (AaTh 452 B*: The Sisters as Oxen). Der Einsatz des O.n als Arbeitstier wird eher beiläufig erwähnt (ζ. B. K H M 60, AaTh 303: Die zwei ->• Brüder, K H M 94, AaTh 875: Die kluge - Bauerntochter; K H M 98, AaTh 1641: - Doktor Allwissend). In Legenden erscheint der O. als Wundertier. Selbst ein bereits geschlachteter und zerstückelter O. habe einen Tag nach der Tötung wieder unverdrossen seinen Pflug gezogen, heißt es von Vincent de Beauvais über Thomas Cantipratanus bis hin zu Hieronymus Rauscher und G. B. Bagatta 33 . Die

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christl. Charakterisierung des O.n als wegweisendes Tier, das an einer bestimmten Stelle unbeweglich verharrt und nicht fortzubringen ist, begegnet innerhalb von -> Bauplatzlegenden (Mot. Β 155.1) mit dem über ganz Europa verbreiteten Motiv des Gespannwunders 34 und im Zusammenhang mit der Beförderung eines -» Sarges heiligmäßiger Personen, den die Tiere zu einer bestimmten Stelle ziehen, nicht aber zu dem ursprünglich gedachten Platz 35 . Fällt ein O. als Zugtier aus, vermögen Heilige dank ihrer mirakulösen Fähigkeiten ein nicht domestiziertes Tier als Arbeitshelfer zu verpflichten, nachdem dieses das Zugtier angegriffen und tödlich verletzt hat (AaTh 1910: - Bär [Wolf] im Gespann). Die Zahl der genannten Tiere schwankt: Manchmal ist die Rede von einem einzigen O.n, ein andermal sind es zwei oder mehrere im Gespann, vereinzelt werden ungezähmte Tiere (Stiere) mit einem O.n kombiniert 36 . Auch eine verschwundene Hostie vermag der O. wiederzuentdekken 37 . Daß gerade O.n als Zeugen der stummen Kreatur herhalten müssen, ergibt sich einmal aus der Funktion innerhalb der Handlung, die ein Zugtier voraussetzt, könnte aber auch darauf gründen, daß dem O.n in christl. Legenden seit alters eine bes. Rolle zukommt: Er und ein Esel hätten das in der Krippe liegende Jesuskind angebetet, heißt es - die Anhänglichkeit des Haustieres in Jes. 1,3 mißverstehend — im apokryphen Pseudo-Matthäusevangelium (Kap. 14; 7 . - 9 . Jh.). Dieses Motiv könnte auch auf das Protevangelium des Jacobus zurückgehen, in dem erzählt wird, Maria habe ihr Kind in einer O.nkrippe versteckt 38 . Die wundersame Geschichte um die beiden Tiere mit dem Jesuskind in der Mitte (-• Kindheitslegenden Jesu) symbolisiert jedenfalls die enge Zusammengehörigkeit von Mensch und Tier 39 . Sie erfuhr in Verbindung mit der Verehrung Marias eine seit dem späten MA. anhaltende große Verbreitung und spiegelt sich in Legendenliedern 40 , Krippenspielen 41 und in zahlreichen Texten bis ins 19./20. Jh. wider 42 . Eine weitere Verbindung zu dem frommen O.n mag sich daraus ergeben, daß das Tier in vielen neueren Sagen als Künder von Unheil in der Heiligen Nacht (-• Weihnachten) fungiert und dem absichtlichen Lauscher (nahen Fami-

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Ochse als Bürgermeister

lienangehörigen, dem Herrn) den baldigen Tod voraussagt 43 . In Sprichwörtern und Redensarten ist vorwiegend die Arbeitsamkeit, die Langsamkeit und die Trägheit des O.n angesprochen: ,Wer mit O.n fährt, der kommt auch zum Ziel', ,Ο.η gehen langsam, aber gut', .steht da wie der Ochs vorm Berg', ,ochsen müssen', die ,Ο.ηtour machen' 44 . I

Zeuner, F. E.: Geschichte der Haustiere. Mü./Basel/Wien 1967 (engl. Orig. 1963); Bergmann, J. R.: Haustiere als kommunikative Ressourcen. In: Soziale Welt. Sonderband 6: Kultur und Alltag, ed. H.G. Soeffner. Göttingen 1988, 299-312. - 2 D e Gubernatis, Α.: Die Thiere in der idg. Mythologie. Lpz. 1874, 1-219; Keller, O.: Die antike Tierwelt 1. Lpz. 1909 (Nachdr. Hildesheim 1963), 329-372; Malten, L.: Der Stier in Kult und magischem Bild. In: Jb. des Dt. Archäologischen Inst.s 43 (1928) 90-139; StandDict. 2, 839; Pangritz, W.: Das Tier in der Bibel. Mü./Basel 41963; O. und Esel. In: LCI 3 (1971) 339; Schenda, R.: Das ABC der Tiere. Mü. 1993, 282-289; Hünemörder, C./Hägermann, D.: Rind. In: Lex. des MA.s 7. Stg./Weimar 1999, 854 sq.; zur christl. Tiersymbolik cf. Schmidtke, D.: Geistliche Tierinterpretation der dt.sprachigen Lit. des MA.s (1100-1500) 1. Diss. Β. 1968, 355-357. - 3 Wirth, Α.: Ο. In: HDA 6 (1934-35) 1177-1183; Tremain, R.: The Animals Who's Who. 1146 Celebrated Animals in History, Popular Culture, Literature, and Lore. L. u. a. 1982. - "Wilhelm, R.: Chin. Märchen. MdW 1979, num. 43. - 5 Henkel, A./Schöne, Α.: Emblemata. Stg./Weimar 1996, 526-530. - 'Seligmann, S.: Der böse Blick und Verwandtes 2. B. 1910, 127 sq. - 7 HDA 6, 1178. - 8 Brückner, 432; Schenda (wie not. 2) 288. — 9 cf. Brückner, 675; Böck, E.: Sagen aus Niederbayern. Regensburg 1977, num. 232, 253; cf. HDA 6, 1179; EM 5, 913. - 10 Reusch, R.: Sagen des Preuß. Samlandes. Königsberg 21863, 133. II cf. Dh. 1 - 4 , Reg. s. v. O. - 12 Nowak, num. 26. 13 Dicke/Grubmüller, num. 446. - 14 Schwarzbaum, 480. - 15 Dicke/Grubmüller, num. 450. - 16 ζ. Β. Laoust, Ε.: Contes berberes du Maroc 2. P. 1949, num. 25; Mann, O.: Die Täjik-Mundarten der Provinz Färs. B. 1909, num. 10. - 17 Dicke/Grubmüller, num. 443. - 18 ibid., num. 444. - 19 ibid., num. 445; Küster, C. L.: III. Aesop-Ausg.n des 15. und 16. Jh.s 2. Diss. Hbg 1970, Reg. s. v. O./Stier und Maus; Eberhard, W.: Folktales of China. Chic. 1965, num. 74 (Ο. unterliegt Ratte). - 20 ibid., num. 544. 21 Schwarzbaum, Fox Fables, 361, not. 4. — 22 ζ. B. Fischer, H.: Erzählgut der Gegenwart. Mündl. Texte aus dem Siegraum. Köln 1978, Reg. s. v. O. - 23 ζ. B. Haiding, K.: Alpenländ. Sagenschatz. Wien/Mü. 1972, num. 277; Heissig, W.: Geschichte der mongol. Lit. 1. Wiesbaden 1972, 46-48, 54, 57; id.: Erzählstoffe rezenter mongol. Heldendichtung 1 - 2 . Wies-

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baden 1988, Reg. s. v. O.n. - 24 Marzolph, U.: Nasreddin Hodscha. Mü. 1996, num. 128. - 25 Dicke/ Grubmüller, num. 440-442. - 26 ibid., num. 448. 27 ibid., num. 449. — 28 Werner, Α.: Myths and Legends of the Bantu. L. 1933 (Nachdr. 1968), 211. 29 Kettunen, C.: Näytteita etelävepsästä 2. Hels. 1925, num. 28; cf. Fabula 4 (1961) 177. - 30 Schmidt, num. 976 A. 31 Leskien, Α.: Balkanmärchen. MdW 1915, num. 44 (kroat.). - 32 Bechstein, L.: Märchenbuch, ed. H.J. Uther. MdW 1997, num. 17. - 33 Brückner, 248. - 34 Kretzenbacher, L.: Heimkehr von der Pilgerfahrt. In: Fabula 1 (1958) 214-227, bes. 221-223; Schenda, R. (unter Mitarbeit von Η. ten Doornkaat): Sagenerzähler und Sagensammler der Schweiz. Bern/Stg. 1988, 236 sq. - 35 Müller/Röhrich, num. C 23-25. — 36 Haiding, K.: Das „weisende Tier" in steir. Volkssagen. In: Zs. des Hist. Vereins für Steiermark 62 (1971) 209-227; Moser, D.-R.: Verkündigung durch Volksgesang. B. 1981, 549 sq. - 37 Caesarius von Heisterbach, Dialogus miraculorum 9,7; Tubach, num. 3562. - 38 EM 7, 1357 sq. - 39 Tischendorf, C.: Evangelia apocrypha. Lpz. 21876, 51-112, hier 80. - 40 Moser (wie not. 36) 88 sq., 161 sq., 403, 548, 550. 41 EM 7, 1357. - 4 2 Dh. 2, 13-16. - 4 3 ζ. B. Bloemhoff-de Bruijn, P./Kooi, J. van der: De spokende kleedwagen. Kampen 1984, num. 9; Cammann, A./ Karasek, Α.: Volkserzählungen der Karpatendeutschen. Slowakei 1. Marburg 1981, 270 b; Böck (wie not. 9) num. 22; Haiding (wie not. 23) num. 98, 194; Grohmann, J. V.: Sagen aus Böhmen. Prag 1863 (Nachdr. Walluf 1974), 309; Moser, O.: Die Sagen und Schwänke der Apollonia Kreuter. Klagenfurt 1974, 136. - 44 Wander 3, 1093-1112; Röhrich, Redensarten 2, 1109; cf. auch Kruyskamp, C.: Van den os op den ezel. In: Tijdschrift voor Nederlands Taalen Letterkunde 81 (1965) 85-93.

Göttingen

Hans-Jörg Uther

Ochse als Bürgermeister (AaTh 1675), burlesker Schwank aus der Gruppe jener Erzählungen, in denen menschliche -»· Dummheit dargestellt und verspottet wird. In diesem Fall geht es um Beispiele absurder Leichtgläubigkeit: Ein Dörfler, dem ein Haustier (Rind, Esel) während eines angeblichen Schulbesuchs (bei anderer Gelegenheit) abhanden gekommen ist, läßt sich einreden, dieses sei inzwischen eine hochgestellte Persönlichkeit (Bürgermeister, Richter etc.) geworden. So macht der Mann sich auf, diese Amtsperson zu besuchen und an ihre ,tierische' Vergangenheit zu erinnern, wobei er die verschiedenartigsten Reaktionen erlebt.

In der Überlieferung zeichnet sich eine Eselund eine Rind-Redaktion ab. Der früheste Be-

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Ochse als Bürgermeister

leg findet sich nach Ansicht J. Bokes in dem satirischen Gedicht Die Mülle von Schwyndelssheim (Straßburg 1515) von Thomas Murner. Hier findet ein Müller seinen entlaufenen Esel allseits geachtet in der Kirche wieder und treibt ihn zurück in den Stall. Der Esel entläuft von neuem und findet Aufnahme in der Lateinschule1. Diese Darstellung fußt mit einiger Sicherheit auf der Kenntnis des entsprechenden Schwankmotivs, obwohl Murner keine Person von Stand als angeblich verwandelten Esel vorführt, sondern (im Bericht des Müllers) den wirklichen Esel als Standesperson erscheinen läßt - um die allg. menschliche Dummheit, selbst Dummköpfe zu hofieren, wirkungsvoll dem Spott preiszugeben. 2

In der späteren Erzählüberlieferung begegnet der Esel als Amtsperson vor allem im mediterranen Raum und im Vorderen Orient 3 . Z.T., etwa in den Erzählungen um Hodscha Nasreddin 4 , erschöpft sich das Erzählte in der Mitteilung, ein verlorengegangener Esel sei Kadi geworden. Meist - so in Tunesien5, Ägypten6, Israel7, Syrien8, Griechenland 9 , Bulgarien10 und Bosnien11 — wird jedoch erzählt, wie der ehemalige Besitzer des Esels bis zum Kadi vordringt und ihn durch seine Besitzansprüche in Verlegenheit bringt. Dieser läßt den Eindringling verprügeln und/oder gibt ihm das Geld zum Kauf eines neuen Esels. In Belegen aus Marokko, Palästina und dem Libanon 12 ist gelegentlich hinzugefügt, daß der Mann auf dem Markt seinen Esel wiedersieht, ihn aber nicht kauft, weil er glaubt, daß der Kadi (ein Eseldieb) in diesen Esel zurückverwandelt worden sei (cf. AaTh 1529: Dieb als Esel). Des weiteren ist AaTh 1675 (mit dem Esel als Amtsperson) auch aus Indien 13 , dem Iran 14 , dem Irak", aus Kasachstan 16 , Georgien17, dem Jemen 18 , Ostafrika 19 und sporadisch aus der Slovakei20, der rätorom. Schweiz21, Lothringen 22 und dem fläm. Sprachgebiet23 belegt. Die Überlieferung zeigt eine variable Ausgestaltung: In einem Beleg aus dem ind. Pandschab 24 glaubt der Eseltreiber, dessen Lasttier so hoch aufgestiegen ist, am Ende, er sei selbst ein Esel, und bittet darum, ihn wieder zum Menschen zu machen. In einer irak. Fassung 25 läßt der Kadi den Eseltreiber verprügeln, verfügt jedoch, daß sich Verdächtige künftig zur Feststellung ihrer Identität öffentlich entkleiden müssen. Darauf wettet ein Beobachter der Szene mit dem König, der Kadi werde vor allen Leuten die Ho-

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sen herunterlassen, was dieser aufgrund seines Erlasses auf Verlangen des Eseltreibers auch tun muß 26 . Dabei kommt ein Muttermal zum Vorschein, wie es ähnlich der Esel hatte, und der Kadi wird dem Eseltreiber als Eigentum zugesprochen. Ähnliches geschieht in einer georg. Var.27 Gelegentlich sind sowohl der Esel als auch der Kadi einäugig, so daß für den Besitzer des Esels sofort ein eindeutiges Erkennungszeichen gegeben ist28.

Im Unterschied zur variationsreichen EselRedaktion enthält die episodenreichere mittelund nordeurop. Rind-Redaktion durchgängig das Motiv vom Schulbesuch des Haustiers, so daß der Schwank praktisch zweigeteilt erscheint: Betrüger (Studenten, ein Schlachter) schwatzen einem Bauern seinen O.n (Stier, Kalb) ab, indem sie dem Besitzer einreden, das Tier sei so klug, daß es die höhere Schule besuchen könne. Sie nehmen es mit in die Stadt, um es dort zu verkaufen oder zu schlachten, und lassen den Bauern für den angeblichen Schulbesuch längere Zeit tüchtig bezahlen. Als er endlich seinen O.n Wiedersehen will, wird ihm gesagt, der habe inzwischen sein Studium abgeschlossen und sei nun Bürgermeister (Richter, Advokat) in der nächsten Stadt. Der Bauer, wütend über das undankbare Tier, das in seinem Hochmut seine .Eltern' vergessen habe, macht sich dorthin auf und dringt bis zum Bürgermeister vor (der zufallig auch Ochs heißt oder denselben Namen wie der O. trägt). Er wird von den herbeigerufenen Stadtdienern mit Schlägen hinausgejagt oder verprügelt das fassungslose Stadtoberhaupt, bis er das verausgabte Lehrgeld zurückerhält.

Diese Redaktion erscheint - nur geringfügig variiert - in Belegen aus Finnland 29 , Lettland 30 , Litauen 31 , Weißrußland 32 , Rußland 33 , der Ukraine 34 , Polen 35 , Ungarn 36 , Österreich37, Deutschland 38 , Schweden39 (und von den Finnlandschweden40), aus Dänemark 41 , den Niederlanden 42 , den beiden Sprachregionen Belgiens43, Irland 44 und dem frz.sprachigen Kanada 45 . In der norw. Überlieferung 46 hat der Schwank einen eigentümlichen Schluß erhalten: Hier ist ein gelehriges Kalb angeblich Kaufmann geworden, der die kinderlosen Bauersleute, die ihn als ihr Eigentum reklamieren, nach einiger Überlegung als seine Eltern anerkennt und sie schließlich beerbt. Diese Form ist sonst nur sporadisch aus Schweden47, Finnland 48 , Dänemark 49 , Norddeutschland 50 und Polen 51 nachweisbar. AaTh 1675 ist ζ. T. mit anderen Schwänken von Fehlleistungen dummer Dörfler (vor allem AaTh 1240: Ast absägen und AaTh

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Ochse als Bürgermeister

1313 A: cf. -> Mann glaubt sich tot)52 kontaminiert und mitunter in eine Kette von Dummenschwänken eingebunden 53 . Das legt die Annahme einer städtischen Sichtweise auf das .zurückgebliebene' Dorf nahe. Gelegentlich wird die Dummheit dem Vertreter einer ethnischen Minderheit (-• Jude, Kurde) zugeschrieben 54 . Wenn die Betrüger im Schwank die Dummköpfe um ihr Haustier bringen, haben sie die Lacher auf ihrer Seite. Auch der Verweis auf die Wandlung des Tieres zur Amtsperson wird von den Betrogenen gläubig hingenommen, während die Betrüger in der Regel ungeschoren bleiben. Das zweite Opfer des Schwanks ist ein Unbeteiligter, die Amtsperson, von der der Dumme gewöhnlich ein drittes Mal düpiert wird. Darüber hinaus liegt in der Vorstellung, daß ein Esel zum Kadi und ein O. zum Bürgermeister werden könne, auch eine soziale Spitze gegen derartige Amtspersonen (cf. auch AaTh 1268*, 1675*, 1861*: Bürgermeisterwahl), die noch einen bes. Akzent erhält, wenn der Landmann sein angeblich aufgestiegenes Haustier kräftig durchprügelt oder wieder an die Kette nimmt 55 . So wie der dumme Besitzer des Haustiers unterschiedlich sozial etikettiert werden konnte, bestand auch die Möglichkeit, jeden unbeliebten Würdenträger (Verwalter 56 , Gouverneur 57 , Ministerpräsident 58 , Mulla 59 , Papst 60 ) in Bezug zu den als bes. dumm geltenden Tieren O. und Esel zu setzen. D a berührt sich AaTh 1675 ζ. T. mit der sozialen Tendenz anderer Schwänke, in denen hohen Herren weisgemacht wird, daß ein Esel lesen oder ein Hund reden lernen könne (AaTh 1750: cf. Tiere lernen sprechen). Angesichts der Variabilität seiner zumeist späten Überlieferung läßt sich kaum etwas über Herkunft, Alter und Art der Verbreitung von AaTh 1675 sagen. Die deutliche Herausbildung zweier Redaktionen, der Esel- und der Rind-Redaktion, ist sicherlich weitgehend auf Unterschiede in den kulturgeogr. Gegebenheiten zurückzuführen. 1 Bolte, J.: Der Schwank vom Esel als Bürgermeister bei Thomas Murner. In: ZfVk. 7 (1897) 93-96, hier 95. - 2 Ergänzend zu AaTh: Ο Süilleabhäin/Christiansen; de Meyer, Conte; Hodne; Rausmaa; Kecskemeti/Paunonen; Aräjs/Medne; SUS; Soboleva; MNK; György, num. 155; BFP; Archiv G. A. Me-

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gas, Athen; Gonzalez Sanz; Jason; Jason, Iraq; Nowak, num. 359, 424; Jason, Indic Oral Tales. — 3 cf. auch Chauvin 7, 170, num. 445. — 4 Hodscha Nasreddin, num. 63; cf. auch Marzolph, U.: Nasreddin Hodscha. Mü. 1996, num. 607, 644, cf. 163, 363. 5 Stumme, H.: Tunis. Märchen und Gedichte 2. Lpz. 1893, 133 sq. (= Hodscha Nasreddin, num. 385). 6 Littmann, E.: Arab. Märchen und Schwänke aus Ägypten. Wiesbaden 1955, num. 28. — 7 Noy, D.: Folktales of Israel. Chic. 1963, num. 66; id.: Jefet Schwill erzählt. B. 1963, num. 139; Jason. - 8 Bergsträsser, G.: Neuaram. Märchen. Lpz. 1915, num. 7. - 9 Archiv G. A. Megas, Athen. - 10 BFP. 11 Anthropophyteia 1 (1904) 25 sq., num. 32. 12 Nowak, num. 359 (in einer Lügenwette), num. 424; Assaf, U. und Y.: Märchen aus dem Libanon. MdW 1978, num. 30. - 13 Clouston, W. Α.: The Book of Noodles. L. 1888, 103-106; North Indian Notes and Queries 2 (1893) 174 sq., num. 642 (= Bolte [wie not. 1] 93 sq.); Swynnerton, C.: Romantic Tales from the Panjäb with Indian Nights' Entertainment. Neuausg. L. 1908, num. 6; Jason, Indic Oral Tales. — 14 Bolte (wie not. 1) 94. - 1 5 ZDMG 36 (1882) 10-15, num. 2; Campbell, C. G.: From Town and Tribe. L. 1952, 195-200. 16 Sidel'nikov, V.M.: Kazachskie narodnye skazki. M. 1952, 89-91 (Pferd). - 17Orbeliani, S.-S.: Die Weisheit der Lüge. Β. 1933, num. 136. - 18 EM 7, 521. - " E M 6, 1131. - 20 Polivka, num. 135 Β 2. 21

UfFer, L.: Rätorom. Märchen und ihre Erzähler. Basel 1943, 251, 303 sq. - 22 Bolte (wie not. 1) 95. - 23 Vk. 9 (1896-97) 229-231. - 24 Swynnerton (wie not. 13). - 25 Campbell (wie not. 15). - 26 cf. Degh, L.: The Bet. In: Homo narrans. Festschr. S. Neumann. Münster 1999, 191-200. - 27 cf. Orbeliani (wie not. 17). — 28 Noy, Folktales (wie not. 7); Bergsträsser (wie not. 8); ZDMG (wie not. 15). — 29 Rausmaa; Kecskemeti/Paunonen. — 30 Aräjs/ Medne. 31 Veckenstedt, E.: Sztukoris, der Till Eulenspiegel der Litauer und Zamaiten. Lpz. 1885, num. 7; Danner, E.: Die Tanne und ihre Kinder. B. 21961, 117-119 (litau.). - 32 Barag; Märchen der europ. Völker, ed. G. Hüllen. Münster 1962, 175. - 33 SUS; Soboleva. - 34 SUS; Archiv für slav. Philologie 19 (1894) 267, num. 26; Javorskij, Ju. Α.: Pamjatniki galicko-russkoj slovesnosti. Kiev 1915, 211—214, num. 83. - 35 Krzyzanowski. — 36 György, num. 155; MNK; Degh, L.: Kakasdi nepmesek 1. Bud. 1955, num. 47; Koväcs, Α.: König Mätyäs und die Rätöter. Lpz./Weimar 1988, 34 sq.; Mode, H.: Zigeunermärchen aus aller Welt 3. Wiesbaden 1984, num. 146. — 37 Zaunert, P: Dt. Märchen aus dem Donaulande. MdW 1926, 163-165. - 38 Kubitschek, R.: Böhmerwäldler Bauernschwänke. Wien/Prag/Lpz. 1920, 75; Kapfhammer, G.: Bayer. Schwänke. Düsseldorf/Köln 1974, 39; Pröhle, H.: Kinder- und Volksmärchen. Lpz. 1853, num. 59; Zender, M.: Volksmärchen und Schwänke aus der Westeifel. Bonn 1935, num. 119; Dietz, J.: Lachende Heimat.

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Ochse für fünf Pfennig

Schwanke und Schnurren aus dem Bonner Land. Bonn 1951, num. 185; Henßen, G.: Volk erzählt. Münster 1935, num. 248; Ranke, K.: Folktales of Germany. Chic. 1966, num. 77; Meyer, G. F.: Plattdt. Volksmärchen und Schwänke. Neumünster 1925, num. 66; Bartsch, K.: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1. Wien 1879, 494 sq., num. 11; Wossidlo, R.: Volksschwänke aus Mecklenburg. ed. S. Neumann. B. 31965, num. 194; Jahn, U.: Schwänke und Schnurren aus Bauern Mund. B. 1890, 54-59 (= Neumann, S.: Der O. als B. Rostock 1999, num. 28); Grannas, G.: Plattdt. Volkserzählungen aus Ostpreußen. Marburg 1957, num. 49. 39 Wigström, E.: Skanska Visor, Sagor och Sägner. Lund 1880, 27 sq. — 40 Hackman, O.: Finlands svenska folkdiktning I A 2. Helsingfors 1920, num. 255; Aberg, G. Α.: Nyländska Folksagor. Helsingfors 1887, num. 313. 41 Kristensen, Ε. T.: jEventyr fra Jylland 3. Kop. 1895, num. 65; Christensen, Α.: Molboernes vise Gerninger. Kop. 1939, num. 94. — 42 Cox-Leick, Α. Μ. A. und H. L.: Märchen der Niederlande. MdW 1977, num. 61. - 43 Mont, P. de/Cock, Α. de: Vlaamsche Volksvertelsels. Zutphen 1927, 151-154, num. 21; Goyert, G.: Vläm. Märchen. MdW 1925, 21-23; de Meyer, Conte; Legros, 110. - 44 0 Süilleabhäin/Christiansen. - 45 Lemieux, G.: Les Vieux m'ont conte 18. Montreal/P. 1982, num. 3, 11. - 46 Christiansen, R. T.: Norske eventyr. Kristiania 1921; Opedal, H. O.: Eventyr ifra Hardanger. Oslo 1965, num. 26. — 47 Liungman, Volksmärchen. 48 Rausmaa. - 49 Grundtvig, S.: Dän. Volksmärchen. Lpz. 1878, 59-69; Kristensen, Ε. T.: Fra Bindestue og Kelle 2. Kop. 1897, num. 2; id. (wie not. 41) t. 4 (1897) num. 62. - 50 Colshorn, C. und T.: Märchen und Sagen aus Hannover. Hannover 1854, num. 39; Rink, J.: Tattedi. Danzig 1924, 13-15. 51 Krzyzanowski. — 52 Noy, Jefet Schwill (wie not. 7); Uffer (wie not. 21); Vk. (wie not. 23); Christensen (wie not. 41). - 53 Tillaeg til Hejskolebladet (1881) num. 16-22 (+ AaTh 1317, 7, 1833, 1242, 1821). 54 ζ. B. Hüllen (wie not. 32); ZDMG (wie not. 15). - 55 ζ. B. Jahn, Bartsch und Wossidlo (wie not. 38). - 56 Danner (wie not. 31). — 57 cf. Polivka (wie not. 34); Hackman und Aberg (wie not. 40). - 58 cf. Mode (wie not. 36). - 59 cf. Sidel'nikov (wie not. 16). - 60 cf. Bartsch (wie not. 38).

Rostock

Siegfried Neumann

Ochse für fünf Pfennig (AaTh 1553), schwankhafte Erzählung über ein mit List umgangenes Gelübde: In einer Krisensituation (als er sich verirrt hat, auf dem Totenbett) verspricht ein Mann (Trickster, Reicher, Bauer, Ritter), ein großes Nutztier (Kamel, Pferd, Esel, Kuh, Ochse) ohne persönlichen Gewinn

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(spottbillig, Erlös für die Armen) zu verkaufen. Nachdem die Situation überstanden ist (nach seinem Tod), bietet er (seine Frau) das Tier zu dem zugesagten günstigen Preis an. Er will es jedoch nur zusammen mit einem kleinen Haustier (Katze, Hahn, Hund, selten Ziege) verkaufen, für das er einen sehr hohen Preis verlangt.

AaTh 1553 ist seit dem 10. Jh. in der arab. Lit. belegt1, so in der schöngeistigen Kompilation Muhädarät al-udaba (Unterhaltungen der Gelehrten) des Rägib Isfahan! (gest. vor 1108), der Sprichwörtersammlung des Maidänl (gest. 1124) oder in zwei der Schwanksammlungen des -» Ibn al-Gauzi (gest. 1201); im 19. Jh. wird sie, offensichtlich unmittelbar aus der ma. Lit., vom anonymen Kompilator der ersten arab. Druckausgabe (1862) der Hodscha NasreddinSchwänke dem Trickster Guhä zugeschrieben und hierdurch Bestandteil des Guhä-Repertoires2. Aus dem Arabischen wird der Schwank bereits im MA. ins Persische übernommen, so in den Bahärestän (Frühlingsgarten) des Gämi (gest. 1492); danach findet er sich zitiert in dem pers. Schwankbuch Hekäyät-e latif (Feinsinnige Geschichten), das in der brit. Kolonialzeit in zahllosen inhaltlich divergierenden Fassungen auf dem ind. Subkontinent verbreitet war 3 . Bereits im 12. Jh. erscheint AaTh 1553 in der europ. Lit., so zuerst in den Fables der Marie de France 4 , danach im -»· Romulus Roberti5, später bei John Bromyard (Summa predicantium Ε 8,17) und in den Fabulae Aesopi des Joachim Camerarius 6 . Im 16. Jh. findet sich die Erzählung im Heptamiron (num. 55) der Marguerite de Navarre, bei Johannes Pauli7 und Hans Sachs8. Im 17./18. Jh. ist sie sowohl in der dt. Predigtliteratur (Johann Geiler von Kaysersberg, Narrenschiff·, Johannes -> Hulsbusch, Sylva sermonumi0) als auch in ital. und zahlreichen dt. Schwanksammlungen vertreten11. Im 18./ 19. Jh. findet sie sich im Rahmen der Kalenderliteratur (ζ. B. Schweiz., ndl.)12, im 19./ 20. Jh. schließlich wird sie als , Volkserzählung' aus einem Gebiet publiziert, dessen Verbreitung sich von Nordafrika über fast ganz Europa bis zum Baltikum erstreckt 13 . Wenn auch die Chronologie der Überlieferung stimmig rekonstruiert werden kann, so sind doch ökotypische Var.ngruppen mit spezifischer Prägung (Personal, Requisiten) und

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Ochse: Der rote O.

dadurch inhaltlicher Gewichtung zu unterscheiden: In der arab. und der jüd. Überlieferung 14 ist der Mann als Trickster charakterisiert, der das in höchster Not gemachte Gelübde in vollem Bewußtsein umgeht. Die europ. Var.n seit Marie de France dagegen lassen das Gelübde mehrheitlich von einem Mann sprechen, die List hingegen von dessen Frau (Witwe) ausführen: Der Mann wollte die für das Tier erworbene Summe für die Armen (Priester, Kirche etc.) spenden, um (durch Gebete, das Lesen einer Seelenmesse) Kredit im Jenseits zu erwerben. Die genannten Tiere sind in der arab. Überlieferung Kamel und Katze; die europ. Texte nennen als großes Tier etwa zu gleichen Teilen Kuh (Ochse) oder Pferd (Stute), als kleines Tier meist einen Hahn (Henne), selten auch eine Katze15, singulär Kaninchen, Ziege oder mageres Kalb 16 . Die Texte der barocken Schwankliteratur handeln überwiegend von einem Ritter, dessen Witwe sein Pferd nur zusammen mit einem Hund verkaufen will17. Hinsichtlich ihrer Genese kann die Erzählung aus dem Kontext der im arab.-islam. Raum weitverbreiteten juristischen Lit. zu sog. .Rechtskniffen' 18 erklärt werden (cf. ->• Rechtsfälle); ein Zusammenhang mit dem in der klassischen arab. Lit. weitverbreiteten Bild von der Katze auf dem Kamel ist rein spekulativ19. Die europ. Überlieferung hat durch die Aufteilung der Handlung von ursprünglich einem auf jetzt zwei Handlungsträger gleichzeitig eine misogyne Akzentuierung eingeführt. Unter Beibehaltung der Grundstruktur ist die Erzählung außerdem durch die Anführung entsprechender Tiere an ein europ. bäuerliches Umfeld adaptiert worden. Eine religiös-moralische Intention, gleich ob islam,, jüd. oder christl., eignet der Erzählung nur schwach. Diese ist in verwandten Schwänken wie AaTh 778, 1553 A*: Geloben der großen -> Kerze stärker ausgeprägt, wenngleich auch dort eher die Sympathie für die listige Umgehung des Gelöbnisses im Vordergrund steht. 1

cf. Marzolph, Arabia ridens 1, 79-81; ibid. 2, num. 1553; Basset 2, num. 143. — 2 Hodscha Nasreddin, num. 370; cf. Marzolph, U.: Adab in Transition. In: Israel Oriental Studies 19 (1999) 161-172. - 3 id.: „Pleasant Stories in an Easy Style". Gladwin's Persian Grammar as an Intermediary between Classical and Popular Literature. In: Proc. of the Second Eu-

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ropean Conference of Iranian Studies, ed. B. G. Fragner u. a. Rom 1995, 445-475. 4 Warnke, K.: Die Qu.n des Esope der Marie de France. In: Forschungen zur rom. Philologie. Festschr. H. Suchier. Halle 1900, 161-284, hier num. 64. - 5 Oesterley, H.: Romulus. B. 1870, num. 48; Hervieux 2. P. 1894, num. 54; Perry, Β. E.: Aesopica. Urbana, 111. 1952, num. 674. - 6 cf. Warnke (wie not. 4). - 7 Pauli/Bolte, num. 462. - 8 Sachs, H.: Sämtliche Fabeln und Schwanke 6. ed. Ε. Goetze/ Κ. Drescher. Halle 1913, num. 853. - 9 cf. Scheible, J.: Volksprediger, Moralisten und frommer Unsinn. Stg. 1845, 572 sq. - 10 Moser-Rath, Predigtmärlein, num. 192; cf. auch Dvorak, num. 1463*. 11 cf. Moser-Rath, Schwank, 287 sq., 406, 457; Hodscha Nasreddin 2, 190. - 12 cf. EM 7, 872; Kooi, J. van der: Almanakteljes en folksforhalen; in stikmennich 17de- en 18de-ieuske teksten. In: It Beaken 41 (1979) 70-114, hier num. 2.13; id.: Lit. als Vk. Hist. Erzählforschung, Volkskalender und Mundart. In: Rhein. Jb. für Vk. 26 (1985/86) 142-175, hier num. 26; Archiv van der Kooi, Groningen. — 13 Ergänzend zu AaTh: SUS (ukr.); Aräjs/Medne; van der Kooi; Polivka 5, num. 133 Cb; Stroescu, num. 4854; BFP; Haboucha; Nowak, num. 445; Coetzee; Brandt, Ε. V.: 69 tunesiske eventyr. Kop. s. a., 90; Camarena Laucirica, J.: Cuentos tradicionales de Leon 2. Madrid 1991, num. 222; Kooi, J. van der/Gezelle Meerburg, B.: Fries. Märchen. MdW 1990, num. 199; Kooi, J. van der/Schuster, T.: Märchen und Schwänke aus Ostfriesland. Leer 1993, num. 126; Merkens, H.: Was sich das Volk erzählt 2. Jena 1895, 162 sq., num. 196; Kristensen, Ε. T.: Molbo- og aggerbohistorier. Viborg 1892, num. 160; Undset, S.: True and Untrue and Other Norse Tales. Ν. Υ. 1945, 202-208 (norw.). - 14 cf. Haboucha; Schwarzbaum, 55, 451; Landmann, S.: Der jüd. Witz. Fbg. 1960, 148; Scheiber, Α.: Essays on Jewish Folklore and Comparative Literature. Bud. 1985, 93 sq., num. 15. - 15 cf. BFP; van der Kooi; Marguerite de Navarre, Heptameron, num. 55; EM-Archiv: Conlin, NarrnWelt 7 (1711), 406; Scheible (wie not. 9). - 16 van der Kooi; Merkens (wie not. 13). - 17 Moser-Rath (wie not. 11). - 18 Schacht, J.: Hiyal. In: EI 2 (1979) 510-513. - 19 cf. Hodscha Nasreddin 2, 189; dagegen Geyer, R.: Die Katze auf dem Kamel. In: Orientalistische Studien 2. Festschr. T. Nöldeke. Gießen 1906, 57-70.

Göttingen

Ulrich Marzolph

Ochse: Der rote O. (AaTh 511 A), Zaubermärchen aus der Gruppe von Erzählungen über das schlecht behandelte Waisenkind, das durch einen übernatürlichen -»· Helfer zu Glück und Wohlstand kommt. AaTh 511 Α ist die männliche Nebenform der weitaus bekannteren Erzählung mit einem weiblichen Stief-

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Ochse: Der rote O.

kind, das von der toten -» Mutter in Gestalt einer Kuh (Ziege) Beistand erfährt (AaTh 511: Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein). (1) Ein Waisenjunge muß als -> Hirt arbeiten. Die -» Stiefmutter gibt ihm nichts (trockenes Brot, Aschenkuchen) zu essen und zu trinken. Ein roter (andersfarbiger) O. (Stier, Büffel, Pferd) spendet dem ausgehungerten Jungen Nahrung aus seinen -* Hörnern (Ohren). (2) Da der Junge fröhlich bleibt und gut gedeiht, schickt die argwöhnische Stiefmutter ihre eigenen Kinder zum Spionieren mit (folgt dem Jungen heimlich selbst). Die Stiefgeschwister haben unnatürlich viele -> Augen (eins, drei bis sieben), welche der Hirt durch Flötenspiel (Geigenspiel, Pfeifen) einschläfert, um unbeobachtet essen zu können. Einmal bleibt ein Auge im Nacken (Rücken) wach, und das Geheimnis wird entdeckt. Die Stiefmutter täuscht Krankheit (Hunger) vor und verlangt die Tötung des helfenden Tieres. (3) Dieses flieht mit dem Jungen (fliegt mit ihm davon). Bei einem wilden Ritt durch -» Wälder aus -» Kupfer, Silber und Gold reißt der Junge trotz des ausdrücklichen -» Verbots jeweils ein Blatt (Zweig) ab, und der O. wird von den Herren der Wälder (Wolf, Löwe, Hase; metallene Stiere) zum Kampf herausgefordert. Der O. gibt Anweisungen, welche Teile (Hörner, Haut, Huf, Nabel) nach seinem Tode aufzusammeln seien. Zweimal trägt der O. den Sieg davon. Beim dritten Mal wird er vom unansehnlichsten Gegner im Kampf getötet. (4) Das Ende weist je nach Überlieferungsgebiet große Variationen auf. Oft berichtet das Märchen von der Rückkehr des Helden ins elterliche Haus oder zeigt ihn auf Brautwerbungszug. In Europa ist AaTh 511 Α zuerst durch ein um 1612 in Schweden niedergeschriebenes Fragment belegt 1 . Ein mögliches hohes Alter wurde von A . - B . -> Rooth in Zusammenhang mit AaTh 314: - Goldener, AaTh 590 A: cf. Das ägypt. -* Brüdermärchen sowie der Erzählung von Phrixos und Helle aus der Argonautensage diskutiert 2 . Rooth vermutete nahöstl. Herkunft des im gesamten Europa verbreiteten Erzähltyps 3 und unterschied drei Kerngebiete der Überlieferung: den Balkan, Irland und Skandinavien 4 . Von da aus gehen Verzweigungen nach Ungarn 5 , in den slav. Sprachraum 6 , das Baltikum 7 und bis nach Island 8 . Europ. Siedler brachten das Märchen auch nach Ubersee: Var.n wurden von franko-, anglo- und hispanoamerik. Erzählern 9 , aber auch im südl. Afrika 10 aufgenommen. Auffallend viele Belege finden sich in China 11 . Die Anfangssequenz von AaTh 511 Α weist starke Parallelen zu AaTh 511 auf, allerdings ist in AaTh 511 Α das Schutztier männlich. In den einleitenden Szenen ist das Füllhorn das

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zentrale Motiv (cf. auch ->• Fortuna); auch nach dem Tod des O.n verleihen dessen Körperteile dem Helden Stärke (Haut; ir.) 12 und soziales Ansehen (viehspendendes Horn; bulg.) 13 . Im Vergleich zu AaTh 511 fehlt in AaTh 511 Α die abschließende Bewährungsprobe. Dies mag der Grund dafür sein, weshalb häufig Kontaminationen mit Erzähltypen wie AaTh 300: cf. Drachentöter 14 , AaTh 302: - Herz des Unholds im Eils, AaTh 314 16 , AaTh 314 A: Hirt und die drei Riesen17 und AaTh 400: Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau[s vorliegen, was zu gewissen Motiwerschiebungen führt. Die Fluchtsequenz, die als Kernszene von AaTh 511 Α gilt, kann als Magische Flucht (AaTh 313 sqq.) ausgestaltet 19 und zu einem größeren Erzählgeschehen mit AaTh 480: Das gute und das schlechte -* Mädchen und AaTh 510 A—B: Cinderella ausgesponnen werden 20 . In der südosteurop. Überlieferung findet sich eine um AaTh 1199 A: -» Qual des Brotes (Flachses) erweiterte Schlußpassage 21 : Eine Alte (Hexe) hilft dem Jungen, aus dem Horn des toten O.n entwichene Rinder (Schafe) zusammenzutreiben, und verlangt, daß er sie heirate; seine Braut befreit ihn, indem sie ein Brot bereitlegt, das auf die Fragen des dämonischen Wesens hin ausführlich beschreibt, welche Qualen es bei der Zubereitung durchgestanden hat. 1 Schück, H.: Var ältasta folksaga. In: Samlaren 8 (1887) 176-179. - 2 Rooth, A.-B.: The Cinderella Cycle. Lund 1951, 140-143. - 'Ergänzend zu AaTh: SUS; Kecskemeti/Paunonen; Aräjs/Medne; Hodne; 0 Süilleabhäin/Christiansen; Delarue/Teneze; Gonzalez Sanz; Camarena/Chevalier; Cirese/ Serafini; MNK; BFP; Jason, Types; Nowak, num. 63; Baughman; Schmidt, num. 1071; Ting. 4 Rooth (wie not. 2) 135-147, 152. - 5 MNK. 6 SUS (ukr.); BFP. - 7 Aräjs/Medne. - 8Sveinsson, num. 302. — 9 Delarue/Teneze; Baughman; Camarena/Chevalier. - 10 Schmidt; Schmidt, S.: Aschenputtel und Eulenspiegel in Afrika. Köln 1991, 175; ead.: Europ. Märchen am Kap der Guten Hoffnung des 18. Jh.s. In: Fabula 18 (1977) 40-74, hier 55 sq. -

"Ting. - 12Sveinsson, num. 302. - 13BFP. - 14 Jacobs, J.: More English Fairy Tales. L. 1894, 172-176; DBF A 1, 380-382, 382sq. - ^Sveinsson, num. 302. - 16 JAFL 29 (1916) 31-37 (frankokanad.). - 17 ibid.; Bealoideas 2 (1930) 268 -272; Rael, J. B.: Cuentos espanoles de Colorado y Nuevo Mejico 2. Stanford [1957], num. 237; Roberts, L. W.: Up Cutshin and Down Greasy. Frankfort, Ky. 1959, 109-115. - 18 Delarue/Teneze. - 19 Hodne; Löwis

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Octavian

of Menar, A. von: Finn, und estn. Volksmärchen. MdW 1922, num. 21 (finn.); JAFL 36 (1923) 243-245 (frankokanad.); Paasonen, H./Ravila, P.: Mordwin. Volksdichtung 3. Hels. 1941, 236-257. 20 Camaj, M./Schier-Oberdorffer, U.: Alban. Märchen. MdW 1974, num. 39; Chalilov, Ch.: Skazki narodov Dagestana. M. 1965, num. 46 (lak.); Valjavec, Μ. K.: Narodne pripovjesti u Varazdinu i okolici. Zagreb 21890, 225-227, num. 37 (kroat.). 21 Ortutay, G.. Ung. Volksmärchen. Β. 1957, num. 7; cf. Valjavec (wie not. 20) 49-51, num. 15 (kroat.; = Leskien, Α.: Balkanmärchen. MdW 1915, num. 44); Camaj/Schier-Oberdorffer (wie not. 20); Kremnitz, Μ.: Rumän. Märchen. Lpz. 1882, num. 13. Mariakerke

Harlinda Lox

Octavian 1. Überlieferung — 2. Erzählmotive - 3. Hist. Bezüge und literar. Kontext - 4. Druckprosa und Weiterbearbeitungen 1. Ü b e r l i e f e r u n g . Bereits die frühesten erhaltenen altfrz. Überlieferungszeugen präsentieren den Stoff in doppelter Gestalt, als Roman und Chanson de geste. Der 5371 Verse umfassende Roman O. in gepaarten Achtsilbern ist in einer Hs. aus dem Anfang des 14. Jh.s überliefert1 und im 2. Viertel des 13. 2 oder um die Wende zum 14. Jh. entstanden 3 . Die mit 18509 Versen wesentlich längere Chanson Florent et Octavien, abgefaßt in assonierenden Alexandrinern, ist in drei Hss. des 15. Jh.s erhalten 4 und stammt aus der Mitte des 14. bzw. in ihrem 3. Teil aus dem Ende des 14. oder Anfang des 15. Jh.s. Sie ist als amplifizierende Bearb. des Romans anzusehen 5 , wobei bes. das letzte, dem Schicksal der Kinder- und Enkelkindergeneration gewidmete Drittel ohne Vorbild ist. Auf der Chanson basiert eine Prosabearbeitung von 1454 (Othovyan oder Flourent et Othevien)6. Zwei ital. Fassungen des Stoffs, Bestandteil der Reali di Francia aus dem 14. bzw. der Storie di Fioravante aus dem 15. Jh. 7 , greifen ebenfalls auf die Chanson zurück und integrieren den O.-Stoff in umfassendere dynastische und genealogische Zusammenhänge. Eine nord- 8 und eine südengl. 9 Version aus der 2. Hälfte des 14. Jh.s legen den Roman zugrunde. Die Anspielung auf einen Roman van Octaviaen (1257—60) durch Jacob van Maerlant 10

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könnte eine frühere Datierung des Romans nahelegen oder auf die Existenz einer Urfassung, von der Roman und Chanson abzuleiten sind, hinweisen. Inhalt der Romanfassung: Der röm. Kaiser Othevien (in der Druckprosa O.us) und seine Frau Florimonde (ohne Namen) sind seit 15 Jahren kinderlos. Endlich werden sie vom Himmel durch die Geburt von Zwillingssöhnen beglückt, die jedoch der eifersüchtigen Mutter des Kaisers Anlaß gibt, die Schwiegertochter des Ehebruchs zu bezichtigen. An die Seite der schlafenden Kaiserin legt sie einen Höfling, den der erzürnte Kaiser als vermeintlichen Liebhaber erschlägt. Für Frau und Kinder läßt er einen Scheiterhaufen errichten, jagt sie dann aber in die Verbannung. Im Wald wird einer der Knaben seiner schlafenden Mutter durch einen Affen entrissen, von einem fahrenden Ritter gerettet, dann von Räubern geraubt und in einem Hafen an einen Pariser Bürger namens Climent (Clement) verkauft. Auch der zweite Zwillingssohn wird von einem wilden Tier, einer -» Löwin, entführt. Ein Greif packt Löwin und Kind und trägt sie über das Meer auf eine Insel, wo er von der Löwin im Kampf getötet wird. Diese nährt den Knaben mit ihrer Milch so lange, bis sie von der Besatzung eines Pilgerschiffes entdeckt werden. Die Kaiserin, als Pilgerin an Bord, erkennt ihren Sohn. Beide werden fortan von der treuen Löwin begleitet und bleiben in Jerusalem. Unterdessen hat Climent seinen durch Schönheit und adligen Habitus auffallenden Ziehsohn auf den Namen Florent taufen lassen. Der Jüngling verschwendet das ihm zum Zweck einer Berufsausbildung anvertraute Gut für den Erwerb eines Falken und eines Pferdes. Mit dem Einfall der Sarazenen erhält das Geschehen wieder eine reichspolitische Dimension; der in Paris residierende König Dagonbers (-» Dagobert) ruft u. a. auch Othevien zu Hilfe. Mit den Heiden ist Marsabile (Marcebile), die wunderschöne Tochter des Sultans von Babylonien, gekommen. Der ihr zur Ehe versprochene Riese Fernagu (ohne Namen) fordert die besten Pariser Ritter zum Zweikampf auf. Florent stellt sich und erhält von seinem widerstrebenden Ziehvater dessen alte, verrostete Rüstung. Ohne je im Waffengebrauch unterwiesen worden zu sein, besiegt er den Riesen und erringt mit weiteren Heldentaten die Liebe Marsabiles. Im Lauf der abschließenden großen Schlacht zwischen dem heidnischen und dem frz. Heer werden die Heiden mit Hilfe des hl. Georg und einer gottgesandten weißen Armee geschlagen, können aber Florent und Kaiser Othevien als Gefangene mit auf die Flucht nehmen. Florimonde und ihr auf den Namen Othevien (Lyon) getaufter Sohn, der sich im Dienst des Königs von Akkon als Heidenkämpfer (cf. -> Kreuzzüge) bewährt hat, haben sich inzwischen auf den Weg nach Frankreich gemacht. Es kommt zum Zusammentreffen mit dem Sarazenenheer, das endgül-

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tig vernichtet wird, und anläßlich der Gefangenenbefreiung zur großen Anagnorisis-Szene. Der Sultan und seine Tochter werden getauft, letztere mit Florent verheiratet, die Kaiserin wird rehabilitiert, und alle ziehen wieder in Rom ein.

2. E r z ä h l m o t i v e . Im O.-Stoff werden zahlreiche Motive unterschiedlicher Provenienz miteinander verknüpft zu einer komplexen Erzählung, der das Deutungsschema des Familienromans Konsistenz verleiht. -» Trennung und Wiedervereinigung von Ehegatten bzw. Eltern und Kindern akzentuieren die zunächst in Zweifel gestellte Legitimität der Genealogie. Aus zahlreichen anderen Chansons de geste und Legenden ist das die Handlung auslösende Motiv der unschuldig verfolgten -+ Frau (Kap. 3.1.2) bekannt, das den ersten Teil, die Verbannungsepisode, dominiert. Wie in den Enfances du Chevalier au Cygne (-+ Schwanenritter), im Lion de Bourges und in der -» Helena von Konstantinopel intrigiert auch im O. eine eifersüchtige Schwiegermutter (-» Schwiegereltern) gegen die tugendhafte Frau des Herrschers. Anlaß für die Verleumdung ist die vermeintlich eheliche Untreue anzeigende Geburt von -> Zwillingen11. Auch die Protagonistinnen der Reine Sibille (-• Sibylla) und des Macaire werden Opfer eines Ehebruchsarrangements. Der Raub der Kinder durch wilde Tiere folgt dem Prototyp der Placidos-Legende (AaTh 938; vergleichbar auch Helena von Konstantinopel und Valentin und Orson), und auch im Lion de Bourges wird der Held von der Milch einer Löwin (-• Löwenmilch) genährt. Das Motiv der mütterlichen Löwin wird im O. verbunden mit dem des treuen Löwen als Begleiter und Kampfhelfer (cf. -»· Iwein, -> Löwentreue)12. Die von wunderbaren Zufällen und schicksalhaften Fügungen gesteuerten Reiseabenteuer der verbannten Kaiserin nehmen ein Erzählschema des spätantiken Romans, wie es im -» Apollonius von Tyrus paradigmatisch umgesetzt ist, auf 13 . Zum Standardrepertoire der Chansons de geste gehört die in burlesken Szenen ausgestaltete Konfrontation der Mentalitäten des bürgerlichen Ziehvaters und seines hochadligen Zöglings14; sie läßt ständische Einstellungen und Tugenden als angeborene Natur erscheinen und findet sich u. a. im Hervis de Mes, im Lion de Bourges und in den Enfances Vivien15, die Ausstattung mit rostigen

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Waffen im Aiol. Das gilt auch für die Liebe des Helden zur schönen Sarazenenprinzessin, die heidnische Invasion in Frankreich und die Heidenschlacht, in die ein von Gott gesandter Heiliger (hier der hl. Georg) und ein Heer weißgekleideter Ritter (cf. Lion de Bourges) eingreifen. Nicht zuletzt die Hilfe des Sohnes für den in Kampfnot geratenen Vater hat Entsprechungen in anderen Chansons (Floovant, Doon de La Roche, Orson de Beauvais, Maugis d'Aigremont, Helena von Konstantinopel)16. Legendarische Züge trägt die Geschichte der unschuldig vertriebenen Frau, aber auch das Auftreten des hl. Georg und des hl. Dionysius während der Heidenschlacht. Auf heroische Ursprünge verweisen u. a. die Kampftaten der Zwillingsbrüder und das Schlachtgeschehen zwischen Christen und Heiden. 3. H i s t . Bezüge u n d l i t e r a r . K o n t e x t . Der merowing. König Dagobert und seine Taten, auf die die altfrz. Versionen des O. schon im Prolog verweisen, sind Gegenstand der Gesta Dagoberti (vor 835), die in die Grandes Chroniques de France aufgenommen wurden 17 . Diese sind vermutlich als die lat. Quelle anzusehen, auf die der Roman ausdrücklich verweist18. Ein lat. Miracle de Nostre-Dame19 hat lediglich stoffliche Ähnlichkeiten. Während Dagobert I. wie im O. geschildert als Heidenkämpfer und Förderer der Abtei von St.-Denis 20 in die Gesta eingegangen ist, finden sich über einen röm. Kaiser O. dort keine Nachrichten. Die Quellenberufung sowie der Bezug auf den in der Handlung eher eine Nebenrolle einnehmenden König Dagobert sind Bestandteil einer literar. Legitimierungsstrategie, die darauf abzielt, eine fiktive Dynastie röm. Kaiser an die fränk. Reichsgeschichte anzubinden. Zugleich folgt der Stoff einer seit dem 12., vermehrt im 14. Jh. zu beobachtenden Tendenz der Chansons de geste, die Karolinger durch Angehörige der Merowingerdynastie zu ersetzen21; die Chanson steht am Anfang eines neuen Zyklus, der um die Genealogie der Merowinger kreist, und knüpft mit der Genealogie der röm. Kaiser an die ältere Chanson Florence de Rome an. 4. D r u c k p r o s a u n d W e i t e r b e a r b e i t u n g e n . Die nur als Druck überlieferte Version eines frz. Prosaromans (zuerst Lyon 1500)

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stellt eine vorlagentreue Prosaauflösung des altfrz. Romans dar 22 und leitet eine neue Phase der Stoffrezeption ein 23 . Mindestens 15 frz. und 43 dt. Drucke bis 1850 24 belegen die große Popularität des Romans noch weit über das Spätmittelalter hinaus. Der frz. Prosaist ergänzt seine Vorlage um die Nachgeschichte Florents, der König von England wird und das Königtum seinem Sohn Wilhelm vererbt. Der dt. Übersetzer Wilhelm Salzmann fügt weiterhin den Bericht von der Heirat Lyons mit der span. Königstochter an und setzt damit den Trend zur Erweiterung des Familien- zum Generationenroman fort. Von Salzmanns Fassung wurden noch im 16. Jh. eine jidd. Bearb. (1580) 25 , eine poln. und russ. 26 , eine dän. 27 und vermutlich auch eine ndl. 28 Übers, angefertigt. Zahlreiche Dramatisierungen schließen sich an: Hans -» Sachs (1555) 29 reduziert den Stoff im wesentlichen auf die Episode der unschuldig vertriebenen Kaiserin; die Liebesgeschichte von Florent und der Heidenprinzessin entfallt ebenso wie die burlesken Szenen um den bürgerlichen Ziehvater Florents. Die Dramatisierung des Augsburger Meistersingers Sebastian Wild (1566) 30 folgt dagegen konsequent dem Prosaroman 31 . Ludwig -» Tieck (1804) 32 ergänzte den Prosaroman um die in Legenden überlieferte Gründung des Klosters St.-Denis durch Dagobert und schuf durch die Hinzufügung zahlreicher mythischer und allegorischer Figuren und Szenen ein programmatisches romantisches Universaldrama. Für die Kiefersfeldener Bauernbühne bearbeitete Joseph Schmalz 1835 33 den Stoff, weitete ihn erheblich aus und verlieh ihm ein phantastisches und zugleich mundartlich-derbes Kolorit. 'Vollmöller, K. (ed.): O. Heilbronn 1883. - 2 ibid., IV. - 3 Rez. G. Paris zu Vollmöller (wie not. 1) in Romania 11 (1882) 609-614; McSparran, F. (ed.): O. Edited from Lincoln, Dean and Chapter Library, MS 91 and Cambridge, Univ. Library, MS Ff. 2. 38. L./N. Y/Toronto 1986, 38. - 4 Bossuat, R.: Florent et Octavien, chanson de geste du XIVe siecle. In: Romania 73 (1952) 289-331; Laborderie, N. (ed.): Florent et Octavien. Chanson de geste du XIVe siecle. Geneve 1991. - 5 cf. Bossuat (wie not. 4) 294. - 6 cf. Hülk, W.: Geraubte Kinder. Die Genealogie und der Löwe in den altfrz. O.-Fassungen. In: Chloe 20 (1994) 451 -471, hier 453. - 7 Rajna, P. (ed.): I Reali di Francia 1. Bologna 1872; cf. auch Bossuat (wie not. 4) 294 sq. - 8 McSparran (wie not. 3). - 9 id.

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(ed.): Octovian Imperator. Heidelberg 1979. 10 Franck, J. (ed.): Jacob van Maerlant, Alexanders Geesten. Leiden 1882, V. 1215 sq.; cf. Paul, H.: Grundriß der germ. Philologie 2. Straßburg 2 1901-09, 425. 11 cf. auch HDA 8 (1936-37) 1488. - 12 cf. Ertzdorff, X. von: Der Ritter und sein Löwe in Wilhelm Salzmanns Kaiser O.us. In: Chloe 20 (1994) 473-491. - 13 cf. Bachorski, H.-J.: ,Grosse vngelücke und vnsälige widerwertigkeit und doch ein guotes seliges ende.' Narrative Strukturen und ideologische Probleme des Liebes- und Reiseromans in SpätMA. und früher Neuzeit. In: Berger, G./Kohl, S. (edd.): Fremderfahrung in Texten des SpätMA.s und der frühen Neuzeit. Trier 1993, 59-86. - 14 cf. Röcke, W.: Das Spiel mit der Geschichte. Gebrauchsformen von Chanson de Geste und Roman in der Histori von dem Keyser O.o. In: Zs. für Lit.wiss. und Linguistik 23 (1993) 70-86, hier 76-80. — 15 cf. Combarieu, M. de: Le Heros epique peut-il etre un heros burlesque et derisoire? In: Burlesque et derision dans les epopees de l'Occident medieval. Actes du colloque internat. des Rencontres europeennes de Strasbourg et de la Soc. Internat. Rencesvals 1993. P. 1995, 25-48. - 16 Zu den Motivanleihen cf. Laborderie (wie not. 4) CLXXII-CXC; McSparran (wie not. 9) 53-60; Bossuat (wie not. 4). - 17Viard, J. (ed.): Les Grandes Chroniques de France 2. P. 1922, 91-193; cf. MGH Scriptores rerum Merovingarum 2 (1888) 399-425. - 18 Vollmöller (wie not. 1) V. 6. - 19 cf. Streve, P.: Die O.-Sage. Diss. Erlangen 1884, 15-20; Wehrli, C.: Ma. Überlieferungen von Dagobert I. Bern/Ffm. 1982, 101. 20 Den Gesta zufolge kämpfte er gemeinsam mit seinem Vater Chlothar II. gegen die Sachsen, cf. Wehrli (wie not. 19) 34 sq.; Ewig, E.: Die Merowinger und das Frankenreich. Stg./B. u. a. 1988, 122 sq. 21 Laborderie (wie not. 4) CXXXIV, CLXXIICLXXIV. - 22 Ertzdorff, X. von/Seelbach, U. (edd.): Florent et Lyon/Wilhelm Salzmann: Kaiser O.us. Amst./Atlanta 1993. - 23 Friderichs-Berg, T.: Die .Historie von dem Kaiser O.o'. Überlieferungsgeschichtliche Studien zu den Druckausg.n eines Prosaromans des 16. Jh.s und seiner jidd. Bearb. aus dem Jahre 1580. Hbg 1990. - 24 Bibliogr. der dt. und frz. Drucke sowie die Edition des dt. Erstdrucks bei von Ertzdorff (wie not. 22) 333-355; cf. auch Friderichs-Berg (wie not. 23) und Friderichs-Müller, T. (ed.): Die ,Historie von dem Kaiser O.o' 1 - 2 . Hbg 1981, hier t. 2 (Faks. des Drucks Augsburg ca 1468). - 25 Friderichs-Müller (wie not. 24) hier t. 1 (Transkription der Fassung des Cod. hebr. monac. 100, München, Bayer. Staatsbibl.). - 26 cf. Kosny, W.: Das dt. Volksbuch vom Kaiser O. in Polen und Rußland. Diss. Β. 1967; id.: Vom Kaiser Otto zur Löwin, die einen Zarensohn aufzog. Zur Translation und Transformation des dt. Volksbuchs vom Kaiser Octavian in Polen und Rußland. In: Chloe 20 (1994) 493-512. - 27 Olrik, J. (ed.): Kejser O. Kop. 1919; die Ausg. beruht auf dem Druck Kop. 1658, die Vorrede des Übers.s Caspar Klingner ist aber auf 1597

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Odenius,ι, Oloph

datiert. - 28 cf. Debaene, L.: De nederlandse volksboeken. Antw. 1951, 215 sq.; nachgewiesene Drucke gibt es allerdings erst ab 1612; ob diesen die dt. oder frz. Fassung als Vorlage diente, ist nicht zu entscheiden. - 2 9 Hans Sachs: Werke 8. ed. A. von Keller. Tübingen 1874, 161-196. - 30 Schöner Comedien vnd Tragedien zwölff [...]. Augsburg 1566; Wilds O.Drama ist in J. Tittmans Wild-Ausg. (Dt. Dichter des 16. Jh.s 2. Lpz. 1868, 200-245) nicht enthalten; auf eine anonyme Dramenversion von 1570 weist irrtümlich R. Müller (O., Volksbuch. In: Dt. Lit.-Lex. 11. Bern/Stg. 3 1988, 44) hin, cf. Wackernagel, W.: Geschichte der dt. Litteratur. Basel 1872, 447 (in der 2. Aufl. korrigiert Wackernagel und nennt an gleicher Stelle Wilds Bearb., hier t. 2 [Basel 21885] 97). 31

cf. Brandl, W.: Sebastian Wild, ein Augsburger Meistersänger. Weimar 1914. - 32 Tieck, L.: Kaiser O.us. Jena 1804. - 33 Schmalz, J.: Der Keuser O.us [...]. In: Rattelmüller, P.E.: Der Bauern-Shakespeare. Das Kiefersfeldner Volkstheater und seine Ritterstücke. Mü. 1973, 61-120.

Berlin

Ulrike Gaebel

Odenius, Oloph, * Östersund 12. 3. 1923, f Stockholm 15. 6.1987, schwed. Volkskundler und Mediävist. O. studierte 1942-56 an der Univ. Uppsala Nord. Sprachen, Pädagogik, Ethnologie und Allg. Religionsgeschichte und machte im letztgenannten Fach 1953 das Lizentiatsexamen. Als Privatgelehrter in Stockholm katalogisierte O. zusammen mit der aus Österreich stammenden Kirchenhistorikerin T. Schmid ca 10 000 von ca 17 000 im schwed. Reichsarchiv vorhandenen Hss.fragmenten, die aus der Zeit des 11. bis 16. Jh.s stammen und als Einbände für die Abrechnungen der schwed. Verwaltung im 16. und 17. Jh. gedient hatten 1 . Für seine Studien zu Legenden und sphragistischen Arbeiten wurde er 1973 zum Ehrendoktor der Univ. Uppsala promoviert. O.' Hauptinteresse galt dem Zusammenhang zwischen schriftl. und bildlicher Überlieferung 2 . So konnte er nachweisen, daß ein altschwed. Mirakelbuch von 1385 mit einer Fülle von Exempla auf eine frz. Vorlage aus den 1270er Jahren zurückging3. Die ma. Kirchenmalereien Upplands brachte er mit literar. Traditionen in Verbindung. So identifizierte er ζ. B. ein Motiv aus der Legende von Barlaam und Josaphat4. Die Bedeutung der -» Beichte war eines seiner bevorzugten Themen. Exemplarisch unter-

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suchte er Texte, die von der Erlösung durch Reue handeln 5 . Die Geschichte von den Toten, die einen für sie regelmäßig betenden Ritter zum Dank für seine Unterstützung aus der Gewalt von Räubern befreien (AaTh 505-508: Dankbarer Toter), wurde nach O. bes. am Allerseelentag von den Predigern als Beispiel erzählt6. Er verfolgte bildliche Memento mori-Darstellungen mit dem Thema der drei Lebenden und drei Toten, die bis in die Antike zurückgehen, auf spätma. Kirchenfresken in Schweden und Dänemark, bei denen die Dialoge auf Spruchbändern erscheinen; eine frz. Vorlage stammt aus dem 13. Jh 7 . Die komplizierte Textgeschichte des Marienmirakels vom -• Maler und dem Teufel (Tubach, num. 3573) dokumentierte O. anhand von frz. Quellen des 12. Jh.s und des schwed. 15. Jh.s8. Eine weitere Unters, widmete O. dem weitverbreiteten Predigtmärlein AaTh 1353: Böses -> Weib schlimmer als der Teufel, dessen Bildbelege sich auf die Schlußszene beschränken: Der Teufel erschrickt so sehr über die Boshaftigkeit der alten Frau, daß er ihr die Belohnung, ein paar Schuhe, nur mit einer Stange zu reichen wagt 9 . In anderen Beitr.n verfolgte O. die Wechselwirkung zwischen Bild und Legende10. Seine wichtigsten hagiographischen Unters.en befassen sich mit dem hl. ->· Erasmus 11 und der hl. Barbara 12 . 1 cf. Brunius, J.: Medeltida böcker i fragment. In: Nordisk tidskrift för bok- och biblioteksväsen 80 (1993) 3 - 3 3 ; Abukhanfusa, K. u. a. (edd.): Helgeränet - fran mässböcker tili munkepärmar. Sth. 1993. - 2 Nilsen, Α.: Ο. Ο., tryckta skrifter 1944-1984. In: Fornvännen 83 (1988) 251-257; Gjerlöw, L.: O. O.' tryckta skrifter - en kommentar. ibid., 258-262. - 3 0 . , O.: Some Remarks on the Old Swedish Miracle Collection Cod. Holm. A 110. In: Hagiography and Medieval Literature. A Symposium. Proc. of the Fifth Internat. Symposium Organised by the Centre for the Study of Vernacular Literature in the Middle Ages Held at Odense Univ. on 1 7 - 1 8 Nov. 1980. Odense 1981, 37-65. - 4 id.: Der Mann im Brunnen und der Mann im Baum. In: SAVk. 6 8 - 6 9 (1972-73) 477-486. - 5 id.: Rätt anger. Ett ikonografiskt och legendhistoriskt bidrag. In: Saga och sed (1959) 8 7 - 9 3 ; id.: Rätt anger. In: Västeräs stiftsbok 63 (1969) 2 3 - 2 8 (mit Abb.en). 6 id.: De tacksamma döda. In: Saga och sed (1953-54) 3 7 - 5 3 . - 7 id.: De tre lexande och tre döda. In: Kulturhistoriskt lexikon för nordisk medeltid 3. Malmö 1958, 4 8 - 5 0 . - 8 id.: Malaren och djävulen. Legendhistoriska anteckningar kring ett Mariamirakel. In: Arv 13 (1957-58) 111-158; id.:

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Odilia, Hl.

Mälaren och djävulen. En ikonografisk notis. In: Fornvännen 63 (1968) 10-19. - 9 id.: „Die Alte, die schlimmer als der Teufel war". In: Bringeus, N.-A. (ed.): Man and Picture. Sth. 1986, 126-132. - 10 id.: Den döda modern som däggas as ormar. Nägra anteckningar kring luxuriamotivet „femme aux serpents". In: DSt. 56 (1961) 5 - 1 6 (mit Abb.en); id.: Augustinus och gössen vid havet. Motivhistoriska anteckningar kring en mälning frän Sätra kyrka (Säter). In: Västergötlands fornminnesförenings tidskrift 6 - 7 (1969) 23-56. "id.: En märklig St. Erasmussvit i Tortuna kyrka [1950]. In: Tortuna kyrka. ed. T. Lundblad. Tortuna 1977, 17-22. - 12 id. (mit S. Hallberg/R. Norberg): Den heliga Barbara i svensk kult och kunst under medeltiden. Sth. 1967. Uppsala

Carl-Martin Edsman

Odilia, Hl., * im Elsaß vor 660, f auf dem Odilienberg 13. 12. 720(?), Patronin des Elsaß und Schutzheilige der Augen 1 . O., Tochter des elsäss. Herzogs Attich (Adalric, Eticho), war die erste Äbtissin des von ihrem Vater auf der Hohenburg (bei Barr südwestl. von Straßburg) gegründeten und später nach ihr benannten Klosters Odilienberg, das sie durch den Frauenkonvent Niedermünster erweiterte. Die weit über das MA. hinausstrahlende O.Verehrung, in der sich religiöse und patriotische Elemente mischen, gründet auf der um 900 aufgezeichneten, anonymen Vita Odiliae Abbatissae Hohenburgensis1 in 23 Kap.n, die ihre Lebensbeschreibung mit zahlreichen legendarischen Ausschmückungen versieht und der die Historiker nur begrenzte Verläßlichkeit zumessen 3 . Nach der Vita wurde O. -> blind geboren. In der Annahme, daß er diesen Makel durch sündhafte Verfehlung selbst verschuldet hat, beschließt der Vater, das Kind ungetauft ermorden zu lassen. Die Mutter jedoch gibt es in die Obhut einer Amme, die es in einem Kloster in Palma (dem burgund. Frauenkloster Beaume-les-Dames?) aufzieht. Dort erhält das Mädchen bei der Taufe durch ein Wunder seine Sehkraft 4 . O. lebt fortan im Kloster, wo sie sich, allen Anfechtungen durch mißgünstige Mitschwestern widerstehend, durch gottgefälligen Eifer und fromme Bedürfnislosigkeit auszeichnet. Als ihr Bruder sie gegen den Willen des Vaters nach Hohenburg zurückholt, prügelt der erzürnte Vater ihn zu Tode. Aus Reue über diese Tat behandelt Adalrich O. nun etwas milder, läßt sie durch eine engl. Nonne erziehen und setzt ihr den bescheidenen Unterhalt einer Magd aus. Auch in dieser unstandesgemäßen Position bewährt sie sich durch Demut und Barmherzigkeit.

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Schließlich übergibt der Vater ihr das gesamte Kloster, bittet sie um Fürsprache für sein Seelenheil und stirbt. Durch inständige Gebete erreicht O. seine Erlösung5. Hier (in Kap. 13) endet der 1. Teil der Vita, der nach dem Erzählmuster der ,verstoßenen Prinzessin' 6 O.s Aussetzung und unwürdige Kindheit, ihre Wunderheilung sowie ihren Weg über Entbehrungen und Prüfungen bis an die Spitze des Klosters beschreibt. Der 2. Teil ist vor allem der Schilderung von O.s heiligmäßigem Leben, ihrem Wirken als Äbtissin und den ihr zugeschriebenen Wundern gewidmet. Auch hier erscheinen in den folgenden Bearb.en der Vita1 zahlreiche legendenhafte Zutaten (etwa das erst 1629 eingefügte sehr wirksame Motiv von O.s Flucht vor einem ungeliebten Bräutigam) 8 , in denen sich nicht nur die zunehmende Popularität dieser Heiligen, sondern auch das Bestreben spiegelt, ihre Lebensbeschreibung durch Versatzstücke volkstümlichen Erzählens anzureichern und zu beglaubigen. Der über das Elsaß hinausreichende O.kult 9 findet seinen Ausdruck auch in sehr verbreiteten bildlichen Darstellungen 10 . O. war im MA. und in der Neuzeit eine beliebte Protagonistin der Dichtung — zunächst in Hymnen, Sequenzen und Antiphonen, dann in Legenden, Sagen und Volksliedern 11 , schließlich in Lyrik, Dramen und Romanen vor allem des 19. Jh.s. Kunst und Musik bemächtigten sich ihrer Geschichte 12 . Als Namensgeberin der Ottilie in -» Goethes Wahlverwandtschaften (1809) fand sie — als Reflex auf den Besuch des Dichters auf dem Odilienberg (1771) — auch Eingang in die Weltliteratur13. 1

Stadler, J. E./Ginal, J. N. (edd.): Vollständiges Heiligen-Lex. [...]. Augsburg 1875 (Nachdr. Hildesheim/ N.Y. 1975), 601-605; Clauss, J.M.B.: Sancta O. Der Odilienberg und die hl. O. in Wort und Bild. Karlsruhe 1922; id.: Die Hll. des Elsaß in ihrem Leben, ihrer Verehrung und ihrer Darstellung in der Kunst. Düsseldorf 1935, 100-106, 213 sq.; Barth, M.: Die hl. O. Schutzherrin des Elsaß. Ihr Kult in Volk und Kirche 1 - 2 . Straßburg 1938; Sartori, P.: Ο. (Ottilie), hl. In: HDA 6 (1934-35) 1184-1186; Bieler, L.: O. In: LThK 7 (21962) 1096; Stoeckle, M.: Das Leben der hl. O. Geschichtsqu., Sage/Entwicklungsmärchen, hagiographisches Bild? St. Ottilien 1991. - 2 Vita Odiliae Abbatissae Hohenburgensis. In: MGH scriptores rerum Merovingarum 6. ed. W. Levison. Hannover/Lpz. 1913 (Nachdr. Hannover 1997), 24-50. - 3 ibid., 27. - "Moser, D.-R.:

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Ödipus

Verkündigung durch Volksgesang. B. 1981, 562 sq. - 5 Zum Motiv des ,Losbetens' cf. Kretzenbacher, L.: Legendenbilder aus dem Jenseits. Wien 1980, 34-42. - 6 So Stoeckle (wie not. 1) 69. - 'Zusammenstellung bei Levison (wie not. 2) 29-36. 8 Barth (wie not. 1) bes. 124-135, 231-249. 'ibid., 237-243. - 10 ibid., 186-203. 11 Umfangreiches Material cf. ibid.; Clauss 1922, 1935 (wie not. 1); Künzig, J./Werner, W.: Legendenlieder aus mündl. Überlieferung. Fbg 1971, num. 13; Rölleke, H. (ed.): Märchen aus dem Nachlaß der Brüder Grimm. Bonn 21979, 85 sq., 107 sq. 12 Barth (wie not. 1) 498-521. - 13 Wilpert, G. von: Goethe-Lex. Stg. 1998, 781, 795.

Chemnitz

Rüdiger Krohn

Ödipus (AaTh 931) 1. Antike - 2. Europ. Traditionsstränge — 2.1. Traditionen der Hochkultur - 2.2. Christl.-legendäre Überlieferungen - 2.3. Ö.sage als Schicksalsmärchen — 3. Zusammenfassung

1. A n t i k e . Ö., Sohn des Laios und der lokaste (Epikaste), ist Held des theban. Sagenkreises1. Apollo warnt Laios durch das delph. -» Orakel davor, einen Sohn zu zeugen, da dieser seinen Vater ermorden (-> Elternmörder) und seine Mutter ehelichen werde (-» Inzest). Laios läßt dem Neugeborenen die Knöchel durchbohren (der Name Ö. bedeutet ,Schwellfuß') und auf dem Berg Kithairon aussetzen (-> Aussetzung). Hirten des Königs Polybos bringen das Findelkind nach Korinth, wo es die kinderlose Königin Merope (Polybeia) aufzieht. Herangewachsen zieht Ö. nach Delphi, um über sein Schicksal Auskunft zu erhalten, und erfährt von dem Orakelspruch. Auf einer Wegkreuzung bei Phokis erschlägt er seinen Vater unerkannt im Streit (-> VaterSohn-Motiv). Vor Theben trifft er auf die -» Sphinx, löst ihr Rätsel und befreit die Stadt von dem Ungeheuer. Zum Dank erhebt man ihn zum König und gibt ihm die verwitwete lokaste zur Frau. Aus der Verbindung entspringen die Söhne Eteokles und Polyneikes (die später, wie es die Geschichte vom Kampf der Sieben gegen Theben beschreibt, im Bruderkrieg fallen) sowie die Töchter Antigone und Ismene. Nach vielen Jahren bricht die Pest in der Stadt aus, die das delphische Orakel dadurch erklärt, daß der Mörder des Laios nicht bestraft worden sei. Der Seher Teiresias bezeichnet Ö. als den Schuldigen, und die eingeleitete Untersuchung enthüllt die Wahrheit. Iokaste erhängt sich (-» Selbstmord), Ö. blendet sich (-+ Blendung), und seine Söhne vertreiben ihn aus der Stadt. Ö. verflucht sie und zieht als Bettler mit Antigone nach Attika, wo er in Kolonos bei Athen lebt und am Ende von den Göttern entrückt wird.

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Der möglicherweise aus dem vorderasiat. Raum stammende antike Ö.mythos zirkulierte in verschiedenen Variationen. So erzählt in Homers Odyssee (11, 271—281) Epikaste ->• Odysseus in der Unterwelt, daß sie sich erhängt habe, aber von einer Erblindung des Ö. ist nicht die Rede; in der Ilias (23, 679 sq.) berichtet Homer, Ö. sei im Krieg gefallen und ihm zu Ehren würden heute noch in Theben Wettspiele abgehalten. Verschiedene Aussagen über das weitere Leben von Ö. und Iokaste fanden sich u. a. auch in den verlorengegangenen Epen Oidipodeia und Thebais2, bei Euripides (Eingangsmonolog der Iokaste in Phönizierinnen; nicht erhaltener Oidipos) oder bei Aischylos (Theban. Tetralogie). Die größte Wirkung entfalteten die beiden Werke des Sophokles: König Ö. und Ö. auf Kolonos-, bes. auf dessen König Ö. griff wiederum - Brandaus Seefahrt)34 faßt Thomas Mann folgendermaßen zusammen: „Der Entwicklungsweg der Sage scheint von Ödipus über Judas, Andreas, Paulus von Caesarea zu Gregorius zu gehen." 35 Bei dieser christl. Umwandlung der Ö.sage, in der das Sphinxmotiv eliminiert und die Orakelprophezeiung zum -» Traum wird (schon bei Origines)36, spielt die mündl. Überlieferung eine entscheidende, allerdings kaum noch rekonstruierbare Rolle: Zu den Ö.taten tritt der Gespielenstreit (Brudermord bei Judas), die Inzestverdoppelung und der Elternmord; der Schicksalsgedanke wird vorherrschend. R. W. Brednich gliedert AaTh 931 in: 931* Α (Judas Ischariot), 931* Β (Hl. Andreas von Kreta) und 931* C (Elternmörder) 37 . 2.3. Ö . s a g e als S c h i c k s a l s m ä r c h e n . Die als AaTh 931 klassifizierten Erzählungen 38 entsprechen keineswegs alle der ödipalen Motivreihe: Vorherbestimmung des Schicksals, Aussetzung, Vatermord, Mutterehe. Das Sphinxmotiv, von manchen Philologen als auch der ursprünglichen Ö.sage fremd angesehen 39 , fehlt fast überall. Damit ist allen psycho-mythologisierenden Deutungen, die in Ö. einen regredierenden Drachentöter sehen

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wollen, der zwar das weibliche Ungeheuer besiegt, aber sich das Licht (Bewußtsein) nimmt, sobald er entdeckt, daß der Preis der Heldentat, die Braut, seine eigene Mutter ist, der Boden entzogen40. Unter den Tabuverbrechen der Schicksalshelden gibt es kaum gleichbleibende Motivkombinationen; am häufigsten scheint noch der Inzest zu sein. Damit erweist sich AaTh 931 als ein der Ö.sage nachgebildetes Schreibtischprodukt, das der lebendigen Erzählwirklichkeit kaum entspricht 41 . Noch wichtiger als das auch in anderen Erzählungen vorkommende Inzestmotiv ist der Rahmen des Schicksalsspruchs und seiner Erfüllung. Dies könnte schon für die altgriech. Ö.sage gegolten haben; eine Reihe von Philologen sehen in ihr eine Art Schicksalsmärchen42. Ö.artige Geschichten stellte zuerst L. Constans 1881 zusammen 43 ; ihm standen schon verschiedene griech. Var.n zur Verfügung44. Aarnes Typisierung der ,Ö.märchen' als eigener Typ 931 schien demnach gerechtfertigt; er selbst brachte eine Reihe finn. Var.n dazu bei45. Zwei Tatsachen prägen den weiteren Werdegang der Forschung: zum einen, daß die balkan. und bes. die griech. Var.n nicht berücksichtigt wurden 46 , und zum anderen, daß auch Geschichten als ,Ö.märchen' klassifiziert wurden, die nur mehr kümmerliche Reste der ödipalen Motivreihe aufwiesen 47 .1950 erschienen die beiden wegweisenden Studien von G. A. Megas zu Judas und Ö. 48 In ihnen formuliert er die Hypothese einer mündl. Kontinuität des Ö.stoffes in Südosteuropa und speziell Griechenland, ausgehend von der Annahme, daß die unentrinnbare Schicksalsprophezeihung auch den Rahmen des antiken Ö.mythos bildete. Das Hauptbedenken gegen eine rein mündl. Tradition besteht im Argument, daß nach der Definition von AaTh 931 O. von Judas gar nicht zu trennen ist; die drei aus Kreta und Zypern veröff. Var.n folgen ziemlich genau der griech. Judasvita 49 . Für die Scheidung einzelner hist. Traditionsstränge ist auch der Motif-Index wenig hilfreich50. AaTh 931 werden weiterhin die verschiedensten Erzählungen zugeordnet, die im allg. die Schicksalsprophezeiung enthalten, neben Aussetzung, Vatermord und Mutterehe aber auch Geschwisterehe, Gespielenstreit und Brudermord in verschiedenen Kombinationen und Kontaminationen; hier ist Ö. weder von

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Judas noch von den ma. Inzestheiligen zu unterscheiden. Bei den europ. und außereurop. Erzählungen mit ödipalen Motiven51 ist eine Zuweisung zu bestimmten Stofftraditionen nicht möglich. Megas ist in seinem unveröff. Archivkatalog dem Vorschlag Brednichs, AaTh 931 in AaTh 931* Α, Β und C zu gliedern, gefolgt. Im Megas-Archiv finden sich für AaTh 931 seit 1941 nur zwei Neueintragungen: die Geschichte eines Pfarrerssohns, der Mutterinzest und Vatermord begeht, sowie ein Märchen, in dem die inzestuöse Mutter beim Patriarchen Vergebung sucht, eine Kirche zur Sühne baut und jedem ihre Geschichte erzählt 52 , während zu AaTh 930 A: Die vorbestimmte -» Frau und 930 B: Prophecy: at Sixteen Princess will Fall in Love with Forty Arabs Dutzende von neuen Var.n aufgezeichnet werden konnten 53 . Das sog. Ö.märchen erhält Sinn und lebendige Existenz erst in Zusammenhang mit dem in AaTh 930: Uriasbrief enthaltenen Schicksalsspruch. Dieser wird in dem für die Kontinuitätsfrage des Ö.stoffes bedeutenden südosteurop. Erzählraum meist von den drei Schicksalsfrauen nach der Geburt des Kindes ausgesprochen54; insofern ist das Ö.märchen eine sekundäre Var. des Schicksalsspruchs55. Dies läßt sich an einigen Var.n deutlich machen 56 : Ein südslav. Erzähllied vom Findling Simeon kombiniert AaTh 930 C + 930 D + 931 + 933: Der Patriarch Sabbas zieht den aus einem Geschwisterinzest stammenden, in einer Kiste auf dem Wasser ausgesetzten Findling auf; großgeworden macht dieser sich auf die Suche nach seinen Eltern. In Pribin sucht die verwitwete Kaiserin nach einem Gatten; der als Schicksalslos zugeworfene Apfel wird von Simeon aufgefangen, und er heiratet seine Mutter. Zur Sühne wirft ihn Sabbas ins Verlies und den Schlüssel ins Meer; nach langer Zeit findet er sich im Bauch eines Fisches. Der Findling hatte seine Schuld gebüßt 57 . Das Schlüsselmotiv weist auf die GregoriusLegende und AaTh 736 A: Ring des -> Polykrates hin. In einer zypr. Var. aus dem 19. Jh. finden sich zwar alle ödipalen Motive, doch ist der Inzest über drei Generationen verdoppelt, und die Heldin ist ein Mädchen: Der jüngsten von drei Töchtern eines Fürsten wird von der Moira prophezeit, sie werde mit ihrem Vater ein Kind zeugen, das sie später zum Mann nehmen werde. Daher meiden sie die Freier und heiraten die beiden anderen Töchter. Damit sich der Schicksalsspruch nicht erfülle, tötet sie ihren Vater, ißt aber von einem Apfelbaum auf seinem Grab und wird schwanger. Nach der Geburt sticht sie ih-

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rem Sohn in die Brust und setzt ihn auf dem Meer aus. Das Kind wird von einem Händler großgezogen und heiratet seine Mutter58. Zwei bulg. Var.n folgen dagegen ziemlich genau dem Ö.schema: Die Schicksalsfrauen prophezeien dem neugeborenen Kind, daß es seinen Vater umbringen und seine Mutter heiraten wird. Die Eltern setzen daher das Kind im Wald aus; es wird von einem Schäfer großgezogen. Der Junge geht in das Haus seiner wirklichen Eltern, bringt seinen Vater um und heiratet seine Mutter59. 3. Z u s a m m e n f a s s u n g . Nicht hinter jeder Inzestgeschichte ist gleich ein Survival des Ö.stoffes zu sehen 60 . Der undifferenzierte Typ AaTh 931 erweist sich als wenig hilfreich. Die ödipalen Taten, die Überwindung der Sphinx, der Vatermord 61 und die Mutterehe zeigen sich als variabel, reduzierbar oder auch anreicherungsfähig. Fester Bestandteil bleibt nur die Unentrinnbarkeit und die Erfüllung des Schicksalsspruches; was sich dabei erfüllt, die Greueltaten des Ö. oder des Judas, die Unglücksfalle in einem griech. 62 oder der Geschwisterinzest in einem aromun. 63 Märchen, ist sekundär. Das engagierte Postulat von Megas bezüglich der Kontinuität des Ö.stoffes in der griech. mündl. Tradition von der homerischen Antike bis in den rezenten südosteurop. Märchenraum läßt sich vielleicht dahingehend verifizieren, daß Ö. hauptsächlich in seiner Eigenschaft als Exempelheros für die Unentrinnbarkeit des Schicksalsspruches in der rezenten mündl. Tradition noch greifbar ist 64 . Diese scheint jedoch von einer literar. Tradition durchwirkt und gestützt zu sein, die in der ma. Judasvita ihre prägnanteste Ausprägung findet und vor allem in der orthodoxen Volkskultur bis in die Gegenwart weiterwirkt. Möglicherweise stehen die gleichen Motivnetze, die im Altertum die Ö.sage in ihren Variationen hervorgebracht haben, auch hinter den südosteurop. Erzählungen von den Schicksalsfrauen; die europ. Doppelfigur Ö./Judas, die Antike und Christentum verbindet, ist in den rezenten Erzählungen um das Faszinosum der unentrinnbaren Verbrechen, die die ältesten und stärksten Sozialtabus durchbrechen, der Anonymität des märchenhaften Schicksalshelden gewichen. 1 Die Darstellung folgt im wesentlichen Dahly, L. W.: Oidipus. In: Pauly/Wissowa 34 (1937) 2103-2117, Suppl. 7 (1949) 769-786 sowie Hunger,

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H.: Lex. der griech. und röm. Mythologie. Wien 1988, 361-365; StandDict. 2, 813 sq.; Puchner, W.: Europ. Ö.Überlieferung und griech. Schicksalsmärchen. In: Balkan Studies 26,2 (1985) 321-349, hier 324 sq.; Knox, B. W. M.: Oedipus at Thebes. New Haven/L. 1957; Dodds, E. R.: The Ancient Concept of Progress [...]. Ox. 1973, 64-77; Nicosia, Μ. M.: II mito di Edipo [...]. Siracusa 1927; Nilsson, M. P.: Der Oedipusmythos. In: id.: Opuscula selecta 1. Lund 1951, 335-348; Delcourt, M.: CEdipe ou la legende du conquerant. P. 1944; Wehrli, F.: Oidipus. In: Museum Helveticum 14 (1957) 108-117; Edmunds, L.: The Cults and the Legend of Oedipus. In: Harvard Studies in Classical Philology 85 (1981) 221—238; Knox, B.: Die Freiheit des Ö. In: Schlesier, R. (ed.): Faszination des Mythos. Basel/Ffm. 1985, 125-143; Pötscher, W.: Die Oidipus-Gestalt. In: id.: Hellas und Rom. Hildesheim/Zürich/N.Y. 1988, 237—272; Edmunds, L.: Oedipus. The Ancient Legend and Its Later Analogues. Baltimore 1984. 2 Schondorff, J. (ed.): Ö. 1: Sophokles, Seneca, Corneille, Voltaire, Platen; t. 2: Hölderlin, Hofmannsthal, Gide, Cocteau, Eliot. Mü.AVien 1968, hier t. I, 15 sq. (Vorw. von K. Kerenyi); Kerenyi, K.: The Heroes of the Greeks. L. 1981, 93-104. - Schreiner, P. W.: Oedipusstoff und Oedipusmotive in der dt. Lit. Diss. Wien 1964, 39-91; Frenzel, Stoffe, 565-569, hier 566; Dietrich, M.: Das moderne Drama. Stg.31974, 581-599. - 4 Edmunds, L./Dundes, A. (edd.): Oedipus. A Folktale Casebook. Ν. Υ./ L. 1984; Hasluck, Μ.: CEdipus Rex in Albania. In: FL 60 (1949) 340-348; Cohen, R.: Oedipus Rex and Regina. The Queen Mother in Africa. In: Africa 47 (1977) 14-30; Anesa, M./Rondi, M.: Fiabe bergamasche. Milano 1981, num. 1. 14. 1; Dundes, Α.: The Study of Folklore. Englewood Cliff 1965, 114-125, 164-166; Müvelödes 33 (1980) 34-36, num. 12. - 5 Puchner, W.: Europ. Ö.Überlieferung und griech. Schicksalsmärchen. In: Siegmund, W. (ed.): Antiker Mythos in unseren Märchen. Kassel 1984, 52-63; id. (wie not. 1); id.: Studien zum Kulturkontext der liturgischen Szene. Lazarus und Judas als religiöse Volksfiguren in Bild und Brauch, Lied und Legende Südosteuropas 1—2. Wien 1991, 88-98, 260-272. - 6 Eberhard/Boratav, num. 142 (auch gegen die Behauptung, daß das Märchen nicht aus einem Buch übernommen sei). - 7 BFP *934 A2 (Ö. ist der Name des Königs, der nach Prophezeiung einen Jungen erstechen soll). — 8 Schmidt, B.: Griech. Sagen, Märchen und Volkslieder. Lpz. 1877, 143 sq.; Brednich, R. W.: Volkserzählungen und Volksglaube von den Schicksalsfrauen (FFC 193). Hels. 1964, 43; cf. Rez. G. A. Megas in Laographia 21 (1963-64) 598-606, bes. 603 (Nachunters.en im Raum Parnaß 1938 konnten die Existenz dieses Motivs in der Erzählung nicht bestätigen). - 9 Jahn, S. al Azharia: Themen aus der griech. Mythologie und der oriental. Lit. in volkstümlicher Neugestaltung im nördl. und zentralen Sudan. In: Fabula 16 (1975) 61-90, bes. 65 sq. - 10 cf. Rez. K. Horälek zu Brednich (wie not. 8) in Fabula 8 (1966) 121-126; cf. 8

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auch Fehling, D.: Erysichthon oder das Märchen von der mündl. Überlieferung. In: Rhein. Museum für Philologie, N. F. 115 (1972) 173-196, pass.; Rez. G. Binder zu Megas, G. Α.: Das Märchen von Amor und Psyche in der griech. Volksüberlieferung (AaTh 425, 428 & 432). Athen 1971 in Fabula 16 (1975) 169-173. 11 cf. Puchner (wie not. 1) 321. - 12 Bäumler, Α.: Das mythische Weltalter. Bachofens romantische Deutung des Altertums. Mü. 1965, 12, 66; Turel, Α.: Bachofen - Freud. Bern 1969, 70-75. - "Abraham, K.: Psychoanalytische Studien zur Charakterbildung. Ffm. 1969, 291; Freud on Oedipus. In: Edmunds/Dundes (wie not. 4) 174—178; Rank, O.: Das Inzestmotiv in Dichtung und Sage. Lpz./Wien 1912, Reg. s. v. Ö.; id.: Der Mythos von der Geburt des Helden. Lpz./Wien 1922, bes. 24-26; Reik, T.: Ö. und die Sphinx. In: Imago 6 (1920) 95-131. 14 Neumann, E.: Die Ursprungsgeschichte des Bewußtseins. Zürich 1949, Reg. s.v. Ö. - 15 Fromm, E.: Märchen, Mythen, Träume. Stg. 1957, 184-193. — 16 Lord Raglan [Somerset, F. R., Baron]: The Hero. Α Study in Tradition, Myth and Drama. (L. 1936) N.Y. 1956, Reg. s.v. (E. - 17 Guepin, J.-P.: The Tragic Paradox. Amst. 1968, 275-280; LeviStrauss, C.: Strukturale Anthropologie. Ffm. 1967, bes. 234-242; Carroll, Μ. P.: Levi-Strauss on the Oedipus-Myth. In: American Anthropologist 80 (1978) 805-814; Propp, V.: Oedipus in the Light of Folklore [1944]. In: Edmunds/Dundes (wie not. 4) 76-121. - 18 Stellvertretend: Politzer, Η.: Hatte Ö. einen Ö.-Komplex? Mü. 1974. — 19 cf. Hunger (wie not. 1) 364 sq.; Frenzel, Stoffe, 565-569; Kerenyi (wie not. 2); Jördens, W.: Die frz. Ö.-Dramen. Diss. Bonn 1933; Brunkhorst, M.: Aspekte der „Ö."Adaption von Dryden und Lee. In: GRM 58, N. F. 26 (1976) 127-145; Schreiner (wie not. 3); cf. Puchner (wie not. 1) 322-324. - 20 cf. ibid., 322; z.B. Levin, A. J.: Oedipus and Samson. The Rejected Hero-Child. In: Internat. J. of Psycho-Analysis 38 (1957) 105-116; Hägglund, Τ.-Β. und V.: The Boy Who Killed His Father and Wed His Mother. The Oedipus Theme in Finnish Folklore. In: The Internat. Review of Psycho-Analysis 8 (1981) 53-62; Boehm, F.: Zur Geschichte des Ö.komplexes. In: Internat. Zs. für Psychoanalyse 17 (1931) 16-36; Kerenyi 1968 (wie not. 2) bes. t. 2, 16 sq. 21 In der Nachfolge von Bachofens „Mutterrecht", cf. Neumann (wie not. 14). - 22 Edmunds/Dundes (wie not. 4) XIII-XV. - 23 Aarne, Α.: Verz. der Märchentypen [...] (FFC 3). Hels. 1910, num. 931. - 24 Puchner 1991 (wie not. 5) 91-94. - 25 Textvergleiche zwischen Malalas, dem Suda-Lex. und Kedrenos, cf. id.: Byzantinos Oidipus kai Mesaiönikos Ioudas (AaTh 931) (Byzant. Ö. und ma. Judas [AaTh 931]). In: Byzantina themata tes hellenikes laographias. In: Laographia, Beiheft 11 (1994) 96-128, bes. 113-116. - 26 id.: Zur Herkunft der ma. Judaslegende. In: Fabula 35 (1994) 305-309, hier 307. - 27 id. 1991 (wie not. 5) 93 sq. - 28 cf. ibid., 90; id. (wie not. 1) 326. - 29 Dorn, E.: Der

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sündige Heilige in der Legende des MA.s. Mü. 1967. - 30 Ohly, F.: Der Verfluchte und der Erwählte. Vom Leben mit der Schuld. Opladen 1976. 31 Rretzenbacher, L.: Zur „desperatio" im Mhd. In: Verbum et Signum 2. Festschr. F. Ohly. Mü. 1975, 299-310. - 3 2 Günter 1910, 139; Köhler/Bolte 2, 173-190; Puchner (wie not. 1) 327. - 33 cf. ibid., 327 sq.; Dragomanov, M. P.: Slavjanskite prepravki na Edipovata istorija. In: SbNU 5 (1891) 297-310, 6 (1891) 239-310, 11 (1891) 511-517. - 34 cf. das Stemma der Abhängigkeiten bei Schreiner (wie not. 3) 75 sq. - 35 Mann, T.: Bemerkungen zu dem Roman „Der Erwählte". In: id.: G.W. 11. Oldenburg 1960, 687-691, hier 688. - 36 Puchner (wie not. 25) 110-112; id. (wie not. 1) 333. - "Brednich (wie not. 8) 46. - 38 Ergänzend zu AaTh: Ο Süilleabhäin/ Christiansen; Aräjs/Medne; SUS; MNK; BFP; Archiv G. A. Megas, Athen; Cirese/Serafini; Pujol; Nowak, num. 286, 272; Jason; Jason, Types; Jason, Iraq; Jason, Indic Oral Tales; Ikeda; Flowers; cf. auch die Texte im EM-Archiv, Göttingen. - 39 ζ. B. Velikovsky, I.: Oedipus und Echnaton. Mythos und Geschichte. Zürich 1966; cf. auch Edmunds/Dundes (wie not. 4) 147-173. - 40 Neumann (wie not. 14) 43-46. 41 Puchner (wie not. 1) 340 sq. - 42 ibid., 334 sq.; id. 1991 (wie not. 5) 94. - 43 Constans, L.: La Legende d'CEdipe. P. 1881, 99-103. - 44 Puchner 1984 (wie not. 5) 58 sq.; id. (wie not. 1) 336; id. 1991 (wie not. 5) 95; cf. Hahn 2, num. 119; Dawkins, R. M.: Modern Greek Folktales. Ox. 1953, num. 62; Scherf, Märchenlexikon 1, 330-333; Schmidt (wie not. 8). - 45 Aarne, Α.: Finn. Märchenvar.n (FFC 5). Hamina 1911, num. 931. - 46 Laographia 2 (1910-11) 575-590 (1 südslav., 2 griech. Var.n); Polites, N. G.: Paratereseis eis ta albanika paramythia (Beobachtungen zu den alban. Märchen). In: Laographia 1 (1909) 107-119; cf. Puchner 1984 (wie not. 5) 59; id. (wie not. 1) 337; id. 1991 (wie not. 5). - 47 ibid., 95; id. (wie not. 1) 3 37. - 48 Megas, G. Α.: Ho Ioudas eis tas paradoseis tou laou (Judas in den Volksüberlieferungen). In: Epeteris tou Laographikou Archeiou 3 - 4 (1941-1942) 3 - 3 2 (= Laographia 25 [1967] 116-144); id.: Ho peri Oidipodos mythos (Der Ö.mythos). ibid., 196-209 (= Laographia 25 [1967] 145-157; engl, in Edmunds/Dundes [wie not. 4] 133-146). - 49 cf. Puchner (wie not. 1) 338. 50 Mot. Μ 343, Μ 344, Μ 371.2, R 131, S 354, Ν 323, Τ 412. 51 Taylor, Α.: The Predestined Wife (Mt. 930*). In: Fabula 2 (1959) 45-82, hier 76 sq. (Vergleich mit Ö.mythos); cf. die Beitr.e in Edmunds/Dundes (wie not. 4). - 52 Puchner (wie not. 1) 341. - 53 Zu AaTh 930 A 46 griech. Var.n, zu AaTh 930 Β 30, zum Ökotyp *930 Β ι 28, zu AaTh 930 D 6 Var.n; zu den Ökotypen (nach der Gliederung Brednichs) von AaTh 931 zu *931 Α vier Var.n und eine zu *931 C; AaTh 933 hat eine Eintragung, 934 viele Dutzende, cf. Puchner, W.: Der unveröff. Zettelkasten [...] von Georgios A. Megas. In: Heissig, W./Schott, R. (edd.): Die heutige Bedeutung oraler Traditionen.

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Odo of Cheriton

Opladen/Wiesbaden 1998, 87-105. - 54 Brednich (wie not. 8); Megas, G. Α.: Die Moiren als funktioneller Faktor im neugriech. Volksmärchen. In: Märchen, Mythos, Dichtung. Festschr. F. von der Leyen. Mü. 1963, 4 7 - 6 2 ( = Laographia 25 [1967] 316-322). - 55 cf. Brednich (wie not. 8) 48 (führt auch eine slov. Var. ohne Schicksalsfrauen an). 56 Inhaltsangaben bzw. Abdrucke weiterer Var.n cf. Puchner 1991 (wie not. 5) 96; id. (wie not. 1) 341 sq.; Brednich (wie not. 8) 43. - 57 Krauss, F. S.: The Oedipus Legend in South Slavic Folk Tradition [dt. 1935]. In: Edmunds/Dundes (wie not. 4) 10-22, hier 14—17; cf. auch eine ähnliche rumän. Var. bei Karlinger, F./Mykytiuk, B.: Legendenmärchen aus Europa. MdW 1967, num. 41; Scherf, Märchenlexikon 2, 831-834. - 58 Hahn 2, num. 119; cf. Dawkins (wie not. 44); cf. auch die 1965 von M. Klaar aufgezeichnete ähnliche Var. bei Puchner 1991 (wie not. 5) 97 und id. (wie not. 1) 345-349; Scherf, Märchenlexikon 1, 330-333. - 5 9 B F P 931. - ^Brednich (wie not. 8) 45. 61 Constans (wie not. 43) 5 hält auch dieses Motiv für eine spätere Zutat zum Ö.mythos. - 62 Klaar, M.: Die Tochter des Zitronenbaums. Kassel 1970, num. 25. — 63 Karlinger, F.: Rumän. Märchen außerhalb Rumäniens. Kassel 1982, num. 13. — 64 cf. auch die Formulierung von R. M. Dorson in Megas, G. Α.: Folktales of Greece. Chic./L. 1970, xli sq. („The continuity is not from classical myth to present folktale within Greece, but from a European body that existed then and exists now, always in flux yet remarkably pertinacious, which nourished the myths.").

Athen

Walter Puchner

Odo of Cheriton, * Grafschaft Kent um 1185, f um 1246, anglonormann. geistlicher Autor. Ο. war der älteste Sohn einer Familie, die 50 oder 60 Jahre nach der normann. Eroberung Englands (1066) aus der Normandie gekommen war und deren Namen sich von dem Besitz Cheriton Manor bei Folkstone herleitet. Sein Vater begleitete Richard Löwenherz auf dem 3. Kreuzzug (1190) und hatte nach seiner Rückkehr am engl. Hof mehrfach wichtige Funktionen in Politik oder Rechtsprechung inne. O. studierte in Paris, vielleicht bei Praepositinus von Cremona (gest. 1210), dessen Traktate und Predigten er zitiert, und Petrus von Capua. Er erwähnt seine Bekanntschaft mit Robert de Courson (gest. 1218) und dem Kardinalbischof von St.-Sabine, dem früheren Kölner Domscholasticus Oliverius (gest. 1227). Eng verbunden war O. der 1190 von Richard Löwenherz gegründeten Zisterzienser-

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abtei Bomport bei Louviers, obwohl er selbst sicher kein Zisterzienser war. Seit 1220 lebte er meist in England auf dem Familienbesitz Cheriton; um 1221-25 unternahm er Reisen nach Frankreich und Spanien. Beim Tod seines Vaters (ca 1232/33) erbte er ein beträchtliches Vermögen. Er ist in der Kathedrale von Rochester begraben1. O. verfaßte zahlreiche, meist unveröff. gebliebene homiletische und seelsorgerische Werke, die er zum größten Teil gegen Ende seines Lebens noch einmal überarbeitete. Vor 1219 schrieb er zwei Traktate, einen über das Vaterunser, einen anderen über die Passion 2 . 1219 verfaßte er eine Reihe von Sonntagspredigten, Sermones dominicales de tempore (65 davon 1520 in Paris veröffentlicht)3. Aus diesen Predigten exzerpierte L. Hervieux nach dem Ms. lat. 16506 der Bibliotheque Nationale in Paris 195 Exempla mit den dazugehörigen allegorischen Kommentaren 4 . Die einzigen von O. angegebenen Quellen sind die ->• Vitae patrum und -> Gregor d. Gr., über die anderen schweigt er sich aus. O.s Beispielerzählungen machen einen wichtigen Teil der Erzählungen aus, die sich bei den großen Exempelkompilatoren des 13. Jh.s (-• Jacques de Vitry, Etienne de Bourbon) wiederfinden. Auf O. selbst und persönliche Erlebnisse des Autors gehen nur wenige Erzählungen zurück 5 , dafür finden sich einige über -> Bernhard von Clairvaux und die Zisterzienser6, eine Originalparabel des -» Franz von Assisi, die von dessen Biographen immer wieder aufgegriffen wurde 7 , sowie einige Einfaltigenschwänke8. 1224 stellte O. die Predigten über die Episteln, Sermones in epistolas, fertig (die nach den Anspielungen auf landesspezifische Eigenheiten zu schließen, an ein span. Publikum gerichtet zu sein scheinen); nach 1225 verfaßte er 20 Festtagspredigten, Sermones de festis, die dem liturgischen Kalender nach für ein span, oder südfrz. Publikum bestimmt waren. O.s Predigten hatten großen Erfolg, bes. in England, wo sie von den Lollarden benutzt wurden 9 . Einen Kommentar zum Hohenlied, Expositiones super Cantica, schloß O. 1226 ab10. Für seine in ca 30 Hss. erhaltene Summa de penitentia benutzte er ein ähnliches Werk von Raymond de Penyafort, dessen erste Fassung von 1225—27 stammt". Das verbreitetste und berühmteste Werk O.s bleibt aber sein Liber parabolarum. Diese aus

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bach, num. 1839). - 18 (11) = Storch und Störchin (Dicke/Grubmüller, num. 489). - 19 (12) = Ketzer und Fliege (Tubach, num. 2103). - 20 (13) = Phönix aus der Asche (Tubach, num. 3755). - 21 (14) = AaTh 247: cf. Die schönsten -> Kinder. — 22 (14a) = Junger Mann und alte Frau (Tubach, num. 2454). 23 (15) = Als Mönch verkleidete Katze läßt sich nicht davon abhalten, weiterhin Ratten zu jagen (Dicke/Grubmüller, num. 343). - 24 (15a) = Spinne, Fliege und Wind (Tubach, num. 4573). — 25 (15b) = Drei Sorten Fliegen (Tubach, num. 2084). - 26 (16) = AaTh 112: —• Feldmaus und Stadtmaus. - 27 (17) = Von der Antilope (Tubach, num. 5021). - 28 (18) = Hydra und Krokodil (Tubach, num. 1326). - 29 (19) = AaTh 32: cf. - Rettung aus dem Brunnen. — 30 (20) = AaTh 51: Löwenanteil. — 31 (21) = Käse, Ratte und Katze (Tubach, num. 886). - 32 (21a) = Hunde, Aas und Krähen. - 33 (21b) = AaTh 278: cf. Tiere aneinandergebunden. - 34 (22) = Wolf als Mönch (Dicke/Grubmüller, num. 634, 644). - 35 (23) = Löwe, Schafe, Wolf und Schweine (Tubach, num. 5330). - 36 (23a) = Hausvater vertraut Schafe dem Wolf an (Dicke/ Grubmüller, num. 619). - 37 (24) = AaTh 111 A: -» Wolf und Lamm. — 38 (25) = Fuchs gelobt Besserung und reißt im nächsten Augenblick ein Huhn (Dicke/Grubmüller, num. 215). - 39 (26) = AaTh 214 B: -> Esel in der Löwenhaut. - 40 (27) = Gauterus sucht die ewige Seligkeit (Tubach, num. 304, 2254, 5028). - 41 (27a) = Von zwei Gefährten ist einer aufrichtig, der andere lügt (Dicke/Grubmüller, num. 28). - 42 (28) = Streitgespräch zwischen Wespe und Spinne (Tubach, num. 4571). - 43 (28a) = Mistkäfer und Misthaufen (Dicke/Grubmüller, num. 433; Tubach, num. 554). - 44 (29) = Rabe als Arzt des Adlers (Tubach, num. 1833). - 45 (30, 30a) = Jäger bedauert, daß es im Paradies keine Hunde gibt (Tubach, num. 3589); Gastmahl des Löwen: Gespräch zwischen Wolf und Schwein (Dicke/Grubmüller, num. 496). - 46 (31) = Bauer und Mistkäfer Typen- und Motivverzeichnis: num. 1 (la) 18 : (Tubach, num. 1309). - 47 (32) = Bienen und MistKönigswahl der Bäume (Dicke/Grubmüller, num. käfer (AaTh 60: - Fuchs und Kranich). - 48 (33) = 162). - 2 (1) = Ameisen wählen erst Holz, dann Schlange zum König (cf. AaTh 277: -» Frösche bitten Esel und Schwein (Dicke/Grubmüller, num. 123). 49 (34) = Glucke beschützt Küken vor Milan (Tuum einen König). - 3 (lb) = AaTh 277. - 4 (lc) = bach, num. 2930). - 50 (35) = Festmahl von Löwe Hühner wählen erst Taube, dann Milan (cf. AaTh 277). — 5 (ld) = Vögel wählen erst Taube, dann Mi- und Ratten (Tubach, num. 3059). 51 (36) = Gans und Rabe (Tubach, num. 2346). lan (cf. AaTh 277). — 6 (le) = Abt, Essen und Mön- 52 (36a) = Gerechter bittet bei Gott für einen che. — 7 (2) = Falke, Taube und Großherzog Sünder. - 53 (36b) = Armer für dumm gehalten. — (Dicke/Grubmüller, num. 555). - 8 (2a) = Flügelschlagender Käfer (Dicke/Grubmüller, num. 326). — 54 (36c) = Zauberer blendet Könige und Fürsten. 9 (3) = AaTh 244: cf. ->• Tiere borgen voneinander. — 55 (36d) = Schachspiel (Tubach, num. 964). - 56 (37) = Ungezähmtes Fohlen (Tubach, num. 1149). 10 (4) = Bussard und Sperber (Dicke/Grubmüller, - 57 (38) = Milan und Rebhühner (Tubach, num. num. 129). - 11 (4a) = Kuckuck und Sperling (Tu3608). - 58 (39) = AaTh 105: - Listensack des bach, num. 1398). - 12 (5) = AaTh 225: cf. - FlieFuchses. - 59 (40) = Rabe, Taube und Taubenjunges gen lernen. - 13 (6) = AaTh 76: -> Wolf und Kranich (Dicke/Grubmüller, num. 435). - 60 (41) Wiedehopf (hier: Storch). - 14 (7) = Vogel des hl. - Martin und Nachtigall; Worte eines sterbenden Abts; in Spa(Dicke/Grubmüller, num. 495). - 15 (8) = Kahlköpnien möchte eine Frau mit einem Bruder des Predifiger mit tränenden Augen und Rebhühner (Dicke/ gerordens schlafen; dieser lädt sie auf den ScheiterGrubmüller, num. 568). — 16 (9) = Vogel namens haufen ein (Tubach, num. 3475, 2048). - 61 (42) = ,Knochenbrecher' (freinos) (Tubach, num. 625). Reicher Mann und Kuh der Witwe. - 62 (42a) = 17 (10) = Adler gewöhnt Junge an die Sonne (Tu-

111 Erzählungen bestehende Sammlung von Exempla und Fabeln mit moralischen Betrachtungen, von der ca 25 Hss. erhalten sind, hat eine komplexe Tradition, denn ihre Erzählungen haben sich rasch verbreitet 12 . Der Prolog betont die Nähe zum Α. T. und zum Gebrauch der Parabel (Ps. 77,2) 13 . Unter diesem Terminus versteht O. eindeutig sowohl Vergleiche (similitudines) als auch Beispielgeschichten im weiteren Sinne (exempla). Die Sammlung war für Prediger bestimmt, obwohl Hervieux anderes behauptet 14 . O. selbst hat in seinen Predigten mehrere der darin enthaltenen Exempla verwendet. Nach E. C. Friend steht der Liber parabolarum in Zusammenhang mit einem Spanienaufenthalt O.s und wäre nach 1225 anzusetzen. Am Anfang jeder Erzählung steht ein allg. Titel, der den Inhalt zusammenfaßt, und eine Angabe zum Adressatenkreis (gesellschaftliche Klassen, Berufsgruppen, Sündertypen); am Ende folgt eine allegorische Erläuterung 15 . Die Erzählungen können in drei Gruppen unterteilt werden: (1) Exempla, in denen Menschen größere Bedeutung als anthropomorphisierte Tiere haben (auch wenn Tiere in der Erzählung erscheinen können); (2) nichterzählerische moralisierende Vergleiche aus der Tierwelt, die Enzyklopädien und Bestiarien entnommen sind; (3) Fabeln oder Tiererzählungen, die aus dem klassischen und ma. Fabelschatz 16 und dem Roman de Renart17 schöpfen und den bedeutendsten Teil der Sammlung bilden.

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Einwohner von Wilby senden Hasen als Geldboten (Tubach, num. 4011; cf. -» Ausschicken von Gegenständen oder Tieren). - 63 (42b) = Fleißige Ameisen und Schweine (Tubach, num. 5059). — 64 (43) = Begräbnis des Wolfs (Tubach, num. 3209). - 65 (44) = Defäzierender Hund (Tubach, num. 812). - 66 (45) = Mann im Brunnen (Tubach, num. 5022). - 67 (46) = Fuchs und Fährmann (Dicke/Grubmüller, num. 643). - 68 (47) = Affe und Nuß (Dicke/Grubmüller, num. 22). - 69 (48) = Schnecke trägt ihr Haus (Tubach, num. 4924). - 70 (48a) = Schnecke und Fühler (Tubach, num. 4923). - 71 (48b) = Spinne, Fliege und Hummel (Tubach, num. 4570). 72 (49) = Fuchs stellt sich tot (Tubach, num. 2176). - 73 (49a) = Käse als Köder in der Rattenfalle (Tubach, num. 959). - 74 (50) = Fuchs im Hühnerstall (Tubach, num. 2173). - 75 (51) = AaTh 123 B: Wolf im Schafspelz (hier: Fuchs). - 76 (51a) = Gräflicher Räuber verkleidet sich als Zisterzienser (Tubach, num. 4807). - 77 (52) = Streit zwischen weißem Schaf, schwarzem Schaf, Esel und Ziegenbock (Tubach, num. 4064). - 78 (53) = Kröte und Egge (Dicke/Grubmüller, num. 165). - 79 (54) = Falke und Milan (Tubach, num. 2928). - 80 (54a) = AaTh 110: - Katze mit der Schelle. - 81 (55) = Warum die Eule am Tag nicht fliegt (Dicke/Grubmüller, num. 134). - 82 (56) = Maus und Katze (Dicke/ Grubmüller, num. 341). - 83 (56a) = Laus und Abt (Tubach, num. 2081). - 84 (56b) = AaTh 778: cf. Geloben der großen -> Kerze. — 85 (56c) = Bei Feuersnot gegebenes Gelöbnis nicht gehalten (Tubach, num. 2046). - 86 (57) = Pelikan und seine Jungen (Tubach, num. 3658). - 87 (58) = Wettlauf zwischen Wolf und Hase (Dicke/Grubmüller, num. 257). - 88 (59) = AaTh 155: - Undank ist der Welt Lohn. - 89 (59a) = Undankbarer Mensch. - 90 (60) = Geruch des Panthers (Tubach, num. 3583). - 91 (61) = AaTh 34 A: -> Hund verliert das Fleisch. 92 (62) = AaTh 277 A: cf. Der aufgeblasene Frosch. — 93 (62a) = Sohn will seinen ritterlichen Vater nachahmen und stirbt (cf. Tubach, num. 4928). - 94 (63) = AaTh 2031: -> Stärkste Dinge. 95 (64) = Schöne Frau des Katers (Tubach, num. 1279). - 96 (64a) = Schöne Kleidung der Ehefrau nicht für den Ehemann, sondern für alle (cf. Tubach, num. 1109). — 97 (65) = Ehebrecherische Störchin (Tubach, num. 4640). - 98 (66) = AaTh 244: cf. Tiere borgen voneinander. - 99 (67) = Kröte weigert sich, Frosch zu füttern (Dicke/Grubmüller, num. 366). - 100 (67a) = Hund und die zwei Männer (Tubach, num. 1702). — 101 (68) = Esel als Hofsänger (Tubach, num. 4387; - Esel als Lautenspieler). - 102 (69) = AaTh 214: -> Esel will den Herrn liebkosen. - 103 (70) = AaTh 57: - Rabe und Käse. - 104 (70a) = Athener möchte als Philosoph gelten (Tubach, num. 534). 105 (71) = Storch und Katze (Tubach, num. 4641). — 106 (72) = Abt befiehlt einem Novizen, Gebeine zu segnen und zu verfluchen, und ahmt deren Schweigen nach (Tubach, num. 728). - 107 (73) = Ziegenbock und Esel (Tubach, num. 395). - 108

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(73a) = Sohn, alter Vater und Herrscher. - 109 (73b) = AaTh 980 A: cf. ->· Großvater und Enkel. 110 (74) = AaTh 2: - Schwanzfischer. - 111 (75) = Fliege und Ameise streiten um ihre Vorzüge (Dicke/ Grubmüller, num. 150). — Zusätzliche Erzählungen19: 112 (76) = Adler und Kuckuck (Tubach, num. 1399). - 113 (77) = AaTh 150: Die drei - Lehren des Vogels. - 114 (78) = Mann im Brunnen (Tubach, num. 5022). — 115 (79) = Maus und ihre Jungen. - 116 (80) = Bischof Theodosius von Sion rettet Seele, die in einem aus der Rhöne gefischten Eisblock gefangen war (Tubach, num. 2717)20. - 117 (81) = Wolf, Fuchs und Esel (Dicke/Grubmüller, num. 558). O.s Sammlung wurde von einem unbekannten Übersetzer ins Französische übertragen 21 . Eine große Anzahl der Texte übersetzte der Franziskaner Nicole Bozon in der 1. Hälfte des 14. Jh.s ins Französische (i. e. Anglonormannische) 22 . Eine zwischen 1350 und 1400 angefertigte span. Übers., El libro de los gatos, umfaßt 66 Exempla 23 . 'Hervieux 4, 1-170; Friend, A.C.: Master O. of C. In: Speculum 23 (1948) 641-658; Jacobs, J. C.: The Fables of Ο. of C. Syracuse 1985, 1-62; Longere, J.: Odon de Cheriton. In: Diet, de spiritualite ascetique et mystique [...] 11. P. 1982, 618-620; Rielinger, H.: O. von Cheriton. In: Lex. des MA.s 7. Mü./Zürich 1993, 1358 sq.; Berlioz, J./Polo de Beaulieu, M. A. (edd.): Les Exempla medievaux. Carcassonne 1992, 153—163; Diet, des lettres fransaises. ed. G. Hasenhor/M. Zink. P. 1992, 426 sq. - 2 Bloomfield, M. W./Guyot, G./Howard, D. R./Kabealo, Τ. B.: Incipits of Latin Works on the Virtues and Vices, 1100-1500 A. D. Including a Section of Incipits of Works on the Pater Noster. Cambr., Mass. 1979, num. 8275. — 3Schneyer, J. B.: Repertorium der lat. Sermones des MA.s 4. Münster 1972, 488-490; Longere, J.: La Predication medievale. P. 1983, 153. - 4 Hervieux 4, 265-343. - 5 ibid., 145, 181 (Tubach, num. 4665, 1497). - 6 Hervieux 4, 28, 48, 113 sq., 122, 126 sq. (Tubach, num. 603, 243,452, 598, 761a, 1887). - 7 Hervieux 4, 160 (Tubach, num. 4471); Dalarun, J.: Francesco nei sermoni. Agiografia e predicazione. In: La predicazione dei Frati dalla metä del '200 alia fine del '300. Atti del XXII Convegno internazionale, Assisi, 13-15 ottobre 1994. Spoleto 1995, 344-346. - 8 Hervieux 4, 40 (Tubach, num. 4652), 74 (Tubach, num. 3248), 106 (Tubach, num. 886), 108 (Tubach, num. 2808). - 'Spencer, H.: English Preaching in the Late Middle Ages. Ox. 1993, 17 sq., 81-88. - 10Stegmüller, F.: Repertorium Biblicum Medii Aevi 4. Madrid 1954, num. 6114. "Teetaert, Α.: Quelques „Summae de poenitentia" anonymes dans la Bibliotheque Nationale de Paris. In: Festschr. G. Mercati. Vatikanstadt 1946,

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O Duilearga, Seamus

326-329; Bloomfield u. a. (wie not. 2) num. 3871. 12 Hervieux 4, 173-255 (nach dem Ms. 441 Oxford, Corpus Christi College; ergänzt durch Auszüge aus Ms. Harley 219, London, British Library; Ms. 986, Paris, Bibliotheque Mazarine; Ms. Douce 88, Oxford, Bodleian Library); Perry, 625-657; die von Hervieux herausgegebenen Hss. „Collectio prima" (4, 361-386) und „Collectio secunda" (4, 387-404) bieten eine Zusammenstellung von 50 Parabeln, die ein Kopist aus O.s Predigten gezogen und in eine der Abschriften des „Liber parabolarum" (Ms. Harley 219, British Library, London) eingefügt hat. 13 Berlioz, J./Polo de Beaulieu, Μ. Α.: Les Prologues des recueils d'exempla (XHIe—XlVe siecles). In: La predicazione dei Frati (wie not. 7) 268-299. 14 Hervieux 4, 35. - 15 Grubmüller, K.: Fabel, Exempel, Allegorese. Über Sinnbildungsverfahren und Verwendungszusammenhänge. In: Exempel und Exempelslgen. ed. W. Haug/B. Wachinger. Tübingen 1991, 58-76. - 16 id.: Meister Esopus. Mü. 1977, bes. 101-105; Dicke/Grubmüller, 864 (Tab.n); Ziolkowski, J. M.: The Form und Spirit of Beast Fable 2. Amst. 1990, 4 - 1 8 ; Berlioz, J./Polo de Beaulieu, Μ. A. (edd.): L'Animal exemplaire. Rennes 1999. — 17 Le Roman de Renart. ed. A.Strubel. P. 1998, 163-177, 255-271. - 18 Numerierung nach Jacobs (wie not. 1); in Klammern Zählung bei Hervieux 4. - " M s . Douce 88, Oxford, Bodleian Library. 20 Deleglise, F.: Illustris civitas. Office rime de s. Theodule (XHIe siecle). In: Vallesia 38 (1983) 173-187. 21 Meyer, P.: Notice d'un manuscrit de la Bibliotheque Philipps contenant une ancienne version franCaise des fables d'Eudes de Cherrington (ou C.). In: Romania 14 (1885) 388-397. - 22 Les Contes moralises de Nicole Bozon [...]. ed. L. Toulmin-Smith/ P. Meyer. P. 1889 (Nachdr. Ν. Y. 1968); Berlioz/Polo de Beaulieu (wie not. 1) 237-241; Hasenhor/Zink (wie not. 1) 1069 sq. — 23 El Libro de los gatos. ed. P. de Gayangos. In: Biblioteca de autores espanoles 51. Madrid 1860, 543-560; Northup, G. T.: El libro de los gatos. A Text with Introduction and Notes. In: Modern Philology 5 (1908) 477-554; Keller, J. E. (ed.): El libro de los gatos. Madrid 1958; Darbord, B. (ed.): Libro de los gatos. P. 1986; cf. id.: El libro de los gatos. Sur la structure allegorique de l'exemple. In: Cahiers de linguistique hispanique medievale 6 (1981) 81-109; Berlioz/Polo de Beaulieu (wie not. 1) 263-268.

Lyon

Jacques Berlioz

0 Duilearga, Seamus (James Hamilton Delargy), * Cushendall, County Antrim 26.5. 1899, f Dublin 25. 6. 1980, einer der bedeutendsten ir. Folkloristen1. Ο D. studierte wohl seit 1919 Keltistik am Univ. College Dublin (Magister artium 1923) und wurde 1923 Assi-

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stent bei seinem Lehrer D. -» Hyde, damals Professor für modernes Irisch und der bedeutendste Sammler ir. sprachiger Überlieferungen (-• Irland). Selbst Nordire, vervollständigte 0 D. seine Kenntnisse des gesprochenen Irisch in Südwest-Kerry, wo er einige der hervorragendsten Erzähler der Zeit kennenlernte. 0 D. war 1927 Gründungsmitglied von An Cumann le Bealoideas Eireann (The Folklore of Ireland Soc.; 1974-80 Schirmherrschaft 0 D.s) und gab 1927-73 deren Zs. Bealoideas (t. 1 - 3 8 ) heraus. 1930—35 war er ehrenamtlicher Direktor des Irish Folklore Institute. Danach leitete er auf der Basis seines Lektorats (seit 1934) und seiner Professur (1946—69) für ir. Folklore am Univ. College Dublin die von der Regierung 1935 eingerichtete Irish Folklore Commission als ehrenamtlicher Direktor (1935-70), bis sie 1971 in das Department of Irish Folklore am Univ. College Dublin umgewandelt wurde2. 0 D. erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter die Ehrendoktorwürde von sieben Universitäten (u. a. 1969 der National Univ. of Ireland) sowie schwed. und isl. Orden. Die Organisation einer landesweiten und systematischen Sammeltätigkeit stellt eine der großen Leistungen 0 D.s für die ir. Kultur dar. Sie führte zum Aufbau eines der bedeutendsten Folklore-Archive der Welt. 1928 hatte 0 D. zum ersten Mal schwed. Folklore-Archive und wiss. Institutionen besucht. Die Verbindung zu Skandinavien, bes. über C. W. von Sydow (Lund), D. Strombäck und A. Campbell (Uppsala) sowie den Norweger R. T. Christiansen, war von größter Bedeutung für die ir. Erzählforschung 3 . Bei den Sammelarbeiten der Irish Folklore Commission unter Ο D. wurden mit einer Gruppe von hauptamtlichen und Teilzeitsammlern, speziellen Sammelprogrammen wie dem Schulprogramm von 1937-38 und einem ausgedehnten Netz von Fragebogenkorrespondenten jahrzehntelang große Mengen an Folklore-Material zusammengetragen, einschließlich von Tondokumentationen (anfangs auf Grammophonplatten). Berücksichtigt wurden auch das gäl.sprachige Schottland 4 und die Isle of Man 5 . Ο D. setzte sich selbst und seinen Feldforschern hohe Maßstäbe, was Herkunft, wortund sprachgetreue Aufzeichnung, Darstellung

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Ö Duilearga, Seamus

von Kontext und Performanz des Erzählereignisses sowie die Beschreibung der Erzählerpersönlichkeiten und ihres Alltagslebens betraf. In der Zs. Bealoideas machte er der internat. Forschung den Reichtum der ir. Erzählüberlieferung, bes. anhand von Beispielen internat. verbreiteter Volkserzählungen sowie Ossian- und Heldenerzählungen, durch engl.sprachige Übers.en mit Anmerkungen zugänglich6. Er gab die erste gedr. und in engl. Sprache vor 1825 erschienene Sammlung ir. Volkserzählungen 7 neu heraus und publizierte bis dahin unveröff. Volkerzählungen, die der amerik. Ethnologe und Sprachwissenschaftler J. Curtin in den 70er bis 90er Jahren des 19. Jh.s in Irland gesammelt hatte 8 . 1948 publizierte 0 D. das von ihm 1923-31 gesammelte Repertoire Seän Ο Conaills, eines ir. sprachigen (und des Englischen unkundigen) Bauern und Fischers aus Cill Riallaigh (County Kerry)9. Mit diesem Buch, das Volkserzählungen aus internat. Tradition, Fenierund Heldenerzählungen, eine große Vielfalt von Sagen, Dichteranekdoten, Cante fables, Sprichwörter, Gebete und Verse enthält und dem engl. Zusammenfassungen, Anmerkungen, AaTh- und Mot.-Nummern, eine Beschreibung des Erzählers und seines Lebens sowie eine Selbstdarstellung des Erzählers beigegeben sind, hat Ο D. ein bahnbrechendes Standardwerk der Volkserzählforschung vorgelegt. Diesem Muster folgen zwei andere wichtige Bände mit Erzählungen, die Ο D. ebenfalls in den 20er Jahren aufgezeichnet hatte: eine weitere Sammlung aus Kerry 10 und ein postum veröff. Band mit Erzählungen und Überlieferungen aus der nordwestl. Grafschaft Clare11. Zu einer Sammlung von 50 ir.sprachigen Märchen aus der Grafschaft Cork, die die Irish Folklore Commission 1943—44 von einem einzigen Erzähler aufgezeichnet hatte, steuerte er engl. Zusammenfassungen, AaThNummern und vergleichende Anmerkungen bei12. Außerdem gab er einen Band mit Erinnerungen an das Leben auf den Blasket Islands (County Kerry) im 19. Jh. heraus, die R. Flower, der Direktor der ir. Handschriftenabteilung im British Museum, 1912—25 von Tomas Ο Criomthain gesammelt hatte 13 . Seinen tiefen Respekt vor den Erzählern brachte 0 D. immer wieder zum Ausdruck 14 . Auch die Beziehungen zwischen Volkserzäh-

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lung und Lit., ein in Irland mit seiner reichen Handschriftenüberlieferung wichtiges Thema, griff 0 D. auf, bes. in seinem Aufsatz Nera and the Dead Man, einem Erzählstoff, der sich sowohl in der modernen ir. Volksüberlieferung als auch in sprachlich dem 8. Jh. zugeordneten Handschriften findet15. Durch das Beispiel seiner Verdienste in Irland und aufgrund seiner zahlreichen internat. wiss. Kontakte gab Ο D. auch den Anstoß zur Schaffung von Folklore-Archiven in anderen Ländern - ζ. B. auf den Färöern 16 - und trug in Schottland 17 , Wales, auf der Isle of Man und in England zum wachsenden Interesse an der Folkloristik bei. 1 Zu biogr. Angaben cf. Tierney, M.: Foreword. In: Hereditas. Festschr. S. 0 D. Dublin 1975 (= Bealoideas 39—41 [1971-73]), ix-xv; Ο Muimhneachain, Α.: In Memoriam. S. Ο D. (1899-1980). In: Bealoideas 48-49 (1980-81) 1 - 7 , 7 sq. (engl. Zusammenfassung); Mcintosh, Α.: Professor S. Delargy. In: Scottish Studies 24 (1980) 107; Whitaker, Τ. Κ.: James Hamilton Delargy, 1899-1980. In: Folk Life 20 (1981-82) 101-106. - 2 Almqvist, B.: The Irish Folklore Commission. Achievement and Legacy. In: Bealoideas 45-47 (1977-79) 6 - 2 6 . - 3 cf. ζ. B. Lysaght, P.: .Don't go without a beaver hat!' Sean 0 Süilleabhäin in Sweden in 1935. In: Sinsear 7 (1993) 49-61. - 4 ead.: Swedish Ethnological Surveys in the Western Isles of Scotland, 1939, 1948: Some Data from Ireland. In: Review of Scottish Culture 6 (1990) 27-51, hier 47. - 5 0 Danachair, C.: Sound Recording of Folk Narrative in Ireland in the Late Nineteen Forties. In: Fabula 22 (1981) 313-315, hier 312 sq. — 6 Z u dem von Ο D. gesammelten Material cf. das Verz. der Sammler im Archiv des Department of Irish Folklore, Univ. College Dublin; Bibliogr. cf. Wall, T.: Publ.s of Professor S. 0 D. In: Hereditas (wie not. 1) 425-431. - 7 0 D., S. (ed.): The Royal Hibernian Tales. In: Bealoideas 10 (1940) 148-203. - 8 ibid. 11 (1941) Suppl., 1-84; 12 (1942) Suppl., ix-xvi, 85-166. - 9 0 D., S.: Leabhar Sheäin I Chonaill. Sgealta agus seanchas Ο Ibh Räthach. Dublin 1948 (Nachdr. 1964; 31977); engl. Ausg.: Seän Ο Conaill's Book. Stories and Traditions from Iveragh. Übers. M. MacNeill. Dublin 1981; zu Seän Ο Conaills Umfeld cf. Campbell, Α.: Irish Fields and Houses. In: Bealoideas 5 (1935) 57-74; Lysaght, P.: Swedish Ethnological Surveys in Ireland (1934-35) and Their Aftermath. In: Tools and Traditions. Festschr. A. Fenton. Edinburgh 1993, 22-31. - 1 0 0 D , S.: Cnuasach Andeas. Scealta agus Seanchas Sheäin ί She 0 Ibh Räthach (Eine Slg aus dem Süden. Die Geschichten und Uberlieferungen von Seän Ο Se aus Iveragh). Dublin 1963 (= Bealoideas 29 [1961], 1963 erschienen; mit engl. Zusammenfassungen). — 11 0 D., S.: Leabhar Stiofäin Ui Ealaoire (Stephen Hellerys Buch). Dublin 1981 (mit engl. Zusammen-

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Odyssee — Odysseus

fassungen und Anmerkungen). — 12 O Croinin, S. und D.: Scealaiocht Amhlaoibh I Luinse (Das Erzählen des Amhlaoibh 0 Luinse). Dublin 1971. 13 0 Criomthain, T./Flower, R . / 0 Duilearga, S.: Seanchas όη Oileän Tiar (Überlieferungen von der westl. Insel). Dublin 1956. - I4 Delargy, J. H.: The Gaelic Story-Teller, with Some Notes on Gaelic Folk-Tales. The Sir John Rhys Memorial Lecture. L. 1945 (Nachdr. Chic. 1969); Ο D., S.: Irish Tales and Story-Tellers. In: Märchen, Mythos, Dichtung. Festschr. F. von der Leyen. Mü. 1963, 63—82; id.: Once upon a Time. In: Jenkins, G. (ed.): Studies in Folk Life. Festschr. C. Peate. L. 1969, 4 7 - 5 8 ; cf. auch die zahlreichen von Ο D. in Bealoideas veröff. Nachrufe auf Erzähler, ν. Wall (wie not. 6). - 15 0 D., S.: Nera and the Dead Man. In: Festschr. E. Mhic Neill. Dublin 1940, 522-534, cf. 522, not. 5 (zur Datierung). 16 Joensen, J. R: Frööskaparsetur Feroya 1965-90. Torshavn 1990, 36. - 17 Lysaght (wie not. 4); Sanderson, S.: A Golden Chain. Some Irish Folklore Connections. In: Scribhinni Bealoidis/Folklore Studies - Paimfleid/Pamphlets 4 (1991) 5 - 1 8 ; MacQueen, J.: The Heritage of Ossian. A Scottish View of Irish Folklore, ibid., 21-28.

Dublin

Patricia Lysaght

Odyssee -» Homer

Odysseus, sagenhafter König von Ithaka zur Zeit des Trojan. Kriegs1. Neben der Odyssee von Homer, in der die Rückkehr des O. von Troja erzählt wird, sind die wichtigsten Qu.n für die O.-Sage andere epische Dichtungen, Tragödien und Mythensammlungen wie die des Pseudo-Apollodoros 2 und Hyginus sowie antike Kunstwerke. Während -» Achilleus, die Hauptfigur von Homers Ilias, hauptsächlich ein kämpferischer Held ist, wird O. vorwiegend als Stratege, der durch List siegt, dargestellt3. Die Quellen vermitteln folgendes Gesamtbild: O. ist Sohn des König Laertes von Ithaka oder, nach einer anderen Überlieferung, des -> Sisyphus, der Laertes' Frau Antikleia verführt hatte. Als junger Mann gehörte O. zu den Freiern der schönen -> Helena. Deren Vater Tyndareos befürchtete, daß unter den Freiern ein Krieg ausbrechen werde, nachdem Helena ihre Wahl getroffen habe. O., der sich nur geringe Chancen ausrechnete, versprach, dieses zu verhindern, wenn ihn Tyndareos seinem Bruder Ikarios, dem Vater von Penelope, als Schwiegersohn empfehlen würde. Als Lösung schlug O. Tyndareos vor, jeden Freier im voraus schwören zu lassen, Helenas künftigen Ehemann gegen jeden Schaden zu

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verteidigen. O. heiratete dann Penelope, von der er einen Sohn, Telemachos, hatte. Helena heiratete Menelaos, und als sie vom trojan. Prinzen Paris entführt wurde, rief Menelaos die früheren Freier zu Hilfe. Sofort begann Agamemnon, der Bruder von Menelaos, eine Armee gegen Troja aufzustellen. O., der am Kriegszug gegen Troja nicht teilnehmen wollte, täuschte zunächst Wahnsinn vor (cf. Mot. Κ 523.1); Palamedes deckte diesen Tauschungsversuch auf, indem er drohte, Telemachos zu ermorden (Mot. J 1149.1). Ebenso hatte Thetis ihren Sohn Achilleus als junge Frau verkleidet, weil sie um sein Leben fürchtete, falls er am Krieg gegen Troja teilnehme; O. enttarnte ihn durch eine -» Geschlechtsprobe. Vor der Abfahrt von Ithaka wies O. Penelope an, wieder zu heiraten, falls er noch nicht heimgekehrt sei, wenn Telemachos ein Bart wachse. Dann schlossen sich O. und weitere Männer aus Ithaka dem Feldzug gegen Troja an. Wegen ungünstiger Winde konnte die in Aulis liegende griech. Flotte nicht nach Troja segeln. Der Seher Kalchas enthüllte, daß Agamemnon den Zorn der Artemis durch Opferung seiner Tochter Iphigenie besänftigen müsse. O. lockte das Mädchen unter dem Vorwand, sie solle Achilleus heiraten, nach Aulis. Im Trojan. Krieg stellte O. seine Klugheit mehrfach unter Beweis. Seine bedeutendste Leistung war die Strategie, mit welcher der Krieg im zehnten Jahr zu Ende gebracht wurde: Die Griechen gaben vor, die Belagerung aufzugeben, und eroberten Troja durch ihre -» Kriegslist mit dem großen hölzernen Pferd (-• Trojan. Pferd). Nachdem sie von Troja weggesegelt waren, kamen O. und seine Begleiter auf der Rückreise vom Kurs ab. Bei ihrer Irrfahrt trafen sie auf viele seltsame Gestalten (-» Fabelwesen) und Orte: so die Lotosesser (Mot. F 111.3)4; die Zyklopen (-• Einäugiger, Einäugigkeit); Aiolos, den Hüter der Winde (Mot. C 322.1: Bag of Winds); die kannibalischen Laistrygo5 nen; die Zauberin Kirke (-• Circe) ; den Hades, das Reich der Toten (-» Unterwelt); die verführerischen -» Sirenen; -» Skylla und Charybdis; Thrinakia, die Insel des Sonnengottes Helios; die Nymphe Kalypso, die O. sieben Jahre gegen seinen Willen bei sich festhielt. Schließlich erreichte O. das Land der Phäaken, die ihn im zehnten Jahr nach dem Fall von Troja auf einem ihrer wunderbar schnellen Schiffe nach Hause brachten (7,36; 8,557-562; 13,86 sq.)6. In Ithaka traf O. zu dem Zeitpunkt ein, in dem sich Penelope den sie bedrängenden Freiern stellen mußte (Mot. Ν 681). Die Göttin Athene verwandelte O. in einen alten Bettler, damit er nicht erkannt und von Penelopes Freiern getötet werde. Nachdem O. die Freier bezwungen und seine wahre Identität unter Beweis gestellt hatte, wurde O. mit seiner Frau und seinem alten Vater wiedervereint. Auf einer späteren Seereise besänftigte O., angewiesen vom Seher Teiresias, den Meeresgott Poseidon durch ein Opfer. O. fand einen sanften Tod weit ab vom Meer; nach einer anderen Version wurde er unwissentlich von

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Oesterley, Hermann

Telegonos, seinem Sohn aus der Verbindung mit Kirke, erschlagen (Hesiod, Theogonie, V. 1014; Vater-Sohn-Motiv).

Zahlreiche Erzählungen über O. finden sich im internat. Erzählgut wieder7. Die Grundstruktur der Odyssee entspricht der Erzählung vom Mann, der nach langen Jahren aus dem Krieg zurückkehrt und die Wiederverheiratung seiner Frau noch im letzten Moment verhindern kann (AaTh 974: Heimkehr des Gatterif. Das Erkennungszeichen, anhand dessen die Ehefrau die wahre Identität ihres lange verschollenen Mannes feststellt, besteht hier darin, daß O. sein Wissen über die nur ihm und Penelope bekannte ungewöhnliche Konstruktion des Ehebetts offenbart (23,1 — 230; Mot. Η 16.4)9. Die bekannteste internat. verbreitete Erzählung über O. ist AaTh 1135-1137: - Polyphem: Der Held blendet durch eine List den Riesen, der ihn als Gefangenen hält, und flieht aus dessen Behausung, indem er sich mit einem Schafsfell bedeckt und unter die Schafe des Riesen mischt (9,105542)10; Homers Version enthält außerdem den Trick der falschen Namensnennung (Mot. Κ 602: Nomari), der normalerweise nicht Bestandteil der Erzählung ist (9,355—414). Eine weniger bekannte Erzählung der Odyssee ist die von O. und dem Ruder, die noch im 20. Jh. bes. unter Seeleuten in Griechenland kursiert: Ein Seemann, der genug vom Meer hat, nimmt ein Ruder auf die Schulter und wandert landeinwärts, um eine Gegend zu finden, in der man nichts vom Meer weiß; als er schließlich einen Mann trifft, der nicht weiß, was ein Ruder ist, läßt er sich dort nieder (11,121-137; 23,265-287)". 1 Schmidt, J.: O. In: Roscher, W. H. (ed.): Ausführliches Lex. der griech. und röm. Mythologie 3. Lpz. 1897-1902, 602-681; Touchefeu-Meynier, O.: O. In: Lex. Iconographicum Mythologiae Classicae 6,1. Zürich/Mü. 1992, 943-970; Hunger, H.: Lex. der griech. und röm. Mythologie. Wien 61969, 261-274; Gantz, T.: Early Greek Myth. Baltimore 1993; Shapiro, Η. Α.: Myth into Art. Poet and Painter in Classical Greece. L. 1994, 45-63; Stanford, W. B.: The Ulysses Theme. A Study in the Adaptability of a Traditional Hero. Ox. 21963; Reid, J. D.: The Oxford Guide to Classical Mythology in the Arts 2. Ν. Υ,/Οχ. 1993, 724-754. - 2 Apollodorus: The Library 1 - 2 . Übers. J. G. Frazer. L./N. Y. 1921. - 3 cf. Roberts, J. M./Sutton-Smith, B./Kendon, Α.: Strategy in Games and Folk Tales. In: J. of Social

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Psychology 61 (1963) 185-199. - "Page, D. L.: Folktales in Homer's Odyssey. Cambr., Mass. 1973, 3 - 2 1 . — 5 Scobie, Α.: Apuleius and Folklore. L. 1983, 229-257. - 6 Huet, G.: Le Retour merveilleux du mari. In: RTP 32 (1917) 97-109, 145-163. 7 Petersmann, H.: Homer und das Märchen. In: Wiener Studien 94 (1981) 43-68; Hansen, W.: Homer and the Folktale. In: Morris, ITPowell, Β. B. (edd.): A New Companion to Homer. Leiden 1997, 442—462. - 8 Tolstoi, J.: Einige Märchenparallelen zur Heimkehr des Ο. In: Philologus 89 (1934) 261 -274; Seemann, E.: Widerspiegelungen der Mnesterophonia der Odysee in Liedern und Epen der Völker. In: Laographia 22 (1965) 484-490; DVldr, num. 11; Foley, J. Μ.: Traditional Oral Epic. The Odyssey, Beowulf, and the Serbo-Croatian Return Song. Berk. 1990. - 9 Kakridis, J. T.: Homer Revisited. Lund 1971, 151-163. - l0 Page, D. L.: The Homeric Odyssey. Ox. 1955, 1-15; Glenn, J.: The Polyphemus Folktale and Homer's Kyklopeia. In: Transactions and Proc. of the American Philological Assoc. 102 (1971) 133-181; Mondi, R.: The Homeric Cyclopes. Folktale, Tradition, and Theme, ibid. 113 (1983) 17-38. 11 Moser, D.-R.: Die Homerische Frage und das Problem der mündl. Überlieferung aus volkskundlicher Sicht. In: Fabula 20 (1976) 116-136; Hansen, W.: The Story of the Sailor Who Went Inland. In: Folklore Today. Festschr. R. M. Dorson. Bloom. 1976, 221-230; id.: Ο.' Last Journey. In: Quaderni urbinati di cultura classica 24 (1977) 27-48; id.: Ο. and the Oar. A Folkloric Approach. In: Edmunds, L. (ed.): Approaches to Greek Myth. Baltimore 1990, 241-272.

Bloomington

William Hansen

Oesterley, Hermann, * Göttingen 14. 6. 18331, t Boppard (?)2 2.2. 1891, dt. Lit.wissenschaftler 3 . Der Sohn des liberalen Juristen und Göttinger Bürgermeisters Ferdinand O. studierte Philosophie und Musik in Göttingen (Promotion 1855 mit der Diss. Abriss der Geschichte der phil. Beweise für das Sein Gottes), war 1858-62 Privatdozent für Musik in Kiel4, 1862—72 Bibl.sangestellter an der Univ.sbibliothek Göttingen und anschließend Bibliothekar an der Univ.sbibliothek Breslau. O.s Leben ist (zumindest was gedr. Qu.n betrifft) nur spärlich dokumentiert; das vorhandene Material ist ζ. T. offensichtlich fehlerhaft oder wirkt wegen Lückenhaftigkeit nicht unbedingt vertrauenswürdig. Auffällig ist O.s Umorientierung von der Musik- zur Lit.wissenschaft und gegen das Lebensende zur Geschichtsforschung hin. Es bleibt unklar, wieso

233

Oesterley, Hermann

Ο. in diesem Bereich nie die Univ.slaufbahn eingeschlagen hat; andererseits scheint er es im Bibl.swesen auch nicht über den ,mittleren Dienst' hinausgebracht zu haben5. Seine wiss. Orientierungen und sein Beziehungsnetz in der Gelehrtenwelt lassen sich durch Hinweise in Vorw.en und in Widmungen erschließen6. Neben Publ.en auf den Gebieten der Musik·7 und Geschichtswissenschaft8 hat O. vor allem literaturwiss. gearbeitet9; u. a. veranstaltete er im Rahmen der Dt. National-Litteratur Ausg.n von schles. Barockautoren: Martin Opitz, Paul Fleming und Adam Olearius, Simon Dach und seinem Freundeskreis10. Für die Erzählforschung ist eine Reihe seiner Editionen und Übers.en relevant: von Johannes Paulis Schimpf und Ernst11, dem Göttinger Unikat eines Schwankbuchs aus der Zeit Shakespeares12, Hans Wilhelm Kirchhofs Wendunmuth13, den itomu/t/s-Paraphrasen des - Vetälapancavimsatikä11, der Bearb. der Sieben weisen Meister des -• Johannes de Alta Silva18. In kleineren Abhdlgen beschäftigte sich O. u. a. mit -» Odo of Cheriton19, der Raparius-Erzählung (AaTh 1689 A) 20 und dem Schelmentyp des Guru Paramärtan21. Abgesehen von den späten Arbeiten zur hist. Toponomastik und Heuristik sowie den neugermanistischen Textausgaben, die im Sinne der Zeit noch kaum als ,wiss. Leistungen' gelten, liegt O.s Tätigkeitsgebiet im Bereich von Philologie und ,Literärgeschichte'. Bei seinen editorischen Leistungen fallt mehr die Bewältigung umfangreicher Texte und großer Überlieferungsmassen als die Gediegenheit ihrer textkritischen Durcharbeitung auf 22 . Die Ausg.n der oriental. Texte dürften durchwegs auf Übers.en Dritter beruhen23. Lit.geschichte andererseits bedeutet für O. ein stoffgeschichtlich orientiertes, vorwiegend Qu.n registrierendes Sammeln des Materials24. Selten läßt sich beobachten, wie sich O. die Wechselwirkung zwischen ,volksmäßiger' mündl. und gelehrtschriftl. Tradierung und die Wechselbeziehungen zwischen Orient und Okzident im einzelnen denkt25. Die Urteile über die Qualität der stoffgeschichtlichen Erschließung schwanken26. O. bleibt durch eine Reihe nachgedruckter Arbeiten bis heute als Jäger und Sammler' im

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Wiss.sbetrieb präsent, wobei offen ist, inwieweit dies die Ausnahme-Qualität seiner Editionen oder nur die Versäumnisse in der späteren Forschung markiert. 1

cf. Bader, K.: Lex. dt. Bibliothekare im Hauptund Nebenamt bei Fürsten, Staaten und Städten. Lpz. 1925, 185; cf. hingegen Ο., K.: Die Familie O. im Hause der Väter 1852—1891. In: Hannoversche Geschichtsbll. N. F. 11 (1957) 95-153, hier 110, 120 (laut der auf Familientradition beruhenden Darstellung des Großneffen erst 1837 geboren); Senf, R.: Die O.s in Göttingen. In: Norddt. Familienkunde 1 (1952) 33-39, hier 34 (gibt Geburtsjahr 1840 an). 2 cf. Dt. Lit.-Lex. Biogr.-bibliogr. Hb. 11. Bern 3 1988, 603 sq. (fragmentarisch; Sterbeort Boppard sonst nicht belegt). - 3 Alberti, E.: Lex. der Schleswig-Holstein-Lauenburg. und Eutin. Schriftsteller von 1829 bis Mitte 18661. 2. Kiel 1867, 140 (bei dem dort erwähnten Heinrich O. handelt es sich offensichtlich um einen Irrtum Albertis); die Kieler Privatdozentur Hermanns erwähnen die jüngeren Darstellungen bei Bader (wie not. 1) 183 und Blume, F. (ed.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart 13. Kassel u. a. 1966, 1109. - "Milkau, F.: Die Kgl. und Univ.s-Bibl. zu Breslau. Breslau 1911, 98. - 5 cf. ibid., 98. - 6 Die Widmungen fallen in ihrer Tonlage recht unterschiedlich aus: etwas selbstgefällig jene an A. Mussafia, distanziert-ergeben die an A. von Keller, freundschaftlich wird K. Goedeke, mit dem O. bes. intensive Kontakte gepflegt haben dürfte, apostrophiert, harsch die Kritik an J. G. T. Grässe. — 7 Ο., H.: Academische Vorlesungen über Theorie der Musik. Lpz. 1861; id.: Hb. der musikalischen Liturgik in der dt. evangel. Kirche. Göttingen 1863; id.: Der Gottesdienst der engl, und der dt. Kirche. Göttingen 1863. - 8 id.: Hist.-geogr. Wb. des dt. MA.s. Gotha 1883 (Nachdr. Aachen 1962); id.: Wegweiser durch die Lit. der Urkundenslgen 1 - 2 . B. 1885. 9 id.: Die Dichtkunst und ihre Gattungen. Breslau 1870; id.: Ndd. Dichtung. Dresden 1871. - 10Opitz, M.: Weltliche und geistl. Dichtung, ed. H.O.B. 1889; Paul Fleming, Friedrich von Logau und Adam Olearius. ed. Η. Ο. B. (ca 1885); Simon Dach, seine Freunde und Johann Röling. ed. Η. Ο. B. 1883. — 11 Scherz und Ernst [...] von Frater Johann Paul. ed. H. O. Stg. 1866 (Nachdr. Amst. 1967). - 12 Shakespeare's Jest Book. A C Mery Talys, from the only Perfect Copy Known, ed. H. O. L. 1866 (Nachdr. Gainesville, Ha. 1970). - "Kirchhof, Η. W.: Wendunmuth. Buch 1 - 7 . ed. Η. Ο. t. 1 - 5 . Tübingen 1869 (Nachdr. Hildesheim/N.Y. 1980). - 14 Ο., H.: Romulus. Die Paraphrasen des Phaedrus und die aesopische Fabel im ΜΑ. B. 1870. - 15 Gesta Romanorum. ed. Η. Ο. B. 1872 (Nachdr. Hildesheim 1963). - 16 Steinhöwels Äsop. ed. H. O. Tübingen 1873. — 17 id.: Baitäl Pachisi oder die fünfundzwanzig Erzählungen eines Dämon. Lpz. 1873. 18 Iohannis de Alta Silva Dolopathos, sive De rege et Septem sapientibus. ed. H. O. Straßburg/Darmstadt 1873. - 19 Ο., H.: Die Narrationes des Odo of Ci-

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Ofenbeichte - Oger

ringtona. In: Jb. für rom. und engl. Lit. 9 (1868) 121-154; 12 (1871) 129-154. - 20 id.: Raparius. ibid., 241-268. 21 id.: Die Abenteuer des Guru Paramärtan. In: Zs. für vergleichende Litteraturgeschichte 1 (1887) 4 8 - 7 2 . - 22 cf. Thiele, G.: Der Lat. Äsop des Romulus und die Prosa-Fassungen des Phädrus. Heidelberg 1910, V sq. (Mängel an O.s Textkritik des „Romulus" [wie not. 14]); Rez. der „Dolopathos"-Ausg. (wie not. 18) von G. Paris in Romania 2 (1873) 481-503, bes. 483,485, 502 sq.; cf. hingegen Verflex. 3 ( 2 1981) 25 (unterstützt O.s methodische Zielsetzung bei der Ausg. der „Gesta Romanorum" [wie not. 15]). - 23 cf. O. (wie not. 17) 3. - 2 4 cf. Paris (wie not. 22); Dicke/Grubmüller, XIV sq. - 25 cf. O. (wie not. 18) XIII-XXIII. - 2 6 Positiv cf. Pauli/ Boke 1, *30, cf. aber *34; kritisch Dicke/Grubmüller, XIV sq. (zahlreiche Fehler und mangelhafte Systematik im „Wendunmuth" [wie not. 13]).

Muri bei Bern

Ofenbeichte

Andre Schnyder

Eideslist

Offa ->• Mädchen ohne Hände

Oger 1. Begriff und Verbreitung - 2. Hauptmotive 2.1. Sozialleben, Räumlichkeit — 2.2. Aussehen, bes. Fähigkeiten — 2.3. Kontakt mit dem Menschen, Herrschaftsgewinn — 2.4. Verschlingekomplex — 2.5. Überwindung - 3. Zu Deutung und Fortleben

1. Begriff u n d V e r b r e i t u n g . Mit dem Begriff O. bezeichnet man den in Volkserzählungen vorkommenden Typus des mythischgrotesken Menschenfressers. Der früheste frz. Wortbeleg erscheint bereits im Perceval (zwischen 1180/81 und 1190) des ->• Chretien de Troyes; durch Perrault (1697) und Madame d' Aulnoy (1697) wurde der Begriff (dazu feminin: ogresse) in die Märchenliteratur eingeführt 1 . Aus frz. ogre entlehnt, erscheint der früheste dt. Beleg in Goethes Singspiel Lila (1777/90)2. Allg. akzeptiert ist J. Grimms Etymologie von frz. ogre über ital. orco aus lat. Orcus, Gott des Totenreichs (orco, feminin orca ist nur in bestimmten Regionaltraditionen Italiens geläufig3. Lehnwörter aus dem Französischen sind span./port. ogro sowie engl, ogre (ogress; 1713 durch die engl. Übers.

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von A. Gallands Tausendundeinenacht)4. In den Texteditionen dieser Sprachen bis heute verwendet, begegnet dt. O. eher selten. Durch S. -ι· Thompson wurde ogre in die internat. Nomenklatur übernommen, wo der Terminus auch als weltweit geltender Überbegriff für eine Vielzahl von entsprechenden Figuren mit jeweils einzelsprachlichen Bezeichnungen verwendet wird. So lassen sich ζ. B. -» Polyphem (AaTh 1135—1137) und Dev aufgrund ihrer Merkmale als O. auffassen. Diesen Pluralismus spiegelt Kap. G Ogres im Mot. wider, indem dort -* Dämon, Geist, Ghul und Dschinn (arab.), Räksasa (ind.), -> Hexe, Menschenfresser, Monster (-» Monstrum), Riese und -»· Teufel dem Oberbegriff O. subsumiert sind; hinzuzufügen wären Baba-Jaga, ->· Drache, Drak, Mammadräa, -> Mangus (mongol.), Troll und Unhold. Neben jeweils spezifischen Merkmalen sind all diesen Anverwandten, die definitorisch kaum eindeutig voneinander zu trennen sind, zahlreiche O.motive gemeinsam, die über Kap. G hinaus in anderen Kap.n des Mot. verzeichnet sind. Drei Perrault-Märchen nennen den O. bzw. die ogresse als Figur: AaTh 410: -> Schlafende Schönheit, AaTh 545 B: Der gestiefelte ->· Kater und AaTh 327 B: Däumling und Menschenfresser, als O. kann außerdem die Figur des Blaubart (AaTh 311,312:-» Mädchenmörder) gelten5. Madame d'Aulnoys O.märchen L'Oranger et l'abeille wurde als Der Okerlo in die Erstauflage der KHM (1812; num. 70) aufgenommen, in den Folgeauflagen jedoch eliminiert. AaTh klassifiziert die Märchen mit dem O. unter AaTh 300-359: The Ogre is Defeated und AaTh 1000-1199: Tales of the Stupid Ogre. Die Verbreitung des O.s scheint weltweit, wobei ein vollständiger und detaillierter Überblick anhand der regionalen Typen- und Motivkalatoge fehlt. Die vorliegende Darstellung stützt sich im wesentlichen auf AaTh und Mot., dazu bes. auf die Perrault-Märchen 6 , einzelne Texte und Befunde aus China und Japan 7 sowie vorrangig auf Erzähltexte und Spezialstudien aus Afrika 8 , dessen Lit. nach Nord- 9 , West-10, Zentral- 11 , Ost- 12 und Südafrika 13 sowie Madagaskar 14 gegliedert werden kann. In vielen afrik. Traditionen sind die O.figuren etymol. und in einzelnen Motiven mit Ahnengeistern assoziiert, so ζ. B. der Dodo der Hausa 15 und die meisten O. in ban-

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tusprachigen Traditionen 16 ; eine Verbindung zu Totengeistern weisen auch die jap. O.figuren auf 17 . Daneben sind andere afrik. O. mit Hexerei und Zauberwesen verknüpft (ζ. B. der Eloko der Mongo 18 ), mit wilden Tieren (ζ. B. berber.) 19 oder Wer-Tieren (cf. Wolfsmenschen) 20 oder dem unheimlichen Fremden (ζ. B. der Linani der Luhya 21 ). Wieder andere werden einfach ,Menschenfresser' genannt (wie der Khoe-öreb der Nama 22 ), ohne daß hier ein Anhaltspunkt für ein komplexeres O.konzept gegeben wäre. Eventuell bietet die semantische Analyse von möglichen Individualnamen einzelner O.figuren weitere Aufschlüsse für die Interpretation. In manchen Traditionen sind die O.funktionen auf mehrere Figuren verteilt (ζ. B. Berber, Kanuri; in dt. Märchen auf den Teufel, Riesen und -»· Wolf). Die Vielfalt dieser O.typen untereinander kann ζ. B. auf Entlehnung oder teilweise Substitution zurückgeführt werden. 2. H a u p t m o t i v e 2.1. S o z i a l l e b e n , R ä u m l i c h k e i t . In den meisten Fällen sind O. Angehörige einer eigenen, vom Menschen unterschiedenen Spezies. Gleichwohl kann es vorkommen, daß Menschen zu O.n degenerieren (Mot. G 30). Zuweilen ist der O. ein Einzelgänger, eher aber ein Gruppenwesen, das in hierarchischen Beziehungen und Familienfunktionen lebt. Der O. ist zumeist männlichen Geschlechts. Nicht selten ist er mit einer Frau verheiratet, die durch ihre Abstinenz von Menschenfleisch kein O. wird. Einige Traditionen bevorzugen allerdings fast ausschließlich den Typus der O.in (ζ. B. Berber 23 , Somali 24 ). Der O. ist ein Bewohner des dunkelsten Waldes oder dichtesten Büschs, d. h. eines menschenleeren Territoriums, als dessen Eigentümer er sich dem Eindringling gegenüber gebärdet. Dort bewohnt er oft ein bes. Haus wie ζ. B. ein finsteres Schloß. Manche O. zeigen eine Affinität zu mächtigen alten Bäumen. Zusätzlich zu diesen Land-O.n gibt es vereinzelt auch Wasser-O., die in Flüssen oder Seen leben 25 . Seltener bewohnt der O. eine Unterwelt, die durch eine Höhle, einen Brunnen oder über ein zu durchtauchendes Gewässer zu betreten ist. 2.2. A u s s e h e n , bes. F ä h i g k e i t e n . Die meisten O. sind anthropomorph. Gängig ist

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die Idee vom O. als Riesen. Ein nachhaltiger Einfluß auf die europ. Vorstellung dürfte den ab 1862 kursierenden Illustrationen der Perrault-Märchen durch Gustave Dore zuzuschreiben sein, der den O.figuren mit ihren prallrunden Körperformen und Glotzaugen eine massig-giganteske Gestalt von drei- bis vierfacher Menschengröße gab. In PokomoMärchen entspricht die Maßstabrelation von O./Mensch dem Verhältnis Mensch/Insekt 26 . In islam.-oriental. Märchen können O. eine schwarze Haut haben (Mot. G 11.4)27, in chin, eine blaue 28 , in Ndonga-Märchen sind O. weiß bzw. Albinos 29 . Bestimmte Körperteile werden grotesk überzeichnet, ζ. B. die wirren Haare oder ein überlanger Bart, die die Unkultiviertheit des O.s andeuten. Die O.innen der Berbermärchen haben so lange Brüste, daß sie sie über ihre Schultern werfen müssen (Mot. G 123; cf. Brust). Als pervertiert erscheinen die rückwärts gestellten Füße des O.s (Mot. G 365.1). O. sprechen die Sprache der Menschen, meist jedoch in rauher oder korrumpierter Form (grammatische Fehler, Lautabweichungen, Infantilismen, Rumpeln, auffällig häufig das Näseln); in multilingualen Sprachkontexten der Erzählrunde läßt man O. auch Fremdsprachen sprechen und singen 30 . Eigenartig können die Augenkapazitäten der O. sein: Viele sind einäugig bzw. dreiäugig, glubschäugig, schielend oder blind (Mot. G 121). Andererseits kann der Blick des O.s feurig-stechend sein und den Menschen bannen. Die O.in der Iraqw kann schlagartig viele Augen auf ihrem ganzen Körper hervorkommen lassen 31 , ähnlich unheimlich ist ein O.typ der Nama, dessen Augen ausschließlich auf den Füßen angebracht sind 32 . Gefahrlich paradox erscheint der O. dann, wenn er bei geschlossenen Augen wach ist, bei offenen Augen aber schläft 33 oder wenn er mit seinen Genossen lacht, dabei aber schläft, wohingegen er wach ist, wenn er schnarcht 34 . Bedrohlich ist auch seine höchst sensible Menschenwitterung (Mot. G 84; cf. Menschenfleisch riechen). Extrem lange Fingernägel und ausdehnbare Arme und Beine (Mot. G 365.2) kennzeichnen Spezialfunktionen des Menschenfängers. Der monströse, von Ohr zu Ohr reichende Mund mit seinen messerähnlichen Zähnen (Mot. G 365.2) charakterisiert den aggressiven Fleischfresser. Ostafrik. O. haben in ihrem Nacken

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einen zweiten Mund, mit dem sie Fliegen fangen, aber auch Menschen verschlingen können 35 . Ihre körperliche Kraft kann sich darin zeigen, daß sie im Wirbelwind oder Sturm kommen. Einerseits können sie listig sein, so wenn sie ζ. B. ihre Stimme verstellen oder diese von einem Schmied bearbeiten lassen, um des Menschen habhaft zu werden (Mot. G 413). Anderseits können sie bis zur Selbstschädigung dumm, unsensibel und leichtgläubig sein (Mot. G 501), zumal wenn sie sich der menschlichen Beute allzu sicher sind. Hiervon erzählen gerade auch die schwankähnlichen Märchen der Gruppe AaTh 1000-1199. O. verfügen immer über Reichtümer, manchmal auch bes. Ressourcen wie Zeugungsmedizin, Gesundheitselexiere oder Lebensmittel. Einzelne O., die über diese Dinge verfügen, können den Menschen auch als positive Wesen gegenübertreten 36 . O. können ihre Gestalt transformieren, so ζ. B. in gefahrliche Raubtiere. Eher phantastisch wirkt die Vielköpfigkeit des O.s (Mot. G 361.1), die sich mit zunehmender Zahl der im Verlauf der Erzählung angetroffenen Vertreter erhöht. O. erscheinen auch als ->· Halbwesen; entweder haben sie einen halben Körper oder sie sind halb lebendig, halb verrottet 37 . Vielfach tritt ein O. erst unverdächtig als normaler Mensch auf, bis -> Held oder Heldin ihn von einem bes. Erkenntnismoment ab als sonderbar wahrnehmen. Andere O. sind von vornherein zoomorph (Mot. G 350), wenn sie als Löwe, Leopard, Krokodil, Riesenschlange, Tiger, Wolf oder ein Wer-Tier bezeichnet werden. Für Afrika sind ferner phytomorphe O. bekannt geworden, die in Bäume oder Kürbisse verwandelte Wesen sind. Ihre Opfer verschlingen sie durch Umschließen 38 , oder sie entführen sie, nachdem sie sie mit ihren Früchten angelockt haben. 2.3. K o n t a k t m i t d e m M e n s c h e n , H e r r s c h a f t s g e w i n n . Die typischen Gegenspieler des O. sind Menschen, bes. kleine Kinder, die benachteiligten -> Jüngsten und junge Erwachsene. Bei letzteren sind die O. häufig gegengeschlechtlich. Der Mensch gerät auf unterschiedliche Weise in den Herrschaftsbereich des O.s. Zufallig geschieht dies bei der Jagd (Mot. G 405) oder beim Sammeln von Lebensmitteln in der Wildnis. Bei einem notleidenden

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Menschen kennt der O. den tieferliegenden Grund für die Suche unter Umständen bereits im voraus. Manchmal liegt der Machtübernahme des O.s über den Menschen ein Handel zugrunde (->· Kind dem Teufel verkauft oder versprochen), bei einem elternlosen Kind auch eine Adoption. Für die Helden der Berbermärchen gestaltet sich diese dann gefahrlos, wenn es ihnen gelingt, an der Brust der O.in zu trinken (-• Säugen) 39 . Ein häufiges Motiv ist die Heirat einer Menschenfrau mit einem O.mann, vor allem wenn sie die jungen Männer ihres Dorfes ablehnt. Auch wird ein Wanderer in der Wildnis durch das Haus des O.s angelockt (Mot. G 412). Andere O.methoden sind aggressiv: mit einer kruden Waffe (ζ. B. Keule, Axt, ausgerissener Baum) in der Hand ist der O. ein Wegelagerer, der die Waldgänger verfolgt. Gefangene werden in einem Sack entführt, der symbolisch bereits ein Verschlingen vorwegnimmt (AaTh 327 C: Junge im Sack der Hexe). O.horden können einen Terrorangriff auf ein Dorf unternehmen, in dem nur der Held überlebt 40 . Ein häufiges Motiv ist die periodische Erpressung von Menschentribut gegen Wasser oder ähnliche Substanzen (Mot. S 262, S 263.3; -> Drache, Drachenkampf, Drachentöter). 2.4. V e r s c h l i n g e k o m p l e x . Oberstes Ziel aller O. ist die Einverleibung von Menschen, die darin besteht, sie zu fressen (der Körper wird zerbissen und zerkleinert) oder zu verschlingen (der Körper wird als ganzer verschluckt; cf. Fressermärchen). Auf diese Funktion weisen der monströse Mund, die Greifwerkzeuge und der gigantische Magen des O.s hin. Als karnivorisches Wesen frißt der O. bevorzugt das Fleisch von Wildtieren und selbst Ungeziefer, als Ersatz für Menschen aber auch Dörrfleisch und im Notfall selbst Aas; in einem Nama-Schwankmärchen frißt er menschliche Exkremente, die er für eine lekkere Speise hält 41 . Aber erst Menschenfleisch bedeutet ihm die wahre Nahrung, auf dessen Verschlingen sich all sein Streben richtet. Seine Gier ist eine wesentliche Bedingung für taktische Fehler, die der Mensch zu seinen Gunsten nutzen kann. Die Beute wird entweder roh verschlungen, wobei der O. den Menschen näher und näher kommen läßt, bis er zuschnappt 42 , oder sie soll gekocht werden, wozu

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Feuerholz herangeschleppt und ein riesiger Topf mit siedendem Öl oder Wasser aufgestellt wird. Perrault läßt seine O.in das Menschenfleisch mit einer Sauce Robert essen (cf. seine Fassung von AaTh 410). Als Vorrat hält der etwas beherrschtere O. auch Menschen als Gefangene (Mot. G 334). Diese müssen ihm Dienste verrichten (Mot. G 462). Um den Freßgenuß zu optimieren, mästet der O. seine Opfer und unterzieht sie dabei einer gelegentlichen Mastprobe (Mot. G 82, G 82.1; Dick und fett). Auch müssen die Helden in einem O.haus auf ihre Nahrung achten, denn Menschenfleisch zu essen bedeutet, auch wenn es unbewußt erfolgt, selbst zu einem O. zu werden (Mot. G 60). Sind Menschen einmal verschlungen worden, können sie, wie in Pokomo-Märchen, durch den Anus (-• Arsch) des O.s kurzfristig zur Sklavenarbeit entlassen und danach wieder hineingezwungen werden; Menschen sind sie dann als Verschlinger gefahrlich 43 . O. machen selbst vor dem Fressen der eigenen Spezies nicht halt (-+ Kannibalismus im eigentlichen Sinne): dies kann entweder unwissentlich nach Überlistung durch den Helden geschehen (Mot. G 61) oder als Folge einer Enttäuschung, wenn die Menschen den ausgehungerten O.n entkommen sind. Die rasende Gier geht sogar so weit, daß sie sich Glied für Glied selbst verschlingen (Autophagic)44. Die Gefährlichkeit mancher O. perpetuiert sich bis in die Ewigkeit, wenn aus den letzten Resten solcher Freßorgien in einer Transformation Kürbisse wachsen, die den Menschen, der ihre Pracht lobt, nachäffen und ihm nachrollen, um ihn letztendlich dauerhaft zu verschlingen)45. 2.5. Ü b e r w i n d u n g . Die Gefährlichkeit des O.s, der auch als Tod gesehen wird 46 , zwingt den Menschen zu seiner Überwindung. Voraussetzungen hierfür sind Wendigkeit, Wachheit, Klugheit, Wagemut, Körperkraft und Kühnheit der Helden, die sie ζ. T. von Geburt an besitzen, ζ. T. in Lernprozessen im Laufe der Erzählung erworben haben. Oft rettet der Held hierbei seine mitgefangenen Geschwister. Von vornherein verloren hat, wer aus Furcht benommen oder ohnmächtig wird. Ort der Auseinandersetzung ist hauptsächlich das O.haus (AaTh 334: -> Haushalt der Hexe), manchmal auch der temporäre Wohnort des

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Helden in der Wildnis. Häufig bekommt er Hilfestellung durch Tiere oder eine alte Frau, die sich mit O.n gut auskennt bzw. mit ihnen verwandt sein kann (cf. des Teufels Großmutter in AaTh 461: Drei -* Haare vom Bart des Teufels)41. Oft geschieht dies auch durch die Frau oder Tochter des O.s (Mot. G 532), die den Helden versteckt und deckt, womit sie dem O. bewußt oder unbewußt schadet. Erste Maßnahmen zur Überwindung des O.s sind Verhandlungen und diverse Überlistungsversuche (ζ. B. -+ Bettplatztausch, Kopfbedekkungen vertauscht), die jedoch keine dauerhafte Lösung mit sich bringen, allerdings dem Helden Zeitgewinn verschaffen. Erfolgreich ist erst der Kampf gegen den O., der mit dessen Tod enden soll. Die Strategie verlangt die Vorbereitung des Kampffeldes, die Beschaffung des Kampfmittels (häufig eine bes. Waffe) und den richtigen Zeitpunkt der Aufnahme des Kampfes, der alle körperlichen und mentalen Kräfte des Helden beansprucht. Der O. wird dabei durch Enthaupten (Mot. G 512.1.2), Sieden oder Verbrennen (Mot. G 512.3), das Werfen eines glühenden Steines oder Metalls (Mot. G 512.3.1) oder durch die Bisse von Hunden (Mot. G 512.9.1) getötet. Eine bes. Taktik besteht darin, sich vom O. verschlingen zu lassen, um sich dann von innen aus ihm herauszuschneiden (-» Gastrotomie) oder herauszuschmieden48. Eine zweite Hauptstrategie besteht darin, sich vom O. durch eine Magische Flucht (AaTh 313 sqq.) zu lösen. Neben der -> Verwandlung der Verfolgten und dem Hintersichwerfen von Zaubergegenständen kommt in afrik. Märchen auch das Davonfliegen mit einem magisch angetriebenen Korb (-» Fluggeräte) vor 49 . Sobald die Menschen ihr Dorf wieder erreicht haben, sind sie vor dem O. sicher. Die erfolgreiche Überwindung des O.s wird dadurch potenziert, daß der Held dessen Reichtümer mitnimmt, die er sich vorher durch eine List zeigen ließ (Mot. G 610); auch erlangt der Held die notwendigen Heilmittel, weswegen er ausgezogen ist. Eine wesentliche Begleiterscheinung ist, daß er die Gefangenen des O.s, in afrik. Märchen auch die Verschlungenen, befreit; letzteres geschieht durch Aufschneiden des kleinen Fingers, was der O. dem Helden kurz vor seinem Tod verraten hat 50 .

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Der Held wird so in diesen Märchen über seinen individuellen Sieg hinaus zum Heilbringer. Eine seltenere Möglichkeit, die Herrschaft der O. zu neutralisieren, besteht darin, sie in die Menschengemeinschaft einheiraten zu lassen, was diverser Assimilationsvorgänge und Proben bedarf 51 . Alles in allem ist der O. nur ζ. T. an seinen Handlungen erkennbar; ζ. T. charakterisieren ihn auch seine Gegenspieler. Viele O.motive sind tragisch, grausig und unheimlich, so daß O.geschichten tatsächlich als die ,Thriller' der Oralliteratur bezeichnet werden können52. Dies schließt aber keineswegs aus, daß andere Motive voller Komik und Satire sind und den O. zu einer Spottfigur machen53. 3. Zu Deutung und Fortleben. Für viele Interpreten ist der O. einfach ein Medium, mit dem die Traditionsgemeinschaften über die Bedrohlichkeit des Bösen (-» Bosheit, böse) reflektieren54. Das moderne ethnol. Verständnis des O.s setzt nach inzwischen überholten solarmythol. Spekulationen (-• Sonnenmythologie)55 mit P. Saintyves' (1923) Deutung der europ. O.figuren nach Befunden aus afrik. Erzählungen und Ritualen ein; demnach ist der O. eine ,liturgische Persönlichkeit', die für die -> Initiation der Märchenhelden zuständig ist56. Mit erweiterter Textbasis und verfeinerten Analysen hat sich diese Sichtweise mittlerweile dauerhaft etabliert, wobei die afrikanistische Forschung die Rollen von Held und Heldin zunehmend geschlechtsspezifisch differenziert57. O. und Mensch sind typische Gegensatzfiguren, deren Polaritäten Böse/Gut, Körperkraft/Intelligenz, Dunkelheit/Helligkeit, Häßlichkeit/Schönheit, Natur/Kultur sind. Ein Defizit (ζ. B. Nahrungsmangel, Medizinbedarf, fehlender Heiratspartner; cf. Mangelsituation) bzw. ein Konflikt (ζ. B. mit dem Vater) bringen Held und Heldin dazu, den Ort der eigenen Kultur zu verlassen und sich auf eine Abenteuer-, Such- oder Brautfahrt in die Wildnis (Raum der Unkultur, Anderswelt) zu begeben (cf. Suchen, Suchwanderung) bzw. eine exogame Ehe einzugehen. Dort treffen Held und Heldin auf den O., mit dem sie sich unter Einsatz des eigenen Lebens auseinandersetzen. Hierbei machen sie Grenzerfahrungen und Lernprozesse mit, die sie körperlich, men-

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tal und moralisch reifen lassen. In dramatisch zugespitzten Situationen lassen die Helden den O. hinter sich. Oft wachsen sie hierbei über sich selbst hinaus, indem sie auch andere Menschen retten. Als gereifte und geläuterte Menschen kehren sie an ihren Herkunftsort zurück, wo sie sich als ,gemachte Leute' wiedereingliedern. Dieses Schema entspricht den drei Phasen von (1) Trennung, (2) Abgeschiedenheit und (3) Aufnahme in der rituellen Initiation, wobei der O. in der 2. Phase auftritt, die durch räumlich-symbolische Liminalität (Zwischenaufenthalt in der Wildnis) gekennzeichnet ist 58 . In der Logik der afrik. Ahnenreligionen, die die Ahnengeister als Überwachungsinstanz für die Disziplin, Moral und positive Entwicklung der Lebenden auffassen59, kann der etymol.motivisch mit ihnen verwandte O. als eine Art Vertreter oder Handlungspartner gesehen werden. Seine lebensfeindlich-negative Charakterisierung wäre dabei in einem therapeutischen Sinne als die Grundlage für eine paradoxe Intervention seitens der Ahnen aufzufassen, die die unter Defiziten und Konflikten leidenden Menschen (Helden) nicht zerstören, sondern wohlmeinend deren Gegenmaßnahmen und Lösungen herausfordern wollen. Dem O. käme folglich die Rolle eines Katalysators in der Konsolidierung der individuellen Stärke und menschlichen Sozialbeziehungen zu 60 . Seine Monstrosität, die den O. als Spielform und Karikatur der tatsächlich mächtigen Ahnen zeichnet, soll dabei der erhöhten Aufmerksamkeit der Zuhörer dienen61. Auch für die außereurop. Kulturen scheint die psychol. Perspektive akzeptabel, nach der ein O. neben den anderen Verschlingerfiguren als Überhöhung einer übermächtigen und repressiven Vaterund Muttergestalt oder anderen Autorität im Familiensystem (bei den Lyela ζ. B. die Vaterschwester62) gesehen wird, von der sich ein Heranwachsender im Adoleszenzprozeß ablösen muß. Die negative Charakterisierung des zu überwindenden phantasmatischen Gegenspielers hilft bei der Bewältigung der auftretenden Schuldgefühle63. Im Gefolge der modernen Säkularisierung, Christianisierung und Islamisierung in Afrika stoßen die O.märchen in vielen Gesellschaften auf Ablehnung; der Belehrung sollen statt dessen andere Arten von Erzählungen dienen64,

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wenngleich es immer einzelne Erzähler geben wird, die O.geschichten mögen. Eine Möglichkeit ihres Fortlebens besteht auch darin, den herkömmlichen O. durch akzeptable Figuren, die neue motivische Merkmale hinzufügen (ζ. B. den Dschinn) 65 , zu assimilieren. Eine Renaissance erfährt der O. in der postkolonialen Lit., so ζ. B. in Ngugi wa Thiong'os Roman Matigari (1987) oder in Protestliteratur aus Zimbabwe, die mittels des O.s in metaphorischer Weise über die Verhältnisse von Individuum und überzogener Staatsmacht reflektieren 66 . Auch die europ. Lit. läßt den O. seit Goethes Lila ab und an wieder aufleben; Beispiele sind Michel Tourniers Roman Le Roi des Aulnes (1970), Heimito von Doderers Gruselerzählung Der O. (1972) und Veza Canettis Stück Der O. (1991 ) 67 . 1

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nia). In: Fleisch, A./Otten, D. (edd.): Sprachkulturelle und hist. Forschungen in Afrika. Köln 1995, 207-223; Brinkman, I.: Kikuyu Gender Norms and Narratives. Leiden 1996. - 13 Schmidt 1, 271; Postma, M.: Tales from the Basotho. Austin/L. 1974; Dammann, E./Tirronen, Τ. E.: Ndonga-Anthologie. Β. 1975; Scheub, Η.: The Xhosa Ntsomi. Ox. 1975; Kuper, Α.: South Africa and the Anthropologist. L./ Ν. Y. 1987, 167-196; Schmidt, S.: Märchen aus Namibia. MdW 1980; ead.: Tales and Beliefs aboutEyes-On-His-Feet. The Interrelatedness of Khoisan Folklore. In: Biesele, M. (ed.): The Past and Future of !Kung Ethnography. Hbg 1986, 169-194; ead.: Zaubermärchen in Afrika. Erzählungen der Damara und Nama. Köln 1994; ead.: Representatives of Evil in Khoisan Folktales. In: Traill, A./Vossen, R./Biesele, M. (edd.): The Complete Linguist. Papers in Memory of P. J. Dickens. Köln 1995, 115-133. 14 Haring, 495; Ottino, P.: Le Theme du monstre devorant dans les domaines malgache et bantou. In: Asie du Sud-Est et Monde Insulindien 8, 3 - 4 (1977) 219-251; Beaujard, P.: Un Conte malgache. Des ,enfants chez l'ogre'. In: Cahiers de litterature orale 12 (1982) 39-80; Razafindramiandra, Μ. N.: Märchen aus Madagaskar. MdW 1988, num. 13, 15, 16, 19, 21, 22, 23, 34; Gueunier, N.-J.: La Belle ne se marie point. Contes comoriens en dialecte malgache de l'ile de Mayotte. P./Louvain 1990, num. 1 - 1 2 , 15, 16, 23; id.: L'Oiseau chagrin. Contes comoriens en dialecte malgache de l'ile de Mayotte. P./Louvain 1994, num. 54, 64-68, 70. - 15 Skinner (wie not. 10) 69. - ''Guthrie, Μ.: Comparative Bantu 3. Farnborough 1970, 619, 1072; Mbiti (wie not. 12) 15-17. - 17 cf. Naumann (wie not. 7). - l8 Biebuyck 1980 (wie not. 11) 144. - 19 Laoust, E.: Des Noms herberes de l'ogre et de l'ogresse. In: Hesperts 34 (1947) 253-265. - 20 Calame-Griaule, G./Ligers, Z.: L'Homme-hyene dans la tradition soudanaise. In: L'Homme 1,2 (1961) 89-118. 21 Nandwa/Bukenya (wie not. 12) 56. - 22 Schmidt, 123. - 23 cf. not. 9. - 24 cf. Hanghe (wie not. 12). 25 Biebuyck 1978 (wie not. 11) 66 sq.; Brinkman (wie not. 12) 125. - 26 Geider 1990 (wie not. 12) 185. 27 1001 Nacht, t. 2, 181; t. 4, 129, 133; t. 5, 261, 487; t. 6, 310 sq. - 28 Wilhelm (wie not. 7) num. 74. 29 Dammann/Tirronen (wie not. 13) 29 sq. 30 Gueunier (wie not. 14) 100, 130; Kossmann (wie not. 9) 155. 31 Kießling (wie not. 12) 211. - 32 Schmidt 1986 (wie not. 13). - 33 Gueunier 1990 (wie not. 14) 101. 34 Geider 1990 (wie not. 12) 192. - 35 ζ. Β. Gutmann (wie not. 12) 240; Miruka (wie not. 12) 171 sq.; Brinkman (wie not. 12) 125. - 36 Geider 1990 (wie not. 12) 234. - 37 Biebuyck 1980 (wie not. 11) 147. - 38 Werner 1933 (wie not. 8) 206; Lindblom (wie not. 12) 123; Kohl-Larsen (wie not. 12) 198 sq.; Gorfain/Glazier (wie not. 12) 934; Geider 1990 (wie not. 12) 228, 310. - 39 Laoust (wie not. 19) 264; Fares (wie not. 9) 45. - 40 Geider 1990 (wie not. 12) 198. -

248

41

Schmidt 1980 (wie not. 13) 271. - 4 2 Ittmann (wie not. 11) 29; Schmidt 1980 (wie not. 13) 257. - 43 Geider 1990 (wie not. 12) 205 sq. - '"ibid., 226 sq. 45 Werner 1933 (wie not. 8) 215-218; Lindblom (wie not. 12) 123; Geider 1990 (wie not. 12) 310-312. 46 Paulme (wie not. 8) 259. - 47 cf. Frobenius (wie not. 2) 398-401; Baumann (wie not. 8) 417; Geider 1990 (wie not. 12) 271-274; Schmidt 1994 (wie not. 13) 173 sq. - 48 Dammann/Tirronen (wie not. 13) 38. - 49 Geider 1990 (wie not. 12) 224; Gueunier 1990 (wie not. 14) num. 10. - 50 Lindblom (wie not. 12) 125; Geider 1990 (wie not. 12) 238 sq. 51 Desparmet (wie not. 9) t. 2, 345-390; Wilhelm (wie not. 7) num. 75; Geider 1990 (wie not. 12) 231—233. - 52 Finnegan, R.: Oral Literature in Africa. Ox. 1970, 355. - "Schmidt 1994 (wie not. 13) 239-245. - 54 Scheub (wie not. 13) 77-82; Nandwa/Bukenya (wie not. 12) 55; Schmidt 1994 (wie not. 13) 234. - 55 cf. Frobenius (wie not. 2) 367-412. - 56 Saintyves, P.: Les Contes de Perrault et les recits paralleles. P. 1923, 303. - "CalameGriaule, G.: Une Affaire de famille. Reflexions sur quelques themes de ,cannibalisme* dans les contes africains. In: Nouvelle revue de psychanalyse 6 (1972) 171-202; Gorfain/Glazier (wie not. 12); Steinbrich (wie not. 10); Brinkman (wie not. 12) 164-168. - 58 cf. Gennep, A. van: Les Rites de passage. P. 1909; Propp, V. Ja.: Istoriceskie korni volsebnoj skazki. Len. 1946 (dt.: Die hist. Wurzeln des Zaubermärchens. Mü. 1987, 60-65); Turner, V.: The Forest of Symbols. Ithaca 1967, 93-111. 59 Hierzu Mbiti, J.: African Religions and Philosophy. L. 1969, 78-98. - 60 cf. Geider 1990 (wie not. 12) 349, 387. 61

Scheub (wie not. 13) 75 sq. - 62 Steinbrich (wie not. 10). - 63 Scherf, W.: Die Herausforderung des Dämons. Mü. u. a. 1987, Reg. s. v. Schuldangst. 64 Skinner (wie not. 10) 1, 69, 123; Geider 1990 (wie not. 12) 36-40, 177. - 65 cf. Geider 1992 (wie not. 12). - 66 Ngugi wa Thiong'o: Matigari Ma Njiruungi. Nairobi 1987 (dt.: Matigari. Wuppertal 1991); hierzu Ischinger, A.-B.: Ngugj wa Thiong'o, ein moderner Märchenerzähler der Gikuyu? In: Sprachen und Sprachzeugnisse in Afrika. Festschr. W. J. G. Möhlig. Köln 1994, 189-197; Balogun, F. Ο.: ,Matigari'. An African Novel as Oral Narrative Performance. In: Oral Tradition 10,1 (1995) 129-165; Matshakayile-Ndlovu, T.: The Role of Folk-Tale in Ndebele-Literature. The Case for ,Inhlamvu ZaseNgodlweni'. In: Zambezia 21,1 (1994) 43-50. - 67 Tournier, M.: Le Roi des Aulnes. P. 1970 (dt.: Der Erlkönig. Ffm. 1984); Peltre, M.: Mythos und Roman am Beispiel von Michel Tourniers .Erlkönig'. In: Kloepfer, R./Janetzke-Dillner, G. (edd.): Erzählung und Erzählforschung im 20. Jh. Stg./B./Köln/Mainz 1981, 449-459; Doderer, H. von: Die Erzählungen. Mü. 1972, 324 sq.; Canetti, V.: Der O. Mü. 1991; cf. auch Warner, M.: Fee Fie Fo Fum. The Child in the Jaws of the Story. In: Barker, F./Hulme, P./Iversen, M. (edd.): Cannibalism

249

Ogier le Danois — Ohr

and the Colonial World. Cambr. 1998, 158-182, hier 166.

Köln

Thomas Geider

Ogier le Danois -» Holger Danske

Ohr. Äußerlich ist das Ο. als Teil des Kopfes durch die O.muschel sichtbar, die den Eingang in den Gehörgang und das Trommelfell sowie das Innenohr umgibt, in dem sich auch die Gleichgewichtsorgane befinden. Mit seiner individualtypischen und unverwechselbaren Form dient es zur Identifikation von Personen. Die Physiognomik schreibt den Formen der O.muscheln bestimmte Eigenschaften zu. So hält -» Paracelsus große O.en für äußere Zeichen eines guten Gehörs und Gedächtnisses sowie eines gesunden Gehirns; kleine O.en zeigten einen tückischen, falschen und ungerechten Menschen an 1 . In der ma. arab. Lit. galten große O.en als ein Zeichen für langes Leben, daher empfand ein Mann seine (verfrühte) Hinrichtung als unzulässige Einmischung in den Verlauf seines Schicksals2. Die voneinander abweichenden Zuordnungen der O.form zum Charakter bzw. Lebensweg eines Menschen in der Physiogmomik und im Volksglauben beruhen auf Erfahrungen in Natur und Gesellschaft bes. im agrikultureilen Milieu, wonach ein Zeichen je nach Ort, Zeit und Situation unterschiedlich bewertet wird 3 . Die chin. Akupunktur betrachtet das O. als Abbild des menschlichen Embryos und behandelt auf bestimmten Punkten des O.s entsprechende Körperteile4. Seit alters wird das O. zudem wie der Mund als Leibesöffnung angesehen, durch die die -» Seele, aber auch -» Dämonen aus- und eingehen können (cf. auch AaTh 1645: - Guntram). Die O.en nehmen akustische Signale auf, sie vergleichen sie und ordnen sie vertrauten akustischen Signalen zu 5 . Sie stehen in der Hierarchie der Sinne nach dem Auge an zweiter Stelle6. Einerseits ist es leichter, das O. zu täuschen, andererseits beflügelt die akustische Wahrnehmung die Phantasie. In der Kommunikation übernimmt das O. die aktive Tätigkeit des Zuhörens (-> Zuhörer) 7 . Ist die Funktion des O.s beeinträchtigt, spricht man von

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Schwerhörigkeit. Als medizinisches Faktum ist sie ein Zeichen des Alters. Schwänke über schwerhörige Menschen, von denen 17 Subtypen bei AaTh (AaTh 1698: Deaf Persons and their Foolish Answers) verzeichnet sind, veranschaulichen in scherzhafter und sinnbildlicher Art das Nichthörenkönnen (ζ. B. AaTh 1698 I: Visiting the Sick) und -wollen (ζ. B. AaTh 1698 N: Pretended Deafness). An ihrer zentralen Stelle steht der mißlingende Dialog aufgrund dieser Behinderung eines Handlungsträgers8. In der Heldenerzählung wird die Nähe des O.s zum Lebenszentrum deutlich sichtbar. Bei den südafrik. Khoisan überwältigt der Schlag hinter das O. den Unhold 9 . Als der Held eines mongol. Epos im Kampf mit dem Mangus auf dessen O.en prügelt, ergibt sich dieser10. In einem anderen mongol. Epos beginnt das O. der Gattin des Helden zu klingen, und sie erkennt, daß ihm Gefahr droht 11 . Im mexikan. Erzählgut verleiht das O. eines Geistes dem Helden die Kraft, von der Unterwelt heraufzufliegen. In einer anderen Geschichte ermöglicht es der Biß in das O. des Geistes, daß der Held die geraubten Prinzessinnen retten kann (Die drei geraubten Prinzessinnen)12. Ähnlich sind in Tiermärchen und Fabel die O.en eng mit dem Lebenszentrum des Handelnden verbunden. In einer fläm. Erzählung bezwingt ein alter Soldat den Wolf, indem er dessen O. einklemmt (AaTh 38: cf. - Pancatantra) ist die Fabel von O.en und Herz als ->· Heilmittel enthalten. Als sich der Löwe für das Essen reinigt, ißt der Schakal (Fuchs) Herz und O.en des Esels auf und erklärt, solch ein Narr, der sich zweimal in die Höhle des Löwen locken ließ, könne weder Herz noch O.en gehabt haben (cf. AaTh 52: - Eselherzfabel)1 s. Im Märchen dient das O. als Aufbewahrungsort für Zaubergegenstände, etwa für ein Tischtuch in einem ir. Märchen, das den Helden aus dem rechten O. des sprechenden Pferdes ernährt 16 und ihm hilft, einen aussichtlos erscheinenden Zauberwettkampf (cf. ζ. B. AaTh 329: -» Versteckwette) zu gewinnen. In anderen Märchen verbergen sich in den O.en

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252

Ohr

eines hilfreichen Pferdes (Hasen, Riesen) magische Gegenstände, wie das Wasser des Lebens oder eine Zaubergerte 17 . Die Größe des Däumlings (AaTh 700) vergleicht man in bestimmten Var.n mit der eines O.s. Im O. eines Pferdes sitzend, lenkt er Pflug und Wagen18. Der erniedrigte Held im russ. Märchen gewinnt (und verliert) außergewöhnliche Stärke, indem er seinem Pferd (Wolf) zum einen O. hinein- und zum anderen hinauskriecht (Mot. D 1733.2). Auf diesem Weg belohnt eine Stute das gute Mädchen mit Schönheit (cf. AaTh 480: Das gute und das schlechte -* Mädchen)19. Eine fremde Frucht (Mot. D 1376.1.1), Feigen, probiert der kleine Muck bei W. -» Hauff, und es wachsen ihm neben einer dicken langen -> Nase auch große O.en (Mot. D 1375.2.1), eine Variation des Hörner-Motivs aus AaTh 566: Fortunatus. König Midas (AaTh 782) wird mit Eselsohren bestraft 20 . Das O. fungiert auch als pars pro toto eines Menschen oder Tieres. In einem mexikan. Märchen überläßt das hilfreiche Pferd dem Helden ein Stück seines O.s, damit er es in Not rufen kann (AaTh 531: -»· Ferdinand der treue und F. der ungetreue)21. In zwei türk. Var.n zu AaTh 311, 312: Mädchenmörder läßt die jüngste von drei Schwestern an ihrer Stelle heimlich die Katze das O. des Frauenmörders fressen. Auf Befragen erklärt das O., es sei in einem warmen Magen, und daraufhin gewinnt das Mädchen das Vertrauen des Mörders und bleibt unbehelligt22. Schon im alten Ägypten wurden den Besiegten als Körperstrafe die O.en abgeschnitten23. In der Lit. wird die Körperstrafe schwankhaft -> ad absurdum geführt. In der ital. Novellistik und der dt. Überlieferung des 17. und 18. Jh.s heißt es über einen wiederholt gefaßten Dieb, er habe geantwortet, es könnten ihm nicht alle paar Monate neue wachsen (Mot. J 1184.2)24. Bei -»· Basile (2,3) schneidet die kluge Viola einer alten Kupplerin ein O. ab, da sie das Mädchen heimlich dem Prinzen ausliefern wollte (cf. AaTh 879: ->• Basilikummädchen). In einem türk. Märchen (AaTh 1537: Die mehrmals getötete -> Leiche) werden die abgeschnittenen O.en des Liebhabers der Frau umgehängt, so daß sie fälschlich als Mörderin verhaftet wird 25 . Günstiger wirken abgeschnittene O.en als Beweisstück für einen Jungen, der damit die Tötung der 40 Räuber bezeugen

kann und darauf vom Padischah seine Töchter als Bräute erhält 26 . Um ihre Naschhaftigkeit zu verdecken, behauptet im Schwank die Bedienstete oder Ehefrau, ihr Herr bzw. der Ehemann wolle dem Gast beide O.en abschneiden, er solle nur fliehen (AaTh 1741: Priesters Gäste). Mit dem Abbeißen der O.en (Nase) rächt sich der Sohn am Galgen (AaTh 838) an seiner Mutter für die schlechte Erziehung 27 . Wie im Schwank 28 berichten Redensarten und Sprichwörter etwa vom Hören oder Nichthörenwollen, aber auch davon, sich etwas zu merken oder nicht zu merken sowie etwas wahrnehmen oder nicht wahrnehmen zu können/wollen29. I

Bächtold-Stäubli, H.: O. In: HDA 6 (1934-35) 1204-1217, hier 1204. - 2 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 1106. — 3 Jeggle, U.: Der Kopf des Körpers. Weinheim/B. 1986, 103-124, hier 107sq. - "ibid., 105. - 5 ibid., 113; Lex. der Ägyptologie 4. Wiesbaden 1982, 559; Wenzel, H.: Hören und Sehen. Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im MA. Mü. 1995. — 6 cf. ζ. B. Albertinus, Α.: Hirnschleiffer. Kritische Ausg. ed. L. S. Larsen. Stg. 1977, 40,10-15. 7 Schenda, R.: Von Mund zu O. Göttingen 1993, 192—216. - 8 Uther, H.-J.: Behinderte in populären Erzählungen. B./N. Y. 1981, 96-99. - 'Schmidt, num. 100, 225 A, 225 Β. - 10Heissig, W.: Erzählstoffe rezenter mongol. Heldendichtung 1 - 2 . Wiesbaden 1988, hiert. 1, 381. II ibid., 391, 364; ähnlich ibid. 2, 500. - 12 Robe 301, 301 A, 301 B. - 13 cf. EM 3, 1263. - 14 EM 5, 403. — 15 Schwarzbaum, Fox Fables, 506 sq. - 16 von Beit 2, 593, 599. - 17 ibid. 2, 548, 593 sq., 604; ibid. 1, 154; ähnlich Kamm und Schere beim dämonischen Eber, cf. EM 7, 916 sq. - 18 cf. EM 3, 349 sq.; EM 5, 538. - 19 De Gubernatis, Α.: Die Thiere in der idg. Mythologie. Lpz. 1874, 229 sq.; von Beit 2, 424 sq., 427. - 20 Lex. der Antike. Lpz. 1984, 356; cf. EM 5, 888, 1144. 21 Robe 531, cf. Robe 314. - 22 Eberhard/Boratav, num. 157. - 23 Lex. der Ägyptologie 4. Wiesbaden 1982, 561, 350; Uther (wie not. 8) 17; Döpler, J.: Theatrum poenarum, suppliciorum et executiorum criminalium 1. Sondershausen 1693, 930-942, hier 932; ibid. 2, 493. - 24 Rotunda J 1184.2; MoserRath, Schwank, 381, num. 54, 427 sq.; zuerst 1655 bei Zincgref/Weidner, 84; Moser-Rath, E.: Kl. Sehr, zur populären Lit. des Barock, ed. U. Marzolph/ I. Tomkowiak. Göttingen 1994, 371; EM 5, 656. 25 Eberhard/Boratav, num. 359. - 26 ibid., num. 204. - 27 Andere Beispiele cf. Tubach, num. 1842, 1843. - 28 Stroescu, num. 3161, 3214, 3538, 5645, 6149. 29 Röhrich, Redensarten 2, 1115 und ibid. 3, 1484; cf. ferner Jes. 42, 20; Geflügelte Worte. Zusammen-

253

Ohrfeige als Heilmittel

gestellt und kommentiert von K. Böttcher u. a. Lpz. 3 1984, 733, 698, 630.

Leipzig

Kathrin Pöge-Alder

Ohrfeige als Heilmittel (AaTh 1372), eine seit dem späten 18. Jh. bekannte, von Flandern über die Niederlande, Norddeutschland, Skandinavien, das Baltikum und Polen bis nach Slovenien, Ungarn, Rumänien und Bulgarien verbreitete Schwankerzählung1 (ein vereinzelter nordamerik. Beleg2 ist auf finn. Einwanderer zurückzuführen): Ein einfaltiger Bauer soll für seine kranke Frau ein Heilmittel (-> Heilen, Heiler, Heilmittel) besorgen und wird statt dessen vom Apotheker (Arzt) geohrfeigt. Der Mann hält die Schläge für das verordnete Medikament, kehrt heim und verabreicht der überraschten Frau ebenfalls eine O., wodurch diese wie durch ein Wunder geheilt wird. Entgegen der verkürzten Beschreibung in AaTh folgt in fast allen Belegen als Pointe, daß der Mann, gelegentlich mit Geschenken (Eier, Käse, Hühner) als Dank für die kostenlose Behandlung, dem Apotheker die restlichen, nicht benötigten O.n .zurückbringt' (cf. auch AaTh 1557: -> O. geht zurück).

Wie schon der früheste Beleg von 1770 zeigt3, war die einfache Grundstruktur dieses Erzähltyps offen für Variation, Ausschmükkung oder Verknüpfung mit anderen Typen und Motiven: So leidet die Frau meist an Fieber, Zahnschmerzen oder - wie oft in Schwänken — an Verdauungsstörungen 4 , gelegentlich aber auch an einem durch übermäßiges Gähnen oder Lachen ausgerenkten Kiefer 5 . Am häufigsten variiert wird der Grund, warum der Mann die O.n erhält: Häufig wird der Apotheker durch die Anrede .Quacksalber' provoziert6, auch ärgert er sich darüber, daß der Mann ζ. B. seine schmutzigen Schuhe und regennasse Kleidung in der Apotheke abklopft 7 , stürmisch an der Nachtglocke läutet 8 oder die Krankheit der Frau pantomimisch vorführt 9 ; in einigen dän. und schwed. Belegen fühlt sich der Arzt auf den Arm genommen, weil der Mann den Ausdruck .Stuhlgang' nicht versteht (Mot. J 1803.2)10. In den rumän. Var.n schickt ein Scherzbold (an einem 1. April) den Bauern zum Uhrmacher statt zum Apotheker 11 , in einem finn.-schwed. Beleg12 ist AaTh 1372 mit AaTh 1641: - Doktor Allwissend kontaminiert, und in einer dt. Fas-

254

sung 13 wiederum erscheint AaTh 1696: -> „ Was hätte ich sagen (tun) sollen?" als Vorgeschichte. Die Schlußpointe wird gelegentlich dadurch verstärkt, daß der Mann die O.n ursprünglich von einem Angestellten erhalten hatte und sie nun dem ahnungslosen Apotheker zurückbringt 14 . Trotz der im Vordergrund stehenden Komik, die darin besteht, daß der Bauer zunächst als Opfer seiner Dummheit erscheint, sich dann aber (unbeabsichtigt) an seinem Widersacher rächen kann, scheint dieser Erzähltyp indirekt auch die volkstümliche Vorstellung von der übelabwehrenden und heilenden Kraft der O. 15 widerzuspiegeln, die sich als Motiv in der ma. Legendendichtung findet16 und heute noch als Rechtfertigung von Gewalt in der Erziehung (,die gesunde O.') weiterlebt. I Ergänzend zu AaTh: de Meyer, Conte; Sinninghe; van der Kooi; Rausmaa; Krzyzanowski (cf. dazu Schwarzbaum, 444); MNK; Stroescu, num. 3690; BFP; EM-Archiv: Bienenkorb 4 (1770), num. 64; Wossidlo, R.: Aus dem Lande Fritz Reuters. Lpz. 1910, 144; Henßen, G.: Volk erzählt. Münster 1935, num. 239; Rink, J.: Tattedi. Märchen [...] in Koschneidermundart. Danzig 1924, 18; Kooi, J. van der/Schuster, T.: Der Großherzog und die Marktfrau. Leer 1994, num. 178; iid.: Märchen und Schwänke aus Ostfriesland. Leer 1993, num. 45; Selk, P.: Schwänke aus Schleswig-Holstein. Hbg 1961, 65; Liungman 2, 300; Christensen, N.: Folkeeventyr fra Kaer herred. ed. L. B0dker. Kop. 1963-67, num. 50. - 2 Dorson, R.: Bloodstoppers and Bearwalkers. Cambr., Mass. 1952, 149. 3 Bienenkorb (wie not. 1). - 4 Vor allem in dän. und schwed. Belegen, cf. ζ. B. Kristensen, Ε. T.: Molboog aggerbohistorier [...] 1. Viborg 1892, num. 184; id.: Danske skaemtesagn 1. Aarhus 1900, num. 455; Wigström, E.: Sagor ock afventyr upptecknade i Skäne. Sth. 1884, 120 sq. - 5 Schier, K.: Schwed. Volksmärchen. MdW 21974, num. 68; Wossidlo, R.: Volksschwänke aus Mecklenburg, ed. S. Neumann. B. 1963, num. 147. - 6 ζ. Β. van der Kooi/Schuster 1993, 1994 (wie not. 1); Wossidlo (wie not. 1) num. 454; Selk (wie not. 1). - 7 Behrend, F.: Verstoßene Kinder. Königsberg 1912, num. 7. — 8 Wossidlo (wie not. 5). - 9 Dorson (wie not. 2). - 10 ζ. B. Christensen, Α.: Molboernes vise Gerninger. Kop. 1939, num. 62 a; Wigström (wie not. 4). — II Stroescu, num. 3690. - 12 Hackman, O.: Finlands svenska folkdiktning I A 2. Hels. 1920, num. 284. - 13 cf. Peuckert, W.-E.: Hochwies. Göttingen 1959, num. 224. - 14 cf. ζ. B. Bienenkorb und Henßen (wie not. 1). - 15 cf. Goldmann, Ε.: Ο. In: HDA 6

255 (1934-35) 1217 sq. 147-155.

Graz

Ohrfeige geht zurück 16

cf. Legenda aurea/Benz,

Bernd Steinbauer

Ohrfeige geht zurück (AaTh 1557), ein Schwank, der das beliebte, systemkonforme Bild des Fürsten als fürsorglicher Landesvater (-• Herrschaft, Herrscher) bestätigt, der seine Freude an den groben, jedoch treuen und pfiffigen Untertanen hat und diese seinen hochnäsigen und standesbewußten Höflingen und Ministern vorzieht. Ein Bauer (Soldat, Narr, manchmal auch Matrose1, Gesandter 2 , fremder Minister3) ist beim König (Zar, Fürst) eingeladen und sitzt mit an der Festtafel. Einer der Höflinge (Edelleute, Minister), der den neben dem König sitzenden Bauern in Verlegenheit bringen will, schlägt vor, jeder in der Runde solle seinem Nachbarn eine O. geben (ihn einstoßen). Als der Bauer an der Reihe ist und dem König eine O. geben muß, sagt er: .Kommt man beim Pflügen ans Ende der Furche, so muß man sein Pferd wenden', und gibt seinem Nachbarn die O. zurück.

Diese relativ seltene Geschichte wurde im 19. und 20. Jh. in Finnland und Schweden, im Baltikum, im dt., ost- und westslav. Sprachgebiet sowie vereinzelt auch in Rumänien und Katalonien aufgezeichnet4. In den Niederlanden wurde sie als Kalendergeschichte tradiert 5 . Die älteste Var. findet sich außerhalb dieses Gebiets; in seinen Brief Lives erzählt John Aubrey (1625—97), wie der ungehobelte Sohn von Walter Raleigh (1552-97), als sein Vater ihn einmal in Gesellschaft ohrfeigte, diesen Schlag weitergab mit den Worten: ,Gib weiter, damit mein Vater ihn zurückbekomme'; von einer Wende ist hier noch nicht die Rede6. Die gleiche Kurzform bietet auch eine rumän. Var., in der ein Bürgermeister und ein Böttcher die Kontrahenten sind7. Möglicherweise ist AaTh 1557 auf ein im Tagebuch des Angelo Poliziano (1477-79) erwähntes Spiel zurückzuführen, in dem Backenstreiche ausgeteilt werden8. Dieser Schwank hat sich oft um hist. Persönlichkeiten gerankt (-• Kristallisationsgestalten). Im dt.sprachigen Bereich, bis nach Bessarabien hinein9, ist der König zumeist Friedrich d. Gr. (-• Alter Fritz), aber auch andere Landesfürsten, wie der Oldenburg. Herzog Peter Friedrich Ludwig (1755-1829) 10 ,

256

werden gelegentlich erwähnt. In Schweden, wo diese Erzählung recht häufig war, tritt der Dichter Carl Michael Bellman manchmal an die Stelle des Bauern 11 . Gelegentlich ist es auch der Herrscher selbst, der den ersten Schlag austeilt, namentlich in der folgenden, in nordndl. und norddt. sowie auch wend. Überlieferung anzutreffenden Redaktion: In Verkleidung (Mot. Κ 1812) besucht der Fürst am Sonntagmorgen eine Trinkrunde von Bauern, die statt in der Kirche im Wirtshaus sitzen. Sie lassen mit einem ,Schick weiter' die Flasche rundgehen, jeweils nur bis zum Nachbarn des Fürsten. Dieser schickt die Flasche wieder zurück. So geht das immer hin und her, bis der Fürst aufspringt, sich mittels seines Ordenssterns zu erkennen gibt, eine Strafpredigt hält und danach eine O.nkette auslöst, die er jedesmal, wenn sie ihn erreicht, zurücklaufen läßt. Seitdem gehen die Bauern am Sonntag zur Kirche 12 . In dt. Var.n wird AaTh 1557 öfter mit anderen Schwänken über den Alten Fritz kombiniert. Der Bauer wird zum Edelmann oder Minister ernannt. Die Höflinge drohen ihm, daß genau dasselbe mit ihm geschehen werde, was er mit einem gerade aufgetragenen gefüllten Ferkel mache. Der Bauer steckt dem Ferkel seinen Finger ins Arschloch13. Sie geben ihm ein Abführmittel. Als er einen fahren läßt, erklärt er, daß der Bauer unten heraus muß, um oben dem Edelmann Platz zu machen 14 . Der König bittet ihn zur Suppe, gibt ihm jedoch keinen Löffel. Er weiß sich mit einer Brotkruste zu helfen (-• BrotlöfFel)15. Auch anderswo, vor allem im östl. Verbreitungsgebiet, wird der Schwank oft mit anderen Erzähltypen kontaminiert, wie ζ. B. in Finnland mit dem der Brotlöffel-Anekdote ähnlichen Erzähltyp AaTh 921 G*: Peasants Need No Spoons16, in Litauen mit AaTh 922: Kaiser und Abt17 und in Tschechien mit AaTh 921 B*: Die seltsamen -* Berufe der drei Söhne18. Mit AaTh 1557 zu vergleichen ist der in einer westl. und einer östl. Redaktion überlieferte, zumeist auf Kosten der richterlichen Obrigkeit erzählte Schwank vom Bußwert einer O. (Mot. J 1193.2). In der westl. Redaktion fragt ein (wegen einer O. verurteilter) Bauer den Richter (Bürgermeister), wie hoch die Buße für eine O. ist. Dann verpaßt er dem Richter (auch) eine und zahlt die (doppelte)

257

Ökotyp

Buße. In der literar. Überlieferung lange Zeit beliebt - sie findet sich vom 16. (bei Johannes Pauli19, Hans Sachs20 und Martin 21 Montanus ) bis zum 20. Jh. in dt., ndl. und ung. Schwanksammlungen und Kalendern 22 —, wurde diese Redaktion im 19. und 20. Jh. in Deutschland und den Niederlanden auch mündl. tradiert 23 . Sie erreichte dann (wahrscheinlich über Übers.en) auch Indien 24 . Die jüngere östl. Redaktion (19. und 20. Jh.) ist vom Balkan bis nach Mittelasien verbreitet und namentlich im (ehemaligen) osman.-türk. Kulturbereich bekannt. Ein Mann (öfter der Hodscha Nasreddin) verklagt jemanden wegen einer O. Der Richter verurteilt den Angeklagten zu einer kleinen Geldstrafe, die dem Kläger zu zahlen ist. Der Verurteilte geht nach Hause, um das Geld zu holen. Der Kläger will nicht so lange warten. Er ohrfeigt den Richter und empfiehlt ihm, sich das Geld vom Raufbold geben zu lassen25.

258

der Kooi, num. 1568 C*; György, L.: Könyi Jänos Democritusa. Bud. 1932, num. 76. - 23 van der Kooi, num. 1568 C*; Nissen, M.: Eiderstedter Sprichwörter und Erzählungen aus der Chronik von Eiderstedt. ed. W. Lindow. St. Peter-Ording 1976, 277; Grümmer, G.: Rostocker Anekdoten. Rostock 1990, 27. - 24 Thompson/Balys J 1193.2; Jason, Indie Oral Tales, num. 1804* C; Mayeda, N./Brown, W. N.: Tawi Tales. Folktales from Jammu. New Haven, Conn. 1974, num. 50. - 25 BFP, num. »1557 A*; Stroescu, num. 5651; Hodscha Nasreddin, num. 172; Marzolph, U.: Nasreddin Hodscha. Mü. 1996, num. 151, 617; Orso, E. G.: Modern Greek Humor. Bloom./L. 1979, num. 288; Stein, H.: Der Sündensack. Schwänke, Anekdoten und Witze von Nasriddin Afandi aus Usbekistan. Lpz./Weimar 1991, num. 76; Beer, R.: Bestrafte Neugier. Anekdoten und Schwänke aus dem Orient. Lpz./Weimar 1979, 56 sq.

Groningen

Jurjen van der Kooi

Ökotyp, Bezeichnung der für ein abgrenzbares Gebiet oder eine ethnische Gruppe spezifischen Version eines internat. verbreiteten 'Neumann, S.: Plattdt. Schwänke. Rostock 1968, Erzähltyps (cf. auch -· Ellekilde sowie bei B. Holbek sichtbar. 'Kristensen, Μ.: A. O. In: DSt. (1917) 1-12; Krohn, Κ.: A. O. In: id./Mogk, Ε.: A. O. und Oskar Dähnhardt (FFC 29). Hamina 1919, 3-18; Ο., Α.: Nogle grundsaetninger for sagnforskning. ed. H. Ellekilde (DF 23). Kop. 1921, 1 - 3 1 (Einl.), 178-199 (Bibliogr.); Ο., Α.: Ragnarök. Die Sagen vom Weltuntergang. Übers. W. Ranisch. B./Lpz. 1922, I I I - X I V (Vorw.); Holbek, Β.: A. O. (1864-1917).

265

Olsvanger, Immanuel

In: Arv (1969-71) 259-296 (= Biographica. Nordic Folklorists of the Past. Festschr. J. Hautala. Kop. 1971); Hemmingsen, L.: A. O. In: Damico, H. (ed.): Medieval Scholarship [...] 2. N. Y./L. 1998, 267 - 281. - 2 0 . , Α.: Personal Impressions of Moltke Moe (FFC 17). Hamina 1915. - 3 Unveröff., cf. O. 1921 (wie not. 1) 179. - 4 id.: Kilderne til Sakses oldhistorie. En literaturhistorisk undersegelse 1 - 2 . Kop. 1892/94 (t. 1 als akademische Abhdlg u. d. T. Forsog pa en tvedeling af kilderne til Sakses oldhistorie); cf. id.: Märchen in Saxo Grammaticus. In: ZfVk. 2 (1892) 117-123, 252-258, 367-374; Steenstrup, J.: Saxo Grammaticus og den danske og svenske Oldtidshistorie. In: Arkiv for nordisk filologi 13 (1896) 101-161. - 5 cf. u.a. id.: Danske oldkvad i Sakses historie. Kop. 1898. - 6 id.: Dansk Folkemindesamling. In: id. (ed.): Dansk Folkemindesamling. Meddelelser og spörsmal (DF 1). Kop. 1908, 5 - 1 9 ; id.: Dansk Folkemindesamling (DFS). The National Collection of Folklore in Copenhagen (FFC 1). Hels. 1910 (Tampere 21959). 7 Ellekilde, H.: Foreningen Danmarks Folkeminder 1908 - 20. Marts - 1933. In: id. (ed.): Foreningen Danmarks Folkeminder igennem 25 Aar (DF 40). Kop. 1933, 5-56, hier 5-30. - 8 0 „ A. (ed.): Danmarks gamle Folkeviser 5,2 - 8,3. Kop. 1889-1912. — 9 cf. Holbek, B.: To optegnere og en meddeler. In: Folkeminder 14 (1969) 1 - 8 . - 10 id.: Danmarks heltedigtning. En oldtidsstudie 1 - 2 . Kop. 1903/10; id.: Om Ragnarok. In: Aarboger for nordisk Oldkyndighed og Historie (1902) 157-292; id.: Ragnarokforestillingernes udspring. Kop. 1914 (zusammen dt.: O. 1922 [wie not. 1]); id.: Nordisk aandsliv i vikingetid og tidlig middelalder. Kop. 1907 (dt.: Nord. Geistesleben in heidnischer und frühchristl. Zeit. Übers. W. Ranisch. Heidelberg 1910); id.: Nordens gudeverden 1 - 2 . ed. H. Ellekilde. Kop. 1926/51. "Bes. wichtig: Ο., Α.: Kong Lindorm. In: DSt. (1904) 1-34, 224; cf. auch id. (ed.): Danske sagn og aeventyr fra folkemunde 1 - 4 . Kop. 1913/18/23/29. 12 id.: Episke love i folkedigtningen. In: DSt. (1908) 69-89 (frühere Fassung), cf. id. 1921 (wie not. 1) 66-82 (engl.: Principles for Oral Narrative Research. Bloom./Indianapolis 1992 [Vorwort Β. Holbek], 41—61; ital.: La costruzione del racconto. Le leggi epiche. In: Uomo e cultura 6 [1973] 197—232 [mit ausführlichem Kommentar]); id.: Epische Gesetze der Volksdichtung. In: ZfdA 51 (1909) 1 - 1 2 (spätere Fassung, engl.: Epic Laws of Folk Narrative. In: Dundes, A. [ed.j: Internat. Folkloristics. Classical Contributions by the Founders of Folklore. Lanham, Md 1999, 83-97); cf. Alver, B.: The Epic Laws of Folk Narrative. In: Chesnutt, M. (ed.): Telling Reality. Folklore Studies in Memory of B. Holbek. Kop./Turku 1993, 195-204; cf. auch Chesnutt, M.: The Many Abodes of O.'s Epic Laws. In: Copenhagen Folklore Notes (1999) H. 4, 7-11.

Kopenhagen

Michael Chesnutt

Olsvanger, Immanuel, * Grajewo (Polen) 13.4.1888, f Jerusalem 7. 2.1961 1 , jüd. Folk-

266

lorist, Ethnograph und Philologe. Ο. studierte zunächst Sprachen (russ., poln., litau., dt., frz., lat., griech.) in Suwalki, dann Medizin und Philologie in Königsberg und später in Bern, wo er 1916 mit der Diss. Die Leichenbestattung bei den Juden, sprachlich und sittengeschichtlich untersucht2 promoviert wurde. O. war Gründer der zionistischen Studentenorganisation He-Haver und 1918-20 Sekretär der Jüd. Sektion der Schweiz. Ges. für Vk. 1921 — 24(?) arbeitete er für die zionistische Organisation Keren Ha-Yesod in Kapstadt 3 und später in Europa und in Südostasien4. 1933 emigrierte er nach Palästina, wo er ind., jap. und europ. (Goethe, Dante, Boccaccio) Lit. ins Hebräische übersetzte5. Als Folklorist wurde O. bekannt für seine bahnbrechende Slg und Unters. Aus der Volksliteratur der Ostjuden. Schwänke, Erzählungen, Volkslieder und Rätsel (Basel 1920). Er transliterierte die Texte in lat. Buchstaben, um so die Aussprache des jidd. Dialekts seiner Heimat wiederzugeben6. O.s Informanten waren jidd.sprachige Flüchtlinge auf dem Weg in die USA sowie Geschäftsleute und Studenten aus Weißrußland, Litauen, Lettland und Galizien, die in der Schweiz lebten7. Das Werk wurde später in unterschiedlichen Fassungen und unter verschiedenen Titeln herausgegeben. Die Ausg. von 1920 umfaßt 288 Witze, 28 Märchen, Sagen und andere Volkserzählungen, 58 Volkslieder, 27 Rätsel, 2 Kindererzählungen, 23 Sprichwörter und Redensarten sowie eine Beschreibung von Bräuchen der osteurop. Juden, Glossar, Anmerkungen und grammatischen Kommentar 8 . In der zweiten Ausg. u. d. T. Rosinkess mit Mandlen. Aus der Volksliteratur der Ostjuden (Basel 1931, Zürich 31965) wurden einige Teile (u. a. die Volkslieder) weggelassen, andere neu hinzugefügt 9 . Das gilt ζ. B. für den Widmungsbrief an den jüd. Folkloristen A. Drujanow, in dem O. die Prinzipien seiner Textauswahl und -edition darlegte. Dabei betonte er, wie wichtig es sei, die Rolle der Juden bei der Tradierung von Erzählungen zu untersuchen10, und stellte Überlegungen dazu an, was einen gut erzählten Witz ausmache 11 . Die Slg Rejte Pomeranzen. Ostjüd. Schwänke und Erzählungen (B. 1935) enthält nur 74 Witze und Erzählungen; zehn wurden aus Rosinkess mit Mandlen nachgedruckt, wäh-

267

rend 64 zwischen 1931 und 1934 gesammeltes Material jidd.sprechender Europäer darstellen. U. d. Τ. Röyte Pomeranzen. Jewish Folk Humor (Ν. Υ. 1947, Nachdr. 1965) erschien die Slg zum ersten Mal in einer für engl.sprachige Leser adaptierten Transkription. In der Einl. bezeichnet O. sein Buch als „a grim monument over the mass grave of a world that is no more" 12 . Er erörtert die Funktion, Struktur, Herkunft und Tradierung jüd. Witze und entwickelt Ansätze zu einer Theorie der ,Melodie' des Witzes13. Nach O. besitzt die Mehrheit jüd. Witze als Charakteristikum zwei Höhepunkte, die -• Pointe und die Superpointe 14 . In derselben Transkription erschien eine überarbeitete engl. Version von Rosinkess mit Mandlen und Rejte Pomeranzen u. d. T. L'Chayim. Jewish Wit and Humor (Ν. Υ. 1949). Weitere Veröff.en O.s zur Folklore sind: Contentions with God. Α Study in Jewish Folklore (Kapstadt 1921) sowie Yidisher folklor in dorem afrike (Jidd. Folklore in Südafrika) in der Johannesburger Monatszeitschrift Dorem afrike (t. 3 - 4 , 1923), eine linguistische Analyse der Einflüsse des Afrikaans und des Englischen auf das Jiddische in Südafrika. I

268

Oncukov, Nikolaj Evgenevic

Kressel, G.: Leksikon ha-Sifrut ha-Ivrit ba-Dorot ha-Ahronim (Enz. der modernen hebr. Lit.) 1. Merhavia 1965, 39 sq. — 2 Lazar, D.: Rashim be-Yisrael (Führer von Israel) 2. Tel Aviv 1955, 267-271. 3 Reyzin, Z.: Leksikon fun der yidisher literatur, prese und filologye. Wilna 1926, 113 sq. - ''Leksikon fun der nayer yidisher literatur. Ν. Y. 1956, 122 sq. - 5 Lazar (wie not. 2) 267 sq. - 6 cf. The Language and Culture Atlas of Ashkenazic Jewry 1 sqq. ed. V. Baviskar u. a. Tübingen 1992 sqq. (s. v. location 53228, Grajewo). - 7 0 . , I.: Aus der Volkslit. der Ostjuden. Basel 1920, III. - 8 Rez. J. Boke in ZfVk. 30-32 (1922) 99 sq.; cf. Drujanow, Α.: Sefer ha-Bediha veha-Hidud (Buch der Witze und Scherze). Ffm. 1922, 11. - 9 Rez.en cf. N. Epshteyn in YlVO-bleter 4 (1932) 72-76; W.Anderson in SAVk. 32 (1933) 173-175; M. Grunwald in HessBUfVk. 30-31 (1931-32) 315-318; J. Bolte in ZfVk. 41 (1931) 309; cf. auch Thieme, S.: Rosinkess mit Mandlen. Glossar und Forschungsber. zu einer jidd. Schwankslg. Riehen 1971 (verwendet die Ausg. von 1931 als Korpus für eine linguistische Analyse). - 10 O., I.: Rosinkess mit Mandlen. Basel 1931, IX. II ibid., XLI-XLIV. - 12 id.: Röyte Pomeranzen. Jewish Folk Humor. N.Y. 1947, VII. - 13 ibid., VIII sq.; die Abhdlg ist auch publiziert u. d. T. Tsum yidishn vits (Über den jidd. Witz). In: Goldene keyt.

ed. A. Suckever. Jerusalem 14 ibid., XI sq.

New York

1951,

103-108.

-

Beatrice Weinreich

Oncukov, Nikolaj Evgenevic, * Sarapul (Gouvernement Vjatka) 3. 3. 1872, f Penza 5.3. 1942, russ. Folklorist und Ethnograph. 1901-03 war O.Gasthörer des Petersburger Archäologischen Inst.s1. Nach ersten Sammeltätigkeiten seit 1901 führte er 1908-24 seine landeskundlichen Beschäftigungen fort und gründete in Sarapul ein Heimatmuseum. Seit 1924 unterrichtete O. an der Leningrader Univ., wo er als Mitarbeiter am Inst, für vergleichende Studien der Lit.en des Ostens und Westens und an der Zs. Kraevedenie (Landeskunde) tätig war. Er unternahm drei Expeditionen in die Gouvernements Tobol'sk und Petrograd. 1931 wurde er inhaftiert und auf Antrag Maksim Gor'kijs wieder freigelassen. 1935 wurde er in das Gebiet Nikol'sk Penzenskij verbannt. Nachdem er 1939 (1940?) erneut verhaftet worden war, starb er im März 1942 in einem Sowjet. Konzentrationslager bei Penza 2 . Das Ergebnis seiner Sammeltätigkeit 1901 — 02 auf den Spuren von F. V. Millers Schülern A. D. Grigor'ev, A. N. Markov u. a. war die bedeutende Sammlung von Aufzeichnungen epischer Lieder von der Pecora und Pi2ma3. Während seiner Feldforschungen 1902-07, die O. mit Unterstützung der Märchenkommission der Russ. Geogr. Ges. in die schwer zugänglichen Regionen des russ. Nordens unternahm, zeichnete er fast 300 Märchen und Erzählungen auf. Diese nahm er neben 75 Aufzeichnungen des Linguisten Α. A. Sachmatov 4 und 36 Texten des Schriftstellers Michail M. Prisvin5 sowie Texten aus den Archiven der Russ. Geogr. Ges. und dem Archiv der Akad. der Wiss.en in seinen Sammelband Severnyja skazki (Märchen des Nordens) 6 auf. Dieser für die russ. Folkloristik Anfang des 20. Jh.s bedeutende Sammelband gibt einen allg. Überblick über die reiche nordruss. Tradition, ohne deren Repertoire auszuschöpfen. O. publizierte seine Aufzeichnungen ohne vorsätzliche Auswahl und redaktionelle Überarbeitung, mit Ausnahme einiger Texte aus den Aufzeichnungen Prisvins. Dabei dominieren Novellen-

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Onuphrius, Hl.

märchen und Texte mit erotischem Charakter. Nach dem Vorbild von A. F. Hilferding (Bylinen), Ε. V. Barsov (Klagelieder) und D. N. Sadovnikov (Märchen) ordnete O. die Aufzeichnungen nach Erzählern an, zu denen er jeweils Informationen beifügte. Im Vorw. wird eine Theorie formuliert, die die Abhängigkeit der Texte nicht nur von der Art und Weise der Performanz, sondern auch von den Aufzeichnungsbedingungen und der -»Interaktion zwischen Erzähler und Folklorist bewertet7. Der Artikel Skazki i skazocniki na Severe (Volksmärchen und Märchenerzähler im Norden) enthält eine vorläufige Charakteristik des nordruss. Märchens und seiner Verknüpfung mit den geogr. und ökonomischen Bedingungen (Landwirtschaft, Jagd und Fischfang) und den Besonderheiten der Sozialstruktur 8 . Der Sammelband O.s war der direkte Vorläufer der vorbildlichen Ausgaben D. K. -»• Zelenins9. 1902-07 und in den folgenden Jahren sammelte O. auch umfangreiches ethnogr. Material und bereitete den Sammelband Severnye narodnye dramy (Nord[russ.] Volksschauspiele) vor 10 . O. war sich der Begrenztheit schneller, große Räume abdeckender Sammelreisen (marsrutnyj metod) bewußt und experimentierte in den 20er Jahren mit einer auf einen Ort konzentrierten Feldforschung (splosnoj metod). Diese Methode, die u. a. das Repertoire aller Ortsbewohner, auch der Kinder, berücksichtigt, wurde von Α. I. -» Nikiforov unterstützt 11 . Während seiner Tätigkeit an der Leningrader Univ. verfaßte O. ethnogr. (u. a. märchenkundliche) und literaturwiss. Essays und Rez.en. Ein großer Teil seiner Materialien und Studien blieb unveröffentlicht, darunter über 240 Märchen aus den Gebieten Penza, Tjumen und Leningrad 12 . 1 Ivanova, T. G.: Ν. E. O. In: Russkaja fol'kloristika ν biograficeskich ocerkach. SPb. 1993, 168-189; ead.: Ν. E. O. i sud'ba ego naucnogo nasledija (Ν. E. O. und das Schicksal seines wiss. Nachlasses). In: Russkaja literatura (1982) Η. 14, 126-137; Nalepin, A. L.: Issledovatel' fol'klora Russkogo Severa N. O. (Der Erforscher der Folklore des russ. Nordens N. O.). In: Literaturnaja uceba (1983) H. 4, 190-198. - 2 Ivanova 1982 (wie not. 1) 137. - 3 0 . , Ν. E. (ed.): Pecorskie byliny (Bylinen von der Pecora). SPb. 1904. - 4 Astachova, A./SachmatovaKoplan, S. (edd.): Fol'klornye zapisi Α. A. Sachma-

270

tova ν Zaonez'e (Folkloristische Aufzeichnungen Α. A. Sachmatovs im Onegagebiet). Vorw. Μ. K. Azadovskij. Petrozavodsk 1968. - 5 Ivanova, T. G.: Μ. M. Prisvin i Ν. Ε. Ο. (Μ. M. Prisvin und Ν. E. O.). In: Russkaja literatura (1984) Η. 1, 230-235. - 6 0 . , Ν. E.: Severnyja skazki (Archangel'skaja i Oleneckaja gg.) (Märchen des Nordens. [Gouvernement Archangelsk und Olenec]). SPb. 1908; Rez.en: S. F. Ol'denburg in Zapiski Russkogo geograficeskogo obscestva po otdeleniju etnografii. SPb. 1909, 17-19 und in Zurnal Ministerstva Narodnogo Prosvescenija. N. S. 64 (1916) 296-312; Ν. N. Seleckij ibid. 4 (1909) 414-430; Ε. N. Eleonskaja in Etnopraficeskoe obozrenie (1909) H. 80, 97 sq.; Κ. V. Cistov in Voprosy literatury i narodnogo tvorcestva. Petrozavodsk 1957, 3-39; G. Polivka in ZfVk. 19 (1909) 450-452 und in Archiv für slav. Philologie 32 (1909) 259-286; cf. auch BP 5, 151; Savcenko, S.V.: Russkaja narodnaja skazka. Istorija sobiranija i izucenija (Das russ. Volksmärchen. Geschichte des Sammeins und der Forschung). Kiev 1914, 161-167. - 7 Ο. (wie not. 6) XIII-XX. - 8 ibid., XXI-XLVIII. - 9 Zelenin, D. K.: Velikorusskie skazki Permskoj gubernii (Großruss. Märchen des Gouvernements Perm. Petrograd 1914); id.: Velikorusskie skazki Vjatskoj gubernii (Großruss. Märchen des Gouvernements Vjatka). Petrograd 1915. — 10 O., Ν. E.: Severnye narodnye dramy (Nord[russ.J Volksschauspiele). SPb. 1911. 11 Nikiforov, Α. I.: Severnorusskie skazki (Nordruss. Märchen), ed. V. Ja. Propp. M./Len. 1961; Propp, V. Ja.: Α. I. Nikiforov i ego „Severnorusskie skazki" (Α. I. Nikiforov und seine „Nordruss. Märchen), ibid., 5-24. - 12 Ivanova 1982 (wie not. 1) (Auflistung nichtveröff. Aufzeichnungen und Forschungen, die in verschiedenen russ. Archiven aufbewahrt werden).

St. Petersburg

Kirill V. Cistov

Onuphrius, Hl. (kopt. Benofer, äthiop. Abunafer; Fest 12. Juni), lebte wohl um 400 als -> Einsiedler in Ägypten1. Von O. handelt der 2. Teil des Reiseberichts eines Mönchs Paphnutius, die sog. Peregrinatio Paphnutiana2, die frühestens in der 1. Hälfte des 5. Jh.s in Ägypten wohl in griech. Sprache entstanden ist. Der 2. Teil der Peregrinatio wurde als Vita des O. auch unabhängig verbreitet und war sehr populär 3 . Im Westen wurde die Vita in lat. Sprache in die -* Vitae patrum aufgenommen 4 und auch in Volkssprachen übersetzt. Eine komprimierte dt. Version fand Aufnahme in Der Heiligen Leben5. Danach war O. zuerst Mönch im Kloster zu Hermopolis in der Thebais, lebte dann 60

271

272

Oper

Jahre lang in gänzlicher Einsamkeit in der Wüste, wo Paphnutius ihn kurz vor seinem Tod aufsuchte und ihn nachher bestattete. Im einzelnen erzählt die Vita, wie Paphnutius in der Wüste O. traf, der nur mit einem Laubgürtel bekleidet war und lange Haare hatte6. O. berichtete Paphnutius, er habe 60 Jahre in der Wüste gelebt, ohne einen Menschen gesehen zu haben. Er habe sich von Kräutern und den Früchten einer Dattelpalme ernährt, ein -» Engel habe ihm täglich Brot und Wasser gebracht und jede Woche die Eucharistie (-> Hostie)7. Vor seinem Tod gab O. Hilfezusicherungen für diejenigen, die in seinem Namen dem Herrn ein Opfer darbrächten oder seine Fürbitte anriefen8. Bei seinem Tod war er von einem Lichtglanz umgeben, und Engelstimmen ertönten. Die Leiche des Heiligen wickelte Paphnutius in die eine Hälfte seiner Tunika und bestattete sie in einem Felsengrab. O.' Hütte stürzte zusammen, und mit ihr fiel die Dattelpalme. Darin erkannte Paphnutius den Willen Gottes, daß er nicht als Eremit an diesem Platz leben solle. Die O.-Vita entspricht dem Grundmuster der Einsiedler-Viten, bes. der des Paulus Eremita oder der späteren der Maria Aegyptiaca. Noch nicht in der O.-Vita, sondern erst in späteren Legenden 9 findet sich das der Vita des Paulus Eremita entnommene Motiv der helfenden -» Löwen beim Begräbnis (-• Grab, Grabwunder), das oft auch bildlich dargestellt wurde 10 . Nach Aussage einer singulären Überlieferung 11 soll O. Sohn eines pers. Königs gewesen sein; dieser habe ihn als Neugeborenen ins Feuer geworfen 12 , da er teuflischen Einflüsterungen, O. sei von einem Sklaven gezeugt, Glauben schenkte. Aus dieser Feuerprobe (-• Gottesurteil) mit dem Erweis der legitimen Geburt unversehrt hervorgegangen, sei er christl. getauft und von seinem Vater nach Ägypten verbracht worden. Unterwegs sei er von einer Hirschkuh genährt worden, dann in ein Kloster eingetreten und wegen seiner Tugenden in jugendlichem Alter zum Abt gewählt worden. Der zuerst in der griech. sowie der oriental. Kirche verbreitete Kult kam zur Zeit der Kreuzzüge nach Italien (Kloster St. Onofrio in Rom), Frankreich, Spanien, Deutschland und England. O.s Schädelreliquie, vom Papst an Heinrich den Löwen gesandt, soll von diesem in seine Münchner Burgkapelle und später in die Residenz Braunschweig überführt worden sein. Ein großes Bild am Haus Marienplatz 17

und eine Inschrifttafel erinnern an den O.kult in München 13 . 1

Allg. cf. AS Junii 2, 519-533; Reau, L.: Iconographie de l'art chretien 2,2. P. 1958, 1007-1010; Sauget, J.-M.: O. In: Bibliotheca Sanctorum 9. Rom 1967, 1187-1200; Kaster, G.: O. In: LCI 8 (1976) 84-88; Baumeister, T.: O. In: LThK 7 (31998) 1057 sq. - 2 Williams, C. Α.: Oriental Affinities of the Legend of the Hairy Anchorite 2. Urbana, 111. 1926, 81-86. 'Bibliotheca Hagiographica Graeca. Brüssel 1895, num. 1378-1382, 2320 mit Auctarium; Bibliotheca Hagiographica Orientalis. Brüssel 1910, num. 818-823; Bibliotheca Hagiographica Latina Antiquae et Mediae Aetatis 2. Brüssel 1900-01, num. 6334-6338 mit Novum Supplementum; cf. auch Pereira, F. Μ. E.: Vida de S. Abunafer. Lissabon 1905; Williams (wie not. 2) 81-86; Fagnoni, A. M.: Una vita greca di S. Onofrio mimetizzata. In: Hagiographica 3 (1996) 247-263. - 4 MPL 73, 211-222. - 5 Rüttgers, S. (ed.): Der Heiligen Leben und Leiden 1. Lpz. 1913, 130-133; cf. Schenda, R.: Tausend frz. Volksbüchlein aus dem 19. Jh. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 9 (1969) 779-952, hier 892, num. 633. - 6 cf. auch Bernheimer, R.: Wild Men in the Middle Ages. Cambr., Mass. 1952, 199, not. 29; Williams (wie not. 2). 7 cf. Schneider, Α.: Exempelkatalog zu den „Iudicia divina" des Jesuiten Georg Stengel von 1651. Würzburg 1982, XVIII, num. 67. - 8 Zum Problem des .Privilegium dignitatis' in einer frühen EinsiedlerVita cf. Günter, H.: Legenden-Studien. Köln 1906, 129, not. 2. - 9 cf. MPL 73, 222, not. 26; cf. auch Günter (wie not. 8) 130, not. 2. - 10 LCI 8, 87. 11 Bibliotheca Hagiographica Latina (wie not. 3) num. 6338; cf. AS Junii 2, 520 sq., num. 9 sq.; Sauget (wie not. 1) 1196. — 12 cf. Brückner, 251 (Johannes Herolt, Promptuarium exemplorum 2,37). — 13 Keller, H.: Reclams Lex. der Hll. und bibl. Gestalten. Stg. 81996, 456 sq. Würzburg

Erich Wimmer

Oper 1. Allgemeines — 2. O. und Mythos - 3. O. und Märchen 1. A l l g e m e i n e s . Die O. (bzw. das musikalische Theater allg.) weist eine bes. Affinität zu -> Märchen und Mythos auf. In den dramatischen Gattungen dominiert gewöhnlich eine Außensicht der handelnden Figuren: Seelische Regungen sind nur faßbar, wenn sie sprachlich artikuliert oder durch Mimik, Gestik etc. verdeutlicht werden 1 . Dagegen vermag das Musiktheater die Wirklichkeit des inneren Er-

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Oper

lebens darzustellen 2 , denn musikalische Zeit ist subjektiv erfahrene Zeit: In den Arien und Ensembles der älteren O. wird Zeit bis zum Stillstand gedehnt oder auch (ζ. B. in den Finali der opera buffa) beschleunigt; das Musikdrama Richard Wagners oder O.nformen des 20. Jh.s erzeugen die gleiche Wirkung mit anderen musikalischen Mitteln. Während Schauspielformen wie die klassische Tragödie eine dynamische Konfliktstruktur aufweisen, ist für die O. (bzw. für die literar. Gattung Libretto) eine statische Kontraststruktur charakteristisch 3 ; häufig werden widersprüchliche psychische Dispositionen des Protagonisten nach außen projiziert, ζ. B. auf andere Figuren - so stehen in Carl Maria von Webers -» Freischütz (1821 [Text von Friedrich Kind]) Agathe für die helle, Kaspar für die dunkle Seite von Maxens Charakter. In Kontrast- (und Äquivalenz-)Relationen konkretisiert sich abstrakter Sinn, so wie nach C. - Tannhäuser [1857]; - Mädchenmörder). Stoffvorlagen sind stets literar. Bearb.en, die Märchen -• Perraults oder spätere Contes de fees, die Fiabe Carlo Graf -> Gozzis, auch die Geschichten aus -> Tausendundeinenacht (cf. Aladdin-O.n von William Shield [1788], Nicolas Isouard [1822], Louis Alexandre Piccini [1822] u. a. 18 ; AaTh 561: -> Aladfdjin). Die Wiener Zauberoper 19 als Sonderform des dt. Singspiels greift gern auf die Märchen Wielands zurück; in dieser Tradition steht auch Mozarts Zauberflöte ([1791], Text von Emanuel Schikaneder). Im opera-comique und der ital. opera buffa werden wunderbare Elemente des Märchens häufig abgeschwächt, ironisiert oder ganz getilgt: Das von Jean-Louis Laruette (Cendrillon, Text von L. Anseaume [1759]) bis zu Massenet (Cendrillon, Text von Henri Cain [1899]), Ermanno Wolf-Ferrari (Cenerentola, Text von

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Marie Pezze-Pascolato [1900]) und darüber hinaus mindestens 80mal vertonte Aschenputtel-Märchen (AaTh 510 A: cf. Cinderella) enthält in Charles Guillaume Etiennes Libretto für Isouard (Cendrillon [1810]) und in der ital. Bearb. Jacopo Ferrettis für Gioacchino Rossini (La Cenerentola [1817]) nichts Wunderbares mehr 20 . In der Zeit der Romantik steigt - parallel zur Entstehung des Märchenballetts - die Zahl der O.nadaptationen von Volkserzählungen vor allem in Deutschland bedeutend an, wobei zwischen Märchen- und Sagenstoffen nicht unterschieden wird: Webers Freischütz, Heinrich Marschners Hans Heiling (Text von Philipp Eduard Devrient [1833]; die scheiternde Liebe eines Erdgeists zu einer Sterblichen kehrt die Konstellation der gestörten Mahrtenehe um), Ε. Τ. A. ->• Hoffmanns (Text von Friedrich de la Motte Fouque [1816]) und Albert Lortzings -> Undine (1845)21 basieren auf literar. Bearb.en (oder Nachahmungen) von Volkssagen, wie auch die Märchen immer noch nach den Fassungen der Dichter adaptiert werden. Libretto-Versionen der Kinder- und Hausmärchen von J. und W. -> Grimm 2 2 findet man erst seit den 70er Jahren des 19. Jh.s: Carl Reinecke vertont u. a. Schneewittchen ([1876]; K H M 53, AaTh 709: Schneewittchen); Dornröschen ([1876]; K H M 50, AaTh 410: Schlafende Schönheit), Ferdinand Hummel die ,Märchendichtungen' Rumpelstilzchen ([1881]; K H M 55, AaTh 500: - Name des Unholds); Frau Holle ([1881], K H M 24, AaTh 480: Das gute und das schlechte Mädchen), Hänsel und Gretel ([1881]; K H M 15, AaTh 327 A: Hänsel und Gretel), jeweils für Solostimmen, Chor, Klavier und Rezitator. In Deutschland entstehen Ende des 19. Jh.s bes. viele Märchenopern 23 , nachdem Wagner den jungen Komponisten empfohlen hatte, Sagen, Märchen oder Legenden als O.nstoffe zu wählen 24 . Am erfolgreichsten ist bis heute Hänsel und Gretel von Engelbert Humperdinck (Text von Adelheid Wette [1893]): Das „mit gewichtiger Orchestrierung und reicher Polyphonie aufgedonnerte" 25 Werk ist dennoch für Kinder bestimmt und verständlich (einige bekannte Kinderlieder werden zitiert) und wird meist als Weihnachtsmärchen aufgeführt. Spätere Märchenopern Humperdincks (Dornröschen

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Oper

[1902]; Königskinder [1893/1910]) konnten sich nicht durchsetzen. Die Libretti, die sich Siegfried Wagner nach dem Vorbild seines Vaters selbst schrieb, sind als Collagen unterschiedlicher Geschichten auf ,Märchenverwirrung' 26 angelegt: Am erfolgreichsten war Der Bärenhäuter ([1899]; KHM 101, AaTh 361: — Bärenhäuter]); An allem ist Hütchen schuld (1917) verknüpft als „Märchen-Digest durch die Sammlung der Brüder Grimm" 27 über 40 Episoden. Unter dem Einfluß der symbolistischen Poetik entstehen in Frankreich Dramen und Libretti, die Elemente aus Märchen und Mythos benutzen, um psychische Konstellationen zu veranschaulichen: So erinnert die Eingangsszene von Maurice Maeterlincks Schauspiel PelUas et Milisande ([1892], als O. mit der Musik Claude Debussys [1902]) an Var.n von AaTh 465: Mann wird wegen seiner schönen Frau verfolgt2*; im folgenden gibt es eindeutige Parallelen zur Geschichte von Tristan und Isolde. Von Maeterlinck stammt auch das Libretto zu Ariane et Barbe-Bleue von Paul Dukas (1907)29. In der Operette werden MärchenstofFe oft satirisch-parodistisch behandelt, wie in Jacques Offenbachs Barbe-Bleue (Text von Meilhac und Halevy [1866]). Charles Lecoq brachte Ali Baba (Text von Albert Vanloo und William Busnach [1887]; AaTh 676 + 954: Ali Baba und die vierzig Räuber) und La Belle au bois dormant (Text von Georges Duval und Vanloo [1900]; AaTh 410) auf die Operettenbühne, Johann Strauß parodierte Ali Baba als Indigo und die vierzig Räuber (Text von Maximilian Steiner [1871]). Maurice Vaucaire und Georges Mitchell griffen für Hans, le joueur de flute (Musik von Louis Ganne [1906]) auf die Sage vom -» Rattenfänger von Hameln zurück. Die Feengeschichte in Iolanthe, or The Peer and the Peri von William Schwenck Gilbert und Arthur Sullivan (1882) gehört zum Stoffkreis der gestörten Mahrtenehe. Auch unter den Musicals30 des späten 19. und des 20. Jh.s sind etliche (meist wenig erfolgreiche) Aladdin-, -> Alice im Wunderland-, Cinderella-Bearb.en etc. anzutreffen 31 . In Brigadoon (Musik von Frederick Loewe [1947]) nimmt Alan Jay Lerner auf Erzählungen von der -+ Relativität der Zeit Bezug: Die Bewohner des schott. Dorfes Brigadoon erwachen nur alle hundert Jahre für einen Tag zum Le-

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ben. 1954 diente James Matthew Barries Schauspiel Peter Pan als Vorlage für ein Broadway-Musical (Musik von Mark Charlap und Jule Styne). Ein ironisches Märchenverwirrspiel inszeniert Stephen Sondheim in Into the Woods (Text von James Lapine, Gesangstexte von Sondheim [1987]). Bes. beliebt sind Märchenstoffe auch in der Kinder-, Jugend- und Schuloper des 20. Jh.s32. In Pollicino von Henze (Text von Giuseppe Di Leva [1980] nach Märchen von Carlo Collodi [-+ Pinocchio], Grimm und Perrault) können alle Vokal- und Instrumentalpartien von Kindern übernommen werden 33 . Für ein Laienensemble schrieben die Studenten der Kompositionsklasse Henzes die O. Die Regentrude (1987) nach einem Kunstmärchen von Theodor Storm 34 . Den Komponisten des 20. Jh.s, die sich häufig selbst dramatische oder narrative Texte als O.nlibretti einrichten, steht, so scheint es, die gesamte Volks- und Kunstmärchenüberlieferung als Stoffreservoir zu Gebote: Es gibt u. a. O.n nach Märchen aus den KHM (Carl Orff, Der Mond [1939]; cf. KHM 175; Otmar Schoeck, Vom Fischer und syner Fru [1930]; KHM 19, AaTh 555: Fischer und seine Frau), Libretto-Versionen älterer literar. Märchen (ζ. B. nach den Fiabe Gozzis: Ferrucio B. Busoni, Turandot [1917]; Giacomo Puccini, Turandot, Text von Giuseppe Adami und Renato Simoni [1926]; AaTh 850, 851, 851 A: Rätselprinzessin·, Sergej Prokof'ev, L'Amour des trois oranges [1921]; AaTh 408: Die drei -> Orangen·, Henze, König Hirsch, Text von Heinz Tilden von Cramer [1956]; nach Ludwig -> Tieck: Günter Bialas, Der gestiefelte Kater oder Wie man das Spiel spielt, Text von Tankred Dorst [1975]; Francesco Valdambrini, Der gestiefelte Kater [1975]; AaTh 545 B: Der gestiefelte -» Kater3S), Adaptationen europ. wie außereurop. Volksmärchen36 wie auch für die O.nbühne entworfene Kunstmärchen (ζ. B. Richard Strauss, Die Frau ohne Schatten, Text von Hofmannsthal [1919]; AaTh 755: Sünde und Gnade). Parallel zur Entwicklung der Psychoanalyse werden Märchenstoffe (oder neuerfundene Stoffe, die Märchenelemente enthalten) benutzt, um innerseelische Vorgänge darzustellen (cf. Bela Bartok, Herzog Blaubarts Burg, Text von Bela Baläzs [1918]; Alexander Zemlinsky, Der Zwerg, Text von Georg

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Oper

Klaren nach Oscar Wilde [1922]; Wolf-Ferrari, Sly ovvero La leggenda del dormiente risvegliato, Text von Giovacchino Forzano [1927], AaTh 1531: Bauer wird König für einen Tag)·, in Märchenopern kann aber auch Gesellschaftskritik ausgedrückt werden (cf. Henze, Der junge Lord, Text von Ingeborg Bachmann nach Wilhelm - Hauff [1965] 37 ), oder das Märchen dient als Verkleidung für eine politische Stellungnahme (cf. Franz Schreker, Der Schmied von Gent, nach Charles de Coster [1932] 38 ). Als Grenzfall einer Märchenoper kann Das Mädchen mit den Schwefelhölzern von Helmut Lachenmann gelten (Uraufführung Hamburg, 26. 1.1997). Der Text kombiniert Bruchstücke aus Hans Christian Andersens Märchen mit einem Brief der Terroristin Gudrun Ensslin und einer autobiogr. Notiz Leonardo da Vincis. Das Werk „hat keine Geschichte, ist nicht dramatisch angelegt, zeigt keine Protagonisten, von einem Libretto läßt sich kaum reden, Gesang kommt fast gar nicht vor und eine szenische Handlung ebensowenig" 39 . Auch im Entwurf eines Musiktheaters, das die traditionelle O. transzendiert, besteht die Affinität zum Märchen fort. 1 cf. Pfister, M.: Das Drama. Theorie und Analyse. Mü. 8 1994, 222. - 2 cf. Gier, Α.: Das Libretto. Theorie und Geschichte einer musikoliterar. Gattung. Darmstadt 1998, 8 sq. und pass. - 3 ibid., 9. 4 Levi-Strauss, C.: Die Struktur der Mythen [1955], In: Blumensath, H. (ed.): Strukturalismus in der Lit.wiss. Köln 1972, 25-46, bes. 40. - 5 cf. Zwanzig, E.: Vertonte Märchen, Mythen, Sagen, Legenden 1 - 2 . Erlangen 1989 [Nachtrag 1991]/1992; Stieger, F.: O.nlex. 1 — 11. Tutzing 1975 (davon drei Bände Titelkatalog, alphabetisch). — 6 cf. Achberger, K.: Lit. als Libretto. Das dt. O.nbuch seit 1945. Heidelberg 1980, 37-78; Csobädi, P. u. a. (edd.): Antike Mythen im Musiktheater des 20. Jh.s. Anif 1990. 7 Just, K. G.: Das dt. O.nlibretto. In: Scher, S. P. (ed.): Lit. und Musik. Ein Hb. zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebietes. B. 1984, 100—116, bes. 102; ähnlich argumentiert im Hinblick auf die Märchenoper Bendix, R.: Folk Narrative, Opera and the Expression of Cultural Identity. In: Fabula 31 (1990) 297-303. - 8 cf. Gier (wie not. 2) 45-48. - 9 cf. Meier, Α.: Faustlibretti. Geschichte des Fauststoffes auf der europ. Musikbühne nebst einer lexikalischen Bibliogr. der Faustvertonungen. Ffm. 1990. - 10 cf. Csobädi, P. u. a. (edd.): Europ. Mythen der Neuzeit. Faust und Don Juan 1 —2. Anif 1993; Kunze, S.: Don Giovanni vor Mozart. Die Tradition der Don-Giovanni-O.n im ital. BuffaTheater des 18. Jh.s. Mü. 1972. -

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cf. Esquival-Heinemann, B. P.: Don Quijote's Sally into the World of Opera. Libretti between 1680 and 1976. Ν. Y. u. a. 1993 (sehr oberflächlich, cf. die Rez. von A.Gier in ArchfNSprLit. 214 [199η 212-214). - 12 cf. Ingenschay-Goch, D.: Richard Wagners neu erfundener Mythos. Zur Rezeption und Produktion des germ. Mythos in seinen O.ntexten. Bonn 1982; außerdem Borchmeyer, D. (ed.): Wege des Mythos in der Moderne. Richard Wagner, „Der Ring des Nibelungen". Mü. 1987; Bermbach, U./ Borchmeyer, D. (edd.): Richard Wagner, „Der Ring des Nibelungen". Ansichten des Mythos. Stg./Weimar 1995. - 13 cf. Borchmeyer, D.: Das Theater Richard Wagners. Idee - Dichtung — Wirkung. Stg. 1982, 132-135, 298 sq. - 14 cf. Fischer, J. M.: O. Das mögliche Kunstwerk. Beitr.e zur O.ngeschichte des 19. und 20. Jh.s. Anif 1991, 113-138. - 15 cf. Klotz, V.: Operette. Porträt und Hb. einer unerhörten Kunst. Mü./Zürich 1991, 150-175. - 16 cf. Schneider, Α.: Die parodierten Musikdramen Richard Wagners. Anif 1996. - 17 cf. Schmidt, L.: Zur Geschichte der Märchen-O. Halle 21896; Zwanzig (wie not. 5). - 18 Schmidt (wie not. 17) 35-37. 19 cf. Heinel, B.: Die Zauberoper. Studien zu ihrer Entwicklungsgeschichte [...]. Ffm. u. a. 1994 (nur als Materialslg nützlich). - 20 cf. Schmidt (wie not. 17) 39 - 4 4 . 21 cf. Schläder, J.: „Undine" auf dem Musiktheater. Bonn 1979; Ferlan, F.: Le Theme d'Ondine dans la litterature et l'opera allemands au XIX e siecle. Bern u. a. 1987. - 22 cf. Stier-Somlo, H.: Das Grimmsche Märchen als Text für O.n und Spiele. B./Lpz. 1926. — 23 cf. Pachl, P. P.: Die Märchenoper der Wagnernachfolge. In: Fischer, J. M. (ed.): O. und O.ntext. Heidelberg 1985, 131-149. - 24 cf. ibid., 132. 25 ibid., 136. - 26 ibid., 144. - 27 ibid. - 28 cf. EM 9, 164. - 29 cf. Hirsbrunner, T.: Debussy - Maeterlinck - Dukas. In: Fischer (wie not. 23) 167-178. — 30 Zum Märchen-Musical für Kinder cf. EM 9, 297. 31 cf. Gänzl, K.: The Enc. of the Musical Theatre 1 - 2 . Ox. 1994 (unter den entsprechenden Stichwörtern). - 32 cf. Braun, H.: Unters.en zur Typologie der zeitgenössischen Schul- und Jugendoper. Regensburg 1963. - 33 cf. Christen, N.: Pollicino. In: Pipers Enz. des Musiktheaters. O. - Operette Musical - Ballett 1 - 6 . Mü./Zürich 1986-97, hier t. 3 (1989) 13-16. - 34 cf. Trötschel, O.: „Die Regentrude". Ein Arbeitsber. über das kommunale O.nprojekt der Kompositionsklasse H. W. Henze. In: id. (ed.): Die Chiffren Musik und Sprache 4. Ffm. 1990, 61-70. - 35 Zu O.n nach Märchen H. C. Andersens cf. das „Verz. der neuen O.n 1945—1976" bei Achberger (wie not. 6) 242-288. - 36 Zahlreiche Beispiele bei Zwanzig (wie not. 5). - 37 cf. Beck, T.: Bedingungen librettistischen Schreibens. Die Libretti Ingeborg Bachmanns für Hans Werner Henze. Würzburg 1997, 260-272. - 38 cf. Brzoska, M.: Der Schmied von Gent. In: Pipers Enz. (wie not. 33) hier t. 5 (1994) 650-652. - 39 Hilberg, F.: Die erste O. des 21. Jh.s? Helmut Lachenmanns O. „Das Mäd-

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Opfer

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chen mit den Schwefelhölzem". In: Neue Zs. für Musik (1997) H. 4, 14-23, hier 19.

Sinne einer Fluktuation der Lebenskräfte werden.

Bamberg

2. P h ä n o m e n o l o g i e u n d T y p o l o g i e . Eine Typologie muß Anlaß, Zweck, O.materie, Darbringer, Empfanger, Darbringungsweise, sozialgeschichtliches Umfeld und umgebenden ,Symbolkosmos' bedenken. Als rituelle Handlung partizipiert das O. an den Gesetzmäßigkeiten heiliger Zeiten und Räume. Ihm voran gehen Reinigungsriten; begleitet wird es von anderen religiösen Riten. Exemplarischer Ort des O.s ist der -» Altar, der außerhalb der menschlichen Lebenswelt (Anhöhe, Hain), aber auch innerhalb dieser lokalisiert sein kann, meist an heiligem Ort (Tempel). Viele O. sind an feste Zeiten gebunden (Neu- und Vollmondopfer in Indien), andere ergeben sich aus speziellen Anlässen. Opfernder kann ein Familien- oder Clanoberhaupt sein oder ein religiöser Funktionsträger, bei minderen Formen oft auch jedermann. Das O.wesen als Amt ist in einigen (nicht allen) Gesellschaften zunehmend professionalisiert und öfters erblich (Israel, Indien etc.).

Albert Gier

Opfer 1. Begriff und Wesen - 2. Phänomenologie und Typologie - 3. Hist. Überblick - 3.1. Schriftlose vormoderne Kulturen - 3.2. Alter Orient - 3.3. Indoiran. Bereich - 3.4. Griechen und Römer - 3.5. Α. T. - 3.6. Ν. T. - 3.7. Alt-europ. Bereich - 3.8. Katholizismus und Protestantismus - 4. Neuere sozial· und kulturanthropol. Ansätze zu einer vergleichenden Theorie des O.s — 5. Volkstümliche O.vorstellungen — 5.1. Bräuche - 5.2. Sagen - 5.3. Märchen

1. B e g r i f f u n d W e s e n . Das O. ist eine rituelle Entäußerungshandlung in religiösem Kontext. Als solches gehört es zu den Universalien der Religionsgeschichte, kann aber nicht auf einen -+ Elementargedanken zurückgeführt werden (wie es die evolutionistischen Modelle des 19. Jh.s versuchten), sondern verbindet in unterschiedlicher Konstellation sehr verschiedene Motive, wobei sich die priesterlichen bzw. theol. Interpretationen oft stark von den volkstümlichen unterscheiden 1 . Dt. O. (nach herkömmlicher Auffassung aus kirchenlat. operari: ein O. bringen, Almosen spenden; dagegen mhd. offern, engl, to offer, lat. offere: darbringen) 2 meint sowohl den O.akt als auch die O.materie. Lat. sacrificium (sacer: heilig und facere: machen) 3 entspricht präzise der Grundbedeutung des O.s als für das Numen (die Gottheit, den Naturgeist, die Ahnen) Ausgesondertes und Übergebenes. Nicht jedes O. ist Gabe, nicht jede O.materie wird zerstört oder getötet, aber jedes O. ist übergeben bzw. dem Numen übereignet (->· Numinoses). Obwohl nicht mehr Teil der modernen Lebenswirklichkeit (und daher regelmäßig mißverstanden bzw. karikiert), ist das O.wesen nach wie vor ein wichtiger metaphernspendender Bereich, ein Motiv in Sagen und Märchen und Quelle vieler Redensarten 4 . Sowohl in bestimmten theol. Traditionen (Indien) als auch in abgesunkenem volkstümlichem Brauchtum kann sich das O. von dem Gedanken lösen, Gabe an ein Gegenüber zu sein, und zu einer rituell (magisch) inszenierten Erneuerung der kosmischen Ordnung im

Im Fragehorizont einer Hermeneutik des O.s unterscheidet J. Henninger (ausgehend von Theorien über den Ursprung des O.s) 5 sieben Aspekte: das O. ist (1) Gabe, die um Gegengabe bittet (Ε. B. -> Tylor: Bestechungsgeschenk 6 , besser W. H. Schmidt: Anerkennungsgabe 7 ); (2) Ausdruck einer Gemeinschaft oder sogar Verwandtschaft (-• Totemismus) zwischen Mensch und Numen (W. Robertson Smith 8 ); (3) Bindeglied zwischen Diesseits und Jenseits, in welchem sich die Gesellschaft symbolisch darstellt (H. Hubert/M. Mauss 9 ); (4) magisches Ritual, das dem Erwerb von ,Mana' diene und die ,Lebenskräfte' im Fluß halte (G. van der Leeuw 10 ); (5) rituelle Wiederherstellung einer ,Urzeit' (Α. E. Jensen 11 ); (6) Angstreaktion als neurotische Verarbeitung von ,Erfolg' bei der Jagd, im Ackerbau etc. (psychopathologische Erklärung in der Nachfolge S. -» Freuds: V. Lanternari 12 ) und (7) ritualisierte Bewältigung innergesellschaftlicher Gewalt (R. Girard 13 ). Diese Ansätze treffen je nur Teilbereiche und sind insofern komplementär 14 . Das O. in seiner Vielfalt drückt Dank und Ergebenheit, Bitte und Klage, Sühne und Versöhnung bzw. archaisch Beschwichtigung aus, es wendet apotropäisch böse Geister

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ab und stiftet Gemeinschaft. Als gemeinsames Mahl zwischen Göttern und Menschen hat es unter Umständen zentrale Bedeutung für die Selbstdefinition einer kultischen bzw. nationalen Gemeinschaft (Teilnahmeregeln)15. Zu unterscheiden ist weiter zwischen sakralisierenden und desakralisierenden O.n sowie zwischen blutigen und unblutigen. Der verbreitete magische do-ut-des- bzw. do-quia-dedisti-Gedanke steht ideengeschichtlich nicht am Anfang, sondern stellt bereits eine Rationalisierung dar 16 . Die archaische Idee, das O. ernähre die Gottheit oder führe ihr Macht zu, kann als -> Survival mit jüngeren Ideen koexistieren (so in Mesopotamien) bzw. in eine kosmologische Neuinterpretation einfließen: das aztek. -> Menschenopfer 17 will den Lauf der Sonne rituell erneuern. Im Erstlingsopfer (Primitialopfer, schon von Piaton, Leges 6, 782 C für den ältesten O.typ gehalten; Erster, Erstes, Zuerst), welches zahlreiche abgeschwächte Ersatzrituale kennt, trifft sich die Anerkennung eines Besitzrechtes des Numens an den Gaben der Natur mit der Furcht vor -» Tabuverletzung (Israel, Griechenland). Ähnliches gilt für das verbreitete Stehenlassen einiger Ähren 18 und andere Bräuche. Eine Universalie der Religionsgeschichte ist die Idee, ein O. repräsentiere ein .höherwertiges', eigentlich angemessenes O. 19 Pelopidas opfert vor der Schlacht bei Leuktra ein blondes Füllen statt der gebotenen blonden -> Jungfrau. Kostbare Tiere werden durch billigere ersetzt (daher opfern Jesu Eltern ein paar Tauben statt eines Schafes [Lk. 2,24]; cf. Lev. 12,8 und 5,11). Das O.tier kann durch Gebildbrote, Imitationen aus Papier (China), Maismehlfiguren (Mexiko) oder Geld 20 ersetzt werden. Auch Lazerationsriten sind Ersatzopfer, ebenso das verbreitete Haaropfer am Beginn der Pubertät, vor der Eheschließung etc. Substitut ist in gewisser Hinsicht auch die Ethisierung des O.s. Oft ist das O. Teil eines größeren Bedeutungszusammenhanges (Übergangsriten, Eröffnung eines Festes, Einweihung21 etc.), innerhalb dessen seine spezifische Funktion jeweils zu bestimmen ist. Dabei sind die sozialen und wirtschaftlichen Bezüge zu beachten (etwa wenn das O. der Ernährung einer Priesterkaste dient). Nicht übersehen werden dürfen die exzessiven O.feiern mit Hunderten, ja Tausenden

von O.tieren, die es in zahlreichen Hochkulturen (Rom, Mexiko, Indien) als Höhepunkte des religiösen und gesellschaftlichen Lebens gegeben hat 22 . Das O. kann stellvertretend für den Opfernden stehen. Aber auch die Gottheit selbst kann eigentlicher Gegenstand des O.s sein und sich in diesem vergegenständlichen (ind. Soma-O., Omophagie der Dionysien, christl. Eucharistie; oft bezeugt in mesoamerik. Traditionen). Immer steht die O.materie in einem Bezug zum Numen, dem geopfert wird (daher chthonische Tiere wie der Hund als O. für die Unterweltsgöttin Hekate etc.). Häufig ist die Fiktion, das O.tier stelle sich freiwillig zur Verfügung (Porphyrius, De abstinentia 2,9). Gewisse hist. Regelmäßigkeiten lassen sich beobachten: Das Ritual ist stabiler als seine Deutungen. Es kann also wechselnde Bezüge im umgebenden Symbolkosmos aufnehmen. Zugleich provoziert sein Sinnüberschuß immer neue Deutungen (das Ritual hat grundsätzlich mehr Symbolbezüge als seine Interpretation). In den meisten Religionen wird zu einem bestimmten Zeitpunkt die Ethik programmatisch für der rituellen O.handlung überlegen erklärt 23 bzw. der O.begriff verinnerlicht. Doch führt dies nur in wenigen Religionen zur faktischen Abschaffung des O.s. Sehr oft folgt auf eine programmatische Infragestellung eine Wiedereinführung in abgeschwächter Form, als metaphernspendender Bereich, oder in opferähnlichen Riten, die im volkstümlichen Glauben den Platz von O.n einnehmen (Christentum, Buddhismus). Der Islam hat das altarab. O.wesen strikt marginalisiert24, doch spielen Votivgaben und ähnliches im Volkskult eine große Rolle. 3. H i s t . Ü b e r b l i c k 3.1. S c h r i f t l o s e v o r m o d e r n e K u l t u r e n . Schon alle schriftlosen vormodernen Kulturen kennen O.handlungen 25 . Meist sind es Haustiere, die geopfert werden, aber auch Erstlinge der Jagd, daneben Früchte, Getreidegaben etc. Mythische Erzählungen verknüpfen diese O. mit der Urzeit (cf. Kap. 5)26. Häufig sind die O. sehr bescheiden: im melanes. Raum begnügen sich die Ahnengeister mit dem Duft der geopferten Schweine27. Öfters ist das getötete Tier Sendbote zu Göttern und Ahnen (Bärenritual der Ainu).

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3.2. Alter O r i e n t . In Ägypten28 gilt das O. ,dynamistisch' als Übermittlung von Kraft an das Numen. O.herr ist primär der Pharao, als dessen Stellvertreter der lokale Priester handelt (ähnlich bringt im klassischen China nur der Kaiser dem Himmelsgott O. dar 29 ). Der Gedanke einer Gemeinschaft mit den Göttern tritt in den Hintergrund, zumal viele O. nichtöffentlich sind. Die ägypt. O.mythologie berührt sich eng mit der Königsmythologie. Im mesopotam. Raum dient das O. neben den persönlichen und staatlichen Belangen der kosmischen Erneuerung 30 . 3.3. I n d o i r a n . Bereich. Schon die alten ide. Sprachen besaßen eine reiche O.terminologie31, wenn auch wohl keinen präzise dem Wort O. entsprechenden Zentralbegriff 32 . Im indoiran. Bereich wird das O. vor allem mit kosmologischer Symbolik aufgeladen. Im Iran kann sowohl die Protologie als auch die Eschatologie mit O.metaphorik beschrieben werden 33 . Eine Adaption iran. Ideen an griech.-platon. Mysterienfrömmigkeit stellen die Mithrasmysterien dar, deren zentrales Symbol die Darstellung eines kosmogonischen Stieropfers durch den Gott Mithras ist34. Der Zoroastrismus lehnt die blutigen O. ab. In Indien entsteht die Welt aus der freiwilligen Opferung und Zerstückelung des Urriesen Pürusa bzw. Prajapati, einer an den germ. Ymir oder den chin. P'an-ku erinnernden Gestalt (Rgveda 10,90, zugleich Ätiologie des Kastenwesens; Satapatha-Brähmana 11,1,8)35, die später mit dem zyklischen Jahr, dem Universum, aber auch dem Feueraltar identifiziert wird. Die immense Bedeutung des O.wesens erhellt nicht zuletzt aus der Tatsache, daß die älteste sakrale Lit. Indiens weithin O.literatur ist (Hymnen und Ritualanweisungen)36. Unterschieden werden seit alters grhya-O. (im familiären Rahmen: meist kleinere Milch- und Getreidespenden in das O.feuer) sowie srautaO. (die auf den Veden basierenden großen Festopfer, die mit beträchtlichem Kostenaufwand oft von mehreren Priestern nach komplexem Ritual ausgeführt werden, wobei der finanzierende Auftraggeber oft nur eine bescheidene Funktion hat). Im heutigen Indien spielen letztere nur noch eine geringe Rolle; die meisten O. sind grhya-O. Einzelne Riten können in ide. Zeit zurückgeführt werden,

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u. a. Teile des berühmten asvamedha, des kgl. Pferdeopfers 37 . Empfanger von O.n sind neben den Göttern vor allem die Ahnen. Das sehr wichtige O. des (oft personifizierten) kultischen Rauschtrankes Soma ist zumindest indoar. (avestisch Haoma), ebenso die Bedeutung des O.feuers (Agni). Ätiologien erzählen vom Ursprung des O.s oder einzelner O.typen. Hinduist. Theologie hat das O. zum fundamentalen kosmogonischen und kosmologischen Geschehen aufgewertet, das tief mit dem Bestand des Universums verwoben ist (auch die Götter sind Opfernde). Seit alter Zeit kann die Askese metaphorisch als O. erfahren werden, wobei der Asket unter Umständen zugleich Opfernder und in seinem göttlichen Selbst (Atman) O.empfänger ist. Im Karmayoga der Bhagavadgita fallen O., Bhakti und Yoga zusammen. Die Zahl der ErzählstofFe um das O. ist Legion. Buddha hat die O. seines brahmanischen Umfeldes scharf kritisiert und das Erlösungsstreben des Mönchs für allen O.n überlegen erklärt 38 . Zahlreiche buddhist. Legenden setzten diese Kritik fort, oft mit satirischen Obertönen. Ein Beispiel ist die verbreitete Erzählung vom König und dem armen Mann mit einer schönen Frau (Dhammapadatthakathä 5,1) aus dem 5. Jh. (cf. AaTh 465: Mann wird wegen seiner schönen Frau verfolgt)7'9. 3.4. G r i e c h e n u n d Römer 4 0 . Schon -> Homer bietet reiches Anschauungsmaterial. Für Piaton (Euthyphron 14 CD) sind Gebet und O. die religiösen Zentralakte. W. Fauth 41 unterscheidet Dank-, Bankett- und Mahlopfer, Kommunikativopfer (etwa Haar- und Kleideropfer), kathartische O., Sühn-, Erstlings·, Schwur- und Devotionsopfer, Totenspeisungen, Votivopfer, Diabateria (beim Überschreiten einer Grenze) sowie mystische Kommunionsopfer (Taurobolien), die es oft sowohl in blutiger als auch in unblutiger Form (Kuchen, Brot, Getreide u. a. Naturalien) gegeben hat. Den Totenseelen etc. werden Grubenopfer dargebracht (literar. Schilderung: Homer, Odyssee 11, 20-50). Das O. kann begleitet werden von divinatorischen Akten, die vor allem in Etrurien und dann Rom zentrale Bedeutung für politische und militärische Entscheidungsfindungen haben (Eingeweideschau etc.; Divination) 42 . Die Libation (Trank-

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opfer) gehört zum antiken Alltag und steht oft am Anfang einer Handlung (Mahlzeit, Reise). Wichtig sind O. auch im Heroenkult. Menschenopfer gab es nur in älterer Zeit in extremen Notsituationen 43 . Erzählstoffe, die O.praktiken thematisieren, sind AaTh 899: Alkestis (vergessenes O.44); O. an die Unterirdischen (-• Odysseus); AaTh 425 sqq.: Amor und Psyche45; Selbstopfer eines Feldherren an die Di manes und Tellus: devotio (Livius 8,9 sq.)46; Iphigenie47; Laokoon; Prometheus (-» Feuerraub); die Götter aßen früher gemeinsam mit den Menschen, heute aber nicht mehr (-• Tantalus; Theoxenie) etc. 3.5. Α. T. Das Alte Testament48 kennt sowohl Spuren familiärer O.bräuche als auch organisierten O.kult als Teil der offiziellen Jahwe-Religion (Hauptquelle: Lev.). Haupttypen lassen sich sowohl nach O.art als auch nach dem Zweck unterscheiden, ohne daß es eine klare Systematik gegeben hätte: Schlachtopfer (nur Innereien werden für Gott verbrannt; der Rest von der Kultgemeinde gegessen), Brandopfer (Ganzopfer, sonst nur bei anderen Westsemiten und Griechen üblich), Speise-, Sünd-, Schuldopfer (der Unterschied konnte bis heute nicht wirklich geklärt werden), Räucher-, Trank-, Dankopfer (spät) etc. Drei Motivfelder überlagern sich: Das O. ist Gabe (Dank, Bitte, Tribut), Ausdruck der Mahlgemeinschaft zwischen Gott und Mensch (Ex. 24,9-11; Dtn. 12,5-7) und Sühnemittel (wobei Gott Subjekt, nicht Objekt der Sühne ist). Wie überall wandeln sich die Riten langsamer als die begleitenden Theologien. Die Bindung an Priester und Jerusalemer Tempel — die sich erst nachexilisch völlig durchsetzte — bedeutet einen gewaltigen Akt religiöser Zentralisierung. Grundsätzlich wird das -· Brot, Wein und -» Kerzen sowie Privatmessen den Armen Seelen im ->• Fegefeuer zugute kommen.

Gegenüber eher spekulativen und methodisch problematischen Ansätzen in der klassischen Psychoanalyse63 haben neuere Richtungen der Tiefenpsychologie verschiedene Beitr.e zur Psychologie des O.s geleistet64, ohne sich zu einer umfassenden Theorie zu verdichten. Das elaborierte, ängstlich gehütete O.ritual der Römer ζ. B. kann plausibel als Ausdruck eines ,zwangsneurotischen' Aspekts röm. Religion gelten. Solche Beobachtungen können aber nicht verallgemeinert werden. Psychoanalytische und strukturalistische Gesichtspunkte verbindet der Ansatz von R. Girard, demzufolge das O. ein Modus der kathartischen Verarbeitung und Kanalisierung von gesellschaftlicher Gewalt ist65. Dabei wird allerdings der Sündenbockgedanke überbewertet. Auch die Religionsphilosophie hat über das O.wesen reflektiert 66 .

Die verschiedenen Richtungen des Protestantismus sind sich einig in der rigorosen Ablehnung des Meßopfergedankens, der als .vermaledeite Abgötterei' (Heidelberger Katechismus, Frage 8061) gilt. Daraus resultiert ein Traditionsabbruch für alle Erzählstoffe um das Meßopfer. Andererseits beflügeln ethnol. O.berichte (Mexiko etc.) ab dem 16. Jh. die europ. Phantasie, woraus sich neue Erzählstoffe entwickeln (das verhinderte Menschenopfer — auch im Märchen bekannt — wird ein zentrales Motiv der trivialen Reise- und Abenteuerliteratur des 19. und 20. Jh.s). 4. N e u e r e sozial- u n d k u l t u r a n t h r o p o l . A n s ä t z e zu einer v e r g l e i c h e n d e n T h e o r i e des O.s. Methodische Neuansätze zum Verständnis des O.s im 20. Jh. entstammen vor allem der Soziologie, der Psychoanalyse, dem Strukturalismus und der hist.-biologischen Verhaltensforschung. Am Beginn neuerer O.theorien steht der Verzicht auf die

Für die Frage nach der Vorgeschichte des O.s spielen verstärkt Gesichtspunkte aus der hist.-vergleichenden Verhaltensforschung und der biologischen Anthropologie eine Rolle, nach denen O.handlungen die Fortsetzungen stammesgeschichtlich dem Menschen vorgegebener Verhaltensmuster sind. Hauptvertreter dieser Forschungsrichtung ist W. Burkert 67 . Dieser innovative Ansatz verdient sorgfaltige Beachtung, bedarf aber auch weiterführender Materialsichtung und Reflexion. Das Erstlingsopfer ζ. B. verhindere Rangrivalitäten um das erste Stück der Mahlzeit. Nicht alle Bezüge sind plausibel (Libationen ζ. B. — meist mit Wein, bei den Germanen 68 auch mit Bier - seien die Fortsetzung von Territorialmarkierungen durch Urin). In dieser Fragestellung wird ein Ansatz in die Vorgeschichte des Men-

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sehen hinein fortgesetzt, der seinen klassischen Ausdruck 1946 in einer ungemein einflußreichen Studie von K. Meuli69 gefunden hat. Meuli hat die griech. Opfersitte, den Olympiern nur etwas Fett und Knochen zu überlassen', aus dem Ritus paläolithischer Jäger erklärt (-• Jägerzeitliche Vorstellungen). Chthonische Vernichtungsopfer hat er u. a. aus der Psychologie von archaischen Trauerbräuchen abgeleitet. 5. V o l k s t ü m l i c h e O. Vorstellungen. Zahlreiche Erzählungen verwurzeln das O. in einem mythischen Urzeitgeschehen, welches rituell vergegenwärtigt wird (cf. Kap. 3.3). Dem entspricht in archaischen Pflanzergesellschaften ein Erzähltyp vom freiwilligen Selbstopfer eines,göttlichen Mädchens', aus dessen Körper die Nutzpflanzen entstehen (Typ Dema-Gottheiten; -> Demiurg)70. Auch sonst kennen die meisten Religionen Erzählungen über den Ursprung von O.handlungen (Mot. A 1545) bzw. einen ersten Opfernden, so Enoch bzw. Noah in Israel (Gen. 4,26; 8,20—22) oder Vivahvant, den Vater des Yima im Iran (Yasna 9,3—5), bzw. Vivasvant, den Vater des Yama in Indien. Griech. Opferbrauch beim Schlachtopfer wird bei -» Hesiod (!Theogonie, 535—560) auf einen Betrug des Prometheus an Zeus zurückgeführt (cf. eine ähnliche röm. Sage über Numa und Jupiter: Ovid, Fasti 3, 291-350; - Plutarch, Numa, 15; Arnobius 5,1). Viel Beachtung fand in der Forschung Erzählgut über die Substitution eines O.typs durch einen anderen (Mot. Κ 1853), ζ. Β. eines blutigen durch ein unblutiges O. (Maismehlfiguren in Mexiko) oder bes. eines Menschenopfers durch ein Tieropfer. Die beiden klassischen Beispiele sind der IphigenieStoff sowie die Isaak-Geschichte (Gen. 22). Im Kontext des Alten Orients wird zum Ausdruck gebracht, daß der Gott Israels im Unterschied zu den Göttern der Umwelt kein Menschenopfer wünscht (der Text wird regelmäßig mißverstanden) 71 . Absichtliche leichtsinnige Verletzung des O.rituals konfrontiert den Menschen mit der Gefährlichkeit des Heiligen (Num. 16 sq.; Lev. 10,1 -7) 7 2 . Schon J. Grimm wollte in zahlreichen Sagen und Märchen einen Nachhall altgerm. O.bräuche finden (-»· Mythol. Schule)73. Manche verschiedenerseits vorgeschlagenen Bezie-

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hungen waren abwegig74. Bräuche, die den modernen Betrachter an O.handlungen erinnern, müssen nicht hist, von solchen abstammen. Andererseits werden die paganen O. und ihr Zubehör (O.stätten) im Christentum dämonisiert, woraus zahlreiche Ortssagen resultieren 75 . In die Moderne ragt das gesamte Motivfeld des O.s als ein Survival, welches mit seiner archaischen Verbindung von Gewalt, Hingabe und Selbsthingabe, Gabe und Gegengabe eine Einbindung des Menschen in den Kosmos vollzieht, welche die neuzeitliche Domestikation des Religiösen nicht weniger in Frage stellt als umgekehrt. 5.1. B r ä u c h e . Am Ende des 19. Jh.s führten die volkskundlich-mythol. Forscher zahlreiche zeitgenössische Brauchhandlungen auf vorchristl.-heidnische O.rituale zurück. Mannhardt widmete einen Großteil seiner Unters.en den Bräuchen um die letzte Ähre bei der Getreideernte, die er als O. für Fruchtbarkeitsdämonen interpretierte 76 . Für U. Jahn war nicht nur das gesamte Brauchtum um das Erntedankfest primär eine Art O.ritual, sondern auch sonst fast jeder nur mögliche Brauch, jede Prozession, jede kirchliche Benediktion, jedes brauchtümliche -* Feuer etc. Die gebratene Gans zum Martinstag (Hl. -> Martin von Tours), die zu Weihnachten geschlachteten Schweine galten ihm als Reste altgerm. Götteropfer. Jahns erklärtes Ziel war es, das gesamte sakrale Kultwesen des dt. Altertums aus den rezenten Qu.n des noch lebenden Brauchtums zu rekonstruieren 77 . Der Arzt M. Höfler hat um die Jh.wende in zahlreichen Abhandlungen die mannigfaltigen Brauchtumsgebäcke in Verbindung mit ehemals sakralen O.riten zu bringen versucht; bes. etwa tiergestaltige Gebildbrote waren für ihn Teigopfer — Substitute und Reste ehemals blutiger O.rituale 78 . Auch andere Brauchkomplexe, bes. aus dem religiösen Bereich des Votivbrauchtums, wurden unter dem Begriff O. subsumiert: Bei -» Krankheiten von Mensch und Vieh wurden plastische Nachbildungen oder Abbilder (in Holz, Eisen oder Wachs) des kranken Körperteils der hilfesuchenden Person oder eines Tieres, sog. Identifikationsopfer, bei einem Gnadenbild deponiert 79 . Ebenso spielt die Opferung von Kerzen im Votivbrauchtum eine vielfältige Rolle. In diesen

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Kontext gehören letztlich alle zur -» Erlösung der Armen Seelen aus dem Fegefeuer gespendeten O. (Seelgerät) 80 . Diese Vorstellungen spiegeln sich auch in entsprechenden Volkserzählungen (ζ. B. AaTh 778, 1553 A*: Geloben der großen -* Kerze) und erzählenden Liedern. Das Legendenlied Es reisen drei Seelen wohl aus von der Pein handelt ζ. B. von drei ziellos umherirrenden armen Seelen, denen Maria verspricht, sie vor die Himmelstür zu führen. Dort lehnt Jesus ihre Aufnahme ab: die erste habe einen Priester geliebt, die zweite ihr Kind verdorben, die dritte ihren Ehemann verlassen. Da entgegnet Maria, die erste Seele habe ihr jedes Weihnachtsfest drei Groschen auf den Altar gelegt, die zweite jeden Lichtmeßtag drei Kerzen geopfert, die dritte jede Samstagnacht drei Kerzen angezündet. Jesus läßt die Seelen eintreten81. Im Fall des Exempels vom verschütteten und für tot gehaltenen Bergmann kommt das von seiner Frau für die arme Seele des vermeintlich Verstorbenen gespendete Meßopfer von Brot, Wein und Kerzenlicht dem Unglücklichen unmittelbar zugute und rettet so ein volles Jahr sein Leben82. 5.2. S a g e n . Sagen erzählen aus vorchristl. Zeit von zumeist nicht mehr überprüfbaren O.handlungen. Oft knüpfen sie ätiologisch an bestimmte große -+ Steine, Felsen, Höhlen, Vertiefungen in Felsen (,Blutrinnen') oder andere Lokalitäten an, die als heidnische O.altäre gedeutet werden 83 . Von O.n der Heiden ist in zahlreichen Sagen die Rede 84 . Heiden opfern ζ. B. einen goldenen Widder 85 , und auch Riesen sollen ihren Göttern O. dargebracht haben 86 . Fallen solche Mitteilungen in den Bereich mythol. Spekulationen, die freilich als Rückfluß (pseudo-)gelehrter Meinungen durchaus auch aus dem Mund von Gewährsleuten und Erzählern aufgezeichnet werden können, so gibt es in dämonologischen Sagen doch auch zahlreiche ernstzunehmende Berichte von Gaben an die unterschiedlichsten jenseitigen Wesen 87 : Geister verlangen O. in bestimmten Nächten. Mit Tieren sucht man Viehseuchen zu bekämpfen; ζ. B. wurde ein neugeborenes gesundes Kalb lebendig eingegraben, damit ein Viehsterben ein Ende nähme. Manchmal ist es aber auch das wertvollste Tier der Herde, ζ. B. der Zuchtbulle, der geopfert wird88. Tieropfer gab es bei der Errichtung eines Hauses89, Pferde-, Ochsen- und Widderschädel, die über den Stalltüren angebracht wurden, galten als Schutzmittel gegen Seuchen90. Mit bestimmten O.gaben wie Brot, Schnaps oder Tabak für den -> Herrn der Tiere sichert sich der Jäger in schwed. Sagen den Jagder-

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folg. Beerensammler drückten die ersten Beeren auf einen Stein als O. für den Waldgeist91. Dem Wilden Jäger oder dessen Hund müssen bestimmte Speisen hingestellt werden (-> Wilde Jagd). Der Wilde Jäger nimmt alle Jahre ein Rind, die beste Kuh etc.92 Zuweilen läßt er seinen Hund für die Dauer eines Jahres zurück, und dieser muß so lange gefüttert werden93. Wer vom Alp heimgesucht wird, kann sich von diesen lästigen Bedrängnissen retten, wenn er als Ersatzopfer ein Tier — meistens das wertvollste im Stall - anbietet94. Die Erlösung des albenden Menschen geschieht oft durch ein Hilfsangebot eines Mitleidigen, das man durchaus als O. auffassen kann. Als Dämonenopfer (-• Dämon) muß man es betrachten, wenn Leute, die an einem Zwergenloch vorbeigehen, einen Stein hineinwerfen95. Ähnliche Steinopfer gibt es auch im Kontext anderer jenseitiger Gestalten: An eine bestimmte Stelle eines Weges werfen alle Vorbeigehenden einen Stein, damit ihnen nichts von den Wilden Fräulein geschehe96. Um lebensgefahrliche Übergriffe dämonischer Wesen zu vermeiden, gibt es auch Sprüche, die tierischen Ersatz versprechen97. Bes. im Beziehungsgefüge zwischen Hausgeist und Mensch gibt es gewisse rituell übliche Gaben, die man als O. bezeichnen kann, vor allem bestimmte Speisen wie Milch, Brei, Grütze, Brot, Kuchen, Bier, Essensreste. Diese Speisen werden den Hausgeistern immer an einem bestimmten Ort im Haus hingestellt98. Wenn das regelmäßige O. vergessen wird, so nimmt sich der Hausgeist oder Kobold ein Stück Vieh oder rächt sich auf andere Weise. Der schwed. Nisse bekommt Käse und Brotrinden, die ihm unter den Tisch geworfen werden99. Speiseopfer an die Perchten sind die sog. Perchtenmilch und ,Klötzenbrot', Dörrobst und 100 Mehlspeisen . Speisespenden erwartet auch die Hausschlange, damit sie dem Hause Glück und Segen bringe und erhalte (cf. AaTh 285: -» Kind und Schlange)101. Schließlich muß bei vielen Völkern den Schicksalsfrauen eine Bewirtung hingestellt werden, damit sie dem neugeborenen Kind ein günstiges Geschick verheißen102. Desgleichen bedingt eine erfolgreiche -» Schatzhebung gewöhnlich eine O.gabe, wobei der -> Teufel als Empfänger gedacht ist. Er verlangt für den Schatz eine Seele, einen der Schatzheber, ein Kindesopfer, einen schwarzen Bock oder einen schneeweißen Hahn. Jeder Zehnte oder auch jeder Dreizehnte, der auf der Suche nach Schätzen in den Berg geht, muß darin bleiben103. Nicht nur Sagen, sondern auch reale Bräuche sprechen von O.n an die Elemente. Dabei werden etwa Wind, Wasser und Feuer mit O.gaben ,gefüttert'. Brauchmäßige Feuer wie Notfeuer, Hagelfeuer, in die etwas geworfen wird, haben den Zweck, drohendes Unheil abzuwenden. Für den Wind wird eine Handvoll Mehl aus dem Fenster oder über das Hausdach geworfen, oft verbunden mit bestimmten Dedikationsversen wie „Leg dich, lieber Wind,

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bring das deinem Kind" oder „Wind oder Windin, hier gib ich dir das Deine, laß du mir das Meine" 104 . Nirgends sonst wird das do-utdes-Prinzip der O.gabe so deutlich formuliert. Vor allem Flüsse und Seen (-• Wassergeister) fordern von Zeit zu Zeit ihre O.: Jedes Jahr holen sich Lahn, Fulda, Ruhr, Elbe, Saale und Unstrut einen Menschen (-» Fluß) 105 . Jedes Jahr wird dem Wallersee ein Ring geopfert, um zu verhindern, daß er ganz Bayern überschwemmt106. Noch als das erste Dampfschiff die Donau hinauffahren sollte, meinten die Leute, daß es alle Tage einen Menschen zum O. brauche 107 . Der Johannistag gilt zumeist als derjenige Tag, an dem nach dem Volksglauben Flüsse und Seen ihr O. heischen. Genau auf Tag und Stunde, an dem der Fluß oder See sein O. verlangt, läßt sich eine unsichtbare Stimme mit dem Ruf vernehmen: ,Die Stunde ist da, aber der Mensch will nicht kommen' (Mot. D 1311.11.1). Der Nächste, der nun in die Nähe des Gewässers kommt oder gar aus dem Fluß oder See trinkt, findet dabei den Tod108. Daß auch das Meer O. verlangt, ergibt sich bereits aus der bibl. Erzählung vom Propheten -» Jonas wie aus dem internat. Balladentypus von Herrn Peters Seefahrt und seinen Var.n (AaTh 973: -> Mann als Sturmopfer).

Es ist interessant, daß in all diesen Erzählstoffen der Mensch — vom Standpunkt des O.empfängers aus gesehen — ein -» Frevler ist: Der Mensch, der gotteslästerlich an Pfingsten über die Elbe schwimmt, am Karfreitag fischt, wird von den Wogen verschlungen und ertrinkt, weil er den christl. Feiertag nicht eingehalten hat. Von einem Bauopfer kann man sprechen, wenn bei der Grundsteinlegung von Häusern, Kirchen, Brücken und Deichen bestimmte Gegenstände, Tiere oder gar Menschen (lebendig) eingemauert wurden, was sich als dramatischer Bericht in zahlreichen Bauopfersagen niedergeschlagen hat (-+ Einmauern). Indem man den dämonischen Eigentümern des Grunds und Bodens, auf dem das Bauwerk errichtet werden soll, opfert, entschädigt man sie und erkauft sich damit die Erlaubnis zur Errichtung des Bauwerks 109 . Schon in der antiken Welt war man der Ansicht, daß ein Haus, eine Brücke oder ein Damm nur dann haltbar sein würde, wenn ein vernichtetes Leben darunter läge110. Bei Abbrucharbeiten oder Sanierungen von Altbauten kommt es vor, daß sog. Fundamentopfer zutage treten, die oft nicht als solche erkannt werden111. In rudimentären Formen leben die Bauopfer in den Bräuchen der Grundsteinlegung bis heute fort.

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Es gab Menschenopfer schließlich noch anläßlich von Seuchen, bes. der Pest112. Die Wirkung des O.s hängt ganz entscheidend vom Wert des Geopferten ab. Bei Menschenopfern darf es nicht etwa ein Krüppel oder Bettler sein. Das O. soll vielmehr das Beste und Wertvollste sein, das der opfernde Mensch besitzt, ζ. B. die schönste Jungfrau, das einzige Kind, das Liebste, Reinste, Wertvollste. Das Kind als unschuldiges und schutzloses Wesen ist geradezu prädestiniert für eine O.rolle: Abraham ist bereit, seinen Sohn Isaak zu opfern, und Jephtha gelobt unwissend seine einzige Tochter. Eine Ablösung und Abschwächung des Menschenopfers zu einem Ersatzopfer wird in vielen Sagen deutlich: Statt eines Menschen wirft man ein Kleidungsstück, ein Geldstück, ein Tier, einen Laib Brot oder auch nur ein paar Brotbrösel ins Wasser113. Anstelle des menschlichen Bauopfers genügt schließlich ein Hund, eine Katze oder eine Flasche Wein. Durch die dingliche Ablösung des Menschenopfers wird das O. zu einem vertraglichen Handel und schließlich zu einem bloßen Scheinopfer. Tierische Ersatzopfer werden gelegentlich nach ihrem Wert abgestuft: „Willst du den Mann, ich geb dir den Hahn, willst du unsere Kinder lassen leben, so will ich dir alle Hühner geben." 114 In den Schwänken vom geprellten Teufel oder Riesen als -• Baumeister wird statt des ersten Menschen, der das Bauwerk betritt, ein Hund oder Hahn vorgeschickt, wodurch der dämonische Bauhelfer um den von ihm erhofften Lohn betrogen wird (cf. AaTh 1191: -> Brückenopfer, -> Teufelspakt).

5.3. M ä r c h e n . Während Sagen meist von faktisch vollzogenen O.n sprechen, geht es im Märchen um glücklicherweise verhinderte O. Allerdings haben O. im Märchen in der Regel mehr Gewicht. In AaTh 300: cf. ->• Drache, Drachenkampf, Drachentöter und ebenso in der Legende vom hl. -» Georg verlangt ein Drache in regelmäßigen Zeitabständen (täglich, jährlich) die Auslieferung eines Menschen, meist einer Jungfrau. Als schließlich die Königstochter an der Reihe ist, geopfert zu werden, wird sie vom Helden befreit, der den Drachen tötet. Die Königstochter bleibt vor dem O.tod bewahrt, doch ihre unglücklichen Vorgängerinnen wurden tatsächlich dem Drachen zum O. gebracht, auch wenn ihnen die Märchenerzählung keine Aufmerksamkeit mehr schenkt.

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Die Opferung eines Kindes geht ebenfalls heute jedoch allg. als überholt angesehen werauf religiös-mythische Wurzeln zurück (Abra- den. ham, Jephtha), ist im Märchen jedoch meist O.bereitschaft bis zur Selbstaufopferung zu einer bloßen Spannungsformel entwirk- fordert das Märchen von seinen Helden und licht, wobei das zu opfernde Kind dem noch öfter von seinen Heldinnen. Glücksverlangen der Gattung entsprechend Die junge Königin in AaTh 451: —» Mädchen sucht gerettet wird. Das gleiche gilt für die (meist seine Brüder ζ. B. könnte sich vom Feuertode auf unwissentliche) Überantwortung eines noch dem Scheiterhaufen retten, wenn sie sich redend verteidigte, aber die Erlösung ihrer zwölf Brüder steht Ungeborenen an ein übernatürliches Wesen (-+ Kind dem Teufel verkauft oder versprochen), ihr höher als ihr eigenes Leben. In KHM 25 (AaTh die religionsgeschichtlich mit dem Motiv des 451) muß die Heldin sich einen Finger abschneiden, um damit das Tor zum Glasberg zu öffnen und ihre Erstlingsopfers zusammenhängen könnte. Wo in Raben verzauberten Brüder zu erlösen (-• Kleiner ein Ehepaar tatsächlich seine Kinder zum O. Fehler, kleiner Verlust). In AaTh 1137: cf. -> Polybringt, um mit ihrem Blut den treuen Freund, phem opfert der Held den Finger mit dem daran festder sich zuvor selbst aufgeopfert hatte, aus sei- sitzenden Ring, der ständig .Hier bin ich!' ruft, und Leben (-» Selbstschädigung, Selbstverner Steinverwandlung zu erlösen, werden die rettet so sein 120 stümmelung) . Wenn in den TierbräutigammärGetöteten sogleich wieder zum Leben ge- chen (cf. AaTh 425 A + C: cf. -> Amor und Psyche) bracht (AaTh 516: Der treue -* Johannes; die jüngste Tochter sich wegen der Schuld ihres VaAaTh 516 C: -+ Amicus und Amelius; Kin- ters dem Untier ausliefert, könnte man ebenfalls von derblut) 115 . Die bloße O.bereitschaft genügt einem O. sprechen. auch in manchen Var.n des Märchens vom Niemals genügt im Märchen nur eine äußerDankbaren Toten (AaTh 505—508), wenn dieliche O.gabe oder gar ein Ersatzopfer, sondern ser vom Helden verlangt, die mit seiner Hilfe immer wird vom Helden bzw. der Heldin die gewonnene Braut solle geteilt werden. Die ganze Selbsthingabe gefordert. Nicht,Kleider, Frage, wie weit O.bereitschaft unter Freunden geht, wird in zahlreichen Märchen gestellt Perlen, Edelsteine oder die goldene Krone' will Froschkönig (KHM 1, AaTh 440), son(AaTh 893: -+ Freundesprobe·, -* Bewährungs- der dern die Hingabe des Mädchens selbst. Selbstproben). Dem Beispiel der O.bereitschaft wird das der Selbstsucht gegenübergestellt (ζ. B. opferung begegnet auch im christl.-religiösen Erzählgut (-* Christi. Erzählstoffe). Im AaTh 612: Die drei -* Schlangenblätter). Physiologus öffnet sich der Pelikan seine Bei verschiedenen Märchenmotiven hat Brust, um seine Jungen mit seinem Blut zu man O.handlungen als kulturhist. Hinter- nähren — ein Emblem für den O.tod Christi. grund angenommen (-• Kulturhist. Züge). So Analog hierzu opfert in der bret. Ballade die hängt ζ. B. das ubiquitäre Motiv der Wie- hl. Azenor ihre Brust, um ihren Vater von eiderbelebung aus Knochen mit jägerzeitlichen nem Schlangenparasiten zu erlösen, und erhält Jagd- und O.ritualen zusammen 116 . Um O.ru- dafür eine goldene Brust (-» Kelt. Erzählgut, dimente handelt es sich auch bei dem Motiv Kap. 4.3). der Zeugungsweihe im Märchen (Kind dem Der dt. Begriff O. umfaßt auch ,passive' O., Teufel verkauft oder versprochen)117. Mögli- wie die Ausdrücke Kriegsopfer, Verkehrsopfer, cherweise spiegeln auch bestimmte Märchen- O. des Faschismus oder O. einer Schiffskatastrafen ältere Formen sakraler O.118 Der strophe, einer Seuche, einer Sturmflut, eines Rechtshistoriker K. von Amira 119 betrachtete Erdbebens zeigen. In Sagen kann ein Mensch viele grausame oder außergewöhnliche -• Stra- zum O. eines rachsüchtigen Wiedergängers, fen (-+ Grausamkeit) als Reste eines sakralen eines Vampirs, eines Werwolfs (-• WolfsVollzugs: Das Verbrennen als ein O. an den menschen), einer -» Hexe oder des Alps werFeuergott, das Hängen als ein O. an den den. Im Schwank gibt es ständig O. von BetrüSturmgott, das Rädern als ein O. an den Son- gereien (AaTh 1540: -> Student aus dem Paranengott, das Enthaupten als O. an den Blitz- dies, Eulenspiegel, AaTh 1544 A*: Genegott und das Lebendigbegraben als eine ral Gänsewitz etc.). In Tiermärchen und FaO.gabe an den genius loci. Diese Auffassung beln sind Bär und Wolf die O. des der Märchenstrafen als ,Kultstrafen' dürfte arglistigen und betrügerischen Fuchses.

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Schließlich werden auch die Märchenhelden und -heldinnen häufig zu O.n von Gewalt und Mißhandlung. Allein die K H M bieten unzählige Beispiele 121 : -> Rotkäppchen (KHM 26, AaTh 333) und seine Großmutter werden ebenso wie die sieben jungen Geißlein vom Wolf gefressen (KHM 5, AaTh 123: Wolf und Geißlein). Sneewittchen (KHM 53, AaTh 709: -> Schneewittchen) wird einem Jäger überantwortet, der es im Wald töten soll. Fundevogel (KHM 51, AaTh 313 A: The Girl as Helper [cf. - Magische Flucht]) soll das O. eines Mordanschlags werden. Der Heldin von KHM 31 (AaTh 706: Mädchen ohne Hände) werden von ihrem Vater beide Hände abgehackt. Das -» Marienkind (KHM 3, AaTh 710) wird fast auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Der Junge im Märchen vom Machandelbaum (KHM 47, AaTh 720: -> Totenvogel) wird von seiner Stiefmutter getötet und in der Suppe gekocht. -> Hänsel und Gretel (KHM 15, AaTh 327 A) werden von ihren Eltern im Wald ausgesetzt. Dort droht ihnen dann, die O. von Kannibalismus zu werden122. Die Erzählhaltung des Glücksmärchens läßt die Helden nur beinahe zu O.n werden. Vielmehr entkommen sie samt und sonders derartigen Anschlägen glücklich und ohne Einbußen an Leib und Leben. 1 Schmidt, W.: Ethnol. Bemerkungen zu theol. O.theorien. In: Jb. des Missionshauses St. Gabriel 1 (1922) 1—67; Leeuw, G. van der: Phänomenologie der Religion. Tübingen 21956, 393-406; Vorbichler, Α.: Das O. auf den uns heute noch erreichbaren ältesten Stufen der Menschheitsgeschichte. Mödling bei Wien 1956; Schimmel, A./Hentschke, R./Wendland, H.-D./Kinder, E.: O. 1 - 4 . In: RGG 4 (31960) 1637—1656; Widengren, G.: Religionsphänomenologie. B. 1969, 280-327; Baal, J. von: Offering, Sacrifice and Gift. In: Numen 23 (1976) 161-178; Eliade, M. (ed.): Geschichte der religiösen Ideen 1—3, 1/2. Fbg (1978) 31980/(79) 281/83/91, bes. t. 1, 202 -217; t. 2, 16 sq., 111 sq.; t. 3,1, 41-50; t. 4: Qu.ntexte. ed. G. Lanczkowski (1981) 178-199; Bourdillon, M. F. C. u. a.: Sacrifice. L. 1980; Henninger, J.: Sacrifice. In: The Enc. of Religion 12. Ν. Y. 1987 u. ö., 544-557; Linders, T./Nordquist, G. (edd.): Gifts for the Gods. Uppsala 1987; Kilroy, J.: Sacrifice. Dallas 1990; Neusch, M. (ed.): Le Sacrifice dans les religions. P. 1994; Gertitz, P/Seebaß, H./Stemberger, G./ Young, F. M./Evans, G. R.: O. 1 - 5 . In: TRE 25 (1995) 253-286 (Lit.). - 2 Frings, Τ.: Germania Romana. Halle 1932, 111-114; anders Must, G.: Zur Herkunft des Wortes O. In: Istanbuler Forschungen 93 (1988) 225-236. - 3 cf. schon Isidor von Sevilla, Etymologiae 6,19,38. - 4 Röhrich, Redensarten, s. v. O. - 5 Henninger (wie not. 1). - 6Tylor, Ε. B.: Primitive Culture. L. 1871. - 'Schmidt (wie not. 1). 8 Robertson Smith, W.: Lectures on the Religion of the Semites [...]. Edinburgh 1889 (zahlreiche Nach-

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dr.e). — 9 Hubert, H./Mauss, M.: Essai sur la nature et la fonction du sacrifice (1899). In: Mauss, M.: (Euvres 1. P. 1968, 193-307 (engl. 1964). - 10 van der Leeuw (wie not. 1). — 11 Jensen, A. E.: Mythos und Kult bei den Naturvölkern. (Wiesbaden 1951, 21960) Neuausg. Mü. 1992. - 12 Lanternari, V.: La grande festa. (Mailand 1959) Bari 21976. - 13 Girard, R. N.: La Violence et le sacre. P. 1972 (engl. Baltimore 1977, dt. Zürich 1987). - 14 Seiwert, H.: O. In: Cancik, H./Gladigow, B./Kohl, K.-H. (edd.): Hb. religionswiss. Grundbegriffe 4. Stg. u. a. 1998, 268-284. - 15 cf. Loisy, Α.: Essai historique sur le sacrifice. P. 1920. - 16 Stonus, D.: „Do ut des". Herkunft und Funktion eines Erklärungsbegriffs. In: Jb. für Vk. N. F. 19 (1996) 41-59; Leeuw, G. van der: Die do-ut-des-Formel in der O.theorie. In: ARw. 20 (1920-21) 241-253. 17 Gonzalez Torres, Y.: El sacrificio humano entre los Mexicas. Mexiko 1985; Carasco, D.: Städte und Symbole - Die alten mittelamerik. Religionen. In: Eliade (wie not. 1) t. 3,1, 41-50. - 18Beth, K.: O. In: HDA 9 (Nachträge) (1938-41) 19-54, hier 45-50. - 19Clemen, C./Edsman, C.-M.: Ersatzgaben. In: RGG 2 (31958) 606. - 20 Beth (wie not. 18) 26 (kelt.). 21 ζ. B. in Australien: Worms, E. A./Petri, H.: Die Religionen der Südsee und Australiens. Stg. 1968, 268. - 22 cf. ζ. B. Delgado, M. (ed.): Bartolome de las Casas. Werkausw. 2: Hist, und ethnogr. Sehr. Paderborn u.a. 1995, 422 -441, 446-466. - "Ägypten (Lehre des Merikare 128 sq.); Israel (Am. 5,21-24; Hos. 6,6; Jer. 7,21; Jes. 1,10-17 etc.); Griechenland (Ablehnung der blutigen O. durch Pythagoras, Empedokles etc.). - 24 Kriss, R./Kriss-Heinrich, H.: Volksglaube im Bereich des Islam 1. Wiesbaden 1960, 32-40 und pass.; cf. schon Koran 22,38. — 25Arinze, F. Α.: Sacrifice in Ibo Religion. Ibadan 1970; Cartry, M. (ed.): Sous le Masque de l'animal. Essais sur le sacrifice en Afrique Noire. P. 1987; Colpe, C.: Theoretische Möglichkeiten zur Identifizierung von Heiligtümern und Interpretation von O.n in ur- und parahist. Epochen. In: id.: Theologie, Ideologie, Religionswiss. Mü. 1980, 138-162; Gibson, Τ.: Sacifice and Sharing in the Philippine Highlands. L. 1986; Heusch, L. de: Sacrifice in Africa. Bloom. 1985; Evans-Pritchard, Ε. E.: Nuer Religion. Ox. 1956, 197-215; Le Sacrifice 1 - 5 . In: Systemes de pensee en Afrique Noire 2 - 6 . Ivry 1976 - 83. - 26 Jensen (wie not. 11). - 27 Stöhr, W.: Mana und Tabu - Die ozean. Religionen. In: Eliade (wie not. 1) t. 3,1, 161. - 28 Koch, K.: Geschichte der ägypt. Religion. Stg. 1993; Altenmüller, Η.: Ο. In: Lex. der Ägyptologie 4. Wiesbaden 1982, 579-584. - 29 Sog. O. der ,1. Klasse' nach der O.einteilung der Sui-T'ang-Zeit, cf. Eichhorn, W.: Die Religionen Chinas. Stg. 1973, 213 sq. (O.typen in drei ,Klassen'). - 30 Quaegebeur, J. (ed.): Ritual and Sacrifice in the Ancient Near East. Leuven 1993. 31 Übersicht bei Gamkrelidze, T./Ivanov, V.: IndoEuropean and the Indo-Europeans 1. B./N. Y. 1995,

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561 sq., 701 - 7 0 5 (grundlegend; ältere Arbeiten, ζ. B. Schräder, O./Nehring, Α.: Ο. und Gebet. In: Reallex. der idg. Altertumskunde 2. B./Lpz. 21929, 133-141, sind mit diesem Werk weithin überholt). - 32 So ζ. B. Benveniste, E.: Ide. Institutionen. Ffm./N. Y./ P. 1993, 470 (zuerst frz. 1969); anders Hamp, E. P.: Religion and Law from Iguvium. In: The J. of IndoEuropean Studies 1 (1973) 318-323. - "Widengren, G.: Die Religionen Irans. Stg. 1965; Boyce, M.: A History of Zoroastrianism 1 - 3 . Leiden u.a. 1975-91. - 34 Eliade (wie not. 1) t. 2, 276-279; Merkelbach, R.: Mithras. Königstein 1984, 9 - 2 2 , 193-227. - 35 Thompson/Balys A 642; die zoroastr. Parallele: The Pahlavi Riväyat Accompanying the Dädestän I Denlg 1—2. ed. A.V.Williams. Kop. 1990, hier t. 2, 72 sq. (K. 46) ist vielleicht ind. beeinflußt; zudem fehlt der O.gedanke. - 36 Aguilar, H.: The Sacrifice in the Rigveda. Delhi 1976; Biardeau, M./Malamoud, C.: Le Sacrifice dans l'Inde ancienne. P. 1976; Gonda, J.: Rice and Barley Offerings in the Veda. Leiden 1987; id.: Vedic Ritual. The NonSolemn Rites. Leiden 1980; id.: Die Religionen Indiens 1. Stg. (I960) 21978, 138-173; Hauptqu. für die nachvedische Zeit ist das Satapatha-Brähmana, cf. Drury, N.: The Sacrificial Ritual in the Satapatha Brahmana. Delhi 1981; Staal, F.: The Science of Ritual. Poona 1982. - 37 Stutley, M. und J.: Harper's Diet, of Hinduism. San Francisco 1977, 24-27. 38 Klassischer Beleg: Kütadantasutta = DIgha Nikäya 5; dt. bei: Die Reden Gotamo Buddhos aus der längeren Slg [...]. Übers. K.E.Neumann. Zürich/ Wien 31957, 89-104; cf. Meisig, K.: Zur Entritualisierung des O.s im frühen Buddhismus. In: Rupp, A. (ed.): Mittigen für Anthropologie und Religionsgeschichte 7, 1. Saarbrücken 1992, 213-222. 39 Übers.: Burlingame, E. W.: Buddhist Legends 2. (Cambr., Mass. 1921) Ox. 1995, 100-111; volkstümliche O. im Lamaismus: De Nebesky-Wojkowitz, R.: Oracles and Demons of Tibet. The Cult and Iconography of the Tibetan Protective Deities. Nachdr. Kathmandu 1993, pass. - 40 Stengel, P.: O.bräuche der Griechen. Lpz./B. 1910; id.: Die griech. Kultusaltertümer. Mü. 31920, Kap. 3; Durand, J. L.: Sacrifice et labour en Grece ancienne. Rom 1986; Grottanelli, C./Parise, N. F. (edd.): Sacrificio e societä nel mondo antico. Bari 1988; Rudhard, J./Reverdin, O. (edd.): Le Sacrifice dans l'Antiquite. Vandceuvres bei Genf 1981; Straten, F. Τ. van: Hiera kala. Images of Animal Sacrifice in Archaic and Classical Greece. Leiden 1995; Ziehen, L.: O. In: PaulyAVissowa 18,1 (1939) 579-627. 41 Fauth, W.: O. In: Kl. Pauly 4 (1972) 307-310. 42 Eine wichtige Qu. für das altitalische O.wesen sind die 1444 bei Iguvium (heute Gubbio) entdeckten Tabulae Iguvinae (3.-1. Jh. a. Chr. n.) in umbr. Sprache, cf. Poultney, J. W.: The Bronze Tables of Iguvium. Baltimore 1959. - 43 Bonnechere, P.: Le Sacrifice humain en Grece ancienne. Athen 1994; Hughes, D. D.: Human Sacrifice in Ancient Greece. L. 1991; Archiv der Religionswiss. N. F. 1,1 (1999). — 44 cf. auch Frenzel, Stoffe, s. v. Alkestis. - 45 McCreight,

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T. D.: Sacrificial Ritual in Apuleius' Metamorphoses. In: Groningen Colloquia on the Novel 5. Groningen 1993, 31-61. - 46 Versnel, Η.: Devotio. In: Der Neue Pauly 3. Stg. u. a. 1997, 493 sq. - 47 cf. Frenzel, Stoffe, s. v. Iphigenie. - 48 Albertz, R.: Religionsgeschichte Israels 1 - 2 . Göttingen 1992; Anderson, G. Α.: Sacrifice and Sacrificial Offerings (OT). In: Anchor Bible Diet. 5. Ν. Y. u. a. 1992, 870-886; Rad, G. von: Theologie des A. T.s 1. Mü. (I960) 7 1978, 263-285; Rendtorff, R.: Studien zur Geschichte des O.s im alten Israel. Neukirchen-Vluyn 1967; Seebaß, H.: O. 2. In: TRE 25 (1995) 258-267; Wellhausen, J.: Prolegomena zur Geschichte Israels. B./Lpz. 71927 (Nachdr. 1981; zuerst unter anderem Titel 1878); Willi-Plein, I.: O. und Kult im alttestamentlichen Israel. Stg. 1993; Zwickel, W.: Der Tempelkult in Kanaan und Israel. Tübingen 1994; wichtig zum Vergleich ist neben dem altoriental. auch das vorislam.-arab. O.wesen, cf. Chelhod, J.: Le Sacrifice chez les Arabes. P. 1955. - 49 Janowski, B./Wilhelm, G.: Der Bock, der die Sünden hinausträgt. In: Janowski, B. u. a. (edd.): Religionsgeschichtliche Beziehungen zwischen Kleinasien, Nordsyrien und dem Α. T. Fribourg/Göttingen 1993, 109-169; Janowski, B.: Azazel. In: Toorn, K. von u. a. (edd.): Diet, of Deities and Demons in the Bible. Leiden u. a. 21999, 128-131. - 50 cf. auch Frenzel, Stoffe, s.v. Kain und Abel, Moses, Jephthas Tochter. 51 Young, F. M.: Sacrifice and the Death of Christ. Phil. 1975; ead.: O. 4. In: TRE 25 (1995) 271-278; Daly, R. J.: The Origins of the Christian Doctrine of Sacrifice. L./Phil. 1978; Lehmann, K./Schlink, E. (edd.): Das O. Christi und seine Gegenwart in der Kirche. Fbg/Göttingen 1983 (21986). - 52 Simek, R.: Lex. der germ. Mythologie. Stg. 1984, 311-313; Simpson, J.: Some Scandinavian Sacrifices. In: FL 78 (1967) 190-202; Beck, I.: Studien zur Erscheinungsform des heidnischen O.s nach altnord. Qu.n. Diss. Mü. 1965; klassisch und von unübertroffenem Materialreichtum Grimm, Mythologie 1, 24-52 und 3, 18-31; weiteres: Lindow, J.: Scandinavian Mythology. An Annotated Bibliogr. Ν. Y./L. 1988, Index s. v. sacrifice. - 53 Eckstein, F.: Speiseopfer. In: HDA 9 (Nachträge) (1938-41) 496-547. 54 Fleck, J.: Oöinn's Self-Sacrifice - A New Interpretation. In: Scandinavian Studies 43 (1971) 119-142, 385-413. - 55 Lantier, R.: Kelt. Mythologie. In: Wb. der Mythologie 2. ed. H. W. Haussig. Stg. 1973, 99-162, hier 151-156; Meniel, P.: Les Sacrifices d'animaux chez les Gaulois. P. 1992; Green, M.: The Gods of the Celts. Dover, Del. 1993; Maier, B.: Lex. der kelt. Religion und Kultur. Stg. 1994, 257; Birkhan, Η.: Kelten. Wien 1997, 796-804. - 56 ibid., 809-817. - 57 ibid., 896-934; schon Clemens von Alexandrien (Stromata 1,15) hat die Druiden mit den altind. O.priestem, den Brahmanen, verglichen. - 58 Mansikka, V.J.: Die Religion der Ostslaven (FFC 43). Hels. 1922; Mironova, V. G.: Jazyceskoe zertvoprinosenie ν Novgorode (Pagane O. in Novgorod). In: Sovetskaja archeologija 1 (1967) 215-227; Vyncke, F.: De godsdienst der Slaven. Rom 1969;

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thaginian Child Sacrifice and Sacrificial Monuments in Their Mediterranean Context. Sheffield 1991; der Stoff von Gen. 22 spielt auch im Islam eine große Rolle (nachkoranisch auf Ismael und die Kaaba übertrajgen), cf. Krupp, M.: Den Sohn opfern? Die Isaak-Überlieferung bei Juden, Christen und Muslimen. Gütersloh 1995. - 72 Eine ind. Parallele: Walker, P.: Hindu World. An Enc. of Hinduism 2. L. 1968, 321. - 73 Grimm, Mythologie 1, 39 (KHM 89 stamme aus dem [gut bezeugten] germ. Pferdeopfer, als dessen Mahnmal ein Pferdekopf aufgehängt werden konnte); cf. ibid., 43 sq. (zu KHM 27). - 74 ζ. B. Cloß, Α.: Das Versenkungsopfer. In: Kultur und Sprache. Wien 1952, 66-107. - 75 Zu einer literarisierten Form als einem Subgenre der Phantastik ζ. B. Wakefield, Η. R.: The Seventeenth Hole at Duncaster. In: id.: They Return at Evening. (L. 1928) Nachdr. Penyffordd 1995, 118-130. - 76 Mannhardt, W.: Die Korndämonen. B. 1868; id.: Waldund Feldkulte. B. 1904-05; cf. dagegen Beitl, R.: Korndämonen. In: HDA 5 (1932-33) 249-314; Sydow, C. W. von: The Mannhardtian Theories about the Last Sheaf and the Fertility Demons from a Modern Critical Point of View. In: von Sydow, 89-105; Weber-Kellermann, I.: Erntebrauch in der ländlichen Arbeitswelt des 19. Jh.s. Marburg 1965. - 77 Jahn, U.: Die dt. O.gebräuche bei Ackerbau und Viehzucht. Breslau 1884. - 78 cf. Eckstein, F.: Gebildbrote. In: HDA 3 (1930-31) 373-405; Burgstaller, E.: Brauchtumsgebäcke und Weihnachtsspeisen. Linz 1957. - 75 cf. Brückner, W.: Volkstümliche Denkstrukturen und hochschichtliches Weltbild im Votivwesen. In: SAVk. 59 (1963) 186-203; Andree, R.: Votive und Weihegaben des kathol. Volks in Süddeutschland. Braunschweig 1904; Kriss-Rettenbeck, L.: Ex Voto. Zeichen und Abbild im christl. Votivbrauchtum. Zünch/Fbg 1972. - 80 cf. Koren, H.: Die Spende. Graz 1954. 81 Kretzenbacher, L.: „Es reisen drei Seelen wohl aus von der Pein". In: Jb. des österr. Volksliedwerkes 2 (1953) 48-58; Moser, D.-R.: Verkündigung durch Volksgesang. B. 1981, 289 sq.; Sailer, J.: Die Armen Seelen in der Volkssage. Diss, (masch.) Mü. 1956. 82 ζ. B. Baader, B.: Volkssagen aus dem Lande Baaden und den angrenzenden Gegenden. Karlsruhe 1851 (Nachdr. Hildesheim/N.Y. 1978), num. 316; hist. Belege und weitere Var.n bei Heilfurth, G.: Bergbau und Bergmann in der dt.sprachigen Sagenüberlieferung Mitteleuropas 1. Marburg 1967, num. 447-451. - 83 ζ. Β. Zaunert, P.: Rheinland Sagen 1. Jena 1924, 189. - 84 Heyl, J. Α.: Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol. Brixen 1897 (Nachdr. 1989), 571 sq. - 85 ibid., 128. - 86 Jungbauer, G.: Böhmerwald-Sagen. Jena 1924, 21. 87 cf. generell Lüthi, M.: Die Gabe im Märchen und in der Sage. Diss. Bern 1943, 99 sq. - 88 Belege bei Beth (wie not. 18) hier 37 sq.; Jahn (wie not. 77) 14-17. - 89 Heyl (wie not. 84) 597. - 90 Kühnau, R.: Schles. Sagen 3. Lpz./B. 1913, num. 1631; cf. Schilli, H.: Das Schwarzwaldhaus. Stg. 31977, 40, 203 sq. -

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Optimismus

Zaunert, P.: Westfäl. Sagen. Jena 1927, 45. Petzoldt, L.: Dt. Volkssagen. Mü. 1970, num. 245. - 9 3 Bartsch, K.: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1. Wien 1879, num. 14. - 9 4 ζ. Β. Petzoldt (wie not. 92) num. 92; Lixfeld, G.: Der Alp. Analyse eines Sagentyps. Magisterarbeit Fbg 1979, 2 1 - 2 3 , 4 7 - 5 2 . - 9 5 cf. Müller-Bergström, W.: Zwerge und Riesen. In: HDA 9 (Nachträge) (1938-41) 1069-1072. - 96 Zingerle, I.V.: Sagen aus Tirol. Innsbruck 2 1891, num. 59; cf. Olbrich, K.: Steinhaufen. In: HDA 8 (1936-37) 406-413, hier 410. - 9 7 Sieber, F.: Sächs. Sagen. Jena 1926, 277 sq. - 9 8 Lindig, E.: Hausgeister. Ffm. 1987, 134; Linhart, D.: Hausgeister in Franken. Dettelbach 1995, 180-183. - 9 9 Vries, J. de: Altgerm. Religionsgeschichte 1. B. 3 1970, 256 sq. - 1 0 0 Rumpf, M.: Perchten. Populäre Glaubensgestalten zwischen Mythos und Katechese. Würzburg 1991, 4 9 - 5 6 . 101 cf. Linhart (wie not. 98) 311 sq.; Eckstein, F.: Milchopfer. In: HDA 6 (1934-35) 352-367. 1 0 2 cf. Brednich, R. W.: Volkserzählungen und Volksglaube von den Schicksalsfrauen (FFC 193). Hels. 1964. - 103 Schambach, G./Müller, W.: Niedersächs. Sagen und Märchen. Göttingen 1854, 108-113. 1 0 4 ζ. B. Künzig, J.: Schwarzwald-Sagen. Jena 1930, 48; cf. Beth, Κ.: Füttern. In: HDA 3 (1930-31) 248-250; Burgstaller, E.: Elementeopfer in Oberösterreich. In: Jb. des Oberösterr. Musealvereins 102 (1957) 163-211. - 105 cf. Schmitt, G.: Das Menschenopfer in der Spätüberlieferung der dt. Volksdichtung. Diss. Mainz 1959, 119-124. - 106 Panzer, F.: Bayer. Sagen und Bräuche 1. ed. W.-E. Peuckert. Göttingen 1954, num. 28; cf. auch Schiller, Wilhelm Teil 1,1. - 107 Depiny, Α.: Oberösterr. Sagenbuch. Linz 1932, 23. - 108 Schmitt (wie not. 105) 123-125; cf. Wildhaber, R.: „Die Stunde ist da, aber der Mann nicht". Ein europ. Sagenmotiv. In: Rhein. Jb. für Vk. 9 (1958) 6 5 - 8 8 . - 109 Schmitt (wie not. 105) 133 sq.; Kainzbauer, P.: Bauopfer. Vom Menschenopfer zur Haussegnung. Ried [1988], 5; cf. Klusemann, J.: Das Bauopfer. Graz/Hbg 1919. - 110 Burkert 1972 (wie not. 67) 50 sq. 111 Kainzbauer (wie not. 109). - 1 1 2 z. B. Graber, G.: Sagen und Märchen aus Kärnten. Graz 4 1944, 85; cf. Schmitt (wie not. 105) 5 - 7 . - 113 Depiny (wie not. 107) 23; Schulenburg, W. von: Wend. Volkssagen und Gebräuche aus dem Spreewald. Lpz. 1880, 222. - 1 1 4 cf. Röhrich, L.: Die Volksballade von Herrn Peters Seefahrt und die Menschenopfersagen. In: Festschr. F. von der Leyen. Mü. 1963, 177-212, hier 211 sq.; Schmitt (wie not. 105) 205-208; cf. auch den jüd. Brauch des ,Sündenbocks', der in Lev. 16,21 geschildert wird; cf. Röhrich, Redensarten, 1586 sq. (mit Lit.). - 115 cf. Rösch, E.: Der getreue Johannes (FFC 77). Hels. 1928, 13 sq. - 1 1 6 cf. Meuli (wie not. 69); Burkert (wie not. 110); Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 6 7 - 7 1 . - 117 ibid., 116-123. - 118 ibid., 145. - 119 Amira, K. von: Die germ. Todesstrafen. Unters.en zur Rechts-und Religionsgeschichte. Mü. 1922. - 1 2 0 KHM 191 ( 5 1843); Röhrich, Erzählungen 2, 237—239. 91

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121 cf. Tatar, M.: Von Blaubärten und Rotkäppchen. Grimms grimmige Märchen. Salzburg/Wien 1990, 9 3 - 1 2 4 (Kap. O. und Sucher). - 122 cf. Röhrich, L.: Gefährdete Kindheit - Probleme und Lösungen im Märchen. In: Bücksteeg, T./Dickerhoff, H. (edd.): Märchenkinder - Kindermärchen. Forschungsber.e aus der Welt der Märchen. Mü. 1999, 171-195.

Hofheim Freiburg/Br.

M a r c o Frenschkowski Lutz Röhrich

Optimismus. Beim O. handelt es sich um eine Einstellung, die durch eine grundsätzlich bejahende Beurteilung der Welt sowie allg. des Lebens und der Möglichkeiten des Menschen bestimmt ist. O. scheint - nach Auffassung der Psychologie - fest in der Natur des Menschen verankert zu sein. Ohne das mit ihm verbundene positive Denken gibt es kein Wohlergehen 1 . Nach O . Bockel ist Volksdichtung ganz allg. optimistisch angelegt, nämlich als Ausdruck einer von der „Bejahung des Willens zum L e b e n " getragenen Weltanschauung 2 . Bes. das Märchen kennt ζ. B. weder Tod noch ein Niemals 3 . Dabei waltet der Glaube an eine höhere Gerechtigkeit, und alles G e schehen mündet letztlich in einen versöhnlichen Abschluß. Als O. hat man auch die Fähigkeit zur humoristischen Auffassung der Welt bezeichnet und gemeint, ein heiterer Grundzug wohne der Volksdichtung überhaupt inne 4 . Von der Grundstimmung her optimistisch sind nicht zuletzt auch die Schwänke mit ihrer Haltung, „der Welt lächelnd, d. h. im erlösenden Gelächter über ihre Anfälligkeiten zu widerstehen" 5 . Andererseits verlacht der Volksmund in den ,O.witzen' zuviel O. auch als Verkennung der Wirklichkeit 6 . Differenzierter angewandt kann O . aber auch als gattungsdistinktives Merkmal gelten. So enden gerade Märchen derart häufig mit dem Sieg des Guten, daß europ. -» Zaubermärchen auch als .Glücksmärchen' 7 bezeichnet wurden: „Die Gattung Märchen ist vom Glück her definiert" ( - Glück) 8 . I m Gegensatz zum -» Pessimismus, der eher in anderen Gattungen zum Ausdruck kommt, geht der O. des Märchens trotz des Unglücks in der Welt und in Unabhängigkeit von den tatsächlichen Gegebenheiten immer vom Prinzip des Positiven aus, das letztlich die Oberhand behält:

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Optimismus

„Auf diesem Bewußtsein, in der großen Sicherheit allen Lebens aufgehoben zu sein, gründet der nie versagende Optimismus der Märchenhelden, ihr Getrostsein und das Fehlen aller wirklichen Angst." 9 Faßt man, wie A. -* Jolles, die verschiedenen Erzählgattungen als ,Geistesbeschäftigungen' (-• Einfache Formen) auf, so kann man im Märchen, in welchem der Held oder die Heldin die größten Katastrophen mit unbeirrbarer Sicherheit meistern, auch eine Schilderung dessen sehen, „wie es eigentlich in der Welt zugehen müßte" 10 . Oft gründet der O. des Märchens auch in der Hoffnung auf die Realisierbarkeit von utopischen Entwürfen (-• Utopie; AaTh 1930: -> Schlaraffenland), wobei ganz konkrete Handlungsabläufe vorgegeben werden: das .selbstverständliche Wunder' 11 macht Kranke gesund, Tote lebendig, Arme reich, Suchende zu Findern und Unglückliche glücklich. In ihrer Grundstruktur optimistisch sind ferner auch jene Erzählungen, in denen alles soziale Elend ausgeblendet oder durch die aktive Tat überwunden wird 12 . In bestimmten Überlieferungsformen, wie etwa den populären -» Lesestoffen des 19. Jh.s (cf. auch -> Kolportageliteratur, Trivialliteratur), kann diese Haltung vorherrschen, bes. wenn es sich um moralische Geschichten oder Erbauungsbücher handelt, in denen der Pessimismus vom ,Ο. des Gottvertrauens' überlagert wird 13 . Nicht selten idyllisieren hier O. und Heiterkeit im Gewände kirchlich verbrämter, rustikaler Ursprünglichkeit die Armut und das Leid (-> Arm und reich; AaTh 754: -» Glückliche Armut). Auch wenn man das Märchen als -» Wunschdichtung charakterisiert 14 , die in ihrer Grundhaltung O. verbreiten möchte 15 , läßt sich dieser O. ganz konkret auf die soziale und wirtschaftliche Situation beziehen, die weder den Erzählern noch dem Publikum in der Realität Perspektiven bot 16 . Im Gegensatz zur Sage, in welcher die Dämonie des Bösen am Ende ihr Recht behauptet, ist das Märchen durch sein ,happy ending' charakterisiert und bringt dieses stereotype Glücksfinale in mancherlei formelhaften Schlußwendungen zum Ausdruck (,Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute'). Märchen mit schlechtem Ausgang sind dagegen selten und meist verderbte ,Trümmerformen' 17 . Aber

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selbst bei diesen Ausnahmen — sie haben ohnehin zumeist Sagencharakter - siegt schließlich das dem O. verpflichtete Prinzip des Guten, wenn der/die Böse einer gerechten Strafe zugeführt wird (-• Gut und böse). Folglich bezeichnet auch die märchenspezifische Moral stets den Weg hin zu einem Zustand der Harmonie und Ordnung. In diesem Sinn spiegeln die optimistischen Märchenschlüsse und der immerwährend glückliche Ausgang des europ. Märchens wohl die Hoffnung der Überlieferungsträger auf eine bessere und gerechtere Welt. Im Unterschied hierzu weisen Erzählungen schriftloser außereurop. Völker nicht unbedingt die Form von Glücksmärchen mit gutem Ende auf 18 . Aufschlußreich ist daneben die Tatsache, daß bei einem Gattungswechsel die pessimistische Grundhaltung einer optimistischen weichen kann, ohne daß sich der Bestand konstitutiver Motive ändert. Entscheidend ist lediglich der gute bzw. der schlechte Ausgang. So sind viele Sagen zu Märchen geworden, die glücklich enden, wie etwa die von pessimistischen Grundgefühlen getragene Sage von Peter von Staufenberg (Die gestörte -> Mahrtenehe), welche zum leichten und schwerelosen Märchen von der Wasserfee -> Undine wurde 19 . Auch strukturell zeigt sich der Märchenoptimismus durch den Handlungsgang von einer ->• Schädigung hin zu Glück und unbeschwerter Sorgenfreiheit durch den Ausgleich des Mangels (-+ Mangelsituation). Der für das Glück disponierte Held trägt manchmal einen sprechenden Namen (AaTh 566: Fortunatus), andere Erzähltypen (AaTh 1415: Hans im Glück) spielen gelegentlich auf den optimistischen Inhalt schon im Titel an. O. wurde auch als Erklärung für die Zählebigkeit und den dauernden Erfolg der Gattung Märchen herangezogen. So vermutet die Rezeptionsforschung, das , Wesen der inneren Bereitschaft für das Märchen' 20 hänge ganz entscheidend mit seiner Tröstungsfunktion und seiner optimistischen Grundhaltung zusammen. 1

cf. Schneider, R./Schweizer, K.: Sozialer O. Eine differenzierte Betrachtung positiver Ergebniserwartungen. Forschungsber. des Psychol. Inst.s der Univ. Fbg. Fbg 1995, 1 - 5 8 ; English, Η. Β. und A. C.: Optimism. In: iid. (edd.): Comprehensive Diet, of Psychological and Psychoanalytical Terms. L. 1958,

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Orakel

360. - 2 cf. Bockel, O.: Der O. der Volksdichtung. In: id.: Psychologie der Volksdichtung. Lpz. 1906, 206-233, hier 206. - 3 cf. Taylor, Α.: Locutions for „Never". In: Romance Philology 2 (1948-49) 103-134. - 4 cf. Bockel (wie not. 2) 305. - 5 Ranke, K.: Einfache Formen. In: Das Fischer Lex. Lit. 2,1. ed. W.-H. Friedrich/W. Killy. Ffm. 1965, 184-200, hier 185. - 6 Röhrich, L.: Der Witz. Stg. 1977, 105. - 7 Wundt, W.: Völkerpsychologie 5. Lpz. 21914, 120-155 (Kap. „Das Glücksmärchen"). — 8 Bausinger, Η.: Märchenglück. In: Zs. für Lit.wiss. und Linguistik 50 (1983) 17-27, hier 17. - 9 Sitte, E.: Vom Weltbilde des Volksmärchens. In: Der Deutschunterricht 8,6 (1956) 17-36, hier 24. - 10 Jolles, 240. "ibid., 243 sq. - 12 cf. Röhrich, L.: Sage und Märchen. Fbg 1976, 24-28. - 13 Schenda, R.: Volk ohne Buch. Mü. 1977, 349 sq. - 14 Horn, K.: Der aktive und der passive Märchenheld. Basel 1983, 36; Wehse, R.: Die Prinzessin. In: Die Frau im Märchen, ed. S. Früh/R. Wehse. Kassel 1995, 9 - 1 7 , hier 16; Bausinger, H.: Möglichkeiten des Märchens in der Gegenwart. In: Märchen, Mythos, Dichtung. Festschr. F. von der Leyen. Mü. 1963, 15-30, hier 21; Fetscher, I.: Von einem tapferen Schneider. In: Und wenn sie nicht gestorben sind ... Perspektiven auf das Märchen, ed. H. Brackert. Ffm. 1980, 120136, hier 132. - 15 Bausinger (wie not. 8) 21 sq. 16 Müller, H.: Stimme und Feder - mündl. Tradition norw. Volksmärchen und ihre Verschriftlichung durch Asbjornsen und Moe. (Diss. Bochum 1997) Essen 1998, 139 sq. - 17 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 46. - 18 cf. ibid., 53. - "Röhrich, Erzählungen 1, 248. - 20 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 6.

Freiburg/Br.

Sabine Wienker-Piepho

Orakel (aus lat. oraculum, von oro: ich rede), Zukunftsdeutung, Schicksalsspruch, rätselhafte Aussage. O. ist auch der Name des Ortes, an dem eine Gottheit durch den Priester oder die Priesterin auf Fragen antwortet und Weissagungen erteilt (-+ Divination, Prophezeiungen). Die europ. Hauptformen des O.s stammen aus dem antiken Mittelmeerraum und sind vom oriental.-mesopotam. bzw. ägypt. O.wesen beeinflußt worden. Im griech.-röm. Altertum wie im vorislam. Arabien finden sich Zeichenorakel wie Beobachtung von Vögeln, Deutung der Eingeweide von Opfertieren, auffälligen Naturerscheinungen (-• Prodigien), Losen und ->• Träumen sowie weiterhin die Quellenschau, bei der durch Betrachten von Gegenständen Visionen erzeugt und gedeutet wurden, schließlich die in Trance gesprochenen Worte des Sprachorakels

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(etwa der Pythia in Delphi)1. Unter den O.Sammlungen in Buchform waren die Sibyllinischen Bücher am bedeutendsten, die der röm. König Tarquinius Superbus (534—510 a. Chr. n.) erworben haben soll. Die erhaltenen Oracula Sibyllina sind jüd.-christl. Ursprungs Sibyllen)2. Für die Rezeption der O. in Europa hat E. Stemplinger schlüssig aufgezeigt, wie antike O.techniken in das Christentum übernommen wurden und dort ihren bisherigen religiösen Kontext verloren3. Der oft behauptete germ. Ursprung dt. O.4 erscheint neueren Forschungen zufolge zweifelhaft, da die häufig aufgeführten Belege hierfür nur bei -> Tacitus gefunden wurden, dessen Germanenbild inzwischen als idealisierendes Stereotyp gedeutet wird5. Auch Einschlüsse von O.n in die nationalsprachige populäre Lit. - etwa Volksbücher des ausgehenden MA.s — wurden häufig in ihrer Tradition und Wirkung überschätzt6. Neue Betrachtungsweisen gehen davon aus, daß O.texte in Europa überwiegend in der von Theologen verfertigten Fachprosa der kirchlichen Aberglaubensliteratur als Beispiele für tadelnswerte menschliche Verhaltensweisen aufgeführt wurden 7 , allenfalls Predigern als Exempla dienten und dadurch auch Laien geläufig werden konnten 8 . Die Vielfalt der Formen, die D. Harmening zusammengestellt und bewertet hat, läßt sich deshalb nicht als verschriftlichte mündl. Tradierung, sondern nur als kompilierte theol. Exegese erklären: Als übliche Zeichen finden sich Vorzeichen, Angang (-• Erster, Erstes, Zuerst), Körperliches (Niesen, Gliederzucken, Stolpern), Vogelweissagung, Vision, Traum, Spiegel- und Becherorakel und als typische Zeiten Neujahr (cf. auch die Andreasnacht 9 ), bestimmte Wochentage, Tage- und Stundenwahl sowie Reisetermine10. Innerhalb der Erzählforschung sind O.geschichten nicht als spezifische Bündelung von Stoffen und Motiven vertreten. Bei F. C. Tubach (num. 3531-3533) finden sich nur drei Exempla, deren Handlungen in der griech. und röm. Antike angesiedelt sind und die dem Begriff O. entsprechen. A. -» Aarne und S. Thompson achteten bei der Anordnung ihres Typenkatalogs offensichtlich wenig auf O.motivik und typisierten folglich bevorzugt andere Vorgänge übernatürlicher

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Oral History

Art. Der vereinzelt in Europa belegte Erzähltyp AaTh 737: Who Will be her Future Husband? kann jedoch als Typ einer O.erzählung angesehen werden (Grimm DS 115)11: Ein Mädchen schaut in der Neujahrsnacht ihren zukünftigen Ehemann, einen Soldaten. Es gelingt ihr, dessen Säbel (-> Messer) zu behalten und bei sich aufzubewahren. Er kehrt bald darauf zurück, und sie heiraten. Nach der Geburt des ersten Kindes findet der Soldat zufällig seinen Säbel in einem Kasten. Er erklärt, daß er wegen der abhanden gekommenen Waffe viel Leid erlitten habe, und tötet mit ihr (beinahe) seine Frau (und sich selbst). Wie hier erscheinen Erzählungen über O. vorwiegend in Form von Sagen, die ihrerseits oft mit entsprechenden O.bräuchen verbunden sind 12 . Aus spätmodernem Blickwinkel gesehen gehört das O. in den Umkreis deterministischer literar. Gattungen, die mit dieser Intention im Gegensatz zu den herrschenden Vorstellungen von der Beliebigkeit individueller und kollektiver Entwicklungen der Zukunft stehen 13 . O.bücher bilden im gegenwärtigen Spektrum esoterischer Ratgeberliteratur einen beachtlichen Schwerpunkt und werden thematisch verknüpft mit zahllosen anderen Komponenten: fremden und untergegangenen Ethnien 14 , Tieren 15 , Mineralien 16 , Knochen 17 , der 18 19 Kabbala , alten Schriften , Tarot und Selbsterfahrung 20 oder -» Liebe 21 . Lit. dieser Art ist Ausdruck einer neuen Irrationalität, die keinerlei Ähnlichkeit mit der geschilderten Rezeption früherer O.vorstellungen aufweist, sondern selektiv passende Versatzstücke menschlichen Denkens und Handelns aus aller Welt zusammenführt und damit auf jegliche regionale Originalität und hist. Vermittlung von Verhaltensweisen verzichtet, zugunsten einer globalen Auswertung von als kulturell aktuell bewerteten Motiven 22 . 1 Fauth, W.: O. In: Kl. Pauly 4 (1975) 323-328; Dihle, Α.: Ο. In: RGG 4 (31960) 1664-1666; Stengel, P.: Die griech. Kultusaltertümer. Mü. 31920, Kap. 2; Shirun-Grumach, J.: Offenbarung, O. und Königsnovelle. Wiesbaden 1993; Fahd, T.: La Divination arabe. Etudes religieuses, sociologiques et folkloriques sur le milieu natif de l'Islam. Leiden 1966. — 2 Kurfess, A. (ed.): Oracula Sibyllina. Ausw. Mit dt. Übers. B. 1951. - 3 Stemplinger, E.: Antiker Aberglaube in modernen Ausstrahlungen. Lpz. 1922; cf. Demats, P.: Fabula. Trois etudes de mythographie antique et medievale. Genf 1973. — 4 Grimm, My-

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thologie, Kap. 35; Herold, L.: O. In: HDA 6 (1934-35) 1255-1294. - 5 Tacitus, Germania, Kap. 10, 39, 40, 43; cf. See, K. von: Dt. GermanenIdeologie. Vom Humanismus bis zur Gegenwart. Ffm. 1970; Timpe, D.: Romano-Germanica. Gesammelte Studien zur Germania des Tacitus. Stg. 1995. - 6 cf. Alsheimer, R.: Will-Erich Peuckert und die O. Annäherungen. In: „Volkskunde ist Nachricht von jedem Teil des Volkes". W.-E. Peuckert zum 100. Geburtstag, ed. B. Bönisch-Brednich/R. W. Brednich. Göttingen 1996, 71-81. - 7 Harmening, D.: Superstitio. Überlieferungs- und theoriegeschichtliche Unters.en zur kirchlich-theol. Aberglaubenslit. des MA.s. B. 1979; exemplarisch: Fischer, E.: Die „Disquisitionum magicarum libri sex" von Martin Delrio als gegenreformatorische Exempel-Qu. Diss. Ffm. 1975, 72-101. - 8 Böck, R.: Liebesorakel bei Abraham a Sancta Clara. In: Bayer. Jb. für Vk. (1951) 151-153; Moser-Rath, Predigtmärlein, 162-164. - 9 Andreasnachtfrage. In: HDS 1 (1961-63) 521-523. - 10 Harmening (wie not. 7) 81-177. 11 Ergänzend zu AaTh: Ο Süilleabhäin/Christiansen; Aräjs/Medne. - 12 Herold (wie not. 4); cf. z.B. Schönwerth, F.: Aus der Oberpfalz 1. Augsburg 1857, 137-146. - 13Bröndsted, M.: Dichtung und Schicksal. Eine Studie über ästhetische Determination. Innsbruck 1989; allg. Giddens, Α.: Konsequenzen der Moderne. Ffm. 1995. - 14 Staewen, C.: Ifa. African Gods Speak. The Oracle of the Yoruba in Nigeria. Hbg 1996; Bergmann, G. G.: WikingerO. Das Erbe des Nordens. Neuhausen 1996. 15 Knauss, Η.: Das Vogelorakel. Die geistige Welt der Vögel als Lebenshilfe. Mü. 1998. - 16 Das Edelsteinorakel. Düsseldorf 1997. - 17 O'Neill, C.: Das O. der Knochen. Komplettes Set mit vier Keramikknochen, Wurftuch und ausführlichem Begleitbuch. Mü. 1995. - 18 Liang, C.: Das O. der hl. Zahlen. Seeshaupt 1994. - 19 Voenix (Pseud.): Magie der Runen. Neuhausen 1996. - 20 Graf, E.: Lex. des Tarot sowie der O.- und Selbsterfahrungsspiele. Stg. 1991. 21 Griesbeck, R.: Liebesorakel. Das geheime Wissen um Partnerschaft. Mü. 1993. - 22 cf. ζ. B. Kosmopoly: 6 O.spiele. Wien 1993; Sutphen, D.: Das O. in dir. Neuwied 1993; Wagner, J.: Anleitung zu afrik. O.techniken. Nachgesang auf eine weiße Mganga Msungu. Nebst einer Würdigung ihrer Person und ihre Werkes. Stg. 1991. Bremen

Rainer Alsheimer

Oral History 1. Die Anfänge der Ο. H. in den USA - 2. Ο. H. in Europa - 3. Ο. H. und Folkloristik 1. D i e A n f ä n g e der Ο. H . in d e n U S A 1 . Unter Ο. H. wird eine empirische Do-

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kumentationstechnik verstanden, die seit den 1960er Jahren vor allem in der Geschichtswissenschaft Fuß gefaßt hat. Sie dient dazu, in themenzentrierten Interviews ausgewählte Zeitzeugen auf ihre Erinnerungen an bestimmte Epochen oder Ereignisse der jüngeren Geschichte zu befragen und die Äußerungen der -• Informanten auf Tonband festzuhalten. Insofern ist die Entstehung der Ο. H. eng mit der fortschreitenden Entwicklung und Verfügbarkeit von Tonaufzeichnungsgeräten verbunden. Seit den 1980er Jahren wird auch der Videofilm als Medium zur Gewinnung und Archivierung von Ο. H.-Interviews eingesetzt2. Die Anfänge des Verfahrens reichen mit der 1. Hälfte des 20. Jh.s in eine Zeit zurück, in der die -» Feldforschung noch weitgehend auf technische Aufzeichnungshilfen verzichten mußte. Erste Ideen für eine gezielte methodische Anwendung der Ο. H. in der Geschichtsforschung entwickelte der amerik. Historiker A. Nevins. 1938 schlug er die Gründung einer Organisation vor, die den systematischen Versuch unternehmen sollte, aus dem Erzählen und den persönlichen Dokumenten von Amerikanern, die auf ein bedeutsames Leben zurückblicken konnten, eine Beschreibung ihrer Teilnahme an politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entscheidungsprozessen der vergangenen Jahrzehnte zu erhalten 3 . Seit 1948 wurden unter Nevins an der Columbia Univ. in New York Interviews mit prominenten Zeitzeugen durchgeführt; 1960 lag das erste Verz. der Slgen des Ο. H. Research Office im Druck vor 4 . Die Zahl amerik. Ο. H.-Projekte nahm in der Folgezeit schnell zu. 1967 wurde die amerik. Ο. H. Assoc. gegründet, die bei ihrem 2. wiss. Kolloquium 1968 ihre allg. Ziele und Richtlinien für die praktische Arbeit formulierte und Ο. H. definierte „als eine Methode, einen in mündlicher Form übermittelten Bestand an historischen Informationen zu sammeln und in der Regel auf Band festzuhalten" 5 . Mit dieser Vereinigung war auch ein Forum geschaffen, auf dem die Historiker regelmäßig mit Vertretern der Nachbarwissenschaften über rechtliche und ethische Probleme, Interview- und Auswertungstechniken, Projekte und ihre Finanzierung, Forschungsschwerpunkte und neue Anwendungsgebiete der Ο. H. diskutierten.

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Die im Rahmen der Forschungsprojekte erhobenen Interviews wurden nach wiss. Kriterien transkribiert, von den als oral authors bezeichneten Interviewten autorisiert, mit Reg. η versehen und als Mss. in öffentlichen Bibl.en für die Benutzung zugänglich gemacht. Die Tendenz beim Interviewen ging bald dahin, ganze Lebensgeschichten (-• Autobiographie) als mündl. Memoiren aufzuzeichnen und parallel dazu von den Informanten weitere lebensgeschichtliche Dokumente zu erwerben. Eine Rechtfertigung für ihre Forschung bezogen die Historiker vor allem aus der Tatsache, daß wichtige Entscheidungsprozesse in Politik, Wirtschaft, Kultur etc. neuerdings vor allem über Telefon vorbereitet wurden und keinen Niederschlag mehr in schriftl. Quellen fanden. Ο. H. sollte helfen, die hier entstehende Lücke zu schließen. Die wichtigste Zielgruppe für die Interviews bildeten von Anfang an Angehörige der Eliten, bes. Entscheidungsträger. Das bisher größte Ο. H.-Unternehmen ist das in den 1990er Jahren von dem amerik. Filmregisseur Steven Spielberg initiierte Projekt ,The Survivors of the Shoah Visual History Foundation' (Los Angeles), das sich zur Aufgabe gesetzt hat, alle Überlebenden des Holocaust weltweit zu erfassen, ihre Erlebnisschilderungen auf Videofilm festzuhalten und öffentlich zugänglich zu machen. 1999 waren bereits 50 000 Zeugnisse aus 57 Ländern dokumentiert. 2. Ο . H . in E u r o p a . Die O. H.-Methode fand von den USA ausgehend in den 1970er Jahren in vielen europ. Ländern einen günstigen Nährboden. Sie verschwisterte sich vielfach mit der Wiederentdeckung der Lokalgeschichte, wie sie zuerst in Schweden unter dem Stichwort ,Grabe, wo du stehst' populär wurde6, mit der sog. neuen Geschichtsbewegung7 und der Alltagsgeschichtsschreibung 8 , die sich der Erforschung der subjektiven Seite der Geschichte und der Lebensverhältnisse solcher Bevölkerungsgruppen widmete, die von der traditionellen Geschichtsschreibung eher vernachlässigt worden waren. Ο. H. in Europa profitierte darüber hinaus von dem gleichzeitig in Gang gekommenen wachsenden Interesse mehrerer Wiss.en an der Erforschung individueller Lebensgeschichten 9 und autobiogr. Quellen 10 . So hat sich die O. H.-Bewe-

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gung in Europa bald von der Bindung an Eliteninterviews gelöst, zumal sie in einer Reihe von Ländern (Skandinavien, Polen u. a.) an die bereits seit der Mitte des 19. Jh.s in Gang gekommene Erfassung von Zeitzeugenberichten anknüpfen konnte. Abweichend von den USA wurden in der Ο. H.-Forschung Europas andere Themenkreise wichtig. In England datiert die Rezeption der O. H.Methode in die Anfange der 1970er Jahre (Gründung der Ο. H. Soc. 1971). Ο. H. kann auch dort als Forts, eines in das 19. Jh. zu datierenden Interesses an der Einbeziehung von Lebenserinnerungen in hist. Studien verstanden werden. Die Stärke der O. H.-Bewegung in England läßt sich bes. außerhalb der Hochschulen an der großen Resonanz ablesen, die das Verfahren in Erwachsenenbildung und Schule, in der Museumsarbeit und in den Medien erfahren hat 11 . In der dt. Praxis steht Ο. H. für eine Forschungsrichtung, „der es um die subjektive Erfahrung, um die Verarbeitung' historischer Erlebnisse und Abläufe, um die Entwicklung von Konsens- und Dissenselementen einer Gesellschaft, auch um die Veränderung von Selbstdeutungen von Menschen in der Geschichte oder gar prinzipiell um die Bedeutung des Subjekts in der Geschichte geht. Und dabei spielt die mündliche Quelle neben Tagebüchern, Briefen usw. eine entscheidende, mindestens aber eine wesentliche heuristische Rolle, die zu weiteren Fragen führt und dabei immer wieder die Gegenüberstellung mit anderen Quellen verlangt." 12 Ersatzbegriffe wie mündl. Lebensgeschichte, diachrones Interview, erinnerte Geschichte, hist. Gedächtnisforschung, Erfahrungsgeschichte oder -Wissenschaft u. a. haben sich letztlich nicht durchzusetzen vermocht, so daß der Begriff der Ο. H. auch hier dominant geworden ist. Durch die in zahlreichen akademischen Projekten, in Geschichtswerkstätten, Gewerkschaften und vielen regional- bzw. lokalgeschichtlichen Arbeitskreisen erarbeiteten Ergebnisse zur jüngeren Zeitgeschichte (Erforschung u. a. von Nationalsozialismus, Minderheiten, Arbeiterkultur [->· Proletariat], Frauenleben, Flucht und Vertreibung) hat sich Ο. H. trotz teilweise heftiger Attacken aus der traditionsorientierten Geschichtswissenschaft13 Anerkennung verschafft. Ein wichtiges Publ.sorgan ist Bios. Zs.

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für Biogr.forschung und Ο. H. (1988 sqq.). Für die Rezeption des Verfahrens in den Schulen hat der seit 1974 existierende Schülerwettbewerb ,Dt. Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten' der Körber-Stiftung, Hamburg, Bedeutung erlangt 14 . 3. Ο. H. u n d F o l k l o r i s t i k . Zu den Wiss.en, bei denen die O. H.-Dokumentationstechnik kräftige Anleihen gemacht hat, gehört auch die Vk., die seit dem Beginn des 20. Jh.s bes. in der Erzählforschung bei der Unters, von Erzählern, ihren Repertoires und Lebensgeschichten viel an Erfahrungswissen gesammelt und bereitgestellt hat. Die dort entwickelten Methoden der Dokumentation eigneten sich sehr gut für O. H.-Projekte. Umgekehrt profitierte auch die Folkloristik von der Tendenz der Ο. H. zur Unters, von überschaubaren geogr. Einheiten, sozialen Gruppen oder geschichtlichen Perioden. Die Annäherung von Historikern und Folkloristen in ihrem Interesse an Ο. H. brachte die ersteren mehr mit ethnol., die letzteren mehr mit hist. Denken in Berührung, was interdisziplinäre Projekte förderte und deren Qualität zugute kam. Die Möglichkeiten einer fruchtbaren Zusammenarbeit von Folkloristik und Geschichtswissenschaft bei O. H.-Projekten hat R. M. -» Dorson beschrieben: Wenn die Folkloristen lernten, nicht nur bestimmte Gattungen mündl. Überlieferungen zu sammeln, und die Historiker über das Elite-Interview hinausgingen, dann könnten sie gemeinsam daran arbeiten, verbreitete Vorurteile, Gerüchte, Ängste, Abneigungen, Loyalitäten, Stereotypen und Phantasien zu erforschen 15 . Dorson war überdies der Ansicht, daß Ο. H. seitens der Folkloristik durch eine an mündlichem Material orientierte Geschichte des Volkes (oral folk history) ergänzt werden müsse16. Seine Schüler haben diese Forderung ζ. T. eingelöst. Ein Beispiel für die Anwendung der Ο. H. in der volkskundlichen Regionalforschung Amerikas stellt W. L. Montells Monogr. The Saga of Coe Ridge17 über eine von Schwarzen besiedelte Bevölkerungsinsel in Kentucky dar. Die Bewohner haben über 90 Jahre lang trotz starker Widerstände von außen an ihrer kulturellen Eigenständigkeit festgehalten und ihr Sonderdasein in mündl. Erzählungen thematisiert. Der Autor sieht den Wert der O. H.-Methode darin, daß sie „immer dann die schriftliche histori-

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sehe Literatur ergänzen kann, wenn es um die menschliche Seite der Geschichte geht, d. h. wenn die Betonung auf dem Einzelnen als einer Person und nicht als einer statistischen Größe liegt, besonders gilt dies aber für jene Gegenden, in denen schriftliche historische Dokumente Mangelware sind"18. Ein anderes amerik. Beispiel für die Anwendung von O. H.-Methoden in der volkskundlichen Gemeindeforschung ist die Langzeitstudie von H. Glassie über die nordir. Gemeinde Ballymenone 19 . Aus dieser ist deutlich geworden, daß erst bei langer Aufenthaltsdauer und hohem Partizipationsgrad Einblicke in die sozialen Strukturen der Gemeinde und den kulturellen Besitz der Bewohner möglich werden und sich die Unterschiede zwischen den traditionellen Genres des Erzählens und der alltäglichen -»• Kommunikation (-> Alltägliches Erzählen, -> Gerücht, -» Klatsch) einebnen. Eine zum Bestseller gewordene engl. Gemeindemonographie über das Dorf Akenfield enthält eine Slg von Autobiogr.n, die vom Autor mit dem Tonband bei ausgewählten Dorfbewohnern erhoben wurden20. Die erste mit Methoden der Ο. H. erarbeitete volkskundliche Monogr. zu einem Ort in Deutschland befaßt sich mit dem ,roten Mössingen' in Württemberg, in dem nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten ein Generalstreik ausgerufen worden war21. A. Wojak kombiniert in seiner Studie über das ostfries. Moordorf hist. Archivforschung und O. H.-Befragung und ermittelt die Ursachen für die jahrzehntelang zu beobachtende Verfemung und -• Diskriminierung des Dorfes als Sträflingskolonie, Kommunistendorf oder Zigeunersiedlung (-> Stereotypen)22.

Seitens der dt. volkskundlichen Forschung hat vor allem A. -• Lehmann wesentliche Beitr.e zur Anwendung und Fortentwicklung der Ο. H. erbracht. Er betrachtet seine Erhebungen zur Ο. H. als volkskundliche Erzählforschung und Teil einer empirischen Wiss. zum Verständnis gegenwärtiger Verhältnisse und realer hist. Prozesse. Ο. H. wird bei ihm zur Bewußtseinsforschung, und er vertritt die Auffassung, daß der Gattungskatalog der Erzählforschung nicht auf die klassischen Genres beschränkt sei, sondern offen sein müsse für gegenwärtige Bausteine und Gattungen des Erzählens, die dabei helfen können, die tatsächlichen Lebensverhältnisse und das Bewußtsein der Menschen in seinen hist. Dimensionen besser zu verstehen23. Seinen Studien über die Lebensgeschichten von Arbeitern, die Erfahrungen von Kriegsgefangenen (-• Krieg), Heimatvertriebenen und Flüchtlingen hat er eine Monogr. über das Verhältnis der Deutschen zum Wald folgen lassen. Darin versuchte er u. a.,

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mit Zeitzeugenbefragung den „Auswirkungen von Erfahrungen, Erinnerungen, Wünschen, Abneigungen im Leben unserer Zeitgenossen und [der] Wirkung kultureller Traditionen auf das Bewußtsein" auf die Spur zu kommen 24 . Am Inst, für Vk. der Univ. Hamburg ist aufgrund derartiger Arbeiten ein Archiv für alltägliches Erzählen entstanden 25 . Aus Lehmanns Schülerkreis sind weitere der Ο. H.Dokumentationstechnik verpflichtete Arbeiten hervorgegangen, ζ. B. die von H. J. Schröder über die Erinnerungen ehemaliger Mannschaftssoldaten an den 2. Weltkrieg. Der Autor kommt nach Auswertung von 72 lebensgeschichtlichen Interviews zu dem Ergebnis, daß dieses Material eigene Tradierungsmechanismen aufweist 26 : Viele der Befragten hatten die Realität des Krieges noch nicht zu festen, tradierbaren Erzählungen geformt, sondern waren erst im lebensgeschichtlichen Interview dazu gelangt, die in ihnen schlummernden ,stummen Geschichten' ans Tageslicht zu bringen und die .Tradition des Schweigens'27 zu brechen. D. Sedlaczek hat anhand von sechs Biogr.n ehemaliger Insassen nationalsozialistischer Konzentrationslager Formen der Bewältigung der traumatischen Erfahrungen aufgezeigt28. Mit einer Arbeit über die Lebenserinnerungen von Rußlanddeutschen hat K. Brake 29 einen O. H.-Beitr. zur Erforschung von Deutschland als Einwanderungsland erbracht. Ein Tübinger Forschungsprojekt ist der Frage nachgegangen, was Ost- und Westdeutsche übereinander erzählen30. Die Stärken der Ο. H.-Dokumentation liegen in der Rekonstruktion der subjektiven Seite der Geschichte und der Einbeziehung des Individuums in regional- und alltagshist. Fragestellungen31 sowie in der Offenheit für interdisziplinäre Zusammenarbeit und der Einbeziehung breiter sozialer Schichten in eine neue Geschichtsbetrachtung ,νοη unten' 32 ; auch für die Erforschung der Frauengeschichte des 20. Jh.s hat die Ο. H.-Methode Bedeutung erlangt 33 . Die Schwächen des Verfahrens bestehen darin, daß die erhobenen mündl. Quellen durch den Prozeß des Erinnerns und -» Vergessens, des Verdrängens, Selektierens etc. hindurchgegangen sind34, ein Problem, dem durch Kombination mit anderen Quellenzeugnissen und Quellenkritik begegnet werden muß.

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Während zeitgeschichtliche hist. Unters.en die Aussagen der Interviewten meist aus den Interviews herauslösen und systematisch analysieren, bemühen sich volkskundliche Unters.en häufig, die Würde der erzählten Lebensgeschichten dadurch zu erhalten, daß die integralen Erzähltexte zum Abdruck gebracht werden. D e n Beginn dieser Tendenz kennzeichnet die Slg von Biogr.n ung. Einwanderer in Kanada, die L. Degh bei Tabakfarmern in Ontario erhoben hat: Die Autorin faßt erzählte Lebensgeschichten als ein eigenes Genre auf und zeigt, daß Märchen und Lebensgeschichten Gemeinsamkeiten aufweisen: Beide sind Erfolgsgeschichten (career stories), in deren Mittelpunkt die Höhepunkte des Lebens stehen; beide brechen auf dem Höhepunkt des Erfolgs ab, und es wird in der Regel nichts mehr über den weiteren Verlauf des Lebens mitgeteilt 35 . Weiter ist festzustellen, daß sich viele Menschen, zumal Frauen, beim Erzählen von Lebensgeschichten an Strukturen von Märchen und an gängigen Erfolgsmustern der modernen Bild- und Printmedien (-• Medien, audiovisuelle) orientieren 36 . Insgesamt stellt die Ο. H.-Bewegung für die Zeitgeschichtsforschung eine Belebung dar. Auch die Vk. allg. und speziell die Erzählforschung haben davon profitiert, daß mehr und mehr der Mensch als h o m o narrans in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses gerückt ist und daß sich das neue Fachverständnis in Richtung auf eine .demokratische Kulturgeschichtsschreibung' 37 entwickelt hat. Eine Reihe jüngerer Editionen mit gesprochenen bzw. geschriebenen Autobiographien 3 8 hat die wiss. Wahrnehmung des alltäglichen Erzählens und damit das Spektrum der Erzählforschung erheblich erweitert 39 . 1 Allg. Einführungen cf. Douglas, L./Roberts, A./ Thompson, R.: Ο. H. A Handbook. Sydney u. a. 1988; Harris, R. I. u. a.: The Practice of Ο. Η. A Handbook. Chapel Hill, N. C. 1979; Ives, E. D.: The Tape Recorded Interview. A Manual for Fieldworkers in Folklore and Ο. H. Knoxville, Tenn. 1980; Perks, R.: Ο. H. Talking about the Past. L. 1992; Thompson, P.: The Voice of the Past. Ο. H. Ox./ Ν. Y. 1988; Tonkin, E.: Narrating Our Pasts. The Social Construction of Ο. H. Cambr. 1992; zentrale Zss. und Bibliogr.n: Ο. H. Review (1978 sqq.); Ο. Η. (1969 sqq.); Internat. J. of Ο. Η. (1980 sqq.); Bios (1988 sqq.); Havlice, P. P.: Ο. Η. A Reference Guide and Annotated Bibliogr. Jefferson, N. C./L. 1985; Perks, R.: Ο. H. An Annotated Bibliogr. L. 1990;

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Oral Poetry

Vk.kongresses Göttingen 1989. Göttingen 1991, 197-207, hier 197. - 24 id.: Von Menschen und Bäumen. Die Deutschen und ihr Wald. Reinbek 1999, 17. - 25 Schröder, H. J.: Archiv für „alltägliches Erzählen" im Hamburger Inst, für Vk. In: Bios 1,1 (1988) 113-119. - 26 id.: Die gestohlenen Jahre. Erzählgeschichten und Geschichtserzählung im Interview. Tübingen 1992, 134. - "Lehmann, Α.: Militär als Forschungsproblem der Vk. In: ZfVk. 78 (1982) 230-245, hier 245. - 28Sedlaczek, D.: „Das Lager läuft dir hinterher". Leben mit nationalsozialistischer Verfolgung. B./Hbg 1996; cf. Pollak, M.: Die Grenzen des Sagbaren. Lebensgeschichten von KZÜberlebenden als Augenzeugenber.e und Identitätsarbeit. Ffm./N. Y. 1988. - 29 Brake, K.: Lebenserinnerungen rußlanddt. Einwanderer. B./Hbg 1998. — 30 Adamez-Leichtle, A./Warneken, B. J. (edd.): Spiegelbilder. Was Ost- und Westdeutsche übereinander erzählen. Tübingen 1995; Althaus, H.-J./Warneken, B. J. (edd.): Auslandsdeutsche. Westdt. Reiseerzählungen über Ostdeutschland. Tübingen 1996. 31 Zang, G.: Die unaufhaltsame Annäherung an das Einzelne. Reflexionen über den theoretischen und praktischen Nutzen der Regional- und Alltagsgeschichte. Konstanz 1985. - 32 Botz, G./Weidenholzer, J.: Mündl. Geschichte und Arbeiterbewegung. Wien 1984. - 33 Hagemann, K.: „Ich glaub' nicht, daß ich Wichtiges zu erzählen hab' ..." Ο. H. und hist. Frauenforschung. In: Vorländer (wie not. 2) 29-48, bes. 44-46, not. 4 und 5 (Bibliogr.). 34 cf. Bönisch-Brednich u.a. (wie not. 23). — 35 Degh, L.: People in the Tobacco Belt. Four Lives. Ottawa 1975. - 36 ead.: Beauty, Wealth and Power. Career Choices for Women in Folktales, Fairytales and Modern Media. In: Fabula 30 (1989) 43-62, hier 45. - 37 Fielhauer, Η. P.: Vk. als demokratische Kulturgeschichtsschreibung. In: Ehalt (wie not. 7) 59-79. - 38 Rosengarten, T.: All God's Dangers. The Life of Nate Shaw. Ν. Υ. 1974; Brednich, R. W.: The Bible and the Plough. The Lives of a Hutterite Minister and a Mennonite Farmer. Ottawa 1981; Sauermann, D. (ed.): Aus dem Leben eines Heuerlings und Arbeiters. Rudolf Dunkmann berichtet. Münster 1980; Schenda, R.: Lebzeiten. Autobiografien der Pro-Senectute-Aktion. Zürich 1982; Warneken, B.-J.: Populäre Autobiographik. Empirische Studien zu einer Qu.ngattung der Alltagsgeschichtsforschung. Tübingen 1985. - 39 cf. auch die Reihe Erzählte Geschichte. Alltagsgeschichtliche Lesebücher des 20. Jh.s. Erfurt 1999 sqq. (1999 erschienen Falkenberg, K.: Alltag in Nürnberg 1914-1970; Schwab, M./Köhler, M.: Zeitspiegelungen. Ingelheim von den Dreißigern bis heute; Lutz, D.: Die wilden Jahre? Junge Leute in Bietigheim-Bissingen 1920-1999). Göttingen

Rolf Wilhelm Brednich

Oral Poetry 1. Einleitung - 2. Methoden - 3. Die Rolle der Tradition - 4. Zusammenfassung

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1. E i n l e i t u n g . Mündl. Dichtung wurde früher in der Regel als verbale Kunst verstanden, die ohne Hilfe von Schrift oder Texten meist von illiteraten Dichtern (-> Analphabetismus) verfaßt und vorgetragen wurde (-• Orale Tradition, Volksdichtung, Naturpoesie). Entsprechend wurde sie ursprünglich in bezug auf das, was sie nicht ist, definiert: Von wiss. Interesse war gewöhnlich eher das, was der mündl. Dichtung fehlt, als die charakteristischen Eigenschaften, durch die sie sich auszeichnet. Erklärt werden sollte, wie sie ohne jene künstlichen Wahrnehmungshilfen (Hss., Druck, Audio- und Videorecorder) geschaffen und reproduziert werden konnte, die in den westl. Kulturen des späten 20. Jh.s als wesentliche Träger verbaler Kunst gelten. Mündl. Dichtung hat sich jedoch als ein weltweites Phänomen erwiesen, das zu den frühesten Aktivitäten der menschlichen Kultur gehört und den internat. Kanon ,schriftl. Dichtung' sowohl bezüglich des Umfangs als auch der Vielfalt in jeder Hinsicht als klein erscheinen läßt. Die jüd.-christl. Bibel (-• Altes Testament, Neues Testament) und das SanskritEpos Rämäyana wurzeln ebenso in der mündl. Überlieferung wie -> Homers Ilias und Odyssee, die ma. frz. Chansons de geste, die vorislam. arab. Dichtung oder die altchin. Lyrik des Shih Ching1. In der modernen Welt ist mündl. Dichtung omnipräsent, vom westafrik. Son-Jara-Epos bis hin zu den Zentralasiat. Geser Khan-Zyklen, den Maya-Erzählungen Guatemalas und der Rapmusik afroamerik. Jugendlicher in den USA 2 . In den letzten Jahrzehnten wurden von der O. R-Forschung bedeutende Fortschritte erzielt. Grundsätzlich wird mündl. Dichtung mehr und mehr als Sprache denn als Gegenstand, als Prozeß denn als Produkt, als Sprechakt mit einer großen Dichte verschlüsselter Bedeutungen denn bloß als zu analysierende Transkription eines Texts wahrgenommen. In der Vergangenheit stellte das .Dichten' für einige Forscher das Hauptkriterium bei der Definition von Ο. P. dar. Verlangt wurde daher, daß die Werke mündl. Dichtung von analphabetischen Künstlern geschaffen sein mußten. Dieser Standpunkt geht letztlich auf die romantische Vorstellung vom blinden Sänger als , Stimme des Volkes' zurück und ist stark der Idealisierung Homers als textloses

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Genie verpflichtet3. Für andere Gelehrte war das Hauptkriterium der eng mit dem Dichtungsvorgang verwandte Faktor der Performanz. Nur wenn Dichter oder Dichterin das Werk tatsächlich mündl. vor einem Publikum vortrügen, dürfe das Produkt mündl. Dichtung genannt werden. Demgegenüber hat die -> Formeltheorie gezeigt, daß sich mündl. Dichtung unmißverständlich durch eine Kombination beider Faktoren, d. h. Dichten während der Performanz, auszeichnet. Die Festlegung ausschließender Typologien schien anfanglich eine praktikable Strategie zu bieten; die Unterteilung aller Dichtung in zwei gegensätzliche Kategorien lief auf eine Definition ihrer Inhalte in Relation zueinander hinaus, wobei das Unbekannte (mündl. Dichtung) gegen das Bekannte (schriftl. Dichtung) gesetzt wurde. Fast unmittelbar ergaben sich aber zwei größere Probleme. Erstens stellten die antiken und ma. Traditionen ein Rätsel dar: Selbst wenn Dichtungen letztlich aus einer Zeit zu stammen schienen, in der Lesen und Schreiben entweder unbekannt oder nur in äußerst beschränktem Umfang verbreitet waren, wie konnte man dann mit absoluter Sicherheit über ihren Ursprung urteilen? Wenn alles, was von ihnen überdauert hatte, die schriftl. Aufzeichnung war, wie konnte man die ungeschriebene Realität bewerten? Das zweite Problem betraf einen Zwischenbereich zwischen beiden Kategorien und die Frage der ,Übergangstexte'. Wohin gehört eine Dichtung, die schriftl. verfaßt worden war, aber nur mündl. vorgetragen wurde? Welcher der beiden Seiten ist ein Dichter oder eine Dichterin zuzurechnen, wenn er oder sie des Lesens und Schreibens kundig und vielleicht sogar in der Lage war, schriftl. Quellen zu Rate zu ziehen, zum Dichten von dieser Fertigkeit aber selten oder nie Gebrauch machte? Berichte aus Feldforschungen und Bibliotheken erwiesen die Unzulänglichkeit des dichotomen Modells und sprachen für eine weitere Differenzierung des Konzepts der mündl. Dichtung. Zur Vermeidung einer simplifizierenden Darstellung nehmen viele Wissenschaftler inzwischen die Kategorie der aus dem Mündlichen abgeleiteten Texte hinzu, unter die sowohl aus hist. Gründen nur schriftl. überlieferte Werke als auch moderne Romane, Gedichte und Erzählungen

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fallen, die inhaltlich oder stilistisch aus der mündl. Tradition schöpfen 4 . 2. M e t h o d e n . In der Ο. P.-Forschung des 20. Jh.s dominierten vier Betrachtungsweisen mündl. Dichtung: In chronologischer Reihenfolge sind dies (1) die Formeltheorie (OralFormulaic Theory), (2) Forschungen zum Problembereich Mündlichkeit-Schriftlichkeit bzw. Mentalitätsgeschichte, (3) die Ethnopoetik und (4) performanzorientierte Studien5. Die von M. -> Parry und Α. B. Lord begründete Formeltheorie, die das Phänomen epischen Dichtens durch analphabetische Sänger zu erklären versucht, entstand in den 30er Jahren aus der Textanalyse der homerischen Epen in Zusammenschau mit vergleichenden Feldforschungen im damaligen Jugoslawien6. Nach Parry und Lord wird mündl. Dichtung während des Vortrage neu geschaffen; sie ist also nicht auswendig gelernt, sondern wird mit der strukturellen Hilfe phraseologischer und narrativer Muster neu erzählt. Dichter, die diese vielgestaltigen Muster beherrschten, seien in der Lage, außerordentlich lange Erzählungen flüssig zu (re)konstruieren, indem sie Formeln (auf der Ebene des Satzes), Themen (auf der Ebene typischer Szenen) und Erzählmuster (auf der Ebene der Erzähltypen) den Vertragsbedingungen entsprechend einsetzten. Daß Parry und Lord diese als ,große Worte' bezeichneten Elemente tatsächlich im Gesangsrepertoire lebender bosn. Guslaren finden konnten, trug wesentlich zur Erhärtung ihrer Thesen in bezug auf Homer und andere längst erloschene Traditionen bei. Seither wurde die Parry-Lordsche Formeltheorie auf weit über 100 verschiedene Traditionen von der Antike bis zur Gegenwart angewandt 7 . Ihre Stärke liegt in ihrer Konzentration auf Strukturen und die Erfordernisse der Performanz sowie in ihrer interdisziplinären und vergleichenden Perspektive; ihre Beschränkungen sind auf die Enge des Modells (hauptsächlich lange europ. Epen) zurückzuführen sowie darauf, daß sie das Produkt mehr als den Prozeß, den Kontext und die Begleiterscheinungen der mündl. Dichtung in den Mittelpunkt stellt. In den 60er Jahren des 20. Jh.s brachten Mündlichkeits-Schriftlichkeits-Forschungen einen abstrakteren mentalitätsgeschichtlichen Zugang zum Verständnis der mündl.

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Dichtung. Diese wiss. Schule, vertreten zuvorderst durch W. Ong und E. Havelock, beschrieb die umwälzende Entwicklung von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit als nichts weniger denn eine Umstrukturierung des Bewußtseins 8 . Jedes Stadium war durch eine andere, charakteristische ,Technologie des Wortes' gekennzeichnet, und weitgehende Verallgemeinerungen wie ,mündl. Kultur' dienten als heuristische Werkzeuge zur Unters, der Rolle der homerischen Epen als .kulturelle Enzyklopädie'. Wie bei der Formeltheorie versuchten spätere Mündlichkeits-Schriftlichkeitsforscher, bes. P. Zumthor und U. Schaefer 9 , das Dichotomie-Modell zu überwinden, indem sie Konzepte wie Vokalität und mouvance zur Beschreibung der oral-auralen Realität antiker und ma. Dichtungen bei ihrem .Fortschreiten' oder .Wechsel' von einer Performanz oder Realisation zur anderen benutzten. Anfang der 90er Jahre wurde nachgewiesen, daß selbst ma. Schreiber, die früher nur als mechanisch arbeitende Kopisten angesehen wurden, welche beim Abschreiben gelegentlich Fehler machten, Anteil an der (Re-)Performanz und damit an der (Neu-) Schöpfung mündl. Dichtung hatten 10 . Durchdacht und mit Vorsicht angewandt, kann der mentalitätsgeschichtliche Ansatz sowohl die Ähnlichkeiten als auch die Unterschiede der unzähligen Formen mündl. Dichtung erhellen. Ethnopoetik und Performanzstudien sind von Anbeginn miteinander verbunden und weisen viele Gemeinsamkeiten auf. Die Prämisse der Ethnopoetik ist einfach, aber radikal: Anstatt von einer konventionellen poetischen Matrix europ. Prägung auszugehen, will sie jede mündl. Dichtung eigenständig deuten. Diese Forschungsrichtung, die vor allem durch die Arbeiten von D. Hymes und D. Tedlock zur verbalen Kunst autochthoner amerik. Völker vorangetrieben wurde 11 , stellt das gemeinhin gültige Verständnis von , Dichtung' grundsätzlich in Frage. Für Hymes bedeutet Lesen (oder besser Hören) der autochthonen mündl. Dichtung Amerikas eine Reedition dessen, was frühere Feldforscher ursprünglich in Form von Prosaerzählungen niedergeschrieben hatten: Durch die Erschließung einer indigenen Ordnung traditionsabhängiger Elemente wie Zeilen, Verse, Strophen, Szenen und Akte vermittelt er dem Publikum ein Lese-

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oder Hörerlebnis von einzigartiger Treue (-• Authentizität). Tedlock betont paralinguistische Züge wie Pause, Stimmumfang, Tonfall etc.; indem er Texttendenzen aufdeckt und gerade die Aspekte herausstellt, die die mündl. Dichtung am hervorstechendsten auszeichnen, beseitigt er die verzerrende Linse der europ. literar. Tradition. Die Ethnopoetik bietet somit sowohl eine sichere theoretische Grundlage als auch ein großes Potential an angemessen differenzierten Darstellungsschemata 12 . Bei der Anwendung dieser Methode ist es jedoch von entscheidender Wichtigkeit, dem Beitrag einer poetischen Tradition in ihrer Gesamtheit Rechnung zu tragen und momentane, individuelle Erscheinungen, die sich auf einen einzigen Vortragenden oder eine einzige Performanz beschränken, von regelmäßig wiederkehrenden Strategien zu unterscheiden, die Teil der traditionellen poetischen parole sind. Diese Spannung zwischen poetischer Tradition und dem Individuellen bleibt für alle Arten wiss. Bemühung um die mündl. Dichtung von Belang. Performanzuntersuchungen behandeln all jene Aspekte mündl. Dichtung, die gewöhnlich bei der Umsetzung einer Performanz in Gedrucktes ausgemerzt werden. Daher konzentriert sich auch dieser Forschungsansatz auf viele der von der Ethnopoetik erkannten linguistischen und paralinguistischen Faktoren, betont aber grundsätzlicher die Eigenheiten des Performanzvorgangs 13 . Es interessieren die Voraussetzungen, unter denen Dichter und Publikum (-• Zuhörer) den Ort der Kommunikation betreten, sowie die Unterschiede zwischen der tatsächlichen Teilnahme an einer Performanz mündl. Dichtung und dem lautlosen Lesen der Niederschrift dieses Ereignisses. Bei solchen Fragen ist der Kontext der verbalen Kunst zu berücksichtigen, wobei der Stellenwert jeder Performanz im sozialen Leben zu bestimmen und die Rollen aller Teilnehmer - des Dichters, des Publikums und auch des Feldforschers — genau zu erschließen sind (-• Interaktion). Aber die Anwendung dieser Methode endet nicht mit der Teilnahme am Vorgang selbst: Viele der von R. Bauman als in der mündl. Dichtung bedeutungsstiftend angeführten , Schlüssel zur Performanz' sind auch auf Texte übertragbar, die sich aus dem Mündlichen ableiten. So entsprechen be-

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stimmte Arten der Chiffrierung, bildhafte Sprache, Parallelismus und eine spezielle Art von Formeln dem Wesen der Tradition, und Performanz-Disclaimer finden sich alle in antiken und ma. Handschriften, die entweder mündl. Dichtung enthalten oder eng mit ihr verwandt sind. 3. Die Rolle der T r a d i t i o n . Was alle vier Ansätze gemeinsam haben — und viele der mit ihnen verbundenen Probleme löst - ist das Konzept und die Realität der -» Tradition. In der früheren Forschung galt die größte Aufmerksamkeit dem Begriff des ,Mündlichen': Diese Bezeichnung schien den Vorteil zu haben, klar ein Medium verbaler Kunst zu definieren, das dem gebräuchlichen Medium der Lit. gegenüberstand. Aber mit der Erkenntnis, daß mündl. Dichtung ein komplexes und vielgestaltiges Spektrum und nicht einen simplen Gegenpol bildet, hat,mündl.' seine scheinbare Präzision verloren14. In dem Maße, in dem ,Mündlichkeit' an Wichtigkeit verlor, vollzog sich eine zunehmende Konzentration auf Tradition' in einem bes. Sinne — als ein flexibles Ganzes aus Strukturen und innewohnenden Bedeutungen, im wesentlichen eine spezialisierte Sprache, die für Dichter wie Publikum einen verschlüsselten Sinn besitzt. Die flüssige Beherrschung dieser traditionellen Sprache bzw. dieses traditionellen Registers bedeutet aktive Teilnahme an einer fruchtbaren Kommunikation, entweder als Vortragender oder als einer der Zuhörer bei der Performanz. Diese Art der Tradition ist keineswegs nur monolithisches, statisches Erbe, sondern dient der Schaffung und Übermittlung mündl. Dichtung, indem sie ihr eine Bezugsbasis liefert. Sie gibt jeder Performanz und jedem aus dem Mündlichen abgeleiteten Text einen lebendigen Kontext 15 . Diese Vorstellung von Traditionsbezug trifft auf alle vier beschriebenen Forschungsrichtungen zu. Bei der Formeltheorie lenkt sie die Aufmerksamkeit über die wiederkehrenden Muster hinaus auf deren implizite Bedeutung oder auf Hinweise, die sie geben. Formeln dienen ζ. B. als chiffrierte Charakterisierung einer Person oder als klangvolle Bezeichnung eines Ortes: .schnellfüßiger -» Achilleus' ist immer eine passende Wendung für den griech. Helden, weil sie seinen Charakter idiomatisch ver-

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schlüsselt, und ,weindunkle See' ist eine einzigartige Kennzeichnung für ein bekanntes Merkmal der traditionellen Landschaft. Ebenso geben Themen und Erzählmuster das Stichwort für eine unmittelbar bevorstehende einmalige Handlung vor dem mitklingenden zeitlosen Hintergrund. Wenn ->• Beowulf seine Rüstung anlegt und Prahlereien ausstößt, ist dies Teil eines ags. Rituals zur förmlichen Einleitung der Schlacht. Und schon das Schreien des Helden im Gefängnis, mit dem der südslav. Guslar das Lied von der Heimkehr des Gatten (AaTh 974; Gefangenschaft, Kap. 2.3) einleitet, impliziert eine vorhersehbare Kette von Ereignissen, angefangen bei der ausgehandelten Freilassung über die unerkannte Heimkehr in Verkleidung und die Rache an den Rivalen bis zur Wiedervereinigung mit der Ehefrau oder Braut. Der mündl. Dichter schafft, und das Publikum hört oder liest im idiomatischen Kontext der poetischen Tradition. Ähnlich hilft bei Mündlichkeits-Schriftlichkeits-Forschungen Tradition als Sprache (als Variation innerhalb bestimmter Grenzen), einen Mittelgrund (oder Schnittbereich) herzustellen, der veranschaulicht, wie Darbietende und Publikum für ihren verbalen Austausch aus einer Anzahl unterschiedlicher Register wählen können und wie entsprechend vorbereitete Leser in Texten, die aus dem Mündlichen abgeleitet sind, immer noch das Echo der Tradition ,hören' können. Das Verständnis der Tradition als Bezugssystem erlaubt es dem mentalitätsgeschichtlichen Zugang, über das konventionelle binäre Modell von Mündlichkeit versus Schriftlichkeit hinauszugelangen und zu erklären, in welchen vielfältigen Situationen sich eine Kultur, Gruppe oder auch ein einzelner der Techniken des Lesens und Schreibens für bestimmte Zwecke bedienen kann, selten aber (wenn überhaupt) für die mündl. Dichtung. So wie Mehrsprachige lernen, mit mehr als einer Sprache umzugehen und in der jeweiligen Situation die richtige anzuwenden, so wechseln Dichter und ihr Publikum beim Umgang mit den verschiedenen verbalen Anforderungen des Alltags das Register. Aus demselben Vermögen, mehr als ein Register flüssig zu beherrschen, erklärt sich auch die Fähigkeit gebildeter Leser, aus dem Mündlichen abgeleitete Texte zumindest teilweise wieder in ihren traditionellen Kontext einzubinden.

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Schließlich befruchtet das Bewußtsein der Rolle der Tradition beim Schöpfungsvorgang und beim Erleben mündl. Dichtung das Editionsprogramm der Ethnopoetik ebenso wie es eine Erklärung für die bes. Kraft der Performanz bietet. Kein verbales Kunstwerk kann adäquat wiedergegeben werden, wenn seine Edition nicht auf Grundlage seiner eigenen Poetik erfolgt; und die Poetik mündl. Dichtung rührt nicht bloß aus dem Einzelwerk oder der Einzelperformanz her, sondern aus einer umfangreicheren Tradition, die den wichtigsten Kontext jedes Werks bzw. jeder Performanz bildet. Wer wirklichkeitsgetreue und nützliche Editionen schaffen will, muß die Sprache der jeweiligen mündl. Dichtung lernen, ihre traditionsabhängige Poetik zur Geltung bringen und darf ihr keine fremden Eigenschaften aufoktroyieren. Wenn Zeilenlänge, Pause, Alliteration oder ein Begleitinstrument regelrechter Bestandteil der Botschaft sind, müssen die traditionellen Bedeutungen dieses Elements entschlüsselt und die Editionen angemessen gestaltet werden. Ebenso muß man zur Einschätzung des Gewichts der Performanz selbst wissen, welche Eigenschaften traditionell deren bes. Ausdruckskraft ausmachen - die Melodie der Sängerstimme, ein Gegenstand, der zur Ritualisierung beiträgt, oder eine spezielle Jahreszeit. Ein jedes dieser Details kann - wie andere mehr - auf den traditionellen Hintergrund verweisen, der die einzelne, zeitgebundene Performanz füllt; jedes kann den Hörern oder Lesern Orientierungshilfen zu einem bestimmten Verständnis des Vorgangs geben. 4. Z u s a m m e n f a s s u n g . Zusammengefaßt ist mündl. Dichtung eine außerordentlich alte und noch immer äußerst weitverbreitete Form verbaler Kunst. Sie ging der Entwicklung von Schriftsystemen lange voraus und erfüllt weltweit nach wie vor eine große Fülle sozialer Funktionen, von magischen und religiösen bis zu hist, und ästhetischen, und sie existiert oft neben schriftl. oder gedr. Texten, die aus derselben Kultur oder sogar von derselben Person stammen. Die neuere Forschung hat das binäre Modell Mündlichkeit versus Schriftlichkeit durch ein komplexes Spektrum von Formen ersetzt, von denen viele sowohl mündl. als auch schriftl. beeinflußt sind. Die Wiss. hat auch er-

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kannt, daß nicht allein die beim mündl. Vortrag aufgezeichneten Texte wert sind, untersucht zu werden, sondern auch alle anderen Dimensionen, die bei der Reduktion von Performanzen auf Texte gewöhnlich verschwinden oder übersehen werden. Daneben haben aus dem Mündlichen abgeleitete Texte, die in verschiedener Weise mit der mündl. Tradition verbunden sind, hinsichtlich ihrer Poetik einiges mit eigentlichen mündl. Performanzen gemeinsam und verdienen daher eine Bewertung nach denselben Maßstäben. Vor allem aber erwies sich Traditionsbezug als natürlicher Hintergrund der mündl. Dichtung: wie in jeder Sprache muß auch hier gelernt werden, den idiomatischen Sinn der Worte des Sprechers oder Verfassers ebenso wie ihre lexikalische Bedeutung zu verstehen. Idiomatische Bedeutungen haben in der mündl. Dichtung einen bes. Stellenwert, da in ihr jede einzelne Handlung — so singulär sie auch sein mag - im Kontext der umfassenderen Tradition stattfindet. Um es in Form eines Sprichworts zu sagen:,Mündl. Tradition funktioniert wie Sprache, nur noch mehr.' 1 cf. ζ. B. Niditch, S.: Oral World and Written World. Ancient Israelite Literature. Louisville 1996; Kelber, W.: The Oral and the Written Gospel. Bloom. 1997; Richman, P. (ed.): Many Rämäyanas. Berk. 1991; Edwards, M.: Homer and Oral Tradition. In: Oral Tradition 1 (1986) 171-230, 3 (1988) 11-60, 7 (1992) 284-330; Duggan, J.: The Song of Roland. Formulaic Style and Poetic Craft. Berk. 1973; Zwettler, M.: The Oral Tradition of Classical Arabic Poetry. Columbus 1978; Wang, C.-H.: The Bell and the Drum. Shih Ching as Formulaic Poetry in an Oral Tradition. Berk. 1974. - 2 cf. z.B. Johnson, J. W.: The Epic of Son-Jara. Bloom. 1992; Heissig, W.: The Present State of the Mongolian Epic and Some Topics for Future Research. In: Oral Tradition 11 (1996) 85-98; Canales, M. C./Morrissey, J. F.: Gracias, Matiox, Thanks, Hermano Pedro. A Trilingual Anthology of Guatemalan Oral Tradition. Ν. Y. 1996; Pihel, E.: A Furified Freestyle. Homer and Hip Hop. In: Oral Tradition 11 (1996) 249-269; Foley, J. M.: Oral-Formulaic Theory and Research (An Introduction and Annotated Bibliography). N. Y./L. 1985 (mit aktuellem Stand in der Zs. „Oral Tradition" und der Homepage des Center for Studies in Oral Tradition an der Univ. of Missouri in Columbia); cf. id. (ed.): Teaching Oral Traditions. Ν. Y. 1998 (pädagogischer Überblick mit mehr als 30 Überlieferungen). - 3 cf. id.: Individual Poet and Epic Tradition. Homer as Legendary Singer. In: Arethusa 31 (1998) 149-178. - 4 cf. id.: Traditional Oral Epic. Berk. 1990, bes. 5 - 8 . - 5 cf. Zumwalt, R. L.: A Historical Glossary of Critical Approaches. In: Foley 1998 (wie

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not. 2) 75-94. - 6 cf. Foley, J. M.: The Theory of Oral Composition. History and Methodology. Bloom. 1988; Parry, M.: The Making of Homeric Verse. Ox. 1971; Lord, A. B.: The Singer of Tales. Cambr., Mass. 1960; id.: Epic Singers and Oral Tradition. Ithaca 1991; id. (ed.): The Singer Resumes the Tale. Ithaca 1995. - 7 cf. Foley 1998 (wie not. 2) und die zahlreichen Beitr.e in Oral Tradition 1 sqq. (1986 sqq.). - 8 cf. dazu Ong, W. J.: Interfaces of the Word. Studies in the Evolution of Consciousness and Culture. Ithaca 1977; id.: Orality and Literacy. The Technologizing of the Word. L. 1982; Havelock, Ε. Α.: Preface to Plato. Cambr., Mass. 1963; id.: The Literate Revolution in Greece and Its Cultural Consequences. Princeton 1982. - 9 Zumthor, P.: Introduction ä la poesie orale. P. 1983; Schaefer, U.: Vokalität. Altengl. Dichtung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Tübingen 1992. - I0 O'Keeffe, K.: Visible Song. Transitional Literacy in Old English Verse. Cambr. 1990. 11 cf. dazu Hymes, D.: In Vain I Tried to Tell You. Essays in Native American Ethnopoetics. Phil. 1981; Tedlock, D.: The Spoken Word and the Work of Interpretation. Phil. 1983. - 12 cf. DuBois, T.: Ethnopoetics. In: Foley 1998 (wie not. 2) 123-135. - 13 cf. dazu Bauman, R. (ed.): Verbal Art as Performance. Rowley, Mass. 1978; id./Briggs, C.: Poetics and Performance as Critical Perspectives on Language and Social Life. In: Annual Review of Anthropology 19 (1990) 59-88; Bauman, R./Braid, D.: The Ethnography of Performance in the Study of Oral Traditions. In: Foley 1998 (wie not. 2) 106-122. - 14 cf. ζ. B. Foley (wie not. 4); Finnegan, R.: O. P. Its Nature, Significance, and Social Context. Cambr. 1977. - 15 Zur Bedeutung von Überlieferung cf. Foley, J. M.: Immanent Art. From Structure to Meaning in Traditional Oral Epic. Bloom. 1991; id.: The Singer of Tales in Performance. Bloom. 1995; id.: Homer's Traditional Art. University Park 1999; Bradbury, N.: Traditional Referentiality. The Aesthetic Power of Oral Traditional Structures. In: Foley 1998 (wie not. 2) 136-145.

Columbia, Missouri

John Miles Foley

Orale Tradition 1. Definition und Einführung - 2. Forschungslage - 3. Geschichtliches - 4. Diffusion und Kommunikation — 5. Kontinuitätsfragen - 6. Gattungsunterschiede — 7. Anonymität und ο. T. - 8. Stilkriterien o.r T. — 9. Neue Formen oraler Tradierung

1. D e f i n i t i o n u n d E i n f ü h r u n g . Der Prozeß der mündl. Überlieferung verschiedenster Sachverhalte — und zwar in schriftlosen wie in Schriftkulturen - führt als Resultat zu dem Überlieferten. Während im Deutschen der Prozeß vorrangig als Tradierung bezeich-

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net wird, steht der Terminus Ο. T. vorrangig für das Ergebnis (cf. auch Biologie des Erzählguts; Erzählen, Erzähler; Performanz; Tradition). Die ->• Vermittlung beruht auf verbaler Kommunikation, die sich in privaten oder öffentlichen Kontexten und verschiedenen Graden von Direktheit vollzieht. Oralität galt in der Vk. lange Zeit als ein bes. Qualitätsmerkmal, während der Aussagewert mündl. Qu.n in anderen Disziplinen (Geschichtswissenschaften, Philologien) eher kritisch betrachtet wurde 1 . Häufig war Schriftlosigkeit und die daraus erschlossene weitgehend mündl. Übermittlung aller Arten von Traditionen auch nur eine Beschreibungshilfe: für Ethnologen, als Kennzeichen indigener Gesellschaften, und für Historiker, die die vorschriftl. Zeit weitgehend mit der vorgeschichtlichen gleichsetzten2. In der Erzählforschung hingegen bedeutete Mündlichkeit durchweg eines der wesentlichen Kriterien für Volksüberlieferung. Alles, was als Folklore (-• Litterature orale) gelten sollte, mußte „über die Kanäle der oralen Vermittlung die Zeit durchlaufen haben" 3 , ein Charakteristikum, das unverzichtbar schien4. Doch schon in der 1. Hälfte des 20. Jh.s setzte sich mehr und mehr die Erkenntnis durch, daß Volkserzählungen keineswegs nur mündl. zirkulierten 5 . Für die Folklore scheinen vielmehr semiliterar. Prozesse6 charakteristisch, also ein Wechselverhältnis zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, mit literar. ,Zwischenstrecken' in der mündl. Überlieferungskette und mündl. in der literar. (-• Lit. und Volkserzählung)7. ,Reine' Mündlichkeit gilt — zumindest für den europ. Raum - heute als eine Forscherfiktion vor allem des 19. Jh.s. Bereits um die Jh.wende war das Oralitätspostulat brüchig geworden, als man — wie es ζ. B. J. Meier in seinem Vortrag Kunstlied und Volkslied in Deutschland (1897) angeregt hatte — kollektiv rezipierte Individualdichtung (Hochliteratur) als „Kunstdichtung im Volksmunde" in die (Definition von) Folklore mit einzubeziehen begann 8 . Obwohl sich das Erkenntnisinteresse allmählich von der Entstehung auf den Überlieferungsprozeß einer Erzählung verlagerte, bestimmten noch lange Vorstellungen von gemeinsamem Ursprung und Besitz (-> Kollektivität, Kollektivitätsbewußtsein) oder großer zeitlicher wie inhaltlich-formaler Beständig-

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keit (-• Kontinuität) den wiss. Umgang mit und die späteren Studien zur sog. Oral Poetry der Volksdichtung. Die Idee vom Primat der (Μ. Parry, Α. Β. Lord) von der internat. Mündlichkeit war nicht zuletzt der Vorstellung Folkloristik aufmerksam rezipiert wurden 14 , verpflichtet, die Urform einer Erzählung sind die thematisch damit eng verbundenen Arsei, habe man erst einmal ihre Gesetzmäßig- beiten zur Alphabetisierung illiterater Gesellkeiten der mündl. Überlieferung erfaßt, mehr schaften (-* Analphabetismus) nur teilweise ins oder minder lückenlos rekonstruierbar. Außer Blickfeld hist.-vergleichender Erzählforschung für die Volksdichtung ist mündl. Überliefe- gerückt 15 . Studien zur oralen Theorie scheinen rung auch für andere Bereiche der Volksüber- aber gerade für Erkenntnisse über jenen grundlieferung (Bräuche, Volkskunst, Volkstanz legenden Bewußtseinswandel von großer Tragetc.) bedeutsam. weite, der mit der Verbreitung der Schreib- und Bei der Erforschung des Verhältnisses von Lesefahigkeit in einer vormals mündl. orienMündlichkeit und Schriftlichkeit ist immer tierten Gesellschaft einhergeht16. von einem quellenspezifischen Grundproblem Daneben wurde der Erinnerung im mündl. auszugehen: Man kann das, was in der Ver- Traditionsprozeß immer größere Aufmerkgangenheit mündl. existierte, nur in verschrif- samkeit seitens der Erzählforschung zuteil (-+ teter Form fassen. Aus diesem Umstand ergibt Oral History), von der Erkenntnis ausgehend, sich die Frage, wie und warum welche mündl. daß sprachliche Wiedergabe eines Inhalts beTexte in welcher Form (-• Bearbeitung) von reits Interpretation bedeutet und so die Grenwem festgehalten wurden und wie dies die zen zwischen dem gehörten Text und der subAuthentizität des Überlieferten beeinflußt jektiven Erinnerung an ihn verschwimmen17. hat 9 . Auch Faktoren wie direkte und indirekte Fiktionale Elemente oder Anlehnungen an Zensur spielen bei der Verschriftung von literar. Erzählmuster galten nun nicht mehr Folklore eine große Rolle. nur als Störung der objektiven Wahrheit, sonVerschriftung ist indes nicht die einzige Do- dern erschienen als ein legitimes Mittel, hist. kumentationsform; neue technische Bild- und Traditionen plausibel zu machen (-• GlaubTonträger (-• Medien, audiovisuelle) können würdigkeit). Diese Neubewertung des WahrErzählen und Erzähltes objektiver und unmit- heitsgehalts betraf nicht nur hist. Volkserzähtelbarer wiedergeben als die Schrift, die dem lungen und Lieder18, sondern man dehnte sie Aufzeichner und dem Interpreten vergleichs- auch auf das immer intensiver untersuchte weise viel Spielraum läßt. Die audiovisuelle alltägliche Erzählen 19 , etwa die persönliche ethnogr. Aufzeichnung gilt heute als eine Art Erlebniserzählung20, auf Lebensgeschichder Dokumentation, die — trotz gewisser psy- ten21 oder auch Familiengeschichten22 aus. chol. Störfaktoren bei der -» Feldforschung mit dem Gerät (-• Tonbandaufnahme) - ein 3. G e s c h i c h t l i c h e s . Bes. seit der RoHöchstmaß an Authentizität und Kontrolle mantik wurde Mündlichkeit hoch bewertet, gewährleistet10. Ton- und Videoaufnahmen er- was sich u. a. darin niederschlug, daß man ,im möglichen darüber hinaus den Vergleich von Volkston' dichtete und dabei mehr oder min23 mündl. und schriftl. Versionen ein und dersel- der gekonnt mündl. Überlieferung fingierte . 11 Werke wie die von J. MacPherson (-• Ossiari), ben Erzählung . T. -+ Percy oder E. Lönnrot (-• Kalevala), die 2. F o r s c h u n g s l a g e . Wiss.shistorisch ist auf stark bearb. und willkürlich kombinierten die Einschätzung der o.n T. für viele Diszipli- Traditionsresten beruhen, wurden zu Welternen von größter Bedeutung12. Die For- folgen, und die breite Öffentlichkeit begeischungsgeschichte wurde bes. in den 80er und sterte sich für die ursprüngliche' poetische 90er Jahren des 20. Jh.s in einem internat. an- Kraft, die den angeblich alten Überlieferungen gelegten Freiburger Sonderforschungsbereich innewohnte. Die romantische Theorie von eider Dt. Forschungsgemeinschaft 13 aufgearbei- ner kräftig-eigenständigen mündl. Volkstraditet. Hier wurde das Spannungsfeld zwischen tion, die Sammler und Herausgeber in ihren Mündlichkeit und Schriftlichkeit zum Thema Ausgaben beschworen, wird heute als ein Teil bürgerlichen Ideologie des 19. Jh.s aufgegemacht und interdisziplinär erkundet. Wäh- der 24 rend jedoch die frühen -> Homerforschungen faßt . Damals wollte man lediglich mündl.

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Überliefertes als ,echte' Qu. gelten lassen, konnte dieses Prinzip jedoch - trotz aller Mühe, Literarisches weitgehend auszublenden - letztlich nicht aufrechterhalten 25 . Im Laufe des 19. Jh.s ist ferner zu beachten, daß der spezielle Umgang mit dem Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit bei der Textkonstitution, wie er ζ. B. die Balladenausgabe von F. J. ->• Child auszeichnet, seinerseits vorbildgebend wirkte und programmatische Standards setzte26. Gestützt wurden die Sammelbemühungen durch die Gründung zahlreicher Archive, in denen gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jh.s die nun vermehrt erstellten Aufzeichnungen aus mündl. Überlieferung aufbewahrt wurden. Dort nahm man — zunächst noch relativ unbefangen — in Kauf, daß Mündliches durch die Verschriftung als feste Form fixiert, als ,verschriftete Oralität' systematisiert und so der jeweiligen Auswertung zur Verfügung gestellt wurde. Die Frage nach der Authentizität spielte dabei noch eine vergleichsweise geringe Rolle. Ferner waren Angaben zu Informanten und Aufnahmesituationen, die inzwischen als Selbstverständlichkeit gelten, eher die Ausnahme. Einen hohen Stellenwert hatte Mündlichkeit auch im theoretischen Fundament der -» geogr.-hist. Methode, die um die Jh.wende an Boden gewann. Nur mündl. Überliefertes galt ihren Vertretern als echt, während schriftl. Zeugnisse als literar. bzw. sekundäre Belege abgewertet wurden. Das Postulat von der Dominanz des Mündlichen gilt Kritikern als die größte Schwäche dieser Forschungsrichtung. Erst nach und nach setzten sich Ansätze durch, die ein solches Primat der Mündlichkeit in Frage stellten. So hat ζ. Β. A. -»Wesselski mit seinem Versuch einer Theorie des Märchens literar. Texten eine wichtige Funktion bei der Tradierung zugewiesen27. Diesem Ansatz folgten Einzelstudien, die sich bemühten, gerade den schriftl. Anteil in den Editionen mündl. überlieferter Volksliteratur, etwa in Märchenausgaben 28 , Schwank-29 oder Sagensammlungen 30 nachzuweisen. Schon vorher hatte gegen Ende des 19. Jh.s eine Umbewertung stattgefunden, indem mit der o.n T. eng verbundene Veränderungsprozesse anders bezeichnet wurden. Man sprach nun nicht mehr herabsetzend von Zerrüttung

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(-» Zersägen, zersingen), sondern neutraler von Umerzählen oder Umsingen etc. Damit wurden Abweichungen in der mündl. Tradition nun nicht mehr als Verfälschung der ursprünglichen Qu., sondern als ein kreativer Akt der Überlieferungsträger (-• Kreativität) gewertet, der seinen Ausdruck in der -» Variabilität des Tradierten findet31. Freilich sind die Klagen darüber, daß Folklore in ihren „primären Daseinsformen unrettbar dem Untergang verfallen sei"32, noch allenthalben zu beobachten 33 . Eine neue Dimension gewann die Debatte um die Interdependenzen zwischen mündl. und schriftl. Überlieferung, als das Erzählen experimentell untersucht wurde (-• ConduitTheorie, -> Experimentelle Erzählforschung, -» Selbstberichtigung). Damit begann die hist.vergleichende Erzählforschung aber auch, aktuelle Kommunikationszusammenhänge genauer zu beobachten, um daraus vergangene Überlieferungsweisen und mögliche Gesetzmäßigkeiten der Tradierung zu erschließen34. Andere Ansätze versuchen, über eine Analyse heutigen Erzählens35 oder über die Rolle, die das Gedächtnis im Überlieferungsprozeß spielt36, der o.n T. und ihrem Verhältnis zur Schriftlichkeit näher zu kommen. 4. D i f f u s i o n u n d K o m m u n i k a t i o n . Die räumliche und zeitliche Ausbreitung einer Geschichte verläuft je nach Erzählgegenstand und situativem Kontext äußerst unterschiedlich37, zumal die Faktoren von Mündlichkeit und Schriftlichkeit sowohl in verschiedenen Ländern und Regionen als auch in verschiedenen Epochen unterschiedliches Gewicht besitzen38. Es ist nachgewiesen, daß sich Erzähltypen (-» Typus) und -motive (-» Motiv) mittels o.r T. durch weite Räume und über Zeit-, Sprach- und Kulturgrenzen hinweg verbreitet haben (etwa von Anhängern der Ind. Theorie, ζ. Β. E. -» Cosquin 39 ), detailliert sind die einzelnen Übermittlungsschritte jedoch kaum je zusammengefaßt worden. Neben Zwei- oder Mehrsprachigkeit in Grenzregionen (-• Interethnische Beziehungen) spielen übergreifende kulturelle Vorstellungen, wie eine gemeinsame Religion (cf. -+ Arab.-islam. Erzählstoffe, Buddhist. Erzählgut, Christi. Erzählstoffe), und das kollektive kulturelle Gedächtnis 40 eine Rolle. Andererseits haben manche volks-

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tümlichen Stoffe in früherer Zeit auch in der lat. Verschriftung mühelos Sprachgrenzen überschreiten können 41 ; auch ist - wie zahlreiche Unters.en der finn. Schule gezeigt haben — eine mündl. Weitergabe von Folklore über ethnische und sprachliche Grenzen hinweg nichts Ungewöhnliches, demgegenüber gibt es aber wiederum durchaus Barrieren, die schriftl. fixierte Texte eher überwinden 42 . Die sog. Sprachinselvolkskunde (cf. Reliktgebiete) hat Vorarbeiten zur -»• Akkulturation von o.n T.en fremder Ethnien vorgelegt, allerdings auch irregeführt, wenn suggeriert wurde, daß sich bei ethnischen Minoritäten und in den vom jeweiligen Binnenlande abgesonderten Kolonien aufgrund langer o.r T. archaische Züge in bes. reiner Form erhalten hätten. 5. K o n t i n u i t ä t s f r a g e n . Da Kulturen offensichtlich auch ohne die Hilfe von Schrift bestehen können, stellt sich die Frage nach den Mechanismen, welche jene Speicherfunktion erfüllen können, die später mit der Schrift gegeben war. Ε. A. Havelock hat für die enormen Gedächtnisleistungen mündl. Kulturen die Metapher von der oralen Enzyklopädie 43 geprägt. Die mündl. Form enzyklopädischen Wissens ist wohl nur mit Hilfe zahlreicher mnemotechnischer Mittel aufrechtzuerhalten, die auch die Vortragsart solcher Texte bestimmen. Eindrucksvolle Gedächtnisleistungen44 gab (und gibt) es freilich nicht nur in vorschriftl. Zeiten, sondern auch in höher entwikkelten Schriftkulturen, wo die Mehrheit der Überlieferungsträger die Schrift nicht oder nur unvollkommen beherrscht. So hat noch in der frühen Neuzeit „der oral tradierende Mensch [...] über Kräfte des Gedächtnisses verfügt, die uns abhanden gekommen sind" 45 . Hinsichtlich der Bedeutung von Schrift als Garant von Stabilität bzw. Kontinuität der Überlieferung gibt es zwei Extrempositionen: Der Ansicht, daß letztlich die permanente schriftl. Fixierung der Erzählstoffe das überlieferte Erzählgut stabilisiere46, steht die entgegengesetzte Beobachtung gegenüber47, daß die schriftl. Fixierung eines primär oralen Stoffes nicht unbedingt seine Beständigkeit fördere. Im allg. gilt aber mündl. Überlieferung als kurzlebiger; jedenfalls ist der Glaube an jahrtausendelange Kontinuitäten stark erschüt-

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tert 48 . Tatsächlich muß man im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit mit gegenläufigen Möglichkeiten rechnen: Einerseits kann mündl. Überliefertes verschriftet und auf diese Art langlebig, andererseits Schriftliches durch mündl. Weitergabe nach vielen Var.nbildungen schließlich vergessen werden, weil es keiner mehr versteht oder es nicht mehr verstanden wird (-+ Vergessen und Erinnerung). Wenn eine ursprüngliche Bucherzählung, mag sie nun für dieses Buch ,erfunden' oder aus primärer Mündlichkeit »gefunden' sein49, wiederum in die ο. T. übergeht, also re-oralisiert wird, spricht man von , sekundärer Mündlichkeit' oder vom ,zweiten Dasein' eines Märchens, einer Sage, eines Liedes etc.50 Beim .zweiten Dasein' kommt häufig noch die Umfunktionierung, die Verwendung in anderen Kontexten, hinzu (-• Folklorismus, -> Märchenpflege). Diese Art der Wiederbelebung läßt sich bes. in der Märchenüberlieferung seit der Mitte des 19. Jh.s ablesen: An die Stelle der lebendigen mündl. Kommunikation ist längst der Rückgriff auf das Buchmärchen getreten: der Buchtext wird nun mündl. - entweder wörtlich oder frei — nacherzählt 51 , so daß durch eine neue Performanz 52 wiederum neue Formen entstehen. Es gibt zahllose Stoffe, die im unentwegten Wechselspiel von Geben und Nehmen sowohl literar. als auch mündl. Neuprägungen erfahren haben 53 . Ο. T. und schriftl. Überlieferung bilden demnach eine idealisierte Dichotomie. Zwischen den Polen Mündlichkeit und Schriftlichkeit gibt es faktisch die unterschiedlichsten Spannungsfelder und Übergänge 54 . Die Interdependenzen sind vielfaltig: Es gibt sowohl Mündlichkeit in jeder Schriftkultur als auch „Schriftlichkeit in mündlicher Kultur" 55 ; pointiert spricht A. Assmann geradezu von ,schriftl. Folklore', womit eine Art der Schriftlichkeit (ζ. B. in der Popularliteratur) gemeint ist, die nicht den Gesetzen der literar., sondern denen der folkloristischen Kommunikation folgt 56 . Ein eng mit der Frage nach o.r T. verknüpftes Unters.sfeld ist die wechselseitige Durchdringung von mündl. Kultur und Druckkultur 57 , wie sie nach der Erfindimg des Buchdrucks mit beweglichen Lettern einsetzte. Gedr. Lieder-, Sagen- und Märchenbücher 58 sowie die bereits im 16. Jh. zahlreichen

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Schwank- und Exempelsammlungen bedeuteten nicht nur Verschriftung. Sie sorgten auch für eine erneute Re-Oralisierung von Folklore in immer größeren Ausmaßen 59 . Die Entwicklung des Buchdrucks und die nunmehr schriftl. Verbreitung von volkstümlichen Erzählungen durch das Medium Buch ist ihrerseits wiederum eng verknüpft mit dem Anstieg der Schreib- und Lesefähigkeit, die von der erst in den letzten Jahrzehnten des 20. Jh.s aufgekommenen Leserforschung (-• Lesen, Leser) untersucht wird 60 . 6. G a t t u n g s u n t e r s c h i e d e . Die einzelnen Gattungen des (eng oder weit gefaßten) Erzählkanons unterscheiden sich deutlich hinsichtlich ihrer Mündlichkeit. Sagen etwa sind in einer anderen Art und Weise verschriftet und weitergegeben worden als Märchen, Fabeln und Schwänke. Witze hingegen gelten oft, trotz vieler Witzbücher und Witzseiten in Zeitschriften, als eine bes. ,mündl.' Gattung, ebenso Klatsch, Tratsch und Gerücht. Doch dürfte es sich eher um Misch- und Übergangsformen handeln, die in der Praxis des alltäglichen Erzählens ständig variieren61. Allg. sind formelhafte oder metrisch gebundene Texte als eher invariabel und stabil, hingegen längere, ungebundene Prosatexte als variabel und instabil62 anzusehen. Das gereimte Volkslied etwa bot — auch der Melodie wegen - für viele Menschen, die weder lesen noch schreiben noch nach Noten singen konnten, die Möglichkeit leichteren Memorierens63. Überblickt man die Geschichte der Einfachen Formen, so ergibt sich nach K. -» Ranke, daß es vor allem die angewandten' Formen sind, die zur schriftl. Fixierung tendieren64. So sind rhetorische Stützen (-+ Loci communes) fast ausschließlich schriftl. faßbar 65 . In den Predigtmärlein wurden ζ. B. didaktisch verwertbare verschriftete Stoffe mündl. von der Kanzel herab erzählt, wurden dann allerdings wieder entsprechend weitertradiert 66 . Reformation wie Gegenreformation begriffen auch den Volksgesang als Möglichkeit zur Verkündigung67. Die Kontinuität geistlicher, aber auch weltlicher Themen aller Gattungen war außerdem durch erbauliche Bücher und bes. durch populäre Druckmedien gewährleistet, die auf das breite Publikum zielten, wie ζ. B. mittels -»• Flugblättern, der Bibliotheque

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bleue, den Chapbooks oder den Bilderbogen (-• Bildquellen, -Zeugnisse). Ein solcher von der Forschung unter verschiedenen Aspekten beschriebener Medienwechsel hatte nicht selten auch Gattungswechsel einer traditionellen Erzählung zur Folge68. Der Schwank AaTh 1535: Unibos etwa ,wandert' seit dem 10. Jh. quer durch die Gattungen der abendländ. Lit. wie der mündl. Überlieferung 69 . Doch nicht nur diachron, sondern auch synchron kann der gleiche Stoff in unterschiedlichem Grad von Mündlichkeit in verschiedenen Genres kursieren70. 7. A n o n y m i t ä t u n d ο. T. Die meist anonymen Erzählungen des Spätmittelalters lebten in den folgenden Jh.en in schriftl., doch durchaus auch mündl. Tradierung weiter71, denn an der volkstümlichen Erzählkultur der frühen Neuzeit hatten in vielen Bereichen eben doch jene Schichten den Hauptanteil, die des Schreibens und Lesens nicht mächtig waren 72 . Diese Mehrheit begriff zudem eine individuelle Dichtung nicht als geistigen Besitz, der etwa bei der Niederschrift hätte gekennzeichnet werden müssen. Nicht zuletzt wegen dieser Anonymität kann die Erzählforschung das, was im späten MA. tatsächlich im mündl. Umlauf war, nur schwer belegen73. Jeder konnte die umlaufenden Erzählungen aufgreifen und sie in mündl. oder schriftl. Form gestalten und variieren, ohne daß Kriterien wie .richtig' oder ,falsch' dabei beachtet werden mußten. 8. S t i l k r i t e r i e n o.r T. Die Formeltheorie geht davon aus, daß die formelhafte Diktion der epischen Dichtung Ergebnis einer traditionellen Technik ist, die mündl. sein muß 74 . Der Sänger gibt seinem Stoff improvisierend bei jeder neuen Performanz eine neue Gestalt. Dabei stützt er sich auf einen überkommenen Fundus von formelhaften Wendungen, situativen Versatzstücken75 oder Erzählmustern 76 . Die Identität der Geschichte wird nur durch das Handlungsgerüst im Bewußtsein des Sängers gewährleistet. Eine rasch fortschreitende Handlung, ein lebhafter Erzählablauf (-• Dynamik) zeichnet vor allem Märchen, Sage und Schwank aus. Die mündl. Vortragsweise ist dabei u. a. durch Wiederholung und Variation sowie durch sich steigernde Wiederholung (-•

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Epische Gesetze) gekennzeichnet. Charakteristisch ist auch der Gebrauch rein dekorativer Züge und die Beimengung umgangssprachlicher Wendungen aller Art, etwa von Sprichwörtern und Redensarten. Als ein deutliches Kennzeichen o.r T. gilt der Dialekt, der aus diesem Grunde auch von den Brüdern ->• Grimm in einigen Fällen (ζ. B. K H M 137—139) beibehalten wurde. Andererseits müssen viele Dialekteinschübe wiederum als literar. Kunstgriff angesehen werden (fingierte Mündlichkeit). Daneben wird auch die ->· Einsträngigkeit teilweise als Folge mündl. Überlieferung gewertet. Sie ist jedenfalls Struktur- und Stilelement der einfachen wie auch der entwickelteren Volkserzählung 77 . Hinsichtlich der Gesetzmäßigkeiten o.r und literaler T. betonten A. -» Olrik und nach ihm M. -» Lüthi, B. Holbek u. a. die Unterschiede 78 . Bei den Merkmalen der Mündlichkeit sind zudem Klang, Rhythmus, Tempo und nonverbale Zeichen je nach Erzählerpersönlichkeit und Kontext individuell ausgestaltet. Ändert sich der Kontext, so ändert sich oft auch der Grad der freien mündl. -»· Improvisation 79 . 9. N e u e F o r m e n o r a l e r T r a d i e r u n g . In den 80er und 90er Jahren des 20. Jh.s hat sich das Interesse an der Mündlichkeit verlagert. Es gilt nicht mehr nur der primär oralen, direkten face-to-face-Situation in kleinen Gruppen, sondern läßt zunehmend auch die Medien mit ihren quasi-mündl. Formen 80 ins Blickfeld treten. Dabei werden nicht nur die allg. Oralitätstheorien der 60er Jahre an den veränderten Realitäten neu vermessen. Auch die Folkloristik hat registriert, daß sich die gesamte narrative Volkskultur im Informationszeitalter stark wandelt und ständig neue Formen der Mündlichkeit entwickelt werden. So sind ζ. B. das Erzählen am Telefon sowie Aspekte von Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Fernsehen oder im Internet Gegenstand neuerer Studien 81 . Film-Adaptationen von volkstümlichen Stoffen, bes. von Märchen, können ebenfalls als eine Sonderform konservierender Schriftlichkeit mit Rückkoppelung auf neue Mündlichkeit (Nacherzählen von Filmen) gesehen werden. Ähnliches gilt für Computerspiele, denen populäre Stoffe unterlegt werden.

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I Vansina, J.: Oral Tradition as History. (Madison, Wise. 1985) L. 21988; id.: Oral Tradition. A Study in Historical Methodology. Harmondsworth 1973. — 2 id. 21988 (wie not. 1); Illich, I./Sanders, B.: Das Denken lernt schreiben. Lesekultur und Identität. Hbg 1988, 24. - 3Ben-Amos, D.: Zu einer Definition der Folklore im Kontext. In: Jb. für Volksliedforschung 16 (1981) 15-20, hier 18. - "ibid., 22. 5 Wesselski, Theorie; Bascom, W. R.: Verbal Art. In: JAFL 68 (1955) 245-252; Finnegan, R.: Oral Traditions and the Verbal Arts. Α Guide to Research Practices. L. u. a. 1992; Maranda, P./Köngäs-Maranda, E. (edd.): Structural Analysis of Oral Tradition. Phil. 1971. - 6 Schenda, R.: Von Mund zu Ohr. Bausteine zu einer Kulturgeschichte des volkstümlichen Erzählens in Europa. Göttingen 1993, 217-238. - 7 Bausinger, H.: Mündlichkeit. In: Narodna umjetnost (1981) (Themenheft: Folklore and Oral Communication) 11 — 15; Röhrich, L.: Volkspoesie ohne Volk. Wie „mündl." sind „Volkserzählungen"? In: id./Lindig, E. (edd.) Volksdichtung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Tübingen 1989, 49-65, bes. 52; id.: O. T.en als hist. Qu. Einige Gedanken zur dt.sprachigen mündl. Volksüberlieferung. In: Vergangenheit in mündl. Uberlieferung, ed. J. von Ungern-Sternberg/H. Reinau. Stg. 1988, 7 9 99. - 8 Meier, J.: Kunstlieder im Volksmunde. Halle 1906 (Nachdr. Hildesheim 1976). - 'Havelock, Ε. Α.: The Muse Learns to Write. Reflections on Orality and Literacy from Antiquity to the Present. New Haven/L. 1986, 79 sq. (dt.: Als die Muse schreiben lernte. Ffm. 1992); Derrida, J.: De la Grammatologie. P. 1967; Ong, W. J.: Orality and Literacy. L./ Ν. Y. 1982 (dt.: Die Technologisierung des Wortes. Opladen 1987); Mostert, Μ.: Oraliteit. Amst. 1998. - 10Zusammenfassend cf. Haid, G.: Zur Methodologie volksmusikalischer Feldforschung in Österreich. In: Musikologische Feldforschung 9 (1981) 37-55. II Kooi, J. van der: Van mondelinge naar schriftelijke overlevering. In: Driemaandelijkse bladen 32 (1980) 119-133. - 12 Strobach, H.: Direkte mündl. Kommunikation als Kriterium für das Wesen der Folklore? In: Narodna umjetnost (wie not. 7) 17-21. - 13 cf. die in mehr als 100 Bänden vorliegende Publ.sreihe ScriptOralia sowie Röhrich/Lindig (wie not. 7). - 14 cf. Finnegan, R. (ed.): Α World Treasury of Oral Poetry. Bloom. 1978; ead. (wie not. 5); Zumthor, P.: Introduction ä la poesie orale. P. 1983. - 15 Holbek, B.: What the Illiterate Think of Writing. In: Schousboe, K./Larsen, Μ. I. (edd.): Literacy and Society. Kop. 1989, 183-196; Wienker-Piepho, S.: Schriftlichkeit im Ethnotext. Volksdichtung über .Schreiben' und .Schreiber' - eine Vk. der Scriptualität. Habilitationsschrift Göttingen 1999 (u. d. T.: „Je gelehrter, desto verkehrter". Münster [im Druck]). - 16 Derrida (wie not. 9); Goody, J. (ed.): Literacy in Traditional Societies. London 1968 (21975); Illich/Sanders (wie not. 2); Tedlock, D.: From Voice and Ear to Hand and Eye. In: JAFL 103 (1990) 133-156; Röcke, W. (ed.): Mündlichkeit,

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griffen auf die finn. folkloristische Arbeitsmethode. Dorpat 1935. - 2 8 KHM/Uther 3, 233-242. 2 9 Moser-Rath, Schwank. 3 0 Schenda, R. (unter Mitarbeit von H. ten Doornkaat): Sagenerzähler und Sagensammler der Schweiz. Basel/Stg. 1988. — 31 Thompson, S.: Fassung (Var.). In: HDM 2 (1934-40) 5 6 - 6 3 , bes. 6 1 - 6 3 ; Strobach, H.: Variabilität. Gesetzmäßigkeiten und Besonderheiten. In: Jb. für Volksliedforschung 11 (1966) 1 - 9 ; Vansina 2 1988 (wie not. 1) 48. - 3 2 Wiora, W.: Der Untergang des Volksliedes und sein zweites Dasein. In: Das Volkslied heute. Musikalische Zeitfragen 7. ed. id. Kassel/Basel 1959, 9 - 2 5 , hier 21. - 3 3 cf. Schenda (wie not. 6) 251 sq. — 3 4 Honko, L./Voigt, V. (edd.): Adaptation, Change, and Decline in Oral Literature. Hels. 1981; Ben-Amos (wie not. 3); Reaver, J. R.: Socio-Psychic Levels of Oral Narration. In: Fabula 22 (1981) 6 4 - 7 3 . - 3 5 Röhrich/WienkerPiepho (wie not. 22); Moser und Finnegan (wie not. 24). - 3 6 Kalow, G.: Poesie ist Nachricht. Mündl. Tradition in Vorgeschichte und Gegenwart. Mü./Zürich 1975; Assmann, A. und J./Hardmeier, C. (edd.): Schrift und Gedächtnis. Beitr.e zur Archäologie der literar. Kommunikation. Mü. 1983; Assmann, A. und J.: Schrift, Tradition und Kultur. In: Raible (wie not. 18) 2 5 - 5 0 ; Gadamer, H.-G.: Unterwegs zur Schrift, ibid., 10-19; Strobach (wie not. 12) 20. 3 7 Bausinger (wie not. 7) 13. - 38 Scobie, Α.: Forms of Oral Literature in the Roman World. In: Internat. Folklore Review 4 (1986) 4 9 - 5 4 . - 39 Cosquin, E.: Les Contes indiens et l'Occident. P. 1922. - 4 0 cf. Assmann, J.: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. Mü. 1992. 4 1 Curtius, E. R.: Europ. Lit. und lat. MA. Bern/Mü. 8 1973; Steiner, G.: After Babel. Aspects of Language and Translation. Ox. 1977; Honko/Voigt (wie not. 34). - 4 2 cf. Ranke, Κ.: Orale und literale Kontinuität. In: Kontinuität. Festschr. H. Moser. B. 1969, 102-116; Marzolph, Arabia ridens 1, 234-246; Roth, K.: Crossing Boundaries. The Translation and Cultural Adaptation of Folk Narratives. In: Fabula 39 (1999) 243-255. - 4 3 Havelock (wie not. 9) 319. - 4 4 Rubin, D. C.: Memory in Oral Traditions. The Cognitive Psychology of Epics, Ballads and Counting-out Rhymes. Ν. Y. 1995; Kalow (wie not. 36) 4 9 - 5 5 . - 4 5 Ranke (wie not. 42) 119; Roth (wie not. 42). — 4 6 Wesselski, Theorie. - 4 7 Anderson (wie not. 27); Megas, G. Α.: Hoi Aisöpeioi mythoi kai he prophorike paradosis (Die äsopischen Fabeln und die mündl. Uberlieferung). In: Laographia 18 (1959) 469-489, hier 469. - 4 8 EM 1, 414; Moser (wie not. 24). — 4 9 Klüsen, E.: Volkslied. Fund und Erfindung. Köln 1969; id.: Über ο. T. In: Festschr. M. Zender. Bonn 1972, 845-849. - 5 0 Wiora (wie not. 32). 51 Bausinger (wie not. 7); Schenda (wie not. 6); Wienker-Piepho, S.: Storytelling und Storyteller. Einige Bemerkungen zum zeitgenössischen Erzählen. In: Märchenspiegel 1 (1995) 4 - 6 . - 5 2 Abrahams, R. D.: In and out of Performance. In: Narodna umjetnost (wie not. 7) 6 9 - 7 8 . - 5 3 Moser-Rath, E.:

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Orangen: Die drei O.

„Calembourg". Zur Mobilität populärer Lesestoffe. In: Vk. Festgabe L. Schmidt. Wien 1972, 470-481; cf. Beitr.e im Themenheft „Litterature orale - Litterature ecrite" (Cahiers roumains d'etudes litteraires [1977]); Lüthi, M.: Das Volksmärchen als Dichtung. Göttingen 1975, Reg. s. v. Mündl. Überlieferung. 54 Schlechten, M.: Oralite. Beitr.e zur Problematik im Umgang mit mündl. Überlieferung - A propos du passage de l'oral ä l'ecrit. Bern 1987; Röhrich/ Lindig (wie not. 7); cf. Beitr.e im Themenheft „Entre l'oral et l'ecrit" (Ethnologie fran^aise 20 [1990]). 55 Gumbrecht, H.-IJ.: Schriftlichkeit in mündl. Kultur. In: Assmann/Hardmeier (wie not. 36) 158-174. - 56 Assmann, Α.: Schriftl. Folklore. Zur Entstehung und Funktion eines Überlieferungstyps, ibid., 175-193; für Südosteuropa cf. Roth, K. und J.: Märchen zwischen mündl. Tradition und Triviallit. „Die Wette auf die Treue der Ehefrau" als volkstümlicher Lesestoff in Bulgarien. In: 21 Beitr.e zum 2. Internat. Bulgaristik-Kongreß in Sofia 1986. Neuried 1986, 283-298; Roth, K.: Bulg. Märchen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. In: Röhrich/ Lindig (wie not. 7) 93-108. - 57 Eisenstein, E.: The Printing Press as an Agent of Change. Communication and Cultural Transformation in Early Modern Europe 1 - 2 . Cambr. 1979; Burke, P.: Mündl. Kultur und Druckkultur im spätma. Italien. In: Dinzelbacher, P./Mück, H.-D. (edd.): Volkskultur des europ. SpätMA.s. Stg. 1987, 59-72. - 58 Lüthi (wie not. 53). - 59 Strobach (wie not. 12) 21 sq. - 60 cf. Schenda, R.: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770—1910. Ffm. 1970; id.: Leser- und Lesestoff-Forschung. In: Brednich (wie not. 17) 449-466; Moser-Rath (wie not. 53). 61 Legman, G.: Rationale of the Dirty Joke 1 - 2 . Ν. Υ. 1968/75. - 62 Moser, D.-R.: Singverse im Märchen. In: Märchenspiegel 2 (1991) 6—11; cf. Parry, Μ.: The Making of Homeric Verse, ed. A. Parry. Ox. 1971; Vansina 21988 (wie not. 1) 14 sq. - 63 KJusen (wie not. 49); Strobach (wie not. 18). - 64 Ranke (wie not. 42) 113. — 65 Daxelmüller, C.: Literarisierte Mündlichkeit - mündl. Schriftlichkeit. Anmerkungen zum Weltbild und zur Weltdeutung ma. und nachma. Exempelautoren. In: Röhrich/Lindig (wie not. 7) 125-146. - 66 Moser-Rath, E.: Dem Kirchenvolk die Leviten gelesen ... Alltag im Spiegel süddt. Barockpredigten. Stg. 1991, bes. 18, 192, 198, 203, 222, 298. - 67 cf. Moser, D.-R.: Verkündigung durch Volksgesang. Studien zur Liedpropaganda und -katechese der Gegenreformation. B. 1981. 68 Raible, W. (ed.): Medien Wechsel. Erträge aus zwölf Jahren Forschung zum Thema ,Mündlichkeit und Schriftlichkeit'. Tübingen 1998. - 69 Ranke (wie not. 42) 14. — 70 cf. Beispiele bei Röhrich, L.: Erzählungen des SpätMA.s zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit. In: Dinzelbacher, P./Mück, H.-D. (edd.): Volkskultur des europ. SpätMA.s. Stg. 1987, 199-222. 71 Röhrich, Erzählungen; id. (wie not. 70). 72 Burke, P.: Helden, Schurken und Narren. Europ.

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Volkskultur in der frühen Neuzeit. Stg. 1981. 73 Röhrich (wie not. 70) hier 200 sq. - 74 Lord, Α. B.: Epic Singers and Oral Tradition. Ithaca/L. 1991; Jason, Η.: Α Model for Narrative Structure in Oral Literature. In: ead./ Segal, D. (edd.): Patterns in Oral Literature. Den Haag/P. 1977, 99-139. 75 cf. Maranda/Köngäs-Maranda (wie not. 5). — 76 Jason/Segal (wie not. 75). - 77 Lüthi (wie not. 53) 34, 78. - 78 id. (wie not. 53); Holbek (wie not. 15); Honko, L.: Textualising the Siri Epic (FFC 264). Hels. 1998, bes. 169-217; cf. dagegen Hendricks, W. O.: Essays on Semiolinguistics and Verbal Art. Den Haag/P. 1973. - 79 Hendricks (wie not. 78); Ben-Amos (wie not. 3). - 80 Cistov, K.: Zur Frage der theoretischen Unterschiede zwischen Folklore und Lit. In: SF 20 (1976) 148-158, 169-175; Strobach (wie not. 24). — 81 Biere, B. U.: Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Fernsehen. Tübingen 1996; Schneider, I.: Erzählen im Internet. In: Fabula 37 (1996) 8-27; Alsheimer, R.: Apocalypse now? Eschatologisches im Internet und anderswo. In: SAVk. 95 (1999) 47-59; Zipes, J.: Happily ever after. Fairy Tales, Children and the Culture Industry. Ν. Y. 1997; Zives, M.: Mündl. Kulturen und ihre Wechselbeziehungen zu schriftl. und audiovisuellen Kulturen. Das Gerücht über die Schlümpfe in Mexiko. (Diss. Ffm. 1995) Ffm. 1997.

Augsburg

Sabine Wienker-Piepho

Orangen: Die drei O. (AaTh 408), eines der verbreitetsten Zaubermärchen, bekannt vor allem im Mittelmeergebiet und im Vorderen Orient1: (1) Aus Übermut zerbricht ein (oft melancholiekranker) Prinz den Krug einer alten Frau (Zum Lachen bringen) oder erregt auf andere Weise ihren Zorn. Sie verflucht ihn, er möge seines Lebens nicht mehr froh werden, bis er die drei O. (Zitronen, andere Früchte; Mädchen von wunderbarer Art) finde (andere -• Fernliebemotive2). (2) Bei der ζ. T. sehr langen -> Suche und der damit verbundenen Überwindung von Hindernissen stehen ihm Helferinnen) und Ratgeber(innen) bei. (3) Der Held findet (erwirbt) die Früchte (meist drei) und öffnet sie. Jeder Frucht entsteigt eine schöne, oft -» nackte junge Frau, die um Wasser (Kamm, Spiegel, Handtuch, Kleider etc.) bittet. Erst der dritten kann er das Gewünschte verschaffen, die anderen sterben (verschwinden, kehren in die Frucht zurück). (4) An einer Quelle (Brunnen) läßt der Prinz das O.mädchen auf einem Baum versteckt zurück, um Kleidung (Wagen, Begleitung) zu holen (Rückkehr ζ. T. durch vorübergehendes -» Vergessen der Braut verzögert [AaTh 313 C: cf. -> Magische Flucht]). Eine häßliche Negerin (-» Zigeunerin, -> Hexe [-• Stereotypen, ethnische]), die zum Wasserschöpfen kommt, hält das Spiegelbild der Heldin für ihr eigenes (cf. AaTh

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Orangen: Die drei O.

1336 A: cf. -• Spiegelbild im Wasser), und voller Wut, daß sie trotz ihrer Schönheit so hart arbeiten muß, zerschlägt sie ihren Wasserkrug. Das O.mädchen muß lachen, verrät sich dadurch und erzählt seine Geschichte. (5) Der Schwarzen gelingt es, die Stelle der Heldin einzunehmen. Trotz des veränderten Aussehens der Braut (Ausreden: Sonnenbrand, Einwirkung von Wind und Wetter3) heiratet der Prinz die Betrügerin. (5.1 [Subtyp A]): Als die Schwarze das O.mädchen ins Wasser stößt (cf. AaTh 403: Die schwarze und die weiße Braut) oder auf andere Weise umbringen will, verwandelt es sich in einen Fisch (Vogel); die falsche Frau läßt ihn töten, doch aus seinen Überresten erwächst ein Baum; sie läßt ihn fällen (ζ. T. zur Anfertigung eines Gebrauchsgegenstands [Bett, Wiege]), aber eine alte Frau (Mann) nimmt einen Splitter (Scheit) davon mit. Ihm entsteigt erneut das O.mädchen, das heimlich die Hausarbeit erledigt und nach seiner Entdeckung von der (dem) Alten adoptiert wird. Der Prinz erkennt die Heldin, als er — oft bei traditionellen Erzählgelegenheiten — ihre Lebensgeschichte hört (als sie ihm ein Pferd gesundpflegt; -> Ring als -> Erkennungszeichen). (5.2 [Subtyp B]): Beim Kämmen (Lausen) stößt die Schwarze dem O.mädchen eine Nadel in den Kopf; dieses verwandelt sich in eine Taube und fliegt zum Schloß. Der Gärtner (Koch) hört ihr Lied, in dem sie nach dem König und seiner schwarzen Frau fragt. Die Taube wird gefangen, der König faßt Zuneigung zu ihr und findet die Zaubernadel; ihre Entfernung bewirkt die Rückverwandlung des O.mädchens. (6) Auf die Wiedervereinigung des Paars folgt die Bestrafung der Betrügerin (meist grausamer Tod, oft spricht sie sich selbst das -» Urteil [-» Selbstschädigung]). Den Kern von AaTh 408 stellen die Teile (3)—(5) dar. Die Auslösung von Fernliebe, meist durch den Fluch einer alten Frau, ist als Einl. zwar typisch, fehlt aber nicht selten. Ähnlich kann der Suchteil (2) entfallen bzw. auf ein Minimum reduziert sein; vielfach nimmt er aber auch beträchtliche Ausmaße an. In detailreicher Ausgestaltung erscheinen darin bes. folgende Motive: Begegnung mit bedrohlichen Jenseitswesen, Gestirnen, Winden, Jahreszeiten (-» Menschenfleisch riechen), Riesinnen, die der Held durch die Anrede als Mutter oder Saugen an ihren über die Schulter geworfenen Brüsten günstig stimmt (-» Adoption), oder Wesen mit tiefhängenden Lidern (Wimpern), die aufgehoben werden müssen (-• Augenbraue, Augenlid); an AaTh 590: Die treulose -> Mutter erinnernde Abenteuer in einem Zaubergarten, oft gehütet von einem Ungeheuer, das mit offenen Augen schläft und mit geschlossenen Augen wacht; Freundlichkeit gegenüber Dingen, Tieren oder Unholden, die sich als Gegenleistung weigern, den mit den erbeuteten Früchten fliehenden Helden zu verfolgen4

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(cf. AaTh 425 sqq.: Amor und Psyche·, AaTh 480: Das gute und das schlechte Mädchen5); Entkommen aus dem Bereich der beraubten Besitzer mit Hilfe magischer Flucht (cf. AaTh 313). Für den 1928 bei der Aufnahme ins internat. Typensystem 6 auf Grundlage einer singulären norw. Var.7 beschriebenen Erzähltyp lieferte W. Anderson 1961 bei der 2. Revision des internat. Typenkatalogs eine Zusammenfassung auf breiter Materialbasis. Von Andersons angekündigter Monogr. zu AaTh 408 ist eine detaillierte Analyse 8 von ca 500 Var.n9 erhalten. C.Goldbergs Unters. (1997) stützt sich auf ca 200 Texte und 150 Zusammenfassungen 10 sowie Andersons Ergebnisse. Goldberg definierte die zwei Subtypen 11 ; Anderson dagegen hatte hinsichtlich der Verwandlungen sechs Redaktionen unterschieden, wobei die ,reine Vogelredaktion" 2 Goldbergs Subtyp Β entspricht und die anderen Subtyp Α subsumiert werden könnten; auf die zentrale Bedeutung des Motivs der Zaubernadel wies erst Goldberg hin. AaTh 408 ist am häufigsten im Mittelmeerraum belegt 13 , darüber hinaus auf dem Balkan, im Kaukasusgebiet und im Vorderen Orient bis Persien sowie in Mittel- und Südamerika, seltener bei Ost- und Westslaven, im nördl. Teil Europas nur sporadisch; verwandte Erzählungen finden sich vor allem in Süd- und Ostasien sowie in Madagaskar 14 . Subtyp A tritt im gesamten Verbreitungsgebiet auf, mit Ausnahme der Iber. Halbinsel und Lateinamerikas. Dort kommt ausschließlich Subtyp Β vor, der aber auch in Italien, Frankreich, auf dem Balkan, in Nordafrika und Kleinasien begegnet 15 . Anspielungen auf AaTh 408 sind auf der Iber. Halbinsel seit Mitte des 16. Jh.s nachgewiesen 16 . Die älteste bekannte Var. findet sich Anfang des 17. Jh.s in Basiles Pentamerone (5,9), in dem sie aufgrund der Verknüpfung mit der Rahmenerzählung, die ihrerseits auf Motive aus AaTh 408 zurückgreift, eine zentrale Stellung einnimmt. Basiles Fassung, die Subtyp Α angehört, weist den von der Erzähllogik her ansprechenden, in der Überlieferung aber seltenen Zug auf, daß das Zitronenmädchen am Ende erneut der Frucht eines Zitronenbaums entspringt 17 . Anklänge an AaTh 408 bietet Lorenzo Lippis Malmantile racquistato (7,27—105; 1676) 18 . Einem anderen

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Traditionsstrang als Basiles Version gehört Carlo Gozzis Theatermärchen L'amore delle tre melarance (1761) an 19 , dessen Bearb. durch K. A. Vogak, V. E. Mejerchol'd und V. N. Solov'ev (1914) die Vorlage für Sergej Prokof'evs Oper Ljubov' k trem apel'sinam (1921) bildete 20 . Das anonyme frz. Feenmärchen Incarnat, blanc et noir (1718; mit böser Schwiegermutter als Gegenspielerin)21 enthält ein für eine Gruppe ind. Var.n bezeichnendes Schlußmotiv (aus der Asche des Baumes entsteht ein Schloß, in dem der Held die verlorene Apfelprinzessin wiederfindet), das in Europa sonst unbekannt zu sein scheint22. Aus Spanien liegt in literar. Form u. a. das archaisierende Versepos Leyenda de las tres toronjas del vergel de amor von Agustin Durän vor (1856 anonym erschienen)23. Bofcena Nemcoväs Fassung weist nur geringfügige Abweichungen gegenüber ihrer Vorlage, dem Dreizitronenmärchen in der ersten slovak. Märchensammlung (1845), auf 24 . Bedeutend älter als die frühesten Bezeugungen des Märchens sind einzelne Züge und Episoden von AaTh 408: Die Erzählung vom mißdeuteten Spiegelbild (4) begegnet im 5. und 6. Jh. in chin, buddhist. Bearb.en von Sanskrittexten, in KumärajTvas Übers, von Asvaghosas Süträlankära und im Tripitaka25. Bis 26 ins 5. Jh. zurückführbar ist auch das chin. Märchen vom Schneckenmädchen (cf. Die gestörte Mahrtenehe) 27 , das einem Mann heimlich den Haushalt führt (5.1; cf. auch ind. Var.n von AaTh 780: Singender -» Knochen und AaTh 780 A: The Cannibalistic Brothers28). Die mehrfachen Reinkarnationen (5.1) sind bereits Bestandteil des ägypt. Brüdermärchens (AaTh 318); das geläufigste Eingangsmotiv (1) ist knapp in -» Somadevas Kathäsaritsägara (11. Jh.) angedeutet 29 . Bäume mit Früchten in weiblicher Gestalt schließlich erscheinen in Zusammenhang mit Paradiesvorstellungen im ind. -> Rämäyana30 sowie in den Beschreibungen der Wäq-wäq-Inseln durch ma. arab. Kosmographen (-• Topographie, fiktive)31. Wenn diese Baumfrüchte gepflückt werden oder abfallen, sterben sie nach kurzer Zeit; von ihrer sexuellen Verfügbarkeit berichten al-Mas'üdl und Ibn al-Wardl32. In Deutschland ist u. a. die scherzhafte Redensart von den schönen Mädchen, die in Sachsen auf den Bäumen wachsen, bekannt 33 .

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Anderson nahm an, daß AaTh 408 in Persien entstanden sei34; die (Subtyp Α zuzurechnende) Vogel-Baum-Redaktion schien ihm die älteste zu sein35. Den fakultativen 2. Teil, die Suche des Helden, hielt er zusammen mit dem 1. Teil für zum Grundbestand von AaTh 408 gehörig; Var.n, in denen er fehlt, bezeichnete er als ,Schrumpftexte' 36 . Goldberg vermutet, daß Subtyp Β getrennt von Subtyp Α aus einer kürzeren Erzählung (Spiegelbild im Brunnen, Taubenverwandlung, Bestrafung der falschen Ehefrau) entstand, zu der erst später die Episode mit den aus Früchten entstiegenen Mädchen gekommen sei37. Naheliegender scheint, daß eine Adaptation der den mehrfachen Verwandlungen in Subtyp Α zugrundeliegenden Idee der -> Seelenwanderung an die Vorstellungswelt des europ. Zaubermärchens stattfand, wobei die Metempsychose durch eine magische Handlung (Verwandlung der Heldin mit Hilfe einer Zaubernadel) ersetzt wurde. Insgesamt zeigt sich AaTh 408 über ein weites Gebiet hinweg außerordentlich stabil, es gibt allerdings auch zahlreiche verkürzte Versionen: Fassungen von Subtyp B, in denen die O.mädchen-Episode fehlt 38 (ζ. B. mit der Einl., daß die Ehefrau allein zurückbleibt, als der Mann in den Krieg zieht39); Texte, die mit der Heirat 40 bzw. der Brunnenepisode enden 41 oder in denen die Brunnenepisode bzw. das Spiegelbild-Motiv ausgelassen sind42. Eine eigenartige Ausgestaltung weist u. a. eine Reihe ung. Var.n auf, in denen die Mädchen aus Schilfrohr (Zweigen, Stöcken; auch Eiern, wie sonst manchmal bei den Slaven43) hervorkommen, ζ. T. verbunden mit der für Ungarn spezifischen Verwandlung in eine Ente (als erste Transformationsstufe von Subtyp A) 44 . Ind. Märchen, die AaTh 408 zugerechnet werden, unterscheiden sich in den Einzelmotiven wesentlich von der beschriebenen europ.-nahöstl. Tradition 45 : So stellt die Heldin keine Forderungen nach Wasser oder bestimmten Gegenständen; von ihrer Schönheit geblendet, fallt der Prinz oft in Ohnmacht, und sie versucht, ihn wiederzubeleben. Vor allem aber scheint die aus der altind. buddhist. Tradition belegte Spiegelbild-Episode in den ind. Märchen nur selten vorzukommen 46 . Statt dessen stößt eine um Hilfe gebetene Frau aus niedriger Kaste (eifersüchtige Haupt- bzw. Nebenfrau) die Heldin ins Wasser, ζ. T. nachdem sie sie zu einem -» Kleidertausch überredet hat (Anklänge an das Spiegelbild-Motiv: beide betrachten sich gemeinsam im Wasser)47. In einem mit AaTh 408 verwandten madegass. Märchentyp

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legt eine Sklavin nach einem gemeinsamen Bad die Kleider der Ehefrau an; die Spiegelbild-Episode führt zur Wiedervereinigung des Ehepaars48. Parallelen zu AaTh 408 weist auch das weitverbreitete jap. Märchen von der Melonenprinzessin auf, die das Wunschkind eines alten Ehepaars ist; kurz vor ihrer Hochzeit nimmt eine Dämonin die Stelle der Braut ein, die sich in einen Vogel verwandelt und singend ihr Leid klagt49. Bei den zahlreichen im chin. Typenkatalog unter num. 408 verzeichneten Var.n handelt es sich N.-t. -> Ting zufolge oft nur um die Episode des heimlich den Haushalt führenden Mädchens aus Teil (5.1 [Subtyp A]) in Kombination mit anderen Erzähltypen50. Die ,chin. Mischredaktionen'51, d. h. die in Ostasien in großer Zahl vorkommenden Var.n von AaTh 433 A—B: -» König Lindwurm52 und AaTh 510 A: cf. - Tischleindeckdich. — 102 = AaTh 1535: -» Unibos. - 110 = AaTh 155: - Undank ist der Welt Lohn. 112 = AaTh 1543: -» Pfennig: Keinen P. weniger + AaTh 1642 A: The Borrowed Coat. - 117 = AaTh 505: cf. - Dankbarer Toter. - 122 = AaTh 1430: cf. -» Luftschlösser. - 125 = AaTh 834: cf. -» Schatz des armen Bruders. - 128 = AaTh 670: cf. - Glück und Unglück. - 136 = AaTh 1675: - Ochse als Bürgermeister. - 138 = AaTh 1229: If the Wolfs Tail Breaks.

In seiner Struktur, der Anordnung der Sentenzen sowie der Art und Weise der Anbindung erinnert das Werk an die Erzählsammlung Kaiila und Dimna. Neben der Kritik an sozialen Mißständen und moralischem Fehlverhalten verurteilt O. Stolz und Überheblichkeit, Ungerechtigkeit, Heimtücke, Habsucht, Geiz, Faulheit, U n d a n k , religiöse Heuchelei und viele andere Eigenschaften, die auch in Volkserzählungen angeprangert werden. Bei dem Versuch, einen Moralkodex aufzustellen, führt er immer wieder den unwürdigen -» Herrscher, den untauglichen -» Richter und den abstoßenden Geistlichen (-• Klerus) vor. Die Weisheit der Lüge bietet ein klares Bild der Vorstellung O.s von einer Erziehung durch die K r a f t des Vorbilds, durch Härte und Arbeit: Der König soll mit dem Leben der Menschen seines Reiches praktisch verbunden sein, er soll ihre Arbeit, ihre Freude, ihr Leid teilen und ihre Lebensgewohnheiten kennen. O.s Werk ist ein Produkt mit aufklärerischen Tendenzen. Er ist bestrebt, die Würde des einzelnen Menschen hervorzuheben: In seinen Ge-

schichten macht er keinen Unterschied zwischen Herrschern und Armen, der König soll in Arbeit und Verantwortung seinem Volk dienen, Missetaten sollen ohne Ansehen von Rang und Würde ihre Strafe finden6. O.s literar. Tätigkeit erstreckte sich auch auf andere Gebiete: Er ist als Schöpfer geistlicher Lit. ebenso bekannt wie durch die Beschreibung Mogzauroba Evropasi ([Reise nach Europa]. 1713-16) 7 . Er wirkte als Lyriker, schrieb alphabetische Lobpreisungen und faßte die georg. Version von Kaiila und Dimna, Kilila da Damana, in Verse 8 . Von unvergänglichem Wert ist auch sein von 1685 bis 1716 erarbeitetes georg. erklärendes Wörterbuch Sitqwis Kona (Wortbündel) 9 , mit dem er den Grundstein f ü r die wiss. Erschließung des georg. Wortschatzes legte. 1 Fähnrich, H.: Georg. Lit. Aachen 1993, 70 sq.; id.: Georg. Schriftsteller A - Z . Aachen 1993, 211; KNLL 12 (1991) 744sq. - 2 0 „ S.-S.: Txzulebani otx tomad (Werke 1 - 4 ) . ed. S. Qubaneisvili/R. Barami3e. Tiflis 1959 7 66. - 3 O.,'S.-S.: Sib^ne sicruisa. Tiflis 1970 (Übers.en: The Book of Wisdom and Lies. Übers. J.-O. Wardrop. L. 1894; Die Weisheit der Lüge. Übers. M. von Tseretheli. B. [1933]; Die Weisheit der Lüge. Übers. H. Fähnrich. B. 1973; Weisheit der Erdichtung. Übers. E. Siradse. Tiflis 1984). - "von Tseretheli (wie not. 3) 11-53 (Einl. von S. Awalischwili). — 5 nach von Tseretheli (wie not. 3). - 6 Leoni3e, G.: Ziebani kartuli literaturis istoriidan (Forschungen zur Geschichte der georg. Lit.). Tiflis 1949; Kekelije, It.: Kartuli literaturis istoria (Geschichte der georg. Lit.) 2. Tiflis 1958, 449-458; Barami3e, Α.: S.-S. O. Cxovreba da literaturuli moyvaijeoba (S.-S. O. Leben und literar. Werk). Tiflis 1959; Lolasvili, I.: S.-S. O.s Literaturuli moyvaceobidan (Aus S.-S. O.s literar. Schaffen) (1698-1713). Tiflis 1959. - 7 0 . , S.-S.: Mogzauroba evropasi. ed. S. Iordanisvili. Tiflis 1940. - 8 id.: Kilila da Damana. ed. A. Barami3e/P. Ingoroqva. Tiflis 1949. - 9 0 . , S.-S.: Leksikoni kartuli (Georg. Wb.) 1 - 2 . ed. I. Abula3e. Tiflis 1966.

Jena

Heinz Fähnrich

Orco, Ork hold

Ordal

Oger,

Riese, Riesin,

Un-

Gottesurteil

Orendel oder Der graue Rock1 sind die in der Forschung gängigen Titel f ü r eine den sog. Spielmannsepen zugerechnete ma. dt. Vers-

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Orendel

dichtung von knapp 4000 Versen2, wobei der Begriff der Spielmannsepik oder -» Spielmannsdichtung für sich genommen höchst ungenau und in mancher Hinsicht auch irreführend ist3.

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von Metrum und Reim; hierfür spricht aber auch und nicht zuletzt der Umstand, daß am Ende des 12. Jh.s ein konkreter Anlaß für die Abfassung einer derartigen Dichtung gegeben war. Als kostbarstes Stück wird nämlich unter I n h a l t : O., Sohn des Königs Ougel von Trier, den Reliquienschätzen im Dom von Trier der fährt ins Heilige Land, um Bride, die jungfräuliche Königin von Jerusalem, zur Frau zu gewinnen. Bei ungenähte Rock Christi, um den gemäß Joh. einem Schiffbruch in Sichtweite der Küste verliert O. 19,23—24 einst die unter dem Kreuz postierten seine gesamte Flotte. Mit Mühe kann er sich selbst Kriegsknechte gewürfelt hatten, aufbewahrt 11 ; retten, verdingt sich unerkannt bei einem Fischer, seit wann, entzieht sich jeder Mutmaßung, findet im Bauch eines -> Wals den ,grauen Rock', die 4 doch spätestens seit Anfang des 12. Jh.s, als in tunica inconsutilis, den ungenähten Rock -» Christi . den Gesta Treverorum die tunica Domini unter Er erwirbt und trägt hinfort das Kleidungsstück, jenen Reliquien genannt wird, die von der andas ihn in allen Gefahren, die er in einer Kette gewaltiger Abenteuer und Kämpfe mit Heiden, Riesen geblich aus Trier stammenden hl. Helena in und anderen Feinden zu bestehen hat, wundersam ihre Heimatstadt geschickt worden seien12. schützt (-» Reliquie). O. wird Brides Gemahl, doch Um die Mitte des 12. Jh.s vermerkt die mhd. ein Engel hält beide zu dauernder -» Keuschheit an. Kaiserchronik (V. 10389) Entsprechendes. DaZwischenzeitlich nach Trier zurückgekehrt, depomit ist garantiert, daß das Wissen um den Aufniert O. auf göttliche Weisung den grauen Rock in bewahrungsort des ungenähten Rockes daeinem Steinsarg, ehe er mit Frau Bride erneut zu gefahrlichen Kämpfen ins Heilige Land zurückkehrt. mals bereits weiter verbreitet war. Am 1. Mai Nach dem Sieg über die Feinde gehen alle ins Klo1196 wurde der Heilige Rock Christi in feierlister, wo sie alsbald ein gottseliges Ende finden. cher Zeremonie im Hauptaltar des Trierer Do13 Die Geschichte vom Heiligen Rock Christi, mes deponiert . Erzählungen, die lückenlos von seiner Erwerbung und Verbringung nach den Weg einer Reliquie vom Ursprung bis zur Trier durch O. ist also eingebettet in eine im Niederlegung am jeweils interessierenden Ort Südosten des mediterranen Raumes angesie- verfolgen, haben zudem die Funktion, möglidelte farbenfroh-phantastische Abenteuerwelt, che Zweifel an ihrer Echtheit auszuräumen. in der — wie in so vielen anderen hoch- und Im konkreten Fall gab und gibt es eine ganze spätma. Abenteuerromanen - Einflüsse des Reihe von berühmten Kirchen, die Anspruch 14 spätantiken Apolloniusromans (-> Apollonias auf den Besitz des Heiligen Rockes erheben . 5 Die O.-Dichtung ist in solchen Zusammenvon Tyrus) nicht zu übersehen sind . gesteht man Der O. ist nur in einer einzigen (1870 in hängen zu sehen. Entsprechend 15 ihrem (doch wohl geistlichen ) Verf. in der Straßburg verbrannten) Hs. (1477) überliefert Regel propagandistische Intentionen zu16. Die sowie in zwei Augsburger Drucken (1512), von Sprache der Dichtung unterstützt eine solche denen der in der Offizin von Hans Froschauer Zuordnung oder sie spricht nicht gegen erschienene die Versdichtung bietet, während der andere, von Hans Othmar veranstaltete eine Entstehung des Werkes in diesem Raum. eine zeitgemäße Prosaauflösung ist6. Von bei- Mehr zu sagen, scheint angesichts der späten den Drucken haben sich nur wenige Exem- und auch sprachlich sicher nicht originalen plare erhalten 7 . Während gelegentlich Skepsis Überlieferung nicht angebracht. Dabei kann Vorfeld herrscht, die Entstehung der Dichtung wesent- die Abfassung zeitlich ebensogut im 17 der Translatio von 1196 erfolgt sein wie erst lich eher anzusetzen, als sie in ihrer frühneuzeitlichen Überlieferung dokumentiert ist8, im Anschluß hieran. Ein Problem ist freilich, wird doch in der Regel der Ursprung der daß in der Dichtung der Heilige Rock eben Dichtung im späten 12. Jh. gesucht9. Für einen durch O. nach Trier kommt und nicht durch solchen Ansatz sprechen u. a. die unbeküm- Helena,18 wie es der Trierer Lokaltradition entmerte Freude am Umgang mit narrativen spricht . Elementen, wie sie auch in den erwiesenerGanz deutlich ist die Verquickung von Ausmaßen in die frühe Zeit gehörenden Dichtun- stellung der Reliquie und wirtschaftlichen Ingen Herzog Ernst und König Rother vor- teressen bei den beiden Drucken von 1512: Die kommen 10 , und die eher sorglose Behandlung konkurrierenden Augsburger Drucker werfen

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sie auf den Markt, als in Trier der Heilige Rock nach Jh.en des Vergessens anläßlich seiner Wiederauffindung erstmals öffentlich ausgestellt wird und zahllose Menschen, darunter auch Kaiser Maximilian, ihn zu verehren eilen 19 . Die 1844 von heftiger konfessioneller Polemik begleitete Ausstellung der Reliquie wird zum Anstoß für die erste wiss. Ausg. des O. durch F. H. von der Hagen 2 0 . Der Abstand von der anzunehmenden Entstehungszeit der Dichtung bis zu den überlieferten Textzeugen beträgt rund 300 Jahre. Ob und in welchem Ausmaß in dieser langen Zeit der ursprüngliche Text bearbeitenden Veränderungen unterzogen wurde, entzieht sich jeder Feststellung. Daß er nicht ohne Eingriffe blieb, ist anzunehmen 21 , doch ist das Überlieferte in dem Bewußtsein, nicht mehr die ursprüngliche Fassung zu vertreten, so zu nehmen, wie es vorliegt. Versuche, sich textkritisch und mit allg. Überlegungen dem Original zu nähern oder dieses gar wiederherstellen zu wollen 22 , bleiben unbefriedigend. 1 V. 19 sq.: „Nun wil ich mir selber beginnen/von dem heiligen gräwen rocke singen", cf. O. Ein dt. Spielmannsgedicht, ed. Α. E. Berger. Bonn 1888 (Nachdr. B./N. Y. 1974); O. ed. H. Steinger. Halle 1935; O. (Der Graue Rock). Faks.ausg. der Versund der Prosafassung nach den Drucken von 1512. t. 1 - 2 . ed. L. Denecke. Stg. 1972; Schröder, W. J.: Spielmannsepen. 2: St. Oswald, O., Salman und Morolf. Darmstadt 1976, hier 131-231. - 2 Curschmann, M.: O. In: Verflex. 7 ( 2 1989) 4 3 - 4 8 (mit Lit.); Vollmann-Profe, G.: Wiederbeginn volksprachiger Schriftlichkeit im hohen MA. In: Heinzle, J. (ed.): Geschichte der dt. Lit. von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit 1,2. Königstein 1986, 219-223. - 3 Grundlegend für die moderne Forschung Bahr, J./Curschmann, M.: Spielmannsdichtung. In: RDL 4 (1984) 105-122 (mit Lit.). - 4 LThK 8 ( 2 1963) 1348 sq. - 5 cf. Ebenbauer, Α.: ,Ο.' - Anspruch und Verwirklichung. In: Strukturen und Interpretationen. Studien zur dt. Philologie. Festschr. B. Horacek. Wien/Stg. 1974,25-64, bes. 54-63. - 6 cf. Denecke (wie not. 1) 4 sq.; Verflex. 7, 43 sq.; Plate, B.: O. - König von Jerusalem. Kreuzfahrerbewußtsein (Epos des 12. Jh.s) und Leidenstheologie (Prosa von 1512). In: Euphorion 82 (1988) 168-210, hier 210 (sieht die Prosaauflösung für „bedeutend mehr als eine stilistische Um-Schreibung" an). — 7 cf. die Nachweise bei Denecke (wie not. 1) 4 sq.; zu Hinweisen auf einstige weitere Textzeugen cf. ibid., 2 - 6 . 8 z. B. Boor, Η. de: Geschichte der dt. Lit. 1. Mü. Ί979, 236-256, hier 254 sq.; ähnlich Rosenfeld, H.: Legende. Stg. 4 1982, 51 sq. - 9 cf. Teuber, E.: Zur Datierungsfrage des mhd. O.epos. Diss, (masch.)

Göttingen 1954; Verflex. 7, 44; Ebenbauer (wie not. 5) 39. - 10Szklenar, H./Behr, H.-J.: Herzog Ernst. In: Verflex. 3 (21981) 1170-1191; Szklenar, H.: König Rother. ibid. 5 ( 2 1985) 82-94. 11 Beissel, S.: Geschichte der Trierer Kirchen, ihrer Reliquien und Kunstschätze. 2: Zur Geschichte des Heiligen Rockes. Trier 21889. - 1 2 MGH SS 8, 152 sq.; Meves, U.: Studien zu König Rother, Herzog Ernst und Grauer Rock (O.). Ffm./Bern 1976, 235 sq. - 13 Gesta Treverorum continuata (MGH SS 24, 396); Meves (wie not. 12) 239. - 14 Aus scharfer zeitgenössischer Gegenposition zu der 1844 zur öffentlichen Verehrung ausgesetzten Reliquie schon Gildemeister, J./Sybel, H. von: Der Heilige Rock zu Trier und die zwanzig andern hl. ungenähten Röcke. Düsseldorf 1844. - 15 Naumann, H.: Versuch einer Einschränkung des romantischen Begriffs Spielmannsdichtung. In: DVLG 2 (1924) 777-794, bes. 788-794; Tonnelat, E.: König O. und Christi nahtloses Gewand. In: Schröder, W. J. (ed.): Spielmannsepik. Darmstadt 1977, 145-167; Ebenbauer (wie not. 5) 31; Verflex. 7,46 (.litteratus')· - 16 Naumann (wie not. 15); cf. ferner Jungandreas, W.: O. und der Hl. Rock. In: Kurtrier. Jb. 8 (1968) 84-95; Meves, U.: Das Gedicht vom ,Grauen Rock' (O.) und die Trierer Reliquientradition, ibid. 15 (1975) 5 - 1 9 ; Ebenbauer (wie not. 5) 29—39; anders Plate (wie not. 6) 168-210. - 17 Verflex. 7, 44. - 18Tonnelat (wie not. 15) 161 sq.; ausführlich zu diesem Problemkreis Ebenbauer (wie not. 5) 25-64; Meves (wie not. 12) 241, 242, not. 4. - " Z u den buchhändlerischen und allg. wirtschaftlichen Aspekten sowie zu weiteren einschlägigen Texten (Erzählungen, Liedern, Flugblättern) cf. Koppitz, J.: Studien zur Tradierung der weltlichen mhd. Epik im 15. und beginnenden 16. Jh. Mü. 1980,202-208. - 2 0 Der ungenähte graue Rock Christi, ed. F. H. von der Hagen. B. 1844. 21 cf. Verflex. 7, 44. - 2 2 cf. Berger und Steinger (wie not. 1); Plate (wie not. 6) 168-210. Innsbruck

Achim Masser

Orientalisches Erzählgut in Europa 1. Zur europ. Wahrnehmung des Orients — 2. Vermittlungsinstanzen - 3. Erzählstoffe und -motive 1. Z u r e u r o p . W a h r n e h m u n g des O r i e n t s . Die Dichotomie einer Aufteilung der erfahrenen Welt in ein ,wir' und ,die anderen' resultiert psychol. gesehen aus der Erfahrung des -+ Fremden (cf. auch Grenze) und der Identitätsfmdung des Menschen. Dabei ist die Größe der beiden kontrastrierten Einheiten prinzipiell unwesentlich: Wie es auch narrative Texte und Gattungen bestätigen, unterscheiden sich die Mechanismen der Wahrnehmung

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und Abgrenzung vom anderen nicht grundsätzlich, ob es sich um Individuen (-• Beruf, Berufsschwänke; -» Charaktereigenschaften und -proben; -> Krüppel), kleinere soziale Einheiten (-> Ortsneckerei), ethnische - Jude, Judenlegenden; Neger; -> Zigeuner), Kulturen oder gar — wie im Bereich der -> Science Fiction — um (fiktive) Welten handelt. Auf der Ebene der Erfahrung fremder Kulturbereiche ist der Orient für das Bewußtsein der europ. Kulturen seit der Antike das entscheidende andere 1 . Für den Blick nach Osten dürfte dabei in erster Linie die durch geogr. und klimatische Faktoren bedingte Unzugänglichkeit der in anderen Himmelsrichtungen liegenden Gegenden eine Rolle gespielt haben. So war der den antiken Kulturen benachbarte asiat. Osten das hauptsächliche Feld der Erfahrung fremder Kulturen: Ursächlich als Land der lebensspendend aufgehenden Sonne (,ex Oriente lux') empfunden, war er spätestens seit der durch die Eroberungen Alexanders d. Gr. eingeleiteten Epoche des Hellenismus ins aktive Bewußtsein des Westens gerückt und gewann mit der Verbreitung der semit. Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam weltgeschichtliche Bedeutung. Zudem besaß er einen geheimnisvollen Reiz durch die seltenen und wertvollen Waren (u. a. Gewürze, Kaffee, Tee; Seide, Brokat; Porzellan; Rüstungen, Schwerter), die durch Handelswege wie die Seidenstraße teilweise aus dem Fernen Osten nach Europa gelangten. Orient bedeutete im Sinne dieser hist. Ableitung zunächst einmal allg. alles östl. Gelegene, vom heutigen Nahen und Mittleren Osten (ζ. T. unter Einschluß von Nordafrika) über Mittel-, Süd- und Südostasien bis hin zum Fernen Osten (Ostasien). Die dergestalt geprägte Wahrnehmung des Orients durch die europ. Kulturen resultierte bes. im ZA. der kolonialistischen und imperialistischen Aneignung der nichteurop. Welt in einem Phänomen, das im späten 20. Jh. bes. durch den palästinens.-amerik. Lit.wissenschaftler E. W. Said unter dem Schlagwort des ,Orientalismus' popularisiert wurde 2 . Wenngleich Saids Konzept teilweise heftig diskutiert und (nicht zuletzt von ihm selbst) modifiziert wurde 3 , besteht Konsens darüber, daß hierunter seither eine voreingenommene, an eigene Interessen gebundene

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und nicht an autochthonen Wertigkeiten interessierte Wahrnehmung verstanden wird. Zentraler Kritikpunkt an der orientalistischen Sichtweise ist deren Unterstellung, der Orient sei ein gemeinsame Kriterien teilendes Ganzes, das sich wesenhaft und grundsätzlich von den westl. Kulturen unterscheide: Damit wurden die unterschiedlichen hist. Erfahrungen der ethnisch und religiös höchst vielfältigen Kulturen des Orients tendenziös vereinfachend zusammengefaßt, wie es seit dem einflußreichen Monument des Orientalismus, der Bibliotheque Orientale (P. 1697 u. ö.) von Barthelemy d'Herbelot 4 , symptomatisch ist. Zeitlich spannt sich der Bogen des Orientalismus von der bereits antiken ,Ägyptomanie' 5 über die Rezeption oriental, oder orientalisierender narrativer Lit. in MA. und Neuzeit6 bis hin zum westl., bes. amerik. Kulturimperialismus Ende des 20. Jh.s. Die vom Orientalismus betroffenen Bereiche sind neben Wiss. und Politik bes. Lit., Kunst, Architektur und populäre Kultur 7 . Analytisch gesehen beruht das Phänomen darauf, daß der Orient als .Traumwelt' 8 wahrgenommen und dabei ζ. T. als Spielwiese europ. (bes. sexueller)9 Phantasien eher .romantisch' verklärt (-• Romantik) oder exotisch überhöht (-> Exotik, Exotismus), ζ. T. (bes. in der ideologischen und machtpolitischen Auseinandersetzung) als Feindbild stigmatisiert wird 10 . Allerdings waren die Kultur- und Lit.bereiche, die aus Sicht der europ. Moderne relativ eindeutig als europ. und oriental, gegeneinander abzugrenzen sind, in Antike und frühem MA. teilweise eng miteinander verbunden: In der Epoche des Hellenismus wurde griech. Lit. in den iran. Kulturbereich vermittelt, und dessen Interaktion mit der arab.-islam. Kultur hatte ebenso wie die spätere intensive Rezeption der antiken Wiss.en auch Auswirkungen auf Lit. wie Volksliteratur11. Erst die machtpolitischen Auswirkungen der von dem Propheten Mohammed verkündeten Religion des Islam bewirkten mit der Beendigung der Antike und dem Einläuten des MA.s (sog. Pirenne-These)12 u. a. auch die bis Ende des 20. Jh.s vorherrschende Dichotomisierung mit ihren abgrenzenden Aspekten. Demgegenüber kannte der Islam in seiner klassischen Epoche Phasen einer großen Toleranz und praktizierte sowohl die Aneignung antiken Wissens13 als

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er auch - dies bes. im multikulturellen ma. Spanien - für die Übermittlung antiken, arab.-islam. sowie oriental. Wissens verantwortlich zeichnet. Wenn unter solchen Vorzeichen im folgenden von Orient gesprochen wird, so ist damit vorrangig der durch die arab.-islam. Kultur geprägte Bereich gemeint. Dieser hat einerseits als Vermittler von Kulturgut aus weiter östl. gelegenen Regionen (-• Ind. Theorie) und andererseits in der konkreten hist, und politischen wie auch religiösen und kulturellen Auseinandersetzung (-> Kreuzzüge) als direkter Nachbar und Geschwister der europ. Kulturen den zentralen Partner dargestellt. Wenngleich die Rolle der Mongolen für die Übermittlung oriental. Erzählguts gelegentlich diskutiert wurde (cf. -• Ardschi Bordschi, SiddhiKür)14, spielt der Ferne Osten für die hier zur Debatte stehende Vermittlung vor dem 19. Jh. kaum eine Rolle. 2. V e r m i t t l u n g s i n s t a n z e n . Die Geschichte des oriental. Erzählguts in Europa liest sich bis ins 19. Jh. auf weite Strecken wie ein hist. Überblick der Quellenwerke europ. Erzählforschung und läßt sich hier nur skizzenhaft in den wesentlichen Aspekten umreißen. Außer Betracht gelassen werden im folgenden die bibl. und apokryphen -» christl. Erzählstoffe (-+ Altes Testament, -» Neues Testament, Apokryphen, Hagiographie, Kindheitslegenden Christi, -• Vitae patrum) und Legenden (ζ. B. AaTh 712: Crescentia, A a T h 938: ->· Placidos), die zum großen Teil oriental. Ursprungs sind15. Bereits der Alexanderroman des PseudoKallisthenes als ein weit rezipiertes Monument narrativer Lit. weist eine Fülle oriental. Erzählmotive auf. Dabei hält sich sein Protagonist durchaus nicht nur in den hist, eroberten Ländern (Kleinasien, Levante, Ägypten, Mesopotamien, Iran) des Orients auf, aus deren Vorstellungswelt der Verf. derartige Motive adaptiert haben könnte. Oriental. Einflüsse finden sich schon früher bei anderen antiken Autoren wie Herodot oder -> Homer 16 ; vor allem für die /"o/y/jAem-Erzählung (AaTh 1135—1137) ist ein oriental. Ursprung mehrfach diskutiert worden 17 . Für das M A . hat D. Balke die europ. Rezeption oriental. Erzählstoffe in einem muster-

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gültigen Überblick zusammengefaßt18. Er spannt den Bogen von Arbeiten zum -> Gral und -» Parzival 19 , zu Dantes Divina commedia20 und dem strukturierenden Element der -> Rahmenerzählung seit Boccaccio über die Robinsonade und -> Mystik bis hin zum Minnesang 21 . In der Kreuzzugsdichtung greifen u. a. -> Orendel und Wolframs von Eschenbach Werke oriental. Topoi auf, wobei P. Kunitzsch zu Recht betont hat, daß in ihnen immer „der Orient, das heißt die zeitgenössische islamische Welt, ein literarischer Topos mit konventioneller Ausstattung" 22 blieb. Durch die hist. Erfahrung der geogr. Realität des Orients (cf. später auch Marco Polo) bildete sich das Motiv der Orientfahrt heraus, das u. a. in Brandaus Seefahrt, -> Herzog Ernst oder auch bei Jean de Mandeville erscheint (häufige Motive etwa Eselmensch, Hundsköpfige, -> Magnetberg, ->· Messingstadt; cf. auch Sindbad der Seefahrer). Massive Auswirkung auf die europ. narrative Überlieferung hatten bes. die großen oriental. Slgen (-• Kaiila und Dimna [-• Pancatantra], Sindbäd-näme [-> Sieben weise Meister, -* Johannes de Alta Silva], -> Papageienbuch), deren zahlreiche Erzählstoffe zunächst über hebr. bzw. lat. Zwischenstufen, erst bei späterer Rezeption direkt durch Übers.en in die westl. Volkssprachen vermittelt wurden. Die Erzählungen aus -> Tausendundeinenacht waren teilweise offenbar schon früh in Europa bekannt, wie es u. a. Anklänge der Rahmenerzählung in den Novellen von Giovanni -» Sercambi (1347—1424) und Ludovico Ariosto (1474-1533) vermuten lassen23. Durch A . Gallands frz. Adaptation (1704 sqq.) wurden sie fester Bestandteil der Weltliteratur. Seither haben sie nicht nur eine immense literar. Rezeption erfahren24, sondern zählen darüber hinaus seit langem zum festen Repertoire der europ. Kinder- und Jugendliteratur und haben hierüber auch wiederum die mündl. Überlieferung beeinflußt25. An der Rezeption von Erzählungen aus 1001 Nacht läßt sich das Phänomen des narrativen Orientalismus bes. deutlich aufzeigen, daß nämlich ausgerechnet diejenigen Erzählungen, die primär durch Galland selbst geprägt wurden und nicht ursprüngliche Bestandteile von 1001 Nacht sind, in der populären Perzeption bes. erfolgreich waren: dies betrifft vor allem die

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Erzählungen Ali Baba und die vierzig Räuber (AaTh 676 + 954) sowie -» Aladdin und die Wunderlampe (AaTh 561)26. Auch teilweise an eine europ. Vorstellungswelt angepaßte Slgen wie der Peregrinaggio des (mittlerweile zweifelsfrei als hist. Person identifizierten27) Christoforo Armeno oder die weitgehend auf ein türk. Farag ba'd as-sidda zurückgehende Slg Tausendundeintag28 haben zahlreiche oriental. Erzählstoffe in die westl. Überlieferung vermittelt. Die zentralen geogr. Bereiche, in denen oriental. Erzählstoffe vermittelt wurden, hat J. Stohlmann am Beispiel der ma. lat. Exempelliteratur zusammengefaßt (cf. auch Arab.-islam. Erzählstoffe, bes. Kap. II) 29 : (1) Spanien, zwischen 711 und 1492 teilweise unter muslim. Herrschaft, ist die wichtigste Berührungszone 30 . Dort wurden zahlreiche Übers.en aus dem Arabischen angefertigt, und es herrschte ein multikulturelles und gelegentlich erstaunlich tolerantes multireligiöses Klima. Erzählforscherisch relevante Werke dieser Epoche sind u. a. El Conde Lucanor des Infanten Juan Manuel 31 , ein Lehrgespräch zwischen Graf Lucanor (dessen Namen auf den sagenhaften arab. Weisen ->• Luqmän zurückgeht 32 ) und seinem Ratgeber, sowie die älteste erhaltene lat. Exempelsammlung des MA.s, die von dem getauften Juden Petrus Alfonsus verfaßte Disciplina clericalis33. (2) In Sizilien fand bes. unter den Staufern Friedrich II. und seinem Sohn Manfred von Tarent eine intensive Übersetzertätigkeit statt, auf die u. a. das Directorium humanae vitae des Johannes von Capua sowie der Novus Aesopus des Baldo hindeuten, beides Werke, die ihren Stoff aus Kaiila und Dimna beziehen. (3) Palästina war nicht nur Schauplatz kriegerischer Auseinandersetzungen, sondern auch kultureller Begegnungen 34 . Hier konnte ein unmittelbarer Kontakt mit der oriental. Überlieferung stattfinden, der seinen Niederschlag ebenso in der lat. Chronikliteratur und der Kreuzzugsdichtung wie in zahlreichen Werken der Exempelliteratur fand. Ein ergiebiges Beispiel dieses sicher auch von mündl. Überlieferung getragenen Kulturaustausches ist Jacques de Vitry, der 1216-28 Bischof von Akka in Palästina war. Seine Predigten enthalten zahlreiche Erzählungen, die sich durch das (allerdings bereits im MA. als Topos benutzten) einführenden

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,audivi' als direkt der mündl. Überlieferung stammende Erzählung ausgeben35. (4) Schließlich hat auch Byzanz als Umschlagplatz von Erzählgut zwischen Asien und Europa eine bedeutende Rolle gespielt (-• Byzant. Erzählgut). Von hier breitete sich u. a. die von Johannes Damascenus zu einem christl. ,Missionsroman' umgestaltete Legende -» Barlaam und Josaphat aus. Seit dem 15. Jh. ist bes. der Balkan unter osman. Herrschaft sowohl potentieller Austauschplatz auch narrativer Kulturgüter 36 ein Aspekt, den bes. K. -> Horälek in zahlreichen Studien behandelt hat 37 — als auch (aus westeurop. Sicht) selbst Teil des imaginierten Orient 38 . Mit dem Fortfall der militärischen Bedrohung durch die Osmanen im ausgehenden 17. Jh. war zudem der Nährboden für eine von oriental. Stoffen faszinierte Kuriositätenliteratur bereitet, deren Auswirkungen sich von den barocken dt. Schwankbüchern (cf. etwa Müller von Sanssouci) über volkssprachliche Kalender bis hin zu Schulbüchern 39 aufzeigen lassen. Auch durch die literar. und allg. intellektuelle Rezeption islam.oriental. Werke, wie des Golestän (Rosengarten; verfaßt 1258) des pers. mystischen Dichters Sa'di, konnten oriental. Erzählstoffe in die europ. Überlieferung gelangen40. Vorrangig im 20. Jh. entstanden durch die internal Arbeits- und Flüchtlingsmigration und die zunehmende Multikulturalität der westl. Gesellschaften neue Kanäle für die Diffusion oriental. Erzählguts 41 , wie sie sich exemplarisch an der internat. Verbreitung der Figur des Hodscha Nasreddin (Kap. 3.2.2) aufzeigen lassen. 3. E r z ä h l s t o f f e u n d - m o t i v e . In der traditionell an der geogr.-hist. Methode orientierten erzählkundlichen Fachliteratur ist immer wieder die oriental. Herkunft von Stoffen und Motiven, die in der europ. Überlieferung verbreitet sind, diskutiert worden. Dies betrifft einzelne Motive bzw. Motivkomplexe (etwa -> Fernliebe, -+ Hamlet 42 , Ragnar Lodbrok 43 , 44 Vater-Sohn-Motiv ) oder Erzählungen (AaTh 704: -» Prinzessin auf der Erbse45; AaTh 850, 851, 851 A: Rätselprinzessin46·, Affe teilt Gewinn des Weinhändlers [Mot. J 1551.9]47; verrückt machender Regen [Mot. J 1714.2]48; Haus ohne Essen und Trinken [Mot. J 2483]49;

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Rache des Kastrierten [Mot. Κ 1465] 50 ; versehentlicher Kannibalismus [Mot. Χ 21] 51 ), Erzählgattungen (-+ Freundschaftssagen, Schicksalserzählungen), Werke und Autoren (-> Tristan und Isolde?2, Floire et Blancheflor53, die Fazetien -» Poggios 5 4 , der Patranuelo Juan de -> Timonedas 5 5 , die Fables -> La Fontaines 5 6 , die -• Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm 5 7 ) ebenso wie die Überlieferung einzelner Länder (-+ Frankreich, bes. Kap. 1.3, 1.6 58 ; cf. auch Cabinet des fies·, — Conte de fees, bes. Kap. 2.2.2 5 9 , -» Ungarn 6 0 ). D i e der islam. Welt benachbarten und verschiedentlich islam, beherrschten Regionen (Iber. Halbinsel, Süditalien, Balkan) waren mit Sicherheit einem größeren und dauerhafteren Einfluß ausgesetzt, d o c h selbst bis in die isl. Saga-Lit. lassen sich oriental. Einflüsse nachweisen 6 1 . Für die weitere Beschäftigung mit diesem Thema ist es unumgänglich, exakte Qu.nanalysen vorzunehmen und sich vor pauschal anmutenden Einschätzungen, wie sie bes. W. Liungman des öfteren vorgebracht hat, zu hüten. Bes. die minutiösen und auf großer Belesenheit beruhenden Einzeluntersuchungen v o n Erzählforschern wie V. -+ Chauvin, R. -» Basset, A. Wesselski 6 2 und H. -+ Schwarzbaum oder auch des Hispanisten F. de la Granja 6 3 haben gezeigt, wie sorgfaltige Qu.nanalysen immer wieder zu einer Neubewertung und Bereicherung bestehender Kenntnisse über die oriental. Ursprünge europ. Erzählguts beitragen können. 1 Die Begegnung des Westens mit dem Osten. Kongreßakten des 4. Symposiums des Mediävistenverbandes [...]. ed. O. Engels/P. Schreiner. Sigmaringen 1993; Kommunikation zwischen Orient und Okzident. Alltag und Sachkultur. Internat. Kongreß Krems an der Donau 6 . - 9 . Okt. 1992. Wien 1994; The Arab Influence in Medieval Europe, ed. D. A. Agius/R. Hitchcock. Reading 1994. - 2 Said, Ε. W.: Orientalism. N.Y. 1978; cf. früher bes. Waardenburg, J.-J.: L'Islam dans le miroir de l'Occident. P./Den Haag 1962. - 3 cf. Said, E. W.: Orientalism Reconsidered. In: Race and Class 27,2 (1985) 1 - 1 5 ; Fähndrich, Η.: Orientalismus und „Orientalismus". Überlegungen zu Edward Said, Michel Foucault und westl. „Islamstudien". In: Die Welt des Islams 28 (1988) 178-186. - 4 Laurens, H.: Aux Sources de l'orientalisme. La Bibliotheque Orientale de Barthetemi d'Herbelot. P. 1978; Said (wie not. 3) bes. 63-67. — 5 Ägyptomanie. Ägypten in der europ. Kunst 1730-1930. Die Sehnsucht Europas nach

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dem Land der Pharaonen. Zur Begegnung von Orient und Okzident am Beispiel des Alten Ägypten. Ausstellungskatalog Wien 1994. - 6 cf. Tekinay, Α.: Materialien zum vergleichenden Studium von Erzählmotiven in der dt. Dichtung des MA.s und den Lit.en des Orients. Ffm./Bern/Cirencester 1980. 7 cf. Europa und der Orient 800-1900. ed. G. Sievernich/H. Budde. Ausstellungskatalog B. 1989; Sharafuddin, M.: Islam and Romantic Orientalism. Literary Encounters with the Orient. L./N. Y. 1994; MacKenzie, J. M.: Orientalism. History, Theory and the Arts. Manchester/N. Y. 1995; Lewis, E.: Gendering Orientalism. Race, Femininity and Representation. L./N. Y. 1996; Im Lichte des Halbmonds. Das Abendland und der türk. Orient. Ausstellungskatalog Bonn 1996. - 8 Kappert, P.: Europa und der Orient. In: Feindbild Islam, ed. J. Hippler/A. Lueg. Hbg 1993, 4 4 - 7 6 , bes. 4 6 - 50. - 'Rabbani, R.: Europe's Myth of Orient. Houndsmills/L. 1986 (u. d. T. Imperial Fictions. L. 21994). - 10 Said, E. W.: Covering Islam. How the Media and the Experts Determine How We See the Rest of the World. L./Melbourne/ Henley 1981; Hentsch, T.: L'Orient imaginaire. La vision politique occidentale de Test mediterraneen. P. 1988; Rotter, G.: Allahs Plagiator. Die publizistischen Raubzüge des „Nahostexperten" Gerhard Konzelmann. Heidelberg 1992; Klemm, V./Hörner, K. (edd.): Das Schwert des „Experten". Peter SchollLatours verzerrtes Araber- und Islambild. Heidelberg 1993. 11 Grunebaum, G. E.: Greek Form Elements in the Arabian Nights. In: J. of the American Oriental Soc. 62 (1942) 277-292 (dt. in id.: Der Islam im MA. Zürich 1963, 376-405); Rundgren, F.: Arab. Lit. und oriental. Antike. In: Orientalia Suecana 19/20 (1970-71) 81-124; 'Abbäs, I.: Malämih yünänlya ff 1-adab al-'arabl (Griech. Wesenszüge in der arab. Lit.). Beirut 1977; Bosworth, C. E.: The Interaction of Arabic and Persian Literature and Culture in the 10th and Early 11th Centuries. In: al-Abhath 27 (1978-79) 59-75; Rosenthal, F.: A Small Collection of Aesopic Fables in Arabic Translation. In: Studia Semitica necnon Iranica. Festschr. R. Macuch. Wiesbaden 1989, 233-256. - 12 Pirenne, H.: Mahomet et Charlemagne. P. 1936 (dt. u. d. T.: Mohammed und Karl d. Gr. Untergang der Antike am Mittelmeer und Aufstieg des germ. MA.s. Ffm. 1985); Lyon, B.: Die wiss. Diskussion über das Ende der Antike und den Beginn des MA.s. In: Mohammed und Karl d. Gr. Die Geburt des Abendlandes. Stg./Zürich 21993. - 13 Rosenthal, F.: Das Fortleben der Antike im Islam. Zürich/Stg. 1965. - l 4 Cosquin, E.: Les Mongols et leur pretendu röle dans la transmission des contes indiens vers l'Occident europeen. Niort 1913. - 15 cf. Horälek, K.: Oriental. Legenden bei den Slawen. In: Byzantinoslavica 29 (1968) 92-111; id.: Zu den christl. Legenden oriental. Herkunft. In: Das heidnische und christl. Slaventum. Acta II Congressus internat. historiae Slavicae Salisburgo-Ratisbonensis anno 1967 celebrati. Wiesbaden 1969, 81—98. - 16 cf. Chauvin, V.: Homere et les 1001 Nuits. In:

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Orientalisches Erzählgut in Europa

Le Musee beige 3 (1899) 6 - 9 . - 17 ζ. B. Comhaire, J. L.: Oriental Versions of Polyphem's Myth. In: Anthropological Quart. 31 (1958) 21-28. - 18 Balke, D.: Orient und oriental. Lit.en (Einfluß auf Europa und Deutschland). In: RDL 2 (21965) 816-860. 19 Staude, W.: Die äthiop. Legende von der Königin von Saba und die Parsival-Erzählung Wolfram von Eschenbachs. In: Archiv für Völkerkunde 12 (1957) 1 - 5 3 . - 20 Cerulli, E.: Dante e l'Islam. In: Al-Andalus 21 (1956) 229-253; Kremers, D.: Islam. Einflüsse auf Dantes „Göttliche Komödie". In: Neues Hb. der Lit.wiss. 5: Oriental. ΜΑ. ed. W. Heinrichs. Wiesbaden 1990, 202-215. 21 Menocal, M. R.: The Arabic Role in Medieval Literary History. Phil. 1987. - 22 Kunitzsch, P.: Reflexe des Orients im Namengut ma. europ. Lit. Hildesheim u. a. 1996, 197. - 23 cf. Irwin, R.: The Arabian Nights. L. 1994, bes. 98 sq. - 24 cf. ζ. Β. Ali, Μ. J.: Scheherazade in England. Boulder, Co. 1981; Caracciolo, P. L. (ed.): The Arabian Nights in English Literature. Ν. Y. 1988. - 25 cf. etwa Jahn, U.: Volksmärchen aus Pommern und Rügen. Norden/ Lpz. 1881, XVI sq.; Poortinga, Y.: De Ring fan it ljocht. Ljouwert 1976, 145 sq. - 26 cf. Marzolph, U.: Das Aladdin-Syndrom. Zur Phänomenologie des narrativen Orientalismus. In: Hören, Sagen, Lesen, Lernen. Festschr. R. Schenda. Bern u. a. 1995, 449-462. - 27 Piemontese, Α. M.: Gli „Otto Paradisi" di Amir Khusrau da Delhi. Una lezione persiana del „Libro di Sindbad" fonte del „Peregrinaggio" di Cristoforo Armeno. Rom 1995. — 28 Petis de la Croix, F.: Les Mille et un Jours. Contes persans, ed. P. Sebag. P. 1980; Steingrimsson, S.: Tusen och en dag. En sagosamlings vandring frän Orienten tili Island. In: Scripta Islandica 31 (1980) 54-64. 29 Im folgenden nach Stohlmann, J.: Orient-Motive in der lat. Exempla-Lit. des 12. und 13. Jh.s. In: Miscellanea mediaevalia 17 (1985) 123-150, bes. 125-134. - 30 Lasater, Α. E.: Spain to England. A Comparative Study of Arabic, European, and English Literature of the Middle Ages. Jackson, Miss. 1974. 31 Marin, D.: El elemento oriental en Don Juan Manuel. In: Comparative Literature 7 (1955) 1-14; cf. auch Granja, F. de la: Origen ärabe de un famoso cuento espanol. In: Al-Andalus 24,2 (1959) 319-332. - 32 Balke (wie not. 18) 820. - 33 cf. Spies, 0.: Arab. Stoffe in der Disciplina clericalis. In: Rhein. Jb. für Vk. 21 (1973) 177-199; Ranelagh, Ε. L.: The Past We Share. The Near Eastern Ancestry of Western Folk Literature. L. u. a. 1979, 163-193. - 34 cf. u. a. Die Erlebnisse des syr. Ritters Usäma ibn Munqid. Übers. Η. Preißler. Lpz.AVeimar 1981. - 35 cf. Marzolph, Arabia ridens, bes. t. 1, 173-197. - 36 Gavazzi, M.: Methodisches zur Erforschung der oriental. Elemente Südosteuropas. In: Grazer und Münchener balkanologische Studien. Mü. 1967, 29-39; Matl, J.: Das oriental. Element in der Kultur der Balkanvölker, ibid., 71—82; Ressel, S.: Oriental.-osman. Elemente im balkanslav. Volksmärchen. Münster 1981; Köhler-Zülch, I.: Bulg.

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Märchen im balkan. Kontext und ihre Stellung in der internat. Erzählüberlieferung. In: Kulturelle Traditionen in Bulgarien, ed. R. Lauer/P. Schreiner. Göttingen 1989, 185-201. - 37 Ergänzend zu EM 6, 1243-1245: Horälek, K.: Zur Frage der byzant. und oriental. Elemente in der slav. Lit. und Volksdichtung. In: Byzantinoslavica 23,2 (1962) 285-316; id.: Orientalni prvky ν slovanskych pohädkäch (Oriental. Elemente in slav. Märchen). In: CL 55 (1968) 92—101; id.: Za orientalskite prikazki ν bülgarskata folklorna kultura (Über oriental. Erzählungen in der bulg. Volksüberlieferung). In: Bülgarski folklor 15,1 (1989) 10-17 (mit engl. Resümee). - 38 Todorova, Μ. N.: Imagining the Balkans. Ox. 1997. - 39 cf. Marzolph, Arabia ridens 1, 76 sq., 224. - 40 cf. Atsiz, B.: [...] Sa'di. In: KNLL 14 (1991) 578-581; Brüggemann, T. (in Zusammenarbeit mit H.-H. Ewers): Hb. zur Kinder- und Jugendliteratur. Von 1750 bis 1800. Stg. 1092, num. 1775. 41 cf. ζ. B. Boratav, P. N.: The Folklore of Turkish Immigrant Workers in France. In: Indiana Univ. Turkish Studies 5 (1985) 57-65; Newall, V.: The Significance of Narrative in Modern Immigrant Society. The Indian Community in Britain. In: Röhrich, L./ Wienker-Piepho, S. (edd.): Storytelling in Contemporary Societies. Tübingen 1990, 165-172. - 42 Jiriczek, O. L.: Hamlet in Iran. In: ZfVk. 10 (1900) 353-364. - 43 Liebrecht, F.: Die Ragnar Lodbrokssage in Persien. In: Orient und Occident 1 (1862) 561-567. - 44 Cross, Τ. P.: A Note on .Suhrab and Rustum' in Ireland. In: J. of Celtic Studies 1 (1949-50) 176-182. - 45 Christensen, Α.: La Princesse sur la feuille de myrte et la princesse sur le pois. In: Acta Orientalia 14 (1936) 241-257. - 46 Meier, F.: Turandot in Persien. In: ZDMG 95 (1941) 1 - 2 7 , 415-421. - 47 Wesselski, Α.: Die Vermittlung des Volkes zwischen den Lit.en. In: SAVk. 34 (1936) 117-197, hier 180-184; Marzolph, Arabia ridens 2, num. 141. - 48 Martinez; Marzolph, Arabia ridens 2, num. 724. - 49 Marzolph, U.: Das Haus ohne Essen und Trinken. Arab, und pers. Belege zu Mot. J 2483. In: Fabula 24 (1983) 215-222. - 50 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 422. 51 ibid., num. 1070. - "Schröder, F. R.: Die Tristansage und das pers. Epos ,Wis und Ramin'. In: GRM N. F. 9 (1961) 1-44. - "Basset, R.: Les Sources arabes de ,Floire et Blancheflor'. In: RTP 22 (1907) 241-245. - 54 cf. Marzolph, Arabia ridens 1, bes. 212-223. - 55 Cerulli, Ε.: II Patrafiuelo di Juan Timoneda e l'elemento arabo nella novella italiana e spagnola del Rinascimento. Rom 1957; cf. auch Childers J 1312.4* = Marzolph, Arabia ridens 2, num. 141. - 56 Hasubek, P.: Die Fabel. B. 1982, 91, not. 33. - 57 Spies, Ο.: Oriental. Stoffe in den KHM der Brüder Grimm. Walldorf 1952. - 58 cf. auch Grätz, M.: Das Märchen in der dt. Aufklärung. Stg. 1988. - 59Solymossy, Α.: Verwandtschaft des ung. Volksmärchens mit dem oriental. In: Ung. Jbb. 3 (1923) 115-134. - 6 0 Mundt, M.: Zur Adaptation oriental. Bilder in den Fornaldarsögur Nordlanda. Ffm. u. a. 1983. -

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Orlando - Orpheus

61

cf. Marzolph, Arabia ridens 1, 241-243. Granja, F. de la: Tres cuentos espanoles de origen ärabe. In: Al-Andalus 33 (1968) 123-141; id.: Dos cuentos ärabes de ladrones en la literatura espanola del siglo XVI. ibid., 459-469; id.: El castigo del Galan. Origen ärabe de un cuento de Luis Zapata, ibid. 34 (1969) 229-243; id.: Cuentos ärabes en la „Floresta espanola" de Melchor de Santa Cruz. ibid. 35 (1970) 381-400; id.: Un cuento oriental en la historia de al-Andalus. ibid., 211—222; id.: Tras las reliquias de Roa. Un motivo folclörico espafiol de tradition ärabe. In: Estudios sobre el Siglo de Oro. Festschr. F. Yndurain. Madrid 1984,255-264; id.: Precedentes y reminiscencias de la literatura y el folklore ärabes en nuestro Siglo de Oro. Madrid 1996. 62

Göttingen

Orlando

Ulrich Marzolph

Roland

Ornamentaler Stil -> Stil

Orpheus, nach der griech. Mythologie Sohn des thrak. Flußgottes Oiagros (nach Pindar Sohn des Apollo) und von Kalliope, der Muse der Kunst und Wiss., mythischer Begründer der ->· Musik. Der Sänger und Kitharspieler nimmt am Zug der Argonauten teil, gibt den Ruderern den Takt, besänftigt den Sturm (-• Wind) und beschützt vor den -> Sirenen. Durch die Macht seines Gesanges befreit er die an einem Schlangenbiß gestorbene Geliebte Eurydike aus dem Hades (-» Unterwelt); als er sich jedoch auf dem Rückweg nach ihr umblickt, verliert er sie für immer (-• Richtungssymbolik)1. Über O.' Tod gibt es verschiedene Var.n: Der Trauernde wird von thrak. Mänaden zerrissen, entweder weil er zum Frauenfeind geworden war oder auf Befehl des Dionysos, weil er nur noch Apollo huldigte. Die Musen bestatten seine Körperteile, während sein Haupt singend über das Meer nach Lesbos, der Insel der Dichtkunst, treibt 2 . Um O. bildete sich schon im 6. Jh. ein Geheimkult mit eigener Theogonie und Kosmogonie, der den in die Mysterien Eingeweihten Erlösung von den Strafen in der Unterwelt versprach. Die Orphik ist eng mit dem Dionysoskult verflochten; zu ihrem Vorstellungskreis gehört die Lehre von der Seelenwanderung sowie das Vegetariertum (gegen das Tier-

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opfer). Die Kirchenväter stehen der Gestalt O.' ambivalent gegenüber: einerseits gilt seine sanfte, unkriegerische Erscheinung als Präfiguration Christi, andererseits wird die Macht der Musik für Zauberwerk gehalten3. Das vorherrschende Motiv in den nicht einheitlichen und ursprünglich voneinander unabhängigen Kulterzählungen ist der Zauber von Gesang und Saitenspiel: die Bäume gehen ihm nach; Waldtiere, Vögel und Fische versammeln sich um ihn; Raubtiere werden zahm, Flüsse und Wolken stehen still. Dieses Bild des paradiesischen Friedens ist schon auf den ältesten Abb.en (7. Jh.) zu sehen4. Während O. als Interpret des Numinosen und als göttlicher Offenbarer in der Mystik, Astrologie und Hermetik des 15./16. Jh.s eine Rolle spielte5, herrschte im ma. Schrifttum der Sänger vor 6 . Märchenhafte Züge trägt die engl. Verserzählung Sir Orfeo (1330), in der Heurodis, die Gattin des O., von einem Feenkönig geraubt wird und er sie durch die Macht seiner Musik zurückgewinnt7; von hier aus könnte das O.motiv in die engl. Ballade gelangt sein8. Andere Gedichte, wie O. and Eurydice von Robert Henryson (15. Jh.), sind moraldidaktischer Natur (O. als Exempel der Fleischeslust)9. Auch als Oper ist der O.-Stoff mehrfach bearbeitet worden 10 . Im Zuge von Friedrich Nietzsches Interpretation wird O. als Ambivalenzfigur Gegenstand der modernen Dichtung, dramatischer Mythenbearbeitungen sowie des Films". Das O.-Motiv von der Zauberkraft der Musik ist in der mündl. Überlieferung verschiedener Kulturen nachzuweisen, ohne daß immer eine Verbindung mit dem griech. Mythos und seinem Nachleben bestünde 12 . Die Heimholung Nahestehender aus dem Jenseits (Mot. F 81.1) ist schon im -» Gilgamesch-Epos geschildert, aber auch in der -» Edda und anderen Werken13. Das ma. Motiv der Zaubermacht der Musik erklärt A. -» Kircher durch die Nachahmung der Sphärenmusik 14 . Verzauberung durch Instrumentenspiel ist ebenso in Indien, China, Tibet, dem Vorderen Orient oder in weiteren Regionen Europas nachzuweisen15. Der Lockzauber des Liedes kommt auch im Blaubartmärchen (AaTh 311, 312: Mädchenmörder) vor, den Zauberpfeifen erliegen Mensch und Tier (cf. auch Rattenfänger

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Ortsneckerei

von Hameln) 1 6 , Zaubergeigen zwingen zum Tanz (AaTh 592: -> Tanz in der Dornhecke)11. D a s in Thessalien aufgezeichnete Erotokritai-Märchen18, weitgehend eine Nacherzählung des gleichnamigen kret. Versromans von Vicenzo C o r n a r o ( A n f a n g 17. Jh.) 1 9 , bewahrt das paradiesische Bild der der Musik lauschenden Tierversammlung; auch rettet der Held, n a c h d e m er sich in einer endlosen Wüste verlaufen h a t u n d v o n wilden Tieren b e d r o h t wird, sein Leben d u r c h Musik 2 0 . D a die Erzählung aus der schriftl. Überlieferung s t a m m t (dem in Venedig häufig aufgelegten Volksbuch Erotokritos), ist nicht auszuschließen, d a ß das O.-Motiv in dieser bildgetreuen Fassung ebenfalls durch Schule u n d Schriftkultur vermittelt wurde. 1 cf. Bowra, C. M.: O. and Eurydice. In: Classical Quart. 46 (1952) 113-126; Hunger, H.: Lex. der griech. und röm. Mythologie. Wien '1988, 372-380. - 2 cf. allg. Gruppe, O.: O. In: Pauly/Wissowa 18 (1939) 1200-1316; Wegner, M.: Die O.-Sage in Antike und MA. In: Blume, F. (ed.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart 10. Kassel 1962, 410-412; Warden, J. (ed.): O., the Metamorphoses of a Myth. Toronto 1985. - 3 Prümm, Κ.: Orphik im Spiegel der neueren Forschung. In: Zs. für kathol. Theologie 78 (1959) 1—40; cf. auch Pressouyre, L.: O. In: LCI 3 (1971) 356-358; Skeris, R. Α.: Chroma theou. On the Origins and Theological Interpretations of the Musical Imagery Used by the Ecclesiastical Writers of the First Three Centuries, with Special Reference to the Image of O. Altötting 1976. — 4 Kern, O.: Eine neu aufgefundene böot. Schale mit O.-Darstellung. In: Mittigen des dt. archäologischen Inst.s Athen 63-64 (1938/39) 107-110. - 5 Walker, D. Ρ: Ο. the Theologian and Renaissance Platonists. In: J. of the Warburg and Courtauld Institute 16 (1953) 100-120; Joukovsky, F.: Orphee et ses disciples dans la poesie fran9aise et neo-latine du 16e siede. Genf 1970; Brackling-Gersuny, G.: Ο., der Logos-Träger. Eine Unters, zum Nachleben des antiken Mythos in der frz. Lit. des 16. Jh.s. Mü. 1975. — 'Heitmann, K.: O. im MA. In: Archiv für Kulturgeschichte 45 (1963) 253-294; Friedmann, J. B.: O. in the Middle Ages. Cambr., Mass. 1970. - 7 Wirl, J.: O. in der engl. Lit. Wien/Lpz. 1913; Kinghorn, Α. M.: Human Interest in the Middle English Sir Orfeo. In: Neophilologus 50 (1966) 359-369; Hennessey Olsen, Α.: Loss and Recovery. A Morphological Reconsideration of Sir Orfeo. In: Fabula 23 (1982) 198-206. - 8 Child, num. 19; MacSweeney, J. J.: „King Orfeo". In: FL 29 (1918) 321-323; Stewart, M.: „King Orphius". In: Scottish Studies 17 (1973) 1-16. - 9 Kenneth, G. L.: Robert Henryson's O. and Eurydice and the O. Traditions of the Middle Ages. In: Speculum 41 (1966) 643-655. - 10 Buck,

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Α.: Der O.-Mythos in der ital. Renaissance. Krefeld 1961; Knoch, H.: O. und Eurydike. Der antike Sagenstoff in den Opern von Darius Milhaud und Ernst Krenek. Regensburg 1977; Meilers, W.: The Masks of Ο. Seven Stages in the Story of European Music. Manchester 1987; Ulm, R.: Glucks O.Opern. Ffm. u. a. 1991. 11 Frenzel, Stoffe, 562-568; Kushner, E.: Le Mythe d'Orphee dans la litterature fran^aise contemporaine. P. 1961; Schondorff, J. (ed.): Ο. und Eurydike. Mü./Wien 1963; Strauss, W. Α.: Descent and Return. The Orphic Theme in Modern Literature. Cambr., Mass. 1970. - 12 Just, G.: Magische Musik im Märchen. Ffm. u. a. 1991, 68-70. - 13 HDA 8 (1936-37) 1470; zur Bedeutung von O. für die Astrologie cf. Swanson, G. E.: O. and Star Husband. Meaning and Structure of Myths. In: Ethnology 15,2 (1976) 115-133; Steinen, Κ. von den: Ο., der Mond und Swinegel. In: ZfVk. 25 (1915) 260-279. 14 Kirchner, Α.: Musurgia universalis. Rom 1650, 394 sq. - 15 Seemann, E.: Musik. In: HDA 6 (1934-35) 633-690, hier 653 sq.; id.: Singen, ibid. 9 (1938-41) Nachträge, 424-485, hier 454. - 16 ibid. 6 (1935-36) 653 sq. - 17 cf. Scherf, 1558; Hultkrantz, Α.: The North American O. Tradition. Sth. 1957; Rooth, Α. B.: Chibiabos, Väinämöinen, and O. In: Humaniora. Festschr. A. Taylor. Locust Valley, Ν. Y. 1960, 277-284; Kuizon, J.: The O. Myth and the Flight Motif in Philippine Folklore. In: Philippine Quart, of Culture and Soc. 1,2 (1973) 92-94; Badganavicius, V.: Orfejus lietuviskose pasakose (Das O.-Motiv in litau. Volkerzählungen). In: Laiskai lietuviams 32,5 (1981) 165-169; Schenda, R./ Tomkowiak, I.: Istorie bellissime. Ital. Volksdrucke des 19. Jh.s aus der Slg R. Köhlers in Weimar. Wiesbaden 1993, num. 121; cf. BFP *425E*; Archiv G. A. Megas, Athen (57 Var.n.). - 18 Tsangalas, K.: Das O.- und Arionmotiv im antiken Mythos und in einem neugriech. Märchen. In: Siegmund, W. (ed.): Antiker Mythos in unseren Märchen. Kassel 1984, 72—79. — "Vitsentsos Kornaros: Erotokritos. ed. S. Alexiu. Athen 1980; Holton, D.: Romance. In.: id. (ed.): Literature and Soc. in Renaissance Crete. Cambr. 1991, 205-238. - 20 Tsangalas (wie not. 18) 76. Athen

Walter Puchner

Ortsneckerei, seit der Antike bekanntes, weltweit verbreitetes P h ä n o m e n aus dem Bereich des ->· Spotts: f ü r benachbarte Siedlungen oder ferner gelegene Städte u n d L ä n d e r werden bestimmte Spitz- oder N e c k n a m e n benutzt, mit denen eine Einschätzung von deren Andersartigkeit ausgedrückt wird (cf. -+ N a m e , -> Stereotypen). Dabei zielen O.en nicht auf die Orte, sondern immer auf die Bewohner, sie sind daher nach A. Bach eigentlich

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Ortsneckerei

,Ortseinwohnerübernamen' 1 . O.en sind häufig mit Erzählüberlieferungen verbunden. Die Sammlung und Erforschung von O.en war in der älteren, traditionsorientierten Vk. beliebt, in zahlreichen regionalvolkskundlichen Darstellungen gehörte die Beschäftigung mit den O.en zum sog. Kanon 2 . Parallel dazu fand auch die Namenforschung in der älteren volkskundlichen Forschung große Aufmerksamkeit; so wies die Internat, volkskundliche Bibliogr. bis zur Ausg. von 1988/89 die spezielle Rubrik XXI D: Witz und Spott, Übernamen und O.en auf. In einer Zeit, in der viele solcher Lokalüberlieferungen verloren zu gehen beginnen, hat das Forschungsinteresse am Ortsspott sichtlich nachgelassen. Die Vk. überläßt mittlerweile die Erforschung der Namen der sprachwiss. Namenforschung, und mit O.en beschäftigen sich heute höchstens noch Heimat- und Lokalforscher 3 . Der folgende Überblick bringt vorwiegend Beispiele aus dem dt. Bereich. Aus der offiziellen Toponymie fallen die O.en heraus, da sie ursprünglich vorwiegend mündl. überliefert werden und im Gegensatz zu den amtlichen Ortsnamen keine wertneutralen, sachlichen Benennungen sind, sondern eine Tendenz ausdrücken: Sie wollen die Bewohner der betreffenden Orte auf kurze und treffende Weise charakterisieren, darüber hinaus aber auch verspotten, beschimpfen, ausgrenzen oder diskriminieren (-> Diskriminierung). O.en sind somit Ausdruck der Tatsache, daß das Zusammenleben von Menschen selten problemfrei verlief, sondern stark durch Aggression, -» Konflikte, Neid, Mißgunst u. a. gekennzeichnet war. Der Gebrauch von O.en — seinerseits bereits Ausdruck der zwischen einzelnen Dörfern bestehenden traditionellen Feindschaften — war dann oft nur der erste Schritt4 zum gewaltsamen Austragen derartiger Konflikte 5 . O.en können auf unterschiedliche Motivgruppen zurückgeführt werden: (1) einen im Ort beliebten Rufnamen (ζ. B. Darmstädter ,Heiner'); (2) Lage und Eigenart des Ortes und der Gemarkung (ζ. B. Niederotterbacher Sandhasen, wegen der sandigen Böden); (3) häufig vertretene Berufe oder Beschäftigungen (ζ. B. Hüngheimer Scherenschleifer); (4) körperliche Eigenschaften oder Körperteile (ζ. B. Obrigheimer Kröpfer); (5) geistige und charakterliche Eigenschaften (ζ. B. Dossenheimer Dappes [= Tölpel]); (6) Tiere oder Körperteile

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von Tieren (ζ. B. Wolliner Stintköppe); (7) Pflanzen oder Teile von solchen (ζ. B. Breidenbacher Gelberüben); (8) Geräte (z.B. Birkweiler Rückkörb); (9) Haartracht und Kleidung (ζ. B. Dagersheimer Schlapphüte); (10) Speisen (ζ. B. Ladenburger Froschschenkelfresser); (11) Wohlstand (ζ. B. Langgönser Speckmänner); (12) Völkernamen (ζ. B. Schwickartshausener Jirre [= Juden]); (13) spielerische Verfremdung (ζ. B. Oberammergauner); (14) auffällige Eigenarten der Mundart (ζ. B. Stadener Ebbese [ebbes = etwas])6.

Darüber hinaus gehen zahlreiche O.en auf die Lokalisierung ubiquitär verbreiteter Volkserzählungen (-• Wandermotive) zurück. Bereits die erste umfassende Sammlung populärer Erzählungen, die sich mit den Ursprüngen von Orts- und Übernamen beschäftigt, F. J. Bronners Bayer. Schelmen-Büchlein, enthält unter den vom Sammler so genannten „harmlos giftigen Blüten deutschen Volkshumors" 7 eine Fülle von O.en (Bankstrecker, Bärenfänger, Glockenbinder, Geißhenker, Herrgottsbader, Mondscheinfanger, Kirchenschieber, Wurzler etc.), die sich auf Schwänke aus dem Umkreis des Lalebuches bzw. der -> Schildbürger beziehen. H. Moser kam in seiner Monogr. zu schwäb. O.en8 zu dem Ergebnis, daß sich manche bis ins ausgehende MA. zurückverfolgen lassen9 und daß ihre landschaftliche Verbreitung in Mitteleuropa sehr unterschiedlich sei; dies sei darauf zurückzuführen, daß O.en nur da entstehen könnten, wo die Menschen nicht allzu weit auseinander wohnten und wo man sich gegenseitig kannte. Der Spott von Dorf zu Dorf verlaufe nicht einseitig, sondern Spott fordere auch immer Gegenspott heraus. Darüber hinaus hätten konfessionelle Gegensätze und unterschiedliche politische Geschichte der Siedlungsgebiete nachhaltig zur Entstehung von O.en beigetragen, weshalb man die einzelnen Belege nicht isoliert voneinander betrachten dürfe, sondern die Bildung von Namengruppen zu beachten habe. Moser hat deshalb versucht, sog. Neckkreise geogr. zu definieren und im Kartenbild festzuhalten10. J. Ruland" und M. Zender 12 sind ihm später methodisch bei diesem Verfahren gefolgt. Als Wesenszug des Ortsspotts sah Moser dessen Funktion als „Ausdruck der Zusammengehörigkeit, eines gesunden Gruppenbewußtseins und -selbstbewußtseins, Abwehr des anderen, des Fremden" 13 .

Entsprechend dem Phänomen der -> Kristallisationsgestalten haben manche Orte bes. viele die Bewohner verspottende Erzählstoffe auf sich gezogen. Schon die griech. Antike kannte mit Abdera (-• Abderiten) einen solchen Ort, in Deutschland sind ihm u. a. Bek-

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Ortsneckerei

kum, Bopfingen, Buxtehude, Dülken, Hintertux, Krähwinkel, Schiida, Schöppenstedt, Teterow an die Seite zu stellen14. Als Ursachen dafür, daß diese und viele andere Orte zum Sammelpunkt des Spottes geworden sind, hat H. -» Bausinger15 die Sprachgestalt der Ortsnamen selbst, aber auch literar. Einflüsse, hist, und geogr. Besonderheiten und den Anspruch kleiner Orte auf eine ihnen nicht zustehende Bedeutung ausgemacht. Oft sind Städte nach der Gründung von Anstalten für geistig Behinderte dem Spott der Umgebung ausgesetzt. Bestandsaufnahmen für O.en aus dem dt.sprachigen Bereich liegen für das Rheinland 16 , speziell für den Kreis Ahrweiler17, das Elsaß18, Franken 19 und die donauschwäb. Siedlungsgebiete20 vor, im benachbarten Ausland für Belgien21, die Niederlande 22 und Dänemark 23 . Auch für England und Italien wurde ähnliches Material publiziert24. Themen und Motive narrativer O.en sind relativ beschränkt; Häufig wird gespottet, die Dörfler seien ausgezogen, um ein unbekanntes Tier zu jagen (cf. AaTh 1281: cf. Katze als unbekanntes Tier), sie hätten den Gemeindestier zum Weiden auf den Kirch türm gezogen (AaTh 1210: -» Kuh auf dem Dach), versucht, die Kirche zu verschieben (AaTh 1326: Kirche verschieben), den Mond aus dem Wasser zu fischen (AaTh 1335 A: cf. -» Spiegelbild im Wasser) oder Salz zu säen (AaTh 1200: Salzsaat)25. Demgegenüber setzen andere O.en bei der Namensform der Siedlungen selbst an, die in humoristischer Absicht umgedeutet wird, oder es wird eine Geschichte erzählt, um den Namen volksetymol. zu deuten (-• Etymologie)26. So wird ζ. B. der Name des Sauerlandes darauf zurückgeführt, daß -> Karl d. Gr. nach der beschwerlichen Eroberung des Landes gesagt haben soll: „Das war mir ein sauer Land!" 27 Dresden soll zu seinem Namen gekommen sein, als der Erbauer Heinrich der Erlauchte, Markgraf von Meißen, die Stadt nach dem ersten besten aufgefangenen Wort benennen wollte: Da habe er gehört, wie ein Tagelöhner beim Transport von Steinen zum andern gesagt habe: „Träst'n oder fahrst'n" 28 .

Auch tatsächliche oder vorgebliche hist. Ereignisse leben in Form von O.en weiter. So wird von manchen Gemeinden berichtet, daß sie zu arm waren, um sich einen Galgen zu leisten, und den Malefikanten mit einem Geldbetrag in das Nachbardorf entließen, damit er sich dort hängen ließe29. Beliebter Gegenstand des Ortsspotts ist auch

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die mangelnde Qualität örtlicher Produkte, ζ. B. des Biers. In Schlesien nannten die Bewohner von Wansen das Bier von Grottkau Schächerbier. Dies wurde darauf zurückgeführt, daß ein Wansener beim Jahrmarkt in Grottkau einmal zuviel Bier getrunken hatte und auf dem Heimweg Bauchweh bekam; schmerzverzerrt blickte er geradewegs in das Gesicht eines der beiden Schacher unter einem Kruzifix und rief aus: „Armer Schelm, du hast gewiß Grottkauer Bier getrunken!" 30 Die Einwohner des thüring. Mühlhausen werden .Pflöcke' genannt, weil sie während einer Belagerung der Stadt ihre Rüstungen auf Pflöcken auf die Stadtmauer gesteckt haben sollen, um in Ruhe Kirmes feiern zu können; die benachbarten Stadtrodaer dagegen werden als ,Möhrenschaber' geneckt, weil ihr Torwächter bei einem Feindeinfall das Stadttor mit einer Möhre verschlossen habe; eine Ziege fraß die Möhre und öffnete so dem Feind das Tor 31 . Das thüring. Dorf Hachelbich erhielt im 19. Jh. den Übernamen ,Das dt. Vaterland'. Der Grund: Nach 1848 schaffte sich der dortige Turnverein eine neue Fahne an. Auf der Vorderseite war Ernst Moritz -» Arndts Liedanfang „Was ist des Deutschen Vaterland?" aufgestickt, auf der Rückseite „Gemeinde Hachelbich" 32 .

Die in der Bildung von originellen O.en zutagetretende -• Kreativität ist zweifellos auch in der Gegenwart noch nicht ganz erloschen. So bot u. a. die bewegte Zeit nach dem 2. Weltkrieg vielfach Anlaß zu Neubildungen, ζ. B. bei der Benennung von Flüchtlingssiedlungen durch Einheimische als Klein-Moskau (Rußlanddeutsche) oder Paprika-Siedlung (Donauschwaben) 33 . Gelegentlich liegen solchen Neubildungen tatsächliche Ereignisse zugrunde: Die von einem Kaplan durch einen im Fußballtoto gewonnenen Betrag finanzierte Kapelle in Bad Driburg wurde Santa Maria del Toto genannt 34 . Ende des 20. Jh.s erfährt der traditionelle Ortsspott grundlegende Veränderungen. Die durch O.en Verspotteten reagieren anders, indem sie sich mit dem Spott identifizieren, wenn sie ζ. B. Fastnachtsgestalten nach O.en benennen oder Denkmäler 35 errichten, ζ. B. für den Ulmer Spatz (AaTh 1248: Kreuzweis statt längsseits·, -* Denkmalerzählungen) 36 . Darüber hinaus sucht sich der Ortsspott neue Anknüpfungspunkte, ζ. B. die Kennzeichen von Automobilen; so witzelte man in Göttingen bis in die 80er Jahre über Fahrzeughalter aus den umliegenden Kleinstädten: „NOM, OHA, HMÜ und DUD/machen den Verkehr kaputt", in Freiburg hieß es: „Gott bewahre uns vor allen Dingen/vor MÜLheim und vor

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Ortutay, Gyula

EMmendingen". Auch die traditionelle Rivalität zwischen den großen Städten eines Landes kann sich oft in Witzen äußern, die den mehr ländlich geprägten O.en gleichzustellen sind. So titulieren sich beispielsweise die Einwohner von Wellington und Auckland in Neuseeland gegenseitig als Jafas ( = Just another fucking Aucklander) bzw. Ronz ( = Rest o f New Zealand) 3 7 . 'Bach, Α.: Dt. Namenkunde 1,1. Heidelberg 1952, 313. - 2 Handelmann, H.: Topographischer Volkshumor. Kiel 1886; Knoop, O.: Allerhand Scherz, Reime und Erzählungen über pommersche Orte und ihre Bewohner. Stettin 1891; Drechsler, P.: Schles. O.en. In: Oberschlesien 1 (1902-03) 261-267; Schulte, O.: Spottnamen und -verse auf Ortschaften im nördl. Oberhessen. In: HessBllfVk. 4 (1905) 142-167; Kahle, B.: O.en und allerlei Volkshumor im bad. Unterlande. Fbg 1908; Kapff, R.: Schwäb. O.en. In: Alemannia 37 (1909) 139-147; Rother, K.: Schles. O.en. In: Mittigen der schles. Ges. für Vk. 28 (1927) 282-295; Bonomi, E. von: O.en aus den Ofener Bergen. In: Festschr. G. Petz. Bud. 1933, 219-225; Höfer, L.: O.en. In: Unsere Heimat 10,1 (Wien 1937) 4 8 - 5 7 . - 3Zippel, H.: De Rehrleskouch'n. Plaudereien über die Orts-Necknamen im Kreis Lobenstein. Gera s. a.; Seebach, H.: Die Necknamen, Neckverse und Neckerzählungen der pfalz. Dörfer, Städte und Landschaften. AnnweilerQueichhambach 1983; Frenzen, G.: Spott- und Necknamen an der Mosel. In: Jb. Kreis Cochem-Zell (1985) 117-121; Bing, L.: Waldecker Ortsspott. Von Dräumekäuzen und Sandhasen. Korbach 1986; Umminger, G.: Vom „Blecker", „Kröten" und „Stumpfkappen". Frank. Volkshumor in O.en. In: Bad. Heimat 67 (1987) 433-438. - 4 cf. Bronner, F. J.: Bayer. Schelmen-Büchlein. Dießen 1911, 4. - 5MüllerWirthmann, B.: Raufhändel. Gewalt und Ehre im Dorf. In: Dülmen, R. van (ed.): Kultur der einfachen Leute. Bayer. Volksleben vom 16. bis zum 19. Jh. Mü. 1983, 79-111, 225-232; Walz, R.: Agonale Kommunikation im Dorf der frühen Neuzeit. In: Westfäl. Forschungen 14 (1992) 215-251. - 6 Bach (wie not. 1) 313—316 (mit Lit.). - 7 Bronner (wie not. 4) 3. - 8 Moser, H.: Schwäb. Volkshumor. Die Necknamen der Städte und Dörfer in Württemberg und Hohenzollern, im bayer. Schwaben und in Teilen Badens sowie bei Schwaben in der Fremde [...]. Stg. 1950 ( 2 1981) 530-592; cf. id.: Ortsübernamen. In: Beitr.e zur Namenforschung 2 (1950-51) 301-318; ibid. 3 (1951-52) 39-69. - 9 cf. auch Zehnder, L.: Volkskundliches in der älteren schweizer. Chronistik. Basel 1976, 658-667. - 10 Moser 1950 (wie not. 8) 593-612. 11 Ruland, J.: Die O.en des Kreises Ahrweiler im Lichte volkskundlicher Forschung. In: Rhein.westfäl. Zs. für Vk. 15 (1968) 204-231. - 12Zender, M.: Neckereien von Ort zu Ort. In: Studien zur dt.

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Sprache und Lit. des MA.s. Festschr. H. Moser. B. 1974, 389-407. - 13 Moser 1950 (wie not. 8) 562. - 14 Mönkemöller, O.: Narren und Toren in Satire, Sprichwort und Humor. (Halle 21912) Nachdr. Lpz. 1983, 246 sq.; Weiss, R.: Aus dem Atlas der schweizer. Vk. 6: Schildbürgerorte. In: SAVk. 43 (1946) 250-258. - 15 Bausinger, H.: Schildbürgergeschichten. In: Der Dt.Unterricht 13,1 (1961) 18-44, hier 29 sq. — 16Zender (wie not. 12); Gillessen, L.: Von „Ärepelsbüük" bis „Wäntbüüjele". Ergebnisse einer Umfrage über traditionelle Ortsnecknamen. In: Volkskultur an Rhein und Maas 17 (1998) 4 5 - 5 6 . - 17 Ruland (wie not. 11). - l8 Lienhart, H.: Elsäss. O.en. Heidelberg 1927 (frz.: Surnoms et sobriquets des villes et villages d'Alsace. Steinbrunn-le-Haut 1987). - "Straßner, E.: Fränk. Volkshumor. Schwanksagen, Schildbürgergeschichten und O.en aus Franken. Neustadt an der Aisch 1979. - 2 0 Petri, A. P.: Donauschwäb. O.en. Mühldorf 1969; cf. Erb, M.: O.en als Qu.n der Kontakt- und Zweisprachigkeitsforschung bei ethnischen Minderheiten am Beispiel der Ungarndeutschen. In: Beitr.e zur Vk. der Ungarndeutschen 11 (1994) 151-158. 21 Dejardin, J.: Diet, des spots ou proverbes wallons 1 - 2 . Liege 2 1891-92; Raadt, J.-T. de: Les Sobriquets des communes beiges (blason populaire). Bruxelles 1904. - 2 2 Cornelissen, J.: Nederlandsche Volkshumor op Stad en Dorp, Land en Volk 1 - 6 . Antw. 1929-31. - 23 Schmidt, A. F.: Danmarks Byremser. Kop. 1957. - 2 4 [Lean, V. S.:] Lean's Collectanea 1. Bristol 1902. - 2 5 Rosenkranz, H.: Ortsnecknamen und Einwohnernamen im Thüringischen. In: DJbfVk. 14 (1968) 56-83, hier 65. - 2 6 cf. Bach, Α.: Dt. Namenkunde 2. Heidelberg 1954, 539; cf. Schoof, W.: Volksetymologie und Sagenbildung. In: ZfVk. 27 (1917) 216-232. - 2 7 Bach (wie not. 26) 540. - 2 8 ibid. - 29 Hruschka, R.: O.en aus Südmähren. In: ÖZfVk. 47 (1942) 7 - 1 5 , hier 9. 3 0 Drechsler, P.: Sitte, Brauch und Volksglaube in Schlesien 2. Lpz. 1906, 40. 31 Rosenkranz (wie not. 25) 65. — 32 Wahler, M.: Thüring. Vk. Jena 1940, 196. - 33 Schmidt-Ebhausen, F. H.: Neue Ortsnecknamen in Württemberg [1957]. In: id.: Forschungen zur Vk. im dt. Südwesten. Stg. 1963, 99-108. - 3 4 Bach (wie not. 26) 545. - 3 5 Bäurer, H. G.: Brunnenheilige im Narrenhäs. Konstanz 1977. — 3 6 Röhrich, Redensarten 2, 1496 sq. - 37 The J. A. F A. Joke Book. Auckland 1998. Göttingen

R o l f Wilhelm Brednich

Ortutay, Gyula, * Szabadka (Theresianopolis, heute serb. Subotica) 24. 3. 1910, f Budapest 22. 3. 1978, ung. Folklorist und Kulturpolitiker. O. studierte 1 9 2 8 - 3 4 ung., lat. und griech. Philologie, Psychologie sowie Vk. (bei S. Solymossy) an der Univ. in Szeged. Er

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Ortutay, Gyula

schrieb eine Diss, in Volkspsychologie A magyar lilek alapvonäsai ηέρί kultüränkban (Grundzüge der ung. Volksseele. Szeged 1933) und eine weitere in Lit.geschichte über den ung. volkstümlichen Schriftsteller Istvän Tömörkeny (Tömörkeny Istvän. Szeged 1934). Ο. war Gründungsmitglied des dorfsoziol. orientierten Intellektuellenkreises Szegedi Fiatalok (Szegediner Jugend, 1930-38), der sich kulturpolitisch engagierte. Seit 1935 lebte er in Budapest, wo er in der ung. Nationalbibliothek sowie beim ung. Rundfunk (Leiter des phonographischen Aufnahmeprogramms ung. Folklore) arbeitete und die Zs. Magyarsägtudomäny (Hungarologie, 1935-37) herausgab. Er habilitierte sich 1941 in Szeged mit der Arbeit Kälmäny Lajos es α modern neprajzi gyüjtes (L. Kilmäny und die moderne volkskundliche Sammeltätigkeit) und war als Privatdozent für Folkloristik in Budapest (1941) und Szeged (1941-42, 1943 - 4 4 ) tätig. Vor dem 2. Weltkrieg hatte O. Kontakte mit führenden Folkloristen, wie z. B. W. Anderson, A. -* Taylor und S. Thompson. Ein enger Freund O.s war J. ->• Honti. O. arbeitete u. a. mit Bela Bartok und Zoltän Kodäly zusammen und verkehrte in literar.-politischen Kreisen. 1942—43 gab O. die neue Folge der Zs. Magyarsägtudomäny heraus. Als Mitglied der Kleinbauernpartei schuf er ein Volksbildungsprogramm. Nach dem 2. Weltkrieg übte er wichtige kulturpolitische Funktionen aus, ζ. B. als Leiter des ung. Rundfunks (1945-47), Kultusminister (1947-50) und Vorstand des Museumszentrums (1950—52). O. war Professor für Vk. an der Loränd-Eötvös-Univ. (1946-78) und deren Rektor (1957-63), seit 1945 korrespondierendes und seit 1958 ordentliches Mitglied der ung. Akad. der Wiss.en, Direktor des Forschungsinstituts der ung. Akad. der Wiss.en (1962 bzw. 1967-78), Vorsitzender der ung. Ethnogr. Ges. und praktisch Leiter aller ung. volkskundlichen und folkloristischen Organisationen, Publikationsreihen etc. O. war Ehrenmitglied der finn. und sizilian. Akad. der Wiss.en sowie Ehrendoktor der Univ. Helsinki. Er erhielt den Pitre- (1961), den Herder- (1972) und den ung. Staatspreis (1976) sowie die Große Auszeichnung der ung. Akad. der Wiss.en (1978). Seine umfangreiche folkloristische Privatbibliothek gehört heute zum Lehrstuhl der Folkloristik in Budapest,

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politische Schriften und Briefwechsel (unvollständig) befinden sich im Hist. Archiv in Budapest; sein Nachlaß ist jedoch verschwunden. Als Forscher beschäftigte sich O. bes. mit Märchen, Balladen und Volksliedern, daneben auch mit Bräuchen und Volkskunst. Bereits seit 1931 sammelte er Balladen und Märchen in Nordostungarn. 1936 traf er den berühmtesten ung. Märchenerzähler Mihäly Fedics und veröffentlichte dessen Märchen u. d. T. Fedics Mihäly mesil ([Mihäly Fedics erzählt.] Bud. 1940) als ersten Band der von ihm begründeten Reihe Uj magyar nepköltesi gyüjtemeny (Neue Slg ung. Volksdichtung). Diese gilt als grundlegend für die ,ung. Schule' der Volkserzählungsforschung, die sich durch die Betonung der Persönlichkeit des Erzählers und der Soziobiologie der zeitgenössischen Volksdichtung auszeichnet. Seine ersten Doktoranden, L. Degh, A. -» Koväcs, I. Katona und L. Peter, beschäftigten sich fast ausschließlich mit der Biologie des Erzählguts. Einen Schwerpunkt von O.s Arbeiten bildete auch die Geschichte der ung. Vk., mit Betonung ihrer sozialgeschichtlichen Bedingungen. Lebenslang hat er sich mit den Gesetzmäßigkeiten der mündl. Überlieferung (bes. mit Problemen der Affinität, -• Variabilität und -> Stabilität, mit Wechselbeziehungen der mündl. und schriftl.,,hohen' und volkstümlichen Traditionen) beschäftigt. Er hat die ung. Volkskultur als .zwischen Ost und West' wirkende verstanden. Obwohl er als Theoretiker die finn. Schule (-• Geogr.-hist. Methode) kritisiert hat, unterstützte er die Arbeiten am ung. Volksmärchenkatalog. Zwar hat er nie eine streng philol. Methode befürwortet, plädierte jedoch für verläßliche Editionen und förderte die vergleichende Folkloristik (bes. innerhalb der Finnougristik). Das Nachwirken des ung. Freiheitskampfes (1848/49) hat er aufgrund organisierter Sammelarbeit in der Volksüberlieferung untersucht (mit bes. Berücksichtigung von L. Kossuth als Held in der ung. Folklore). Die neuen morphologischen und strukturalistischen Methoden (-» Morphologie, -> Strukturalismus) unterstützte er nicht, aber er hat sie auch nicht verboten. Er stand Folklorismus, Film, Fernsehen, Schule und Volksbildung nahe. Als staatlicher Kulturpolitiker verwendete er die marxistische Terminologie (und die des Antiklerikalismus),

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Osseten

in seinen Volksdichtungsforschungen j e d o c h spielt die marxistische Theorie (-• Marxismus) k a u m eine Rolle. Eine lange K r a n k h e i t hinderte O. an einer Synthese seiner verstreuten ästhetisch-soziol. Studien. Die Breite seines Wissens zeigt sich u. a. in den Einl.en und A n m e r k u n g e n sowohl zu seinen ung. Anthologien in anderen Sprachen als auch zu den von ihm herausgegebenen Anthologien der Volksdichtung anderer Völker in ung. Sprache. Seine führende Rolle in der ung. Folkloristik w a r stets unangefochten (die jüngere ung. Folkloristengeneration besteht praktisch aus seinen Schülern), wurde aber n u r durch seine späteren engl.sprachigen Schriften f ü r die internat. Folkloristik d o k u mentiert. N a c h seinem Tod h a t m a n ihn nicht immer ehrlich u n d aufrichtig als an seine E p o che gebundenen Kulturpolitiker kritisiert. Seine vielseitige Bildung u n d starke Persönlichkeit haben ihn jedoch z u m bedeutendsten ung. Folkloristen gemacht. V e r ö f f . e n (Ausw.): Szekely nepballadäk (Volksballaden der Szekler). Bud. 1935 (1940, 1948, 1979). Ballades populaires de Transylvanie. In: Nouvelle Revue de Hongrie 28,11 (1935) 421-429. - Living Hungarian Folk Tales. In: The Hungarian Quart. 1,1 (1936) 109—120. - Love and Marriage in Ajak. ibid. 1,2 (1936) 303—311. - Coutumes populaires de la St.-Nicolas. In: Nouvelle Revue de Hongrie 31,12 (1938) 550-554. - Die Geschichte der ung. Volksdichtungsslgen. In: Ung. Jbb. 18 (1938) 175-201. Ung. Vk. auf Schallplatten. In: Ungarn 6 (1941) 368—374. - Le Folklore hongrois entre l'Orient et l'Occident. In: Nouvelle Revue de Hongrie 35,2 (1942) 54 - 61. - König Matthias in der mündl. Überlieferung der Donauvölker. In: Ungarn 3 (1942, April) 221-230. — Ung. Forscher unter den primitiven Völkern, ibid. 4 (1943, Okt.) 475-480. - (mit Katona, I.:) Magyar parasztmesek (Ung. Bauernmärchen) 1 - 2 . Bud. 1951/56. — Magyar nepkölteszet (Ung. Volksdichtung) 1 - 3 . Bud. 1955. - The Science of Folklore in Hungary between the Two World-Wars and during the Period Subsequent to the Liberation. In: Acta Ethnographica 4 (1955) 5-89. - Ung. Volksmärchen. Β. 1957 (Bud. 1957 u. ö.). - Begriff und Bedeutung der Affinität in der mündl. Uberlieferung. Kongreß Kiel/Kop. 1959, 247-252. - (mit Degh, L./Koväcs, A.:) Magyar nepmesek (Ung. Volksmärchen) 1 - 3 . Bud. 1960. Hungarian Folktales. Bud. 1962. - Kleine ung. Vk. Weimar 1963. — Jacob Grimm und die ung. Folkloristik. In: DJbfVk. 9 (1963) 169-189. - Recherches sur les contes populaires en Hongrie. In: Arts et traditions populaires 13, 3 - 4 (1965) 229-237. - Die Faustsage in Ungarn. In: Volksüberlieferung. Festschr. K. Ranke. Göttingen 1968, 267-274. - (mit

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Kriza, I.:) Magyar nepballadäk (Ung. Volksballaden). Bud. 1968 (1976). - (mit Katona, I.:) Magyar nepdalok (Ung. Volkslieder). Bud. 1970 (1975). Die Methoden der ung. Volksmärchenforschung. In: Gaäl, Κ. (ed.): Ethnographia Pannonica. Eisenstadt 1971, 85-94. - Hungarian Folklore. Essays. Bud. 1972. - The Kossuth Song. In: Folklore Today. Festschr. R. M. Dorson. Bloom. 1976, 399-401. Stith Thompson (1885-1976). In: Acta Ethnographica 26 (1977) 199- 201. - (mit Balassa, I. [edd.]:) Magyar neprajz (Ung. Vk.). Bud. 1979. - Magyar nepkölteszet, nepballadäk, nepmesek (Ung. Volksdichtung, Volksballaden, Volksmärchen). Bud. 1985. Lit.: Vezenyi, P.: Die Geschichte der ung. Märchenund Aberglaubenforschung im 20. Jh. Fbg 1960, bes. 53—63 (einseitig). — Oszlänszky, M.: G. O.'s Works. In: Acta Ethnographica 19 (1970) 11-20 (unvollständig und mit Fehlern). - Voigt, V.: G. O. (1910-1978). In: Fabula 19 (1978) 304-307. - Dömötör, T.: Jänos Honti - Leben und Werk (FFC 221). Hels. 1978, bes. 35 sq. - Dömötör, T.: Professor Dr. G. O. 1910-1978. In: Artes populäres 4 - 5 (1979) 11-15 (engl.). - Voigt, V.: Professor Dr. G. O. 1910-1978. ibid., 16-31 (dt.). - Schmidt, L.: G. O. t · In: ÖZfVk. 81 N. S. 32 (1978) 228 sq. Keszi-Koväcs, L.: G. O. 1910-1978. In: Finn.-ugr. Forschungen 43 (1979) 355-367. - Falvy, Z.: Välogatott bibliogräfia (Ausw.-Bibliogr.). In: O., G.: A nep müveszete. Bud. 1983, 382-419 (unvollständig und mit Fehlern). - Katona, I.: Az idö merlegen. O. G. eletmüve (Erinnerungen. G. O.s Lebenswerk). Szabadka 1990. - Palädi-Koväcs, Α.: Ο. G. Bud. 1992. - Degh, L.: Narratives in Soc. (FFC 255). Hels. 1995, 7 - 2 9 . Budapest

Vilmos Voigt

Osseten. Die O. leben in der N a c h b a r s c h a f t verschiedener kaukas. Völkerschaften im zentralen Kaukasusgebiet, nördl. und (zu geringeren Teilen) südl. des H a u p t k a m m s ; einige kleinere G r u p p e n sind im Zuge des russ.-türk. Krieges (um 1850) in das O s m a n . Reich ausgewandert u n d siedeln heute in Zentralanatolien. Die osset. Sprache gehört zur Familie der iran. Sprachen; sie gilt als N a c h f a h r i n des ma. Alanischen u n d damit als letzter Überrest eines einst über ganz Südrußland verbreiteten skyth.-sarmat. Dialektkontinuums. Die osset. Sprache zerfallt in zwei Hauptdialekte, das Ironische (Eigenbezeichnung Ir) u n d das (lautlich konservativere) Digorische (Digor). Herausragendes Element der osset. Erzähltradition, die mit den von A. von Schiefner betreuten ersten Druckausgaben m ü n d l . überlieferter Einzeltexte in der 2. Hälfte des

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Osseten

19. Jh.s greifbar wird1, ist der Sagenkreis um die Narten, den die O. mit verschiedenen Nachbarvölkern teilen. Dessen charakteristisches Merkmal besteht — im Gegensatz zu anderen Genres der osset. Überlieferung — in einer zyklischen Anordnung, die durch einige Hauptfiguren bestimmt ist; die bei den O. am meisten verbreiteten Zyklen sind der um den Narten Sozyryqo/Soslan, den Sohn der Satana, der um Wyryzmaeg, den (späteren) Gatten Satanas, sowie der um Batradz, den Sohn des Xaemyc, eines Zwillingsbruders von Wyryzmaeg2. Während das Verbreitungsgebiet der Nartensagen im wesentlichen nördl. des Kaukasushauptkamms anzusetzen ist, teilen die O. auch mit ihren südl. Nachbarn, den -» Georgiern (cf. auch Mingrelier), einen Sagenkreis. Dies ist der bes. bei den Südosseten verbreitete Zyklus um die Sippe der Daredzanty mit dem zentralen Helden Amyran/Amiran 3 . In ihm vereinigen sich wie auch bei der georg. Amirani-Überlieferung Elemente der Prometheus-Sage (-• Feuerraub; Amirani wird von Gott wegen seines frevelhaften Verhaltens an einen Berg4 oder in einer Höhle 5 festgebunden; der Versuch, sich durch einen Jäger, der ihm die heimische Herdkette bringen soll, retten zu lassen, mißlingt) mit Zügen eines Ritterromans, der starke Affinitäten zu pers. Überlieferungen zeigt. Der Zusammenhang der betr. osset. Überlieferungen mit der allg. auf das 12. Jh. datierten Mose Xoneli zugeschriebenen literar. Bearb. des georg. Amirandaredzaniani dürfte allein schon aufgrund der Namen der auftretenden Personen (neben Amirani bes. Bad[y]ri und Jamon, georg. Badri und Iamanisdze sowie Mysyrbi, georg. Nosar Nisreli) außer Zweifel stehen. Demgegenüber ist die weitere Verknüpfung mit dem pers. Hamzanäme strittig geblieben6. Die Daredzanty-Sagen sind bei den O. nicht nur mit den Nartensagen in eine sekundäre „lose Verbindung gekommen" 7 , sondern auch mit anderen Überlieferungen, unter denen bes. die von Rostom und Bezan8 wiederum einen deutlichen Bezug zu pers. Erzählgut aufweist: sie wurde schon von V. Miller mit der in Firdausls Säh-näme enthaltenen Erzählung von Rostam und dessen Sohn Sohräb verglichen (cf. Vater-Sohn-Motiv)9. An Episoden aus dem Säh-näme erinnern auch Motive, die

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den eigentlichen Daredzanty-Sagen angehören dürften, wie ζ. B. das vom Riesenvogel Pakondzy, der Mysyrbi in den Himmel entführt und von dem als Ochsen getarnten Amyran getötet wird (cf. - Phönix) 10 . Zeitgleich mit der schriftl. Fixierung der Sagenzyklen setzte auch die Veröff. anderer Überlieferungsformen ein. Dies betrifft zunächst die Märchen- und Fabeltexte, unter denen zahlreiche wieder Übereinstimmungen mit außerosset. Traditionen zeigen. Dies gilt ζ. B. für die erste gedr. veröff. Fabel Laus und Floh (AaTh 282 C*)11. Häufig auftretende Figuren sind -• Däumling (cf. AaTh 700) und -> Tapferes Schneiderlein (cf. AaTh 1640)12. Das Verhältnis der osset. zu anderen kaukas. Märchentraditionen ist noch in vielerlei Hinsicht ungeklärt; das betrifft ζ. B. das Märchen vom klugen und vom dummen Bruder 13 , das sich u. a. in einer las. Slg wiederfindet14. Unter sonstigen Überlieferungsformen treten bes. die Texte zum sog. baexfaeldisyn hervor 15 ; sie betreffen das Ritual, bei dem einem hochstehenden Verstorbenen ein edles -• Pferd geweiht wurde und das mit bei -» Herodot (4,71—75) erwähnten skyth. Bräuchen in Verbindung gebracht werden kann. Aufmerksamkeit verdienen diese Texte darüber hinaus wegen der in ihnen enthaltenen ->· Jenseitsvorstellungen, die interessante Übereinstimmungen mit den Narten-Sagen aufweisen16. ' cf. Sifner, A. (ed.): Osetinskie teksty (Osset. Texte). SPb. 1868 (osset. mit russ. Übers.); Pfafif, W.: Putesestv'ie po uscel'jam severnoj Oset'n (Ber. über eine Reise durch die Täler Nordossetiens). In: Sbornik svedenij ο Kavkaze 1 (1871) 127-176, hier 163-174; Sbornik svedenij ο kavkazskich gorcach (Slg von Nachrichten über die kaukas. Bergbewohner) 5,2 (1871); 7,2 (1873); 9,2 (1876); Miller, V.: Osetinskie etjudy (Osset. Studien) 1 und 3. M. 1881/87. - 2 Jüngere Texteditionen ζ. B.: Narty kaddzytae (Nartensagen). ed. M. Tuganty/U. Qanyqwaty. Ordzonikidze 2 1975 (dt. Übers.: Die Narten, Söhne der Sonne. Mythen und Heldensagen der Skythen, Sarmaten und O. Übers. A. Sikojev. Köln 1985); Narty. Osetinskij geroiceskij epos (Die Narten. Osset. Heldenepos) 1. ed. T. A. Chamicaeva/A. Ch. Bjazyrov. M. 1990; russ. Ausg.n: Nartskie skazanija. Osetinskij narodnyj epos (Nartensagen. Das osset. Nationalepos). Übers. V. Dynnik. Len. 1949; Osetinskie Nartskie skazanija (Osset. Nartensagen). Übers. Ju. Libedinskij. M. 1949; Skazanija ο Nartach. Osetinskij epos (Sagen über die Narten. Das osset. Epos). Übers. Ju. Libedinskij. M. 21978 (Cxinvali 41981); Narty. Epos ose-

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Ossian

tinskogo naroda/Nartae. Iron adaemon epos (Die Narten. Das Epos des osset. Volkes). Bearb. V. I. Abaev u. a. M. 1957 (in Versform). - 3 Die ersten Texte wurden von Miller (wie not. 1) t. 1, 58—70, 145-147 herausgegeben (dt. Zusammenfassung von H. Hübschmann in ZDMG 41 [1887] 567-569); eine umfangreiche Slg bietet die Ausg. Chussar Iron Adaemy Wacmystae. 2: Daredzanty Kaddzytae, Miftae aemae Bynaetton tauraehtae/Skazanija ο Daredzanach, mify i mestnye predanija (Werke des südosset. Volkes. 2: Sagen über die Daredzanty, Mythen und lokale Überlieferungen), ed. A. Tybylty. Cxinval 1929; sie liegt der ross, (versifizierten) Bearb. von Dz. Gatuev (Amran. Osetinskij epos [Amran. Ein osset. Epos], Len. 1932) zugrunde. - 4 cf. Tybylty (wie not. 3) 50, wo der Berg Uaersaedzy xox (= Waersasg-Berg) genannt ist. - 5 cf. Miller (wie not. 1) 1, 68 sq. — 6 Die Abhängigkeit wurde bes. von N. Ja. Marr propagiert (Persidskaja naci'onaPnaja tendencija ν gruzinskom romane „Amirandaredzani'ani" [Die pers.nationale Tendenz in dem georg. Roman „Amirandaredzaniani"]. In: Zumal Ministerstva narodnago prosvescemja 299 [1895] 352-365; Iz knigi carevica Bagrata ο grozinskich perevodach duchovnych socinenij i geroiceskoj povesti „Daredzani'ani" [Aus einem Buch des Prinzen Bagrat über georg. Ubers.en geistlicher Werke und die Heldenerzählung „Daredzaniani"]. In: Bulletin de l'Academie Imperiale des Sciences de St.-Petersbourg 10,2 [1899] 233-246); für die osset. .Derivate' cf. das Vorw. „Daredzanovskie" skazanija u Osetin (Die „daredzanischen" Sagen bei den O.) von V. I. Abaev in Gatuev (wie not. 3) 13-17. Gegen die Annahme einer unmittelbaren Abhängigkeit von einer pers. Qu. sprechen sich verschiedene georg. Wissenschaftler jüngerer Zeit aus, cf. Stevenson, R. H.: Amiran-Darejaniani. A Cycle of Medieval Georgian Tales Traditionally Ascribed to Mose Khoneli. Ox. 1958, xviii—xx. — 7 cf. Hübschmann (wie not. 3) 568. - 8 Miller (wie not. 1) 1, 78 sq.; cf. Hübschmann (wie not. 3) 569 sq.; Textvar. in Tybylty (wie not. 3) 52—59. — 9 Miller (wie not. 1) 1, 11. - 10 ibid., 64-69; cf. Hübschmann (wie not. 3) 568; zu vergleichen ist im georg. „Amirandaredzaniani" die Entführung von Nosar Nisreli durch die Ungeheuer Baqbaq Devi und Xazaran Devi (Kap. 4 - 5 ) . Zur Herleitung von georg. dev-i aus mittelpers. dev (neupers. dlv) cf. Gippert, J.: Daemonica Irano-Caucasica. In: Iranian and Indo-European Studies. Memorial Volume of Ο. Klima. Prag 1994, 53-97. 11 Sifner (wie not. 1) 61—64; cf. ferner Miller (wie not. 1) 1, 82-86; Gappo, B.: Iron argaeudtae (Iron. Märchen). Vladikavkaz 1901; Miller, V.: Digorskija skazanija (Digor. Sagen). M. 1902; Munkäcsi, B.: Blüten der osset. Volksdichtung. In: Keleti szemle 20 (1923) 1-88, 21 (1933) 1-158; Christensen, Α.: Textes ossetes. Kop. 1921; Ambalov, C.: Pamjatniki narodnogo tvorcestva Osetin (Denkmäler des Volksschaffens der O.) 3. Vladikavkaz 1928; Tybylty, Α.: (ed.): Chussar Iron Adaemy Wacmystae. 3: Arhaeuttae, -Äimbisaendtae aemae aend (Werke des südosset. Vol-

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kes. 3: Märchen, Sprichwörter u. a.). Cxinval 1930; Britaev, S./Kaloev, G. (edd.): Osetinskie narodnye skazki (Osset. Volksmärchen). M. 1959; Gagloeva, A. G. u. a. (edd.): Osetinskie narodnye skazki (Osset. Volksmärchen). Cxinvali 21971; Benzel, U.: Kaukas. Märchen. Regensburg 1963 (unklare Provenienz); Levin, I.: Märchen aus dem Kaukasus. MdW 1978, num. 5, 12, 13, 17, 28, 37, 38, 40, 56. - 12 cf. Christensen (wie not. 11) 13. - 13 Munkäcsi 1933 (wie not. 11) 58—63. — 14 K'art'ozia, G.: Lazuri t'ekst'ebi/Lazskie teksty (Las. Texte). Tiflis 1972, 178, num. 138. - 15 ζ. Β. bei Sifner (wie not. 1) 36-40; Miller (wie not. 1) 1, 108-115; Iron adaemy sfaeldystad (Osset. Volksschaffen) 2. Vladikavkaz 1961, 396-417. - 16 cf. Bleichsteiner, R.: Roßweihe und Pferderennen im Totenkult der kaukas. Völker. In: Wiener Beitr.e zur Kulturgeschichte und Linguistik 4 (1936) 413-495; Thordarsson, F.: The Scythian Funeral Rites. In: Α Green Leaf. Festschr. J. P. Asmussen. Leiden 1988, 549-547. F r a n k f u r t a m Main

Jost Gippert

Ossian (ir. Oisin, schott.-gäl. Oisean), Sohn des Finn m a c Cumaill, des A n f ü h r e r s der Kriegerschar der Fenier (ir. fian, fiann, Plural fiana), und zusammen mit -> Diarmuid, Oscar und Cailte einer der H a u p t h e l d e n des pan-gäl. -> Finnzyklus; durch das Werk von James Macpherson (1736—96) zu europaweiter Berühmtheit gekommen. Die frühesten E r w ä h n u n g e n von Oisin (ältere F o r m : Oisene) gehen mindestens bis ins 7-/8. Jh. zurück u n d beschreiben sein erstes Zusammentreffen mit Finn, dem er feindlich gesinnt war (-»· Vater-Sohn-Motiv) 1 . In dieser Geschichte, die dem internat. Erzähltyp AaTh 873: -> König entdeckt seinen unbekannten Sohn entspricht, sucht Finn nach Oisin, findet ihn im Wald bei der Zubereitung eines Schweins u n d schlägt ihn; nach einem poetischen Diskurs versöhnen sich die beiden. Überlieferungen seit dem 11. Jh. berichten, d a ß Oisins Mutter Bläi Derg ihren Sohn in Gestalt einer Hirschkuh gebar 2 ; Assoziationen an Hirsche wecken auch Oisins N a m e (ein Diminutiv von ir. os [Kitz]), der seines Sohns Oscar (der vielleicht ,Hirschliebhaber' bedeutet) u n d möglicherweise Finns K n a b e n n a m e Demne. In der f r ü h e n Finn-Lit. wird Oisin lediglich als Krieger und treuer Fenier dargestellt, doch seit dem 10. Jh. tritt er mehr und mehr in der Rolle des Dichters hervor. Weiter ausgebaut

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Ossian

ist seine Gestalt in einem Gedicht des frühen 12. Jh.s, in dem er als alter Mann erscheint, der die Vergänglichkeit von Kraft und Jugend betrauert und sich zum Christentum bekehrt 3 . Diese vertrauten Themen spielen wenig später in einem der Hauptstücke des Finnzyklus, Acallam na Senörach (Das Gespräch der Alten [spätes 12. Jh.]), einer literar. Rahmenerzählung in einer Mischung aus Prosa und Versen, eine wichtige Rolle. Den Rahmen für Erzählgut unterschiedlichster Art und eine Fülle von Ortsnamenüberlieferungen bildet eine Rundreise durch Irland, die Oisin und Finns Neffe Cailte, die letzten Überlebenden der Fenier, zusammen mit dem hl. Patrick unternehmen. Oisin verläßt sie zwischendurch, um in einem Fairy-Hügel seine Mutter zu besuchen; aber seine Haltung dem Heiligen und dem Christentum gegenüber ist freundlich, was darauf schließen läßt, daß die Dichtung teilweise klerikalen Ursprungs ist. Oisins Darstellung im Acallam bestimmt sein Bild in späteren Balladen und macht ihn zu einer zentralen Figur des Zyklus4. Seit dem 15./16. Jh. (cf. Duanaire Finn [Finns Gedichtbuch], 1626/27) erscheint jedoch ein neues Thema: der Konflikt zwischen den heroischen Werten der Fenier und denen des Christentums. In Agallamh Oisin agus Pädraig (Das Gespräch zwischen Oisin und Patrick), einer Ballade (vermutlich des 16. Jh.s), die in Irland und verschiedenen schott.-gäl. Versionen überdauert hat 5 , läßt sich Oisin, jetzt Sprecher der Fenier, auf einen scharfen Disput mit Patrick ein, in dem er die Geistlichkeit kritisiert und für sie nachteilige Vergleiche zum Ethos der Kriegerschar zieht. Überlieferungen zum Tod Oisins sind selten; ein Text des 14. Jh.s spricht von seinem Ende durch ,den Wurf des Geistlichen'6, aber spätere mündl. Quellen bieten völlig andere Berichte7. In neuerer Zeit erscheint Oisin in populären Dichtungen und Prosaerzählungen, die vielfach Irland und Schottland gemeinsam sind und zumindest teilweise auf mündl. Überlieferung basieren. Eine bei modernen ir. Erzählern beliebte Geschichte in Prosa handelt von Oisins Taufe, bei der Patrick versehentlich Oisins nackten Fuß mit seinem Krummstab durchsticht; Oisin hält still, weil er glaubt, dies sei ein Bestandteil der Zeremonie8. Das Motiv

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kommt in Verbindung mit Patrick im 9. Jh. vor 9 und könnte auf dem Kontinent entstanden sein. Oisins starke Bindungen zur jenseitigen Welt treten in der Erzählung von seinem Besuch im Land der Jugend (Tir na hOige) hervor. Sie gehört zum internat. Erzähltyp AaTh 470*: The Hero Visits the Land of the Immortals10 und gelangte wahrscheinlich während oder nach dem 14. Jh. vom Kontinent nach Irland. Prosaformen davon, hauptsächlich aus mündl. Quellen, finden sich in ebenso zahlreichen wie unterschiedlichen Fassungen bei ir. und schott. Erzählern; um 1750 wurde das Thema von Micheäl Coimin aus der ir. Grafschaft Clare in dem Gedicht Laoi Oisin ar Thir na n-Ög (Das Lied von Oisin im Land der Jugend) behandelt 11 : Eine schöne Dame, die Tochter des Königs über das Land der Jugend, nähert sich Oisin; sie verlieben sich und kehren in das Königreich ihres Vaters zurück, heiraten und verbringen 300 glückliche Jahre. Schließlich bekommt Oisin Sehnsucht nach der Gemeinschaft der Fenier und beschließt, nach Irland zurückzukehren. Seine Frau schenkt ihm für die Reise eine Zaubergabe (einen Mantel oder einen Ring) und warnt ihn davor, mit seinen Füßen ir. Boden zu berühren. Oisin findet heraus, daß seine Kameraden längst tot sind, verstößt versehentlich gegen das Verbot und wird ein Greis mit grauen Haaren.

Die mündl. schott. Fassungen enthalten oft Mot. D 732: Loathly Lady (Dame wird durch die Umarmung eines Mannes von ihrem abstoßenden Äußeren befreit); in Irland wurde das Thema dazu benutzt, um das Überleben der Fenier zu erklären, die Patrick ihre Geschichten erzählten. Eine weitere populäre Überlieferung über Oisin und Patricks Haushälterin (oder Oisean an Diidh na Feinneadh [Oisean nach den Feniern]) ist eine vollständig ausgeformte Erzählung, in deren Mittelpunkt Oisins ungeheurer Appetit steht12; im 19. und 20. Jh. gesammelte schott. Var.n zeigen ihn gern in einem possenhaften Licht, wenn er beim Essen Eichenspieße aus seinem Bauch zieht13. Ein Oisean-Gedicht, von dem in Schottland mündl. Fassungen vorliegen und das James Macpherson in seinem O. benutzte, ist Suireadh Oisein air Eamhair Aluinn (Oiseans Werbung um die schöne Eibhir-Aluin)14. Macpherson, ein muttersprachlicher Schottisch-Gälisch-Sprecher aus Ruthven, Inverness-shire, war seit seiner Kindheit mit O.-Bal-

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laden und mündl. Prosaerzählungen vertraut. Es ist davon auszugehen, daß er während seines Studiums am Marischal College und am King's College in Aberdeen mit den Theorien von T. Blackwell (1701-57) über das Wesen der frühen Epen und Homer als mündl. Sänger in Berührung kam. Zu sammeln begann Macpherson vermutlich bereits Mitte der 50er Jahre des 18. Jh.s, aber erst seine Begegnung mit dem Dramatiker John Home (1722-1808) im Herbst 1759 ermutigte ihn zu seiner ersten ,Übers.'. Mit Unterstützung einflußreicher Edinburgher Literaten, bes. H. Blair (1718-1800) und A. Ferguson (17231816), publizierte er die Fragments of Ancient Poetry, Collected in the Highlands of Scotland, and Translated from the Erse Language (Edinburgh 1760). Daraufhin wurden Mittel aufgebracht, die ihm Sammelreisen in das westl. Hochland und auf die westl. Inseln ermöglichten und deren Ergebnisse Fingal (L. 1761, datiert auf 1762) und Temora (L. 1763) waren. In den 15 Fragments erscheint O. (Oscian) bereits als Hauptfigur, und obwohl die Dichtungen nicht speziell dem Sänger zugeschrieben sind, suggeriert Blairs Vorwort, daß es sich um Überreste eines noch zu entdeckenden Epos handelt. Entsprechend bestehen sowohl Fingal als auch Temora aus langen (sechs bzw. acht Bücher umfassenden) epischen Gedichten, die alle vorgeben, von Fingais Sohn O. verfaßt worden zu sein. Die Handlung beider großer Epen spielt im Irland des 3. Jh.s. Fingal wird darin als König von Kaledonien (Schottland) dargestellt, der in Irland militärisch eingreift, um eine skand. Invasion zurückzuschlagen {Fingal) und eine Usurpation des ir. Throns rückgängig zu machen (Temora). Der hist. Rahmen - die Darstellung Irlands als von Kaledonien abhängiges Gebiet und die schott. Inanspruchnahme der Fingal- und O.-Traditionen — erregte bei ir. Altertumsforschern größeren Anstoß als die eigenwillige Behandlung der literar. Quellen. Macpherson war ein erfolgreicher und mit Überzeugungskunst begabter Sammler, dem ohne Zweifel viele echte Überlieferungen zur Verfügung standen, darunter das Book of the Dean of Lismore (ca 1512—42), sein bedeutendster Handschriftenfund, das ,Oisean' zugeschriebene Balladen enthält. Aber selbst wenn nachgewiesen werden kann, daß er au-

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thentische Quellen benutzte, bes. in Fingal und im ersten Buch von Temora - seine Übers.en sind niemals wörtlich. Nicht nur aus Gewinnstreben, sondern auch aus dem Wunsch, Würde und Ruhm einer alten literar. Überlieferung herauszuheben, unterdrückte er rücksichtslos alles mit dem Wunderbaren in Zusammenhang Stehende, Abergläubisches, Komisches und derb Spaßiges. Die Ritterlichkeit im Stil des Don Quichotte und der Großmut von Fingais Kriegern werden gelegentlich übertrieben, das Element elegischer Wehklage ist manchmal bis zur Weinerlichkeit gesteigert. Der greise blinde Sänger, ergreifender letzter Sproß eines Heldengeschlechts, wird in erster Linie zum Vermittler der melancholischen ,joy of grief (deren beliebteste dt. Formulierung, ,Wonne der Wehmut', ein Schlüsselwort des ZA.s der Empfindsamkeit werden sollte). Die epischen Ansprüche von Macphersons O., das plötzliche Erscheinen einer Alternative zu erschöpften klassischen Mustern, blieben von großer Bedeutung für die Zwecke literar. Polemik, zumindest solange seine Authentizität akzeptiert war. Der Hauptgrund aber für seinen ungeheuren Erfolg beim breiten zeitgenössischen Publikum lag in dem starken Appell an die Gefühle, bes. in den kürzeren, eher lyrischen Stücken wie den Songs of Selma (glänzend übersetzt von Goethe in den Leiden des jungen Werthers [1774]); und Macphersons rhythmische Prosa kommt nirgends besser zur Geltung als in der dynamischen Beschwörung einer grandiosen und furchteinflößenden Landschaft, die für das europ. Lesepublikum einer Offenbarung gleichkam. Nur wenige bedeutende Autoren, die um die Wende vom 18. zum 19. Jh. schrieben, verfielen nicht dem Zauber dieser Dichtungen, sei es im engl. Original oder in Übersetzung. Hierfür ist nicht einfach Leichtgläubigkeit verantwortlich zu machen. Viele Bewunderer hatten eine scharfsinnige Vorstellung von Macphersons Methoden, d. h. der Benutzung einer authentischen einheimischen Tradition unter freizügiger Beimengung von Modernem. Und gerade in dieser Hinsicht konnte Macpherson zum Vorbild für spätere Vermittler volkstümlichen Erbes werden. So bemerkte Achim von Arnim am 6. 2. 1808 in seinem Brief an Clemens Brentano über Goethes Wunderhorn-Rezension: „Die grellsten Verkettungen von Altem und

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Neuem sind ihm [Goethe] die liebsten; denn nur in diesem bewährt sich ihm recht die Lebenskraft des Alten [...]. Aber unter all diesem nachgemachten Altherthum ist nie etwas erschienen, was den Geist der Zeit so lebendig berührt hat wie Macpherson mit seiner Neumachung der alten Gedichte."

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F./Gaskill, H. (edd.): From Gaelic to Romantic. Ossianic Translations. Amst. 1998.

Edinburgh

John W. Shaw Howard Gaskill

Ostafrikanisches Erzählgut

1

Meyer, K.: Fiannaigeacht (Fenierüberlieferung). Dublin 1910, 2 2 - 2 7 ; 0 hÖgäin, D.: Fionn mac Cumhaill. Images of a Gaelic Hero. Dublin 1988, 49 sq. - 2 Best, R. I./Bergin, O./O'Brien, M.: The Book of Leinster 1 - 5 . Dublin 1954-67, hier t. 3 (1957), 729. - 3 0 hÖgäin (wie not. 1) 156; Revue celtique 6 (1884) 186. - 4 Stokes, W./Windisch, E. (edd.): Ir. Texte 4. Lpz. 1900, hier Teil 1, pass.; O'Grady, S.H.: Silva Gadelica 1 - 2 . Dublin 1892, hier t. 1, 9 4 - 2 2 3 (Text); t. 2, 101-265 (Übers.). 5 Murphy, G.: Duanaire Finn 2 - 3 . Dublin 1933/53, h i e r t . 2, 204-215; t. 3, 124-134. - 6 ibid. t. 2, 174; 0 hÖgäin (wie not. 1) 246. - 7 ζ. Β. schott. Überlieferungen aus Sutherland (20. Jh., cf. Tocher 4 [1977-78] 292-301) und in den Materialien des Sammlers J. F. Campbell of Islay (19. Jh., cf. National Library of Scotland, Edinburgh, Advocates'Library, Ms. 50.2.2: 147). - "Bealoideas 1 (1928) 219-222; Irish Folklore Commission, Dublin, Ms. 181, 17-45; 0 hÖgäin (wie not. 1) 246; id.: Myth, Legend and Romance. An Enc. of the Irish Folk Tradition. L. 1990, 351. - 9 0 hÖgäin (wie not. 1) 351; id. 1990 (wie not. 8) 340; Mulchrone, Κ.: Bethu Phätraic (Das Leben Patricks). Dublin 1939, 118. 10 Ergänzend zu AaTh 470*: 0 Süilleabhäin/Christiansen; de Meyer, Conte; Jason; Ikeda; cf. auch Bruford, Α.: Oral and Literary Fenian Tales. In: Almqvist, Β.10 Cathäin, S./Ö Healai, P. (edd.): Fiannaiocht (Fenierüberlieferung). Dublin 1987, 2 5 - 5 6 , hier 50. " c f . O'Daly, J. (ed.): Laoithe Fiannuigheachta (Fenierlieder). (Dublin 1856) Nachdr. Dublin 1972, 2 3 4 - 2 7 9 (Text). - 12 Murphy (wie not. 5) t. 3, XX. - 13 Campbell, J. F.: Popular Tales of the West Highlands 2. L. 2 1890, 114, 117; Bruford (wie not. 10) 54. - 1 4 Campbell, J. F.: Leabhar na Feinne (Buch der Fenier). L. 1872, 142; Thomson, D. S.: The Gaelic Sources of Macpherson's „O". Edinburgh/L. 1952, 131-139. L i t . : Stafford, F.: The Sublime Savage. James Macpherson and the Poems of O. Edinburgh 1988. Meek, D.: The Gaelic Ballads of Scotland. Creativity and Adaptation. In: O. Revisited, ed. H. Gaskill. Edinburgh 1991, 19-48. - Gaskill, H.: O. in Europe. In: Canadian Review of Comparative Literature 21 (1994) 643-678. - Meyer, K. (ed.): Sanas Cormaic (Cormacs Glossar). Felinfach 1994. Macpherson, J.: The Poems of O., and Related Works, ed. H. Gaskill. Edinburgh 1996. - Stafford,

1. Überblick - 2. Einzelne Staaten - 2.1. Kenia - 2.2. Tansania - 2.3. Uganda - 2.4. Ruanda/Burundi - 3. Die Swahili-Erzählkultur — 3.1. Allgemeines - 3.2. Wiss.sgeschichtlicher Abriß - 3.3. Einzelne Gattungen - 3.4. Die Komoren

1. Ü b e r b l i c k . Ostafrika weist zu den anderen Teilen des afrik. Kontinents keine geogr. markanten Grenzen auf; letztlich handelt es sich um einen willkürlichen Ausschnitt auf der Landkarte. Man unterscheidet einen Kernraum, zu dem die Staaten Kenia, Tansania, Uganda, Ruanda und Burundi gehören, sowie eine geogr. Peripherie, zu der üblicherweise die folgenden Gebiete gezählt werden: jeweils die südl. Regionen der Staaten Sudan, -> Äthiopien und Somalia, an der westl. und südl. Peripherie die Ostgebiete des Kongo (-• Zentralafrik. Erzählgut) und die nördl. Gebiete der Staaten Sambia und Malawi (-+ Südafrik. Erzählgut). Aufgrund enger kultureller Beziehungen werden häufig auch die Komoren-Inseln und der Norden ->• Madagaskars mit hinzugerechnet1. In Ostafrika sind alle sprachlichen Großfamilien Afrikas vertreten: Bantu (NigerKongo), Nilotisch (Nilo-Saharanisch), Kuschitisch (Afro-Asiatisch) und Khoisan2. Entsprechend ist die ethnische Vielfalt. Völker, die noch vor kurzem als Wildbeuter lebten, Hirtenvölker, Hackbauern sowie Völker, die ihren Lebensunterhalt hauptsächlich durch Handwerk oder Handel gewinnen, teilen sich den Raum. Es dominieren die ländlichen Gebiete, jedoch hat die Urbanisierung bes. im Küstenraum eine über tausendjährige Geschichte. Seit Anfang des 20. Jh.s entwickeln sich in ganz Ostafrika Großstädte mit ihren eigenen Kulturen. Insgesamt werden in Ostafrika etwa 380 lokale Sprachen gesprochen, wobei Dialekte nicht mitgezählt sind. Darüber legt sich ein Netz von überregionalen Verkehrssprachen: Arabisch, Chewa, Bemba, Dinka, Ganda, Luba, Somali, Swahili und Yao. Hinzu

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Ostafrikanisches Erzählgut

kommen die ehemaligen Kolonialsprachen Englisch, Italienisch, Französisch und Flämisch sowie die Sprachen ind. Einwanderer. Man kann aufgrund der künstlerischen Kreativität der Ostafrikaner davon ausgehen, daß sich mit jeder einzelnen Sprache eine eigene Wortkultur verbindet. Auch nach über 150 Jahren afrikanistischer Forschung ist bisher nur der geringere Teil davon bekannt. Hier soll aus Platzgründen die Darstellung auf die angestammten ostafrik. Sprachkulturen des zentralen Raums beschränkt bleiben, wobei gelegentlich auf Einflüsse aus Sprachkulturen anderer Kontinente oder afrik. Regionen eingegangen wird. Die Wortkultur des Swahili nimmt aufgrund der überregionalen Bedeutung dieser Sprache für Ostafrika eine Sonderstellung ein. Die Erzählforschung in Ostafrika setzte Ende des 19. Jh.s ein. Federführend waren hier zunächst europ. Missionare, Kolonialbeamte und Wissenschaftler, die in der Regel mit Hilfe von bald schon alphabetisierten Mittelsmännern (Missionsschüler, Lehrer, Katecheten, Verwaltungssekretäre) Texte per Diktat oder veranlaßter Niederschrift dokumentierten. Selbständige einheimische Sammler und Forscher sind erst für die Zeit ab 1925 auszumachen, und hier auch eher für hist. Traditionen und ethnogr. Sachverhalte. Ein größeres ostafrik. Interesse an mündl. Überlieferungen ist erst für die Zeit ab den 1970er Jahren zu verzeichnen. Die Beteiligung internat. Forscher ist nach wie vor relativ hoch. Namentlich in der dt.sprachigen Forschung der Frühzeit spielte die Aufnahme und Edition von Erzähltexten als Sprachproben für die linguistische Forschung eine Rolle. Der übliche Editionsaufbau gliedert sich in Originaltext, Übers, und philol. Annotationen; kurze Einl.en machen zumeist nur minimale Angaben zu den Produktionshintergründen. Eine zweite, nachgeordnete Funktion sah man darin, daß die Texte „einen tiefen Einblick in das Herz unserer Schwarzen gewähren" 3 und somit Erkenntnisse brächten, die der Etablierung von Kolonialverwaltung, Missionswesen und Erziehungssystem dienlich sein sollten (-• Kolonialismus). Programmatisch und theoretisch ähnlich sparsam untermauert galt diese Perspektive auch für die engl, koloniale Forschung. Parallel ist zu erkennen, daß Erzähl-

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forschung auch als zweckfrei konzipierte Wiss. betrieben wurde. Ab den 1910er Jahren ist o. E. in relativ bescheidenem Maß in der Folkloristik berücksichtigt worden 4 . Das moderne ostafrik. Interesse an der Sammlung und Erforschung mündl. Überlieferungen liegt einerseits darin, spezifisch linguistische und ethnische Identitäten zu behaupten, andererseits aber auch darin, aus sprachlich-kulturellen Partikularismen eine Nationalkultur aufzubauen, was nur scheinbar einen Widerspruch darstellt. Über die ethnischen und nationalen Identitäten hinaus hat sich bei vielen Menschen auch eine ostafrik. Identität herausgebildet. Ο. E. ist in den einschlägigen Bibliogr.n der afrikanistischen Erzählforschung sowie in den folkloristischen Indizes Mot., AaTh und Klipple verzeichnet5. Einen regionalen Typenindex für das nördl. Ostafrika legte E. O. Arewa vor 6 . Innerhalb der Märchen haben die Zaubermärchen mit übernatürlichen Figuren (-• Oger, Geister etc.) einen relativ hohen Anteil. In manchen Texteditionen überwiegen die eher realistischen Erzählungen mit Menschen als Handlungsträgern. Bei den Tiermärchen vertritt der -«• Hase allg. den schlauen Trickster, der Löwe den König und die Hyäne den unmoralischen Antihelden; weitere Tierfiguren entstammen der ortsüblichen Savannenfauna. Ein allg. verbreitetes Eingangsmotiv ist die Erwähnung von Hungersnot, worin sich die relative ökologische Instabilität der Region widerspiegelt7. Im Bereich der mythischen Erzählungen gelten zahlreiche Motive als spezifisch für Ostafrika 8 ; zudem wurden Parallelen zum christl. Erzählgut festgestellt (u. a. Turmbau-, Sintflut-Motive)9. Einige bantusprachige Ethnien bes. Kenias tradieren Mythen von einer Einwanderung aus einem legendären Ägypten (,Misri')10 bzw. dem kontrovers diskutierten, hypothetisch in Süd-Somalia lokalisierten Königreich Shungwaya". 2. E i n z e l n e S t a a t e n 2.1. K e n i a . Die ersten größeren Texteditionen liegen ab 1905 mit den Büchern von A. C. Hollis und M. Beech vor. Sie enthalten ethnogr. Informationen, grammatische Skizzen und diverse Märchen- und Mythentexte in drei nilot. Sprachen mit Übers.en 12 . Von nachhaltigem wiss. Wert sind die Arbeiten von

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Ostafrikanisches Erzählgut

A.Werner (1859-1935), die bald nach ihrer Ostafrikareise 1911-13 Professorin an der School of Oriental Studies in London wurde. Neben ethnogr. und linguistischen Artikeln veröffentlichte sie bes. philol. Editionen mündl. überlieferten Erzählguts, Abhdlgen und vergleichende Studien zu diversen Lit.en der Küstenprovinz (einschließlich Swahili)13. Bedeutsam sind ferner die Texteditionen des schwed. Ethnologen G. Lindblom (1887— 1969), der Sprichwörter sowie Tier- und Zaubermärchen der Kamba edierte. Seine dreibändige Dokumentation enthält wertvolle ethnogr., linguistische und komparative Annotationen 14 . Ein früher Editionsschwerpunkt gilt bereits den mündl. Erzähltraditionen der Kikuyu (Glküyü), die alsbald zentrale politische Funktionen in Kenia übernahmen; diese Hinwendung hält auch Ende des 20. Jh.s noch an 15 . Andere Hauptethnien, deren mündl. überliefertes Erzählgut seit den 1960er Jahren dokumentiert wurde, sind die Kamba und Luo 16 . Texte der kenian. Märchentraditionen wurde ferner in der swahilisprachigen Schulbuchliteratur veröffentlicht, deren Titel in den Reihen Hadithi za Kikwetu (Erzählungen nach unserer Art) und Ngano za Kuchangamsha (Märchen zum Erfreuen) herauskamen. Einen wesentlichen Impuls erhielt die kenian. Erzählforschung seit 1972, als in der akademischen Lehre der Schwerpunkt von der engl. Lit. weg zur anglophon-afrik. bzw. afrikasprachlichen Lit. hin verlagert wurde. Sogleich entstanden an der Univ. Nairobi Magisterarbeiten, die Texte nicht mehr nur dokumentieren, sondern auch systematisch analysieren17. Die Entwicklung führte dazu, daß 1982 das Fach Oral Literature in den höheren Klassen der Sekundärschule eingerichtet wurde. In diesem Zusammenhang entstand eine umfangreiche, für Afrika beispielhafte Lehrbuchliteratur mit Einführungen in die mündl. Erzähltradition, mit programmatischen Erklärungen zur Schaffung einer Nationalkultur, Anleitungen zur Textanalyse und Feldforschung sowie Textdokumentationen in allen Gattungen und auch in bisher nur wenig repräsentierten mündl. Überlieferungen 18 . Damit einhergehend wurde die Publ. von didaktisch aufbereiteten Texteditionen verstärkt, die in der Tendenz weiterhin auf wenige Hauptethnien beschränkt bleibt 19 . Mitte der 1980er

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Jahre wurde die Kenya Oral Literature Assoc. gegründet, die sich mittels Workshops und Publ.en 20 bes. an Lehrkräfte richtet und so zur Förderung der angewandten Erzählforschung beiträgt. Ein thematischer Schwerpunkt, der auf die Weltfrauenkonferenz der UNO in Nairobi 1985 zurückzuführen ist, liegt in der Unters, der in den kenian. Märchen dargestellten Geschlechterbeziehungen, deren Analyse in das Schreiben von Märchen und märchenähnlichen Kurzgeschichten mündet, die alte Geschichten entweder neu interpretieren oder neue Geschichten nach alten Mustern erzählen und damit gesellschaftspolitische Wirkungen erzielen wollen21. Mündl. tradierte Stoffe und Techniken werden zudem in der Schriftliteratur aufgegriffen, so ζ. B. in Ngugi wa Thiong'os Roman Matigari (1987)22. Originell ist ferner der Ansatz, mündl. Überliefertes als grundlegendes Medium einer nicht europ.akademisch vorgefaßten, sondern genuin afrik. Philosophie aufzufassen, wie ihn bes. O. Oruka vertritt 23 . Die neuere internat. Erzählforschung beschäftigt sich ζ. T. auch mit den Überlieferungen der eher vernachlässigten Ethnien, zu deren grundlegender Erfassung Feldforschungen durchgeführt werden. Theoretisch-methodisch sind diese Arbeiten in der Regel an einer Kombination von literaturwiss. und ethnol. Ansätzen orientiert, die bes. Fragen der Performanz, Transkription, Thematik und Interpretation von Volkserzählungen behandeln 24 . 2.2. T a n s a n i a . Zwischen 1890 und 1916 war die Erzählforschung im damaligen Deutsch-Ostafrika hauptsächlich linguistischphilol. ausgerichtet. Allerdings konnten manche Texteditionen erst nach dem 1. Weltkrieg publiziert werden. Ein großer Teil der Forschung wurde von Missionaren getragen. Hervorzuheben ist die Missionarin E. KootzKretschmer, die 1894-1916 in Tansania wirkte und den Texten (Sprichwörter, Sagen, Märchen, Fabeln) die Funktion zuerkannte, das,Seelenleben' der Safwa und benachbarten Nyiha zu vermitteln25. Zu nennen ist ferner B. Gutmann, der 1902-20 und 1925-38 unter den Dschagga am Kilimandscharo missionierte und deren Erzähltraditionen dokumentierte und analysierte26. Zahlreiche Texteditionen einzelner Herausgeber sind als Sprach-

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proben in der Zs. für afrik. und ocean. Sprachen, der Zs. Anthropos, der Zs. für KolonialSprachen und den Mittigen des Seminars für Oriental. Sprachen enthalten 27 . Hierin finden sich auch Texteditionen von Kolonialbeamten und Offizieren, die ihre sprachliche und landeskundliche Ausbildung am Seminar für Oriental. Sprachen in Berlin erhalten hatten und nach ihren Afrikaaufenthalten ζ. T. als Wissenschaftler arbeiteten, wie ζ. B. O. Dempwolff 28 und C. Velten. Zahlreiche Märchentextdokumentationen verbergen sich zudem in Grammatiken 29 und Ethnographien 30 . Einige Editionen präsentieren die Texte nicht in der jeweiligen Muttersprache, sondern auf Swahili, das hier als Zweitsprache benutzt wird31. In der engl. Kolonialzeit (ab 1918) setzte sich die Forschungsarbeit dt. Missionare und Philologen fort 32 . Hervorzuheben ist für diese Zeit der Afrikanist, Missionar und Religionswissenschaftler E. Dammann, der in mehreren Küstensprachen linguistisch arbeitete und mündl. Überlieferungen sammelte. Seine Editionen enthalten Zaubermärchen, Tiermärchen und ethnogr. Texte. Zuletzt erschien ein Hss.katalog 33 . Größere Märchensammlungen entstanden außerdem während eines Projekts frühgeschichtlicher Grabungen, das der Arzt und Paläontologe L. Kohl-Larsen (18841969) in den 1930er Jahren in Zentraltansania durchführte. Die Erzähler traf er vor Ort oder unter seinem Arbeitspersonal an. Ab 1956 veröffentlichte er ausschließlich in dt. Sprache mehrere Bände von Märchen der Tindiga, Iraqw, Burungi, Isanzu und Turu 34 . Zeitweise war P. Berger als Expeditionslinguist beteiligt, der seine Texte bald danach publizierte35; sein Nachlaß an Trickster- und Ogermärchen, ethnischen Witzen und ethnogr. Texten der Iraqw wurde von R. Kießling bearbeitet und ediert36. An der Erzählforschung in Tansania beteiligten sich bald auch engl. Missionare und Philologen37. Zu erwähnen sind hier die Märcheneditionen und Rätselstudien von L. Harries, der seit 1964 an der Univ. von Wisconsin lehrte38. Nach Erlangung der Unabhängigkeit des Landes (1962) wurde mit der Arusha- Deklaration (1968) ein ideologische Basis für Tansania geschaffen, die bis weit in die 1980er Jahre das politische und kulturelle Leben bestimmte. Eine Schlüsselfunktion kam dabei der Swahilisierung der Kommunikation zu, die auf die

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Homogenisierung ethnischer und linguistischer Unterschiede zugunsten einer Nationalkultur abzielte. Diese Prozesse wirkten sich auch auf die Erzählforschung aus, an der zunehmend Tansanianer mitwirkten. Erzählforschung wird u. a. an der Univ. Daressalam betrieben. Fachtagungen hierzu bleiben jedoch eine Ausnahme 39 . Erzählforschung wird eher in ihren Beziehungen zur swahilisprachigen Nationalliteratur gesehen und nicht als eigenständiger Gegenstand 40 . Zu den Einzelleistungen der landeseigenen Erzählforschung zählen die Herausgabe von Texten ethnisch spezifischer Traditionen auf Swahili41 und erste Schritte in der Erforschung der Epik der Haya 42 . Oft bleiben allerdings wesentliche Beitr.e zur Erzählforschung unveröffentlicht 43 . Günstiger sieht das Bild für die Swahili-Lit. aus (cf. Kap. 3). Für die internat. Erzählforschung ist bes. der Ethnologe T. O. Beidelman zu nennen, der seit 1962 in einem sehr verstreut publizierten Korpus mehr als 170 Kaguru-Märchen dokumentiert und einen übergreifenden Interpretationsansatz entwickelt hat. Er faßt Märchen als soziol. Modelle auf. Die Figuren und die anderen Erzählelemente stünden in einer symbolisch-rhetorischen Beziehung zur realen Sozialstruktur und Kultur. Ausgehend von erzählten Konflikten und deren Lösungen werden bei jeder Performanz Moralvorstellungen erörtert, die sich in weiteren Gesprächen mit Kulturangehörigen vertiefen lassen. Merkmale der Lebenswelt und ethnogr. Gegebenheiten werden zu Erklärungen von Märchenelementen herangezogen, wie diese umgekehrt dazu dienen, Elemente der spezifischen Kultur zu interpretieren44. Unter stärkerer Berücksichtigung der Ästhetik, Performanz und einheimischen Exegese verfolgte auch P. Seitel diesen sozialethnol. Ansatz. Seine Arbeit zeichnet sich auch durch eine neuartige Transkription des sprachlichen Ausdrucks der Erzähler

2.3. U g a n d a . In Uganda hatte die Erzählforschung ihren Ursprung in der Ethnographie. Bedeutsam sind die Werke zu den Ganda, Nyoro und Nyankole von J. Roscoe, die Mythen und Märchen im Übers.stext präsentieren46. Als ein sehr frühes Beispiel für eine eigenständige afrik. Kultur- und Geschichts-

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forschung und damit auch Erzählforschung können die Schriften von Sir A. Kagwa, des späteren Premierministers unter König Daudi Chwa, gelten. Als einer von Roscoes Hauptinformanten hinterließ er heute noch diskutierte gandasprachige Texte zur Dynastiegeschichte, Ethnographie und mündl. Überlieferung (Mythen, Märchen, Sprichwörter)47. Eine identitätsstiftende Rolle spielt dabei der Kintu-Mythos, der die Migrationen und frühen Kulturentwicklungen der Ganda thematisiert und dessen Var.n zu unterschiedlichen Interpretationen herausfordern 48 . Das Erzählgut der anderen Ethnien, so ζ. B. der Lango, wurde eher sporadisch dokumentiert 49 . Von weitreichender Bedeutung in Ostafrika ist die Arbeit des Schriftstellers O. p'Bitek, der den Erzählüberlieferungen der Acholi nachspürte und sie in seine Dichtung, die wesentlich über den modernen Kulturwandel reflektiert, einbaute 50 . Bemerkenswert sind auch Versuche, die als zu spröde empfundene wiss. Dokumentation von Märchen und anderen Texten literar. umzuformen, wofür ζ. B. die freie Versform gewählt wird51. 2.4. R u a n d a / B u r u n d i . Die ersten Slgen und Unters.en zum Erzählgut Ruandas (und dem angrenzenden Nordwest-Tansania) legte der kathol. Missionar E. Hurel vor 52 . Ihm folgte später A. Kagame, der sich auf die kunstvolle Hirten-, Krieger- und Hofdichtung des Landes spezialisierte. Er ist auch der Autor von semantisch-phil. Abhdlgen, die noch heute gelesen werden53. Aspekte des frz. Strukturalismus zeigen sich in den Arbeiten von P. Smith, der Fragen der Textdokumentation, Genreklassifikation und Interpretation behandelt54. Für Burundi ist auf die Arbeiten von F. Rodegem hinzuweisen, der sich mit rhetorischen Aspekten sowie Sprichwort- und Märchenforschung beschäftigt hat 55 . In den mündl. Überlieferungen beider Länder finden die jahrzehntelang anhaltenden großen Auseinandersetzungen zwischen Hutu und Tutsi einen Ausdruck, der bisher noch nicht eigens untersucht wurde. 3. Die S w a h i l i - E r z ä h l k u l t u r 3.1. A l l g e m e i n e s . Es handelt sich beim Swahili nicht um eine einheitliche Sprache, sondern um mehrere Dialekte, die ζ. T. erheb-

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lich voneinander abweichen56. Dementsprechend gibt es mehrere Zentren, die ihre eigenständigen literar. Traditionen entwickelt haben. Die wichtigsten sind Lamu und Pate im Norden Kenias, Mombasa mit dem MvitaDialekt und die Insel Sansibar mit dem Unguja. Letzteres ist auch Grundlage für das ,Standard-Swahili', das 1929/30 für den Gebrauch in der Gesamtregion Ostafrikas eingeführt wurde. Seit dem 18. Jh. sind schriftl. Aufzeichungen von einzelnen mündl. vorgetragenen Texten überliefert. Diese wurden mit Hilfe arab. Schriftzeichen angefertigt. Da der Islam schon vor dem 10. Jh. an der ostafrik. Küste, dem Verbreitungsgebiet der Swahili, Fuß gefaßt hatte, kann angenommen werden, daß Teile des Erzählguts schon viel früher aufgezeichnet wurden, jedoch dem feuchten Klima und Insektenfraß zum Opfer gefallen sind57. Neben den in Ostafrika sonst üblichen Prosatexten gibt es im Swahili eine kunstvolle Poesie. Diese ist nach strengen Versregeln aufgebaut und läßt sich in mehrere Verstypen einteilen58. Ihr Vortrag erfolgt, gelegentlich von einem Rhythmusinstrument begleitet, in einem psalmodierenden Singsang. Diese Dichtung wird gleichzeitig schriftl. verfaßt und etwa im Kulturteil der ostafrik. Ztgen veröffentlicht. Unter Einsatz von Lehrbüchern wird Gedichtkomposition als Fach in den Schulen gelehrt59. Außer von unbekannt bleibenden Autoren wird diese Volkskunst auch von namhaften Dichtern praktiziert. Nach Form und Inhalt weist die Wortkunst der Swahili, deren Basis grundsätzlich mit den bantusprachigen Erzählungen Ostafrikas vergleichbar ist, einen starken arab.-pers. Einfluß auf (-> Arab.-islam. Erzählstoffe) 60 . So sind ζ. B. die Geschichten aus Tausendundeinenacht weitgehend in das Erzählgut der Swahili integriert. In zahlreichen Zaubermärchen wird die autochthone Figur des Ogers durch den Dschinn ersetzt. Ein anderes Beispiel ist die Tricksterfigur des Hasen. Neben dem SwahiliNamen Sungura trägt er die Bezeichnung Abunuwasi, welche auf den berühmten Dichter Abü Nuwäs zurückgeht. Dessen Anekdoten und ein Teil der Geschichten aus Tausendundeinenacht wurden in den 1920/30er Jahren in Schulbucheditionen kanonisiert 61 . Darüber hinaus läßt die gesamte Poesie ein-

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schließlich ihrer Terminologie eine Herkunft aus dem Arabischen erkennen 62 . Außerdem sind ind. Einflüsse für das Swahili-Erzählgut nachzuweisen, die als orale Vermittlungen u. a. aus dem Fundus des Pancatantra stammen 63 . Mit dem Aufbau des Schulwesens und der Sprachstandardisierung in den 1920/30er Jahren wurden auch einige Werke der Weltliteratur ins Swahili übersetzt, neben verschiedenen Romanen u. a. die Fabeln nach -» Äsop, Joel Chandler Harris' Uncle Remus-Geschichten sowie Henry Wadsworth Longfellows Hiawatha-Erzählung (1855) in Prosa 64 . Häufig werden die aus mündl. Überlieferung stammenden Texte, anders als in anderen afrik. Wortkulturen, individuellen Autoren zugeschrieben. So gelten die ältesten Aphorismen ostafrik. Poesie, die noch in der Erinnerung des Volkes fortleben, als Werke des legendären Sängers und Königs Liongo Fumo. Die Verse sind in ein jüngeres Epos, Lied des Liongo genannt, eingebettet65. Wann Liongos Dichtung entstand, ist bis heute ungeklärt. Dem Inhalt der Liongo-Legende nach zu schließen, müßte das Entstehungsdatum auf jeden Fall vor der port. Herrschaft entlang der Swahili-Küste, also vor 1498, anzusetzen sein. Immerhin wurde Liongos Grab der Afrikanistin Werner noch 1913 bei Kipini gezeigt, was eigentlich auf eine spätere Lebenszeit Liongos hindeutet. 3.2. W i s s . s g e s c h i c h t l i c h e r A b r i ß . Die erste schriftl. Aufzeichnung von Volksliteratur wird Muyaka bin-Ghassany zugeschrieben. Er lebte und dichtete zu Beginn des 19. Jh.s in Mombasa. Die schriftl. Dokumentation seiner für den mündl. Vortrag konzipierten Verse geht jedoch nicht auf ihn selbst zurück, sondern auf einen Verehrer seiner Dichtkunst, auf Mwalimu Sikujua bin Abdullah, der ein halbes Jh. später lebte und die mündl. tradierten Werke Muyakas in arab. Schrift festhielt66. Der Missionar J. L. Krapf (1810-81), der mit einer Swahili-Grammatik (1850) und einem umfangreichen Wb. dieser Sprache (1882) als Begründer der modernen Swahilistik angesehen wird, legte neben seinen linguistischen Studien einen reichen Fundus mündl. Überlieferungen, bes. dichterisch gestalteter Stücke, an. Die in arab. Schrift verfaßten Mss. sandte er nach Deutschland. Dort dienten sie als

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Grundlage für wiss. Analysen und Anthologien67. Allerdings wurde die Swahili-Lit. der Fachwelt erstmals durch die VeröfF.en der brit. Missionare E. Steere (1829-82) 68 und W. E. Taylor (1856-1927) 69 bekannt. In den Jahren nach dem 1. Weltkrieg erfuhr die Volkspoesie der Swahili seitens der Afrikanistik zunehmende Aufmerksamkeit. Zu nennen sind in chronologischer Reihenfolge neben C. Meinhof 70 die Editionen von Werner71, W. Hichens72 und Dammann 73 . Seit Ende der 1940er Jahre erschienen mehrere Anthologien, die den bisher erreichten Wissensstand zusammenfassen 74 . Ostafrik. Autoren und Wissenschaftler begannen sich in den 1950er Jahren zunehmend mit ihrem kulturellen Erbe auseinanderzusetzen. Shaaban bin Robert, ein bekannter Swahili-Schriftsteller, dessen Werke maßgeblichen Einfluß auf die Entwicklung des StandardSwahili zur anerkannten Schriftsprache hatte, hat die Volksliteratur der Swahili ζ. T. in seine Prosastücke mit einbezogen75. Μ. H. Abdulaziz verfaßte eine textkritische Studie über den Dichter Muyaka 76 . Der Lit.Wissenschaftler J. L. Mbele widmete dem legendären Sänger Liongo Fumo zwei Studien 77 .1. N. Shariff verfaßte eine Abhdlg zur Dialogdichtung sowie ein swahilisprachiges Lehrbuch zur Poesie78. In neuerer Zeit hat Ahmed Sheikh Nabhany einige Lehrgedichte veröffentlicht, mit denen er neben poetologischen auch lexikographische und ethnogr. Ziele verfolgt 79 . 3.3. E i n z e l n e G a t t u n g e n . Formal läßt sich die Volksliteratur der Swahili in zwei Kategorien unterteilen, in Prosa und Poesie. Die Prosa umfaßt Tiererzählungen, Schwänke und Märchen 80 , Stadtchroniken und hist. Erzählungen81, Lebensgeschichten82, Reise-83 und ethnogr. 84 Berichte, aber auch kleine Formen wie Rätsel, Kinderreime und Sprichwörter 85 . Die Reichhaltigkeit des Materials und die Vielfalt der Gattungen erklärt sich durch die zahlreichen Kulturströme, die sich in der zumeist Urbanen Swahili-Kultur vermischt haben. Wie in anderen Volksliteraturen auch hat diese Art der Wortkunst vor allem unterhaltende und belehrende Funktion, die man nicht scharf voneinander abgrenzen kann. Im Vordergrund der nach strengen Regeln aufgebauten Poesie stehen vor allem zwei Gat-

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tungen, die shairi- und die utenzi-Dichtung. Bei der shairi-Dichtung geht es um moralisierende und sozialkritische Inhalte, aber auch um Liebesgedichte 86 . Die utenzi-Dichtung ist hingegen episch, erbaulich, hagiographisch und historisierend 87 . Die Swahili-Dichtung kennt noch weitere Gattungen — die jedoch nicht die Bedeutung haben wie die zuvor genannten, so den aus dem Arabischen stammenden Fünfzeiler (takhmis) oder einen Vierzeiler zu elf Silben (kisarambe) 88 . 3.4. D i e K o m o r e n . Der Swahili-Sphäre zugerechnet werden auch die Komoren-Inseln, die linguistisch entweder als eigene Einheit klassifiziert oder aber dialektal dem Swahili zugeordnet werden, dessen Sansibar-Dialekt bis vor einigen Generationen die Verkehrssprache auf den Komoren und im Nordwesten von Madagaskar war. Erste Textaufnahmen entstanden 1 9 1 2 - 1 3 und 1 9 1 8 - 2 0 während der linguistischen Forschungen von M. Heepe, der ethnogr. Texte und Märchen edierte 89 . Ansonsten ist die Erzählforschung in den letzten 20—25 Jahren verstärkt von frz. Ethnologen und Linguisten vorangebracht worden 90 . Kennzeichnend für das madegass. und bantusprachige Erzählgut der Komoren sind arab.islam. Einflüsse. 1 Liesegang, G./Seitz, S./Winter, J. C.: Das Äquatoriale Ostafrika. In: Baumann, H. (ed.): Die Völker Afrikas und ihre traditionellen Kulturen 2. Wiesbaden 1979, 1-67. - 2 Heine, B./Schadeberg, T. C./ Wolff, Ε. (edd.): Die Sprachen Afrikas. Hbg 1983. 3 Büttner, C. G.: Anthologie aus der Suaheli-Lit. B. 1894, XVI. - 4 cf. BP, Mot., AaTh, Typenmonogr.n (FFC u. a.). - 5 Scheub, H.: African Oral Narratives, Proverbs, Riddles, Poetry and Song. Boston 1977; Görög, V.: Litterature orale d'Afrique Noire. Bibliogr. analytique. P. 1981; ead.: Bibliogr. annotee: Litterature orale d'Afrique Noire. P. 1992; Klipple, Μ. Α.: African Tales with Foreign Analogues. (Diss. Ann Arbor 1938) N. Y./L. 1992. - 6 Arewa, E. O.: A Classification of the Folktales of the Northern East African Cattle Area by Types. Diss. Berk. 1966. 7 cf. hierzu Cove, J. J.: Survival or Extinction? Reflections on the Problem of Famine in Tsimshian and Kaguru Mythology. In: Laughlin, C. D./Brady, I. A. (edd.): Extinction and Survival in Human Populations. Ν. Y. 1978, 231-244. - 8 Arewa, E. O.: The Identification of New A (Mythological) Motifs in the African Collections. In: Anthropos 67 (1972) 910-915; Lienhardt, G.: Getting Your Own Back. Themes in Nilotic Myth. In: Beattie, J. H. M./Lienhardt, R. G. (edd.): Studies in Social Anthropology.

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(edd.): Sprachkulturelle und hist. Forschungen in Afrika. Köln 1995, 207-223; Berger, P.: Iraqw Texts, ed. R.Kießling. Köln 1998. - 3 7 z.B. Woodward, W.-H.: Bondei Folktales. In: FL 36 (1925) 178-185, 263-278, 366-386; id.: Makua Tales. In: Bantu Studies 6 (1932) 71-87; ibid. 9 (1935) 115-158; Johnson, F.: Kiniramba Folk Tales, ibid. 5 (1931) 327-356. - 38 Harries, L.: Mawiha Texts, ibid. 14 (1940) 410-433; id.: Notes on the Mythology of the Bantu in the Ruvuma District. In: Tanganyika Notes and Records 12 (1941) 38-44; id.: Makua SongRiddles from the Initiation Rites. In: African Studies 1 (1942) 27-46; id.: Some Riddles of the Makua People, ibid., 275-291; id.: Some Riddles of the Mwera People, ibid. 6 (1947) 21-34; id.: The Riddle in Africa. In: JAFL 84 (1971) 377-393; id.: Semantic Fit in Riddles, ibid. 89 (1976) 319-325; id.: On the Deep Structure of Riddles. In: African Studies 35 (1976) 39-43. - 39 cf. verschiedene Beitr.e in Taasisi ya Uchunguzi wa Kiswahili (ed.): Makala za Semina ya Fasihi Simulizi (Essays vom Seminar zu mündl. Uberlieferungen). Daressalam 1981. 40 Mbughuni, P.: The Theme of a New Soc. in the Kiswahili Prose Tradition. From Oral to Contemporary Literature. In: Kiswahili 48,2 (1978) 17-37; ead.: The Image of Woman in Kiswahili Prose Fiction. ibid. 49,1 (1982) 15-23; Balisidya Matteru, M. L.: The Image of the Woman in Tanzanian Oral Literature, ibid. 49,2 (1982) 1-31. 41 Chidumizi, S. M.: Hadithi za Masaibu (Märchen von Masaibu). In: Swahili 38,1 (1968) 12-38 (Gogo); Rwechangura, G. R.: Hadithi za mapokeo (Überlieferte Geschichten). Daressalam 1972 (ohne ethnol. Angaben); Ngole, S. Y. A./Sengo, T. S. Y.: Fasihi-Simulizi ya Mtanzania. Hadithi (Mündl. Überlieferungen aus Tansania. Erzählungen) 1. Daressalam 1976; Kamera, W. D.: Hadithi za Wairaqw wa Tanzania (Märchen der Iraqw von Tanzania). Arusha/Daressalam 1978; Rubambura, A. J.: Ebikoikyo - Vitendawili. Ndanda/Peramiho 1992 (Haya-Rätsel mit Swahili-Übers.); Sengo, T. S. Y./ Madumulla, J. S./Mlacha, S. A. K./Kiango, S. D.: Fasihi-Simulizi ya Mtanzania. Hadithi (Mündl. Überlieferungen aus Tansania. Erzählungen) 2. Daressalam 1992. - 42 Mulokozi, M.: The Nanga Bards of Tanzania: Are They Epic Artists? In: Research in African Literatures 14 (1983) 283-311; id.: The Last of the Bards. The Story of Habibu Selemani of Tanzania (c. 1929-93). In: Research of African Literatures 28,1 (1997) 159-172. - 43 ζ. B. Sengo, T. S. Y.: The Indian Ocean Complex and the Kiswahili Folklore. The Case of the Zanzibarian Tale-Performance. Diss. Khartum 1985. - 44 Ausw.: Beidelman, T. O.: Hyena and Rabbit. Representation of Matrilineal Relations. In: Africa 31 (1961) 61-74; id.: The Bird Motif in Kaguru Folklore. Ten Texts (Tanzania). In: Anthropos 69 (1974) 162-190; id.: Kaguru Oral Literature. 1 —4: Texts (Tanzania), 5: Discussion, ibid. 70 (1975) 537-574; ibid. 71 (1976) 46-89; ibid. 72 (1977) 55-96; ibid. 73 (1978) 69-112; ibid. 74 (1979) 497-529; id.: Moral Imagination in Kaguru

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Ostafrikanisches Erzählgut

Überlieferung und Übers. In: Festschr. Möhlig (wie not. 22) 281-302. - 66 Abdulaziz, Μ. H.: Muyaka. 19th Century Swahili Popular Poetry. Nairobi 1979. - 67 Büttner, C. G.: Chuo cha utenzi. Gedichte im alten Suahili. Aus den Papieren des Dr. L. Krapf. In: Zs. für afrik. Sprachen 1 (1887/88) 1 - 4 2 , 124-137; id.: Suaheli-Schriftstücke in arab. Schrift. Stg./B. 1892; id.: Anthologie aus der Suaheli-Lit. B. 1894; Velten, C.: Suaheli-Gedichte. In: Mittigen des Seminars für Oriental. Sprachen 20 (1917) 61-182 und ibid. 21 (1918) 135-183. - 68 Steere, E.: Swahili Tales as Told by Natives of Zanzibar. L. 1870. — 69 Taylor, W. E.: African Aphorisms or Saws from SwahiliLand. L. 1891. - 70 Meinhof (wie not. 61). 71 Werner, Α.: The Utendi wa Mwana Kupona. In: Bates, O. (ed.): Varia Africana 1. Cambr., Mass. 1917, 147-181; ead.: Swahili Poetry. In: Bulletin of the School of Oriental Studies 1 (1917-20) 113-127; ead.: Utendi wa Ayubu. ibid. 2 (1921-23) 85-115, 297-320, 347-416; ead.: The Story of Miqdad and Mayasa. In: Zs. für Eingeborenen-Sprachen 21 (1930/31) 1-25. - 72 Hichens, W.: Al-Inkishafi. L. 1939. — "Dammann, E.: Dichtungen in der Lamu-Mundart des Suaheli. Hbg 1940; id.: SuaheliDichtungen des Scheichs Muhammed bin Abubekr bin Omar Kidjumwa Mashili aus Lamu. In: Afrika - Studien zur Auslandskunde 1,2 (1942) 125-196; id.: Richter und Räuber. Eine Dichtung in der Lamu-Mundart des Suaheli. In: Mittigen des Inst.s für Orientforschung 5 (1957) 432-489; id.: Die Überlieferung der islam. Suahelidichtung. In: ZDMG 108 (1958) 41-53; id.: Die paränetische Suaheli-Dichtung Tabaraka. In: Mittigen des Inst.s für Orientforschung 7 (1960) 411-432. - 74 Blok, H. P.: Α Swahili Anthology. Leiden 1949 (enthält vor allem Prosatexte); Harries, L.: Swahili Poetry. Ox. 1962; Knappert, J.: Traditional Swahili Poetry. An Investigation into the Concepts of East African Islam as Reflected in the Utenzi Literature. Leiden 1967; id.: Swahili Islamic Poetry 1 - 3 . Leiden 1971; id.: Four Centuries of Swahili Verse. L. 1979; id.: Epic Poetry in Swahili and Other African Languages. Leiden 1983. - 75 Shaaban bin Robert: Adili na Nduguze (Adili und seine Brüder). L. 1952; id.: Masomo Yenye Adili (Lehrreiche Geschichten). L. 1959. - 76 Abdulaziz (wie not. 66). - 77 Mbele (wie not. 65). - 78 Shariff, I. N.: The Function of Dialogue Poetry in Swahili Soc. Diss. New Brunswick 1983; id.: Tungo Zetu. Msingi wa Mashairi na Tungo Nyinginezo (Unsere Dichtung. Die Grundlage der Shairi-Gedichte und anderer Poesie). Trenton 1988. - 79 Nabhany, A. S.: Sambo ya Kiwandeo - The Ship of Lamu-Island. ed. G. Miehe/T. C. Schadeberg. Leiden 1979; id.: Umbuji wa Mnazi (Die Schönheit der Kokospalme). Nairobi 1985; Geider, T.: Die Dokumentarlit. Ahmed Sheikh Nabhanys zum Schiffbau in Lamu (Swahili-Küste) als Innovation im utenzi-Genre. In: Möhlig, W. J. G./Jungraithmayr, H./Thiel, J. F. (edd.): Die Orallit. in Afrika als Qu. zur Erforschung der traditionellen Kulturen. B. 1988, 179-201; id.: Die Schönheit der

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Kokospalme: Sheikh Nabhanys zweites Dokumentargedicht in einem Swahili-Schulbuch. In: Afrika und Übersee 72 (1992) 161-190. - 80 Steere, E.: Swahili Tales, as Told by Natives of Zanzibar. L. 1870; Büttner, C. G.: Anthologie aus der SuaheliLitteratur. Β. 1894; Velten, C.: Märchen und Erzählungen der Suaheli. Stg./B. 1898; id.: Prosa und Poesie der Suaheli. B. 1907; Batemann, G. W.: Zanzibar Tales Told by Natives of the East Coast of Africa. Chic. 1901; Baker, E. C.: Swahili Folk-Tales. In: FL 38 (1927) 182-204, 272-305; Ingrams, W. H.: Zanzibar. Its History and Its People. L. 1931, 350-391; Mnyampala, Μ. E.: Kisa cha Mrina Asali na Wenzake Wawili (Die Geschichte vom Honigsammler und seinen beiden Gefährten). Nairobi 1961; Maw, J.: Notes on a Swahili Oblomov. In: JFI 4 (1967) 207-223; Knappert, J.: Myths and Legends of the Swahili. Nairobi/L./Ibadan 1970; Ngole/Sengo (wie not. 37); Foster, D. D.: Structure and Performance of Swahili Oral Narrative. Diss. Madison 1984; Eastman, C. Μ.: Expressing a Swahili Sense of Humor. Siu Jokes. In: Research in African Literatures 17 (1986) 474-495; Tolmacheva, M.: Animals and the Animal Tale in Swahili Folklore. In: Swahili Language and Soc. 8 (1991) 73-86; Geider, T.: Remarks on Three Ogre Tales as Narrated by Binti Amira Msellem Said from Mombasa, ibid. 9 (1992) 49-59; Sengo u. a. (wie not. 41). 81 Hichens, W. (ed.): Khabar al-Lamu. A Chronicle of Lamu. In: Bantu Studies 12 (1938) 1-33; Prins, A. H. J.: Vijf Swahili stadskronieken en andere hist, hss. van Afrika's oostkust. In: Tijdschrift voor geschiedenis 69,2 (1956) 218-227; Gray, Sir J.: Zanzibar Local Histories. Preliminary Note 1—2. In: Swahili 30 (1959) 24-40 und ibid. 31 (1961) 111-139; Harries, L. (ed.): Said Bakari bin Sultani Ahmed. The Swahili Chronicle of Ngazija. Bloom. 1977; Gueunier, N.-J.: La Chronique swahilie du Cadi Umari de Mayotte. Toliara 1989; Omar, Y. A./ Frankl, P. J. L.: The Mombasa Chronicle. In: Afrika und Übersee 73 (1990) 101-128; Tolmacheva, Μ. (ed.): The Pate Chronicle. East Lansing 1993. 82 Topan, F.: Biography Written in Swahili. In: History in Africa 24 (1997) 299-307. - 83 Geider, T.: Early Swahili Travelogues. In: Graebner, W. (ed.): Sokomoko. Popular Culture in East Africa. Amst./ Atlanta 1992, 27-65. - 84 id.: Swahilisprachige Ethnographien (ca 1890 — heute): Produktionsbedingungen und Autoreninteressen. In: Behrend, H./Geider, T. (edd.): Afrikaner schreiben zurück. Texte und Bilder afrik. Ethnographien. Köln 1998, 41-79. 85 Dammann, E.: Sprichwörter aus Lamu. In: Lukas, J. (ed.): Afrikanistische Studien. Festschr. D. Westermann. B. 1955, 174-180; Farsi, S.S.: Swahili Sayings from Zanzibar. 1: Proverbs. Nairobi 1958; Knappert, J.: On Swahili Proverbs. In: African Language Studies 16 (1975) 117-146; id.: Rhyming Riddles or Swahili Songs of Secrets. In: Afrika und Übersee 71 (1988) 287-298; id.: Proverbs from the Lamu Archipelago and the Central Kenya Coast. B. 1986; id.: Swahili Proverbs. Ndanda 1997; Harries,

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Osten, Westen - Ostermärlein

L.: The Literary Riddle in Swahili. In: African Studies 30 (1971) 259-276; Kallen, J. L./Eastman, C. M.: ,1 Went to Mombasa, There I Met an Old Woman...'. Structure and Meaning in Swahili Riddles. In: JAFL 62 (1979) 418-444; Eastman, C. M.: An Ethnography of Swahili Expressive Culture. In: Research in African Literatures 15 (1984) 313-340; ead.: Was Kinder wollen, was Kinder sollen. Sprichwörter und Lieder der Swahili. In: Loo, M.-J. van de/Reinhart, M. (edd.): Kinder. Ethnol. Forschungen in fünf Kontinenten. Mü. 1993, 78-94; Barwani-Sheikh, S./Samson, R.: Sprichwörter und ihr Gebrauch. In: Miehe/Möhlig (wie not. 56) 347-355. - 86 Abdulaziz (wie not. 66); Shariff (wie not. 78); Miehe, G.: Stilistische Merkmale der Swahili-Versdichtung. In: id./Möhlig (wie not. 56) 279-321; Möhlig, W. J. G./Jungraithmayr, H. (edd.): Lex. der afrikanistischen Erzählforschung. Köln 1998, 199. — 87 Büttner (wie not. 3); Knappert, J.: Het epos van Heraklios. Een proeve van Swahili poezie. Diss. Leiden 1958; id. (wie not. 74); Harnes (wie not. 74); Allen, J. W. T.: Tendi. Six Examples of a Swahili Classical Verse Form. L. 1971; Miehe, G.: Die Sprache der älteren Swahili-Dichtung (Phonologie und Morphologie). B. 1979. - 88 Abdulaziz (wie not. 66); Werner 1913-15 (wie not. 13); Hichens, W.: Swahili Prosody. In: Swahili 33,1 (1962-63) 107-137. 89 Heepe, M.: Die Komorendialekte Ndazidja, Nzwani und Mwali. Hbg 1920. - 90 Rombi, M.-F.: Trois Pauvres, deux tyrans, deux princesses. In: Cahiers d'etudes africaines 19, 73-76 (1979) 549-578; ead./Chamanga, Μ. A. (edd.): Contes comoriens. P. 1980; ead.: Le Shimaore. Premiere d'un parier de la langue comorienne (lie de Mayotte, Comores). P. 1983; ead.: Un Anti-heros comorien: La chienne. In: Möhlig u. a. (wie not. 79) 51-69; Gueunier, N.-J.: La Tradition du conte de langue malgache ä Mayotte (Comores). Diss. P. 1985; id./Sibertin, J.-L.: Le Monstre devorant. Un conte malgache en dialecte sakalava et un conte comorien en dialecte shimaore. In: Etudes Ocean Indien 8 (1987) 21-56; id.: La Belle ne se marie point. Contes comoriens en dialecte malgache de Pile de Mayotte. P./Louvain 1990; id.: L'Oiseau chagrin. Contes comoriens en dialecte malgache de l'lle de Mayotte. P./Louvain 1994; Boulinier, G.: Les Princesses shirazi de la Grande Comore ou un autre visage des Mille et Une Nuits. In: Cahiers de litterature orale 17 (1985) 129-162; AhmedChamanga, M.: Rois, femmes et djinns. Contes de l'ile d'Anjouan, Comores. P. 1988; Blanchy, S.: Meres et filles dans les contes de Mayotte (Comores). In: Görög-Karady, V./Baumgardt, U. (edd.): L'Enfant dans les contes africains. P. 1988, 131-168; Görög-Karady, V./Soilihi, Z.: Furukombe et autres contes de Mayotte. P. 1991; iid./Gueunier, N.-J./Said, M.: La Maison de la mere. Contes de l'ile de Mayotte. P. 1993; Alaoui, M. C.: Genres of Comorian Folklore. In: J. of Folklore Research 34 (1997) 45-57; Ahmed-Chamanga, M./Mroimana, A. A.

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(edd.): Contes comoriens de Ngazidja. P./Montreal 1999. Köln

Osten, Westen

T h o m a s Geider Wilhelm J. G . Möhlig

Richtungssymbolik

Ostergelächter ->• Risus paschalis

Ostermärlein. Vom späten M A . bis zum Beginn des 19. Jh.s ist f ü r den oberdt. Sprachr a u m die Praxis des kathol. Klerus bezeugt, in der Osterpredigt (-> Predigt), bes. a m Ostermontag, von der Kanzel herab sog. O. zu erzählen, die das Kirchenvolk nach der langen Fastenzeit u n d den moralisierenden Fastenexempeln anläßlich der österlichen Freude über die Auferstehung Christi erheitern sollten u n d zusammen mit komischen nonverbalen Elementen (-• Gebärde) das sog. Ostergelächter ( - • Risus paschalis) beim Publikum auslösen konnten 1 . Sowohl in den Quellen als auch in der Forschungsliteratur wird zwischen O. u n d Ostergelächter nicht immer klar unterschieden. Als O. k o m m e n verschiedene G a t t u n g e n zur Anwendung: Fabeln, Schwänke, Schwankmärchen, Fazetien, Anekdoten u n d sogar Sagen. Dieser Vielfalt narrativer F o r m e n steht ein relativ einheitliches Anwendungsmuster gegenüber, durch das sich eine differenzierte poetologische Bestimmung der O. vornehmen läßt 2 : I m Z u s a m m e n h a n g der Predigt dienen O. als Allegorien. Die Erzählhaltung ist tendenziell satirisch, häufig wird die Lächerlichkeit weltlich ausgerichteten Lebens gezeigt. D a die Prediger ihre Erzählung gern mit einer moralischen N u t z a n w e n d u n g verbinden, gehören O. ihrer didaktischen Funktion nach zur ->• Erbauungsliteratur. N a c h d e m es im späten M A . üblich geworden war, Predigten durch das Erzählen von -» Predigtmärlein aufzulockern, wurde ein jeweils passender F u n d u s f ü r die verschiedenen Festtage gebildet 3 . Seit dem Beginn des Spätmittelalters enthalten lat. Sammelhandschriften homiletischer Gebrauchsliteratur gelegentlich Hinweise auf die Eignung eines Textes als

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Ostermärlein

Ο.4; V. Wendland belegt die Tradition des ma. O.s mit äsopischen Fabeln (ζ. B. nach -> Jacques de Vitry), Schwänken und Schwanklegenden (ζ. B. nach den -> Gesta Romanorum oder Johannes Herolt) 5 . Als Übungstexte für Schüler und Subdiakone fanden O. wohl zunächst im klerikalen Schulbetrieb und Schulgottesdienst Verwendung6. Die ältesten hs. Belege stammen vom Anfang des 15. Jh.s, lokale Ausgangspunkte des Brauchs waren wahrscheinlich Städte mit mehreren Klosterschulen wie Wien, München, Bamberg, Breslau, Prag und Umgebung oder Nürnberg 7 . Einer weiteren Annahme zufolge gab es einen Zusammenhang der O. mit der Komik der Osterspiele (-• Fastnachtspiel); weil diese nicht überall durchführbar waren, konnten die O. als Ersatz dienen8. Zur Festigung der Tradition trugen schließlich die Übernahme des Brauchs für die Gemeindepredigt und die daraus resultierende Erwartungshaltung der Kirchgänger bei9. Zudem läßt sich die Praxis als Versuch der Prediger interpretieren, Popularität bei der Gemeinde zu erlangen10. Mit der Änderung der Interessenlage geriet als Schauplatz alltäglicher Streitigkeiten und Rivalitäten der Ehestand in den Blick der Prediger, Eheschwänke von ζ. T. grober Drastik gehörten schließlich zu den bevorzugten Erzählungen in der Osterpredigt. Im Umfeld von Humanismus und Reformation wurden Predigtmärlein allg. und Ostergelächter sowie O. im bes. zum Angriffsobjekt Protestant. Konfessionspolemik, galten sie doch als Paradebeispiel ma. Kanzelverderbnis und kathol. Predigtmißbrauchs 11 : Nachdem bereits Jakob Wimpfeling in seiner Apologia pro Republica Christiana (Phorce 1506) und Johann -> Geiler von Kaysersberg in der Postill: Vber die fyer Euangelia durchs jor (Straßburg 1512) ihre ablehnende Haltung deutlich gemacht hatten — allerdings ohne bes. Beachtung in der weiteren Auseinandersetzung —, gelangte Johannes Ökolampads Streitschrift gegen das Ostergelächter De risu paschali (Basel 1518) zu kanonischer Geltung bei den Protestanten. Ähnlich kritisch äußerten sich Martin -+ Luther, Sebastian Franck, Erasmus von Rotterdam und Johannes ->• Mathesius 12 . Sie tadelten die Prediger, weil sie die Andacht zerstörten, indem sie der Heiligkeit des Osterfestes und des Ortes nicht angemessene

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Scherze trieben; überdies gehörten O. zusammen mit Legenden, Visionen, Reliquien, ->• Wallfahrten und Wunderberichten (-+ Mirakel) zum Lügengespinst der kathol. Seite. Für die Zeit der Reformation läßt sich der Brauch weniger durch primäre Texte belegen13, doch werden die stereotyp vorgebrachten Einwände der Kritiker von der Forschung als Hinweise auf seine Existenz gedeutet. Als Beleg dient ebenso die Tatsache, daß das Erzählen von O. und das Ostergelächter ζ. B. bei Heinrich Bebel, Johannes ->· Gast, in der -> Zimmerischen Chronik und bei Hans Wilhelm ->· Kirchhof zum Thema von Schwank und Fazetie wurden 14 . Demgegenüber empfahl der Franziskaner Johannes -> Pauli seine Slg Schimpf und Ernst (Straßburg 1522) u. a. ausdrücklich als Material für Prediger zu Ostern 15 . Während in der Forschung auf der einen Seite behauptet wird, daß -> Obszönitäten und Sexualität bei diesem Osterbrauch im Vordergrund gestanden hätten 16 , hält man dem auf der anderen Seite entgegen, dafür liege kein einziges direktes Textzeugnis vor; zudem seien die Kanzelredner der Zeit alle Sittenprediger gewesen und die überlieferten Texte ohnehin derb genug17. Bei den Kritikern lasse sich jedenfalls eine gewisse Scheu feststellen, die anstößigen Elemente auch nur wiederzugeben18. Was - auch für spätere Zeiten - im Druck erhalten sei, so die vermittelnde Position 19 , gebe keinen Anlaß, die Würde des Verkündigungsauftrages verletzt zu sehen, spiegle aber auch nicht den Durchschnitt und schon gar nicht die unteren, mißbräuchlichen Erscheinungen der damaligen Predigtproduktion wider, zumal es ja auch die obrigkeitliche Zensur gab. Mit der Wende zum 17. Jh. zeichnet sich in der Protestant. Lit. eine Änderung der Perspektive ab 20 : Der Osterbrauch, bes. das Ostergelächter, wurde zum Gegenstand wiss. Erörterungen, in denen es nicht mehr wie bisher darum ging, autoritative -• Pontus und Sidonia (1483), der über Jh.e ein beliebter Lesestoff war 3 . Bereits die dem gesamtdeutschen Schrifttum zuzurechnende Chronikliteratur des 1 6 . - 1 8 . Jh.s enthält zahlreiche Sagen- und Märchenstoffe, die teilweise auch für die österr. Überlieferung von Bedeutung sind. Der 1672 als Sonntagsprediger nach Wien berufene -» Abraham a Sancta Clara war wohl einer der bedeutendsten dt.sprachigen Kanzelredner. Seine Predigten enthalten eine Fülle von Anspielungen aus den unter-

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Österreich

schiedlichsten Erzählgattungen und stellen damit eine wertvolle Quelle für die vergleichende Erzählforschung dar. Einer der frühesten Kompilatoren von Dämonen- und Geistererzählungen in Ö. ist der aufgeklärte Innsbrukker Adlige O. von -» Graben zum Stein. In seinen Unterredungen von dem Reiche der Geister (t. 1 - 3 . Lpz./B. 1730-41) brachte er u. a. zahlreiche Belege aus der literar. und mündl. Überlieferung Ö.s. V. Weber (i. e. L. Wächter) publizierte Sagen der österr. Vorzeit (t. 1—2. Wien 1799/1801) mit romantischen und sentimentalen Erzählungen 4 . L. Ziegelhauser veröffentlichte eine ähnliche Slg Schattenbilder der Vorzeit (t. 1 - 4 . Wien 1844). 3. A n f ä n g e der ö s t e r r . E r z ä h l f o r s c h u n g . Die eigentlichen Anfange der Erzählforschung in Ö. sind eng mit J. Grimm verbunden 5 , der 1814 in kurhess. diplomatischen Diensten zum Wiener Kongreß reiste. Durch Vermittlung Clemens -» Brentanos traf er auf einen Kreis Gebildeter, der sich mit der Zielsetzung, populäre Überlieferungen (Volkslieder, Sagen, Schwänke, Sitten und Bräuche etc.) zu sammeln, am 28. Dez. 1814 als sog. Wollzeiler-Ges. konstituierte 6 . Das von Grimm ,im Namen und Auftrag' der Ges. gedr. Circular wegen Aufsammlung der Volkspoesie (Wien 1815) blieb allerdings fast folgenlos7. Wenn es auch das Verdienst der Brüder Grimm ist, „die österreichischen Volksforscher und Literaturfreunde zum Sammeln von Volksdichtung angeregt zu haben" 8 , so enthalten die ->· Kinder- und Hausmärchen nur wenige Texte aus dem österr. Raum 9 . Die erste eigenständige Slg aus Ö. sind F. Ziskas Oesterr. Volksmaehrchen (Wien 1822) mit 13 in Wiener Mundart nacherzählten Texten. Aus dieser Slg übernahmen die Brüder Grimm 1843 das Märchen Der Schneider und der Riese10 in nahezu wörtl. Übers, als KHM 183 (AaTh 1049: cf. Wettstreit mit dem Unhold 4- AaTh 1053: Tausend mit einem Schuß + AaTh 1051: cf. Baum biegen, fällen, tragen). Ein frühes Beispiel für die Rezeption der Grimmschen Dt. Sagen in Ö. ist das von J. von Hormayr herausgegebene Archiv für Geographie, Historie, Staats- und Kriegskunst, das im 10. Jg (Wien 1819) u. d. T. Österr. Überlieferungen aus der Gebrüder Grimm dt. Sagen ein

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knappes Dutzend Texte aus den Dt. Sagen enthält 11 . Die Brüder Grimm waren ganz allg. das „Vorbild für die Sammler in den österreichischen Alpenländern" 12 , was gleichfalls daran erkennbar ist, daß einige der frühen österr. Slgen sich bereits im Titel bewußt auf die KHM bezogen13. 4. L a n d s c h a f t l i c h e Slgen. Die österr. Landschaften sind, was das Sammeln und Aufzeichnen von Volkserzählungen betrifft, sehr unterschiedlich repräsentiert. Am intensivsten wurden Märchen und Sagen in Tirol aufgezeichnet. 4.1. T i r o l u n d V o r a r l b e r g . Auch der junge, in Meran geborene I. V. ->• Zingerle wurde durch die Grimmschen Märchen angeregt, sich während seiner Zeit als Gymnasiallehrer in Innsbruck mit Märchen und Sagen zu beschäftigen. Zusammen mit seinem Bruder J. Zingerle legte er in den folgenden Jahren mehrere Bände mit österr. Volkserzählungen vor 14 , zuerst die an das Vorbild von K. Simrocks Rheinsagen (Bonn 1841) angelehnten Sagen aus Tirol (Innsbruck 1850). Von den Kinder- und Hausmärchen aus Tirol (Innsbruck 1852) schickte Zingerle ein Exemplar als Zeichen seiner ,unbegränzten Verehrung' an J. Grimm 15 ; später bezeichnete er die Brüder Grimm gar als .Lehrer und Meister' 16 . Mit ihren Tiroler Märchen- und Sagenbänden legten die Brüder Zingerle das Fundament für die wiss. Beschäftigung mit der Volkserzählung, die über Tirol hinaus ihre Wirkung entfaltete. Zudem hatten die beiden Brüder mit ihren Korrespondenten und Gewährsleuten so intensiv gesammelt, daß späteren Sammlern in Tirol kaum mehr neue Stoffe (Erzähltypen) begegneten, und es bestenfalls gelang, Var.n bekannter Typen aufzuzeichnen. Im Tiroler Raum mit der Univ.sstadt Innsbruck konzentrierten sich um die Mitte des 19. Jh.s die Bemühungen um die Sammlung und Publ. von Märchen und Sagen17. Die von A. J. Hammerle herausgegebenen Sagen und Märchen aus Tirol (Innsbruck 1854) waren zur Hauptsache im Oberinntal gesammelt und moralisierend und im Ton der Volkserzählung überarbeitet. Die Slgen des Novellisten und Volkskundlers M. Meyer — Sagenkränzlein aus Tirol (Pest/Wien 1856) und Schiernsagen

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und -märchen (Innsbruck 1891) — stellen aufgrund der breiten Schilderungen des Volkslebens bedeutende volkskundliche Qu.η dar. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch J. N. Mahl-Schedl, Ritter von Alpenburg, der bes. durch seine Mythen und Sagen Tirols (Zürich 1857) bekannt wurde. Das Vorw. zu dieser Slg schrieb der mit Alpenburg befreundete L. - Bünker erforschte Erzählgut einer dt. Bevölkerungsgruppe im Burgenland (bis 1945 auch im angrenzenden Ungarn), der Heanzen (ursprünglich ein Neckname, wegen des häufig gebrauchten mundartlichen heanz: jetzt). Schon um die Mitte des 19. Jh.s hatte

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der Pfarrer A. Meixner in der Steiermark begonnen, Märchen zu sammeln, die er 1864 in der unveröff. Slg Des Volkes Sagen und Gebräuche niederlegte31. Einige Märchen Meixners publizierte A. Schlossar in seinen Culturund Sittenbildern aus der Steiermark (Graz 1885). Das Steir. Vk.museum in Graz bewahrt mit dem Nachlaß von F. Ferk eine wertvolle Slg von Volkserzählungen aus der 2. Hälfte des 19. Jh.s auf 32 . 4.3. K ä r n t e n . Um die Mitte des 19. Jh.s publizierte V. Pogatschnigg Märchen aus Kärnten33. F. Franziscis Märchen aus Kärnten (Klagenfurt [1884]) enthalten keine Herkunftsnachweise und sind auch in der Auswahl der Texte unkritisch. G. -> Graber veröffentlichte in seinem Band Sagen und Märchen aus Kärnten (Graz 1935) ca 20 Märchen, für die er außer dem Hinweis auf Pogatschnigg und Franzisci keine Herkunftsnachweise gibt. Der in Kärnten geborene Bünker zeichnete 1909 im Liesertal etwa ein Dutzend Märchen auf, die nur teilweise in überregionalen Slgen publiziert wurden 34 . Nach dem 2. Weltkrieg veröffentlichte E. -> Zenker-Starzacher u. a. selbstgesammelte Märchen aus Kärnten 35 . Eine kleine, aber gehaltvolle Slg von Sagen und Schwänken erhob O. Moser Anfang der 1970er Jahre bei seiner Gewährsfrau Apollonia Kreuter und legte sie mit einem einfühlsamen Kommentar in der örtlichen Mundart vor 36 . Bereits in den 50er Jahren hatte er die ca 70 Texte umfassende, vor 1950 entstandene Slg des Lehrers M. Maierbrugger aus dem Glödnitztal herausgegeben37. 4.4. A n d e r e R e g i o n e n u n d Ü b e r g r e i f e n d e s . Eine systematische Übersicht über die Entwicklung der Sagenforschung in Niederösterreich gibt J. Ginsei38: Ausgehend von Hormayrs sagenkundlichen Beitr.en in dessen Taschenbuch für vaterländische Geschichte (1811-48) skizziert er den Gang der Sammelund Publ.stätigkeit bis hin zu C. Callianos umfassender Slg Niederösterr. Sagenschatz (t. 1 - 4 . Baden 1924; t. 5. Wien 1936), die alle bis dahin aufgezeichneten ca 1450 Sagen enthält. In seinem Oberösterr. Sagenbuch (Linz 1932) publizierte A. Depiny fast 2600 Sagentexte aus gedr. und mündl. Überlieferung mit Herkunftsnachweisen zu allen Texten; diese sind

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stilistisch überarbeitet mit dem Bemühen, sie ,inhaltsgetreu und sachlich' wiederzugeben39. Im Salzburger Land und in Oberösterreich sind Märchen im Gegensatz zur Sage relativ schwach vertreten. Das bedeutet nicht, daß diese Landschaften und ihre Bevölkerung ärmer an Erzählgut gewesen wären als andere. Aber es fanden sich hier, abgesehen von K. -»· Haiding, der in den 1960er Jahren diese Lücke für Oberösterreich zu schließen versuchte40, weniger engagierte Sammler als in anderen Landschaften. Die Kinder- und Hausmärchen (Wien 1864) des aus Westfalen stammenden späteren Direktors des kaiserlichen Lehrerseminars in Wien, T. Vernaleken, enthalten u. a. auch Märchen aus Niederösterreich. Aus dem niederösterr. Bezirk Scheibs legten H. und H. Fielhauer 1975 eine umfassende Slg vor 41 . In Wien wirkten Ε. K. Blümml, der in seinen Beitr.en zur dt. Volksdichtung (Wien 1908) Volkslieder, Märchen und Sagen publizierte, sowie G. Gugitz, der in Sagen und Legenden der Stadt Wien (Wien 1952) die Erzählüberlieferung der Stadt in einer vorzüglich kommentierten Ausg. nach den Qu.n edierte. Nach dem 2. Weltkrieg waren es vor allem Haiding und K. Gaäl, die Feldforschungen durchführten und dabei Märchen und Sagen aufzeichneten. In Ö.s Märchenschatz (Wien 1953; Graz 41969, Neuaufl. Wien 1980) edierte Haiding eine ausführlich kommentierte Slg von 75 Märchen. Über drei Jahrzehnte hindurch sammelte er Volkserzählungen und gewann auf diese Weise einen repräsentativen Überblick über den Märchenbestand Ö.s. Gaäl sammelte hauptsächlich bei der magyar. Bevölkerung des Burgenlandes42. 1964-65 nahm er Erzählgut der Kroaten im südl. Burgenland auf Tonband auf; diese Slg, die auch die Biologie der Erzählstoffe in dem burgenländ. Ort Stinatz dokumentiert, enthält 57 Texte in kroat. und dt. Sprache43. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang auch die Forschungen und Slgen zur Folklore bzw. Volkserzählung der Südslaven sowie die hist. Qu.nschriften von F. S. Krauss (cf. auch ->• Anthropophyteia, -» Kryptädia). J. Knobloch dokumentierte 1943 Erzählgut burgenländ. Roma, das er während eines zehntägigen Aufenthaltes im Auffanglager Lackenbach gesammelt hatte 44 .

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Sieht man von der frühen Slg österr. Märchen von K. Haller ab 45 , gibt es neben Haidings Werk nur wenige überregionale österr. Märchenausgaben, die als repräsentativ gelten können. Nach Zaunerts Dt. Märchen aus dem Donaulande erschienen die Österr. Märchen (MdW 1979) von I. Reiffenstein mit 61 Texten sowie die neuere Ausg. von L. ->· Petzoldt, Märchen aus Ö. (MdW 1991)46 mit 74 Texten. Darüber hinaus enthalten zahlreiche Slgen ,dt. Märchen' oft auch Texte aus dem österr. Raum 47 . 1992-94 erschien eine zehnbändige Ausg. österr. Sagen, die u. a. alle Bundesländer sowie Sagen aus Salzburg und Wien umfaßt. Die Edition will einen repräsentativen Überblick über das Sagengut aller österr. Landschaften aufgrund des bisher gesammelten Materials geben48. 5. R e z e n t e E r z ä h l f o r s c h u n g . Um die Erforschung der Geschichte der österr. Volksüberlieferung haben sich bes. Haiding 49 und L. Schmidt 50 verdient gemacht. Schmidt hat in zahlreichen Veröff.en Grundlegendes zur Interpretation von Erzählmotiven und Erzählstoffen aus fast allen Gattungen der Volksdichtung beigesteuert51. L. Kretzenbacher, der seine wiss. Laufbahn in Graz begann, hat sich mit der Erforschung ostalpiner und bes. österr. Sagen- und Legendenmotive in ihren brauchtümlichen und religionshist. Zusammenhängen beschäftigt und hierzu zahlreiche Beitr.e vorgelegt52. Unter der Leitung von Schmidt wurde in den 1950er Jahren auch eine Reihe kartographischer Darstellungen zur Volkserzählung entworfen, die ζ. T. im Atlas von Niederösterreich (Wien 1951-58) und im Österr. Vk.atlas (Wien 1959-79) publiziert wurden, ζ. T. unveröff. im Österr. Museum für Vk. in Wien aufbewahrt werden53. Mit der ma. Erzählliteratur und den -» Volksbüchern54 sowie später den lat. und volkssprachlichen Marienlegenden befaßte sich der Begründer des Wiener Lehrstuhls für Rom. Philologie, A. -> Mussafia. Der Germanist Ε. A. Schönbach begründete 1873 in Graz das erste Seminar für dt. Philologie in Ö.; er beschäftigte sich bes. mit der Geschichte der dt. Predigt 55 . F. Karlinger, 1967-80 Professor für Romanistik in Salzburg, war 1966 bis in die 80erJahre (zusammen mit K. Schier) Herausgeber der Reihe Die Märchen der Weltliteratur, seine

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zahlreichen Veröff.en beschäftigen sich bes. mit Märchen und Volksbüchern der Romania. Die in Wien geborene Moser-Rath, Schülerin von Schmidt, hat in ihrer mehrfach aufgelegten Ausg. Dt. Volksmärchen. N. F. (MdW 1966 u. ö.) auch österr. Märchen publiziert. Zahlreiche Beitr.e zur österr. Erzählforschung publizierte Petzoldt 56 , seit 1985 Ordinarius am Inst, für Europ. Ethnologie/Vk. an der Univ. Innsbruck, an dem auch mehrere Projekte zur Erzählforschung in Arbeit sind (u. a. Ö.s Beitr. zur Erzählforschung; Sammler und Forscher in Ö.). Relativ wenige Unters.en österr. Forscher behandeln übergreifende theoretische Fragen der Erzählforschung 57 . Aus der jüngeren Generation österr. Erzählforscher ist vor allem I. Schneider, Innsbruck, zu nennen, der sich in zahlreichen Publ.en sowohl mit der traditionellen Erzählforschung als auch bes. mit gegenwärtig populären Gattungen und Medien beschäftigt hat 58 . An der Österr. Akademie der Wiss.en wird seit 1981 unter der Leitung von H. Birkhan ein Motiv-Index der dt.sprachigen weltlichen Erzählliteratur von den Anfängen bis 1400 erarbeitet 59 . Mit der Unters, von Volkserzählungen in einem internat. Rahmen befassen sich zwei Publ.sreihen, die von Schmidt begründete Raabser Märchen Reihe (Wien 1974 sqq.) sowie die von Petzoldt herausgegebene Reihe Beitr.e zur Europ. Ethnologie und Folklore (Reihe A: Texte und Unters.en; Reihe B: Tagungsber. und Materialien, beide Ffm. 1987 sqq.). 1

Im folgenden weitgehend nach Petzoldt, L.: Märchenforschung in Ö. In: Märchen und Märchenforschung in Europa, ed. D. RöthAV. Kahn. Ffm. 1993, 170—178; id.: Zur Geschichte der Erzählforschung in O. In: Homo narrans. Festschr. S. Neumann. Münster u. a. 1999, 23-49. - 2 cf. Petzoldt, L.: Sagen aus dem alten Ö. 1 - 2 . Mü. 1994; Cammann, A./Karasek, Α.: Volkserzählungen der Karpatendeutschen 1 - 2 . Marburg 1981; iid.: Ungarndt. Volkserzählungen 1 - 2 . Marburg 1982; Künzig, J./ Werner, W.: Volkslesestoffe aus mündl. Überlieferung. Fbg 1978 (4 Langspielplatten). - 3 Hahn, R.: „Von frantzosischer Zungen in teütsch". Das literar. Leben am Innsbrucker Hof des späteren 15. Jh.s und der Prosaroman „Pontus und Sidonia" (A). Ffm. u. a. 1990, bes. 156-158; Eleonore von Ö.: Pontus und Sidonia. ed. R.Hahn. Bielefeld 1997. - 4 cf. Grätz, M.: Das Märchen in der dt. Aufklärung. Stg. 1988, 226 sq. - 5 cf. Petzoldt, L.: Einführung in die Sagenforschung. Konstanz 1999, 29-38. -

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Schupp, V.: ,Wollzeilerges.' und ,Kette'. Impulse der frühen Vk. und Germanistik. Marburg 1983; Schmidt, L.: Die Brüder Grimm und der Entwicklungsgang der österr. Vk. In: Brüder Grimm Gedenken (1963) 309-331 ( = id.: [ed.]: Wunder über Wunder. Wien 1974, 9 - 2 8 ) . - 7 cf. Grimm, J.: Circular wegen Aufsammlung der Volkspoesie. Wien 1815. Faks. mit Nachw. K. Ranke, ed. L. Denecke. Kassel 1968; cf. Grimm DS t. 2, 564. - 8 Mailly, A. von: Die Wiener Märchen Ges. In: Österr. Rundschau 4 (1938) 2 7 - 2 9 , hier 29. - 'Schmidt (wie not. 6) 317-320 (Auflistung). - 10 Ziska, F.: Oesterr. Volksmaehrchen. Wien 1822, 9 - 1 3 . 11 Petzoldt 1999 (wie not. 1) 116. - 12 Schmidt (wie not. 6) 327. - 13Zingerle, I. V. und J.: Kinder- und Hausmärchen aus Tirol. Innsbruck 1852; iid.: Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland. Regensburg 1854; Vernaleken, T.: Kinder- und Hausmärchen. Wien 1864 (2. Aufl. u. d. T. Kinder- und Hausmärchen aus den Alpenländern. Wien/Lpz. 1896); cf. auch Geramb, V. von: Kinder- und Hausmärchen aus der Steiermark. Graz 1930 (ed. K. Haiding. Graz 5 1980). 14 Rogenhofer-Suitner, H.: Bemerkungen zu den Märchen- und Sagenslgen der Brüder Zingerle. In: Der Schiern 61 (1987) 395-412; ead. (ed.): Ignaz Vinzenz Zingerle. Meran 1992. - 15 ead.: „was kümmern uns die, welchen das Verständnis von dem werth der alten Überlieferung fehlt!" (Wilhelm Grimm). Der Briefwechsel zwischen den Brüdern Grimm und Ignaz Vinzenz Zingerle 1852-1858. In: Mittigen aus dem Brenner-Archiv 8 (1989) 4 4 - 6 6 , hier 49. - 16 ibid. - 17 cf. Petzoldt, L. (ed.): Von der Wirklichkeit des Unwirklichen. Hist, und gegenwärtige Aspekte der Volkserzählung in Tirol. Innsbruck 1992; Dörrer, Α.: Märchen und Märchenforschung in Tirol. In: Tiroler Heimatbll. 37 (1962) 104-111. - 18 Zingerle 1854 (wie not. 13) 291-299; cf. Petzoldt, L.: Die unschuldig verstoßene Ehefrau. Zur Stoff- und Überlieferungsgeschichte des Volksbuches von „Griseldis" in der mündl. Tradition. In: Festschr. H. Engels. Göppingen 1991, 6 4 - 8 2 . - 19 Strasser, P : „Ein Sohn des Thaies". Franz Joseph Vonbun als Sammler und Editor Vorarlberger Volkserzählungen. Ffm. u. a. 1993, u. a. 22, 40, 47, 69. - 2 0 Vonbun, F. J.: Die Sagen Vorarlbergs, mit Beitr.en aus Liechtenstein, ed. R. Beitl. Feldkirch 1950, 2 0 5 294. 6

Dörler, Α.: Märchen und Schwänke aus Nordtirol und Vorarlberg. In: ZfVk. 16 (1906) 278-302; id.: Sagen und Märchen aus Vorarlberg. In: Zs. für österr. Vk. 14 (1908) 8 1 - 9 6 , 155-167; cf. Petzoldt, L.: Sagen aus Vorarlberg. Mü. 1994. - 2 2 cf. Spieß, K. von: Der Mythos als Grundlage der Bauernkunst. Progr. Wien 1911; id./Mudrak, E.: Dt. Märchen dt. Welt. B. 1939. - 23 Heyl, J. Α.: Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol. Mit einer biogr. Skizze von S. de Rachewiltz. Bozen 1989. - 2 4 cf. auch Wolff, Κ. F.: König Laurin und sein Rosengarten. Höfische Märe aus den Dolomiten. Bozen (1932) '1947. - 2 5 cf. Kindl, U.: Kritische Lektüre der Dolomitensagen von Karl Felix Wolff 1—2. San 21

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Martin de Tor 1983/97. - 2 6 Rossi, Η. de: Märchen und Sagen aus dem Fassatale. ed. U. Kindl. Vigo di Fassa 1984. - 27 Fink, H.: Volkserzählungen aus Südtirol. Münster 1969. - 2 8 Petzoldt, L.: Sagen, Märchen und Schwänke aus Südtirol 1 - 2 . Innsbruck (im Druck); cf. Direder-Mai, M./Petzoldt, L.: Märchen aus Südtirol, gesammelt von Dr. Willi Mai. Bozen 1991; Petzoldt, L.: Sagen aus Südtirol. Mü. 1993. - 2 9 von Geramb (wie not. 13) 252; Kopie der Slg Pramberger im EM-Archiv, Göttingen. 3 0 Rath, E.: Studien zur Qu.nkunde und Motivik obersteir. Volksmärchen aus der Slg Pramberger. Diss, (masch.) Wien 1949, 236. 31 Graz, Steir. Landesarchiv, Hs. 1090. - 3 2 cf. von Geramb 5 1980 (wie not. 13) 251, 268. - 33 Pogatschnigg, V.: Märchen aus Kärnten. In: Carinthia 55 (1865) 307-310, 356-359, 399-404. - 3 4 cf. Petzoldt, L.: Märchen aus Ö. MdW 1991, num. 15. 3 5 Zenker-Starzacher, E.: Der Senavogel und andere Kärntner Märchen. Klagenfurt 1975. — 3 6 Moser, O.: Die Sagen und Schwänke der Apollonia Kreuter. Klagenfurt 1974. — 3 7 Maierbrugger, M.: Sagen aus dem Glödnitztal. ed. O. Moser. In: Aus Kärntens Volksüberlieferung. Festschr. G. Graber. Klagenfurt 1957, 4 0 - 1 6 8 . - 3 8 Ginsei, J.: Die niederösterr. Volkssage. Diss. Wien 1938. - 39 Depiny, Α.: Oberösterr. Sagenbuch. Linz 1932, VIII. - 4 0 Haiding, K.: Märchen und Schwänke aus Oberösterreich. B. 1969. 4 1 Fielhauer, H. und H.: Heimatkunde des Bezirkes Scheibbs. Die Sagen des Bezirkes Scheibbs. Scheibbs 1975. - 4 2 Gaäl, K.: Die Volksmärchen der Magyaren im südl. Burgenland. B. 1970. - 43id./Neweklowsky, G. (unter Mitarbeit von M. Grandits): Erzählgut der Kroaten aus Stinatz im südl. Burgenland. Wien 1983; cf. Gaäl, K.: Angaben zu den abergläubischen Erzählungen aus dem südl. Burgenland. Eisenstadt 1965. - 4 4 Knobloch, J.: Romani-Texte aus dem Burgenland. Eisenstadt 1953; cf. KöhlerZülch, I.: Die Heilige Familie in Ägypten, die verweigerte Herberge und andere Geschichten von .Zigeunern': Selbstäußerungen oder Außenbilder? In: Strauß, D. (ed.): Die Sinti/Roma-Erzählkunst im Kontext europ. Märchenkultur. Heidelberg 1992, 3 5 - 8 4 , hier 68 sq. - 4 5 Haller, K.: Volksmärchen aus Ö. Wien/Stg./Lpz. 1915. - 4 6 cf. auch Petzoldt, L.: Märchen aus Ö. Ffm. 1992. - 4 7 cf. ζ. B. Zaunert, P.: Dt. Märchen seit Grimm, ed. E. MoserRath. MdW 1981, num. 31, 37, 40,45,47, 50; MoserRath, E.: Dt. Volksmärchen. N. F. MdW 1979, num. 7 0 - 8 2 . - 4 8 Petzoldt, L.: Sagen aus Tirol. Mü. 1992; id.: Sagen aus Niederösterreich. Mü. 1992; id.: Sagen aus Wien. Mü. 1993; id.: Sagen aus der Steiermark. Mü. 1993; id.: Sagen aus Salzburg. Mü. 1993; id.: Sagen aus Kärnten. Mü. 1993; id.: Sagen aus Oberösterreich. Mü. 1993; id.: Sagen aus Südtirol. Mü. 1993; id.: Sagen aus Vorarlberg. Mü. 1994; id.: Sagen aus dem Burgenland. Mü. 1994; id.: Sagen aus dem alten Ö. 1 - 2 . Mü. 1994. - 4 9 Haiding, K.: Volksmärchenforschung in Ö. In: Gaäl, K. (ed.): Ethnographia Pannonica. Eisenstadt 1971, 9 5 - 1 0 4 . -

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Schmidt, L.: Vk. von Niederösterreich 2. Horn 1972, 605-674; cf. id.: Geschichte der österr. Vk. Wien 1951; Moser-Rath, E.: Leopold Schmidt (1912-1981). In: Fabula 23 (1982) 296-298. 51 id.: Die Volkserzählung. Märchen, Sage, Legende, Schwank. B. 1963. - 52 cf. Gerndt, H. (ed.): Leopold Kretzenbacher - Vergleichende Vk. Europas. Gesamtbibliogr. mit Reg. 1936-1999. Münster u.a. 2000. - 53 cf. Petzoldt 1999 (wie not. 1) 122 sq. 54 cf. id.: Komik der Lebenswelt und „volkstümliche" Komik vom ausgehenden Ma. bis zur Reformation. In: Der Deutschunterricht 1 (1984) 2 2 - 3 2 . 55 Schönbach, Α. E.: Studien zur Geschichte der altdt. Predigt 1 - 8 . 1896-1908. - 56 Leander Petzoldt zum 60. Geburtstag. Innsbruck 1994, 3 5 - 5 2 (Bibliogr.); Petzoldt, L.: Märchen, Mythos, Sage. Marburg 1989. - 57 cf. u. a. Haiding, K.: Träger der Volkserzählung in unseren Tagen. In: ÖZfVk. 56 (1953) 24—36; id.: Von der Gebärdensprache der Märchenerzähler (FFC 155). Hels. 1955; Schmidt, L.: Vor einer neuen Ära der Sagenforschung. In: ÖZfVk. 68 (1965) 5 3 - 7 4 ; Moser-Rath, E.: Gedanken zur hist. Erzählforschung. In: ZfVk. 1 (1973) 61—81; Petzoldt, L.: Taxonomy and Source Criticism of Oral Tradition. In: Science of Religion, ed. L. Honko. Den Haag/N. Y. 1979, 7 1 - 8 0 ; id.: Zur Phänomenologie und Funktion der Sage. In: Lares 53 (1987) 455-472; id.: Slg, Klassifikation und Dokumentation von Volksprosa. In: Innovation und Wandel. Festschr. O. Moser. Graz 1994, 279-295. 58 Schneider, I.: Traditionelle Erzählstoffe und Erzählmotive in Contemporary Legends. In: Festschr. Neumann (wie not. 1) 165-179; id.: Erzählen im Internet. In: Fabula 37 (1996) 8 - 2 7 . - 5 9 cf. Lichtblau, K./Tuczay, C.: Motiv-Index der dt.sprachigen weltlichen Erzähllit. von den Anfangen bis 1400. In: Fabula 27 (1986) 7 6 - 8 2 ; Lichtblau, K.: Index des motifs narratifs dans la litterature profane allemande des origines a 1400. In: Bulletin bibliographique de la Soc. internat. arthurienne (1985) 312-320.

Innsbruck

Leander Petzoldt

Ostjaken (Eigenbezeichnung: Chanten), finn.-ugr. Volk (Bevölkerungszahl 1989: 2 2 5 0 0 ) S e i t etwa dem 11. Jh. siedeln die O. am nordwestsibir. Strom Ob und seinen großen Nebenflüssen und leben unter harten klimatischen Bedingungen auf riesigem Raum. Ihre Erwerbszweige waren jahrhundertelang Jagd und Fischfang; seit dem 14. Jh. betreiben nordostjak. Stämme Rentierzucht, die sie von den benachbarten Nenzen (-> Samojeden) übernahmen. Die Wohnsiedlungen waren zumeist sehr klein und lagen weit voneinander entfernt, Städte gab es nur wenige. Es kam nie zu einer Staatsbildung, lediglich einige Für-

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stentümer sind aus dem 16./17. Jh. bekannt. Im 15. Jh. wurden die O. von Rußland aus kolonisiert, eine Situation, die bis in das 20. Jh. bestehen blieb. 1930 wurde durch die Sowjetunion ein Autonomer Kreis (später: Autonomes Gebiet) der Chanten und Mansen (-• Wogulen) mit der Hauptstadt Chanty-Mansijsk geschaffen, der seit 1944 zum Gebiet Tjumen gehört. Seit 1991 hat das Autonome Gebiet innerhalb der Russ. Föderation größere Eigenverantwortlichkeit. Nach jahrhundertelang gleichbleibender Lebensweise traten im 20. Jh. mit der Gründung der Sowjetunion, ihrer Nationalitätenpolitik und der damit verbundenen Bildungspolitik sowie der wirtschaftlichen Erschließung Sibiriens wesentliche Veränderungen in den Lebensbedingungen der O. ein. Ganz bes. die Entdekkung der reichen nordwestsibir. Erdöl- und Erdgaslager seit den 1960er Jahren, deren Ausbeutung mit rücksichtsloser Zerstörung der traditionellen Jagd- und Fischereigebiete einhergeht, führt zu einer existentiellen Bedrohung. Sprachlich und kulturell bilden die O. mit dem benachbarten, nah verwandten Volk der Wogulen eine Einheit, die als obugr. bezeichnet wird. Sie bildet mit dem am nächsten verwandten Ungarischen die ugr. Sprachgruppe, die zur finn.-ugr. Sprachfamilie gehört. Beide Völker gehören zum nordeuras. Kulturkreis 2 . Das Ostjakische läßt sich in eine westl. und eine östl. Dialektgruppe unterteilen. Die ausgeprägten dialektalen Unterschiede verhinderten die Herausbildung einer ostjak. Hochsprache. Das führte in den 1930er Jahren zu großen Schwierigkeiten, als eine Lit.sprache für das bis dahin schriftlose Ostjakisch geschaffen werden sollte. Die erste, 1933 geschaffene Schrift beruhte auf dem lat. Alphabet. In ihr erschienen einige Lehrbücher auf der Grundlage des Obdorsker bzw. des Kazymer Dialekts. 1937 wurde die Schrift auf kyrillische Buchstaben umgestellt. Mit der Einführung der Schulpflicht für alle Völker der Sowjetunion konform ging die Gründung von Bildungseinrichtungen weiterführenden Charakters. Ein großer Teil der älteren und viele der jüngeren ostjak. Intellektuellen setzt sich in der Gegenwart für die Erhaltung der Lebensweise, Kultur und Sprache ihres Volkes ein, u. a. durch verstärkten Schul-

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Unterricht der gefährdeten ostjak. Muttersprache (nur in entlegenen Siedlungen wird noch Ostjakisch als Verkehrssprache verwendet) sowie durch Sammeln noch lebendiger Volksüberlieferangen (Prosa-, Märchen-, Liedtexte) und deren Veröff. in einheimischen Zeitungen. 1985 wurde in Chanty-Mansijsk eine Institution, Chanty-Mansi volupsy, jasang, purmas ver ochtyjn volty nauka-artalupsy tachi (Forschungsstelle über Leben, Sprache und Wirtschaft der Chanten und Mansen), geschaffen, die sich zusammen mit ihren Tochtereinrichtungen in anderen ostjak. Städten, in Museen und einem Folklorearchiv in Belojarsk um den Erhalt und das Fortleben des ostjak. (und wogul.) Kulturguts bemüht. Erste Aufzeichnungen über die Sprache der O. stammen von europ. Forschungsreisenden des 17./18. Jh.s, wie P. J. Strahlenberg3, L. A. Schlözer4 und P. S. Pallas5. In der Mitte des 19. Jh.s unternahmen finn. und ung. Sprachforscher Reisen nach Nordwestsibirien zu den Obugriern. Die finn. Forscher A. Ahlqvist6, Μ. A. Castren 7 , K. F. Karjalainen 8 und die ung. Gelehrten A. Reguly, B. Munkäcsi und J. Päpay hielten sich in der 2. Hälfte des 19. Jh.s ζ. T. bis zu einem Jahr unter härtesten Bedingungen in ostjak. (und wogul.) Siedlungen und kleinen Städten auf und entdeckten eine reiche mündl. tradierte Folklore. So zeichnete Reguly Heldengesänge von insgesamt mehr als 17000 Versen auf, deren Inhalt jedoch erst 40 Jahre später durch Pipay (1898-99) verständlich in die ung. und dt. Sprache übersetzt und ζ. T. herausgegeben wurde 9 . Der Reichtum dieser Folklore stellt die Lieder in eine Reihe mit den finn. Liedern der -» Kaleva/a-Überlieferung. 1935 konnte der dt. Finnougrist und Ethnologe W. Steinitz noch lebendige Folklore bei den O. sammeln und veröffentlichen. Er legte erstmals wichtige Erkenntnisse über den engen Zusammenhang von Text und Melodie der Lieder verschiedener Gattungen, die stilistischen Besonderheiten sowie das Verhalten von Sängern und Sängerinnen und Zuhörerschaft während des Vortrages vor 10 . Angeregt durch Steinitz begannen 1936-37 auch seine ostjak. Schüler, Lieder und Märchen ihres Volkes aufzuzeichnen bzw. in Kenntnis der Folkloretraditionen selbstverfaßte Lieder niederzuschreiben. In den 1980er Jahren bemühten sich ostjak.

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Sprachwissenschaftler und Folkloristen verstärkt, bei alten Menschen noch vorhandenes Märchen- und Liedgut aufzuzeichnen. Auch diese teilweise nur noch bruchstückhaften Materialien werden in Archiven aufbewahrt. Die Sprache der ostjak. Folklore unterscheidet sich wesentlich von der Alltagssprache. So sind in ihrem Wortschatz zahlreiche archaische Wörter bewahrt, deren Bedeutung in der Gegenwart nicht mehr oder nur ungenau verstanden wird. Augenfälliger jedoch sind die stark strukturierten Wort- und Texteinheiten, die durch Parallelismus charakterisiert sind, sowie das Stilmittel der etymol. Figur. Die Formen des Parallelismus reichen von parallel stehenden Wörtern über Syntagmen bis zu parallel konstruierten Sätzen11. In derartigen Einheiten variieren bis zu vier Wörter mit denen in ihren Paralleleinheiten. Die Verspaare stehen in den Texten mit gebundener Sprache (Heldengesänge, Lieder) unmittelbar hintereinander oder in Doppel- oder Mehrfachpaarungen. In den Prosatexten der Märchen erscheinen gleich konstruierte Syntagmen, die bis zu fast identisch gebauten Sätzen angeordnet sind. Die parallel stehenden Texteinheiten bieten in ihrer breiten Darstellung des Inhalts einen hohen Grad von Einprägsamkeit für die Zuhörer. In jüngerer Zeit hat sich der Anteil parallel konstruierter Textgestaltung mehr in Richtung auf identische Wiederholung verschoben. Hier ist ein deutliches Schwinden der Kenntnisse der Märchen- und Erzähltraditionen zu verzeichnen. Unter einer etymol. Figur werden „zwei /und mehr/ von einem Wortstamm abgeleitete Wörter zur Hervorhebung eines Begriffes"12 verstanden. Auch die sprachlichen Möglichkeiten der morphologisch sehr reichen agglutinierenden obugr. Sprachen werden hierfür in vielfaltiger Weise genutzt.

Darüber hinaus erscheinen in allen Genres der ostjak. (und wogul.) Folklore zahlreiche traditionelle poetische Formeln, die oft sehr anschaulich und von großer dichterischer Schönheit sind. Viele von ihnen sind im gesamten obugr. Raum verbreitet (ζ. B. „Ich bin auch ein Mann mit einem Wasser, ich bin auch ein Mann mit einem Land", womit der Märchenheld sein Heimweh zum Ausdruck bringt). Parallelismus, etymol. Figuren und poetische Formeln sind wichtige Hilfsmittel für die Sänger, um die Texte aus dem Gedächtnis und improvisierend im Rahmen einer sehr alten Tradition vorzutragen. Das ostjak. Erzählgut umfaßt zahlreiche Märchen, Sagen und Legenden13. Die meisten Erzählungen sind geprägt von naturreligiösen,

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totemistischen Vorstellungen (-» Totemismus) der Ο. über die in der oberirdischen, irdischen und unterirdischen Welt lebenden Götter und Geister, die den Menschen wohlwollend oder feindlich gegenüberstehen. Sie sind die Hauptfiguren vieler Märchen. Christi. Einflüsse auf das Erzählgut sind kaum feststellbar. Nur in einzelnen Fällen ist es zu einer Überlagerung einer ursprünglich naturreligiösen Märchengestalt durch eine Gestalt der christl. Religion gekommen (ζ. B. den hl. Nikolaus) 14 . Ostjak. Märchen können in Ursprungs-, Helden-, Geister- und Tiermärchen unterteilt werden. Deren Hauptfiguren sind ζ. B. die Mos'-Frau und die Por-Frau 15 als Verkörperungen der zwei ostjak. Phratrien, wobei die Mos'-Frau als die klügere und geschicktere, die Por-Frau hingegen als die böse und dümmere charakterisiert wird. Die Mos'-Frau spielt eine bes. Rolle in den Ursprungserzählungen. Sie wird als drittes, in Menschengestalt geborenes Kind der vom Himmelsgott Torem auf die Erde gesandten Bärin betrachtet 16 . Es ist ζ. B. Aufgabe der Mos'-Frau, den O. die hl. Gestalt des Bären, des wichtigsten Totemtieres, vor Augen zu führen und die Versöhnung zwischen dem Bären (als dem hl. Totemtier) und den Menschen (den ostjak. Jägern) herbeizuführen. Eine andere, ebenfalls mit dem Bären in Verbindung stehende ostjak. Märchengestalt ist der ,Alte der Heiligen Stadt', der sich neben seiner Bärengestalt auch als ,eiserner, metallener Taucher', seiner anderen totemistischen Geistergestalt, im Geschehen des Märchens zeigen kann, um so entweder seinen Feinden zu entkommen oder zu seinem himmlischen Vater, dem Gott Torem, zu gelangen und von ihm Hilfe zu erbitten 17 . Mit ihm in engem Zusammenhang steht der ,die Welt beobachtende Mann', der auf einem weißen Pferd um die Welt reitet. Von ihm werden zahlreiche Märchen erzählt, in denen er auch als ,Neffe der Frau' erscheint. Diese beliebte Märchenfigur nahm im Laufe der Zeit unterschiedliche Züge an. So konnte der ,Neffe der Frau' als Held auftreten, aber auch Schelmenstreiche ausüben (was sich stärker in jüngerem Erzählgut findet18). Seine Tante, die ,Frau' verkörpert die höchste weibliche Gottheit der O., die Kaltas'-Frau, Geburtsgöttin und Bestimmerin des

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menschlichen Lebenslaufes19. In den Märchen versöhnt sie häufig die Gegner. Andere Figuren ostjak. Märchen sind die auf der Erde lebenden Mehk-Geister (Waldgeister; cf. Oger), die ihrem Ursprung nach Ahnengeister sind. Sie sind groß, stark, oft mit drei bis sieben Köpfen. Sie leben wie die O., werden jedoch als dumm und ungeschickt geschildert. In den Märchen gelingt es den O. stets, sie durch List zu besiegen. In den beliebten Tiermärchen spielen u. a. -» Fuchs, Wolf, Hase, ->• Maus und Rabe eine wichtige Rolle (sie alle gelten auch als totemistische Vorfahren von ostjak. Sippen). Eine bei O. und Wogulen beliebte Gattung sind aus Frage und Antwort bestehende Märchen zu Körperteilen von Tieren (Meise, Katze), die entsprechend ihren Formen mit Gegenständen des täglichen Lebens verglichen werden. Diese Märchen werden gern Kindern erzählt. Ebenfalls beliebt sind Schwankmärchen, in denen ein armer gewitzter Ostjake durch List den reichen ,Stadt-Dorf-Alten' übertölpelt 20 , häufig eine Kombination Internat. bekannter Schwänke wie AaTh 1381: cf. Die geschwätzige -> Frau + AaTh 1539: List und Leichtgläubigkeit + AaTh 1535: -» Unibos. In den ostjak. Märchenfundus haben auch Märchen anderer Völker, bes. der Russen, Eingang gefunden. Darauf weisen Motive und Milieuschilderungen hin, während sprachliche Formen ganz der ostjak. Tradition verhaftet bleiben21. Die im 19. Jh. aufgezeichneten langen Heldenlieder berichten in epischer Breite von Kriegs- und Brautraubzügen ostjak. Fürsten22. Die Helden dieser Gesänge gelten als Vorfahren einzelner Sippen und werden als Ahnengeister verehrt. Andere Lieder, die noch Steinitz in den 30er Jahren des 20. Jh.s hörte, waren Bären- und Geisterlieder23, die auf den großen traditionellen, an einen strengen Ablauf gebundenen und vier bis fünf Tage dauernden Bärenfesten der O. vorgetragen werden. Zahlreich sind auch die sog. Schicksalslieder, die von Ereignissen im Leben konkreter Personen berichten. 1 Csepregi, M.: Az osztjäkok (Die O.). In: id. (ed.): Finnugor kalauz. Györ 1998, 61; Hajdü, P./Domokos, P.: Urali nyelvrokonaink (Unsere ural. Sprachverwandten). Bud. 1980; Winter, E.: Sziberiai rokonaink (Unsere sibir. Verwandten). Bud. 1995. - 2 Pä-

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O Süilleabhäin, Seän

pay, J.: Eszaki-osztjak nyelvtanulmänyok (Nordostjak. Sprachstudien). Bud. 1910; Vertes, E.: Sziberiai nyelvrokonaink hitvilaga (Die Glaubenswelt unserer sibir. Sprachverwandten). Bud. 1990. - 3 Strahlenberg, P. J.: Das nord- und östl. Theil von Europa und Asia. Sth. 1730. - 4 Schlözer, L. Α.: Allg. Nord. Geschichte. Halle 1771. - 5 Pallas, P. S.: Linguarum totius orbis Vocabularia Comparativa 1—2. Petropoli 1786/89. - 6 Ahlquist, Α.: Ueber die Sprache derNord-O. Hels. 1880. - 7 Castren, Μ. Α.: Versuch einer ostjak. Sprachlehre nebst kurzem Wörterverz. SPb. 21858. - 8 Vertes, E. (ed.): K. F. Kaijalainens südostjak. Textsammlungen 1 (MSFO 157). Hels. 1975; Kaijalainen, K. F.: Die Religion der Jugravölker 1 - 3 (FFC 41, 44, 63). Hels. 1921/22/27. - 9 Päpay, J.: Osztjäk nepköltesi gyüjtemeny. Reguly hagyateka es sajät gyüjtese (Slg ostjak. Volksdichtung. Reguly-Nachlaß und eigene Aufzeichnungen). Bud./ Lpz. 1905; Osztjäk hösenekek. Reguly A. es Päpay J. hagyateka (Ostjak. Heldenlieder. Nachlaß von A. Reguly und J. Päpay) 1 - 3 . Bud. 1944/51/63. 10 Steinitz, W.: Ostjak. Volksdichtung und Erzählungen aus zwei Dialekten. 1: Grammatische Einl.en und Texte mit Übers.en. Tartu 1939; t. 2. Sth. 1941; id.: Ostjakologische Arbeiten. 1: Ostjak. Volksdichtung und Erzählungen aus zwei Dialekten. Texte, ed. G. Sauer. Den Haag 1975; t. 2: Ostjak. Volksdichtung und Erzählungen aus zwei Dialekten. Kommentare. ed. G. Sauer/B. Schulze. Den Haag 1976; t. 3: Texte aus dem Nachlaß. ed. G. Sauer. B./N. Y. 1989; t. 4: Beitr.e zur Sprachwiss. und Ethnographie, ed. E. Lang/G. Sauer/R. Steinitz. Bud. 1980. 11 Steinitz 1976 (wie not. 10) 29-41; Schulze, B.: Der Wortparallelismus als ein Stilmittel der (nord-) ostjak. Volksdichtung. Szeged 1988, 83, 134. - 12 Steinitz 1976 (wie not. 10) 41. - 13 Patkanov, S. K.: Die Irtysch-O. und ihre Volkspoesie 1. SPb. 1897; 2: Ostjak. Texte mit russ. LJbers., nebst Erläuterungen. SPb. 1900; Vertes, E.: Hadmenet, näszmenet. Irtisi osztjäk mesek es mondäk (Kriegszug, Brautzug. Märchen und Sagen der Irtysch-O.). Bud. 1975; id. (ed.): H. Paasonens südostjak. Textsammlungen 1 - 4 (MSFO 172-175). Hels. 1980; Lukina, N.B. (ed.): Mify, predanija, skazki chantov i mansi (Mythen, Legenden, Märchen der Chanten und Mansen). Μ. 1990; Chanty Mon'sjat - Chantyjskie skazki (Chant. Märchen). Chanty-Mansijsk 1991; Slinkina, G.: Kak mysata i ljagusata vnucatami stali. Chantyjskie skazki (Wie Maus und Frosch Verwandte wurden. Chant. Märchen). Jekaterinburg 1992; Kon'kova, Α. M.: Skazki babuski Anne. Legendy (Die Märchen der Großmutter Anne. Legenden). Wien 1993; Sengepov, Α.: Kasum iki putrat — Rasskazy starogo chanty (Die Geschichten des Alten von Kasym). SPb. 1994; Kovgan, E. V./Koskareva, N. B./Solovar, V. N.: Skazki naroda chanty (Märchen des Volks der Chanten). SPb. 1995; Solovar, V. N.: Monscat pa putrat (Märchen und Sagen). Niznevartorsk 1996; Nettina-Lapina, Μ. Α.: Legendy ο bogatyre Tek iki (Heldensagen vom TekAlten). SPb. 1997. - "Steinitz, W.: Ostjak. Gram-

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matik und Chrestomathie mit Wörterverz. Lpz. 2 1950,91. - 15 Gulya, J.: Sibir. Märchen. 1: Wogulen und O. MdW 1968, num. 3, 9; Steinitz 1975 (wie not. 10) num. 2. - 16 Gulya, J.: Torem isten nepe (Gott Torems Volk). Bud. 1960. - "Steinitz 1975 (wie not. 10) num. 21, 35. - 18 Gulya (wie not. 15) num. 19. - 19 Steinitz 1975 (wie not. 10) num. 30. 20 ibid., num. 4 (= Gulya [wie not. 14] num. 14); id. 1989 (wie not. 10) num. 2. 21 ζ. Β. id. 1975 (wie not. 10) num. 12; id. 1989 (wie not. 10) num. 1. - 22 Erdelyi, I.: Ostjak. Heldenlieder. Bud. 1972; Brautfahrten. Ein ostjak. Volksepos. Übers. R. T. Lovas. Einl. E. Vertes. Hbg 1986. 23 Päpay, J.: Eszaki-osztjäk medveenekek. Adalekok az obiugor nepek medvekultuszähoz (Nordostjak. Bärenlieder. Beitr. zum Bärenkult der obugr. Völker). Bud. 1934; Steinitz 1975 (wie not. 10) num 25. Birkenstein

Brigitte Schulze

Ο Süilleabhäin, Seän (engl. Seän O'Sullivan), * D o i r e an Locha (Derrylough), Pfarrei Tuosist, C o u n t y Kerry 30. 11. 1903, | Dublin 12.12. 1996, einer der bedeutendsten ir. Folkloristen des 20. Jh.s ( - • Irland). 0 S. erwarb 1923 die Qualifikation zum Grundschullehrer und 1934 als Externer den Bachelor of Arts in Keltistik an der Univ. L o n d o n . 1935—71 war er als Archivar bei der Coimisiün Bealoideasa Eireann (The Irish Folklore Commission) und 1 9 7 1 - 7 4 bei ihrer Nachfolgeinstitution, dem R o i n n Bhealoideas Eireann ( D e p a r t m e n t of Irish Folklore), tätig. 1945 wurde er z u m Mitglied der Royal Irish Academy (Dublin) gewählt; er w a r außerdem Mitglied der Kulturabteilung des ir. Auswärtigen Amts ( 1 9 5 9 - 7 3 ) , von An Coimisiün Logainmneacha (Ortsnamenkommission; 1 9 4 6 - 8 0 ) u n d Comhairle Radio Eireann (ir. R u n d f u n k r a t ; 1 9 5 3 - 6 0 ) sowie Registrator ( 1 9 3 6 - 8 0 ) u n d Schirmherr ( 1 9 8 1 - 9 6 ) von An C u m a n n le Bealoideas Eireann (The Folklore of Ireland Soc.). 1976 wurde ihm von der National Univ. of Ireland der E h r e n d o k t o r der Keltistik verliehen. Ο S. spielte in der Coimisiün Bealoideasa Eireann seit ihrer G r ü n d u n g im Jahre 1935 eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung von Sammelstrategien. Schulung als Archivar erhielt er 1935 in Schweden bei C. W. von -> Sydow an der Univ. L u n d und vor allem bei A. Campbell und E. Odstedt im damaligen Landsmälsarkiv an der Univ. Uppsala, dessen Klassifizierungs- u n d Katalogisierungssysteme er erfolgreich adaptierte. 1

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O Süilleabhäin, Sean

Nicht lange nach der Gründung der Kommission stellte 0 S. zwei Leitfaden für Feldforscher zusammen: das kürzere ir. Lämhleabhar Bealoideasa ([Folklore-Hb.]. Dublin 1937), das speziell für die Sammler in den ir.sprachigen Gegenden konzipiert war, sowie 1942 das monumentale Handbook of Irish Folklore2, das Feldforschern in ganz Irland als Anleitung diente und einen groben Überblick über die Themen der ir. Volksüberlieferung bietet sowie als Schlüssel für das Ordnungssystem dient, das bis heute für die ir. volkskundlichen Sammlungen benutzt wird. Außerdem stellte 0 S. auf Irisch und auf Englisch für das Schulsammelprojekt von 1937 bis 1938 einen kleinen, für Grundschullehrer und -kinder im gesamten südir. Raum gedachten thematischen Leitfaden zusammen 3 .

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Unter 0 S.s Publ.en 4 befinden sich neben einer Sammlung traditioneller Volksdichtungen im ir. Dialekt seiner Heimatpfarrei Tuosist (Diarmuid Na Bolgaighe agus α Chömhursain [Diarmuid der Pockennarbige (i. e. Diarmuid Ο Se) und seine Nachbarn]. Dublin 1937) einige kommentierte Anthologien von Volkserzählungen: Scealta Cräibhtheacha ([Religiöse Erzählungen]. Dublin 1952 [Bealoideas 21]), eine Ausw. von Erzählungen religiösen Inhalts aus den ir.sprachigen Gebieten Irlands; Folktales of Ireland (L./Chic. 1966); The Folklore of Ireland (L. 1974); Legends from Ireland (L. 1977).

Ο S. untersuchte die ir. Var.n von zwei internat. verbreiteten Erzähltypen, AaTh 985: Bruder eher als Gatten oder Sohn gerettet5 und 0 Süilleabhäin/Christiansen 2412 E: Danish Heather Beer6. Auf dem Gebiet der Sage beIm Handbook of Irish Folklore wird die Erfaßte er sich u. a. mit den ir. Glaubenssagen zähltradition bes. in Kap. 13 behandelt. Feldüber den Teufel7, den Beziehungen zwischen forscher sollen nach den Erzählern und ihrer Lebenden und Toten in ir. Sagen8 und verKunst — Text, Kontext und Performanz — fraschiedenen Erzählungen über die Welt der Faigen sowie nach den verschiedenen Gattungen ries, der Toten und Todesomina aus dem Südder Volkserzählung. Von ungefähr 300 Beiosten Irlands 9 sowie mit Sagen exemplarischen spielen internat. verbreiteter Geschichten, die Charakters über die Vergeltung für falsche Tain Irland erzählt werden, fertigte Ο S. für die ten oder Worte 10 . Daneben stellte er einen vorFeldforscher Zusammenfassungen an. Auf- läufigen Katalog ir. Ursprungssagen zusamgrund der großen Sammelerfolge konnte er zu- men 11 . Geschichtliches findet sich in der Besammen mit dem norw. Erzählforscher R. T. wertung der Sagen über Oliver Cromwell als -> Christiansen einen Katalog mit ca 43 000 volkstümliche Kristallisationsgestalt des Var.n von ca 700 internat. verbreiteten Erzähl- Bösen12 und den Überlieferungen über den Fetypen, die in Irland bis Ende 1956 aus mündl. nieraufstand von 1867 in Süd-Kerry 13 . Überlieferung oder gedruckt belegt waren, zuIn den 60er Jahren gab er in einer ir.sprachisammenstellen (The Types of the Irish Folktale gen Artikelserie einen Überblick über die Ent2 [FFC 188], Hels. 1963 [ 1967]). wicklung und theoretische Ausrichtung der Ο S. nahm in das Handbook zur Instruktion volkskundlichen Forschungen in Deutschder Feldforscher auch Zusammenfassungen land 14 , Skandinavien und Finnland 15 , Rußvon Erzählungen auf, die der einheimischen ir. land 16 sowie Italien, Spanien und England 17 . Überlieferung angehören — Erzählungen aus Er beschäftigte sich mit dem Wesen und der dem -> Ulster- und dem Finnzyklus und ro- Funktion der Volksüberlieferung18 und den mantische Heldenerzählungen —, sowie an- Beziehungen zwischen der Folkloristik und dere Zauber-, Tier- und Novellenmärchen, anderen Fächern 19 . Interdependenzen zwiSchwänke und Ursprungserzählungen, die of- schen Volkserzählung und Lit. ging er nach, fenbar ir. Typen oder Ökotypen sind; darüber indem er den Gebrauch von Märchen und einhinaus machte er auf Cante fables, Lieder und zelnen volkstümlichen Erzählmotiven bei beMelodien, Gebete und Zaubersprüche, Sprich- rühmten Autoren der ägypt., babylon., assyr., wörter und Rätsel aufmerksam. Eine prä- griech., lat., engl., span., lett., finn., norw., gnante Darstellung der Erzähltradition in Ir- schwed., dän., ital., dt., frz. und russ. Lit. auf20 land und der Gattungen der ir. Volkserzählung zeigte ; er untersuchte den Gebrauch volkstümlicher Überlieferungen durch die ir.sprabietet Ο S. in Storytelling in the Irish Tradition chigen Schriftsteller von Corca Dhuibhne in (Cork 1973).

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Oswald, Hl.

West-Kerry21 und lieferte eine umfassende Aufstellung des volkskundlich relevanten Inhalts der Prosawerke des anglo-ir. Schriftstellers John Millington Synge (1871-1909) 22 . 0 S., der die letzten großen ir. Volkserzähler des 20. Jh.s gut kannte, schrieb auch über die berühmte Erzählerin von den Blasket Islands, Peig Sayers23. 1 0'Sullivan, S.: The Collection and Classification of Folklore in Ireland and the Isle of Man. In: FL 68,4 (1957) 449-457; 0 S., S.: Research Opportunities in the Irish Folklore Commission. In: JFI 7,2-3 (1970) 116-125; Lysaght, P.: S. 0 S. (1903-1996) and the Irish Folklore Commission. In: WF 57 (1998) 137-151. - 2 0 S., S.: A Handbook of Irish Folklore. Dublin 1942 (Faks. Nachdr. Hatboro, Pa 1963, Detroit 1970, 1971). - 3 id.: Bealoideas Eireann. Dublin 1937; id.: Irish Folklore and Tradition. Dublin 1937. - 4 0 Danachair, C.: A Bibliogr. of Irish Ethnology and Folk Tradition. Cork/Dublin 1978, 87-89; Danaher, K./Lysaght, P.: Suppl. to a Bibliogr. of Irish Ethnology and Folklore. In: Bealoideas 4 8 - 4 9 (1980-81) 206-227. - 5 0 S., S.: An Bhean do Thogh a Diorthäir (The Woman Who Chose Her Brother). In: Eigse 2 (1940) 24-30. 6 id.: An Bheoir Lochannach (The Viking Beer). In: Irisleabhar Muighe Nuadhat (1961) 97-102. - 7 id.: The Devil in Irish Folk Narrative. In: Volksüberlieferung. Festschr. K. Ranke. Göttingen 1968, 275-286. — 8 id.: Didactic Legends from Ireland. In: Miscellanea. Festschr. K. Peeters. Antw. 1975, 509-514. 9 id.: Cnuasach Deiseach (A Deise Collection). In: Bealoideas 9 (1939) 38-46. - 10 id.: Dioltas i nDroch-Bhirt (Retribution Follows Wrong Acts). In: Bealoideas 39-41 (1971-73) 251-265; id.: Nemesis Follows Wrong Acts. In: Arv 29-30 (1973-74) 36-49. 11 id.: Etiological Stories in Ireland. In: Medieval Literature and Folklore Studies. Festschr. F. L. Utley. New Brunswick, N. J. 1970, 257-274. - 12 id.: Oliver Cromwell in Irish Oral Tradition. In: Folklore Today. Festschr. R. M. Dorson. Bloom. 1976, 473—483. — 13 id.: The Iveragh Fenians in Oral Tradition. In: Univ. Review 4,3 (1967) 216-226. 14 id.: Bua Eagarthöireachta na nGearmanach (The Advantage of the German Editorial Method). In: Feasta 19,11 (1967) 5 - 8 . - 15 id.: Morshampla na Scaindinaive (The Great Example of Scandinavia [in Folklore Studies]), ibid. 19,12 (1967) 5 - 8 . - 16 id.: Suim na Rüiseach sa tSoicheolaiocht (Russian Interest in Sociology), ibid 20,1 (1967) 9-11. - 17 id.: An Iodäil, An Späinn, Sasana (Italy, Spain, England), ibid. 20,2 (1967) 5 - 7 . - 18 id.: The Scope of Folklore Studies. In: Ulster Local Studies 2,1 (1976) 3 - 1 0 . - 19 id.: The Scope of Folklore Studies (Part 2). ibid. 2,3 (1977) 6 - 1 7 . - 20 id.: Bealoideas mar Adhbhar Litriochta (Folklore as Material for Literature). In: Studia Hibernica 2 (1962) 221-228. -

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21

id.: Litriocht Chorea Dhuibhne agus an Bealoideas (The Literature of Corca Dhuibhne and Folklore). In: Eire-Ireland 6,2 (1971) 66-75. - 22 id.: Synge's Use of Irish Folklore. In: Harmon, M. (ed.): J. Μ. Synge. Centenary Papers 1971. Dublin 1972, 18-34. - 23 id.: Peig Sayers. In: Eire-Ireland 5,1 (1970) 86-91.

Dublin

Patricia Lysaght

Oswald, HI., * urn 604, f bei Maserfield 5. 8. 642, einer der -» Vierzehn Nothelfer, Förderer des Christentums und vor allem der ir.schott. Kirche, Fest 5. (oder 9.) Aug.1 O. war nach dem Tod seines Vaters Ethelfrid 634-642 König von Northumbria. Schon in seiner Jugend im Kloster Hy getauft, wirkte er eifrig für die Missionierung seines Volkes. Nach seinem Tod im Streit mit dem heidnischen König Penda von Mercia wurde er als Märtyrer verehrt. Die von Beda Venerabiiis in seiner 731 abgeschlossenen Historia ecclesiastica gebotene Lebensgeschichte (3,1-3, 6 - 7 , 9 - 1 3 ; 4,14) weist bereits alle Züge einer ausgebildeten kirchlichen Legende auf: fromme Herrschaft, selbstlose Mildtätigkeit, Heidenkampf, Märtyrertod, Grab- und Reliquienwunder2. Durch ir., vor allem durch ags. Missionare gelangte der O.kult frühzeitig auf das Festland: zunächst schon durch Willibrord (690) nach Friesland und weiter nach Flandern. Klöster und Stifte wie Echternach, Fulda, Herford, Gandersheim oder Trier markieren den Weg, auf dem die Verbreitung vor allem in südöstl. Richtung, aber auch rheinaufwärts in den bayer. und alemann. Süden erfolgte. In St. Galler Kaiendarien ist das Fest des hl. O. seit Mitte des 10. Jh.s bezeugt3. Bei der Vermittlung in den Alpenraum, bes. nach Tirol, war offenbar das in Tirol begüterte weifische Kloster Weingarten von Bedeutung4. Die in Tirol den O.kult fördernden Grafen von Eppan wiederum waren ihrerseits mit den Weifen verwandt 5 . Von der großen Beliebtheit des Heiligen im Süden zeugen zahlreiche O.-Patrozinien, die sich im Alpenbogen von der Schweiz bis ins Burgenland ziehen; in Tirol ist der Rufname O. bis heute gebräuchlich. Vermutlich um 1170 entstand im bayer. Raum, vielleicht in Regensburg (mit weifischer Förderung?), eine Spielmannsdichtung von 3564 Versen um König O. 6 Überliefert ist sie

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Otho, Johann Jacob

nur in Hss. des 15. Jh.s, wobei sie bis dahin im Laufe ihrer Tradierung nicht ohne Veränderungen geblieben ist. Über die ursprüngliche Form der Dichtung ist nichts auszumachen. Sie ist von der kirchlichen Legende unabhängig, obgleich einerseits der Anstoß zu ihrer Abfassung zweifellos von dem in Süddeutschland blühenden O.kult ausgegangen ist und die Dichtung andererseits dann wieder in den adligen Rezipientenschichten sehr zur Verehrung des Heiligen, dem man sich als einem ritterlichen Standesgenossen nahe fühlen konnte, beigetragen hat. Als Verf. hat man einen Geistlichen anzunehmen, der aus dem umlaufenden Schatz spielmännischer narrativer Motive und Strukturformeln zu schöpfen wußte: Der junge König O. sucht eine Frau. Auf himmlischen Rat hin wirbt er — mit einem sprechenden -» Raben als Boten - über See um eine heidnische, aber heimlich bereits dem wahren Glauben zugetane Prinzessin, die er mit göttlichem Beistand aus der Gewalt ihres christenfeindlichen Vaters entführt (-• Brautraub, Entführung): Um den mißtrauischen Heiden aus seiner Burg wegzulocken, stellt O. einen über und über mit Gold aufgeputzten Hirsch an den Burggraben, auf den der verblendete König in der Tat alsbald zur Jagd bläst, so daß die Prinzessin zu O. fliehen kann.

Die nach traditionellem Schema angelegte Brautwerbung wird so von vornherein zur gottgewollten, mit -> Kreuzzugselementen durchzogenen Aktion umgebogen, das aufregend-unterhaltsame Abenteuer wird zur frommgetönten Erzählung: Der den Flüchtigen mit Heeresmacht übers Meer nachsetzende Heidenkönig wird in einer blutigen Schlacht besiegt und schließlich samt seinen getöteten, aber von O. wiedererweckten Kriegern zum Christentum bekehrt. König O. kehrt mit seiner Frau nach England zurück. Sie führen eine keusche Ehe. -> Christus selbst kommt in Gestalt eines Bettlers zu O. und verheißt ihm die spätere Aufnahme unter die Vierzehn Nothelfer. Gemeinsam finden O. und seine Frau ein gottseliges Ende und werden von Engeln in die ewige Seligkeit eingeholt.

Der in der Ikonographie als Attribut des Heiligen seit dem späteren 14. Jh. 7 begegnende Rabe stammt aus dieser spielmännischen Dichtung, die bereits um 1200 an der Burgkapelle von Hocheppan (Südtirol) einen Niederschlag (Jagd des Heidenkönigs auf den goldenen Hirsch) gefunden hat 8 . Die facettenreiche Wechselwirkung zwischen der Spielmannsdichtung und der kirchlichen Legende zeigt

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sich in einer spätma. schles. Bearb. der O.dichtung mit stärker geistlich-legendären Zügen 9 . In nachma. Zeit und in der Gegenwart erfolgt die Verehrung O.s vorwiegend in bäuerlichen Gebieten, wo der Heilige bes. als Ernte- und Viehpatron geschätzt ist, aber gelegentlich auch bei Heirats- und Eheproblemen bemüht wird. 1 Rollason, D. W.: O. In: Lex. des MA.s 6. Stg./Weimar 1999, 1549 sq. - 2 Bedae Venerabiiis Historia ecclesiastica gentis Anglorum/Beda der Ehrwürdige: Kirchengeschichte des engl. Volkes 1 - 2 . Übers. G. Spitzbart. Darmstadt 1982. - 3 Munding, E.: Die Kaiendarien von St. Gallen 1 - 2 . Beuron 1948/51, bes. t. 2, 86; grundlegend Curschmann, M.: Der Münchener O. und die dt. spielmännische Epik. Mü. 1964, 171-174. - "ibid., 177-181. - 5 Masser, A./ Silier, M.: Der Kult des hl. O. in Tirol und die ,Hirschjagd' der Burgkapelle von Hocheppan. In: Der Schiern 57 (1983) 55-91. - 6 Curschmann, M.: Münchner O. In: Verflex. 6 (21987) 766-772; id, (ed.): Der Münchner O. Tübingen 1974. - 7 cf. Vizkelety, Α.: Der Budapester O. In: Beitr.e zur dt. Sprache und Lit. 86 (1964) 107-188, bes. 131-140 (mit Abb.en); id.: O. König von Northumbrien. In: LCI 8 (1976) 102 sq. - 8 Masser/Siller (wie not. 5) bes. 87-91. - 'Fuchs, G. (ed.): Der Wiener O. Breslau 1920 (Nachdr. Hildesheim/N. Y. 1977); zu mehreren spätma. Prosafassungen cf. Curschmann, M.: O. In. Verflex. 7 (21989) 126-128; ferner Vizkelety 1964 (wie not. 7).

Innsbruck

Achim Masser

Otho, Johann Jacob, * Schwäbisch Hall 17. 11. 1629, f ebenda 9. 3. 1669, evangel. Postillen-, Erbauungs- und Exempelautor, Sohn eines Tuchmachers. 1648-50 Studium der Theologie in Straßburg, u. a. bei dem berühmten Homileten J. C. Dannhauer; erste Pfarrstelle in Enslingen, ab 1654 Diaconus in Gaildorf (Grafschaft Limpurg), mit Zuweisung der Seelsorgestelle in Münster. Die Berufung zum Hofprediger in Schmittfeld konnte er nicht mehr antreten 1 . Neben seinen Büchern Göttlicher SalzSchatz (Schwäbisch Hall/Nürnberg 1669), Concionum Miscellanearum Decas (Schwäbisch Hall 1669 [1674]), Erkenntnis Gottes und seiner selbst (Augsburg 1679 [1692]), Kgl. Priesterthum (Nürnberg 1692), Danck- und BethHertz (s.l., s. a.) sind für die Erzählforschung wegen ihrer Beispielfülle am wichtigsten: die

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Otho, Johann Jacob

beiden Postillen Evangel. Kranckentrost von 1665 mit 17 Aufl.n in sechs verschiedenen, später um den wiss. Apparat verkürzten Ausg.n bis 1851 sowie Tugendsteg und Lasterweg (-> Tugenden und Laster) aus seinem Todesjahr 1669 mit nur einer weiteren Aufl. 1701 und einem Porträtkupfer. Die meisten sind bei Endter in Nürnberg gedruckt worden, die Aufl.n des 19. Jh.s in Reutlingen. Der Krankkentrost, auf den vor hundert Jahren schon einmal die Kirchengeschichtsschreibung aufmerksam gemacht hat 2 , enthält 61 Lieder aus der Feder des Autors; davon ist eines {Du Leib- und Seelenartzt) in das Colditzer Gesangbuch von 1714 eingegangen 3 . Evangel. Krancken-Trost, Aus Allen Sonn- und Fest-täglichen Evangelien dergestalt aufgesuchet, daß in einer jeden Predigt der Eingang und Schluß mit denckwürdigen alt- und neuen Geschichten und Christi. Valet-Reden allerhand vornehmer Personen gemachet [...] und denn die Haupt-Lehr, samt dem Gebrauch, meistentheils auf die selige Sterb-Kunst, liecht und leicht appliciret [...] An Statt Einer Hist. Spruch- und Haus-Postill [...]. Nürnberg 3 1671. Tugend-Steg und Laster- Weg. Das ist: Gründ- und Buchstäbliche Erklärung Aller Sonn- und Festtäglichen Evangelien, Da in einer jeden Predigt Eingangs ein Prophetisches Vorbild anmuthig betrachtet, darauf der gantze Text summarisch erläutert, denn eine sonderbare Christentugend samt ihren widrigen Untugenden, ausführlich beschrieben, und der heilsame dreyfache Gebrauch deutlich gezeiget, endlich aber mit einem schriftmäßigen, andächtigen Gebet der Schluß gemachet wird [...]. Nürnberg 1669 (21701).

Diese beiden Bücher enthalten zusammen 1081 (455/626) geschichtliche Erzählungen und Aussprüche, meistens mit Qu.nangaben aus der zeitgenössischen hist., theol. und humanistischen Lit., worüber der 1992 von W. Beck publizierte Regestenkatalog mit Qu.nauflösungen und Registern genauer informiert 4 . Seine Erarbeitung hat zugleich eine erw. Definition des gängigen Exempelbegriffs (-• Exemplum) notwendig gemacht. Gerade im Erfolgstitel Kranckentrost dominieren vielerlei Gattungen als Illustrationsmaterien, nicht allein die traditionellen Beispielgeschichten, zu der bekanntlich jedes Genre im entsprechenden Gebrauch werden kann. Bei O. stehen dort im Mittelpunkt die den Apophthegmata ähnlichen .letzten Worte' hochgestellter Persönlichkeiten, wie sie erst jüngst von der Lit.wissenschaft als elaborierte Textsorte wiederentdeckt worden sind 5 . Beck un-

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terscheidet zwischen Textebenen und Funktionsbereichen und schlägt daher für beschreibende Kategorisierungen vor, die folgenden fünf analytischen Aspekte zu bedenken: (1) die Stellung des Exempels im Kontext; (2) den quantitativen Einsatz; (3) die Funktionalität (und ihre Relation zu [1], bei Ο. ζ. B. die größere Ausführlichkeit bei jüngeren Geschichten wegen ihrer Aktualität); (4) die Erzähltendenzen; (5) die intentionalen und inhaltlichen Wechselbeziehungen. Die Anzahl der zitierten Qu.n ist gewaltig; dabei läßt sich keine ausmachen, aus der O. bevorzugt exzerpiert haben könnte. Aus unterschiedlichen Werken zeitgenössischer Autoren sind meist nur bis zu zwei Belege entnommen, während das 16. und 17. Jh. sowie die klassische Antike die hauptsächlichen Beispielepochen bilden. Ausnahmen sind die Leichenpredigten Valerius -» Herbergers und die Postillen von Gregor Strigenitz (1548-1603) 6 . An Exempelkompilationen hat O. lediglich des C. - Witwe. - 133-138 = AaTh 1591: Die drei -> Gläubiger. — 161-165 = Alter Ehemann geht in Frauenkleidung zum nächtlichen Stelldichein und wird im Dunkeln verprügelt (Mot. Κ 1514. 4. 1). - 177-179 = Listiger Normanne entwendet seinem Nachbarn ein geschlachtetes Schwein. - 196 sq. = Rache eines Mannes, dem man mit Gewalt ein Klistier verabreicht hatte. - 294 sq. = AaTh 924: cf. ->· Zeichendisput. 2, 26-36 = Lazare als Diener eines geizigen Geistlichen (= Lazarillo de Tormes, Kap. 2). 36-40 = Fürst betrügt ältlichen Notar mit dessen junger Frau. - 40-42 = Schuster wird für Bräutigam gehalten und erschleicht sich Beischlaf. - 87 sq. = Geistlicher bleibt bei endlos langer Predigt als einziger in der Kirche zurück. - 125 sq. = AaTh 1365 B: cf. Die widerspenstige -» Ehefrau. - 128—135 = Prahlereien von Gascognern und Spaniern. 170-174 = AaTh 1526 A: Supper Won by α Trick (cf. - Zechpreller). - 183-191 = AaTh 1641: Doktor Allwissend. — 191-195 = Liebestolle junge Ehefrau überfordert ihren Gatten; dieser läßt sich zum Schein entmannen. - 198-255 = AaTh 1406: -» Wette der Frauen, wer den Mann am besten narrt. - 255-265 = Pedant wird von Liebesleidenschaft geheilt: mit als Frau verkleidetem Diener im Bett, anschließend durch Prügel von der Dienerschaft. 271 sq. = AaTh 1358*: cf. -» Ehebruch belauscht. 286-291 = cf. AaTh 1355 B, 1358 C: Ehebruch belauscht.

Catalogue general des livres imprimes de la Bibl. Nationale 128. P. 1934, 492-494; NUC, Pre-1956 Imprints 325 (1974) 609. - 4 L'Elite des contes du sieur d'O. 1 - 2 . ed. G. Brunet. P. 1883, IV. - 5 Band- und Seitenangaben nach Brunet (wie not. 4). - 6 ibid.; Brunet nennt in seinen Anmerkungen einige mögliche Qu.n d'O.s. - 7 ibid., VI. - 8 ibid., III. '' Koopmans, J./Verhuyck, P.: Een kijk op anekdotencollecties in de zeventiende eeuw. Jan Zoet: Het Leven en Bedrijf van Clement Marot. Amst./Atlanta, Ga 1991, 273-316. Göttingen

Wilhelm Graeber

Ovid 1. Leben und Werk — 2. Bedeutung für die Geschichte und Poetik des Erzählens — 3. Stoff- und Motivbereiche 1. L e b e n u n d W e r k . O. (Publius Ovidius Naso), * Sulmo (Abruzzen, heute Sulmona) 20. 3. 43 a. Chr. n., f Tomis (heute rumän. Constanta) 17 (18?) p. Chr. η., röm. Dichter 1 . O., Sohn eines röm. Ritters, studierte in Rom und wurde Anwärter auf ein Senatorenamt, verzichtete aber, um ungestört dichten zu können. Seine Liebesdichtungen machten ihn in den beiden Jahrzehnten v. u. Z. berühmt: Die Amores boten eine Sammlung von Gedichten und die Heroides 21 als Briefwechsel mythol. Paare gestaltete Liebesgeschichten, die Ars amatoria und die Remedia amoris gaben sich als Lehrbücher der Liebe. Im Jahre 8 p. Chr. n. wurde O., angeblich weil seine Ars amatoria gegen die öffentliche Moral verstieß, ans Schwarze Meer nach Tomis verbannt. Zu diesem Zeitpunkt waren die Metamorphosen (M.) fast fertiggestellt, aber noch nicht veröffentlicht, die Fasti zur Hälfte gediehen. Die 15 Bücher der M. bieten mit ca 250 ineinander verwobenen Verwandlungsgeschichten ein quasihist., vom Urchaos bis zur Augusteischen Zeit angeordnetes Panorama der antiken Mythologie. Die sechs Bücher der Fasti behandeln in einem Elegienzyklus den röm. Festkalender der ersten sechs Monate. Die in Tomis entstandenen Gedichte, vor allem die Tristia und die Epistulae ex Ponto, thematisieren das Schicksal der Verbannung und erstreben eine Rehabilitierung, die O. nicht gewährt wurde.

1

Armas, F. A. de: Antoine Le Metel, Sieur d'O. The „Lost Years". In: Romance Notes 14 (1973) 538-543. - 2 Diet, des lettres fran?aises. 17e siecle. Rev. Neuaufl. ed. P. Dandrey. P. 1996, 955 sq. - 3 cf.

2. B e d e u t u n g f ü r d i e G e s c h i c h t e u n d P o e t i k d e s E r z ä h l e n s . O.s Wirkung ist

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Ovid

schwerlich zu überschätzen, aber schwer einzuschätzen2. Als einer der aurei auctores prägte er die literar. Kultur aller europ. Sprachräume, in denen Latein gelernt wurde. Für die Erzählkultur von überragender Bedeutung sind die M., daneben auch die Heroides, weniger die Fasti und die anderen Gedichte. ,Im Zeichen O.s' 3 hat sich im 12./13. Jh. der Aufbruch der volkssprachigen Lit. Westeuropas vollzogen4. Unmittelbar zugänglich waren seine literar. Techniken zuerst allerdings nur für die gelehrte Welt der Latinitas 5 . Sie haben sich auf dem Weg über zahllose Schulexzerpte und Florilegien in die volkssprachige Lit. verbreitet. Die lat. Poetiken des 12. Jh.s demonstrieren die Erneuerung bereits gestalteter Stoffe, die eine Hauptaufgabe des Dichters sei, mit Vorzug an ovidischen fabulae 6 . Solange in der Schule der „Grammatik- und Literaturunterricht [...] zugleich als Lehrgang der Moral galt" 7 , waren die aus O. gezogenen oder ihm zugewiesenen fabulae allgegenwärtig. Sie erfaßten narrativ die Eigenschaften der menschlichen Natur (Liebe, Haß, Neid, Eifersucht) und rückten sie in den umfassenderen Zusammenhang naturkundlicher und kosmischer Erscheinungen. Wie in der Lyrik war auch in der Epik O. vorbildlich für die Kunst, menschlichen Empfindungen sprachlichen Ausdruck zu geben und Atmosphärisches narrativ zu gestalten. Dies gilt ζ. B. für die Verwendung populärer und sprichwörtlich gewordener Redewendungen wie ,Steter Tropfen höhlt den Stein' {Ex Ponto 4,10,5) oder von Erzählgesten (nicht vorhandenen Staub vom Kleid einer Angebeteten wischen als Geste der Annäherung, cf. Ars amatoria 1,151). Das Carmen perpetuum der M. (cf. M. 1,4) nimmt die hellenistische Tradition des Carmen deductum auf und schafft gleitende Übergänge zwischen Groß- und Kleinepik. Zweifelhaft ist, wieweit O. mündl. Überliefertes aufgegriffen hat. Seine raffinierte Durchgestaltung ist von der .Volkserzählung' denkbar weit entfernt. Doch im artifiziellen Inszenieren von Erzählanlässen und Erzählsituationen reflektiert sein (Euvre tatsächliche Erzählgewohnheiten. Die Spinnstube als Erzählort erscheint in M. 6,5—145 (Arachne), in Fasti 2,741 - 7 5 6 ( - Lucretia), in Heroides 9,73-102 (Hercules bei Omphale; -• Herakles) und in M. 4,32-388 (Minyaden). Die Situation

abendlicher Unterhaltung bildet in M. 8,547-9,88 ( - Theseus bei Achelous) und M. 12,159-579 (Festmahl nach dem Sieg des -» Achilleus über Cygnus) den Rahmen. Kennzeichnend für O. ist das ein Sujet umspielende, zugleich abkürzende und andeutende Erzählen. Seine Anspielungen und Querverweise rechnen mit einem Publikum, dem die Materie vertraut ist. Als ein Kompendium der Mythologie war deshalb seine Dichtung nur bedingt zu brauchen. In Spätantike und MA. tritt neben seine Texte eine Handbuchliteratur mythol. Stoffe, die teils aus O., teils aus anderen Quellen zusammengestellt ist8. Hyginus' Fabulae, die seit dem Erstdruck 1531 eine Hauptinformationsquelle zur antiken Mythologie waren und über B. Hederichs mythol. Lex. für die dt. Antikenrezeption des 18. und 19. Jh.s wichtig wurden, fußen wahrscheinlich auf einem griech. Kompendium und haben trotz vieler Stoffgleichheiten mit O. wenig Berührung 9 . O.-Kommentare übernehmen im MA. und in der Neuzeit die Aufgabe, neben allegorischer, moralischer, religiöser oder physikalischer Ausdeutung die einzelnen Geschichten in Argumenten zusammenzufassen und zu ergänzen, so daß sie als in sich geschlossene Einheiten ausgegliedert und weitergegeben werden können: ζ. B. Lactantius Placidus, Narrationes fabularum Ovidianarum (5./6. Jh.?), M.-Kommentar des Manegold von Lautenbach (Ende 11. Jh.), Accessus-Slg aus Tegernsee (12. Jh.), Johannes von Garlandia, Integumentum Ovidii (um 1234), Petrus Berchorius, Ovidius moralizatus (um 1340)10 und der Auszug aus Berchorius u. d. T. Libellus de imaginibus deorum (um 1400), ,das wichtigste rein weltliche Götterhandbuch der Frührenaissance' 11 . Giovanni del Virgilio will mit seinen Metamorpheos vulgare die einfachen Leute erreichen12. In den Schulbibliotheken des 16. Jh.s verbreitet waren die mit Argumenten versehenen Ausg.n des 16. Jh.s von Raphael Regius, Jacobus Micyllus, Gregorius Bersmanus und auch der Kommentar des Gerhard Lorichius (dt. mit Georg Wickrams M.-Bearb. 1545 u. ö.) 13 . 3. S t o f f - u n d M o t i v b e r e i c h e . Die aus Kompendien ausgekoppelten Einzelepisoden führten ihr Eigenleben und waren, immer wieder umgestaltet, viel verbreiteter als die direk-

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Ovid

ten Übernahmen aus O.s Texten, so ζ. Β. -> Midas (AaTh 775, 782; Μ. 11,146-193). Prominent treten Liebesgeschichten hervor, ζ. Β. -» Pyramus und Thisbe (M. 4,55—161), -> Hero und Leander (AaTh 666*; Heroides) oder -> Pygmalion (M. 10,243-297). Auch die Geschichten von Dido und Äneas (Heroides), Paris und -» Helena (Heroides), Narziß und - Echo (M. 3,341-510), - Medea und - Jason (M. 7,9-424, auch Heroides), Byblis (M. 9,545-665), Myrrha (M. 10,298-514) und Phyllis (Heroides) scheinen schon früh als Einzelerzählungen umgelaufen zu sein. Ihre Namen werden gleichsam als Kennmarken unglücklicher Liebe genannt. Weitere oft verselbständigte Liebesgeschichten sind die von -» Orpheus und Eurydike (M. 10,1-77), Apoll und Daphne (Μ. 1,452-567), -» Venus und Adonis (Μ. 10,503-739) sowie Acis und Galatea (Μ. 13,750-817). D u r c h O . s M. w e s e n t l i c h g e p r ä g t e myt h o l . M a t e r i e n (Ausw.): M. 4,671-5,236 = Andromeda (-> Perseus). - 10,560-707 = -> Atalante und Hippomenes. — 12,210-535 = Centauri (-» Fabelwesen). — 7,406—431 = -» Cerberus. 14,244-415 = -> Circe. - 4,611-5,29 = - Danae. - 8,183-235 = - Dädalus und Ikarus. - 5,109 u. ö. = Ceres (-> Demeter). - 12,39-63 = Fama (-> Gerücht). - 9,787-813 = Fames ( - Hunger, Hungersnot). - 2,140 u. ö. = - Fortuna. - 12,171-209, 459-531; 9,666-797; 4,288-388 = - Geschlechtswechsel (Caenis; Iphis; Hermaphroditus). 1,151-162 = Giganten (-» Riese, Riesin). 1,89-150 = Goldenes Zeitalter. - 4,699 u. ö. = - Helena. - 7,13, pass. = Hercules. - 2,760-770 = Invidia ( - Neid). - 8,385-414 = AaTh 1187: Meleager. - 8,152-158 = Minotaurus (AaTh 874*: Ariadne-Faderi). — 4,304 u. ö. = Naiades (-• Wassergeister). — 11 — 14, pass. = Nereides. — 13 sq., pass. = Ulixes (Odysseus, -» Homer). - 10 sq., pass. = Orpheus. - 5,255-265 = -» Pegasus. - 4 sq., pass. = Peleus. - 6,403-411 = -> Pelops. - 4 sq., pass. = Perseus. - 15,391-407 = -» Phönix. 13,740-884; 14,160-220 = AaTh 1135-1137: Polyphem. - 1,438-444 = Python (-> Schlange). 14, pass. = Romulus und Remus. — 14,104-155 = Sibylla. - 5,551-563 = - Sirenen. 1,253-347 = Sintflut. - 11-13, pass. = Troia (-» Troja-Roman).

Bis in die Sujets von Opern und Oratorien des 17. und 18. Jh.s hinein beglaubigt der Name O., daß es um große, alte Liebesgeschichten oder um (oft allegorisch ausgedeutete) Götter- und Heroengeschichten geht

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(ζ. B. Henry Purcell, Dido und Eneas', Johann Sebastian Bach, Apoll und Pari). Den meisten volkssprachigen Bearbeitern ovidischer Materie blieb O. freilich ein Deus absconditus, dessen Nennung nur die Zugehörigkeit einer Materie zum literar. Kanon bezeugen mochte. Die Emblembücher der Barockzeit nehmen viele O.-Materien auf. Ihre bildbegleitenden Texte speisen sich ζ. T. aus den Argumenten lat. O.-Ausgaben. Sie haben im dt. Raum Vorläufer in den Bearb.en der M. von Georg Wickram, Johannes Spreng, Ambrosius Metzger, die alle drei dem Meistergesang verbunden waren. Die schulmäßig organisierten Meistersinger des 16. und 17. Jh.s trugen, voran Hans Sachs, nicht wenig zur vulgärsprachigen Verbreitung der Stoffe bei14. N. W. Wulich sieht in den M. „wertvolle Relikte des antiken Märchens und der Volkslegende" bewahrt. Weil die M. „viele gemeinsame Züge mit Legenden über Abstammung der Blumen und Pflanzen ausweisen], die bei verschiedenen Völkern weiteste Verbreitung gefunden" hätten, müsse O. über eine Quellensammlung verfügt haben 15 . Die Annahme einer anonym durchlaufenden ,Märchen'-Überlieferung wird inzwischen in der Klassischen Philologie kritisch beurteilt. Auch bei .märchentypischen' Erzählkonstellationen wurden mythol. Stoffe dargeboten, von denen sich ein eigenes Märchenreservoir nicht abgrenzen läßt 16 . V e r w a n d l u n g s m o t i v e aus d e n M. (Ausw.): (1) - Tiere: (1.1) - Vögel: M. 11,751-795 = Aesacus in Tauchervogel. - 11,416-746 = Ceyx und Alcyone in Wasservögel. - 1,624-723 = Töchter des Asinus in -> Tauben. — 1,624—723 = Argus' Augen in den Schweif des Pfaus versetzt (-• Auge). 5,543-550 = Ascalapus in Uhu. - 2,547-595 = Cornix in Krähe. - 2,535-632 = Corvus (-• Rabe) verliert seine weiße Farbe. - 2,367-380 = Cygnus in -> Schwan. - 6,441-670 = Philomela in Nachtigall. - 14,312-402 = Picus in Specht. 5,250-678 = Neun Töchter des Pierus in Elstern. - 6,424-670 = Progne in - Schwalbe. - 8,14-151 = Scylla in Vogel Ciris. — 6,424-670 = Tereus in Wiedehopf. - (1.2) Andere Tiere: 2,466-531 = Callisto in -> Bärin. - 3,131-252 = Actaeon in -> Hirsch. - 6,5—145 = Arachne in Spinne. 10,560—707 = Atalanta und Hippomenes in -» Löwen. - 1,318-415; 4,563-603 = Deucalion und Pyrrha sowie Cadmus in Drachen. — 3,660-686 = Lyd. Schiffer in - Delphine. - 6,317-381 = Lyk. Bauern in -> Frösche. - 9,306-323 = Galanthis in Wiesel. - 13,533-577 = Hecuba in Hündin (->

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Ozawa, Toshio

Hund). - 1,583-750 = Ιο in - Kuh. - 1,209-239 = Lycaon in -» Wolf. - 5,650-660 = Lyneus in Luchs. — 4 sq., pass. = Medusa in Schlange(nhaupt). — 2,635-675 = Ocyrrohoe in Stute (-• Pferd). (2) - Pflanzen: (2.1) - Blumen: 10,710-739 = Adonis. - 4,206-270 = Clytie in Heliotropum. 10,162-205 = Hyacinthus. - 3,341-510 = Narcissus. — 1,698—712 = Syrinx in Schilfrohr, daraus fertigt Pan eine Flöte (-• Musik, Musikinstrumente). (2.2) Bäume: 8,626—724 = -» Philemon und Baucis in Eichen. - 10,106-142 = Cyparissus in Zypresse. — 1,452-567 = Daphne in Lorbeerbaum. 11,326-393 = Dryope in Lotosbaum. - 2,340-366 = Heliades, Schwestern des Phaeton, in Pappeln. 4,190-255 = Leucothoe in Weihrauchbaum. 10,298-514 = Myrrha in Myrrhenbaum. 4,55—166 = Pyramus und Thisbe bewirken Farbwechsel der Maulbeere. (3) -» Berge, Steine, Mineralien, Gewässer (-> Wasser): 4,626-666 = -» Atlas in Berg. 9,155-229 = Lichas in Felsklippe. - 14,11-67 = Scylla in Ungeheuer, dann Riff (-» Skylla und Charybdis). - 2,687-703 = Battus in Stein .Index'. 2,708-832; 7,771-793; 5,1-235; 10,220-242 = Aglaurus, Jagdhund Laelaps, Phineus sowie die zypr. Propoetides in Stein. - 2,340-366 = Heliades aus Pappeln zu Bernstein. — 6,146—312 = Niobe zu Marmorbild (-> Statue). - 5,572-642; 9,454-665 = Arethusa und Byblis in - Quelle. - 6,382-400 = von Marsyas geweinte Tränen werden zum -» Fluß. - 8,577-589; 8,590-610 = die Nymphen Echinades und Perimele in -> Inseln. — 11,90-145 = Was Midas anfaßt, wird zu Gold. (4) Gestirne und Götter (ζ. T. ohne Gestaltwandel): 2,466-531 = Callisto als - Sternbild der Bärin. - 2,468—507 = Areas, Sohn der Callisto, in Stern. - 2,649-654 = Centaur Chiron in Sternbild Schütze. - 10,155-161 = Ganymedes zu Mundschenk im Olymp. - 13,904—963 = Glaucus in Meergott. — 4,416—542 = Ino in Meergöttin. 14,816-828 = Romulus in Gott. (5) Menschen: 1,318-415 = Deucalion und Pyrrha machen aus Steinen Menschen. - 1,151-162 = aus dem Blut der Giganten entstehen Menschen. — 7,622—657 = Myrmidones, Bewohner von Aegina, aus -> Ameisen entstanden. - 10,243—297 = Pygmalions eigene Elfenbeinstatue wird belebt. 1

Kugler, H.: Ovidius Naso, P. In: Verflex. 7 (21987) 247—274; Ripert, E.: Ovide, poete de l'amour, des dieux et de l'exil. P. 1921; Arnald, F. (ed.): Studi ovidiani. Rom 1959; Atti del Convegno internazionale ovidiano 1—2. Rom 1959; Seznec, J.: The Survival of the Pagan Gods. Princeton/N. Y. 1953; Frankel, Η.: Ο. A Poet between Two Worlds. Berk. 1945 (dt. 1970). - 2 Rand, Ε. K.: O. and His Influence. L. 1925. - 3 Battaglia, S.: La tradizione di Ovidio nel Medioevo. In: Filologia romanza 2 (1959) 158 - 264, hier 188. - 4 Stackmann, Κ.: Ο. im dt. MA. In: Arcadia 1 (1966) 231-254. - 5 Viarre, S.: La Survie

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d'Ovide dans la litterature scientifique des Xlle et XHIe siecles. P. 1966; Schleusener-Eichholz, G.: Naturwiss. und Allegorese. In: Frühma. Studien 12 (1978) 258-309. - 6 Worstbrock, F. J.: Dilatatio materiae. ibid. 19 (1985) 1-30. - 7 Curtius, E. R.: Europ. Lit. und lat. MA. Bern/Mü. 91978, 437. 8 Liebeschütz, H.: Fulgentius metaforalis. Lpz. 1926. - 'Hederich, B.: Gründliches Mythol. Lex. Lpz. 1770 (Nachdr. Darmstadt 1986); Henkel, M. D.: III. Ausg.n von O.s ,Metamorphosen' im 15., 16. und 17. Jh. Lpz. 1930, 58-144. - 10 cf. Kugler (wie not. 1) bes. 251 sq.; Ghisalberti, F. (ed.): Giovanni di Garlandia Integtumentum Ovidii. Messina/Mailand 1933; Petrus Berchorius: Reductorium morale. Liber XV: Ovidius moralizatus. P. 1509 (Nachdr. Utrecht 1966); Ghisalberti, F.: L',Ovidius Moralizatus' di Pierre de Bersuire. In: Studi romanzi 23 (1933) 5-136. 11 Liebeschütz (wie not. 8) 41. - 12 Guthmüller, B.: Lat. und volkssprachliche Kommentare zu O.s „M." In: Buck, A./Herding, O. (edd.): Der Kommentar in der Renaissance. Boppard 1975, 119—140. — 13 Stackmann, K.: Die Auslegungen des Gerhard Lorichius zur ,M.'-Nachdichtung Jörg Wickrams. In: Zs. für dt. Philologie 86 (Sonderheft 1967) 120-160. — 14 Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder 1 sqq. ed. H. Brunner/B. Wachinger. Tübingen 1986 sqq.; Drescher, C.: Studien zu Hans Sachs N. F. Marburg 1891; Ambrosius Metzger: Metamorphosis Ovidij in Meisterthöne gebracht, ed. H. Kugler. B. 1981. - 15 Wulich, N. W.: O.s „M." und das Zaubermärchen. In: Das Altertum 20 (1974) 99-107, hier 99, 107 (Zitate). - 16 Siegmund, W. (ed.): Antiker Mythos in unseren Märchen. Kassel 1984; Heldmann, G.: Märchen und Mythos in der Antike. Versuch einer Standortbestimmung. Diss. Erlangen 1999.

Erlangen

Hartmut Kugler

Ozawa, Toshio, * Changshung (Nordostchina) 16.4. 1930, jap. Germanist und Erzählforscher. 1951-56 Studium der Germanistik an der Töhoku-Univ. in Sendai; 1956 Abschluß als Magister mit der Arbeit Grimm döwashü seiritsushi. Ölenberg kö to dainanahan no hikaku (Zur Entstehungsgeschichte der KHM. Analyse der Ölenberger Hs.); 1956-61 Dozent für Deutsch an der Töhoku yakuka daigaku (Töhoku-Hochschule für Pharmazie), Sendai; 1961—63 außerordentlicher Professor ebenda; 1963-73 außerordentlicher und 1974-81 ordentlicher Professor für Germanistik und vergleichende Lit.wissenschaft an der Nihon joshi daigaku (Jap. Frauen-Univ.), Tokio und 1981 - 9 4 an der Univ. Tsukuba; seit 1994 Pro-

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Ozawa, Toshio

fessor für Kinder- und Jugendliteratur an der Shirayuri joshi daigaku (Shirayuri FrauenUniv.), Tokio; 1966-67 Studienaufenthalt in Göttingen bei Κ. Ranke; 1971-72 Gastprofessur für vergleichende Märchenforschung an der Univ. Marburg; 1974-89 Vizepräsident der Internat. Soc. for Folk Narrative Research; 1985-89 Präsident der Nihon köshöbungei gakkai (Jap. Ges. für Volkserzählungsforschung); 1992 Gründung der Mukashibanashi Daigaku (Märchenakademie) in mehreren Städten Japans. Mit zahlreichen Veröff.en und Übers.en erschloß O. der jap. Germanistik und Erzählforschung die Entstehungsgeschichte und Textveränderungen der Märchen der Brüder Grimm 1 . Ein zweiter Schwerpunkt O.s sind die Volksmärchen Japans, denen er sich seit der Begegnung mit K. -> Yanagita und K. Seki verstärkt widmete2. Nach Feldforschungen wurden mehrere Slgen bis dahin nur mündl. überlieferter Texte herausgegeben3. Als Übersetzer wichtiger Werke M. -» Lüthis kam O. zu der Einsicht, daß sich dessen Ansatz nicht auf das europ. Märchen beschränkt, sondern weitgehend auch auf jap. Märchen anwendbar ist4. Von Lüthi ausgehend, wies O. ästhetische Parallelen zwischen dem Volksmärchen und der Volks- bzw. Kunstmusik nach. Als an Performanz gebundene Kunstwerke unterliegen beide ähnlichen Kompositionsregeln5. Daneben befaßte sich O. mit den Strukturen des jap. Märchens und arbeitete als Besonderheit heraus, daß der Held selten einen Auf- oder Abstieg erlebt, sondern sich am Ende in der gleichen Situation wie am Anfang befindet 6 . Als Nachahmer (Fatale und närrische Imitation) treten im jap. Märchen fast nie Reiche oder ältere Brüder oder Schwestern, dafür aber meist Nachbarn auf. Darin spiegelt sich nach O. die der jap. Kultur eigene bes. Wichtigkeit nachbarlicher Beziehungen wider 7 . 1977-89 gab O. mit K. Inada Nihon mukashibanashi tsükan heraus 8 , die umfangreichste Slg jap. Volksmärchen. Dabei oblag ihm die Aufgabe, für das ca 80 000 Texte umfassende Korpus Motivanalysen durchzuführen9. Bes. Aufmerksamkeit widmete O. verstärkt den Problemen, die mit dem Nachlassen des Märchenerzählens in Japan verbunden sind. Sog. modernen Märchenerzählern

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möchte er die traditionellen Erzählstoffe zugänglich machen und ihren Sinn für die Wesenszüge des Märchens schärfen. Dieser Aufgabe dienen neben der fünfbändigen Ausg. jap. Märchen Nihon no mukashibanashi10 zahlreiche Vortragsreihen und die Gründung eines O.-Märcheninstituts in Kawasaki (1998) sowie die Herausgabe der Vierteljahresschrift Kodomo to mukashibanashi (Kinder-und Volksmärchen). 1

0 . , T.: Sugao no shirayukihime (Das ungeschminkte Schneewittchen). Tokio 1985; id.: Bunken shiryö kara no W. Grimm no saiwa (Die Bearb. schriftl. Qu.n durch die Brüder Grimm). In: Doitsu bungaku 86 (1991) 96-113; id.: Grimm döwa no tanjö (Die Entstehung der Grimm-Märchen). Tokio 1992; id.: Grimm döwa ο yomu (Grimmsche Märchen lesen). Tokio 1996; id. u. a.: Gendai ni ikiru Grimm (Die Brüder Grimm in der Gegenwart). Tokio 1985; Brüder Grimm: Kanyaku Grimm döwa (Vollständige Übers, von Grimms Märchen). Tokio 1985 (Übers, der von H. Rölleke ed. 2. Aufl. der „Kinder- und Hausmärchen" der Brüder Grimm [MdW 1982]); Rölleke, H.: Grimm kyödai no Märchen (Die Märchen der Brüder Grimm). Tokio 1990. - 2 0 . , T.: Jap. Märchen. Ffm. 1974; id.: Nihon no mukashibanashi ni okeru suijunka sayö (Nivellierungswirkungen im jap. Volksmärchen). In: Seijö bungei 72 (1975) 29—39; id.: Nivellierungserscheinungen im Rezeptionsprozeß zwischen der alten literalen und der neuen oralen Erzähltradition Japans. In: Fabula 20 (1979) 151-159; id.: Vergleichende Märchenforschung. Ehe zwischen Menschen und Tieren. In: Erzählung und Erzählforschung im 20. Jh. ed. R. Klöpfer/G. Janetzke-Dillner. Stg. 1981, 431-439; id.: Alte Märchenmotive in der oralen und literalen Tradition Japans. In: Wie alt sind unsere Märchen? ed. C. Oberfeld. Regensburg 1990, 113-121; id.: Storytelling in Contemporary Japan. In: Storytelling in Contemporary Soc.s. ed. L. Röhrich/S. Wienker-Piepho. Tübingen 1990, 185-188; id.: Die Schlange und ihre phantasierte Form Ryü. In: Tiere und Tiergestaltige im Märchen, ed. A. Esterl/W. Solms. Regensburg 1991, 65-94; id.: Mukashibanashi no higan imeji. Mukashibanashi ni okeru shigan to higan no kakawarikata (Jenseitsvorstellungen des Volksmärchens. Beziehungen zwischen dem Diesseits und dem Jenseits im Volksmärchen). In: Nihon mukashibanashi no imeji 1. ed. T. O. Hadano 1998, 1 - 5 5 . - 3 z. Β. Ο., T.: Jap. Märchen. Ffm. 1974; id. u. a. (edd.): Suzuki Satsu zen mukashibanashi shü (Sämtliche Volksmärchen von S. Suzuki). Tokio 1993 (auch als CD [Hitachi 1993] und Video [Tokio 1995]). - 4 Lüthi, M.: Yöroppa no mukashibanashi (Das europ. Volksmärchen). Tokio 1969; id.: Mukashibanashi — sono bigaku to ningenzö (Das Volksmärchen als Dichtung). Tokio 1985. — 5 0 . , T.: Jikanteki zökei toshiteno mukashi-

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Ozawa, Toshio

banashi. Mukashibanashi no motsu ongakuteki seishitsu (Das Volksmärchen als zeitlich verlaufendes Kunstwerk. Musikalische Eigenschaften des Volksmärchens). In: Minwa no techö 6 (1980) 150-171; id.: Mukashibanashi no gohö (Erzählgesetze des Volksmärchens). Tokio 1999. — 6 id.: Ichiya no taikenbanashi. Nihon mukashibanashi no kinöteki tokuchö (Erzählungen von Erfahrungen in einer Nacht. Funktionale Besonderheiten des jap. Volksmärchens). In: Gengo 12 (1983) 74-82; id.: Nihon mukashibanashi no közö (Die Struktur des jap. Volksmärchens). In: Nihon minkan denshö no genryü. ed. H. Kimishima. Tokio 1989, 442-485; id.: Mukashibanashi ni okeru shüshi kinö (Das Ende des

468

Märchens). In: Bungei gengo kenkyü 16 (1989) 27-39; id.: Mukashibanashi no kosumorojl (Kosmologie des Volksmärchens). Tokio 1994. - 7 id.: Mukashibanashi ni mirareru tonari mochlfu (Das Nachbarmotiv im Volksmärchen). In: Kötö denshö no hikaku kenkyü. ed. J. Kawada/G. Tsuge. Tokio 1984, 226-252. - 8 Inada, K./O., T. (edd.): Nihon mukashibanashi tsükan (Überblick jap. Volksmärchen) 1-27. Kyoto 1977-89. - 9 cf. Ο., T.: Motifu ron (Zum Problem des Motivs). In: Köshöbungei kenkyü 9 (1986) 1-13. - 10 id.: Nihon no mukashibanashi (Jap. Volksmärchen) 1 - 5 . Tokio 1995.

Tokio

Fumiko Mamiya

Ρ

Pacolet

Zauberer, Zauberin

Pädagogik 1. Allgemeines - 2. Historisches - 3. Frühe volksliterar. Kinderpädagogik - 4. Die Brüder Grimm - 5. Märchen in der pädagogischen Kontroverse

1. A l l g e m e i n e s . P. (aus griech. pais: Kind und agein: .führen') meint zwar im ursprünglichen Wortsinn die Lehre von der richtigen .Führung' der Kinder, hat aber längst eine erweiterte Bedeutung angenommen, in der es auch außerhalb des Verhältnisses von Erwachsenen und Kindern — um dreierlei geht: (1) um die praktische Vermittlung von Kenntnissen, Ordnungen und Werten (pädagogische Praxis), (2) um Anweisungen für diese Praxis (pädagogische Lehre) und (3) um das Nachdenken über diese Vermittlung und die ihr zugrundeliegenden Werte (pädagogische Theorie)1. In diesem Sinn ist P. konstitutiver Bestandteil jeder (zwischen-)menschlichen Ordnung. Zugleich beruht sie auf normativen Setzungen: Sie geht von einem „außerhalb ihrer selbst begründeten ethischen, religiösen oder konventionellen Normensystem (Wertegefüge)" aus2, befindet sich also als konservatives System per definitionem in einem Spannungsverhältnis zu innovativen Tendenzen. In alledem ist P. zeitgebunden, und dies auch dort, wo sie sich als überzeitlich' versteht, ja verstehen muß. Mit dem Aufkommen der Schriftkultur gehen pädagogisches Handeln und pädagogische Theorie aus dem Bereich des kommunikativen' in den des ,kulturellen Gedächtnisses' über 3 , d. h. die Weitergabe der gesellschaftlichen Kenntnisse, Ordnungen und Werte erfolgt nicht mehr nur über Institutionen interpersonaler Vermittlung (mündl. Lehre, Ritus,

Fest), sondern mit Hilfe der Strategien schriftl. Unterweisung. Die vielfältigen Formen der Volkserzählung nehmen dabei einen wichtigen Platz ein (-• Erziehung in der Erzählung). Grundlegend (und erst aus moderner Perspektive erkennbar) ist dabei die Unterscheidung zwischen expliziter und impliziter moralischer Lehre (-» Ethik; -» Moral). Unter expliziter Lehre sind Formen der Unterweisung zu verstehen, die sich sprachlicher Strategien bedienen, mit deren Hilfe sie den Hörer oder Leser direkt auf die vom Erzähler oder Autor intendierte Botschaft (fabula docet) hinweisen. Schwerer erkennbar sind die Formen der indirekten Lehre, mit der dem Hörer oder Leser .unterschwellig' eine bestimmte Auffassung der Welt und ihrer Ordnung nahegebracht wird (-• Weltanschauung, Weltbild). Sie erkennbar zu machen und zu entschlüsseln ist Aufgabe der literar. Interpretation, wobei zu berücksichtigen ist, daß jede Interpretation nicht allg.gültig ist, sondern sich ihrerseits bestimmten hist. Konstellationen des Verstehens verdankt (-> Hermeneutik). 2. H i s t o r i s c h e s . In ihrer hist. Entwicklung betrachtet sind Volkserzählungen ein Komplex von Gattungen, von denen viele offen mit pädagogischen Absichten auftreten (-• Didaktisches Erzählgut). Das gilt etwa für Fabel, Exemplum oder Predigtmärlein. Wichtig dabei ist, daß - entsprechend dem zeitgebundenen Charakter der P. — ein und derselbe Erzählkern ganz unterschiedlichen pädagogischen Absichten dienstbar gemacht werden kann. Geht man mit P. Burke davon aus, daß das seit der Renaissance erwachende Interesse an der populären Kultur im wesentlichen von den kulturellen Eliten vorangetrieben wird, die damit auf die sich neu herausbildende Dichotomie zwischen ,hoher' und .niederer' Kultur reagieren und populäres Gut im Sinne einer frühbürgerlichen Moral instru-

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Pädagogik

mentalisieren4, hat die (sekundäre) Pädagogisierung der Volksüberlieferung insgesamt ganz wesentlich zu deren Erhaltung beigetragen. Das gilt etwa für den schwankhaften Erzählkomplex -» Schlaraffenland (AaTh 1930), der durch didaktische Zusätze aus einer utopischen Faulheitsphantasie zu einer pädagogischen Fleißlehre transformiert wurde 5 . Auch -+ Märchen — von ihrer Erzählstruktur her pädagogisch eher .indifferente' Geschichten - wurden beim Übergang aus der mündl. in die Schriftkultur pädagogisch inszeniert' (-+ Kindermärchen), möglicherweise deshalb, weil die Herausgeber ihnen auf diese Weise einen Wert und eine Würde geben wollten, die ihnen die Zeitgenossen anders nicht zuerkannt hätten. Nach der lange Zeit tonangebenden Poetik des delectare et prodesse konnte sich eine rein unterhaltende Lit. nicht rechtfertigen. So zielt die Rahmenhandlung von Straparolas Piacevoli notti zwar auf das Vergnügen an einem karnevalesken Zeitvertreib; gleichzeitig bemühen Straparolas Erzähler jedoch immer wieder moralische Sentenzen als Motto ihrer Geschichten. Basile schließt hier an und präsentiert in seinem Cunto de Ii cunti eine perfekte pädagogische Inszenierung: Jede Erzählung beginnt mit einer ausführlich vorgetragenen populären Weisheitslehre oder Klugheitsregel, deren Wahrheit die Erzählerin mit der nachfolgenden Geschichte unter Beweis stellen will; jede Geschichte endet mit einem Sprichwort, das als Resümee fungiert. Die Rahmenhandlung selber gibt sich als Beglaubigung einer solchen Sentenz (,Hochmut kommt vor dem Fall'). Auch -> Perraults Contes präsentieren sich „avec des moralites": ,Sie enthalten alle eine sehr sinnreiche Moral, die sich je nach dem Grad des Scharfblicks ihrer Leser mehr oder weniger enthüllt.' 6 Waren die von Basile eingeführten pädagogischen Nutzanwendungen noch relativ allg. gewesen, hatten auch nicht zwischen Erwachsenen und Kindern differenziert, so verlagert sich mit Perrault der pädagogische Kontext. Seine Moralites wenden sich im wesentlichen an Frauen und junge Mädchen aus adligem Milieu (die auch als Figuren der Geschichten eine große Rolle spielen); sie formulieren Regeln schicklichen und liebenswürdigen Verhaltens für Angehörige dieser Zielgruppe. Ähnliches gilt für die späte-

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ren Contes des fees und deren Adaptationen in Deutschland, in denen das pädagogischmoralische Rankenwerk nicht selten die eigentliche Geschichte zu überwuchern droht. 3. F r ü h e v o l k s l i t e r a r . K i n d e r p ä d a g o gik. Die frühesten Beispiele einer spezifischen Kinderpädagogik finden sich im Bereich der Volkserzählung in Geschichten, die Kindern aus erziehungspraktischen Gründen erzählt wurden (und werden), um sie von unerwünschtem Verhalten abzubringen, um sie zu warnen, um ihnen Angst einzujagen (-» Schreckmärchen; -» Fiktion, Fiktionsmärchen; Ammenmärchen) oder um sie zum Einschlafen zu bewegen. Auch Kinderreime und -lieder (-• Kinderfolklore) konnten (und können) diese Funktion haben. Spuren solcher pädagogischer Warngeschichten finden sich etwa in AaTh 333: -» Rotkäppchen und in AaTh 123: - Wolf und Geißlein. Da Kindheit als sozialer Status eine hist. Erscheinung ist, die in Europa erst in den Jh.en der frühen Neuzeit (und hier eher unter Angehörigen privilegierter Schichten) zunehmend an Kontur gewonnen hat 7 , entwickelten sich auch die Formen einer spezifischen (volks-) literar. Kinderpädagogik erst in diesem geschichtlichen Zusammenhang (-• Sozialisation). Die Institutionen der kirchlichen Kinderlehre und der Schule spielten dabei eine zentrale Rolle. Hierher gehören ABC-Bücher, Fibeln und Lesebücher, Jugendbearbeitungen der äsopischen Fabeln (-+ Äsopika), Historien- und -> Exempla-Sammlungen für die Jugend, Kinderbibeln, Kinderpredigten, religiöse Unterweisungsliteratur für Kinder (-• Katechese, Katechismus) und -> Moralische Geschichten (-+ Kinder- und Jugendliteratur). Auch die Klassiker der europ. Erzählliteratur wie Boccaccio8, Basile9 oder Eulenspie0 gel· wurden für Kinder und Jugendliche bearbeitet und den zeitgenössischen Vorstellungen dessen, was für sie zuträglich sei, angepaßt. Im übrigen ist davon auszugehen (und vielfach belegt), daß Kinder lange Zeit an den Erzählund Lektüreerfahrungen der Erwachsenen teilhatten 11 . 4. Die B r ü d e r G r i m m . Mit dem Erscheinen der -> Kinder- und Hausmärchen tritt auch die Auseinandersetzung um die P. der Volksli-

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Pädagogik

teratur in eine neue Phase. Die Brüder -> Grimm hatten ihre Märchen im Titel ausdrücklich als Kindermärchen deklariert. Zwar war das nicht im Sinn einer Einschränkung auf diese Zielgruppe gemeint, und J. Grimm polemisierte sogar expressis verbis gegen die Unterstellung spezifisch kinderpädagogischer Absichten: „Sind denn diese Kindermärchen für Kinder erdacht und erfunden? ich glaube dies so wenig, als ich die allgemeinere Frage nicht bejahen werde: ob man überhaupt für Kinder etwas eigenes einrichten müsse? Was wir an offenbarten und traditionellen Lehren und Vorschriften besitzen, das ertragen Alte wie Junge [...]." 12 Auf der anderen Seite wünschten sich die Herausgeber jedoch, daß aus ihrer Sammlung „ein eigentliches Erziehungsbuch" 13 werde, trugen mit der Zusammenstellung der sog. Kleinen Ausg. (1825 u. ö.) dem Adressatenkreis der Kinder nochmals eigens Rechnung, und auch die Zueignung der Sammlung „für den kleinen Johannes Freimund", Bettina von -> Arnims Neugeborenen, sollte den Kinder-Charakter der Märchen unterstreichen. Damit leiteten die Brüder Grimm eine Tendenz ein, die sich in der Folgezeit verstärken sollte: Märchen wurden jetzt mehr und mehr unter pädagogischem Aspekt daran gemessen, ob sie für die Zielgruppe der Kinder taugen. In dem Bestreben, sich von der rom. Tradition der Feenmärchen und ihren dt. Adaptationen 14 abzugrenzen, wandten sich die Brüder Grimm gegen die dort übliche moralische Einkleidung der Geschichten und leiteten, romantischen Prämissen folgend, die pädagogische Qualität der Märchen direkt aus deren poetischer ab: „Jede wahre Poesie ist der mannigfaltigsten Auslegung fähig [...], sie trifft uns wie das Sonnenlicht, wo wir auch stehen; darin ist es gegründet, wenn sich so leicht aus diesen Märchen eine gute Lehre, eine Anwendung für die Gegenwart ergiebt; es war weder ihr Zweck, noch sind sie, wenige ausgenommen, deshalb entstanden, aber es erwächst daraus, wie eine gute Frucht aus einer gesunden Blüthe, ohne Zuthun der Menschen." 15 Mit dieser Auffassung verlagert sich der .lehrhafte' Charakter der Märchen also mehr und mehr ins Innere der Geschichten selbst. Die zunehmende Orientierung der Märchen am Kind geht seit der Romantik einher mit

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der Entstehung eines neuen Kindheitsbildes, das geprägt ist von der Idee der .Reinheit' und der .Unschuld' des ,Natur'-Wesens Kind 16 : „Innerlich geht durch diese Dichtungen dieselbe Reinheit, um deretwillen uns Kinder so wunderbar und selig erscheinen"17, schreiben die Brüder Grimm über die Märchen. Folgerichtig bemühen sie sich (in gewissem Widerspruch zu den eigenen poetologischen Prämissen) um Anpassung der Texte an die (unterstellte) Fassungskraft der Kinder 18 . Auch dem Übersetzer von Basiles Lo cunto de Ii cunti, F. -»· Liebrecht, hatte J. Grimm geraten, „lieber alles anstössige niederzuhalten", sei doch ein damals unschuldiger' Text mit seinen Begriffen von Anstand „unseren frauen und kindern unnahbar" 19 . Trotz solcher Bemühungen um pädagogische Korrektheit wurde bereits unmittelbar nach Erscheinen der KHM Kritik an der fehlenden ,Kindgemäßheit' einzelner Texte laut. Achim von Arnim monierte in diesem Zusammenhang KHM 19 (AaTh 555: Fischer und seine Frau), KHM 38 (AaTh 65: Freier der Frau Füchsin) und KHM 22 (1812) (AaTh 2401: -» Kinder spielen Schweineschlachten)20. Auch unabhängig von solcher Kritik haben die Brüder Grimm bis zur Ausg. letzter Hand (1857) ihre Texte zunehmend pädagogisiert und damit der zeitgenössisch-biedermeierlichen Idee vom Wesen des Kindes angepaßt. So wurde etwa das Inzest-Motiv in KHM 65 (AaTh 510: cf. -> Cinderella) eliminiert, die Schwangerschaft in KHM 12 (AaTh 310: -> Jungfrau im Turm) unterdrückt, wurden einzelne Passagen religiös akzentuiert (KHM 3, AaTh 710: ^ Marienkind·, KHM 44, AaTh 332: - Gevatter Tod), enterotisiert (KHM 1, AaTh 440: -> Froschkönig·, KHM 144, AaTh 430: -> Asinarius) und insgesamt an die pädagogische Tradition der Hausväterliteratur angeschlossen21. Auf diese Weise haben die Brüder Grimm ein Werk geschaffen, das (neben Luthers Bibelübersetzung) auch unter pädagogischen Gesichtspunkten wie kein anderes gewirkt hat. 5. M ä r c h e n in der p ä d a g o g i s c h e n K o n t r o v e r s e . Nach zunächst eher verhaltener Rezeption eroberten Märchen und Sagen (zumeist Grimmscher Provenienz) seit der 2. Hälfte des 19. Jh.s die dt. Kinderzimmer und

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Pädagogik

Schulen. In Lesebüchern und schulnahen Lesereihen (Kranz-Bücherei, Diesterweg Verlag, Ffm. 1924 sqq.; Dt. Jugendbücherei, Hillger Verlag, B. 1909 sqq. u. a.) avancierten sie zu bevorzugten Lektüren; Schulspiel und Weihnachtsmärchen setzten die Stoffe in Szene. In der literaturpädagogischen Diskussion wurden sie — vom Kaiserreich über die Weimarer Republik bis zum -+ Nationalsozialismus — mit unterschiedlichen Argumenten zu Kern- und Basistexten verschiedener pädagogischer Richtungen (Gesinnungsunterricht, Kulturstufentheorie, Nationalerziehung, Jugendschriftenbewegung, Kunsterziehungsbewegung, völkischer Unterricht) 22 . Die anthroposophische Theorie erklärte Märchen zu zentralen Medien des Weltverstehens und der praktischen R Die Entwicklungspsychologie postulierte mit dem , Märchenalter' die Konvergenz von seelisch-geistigen Fähigkeiten und Bedürfnissen der mittleren Kindheitsstufe und den Märchenstoffen (cf. C. Bühler). Kritik an der omnipräsenten pädagogischen Hochschätzung von Märchen und Sagen wurde seit Ende des 19. Jh.s zunächst nur zögernd laut 23 . Dabei wurden aufklärerische und philanthropische Einwände (-• Phantasie, Phantastik; Grausamkeit) wieder aufgenommen. Auch die Reformpädagogik verhielt sich distanziert gegenüber dem (Zauber-)Märchen, favorisierte statt dessen die ,Ding-' oder die ,Umwelt-Geschichte'. Politische Kritik am ,falschen' Weltbild der Märchen und ihrer klassenspezifischen pädagogischen Funktionalisierung kam von sozialistischen und kommunistischen Pädagogen und führte in der Weimarer Republik zu Hoffnungen auf die Entstehung neuer Märchen 24 : „Das Proletariat wird die neuen Märchen, in denen sich sein Kampf, sein Leben, seine Ideale spiegeln, in demselben Maße schaffen, in dem es wieder Zeit gewinnt, Mensch zu sein."25 Verschiedene Autorinnen (Hermynia -» Zur Mühlen, Beda Ules, Lisa Tetzner, Maria Szucsich u. a.) versuchten sich in dieser Richtung mit neuen Märchen, die aus proletarischer Perspektive um soziale Themen kreisten (-» Proletariat) 26 . Nach 1945 wurde — nach einer kurzen Phase der Infragestellung der pädagogischen Qualität von Märchen und Sagen seitens der Alliierten — die überkommene Märchenpädagogik zunächst wieder aufgenommen 27 . Erst

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Studenten- und Kinderladenbewegung führten dann Ende der 60er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland zu vehementen Angriffen auf die pädagogische Brauchbarkeit der Märchen: Sie galten jetzt als feudale Relikte aus der Vergangenheit, als Vermittler autoritärer Strukturen und falscher Klischees vom Verhältnis von Mann und Frau 28 . In linken Erzieherkollektiven und Kinderladengruppen entstanden, in kleinen Verlagen publiziert, antiautoritäre und radikalsozialistische Geschichten, die Elemente des Zaubermärchens 29 , des Schwanks30 und der Tiergeschichte31 aufnahmen. Auch wenn diese radikale Märchenkritik zunächst auf relativ kleine gesellschaftliche Gruppen beschränkt war und in der Folgezeit auch auf Seiten der Linken eher dem pädagogischen Ansatz einer „emanzipatorischen Märchenrezeption" 32 wich, wurde doch damit zum ersten Mal nach rund einem Jh. der gesellschaftliche Konsens über die pädagogische Brauchbarkeit von Märchen nachhaltig in Frage gestellt. Symptome dafür waren zahlreiche kritische Stimmen zum Märchen (auch in populären Medien)33, die wachsende Ablehnung des Märchenerzählens bei Kindergärtnerinnen und Vorschulerziehern und nicht zuletzt pädagogische Umerzählungen 34 und Travestien35 traditioneller Märchen. In der DDR hingegen blieb die positive pädagogische Bewertung der Märchen ungebrochen. Als Teil des fortschrittlichen Erbes' der dt. Nationalliteratur spielten sie in der öffentlichen Kleinkinderziehung, in der schulischen Lit.vermittlung und im Kindertheater immer eine große Rolle36. Es ist daher kein Zufall, daß nach einer 1989/90 durchgeführten Unters. Jugendliche aus der DDR über ein höheres Märchenwissen verfügten als Gleichaltrige aus der Bundesrepublik 37 . Die Rezeption von B. Bettelheims Buch The Uses of Enchantment in Deutschland 38 war dann Symptom einer bewußteren und sich differenzierenden Einstellung zu den pädagogischen Qualitäten der Märchen. Dabei lassen sich heute grob drei Grundrichtungen des Argumentierens erkennen (die sich ihrerseits wiederum vielfach auf ältere Positionen beziehen), die psychol.-sozialisatorische, die ästhetische und die kulturale: (1) Sozialisationstheoretische, psychol., psychoanalytische und therapeuthische Ansätze verstehen die Texte

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Pädagogik

als Chiffren innerer Bilder und familial-sozialer Konfliktsituationen von Heranwachsenden (-• Psychiatrie; -» Psychoanalyse; -> Psychologie) 39 . (2) Aus dem Blickwinkel der ästhetischen Erziehung spielen Märchen eine wichtige Rolle für literar. Verstehen und für die Ausbildung von Phantasie und Kreativität 40 . (3) Aus der Sicht von Erzählforschung, Kulturgeschichte und Kulturvergleich sind sie als Texte zu achten, die Kindern die Erfahrung von fremden Welten, Ordnungen und Werten in Geschichte und Gegenwart nahebringen können 41 . 1 Pollak, G./Echelmann, B.: P., normative. In: Reinhold, G. u. a. (edd.): P.-Lex. Mü./Wien 1999, 405. 2 ibid. - 3 Assmann, J.: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. Mü. 1997. — 4 Burke, P.: Popular Culture in Early Modern Europe. L. 1978 (dt.: Helden, Schurken und Narren. Europ. Volkskultur in der frühen Neuzeit. Stg. 1981). - 5 Richter, D.: Schlaraffenland. Geschichte einer populären Phantasie. Köln 1984 (Ffm. 1995). - 6 Perrault, C.: Contes. ed. G. Rouger. P. 1967, 89. - 7 Aries, P.: L'Enfant et la vie familiale sous l'Ancien Regime. P. 1960 (dt.: Geschichte der Kindheit. Mü. 1975). - 8 Novellen von J. Boccaccio, aus dessen Decameron ausgewählt [...] für die Italienisch lernende Jugend. Hannover 1815. — 9 Kröker, V.: Basile und die Kinder. Zur Rezeptionsgeschichte des Pentamerone und seiner Bearb.en für Kinder. In: II confronto letterario 8 (1991) 3-33. - 10Richter, D.: Til Eulenspiegel. Der asoziale Held und die Erzieher. In: Ästhetik und Kommunikation 27 (1977) 36-53. 11 Schenda, R.: Von Mund zu Ohr. Göttingen 1993, 155-162. - 12 Steig, R./Grimm, H. (edd.): Achim von Arnim und die ihm nahestanden 3. Stg./B. 1904, 269. - 13 KHM 2 (1815) VIII. - 14 Grätz, M.: Das Märchen in der dt. Aufklärung. Stg. 1988. 15 Grimm, W.: Einl. Über das Wesen der Märchen. In: Hinrichs, G. (ed.): Grimm, W.: Kl.re Sehr. 1. B. 1881, 333-358, hier 335 sq. (= KHM 1 [21819] XXI-LIV). - 16Richter, D.. Das fremde Kind. Zur Entstehung der Kindheitsbilder des bürgerlichen ZA.s. Ffm. 1987, 224-228. - 17 Grimm (wie not. 15) 322 (= KHM 1 [1812] VIII). - 18 cf. ζ. B. KHM 1 (21819) VIII. - "Basile, G.: Der Pentamerone oder: Das Märchen aller Märchen. Übers. F. Liebrecht. (Breslau 1846) Nachdr. Hildesheim/N.Y. 1973, VI. - 20 Steig/Grimm (wie not. 12) 266269. 21 Schmidt, K : Die Entwicklung der Grimmschen Kinder- und Hausmärchen seit der Urhs. Halle 1932; Gerstl, Q.: Die Brüder Grimm als Erzieher. Pädagogische Analyse des Märchens. Mü. 1964; Rölleke, H.: Die Märchen der Brüder Grimm. Mü./Zürich 1985, 86-93; KHM/Uther 3, 242-249, hier 244. 22 Bastian, U.: Die Kinder- und Hausmärchen der

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Brüder Grimm in der lit.pädagogischen Diskussion des 19. und 20. Jh.s. Ffm. 1981; Dolle-Weinkauff, B.: Gesinnung — Gemüt — Ganzheit. Märchendidaktik zwischen Herbartianismus und Kunsterziehungsbewegung. In: Wardetzky, K./Zitzlsperger, H. (edd.): Märchen in Erziehung und Unterricht heute. Rheine 1997, 87-108. - "Bastian (wie not. 22) 54-58. 24 Dolle-Weinkauff, B.: Das Märchen in der proletarisch-revolutionären Kinder- und Jugendlit. der Weimarer Republik 1918-1933. Ffm. 1984. 25 Hoernle, E.: Die Arbeit in den kommunistischen Kindergruppen. Wien 1923, zitiert nach Richter, D. (ed.): Das politische Kinderbuch. Eine aktuelle hist. Dokumentation. Neuwied 1973, 220. - 26 Dolle, B. u. a. (edd.): Es wird einmal. Soziale Märchen der Zwanziger Jahre. Mü. 198 3. - 27 Hasenkamp, E.: Umgang mit Märchen. Ein märchenkundliches Leitbuch für Lehrkräfte, Eltern, sonstige Erzieher und alle Freunde des Märchens. Allensbach 1958; Bastian (wie not. 22) 226-230. - 28 Gmelin, O. F.: Böses kommt aus Kinderbüchern. Die verpaßten Möglichkeiten kindlicher Bewußtseinsbildung. Mü. 1972; Schedler, M.: Schlachtet die blauen Elefanten. Bemerkungen über das Kinderstück. Weinheim 1974, 170-191. - 29 Zwei Korken für Schlienz. Berlin [ca 1970]; Plums Ende. B. [1971]; Die rote Fahne. Revolutionäre Märchen. B. 1971. - 30 Martin der Marsmensch. B. [ca 1969]; Die Geschichte von der Verjagung und Ausstopfung des Königs. B. [ca 1970]; Merkel, Η. M.: Das Märchen vom starken Hans. Mü. 1977. 31 Rote Ratten in Berlin. B. 1970. - 32 Richter, D./ Merkel, J.: Märchen, Phantasie und soziales Lernen. B. 1974, 113-142. - "Worüber man heute nachdenken muß, wenn man seinem Kind ein Grimm'sches Märchen vorliest. In: Eltern 11 (1972) 12-16; Anpassung und Widerstand im Märchen. In: Neue Erziehung 5 (1977) 13-20. - 34 Waechter, F. K : Tischlein deck dich und Knüppel aus dem Sack. Ein neues Märchen. Reinbek 1972; Janosch erzählt Grimms Märchen. Weinheim 1972; Gelberg, H.-J. (ed.): Neues vom Rumpelstilzchen und andere Märchen. Weinheim 1976; Rotkäppchen, von Floh de Cologne nach Jewgenij Schwarz mit Franz Josef Degenhardt u. a. (Schallplatte, Dortmund, Pläne Vertrieb [ca 1974]). - 35 Fetscher, I.: Wer hat Dornröschen wachgeküßt. Das Märchen-Verwirrbuch. Hbg 1972; id.: Der Nulltarif der Wichtelmänner. Märchen und andere Verwirrspiele. Hbg 1982; Monk, C.: Parody as an Interpretative Response to Grimms' Kinder- und Hausmärchen. Dunedin 1998. - 36 Bastian (wie not. 22) 186-225; Wardetzky, K : Märchen für Kinder. B. 1992. - 37 Richter, D.: Wie populär sind Märchen heute? Eine empirische Unters, unter Studenten aus Deutschland West und Deutschland Ost. In: Märchenspiegel 6 (1995) 5 - 9 . - 38 Bettelheim, B.: The Uses of Enchantment. Ν. Υ. 1975 (dt.: Kinder brauchen Märchen. Stg. 1977). - 39 ibid., 66-72; Spork, I.: Studien zu ausgewählten Märchen der Brüder Grimm. Meisenheim 1985; Scherf, W.: Die Herausforderung des Dämons. Form und Funk-

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Paedagogus christianus - Pakistan

tion grausiger Kindermärchen. Mü. 1987; Wardetzky, Κ.: Märchen-Lesarten von Kindern. Eine empirische Studie. B. u. a. 1992; Horn, K.: Über das Weiterleben der Märchen in unserer Zeit. In: Märchen-Stiftung W. Kahn (ed.): Die Volksmärchen in unserer Kultur. Ffm. 1993, 25-71, hier 55-63 (Märchen in der Therapie). - 40 Haas, G.: Wozu Märchen gut sind. Überlegungen zur zeitgenössischen Märchendiskussion und Märchendidaktik. In: Doderer, K. (ed.): Über Märchen für Kinder von heute. Weinheim 1983, 157-174; Heindrichs, H.-A.: Märchen heute — warum? In: Wardetzky/Zitzlsperger (wie not. 22) 5—16; Dinges, O. (ed.): Märchen in Erziehung und Unterricht. Kassel 1986. — 41 Schenda, R.: Märchen erzählen - Märchen verbreiten. Wandel in den Mitteilungsformen einer populären Gattung. In: Doderer (wie not. 40) 25—43, hier 41 sq.; Ulich, M./Oberhuemer, P. (edd.): Es war einmal, es war keinmal ... Ein multikulturelles Leseund Arbeitsbuch. Weinheim 21992.

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ner pakistan. Volkskultur fehlen ebenso wie Studien zu theoretischen Fragen. Die Sammeltätigkeit hat jedoch ein umfangreiches Materialkorpus hervorgebracht. Die Kriterien für die Unterscheidung zwischen klassischen bzw. literar. Erzählungen und Volkserzählungen variieren innerhalb der Regionen. In Sprachen mit jahrhundertelanger schriftl. Tradition werden die Erzählungen der ,klassischen' Überlieferung oft in der pers. Reimform mathnavl vorgetragen; von den gleichen Erzählungen kann es volkstümliche Versionen in anderen Versformen geben. In Sprachen, die erst seit der Teilung Indiens eine Schrift besitzen (so Balutschi)3, erhielt mündl. Material in Versform, das höheres Alter beansprucht, klassischen bzw. literar. Status. Informell zirkulieren pakistan. Volkserzählungen zwar in ProsaBremen Dieter Richter form, doch die meisten professionellen Erzähler benutzen Verse, die als Gesang oder Sprechgesang vorgetragen werden; Versforleichter zugängPaedagogus christianus Outreman, Phi- men sind daher für Sammler lich als Prosaformen 4 . Der Gebrauch der oft lippe d' als ,Balladen' bezeichneten Verserzählungen erstreckt sich auf Ereignisse in Geschichte und Gegenwart, und obwohl Verse über aktuelle Pakistan Ereignisse oft nur kurze Zeit in Umlauf sind, darf die Bedeutung der Versform angesichts 1. Allgemeines - 2. Überregionale Aspekte - 2.1. der niedrigen Alphabetisierungsrate nicht unForschungsgeschichte — 2.2. Stoffe und Gattungen - 2.3. Performanz und Vermittlung — 3. Regionale terschätzt werden. D. B. Edwards zeigt in seiAspekte - 3.1. Pandschabi - 3.2. Sindhi — 3.3. ner Studie des afghan. Dichters und Sängers Paschtu - 3.4. Balutschi - 3.5. Andere Sprachen Raftq Jän, der sich als Flüchtling in P. aufhielt, und Dialekte die Kontinuität älterer Paschtu-Überlieferungen im kriegerischen Kontext der frühen 1. A l l g e m e i n e s . P. ist ein multikultureller 1980er Jahre; und A. Schimmel weist auf die Staat, der 1947 bei der Teilung Brit.-Indiens wichtige Rolle der wandernden Barden im gebildet wurde. Die Nationalsprache Urdu Land hin, die manchmal die Regierung mit erdiente schon früher als Lingua franca, bildet staunlicher Kühnheit kritisierten5. aber nur für einen geringen Bevölkerungsanteil die Muttersprache (Umgangssprachen Aufgrund der Trennung der Geschlechter 1981: Pandschabi 48%, Paschtu 13%, Sindhi im Leben P.s gibt es wenig Belege für Frauen 12%, Siraiki 10%, Urdu 8%; Balutschi, Brahui, als Publikum wie als Erzählerinnen. Die Hindko je unter 5%)'. Pandschabi, Paschtu, Wohnräume sind oft so angelegt, daß Frauen Sindhi und Balutschi werden über P.s Grenzen einer für Männer bestimmten Performanz unhinaus gesprochen und stellen Verbindungen bemerkt zuhören können. R. C. Temple zumit verwandten Kulturen in -»Iran, Indien folge lebt das Märchen, das er von den ,Barund Afghanistan her. Die Alphabetisierungs- densagen' oder volkstümlichen Gedichtforrate in P. war und ist gering2. men unterscheidet, in den Kinderstuben und eigentlich überall, wo Frauen sich treffen 6 . Po2. Ü b e r r e g i o n a l e A s p e k t e . Die meisten puläre Erzählungen werden außerdem über inSlgen mit Erzählgut aus P. beziehen sich auf formelle Netze verbreitet, bes. Verwandteine bestimmte Sprache oder Region; verglei- schaftsbeziehungen, und über Frauen, die als chende Studien zu gemeinsamen Elementen ei- Koranlehrerinnen und Rezitatorinnen religio-

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ser Dichtung tätig sind. In ihrer Arbeit über die Performanz lebensgeschichtlicher Erzählungen von Paschtun-Frauen macht B. Grima auf den ethnopoetischen Gebrauch der Sprache aufmerksam und untersucht die Zusammenhänge dieser Geschichten mit PaschtuFormen der Volkspoesie 7 . 2.1. F o r s c h u n g s g e s c h i c h t e . Die meisten Slgen von Volkserzählungen aus der Kolonialzeit gehen auf brit. Beamte, Missionare und ausländische Reisende zurück 8 . Seit seiner Einrichtung 1974 hat das pakistan. National Inst, for Folk and Traditional Heritage (Lok Virsa [Volkserbe]) eine führende Rolle bei der Veröff. von Volkserzählungen übernommen, die von festen oder freien Mitarbeitern gesammelt werden. Unter den Publ.en des Inst.s befinden sich engl. Übers.en von Erzählungen aus unterschiedlichen Regionen 9 sowie regionalsprachliche Slgen, die in Urdu übersetzt oder in Urdu nacherzählt sind und manchmal auch Texte in der Orig.sprache enthalten. Außerdem verfügt Lok Virsa über ein Archiv mit vorwiegend unveröff. Tonbandaufzeichnungen 10 . Im Zuge der Computerisierung des Archivs ist auch eine Kategorie für Erzählungen eingerichtet worden 11 . Im Laufe der 1990er Jahre wandte sich Lok Virsa allerdings zunehmend der Förderung kultureller Ereignisse und Workshops zu. Regionale kulturelle Institutionen unterstützen ebenfalls Forschungen und Publ.en zur Volksüberlieferung in den jeweiligen Regionalsprachen, gewöhnlich in Zusammenhang mit der Förderung der regionalen Kultur 12 . In lokalsprachlichen Sendungen der pakistan. Fernsehsender finden sich manchmal Volkserzählungsprogramme. Im allg. führte jedoch die Bevorzugung von Erzählungen in klassischer oder dem pers. Vorbild angepaßter Form zur Vernachlässigung lokaler mündl. Überlieferungen. An keiner der Univ.en gab es 1998 Studienangebote im volkskundlichen Bereich, denn nach der herrschenden Vorstellung verdienen nur Schriftsprachen wiss. Aufmerksamkeit. Die wenigen Slgen von Volkserzählungen, die ohne institutionelle Unterstützung publiziert wurden, bringen meist bereits veröff. Erzählungen und enthalten selten Informationen zu den Quellen 13 .

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2.2. S t o f f e u n d G a t t u n g e n . Landesweit finden sich Erzählungen, die in großen Teilen der islam. Welt bekannt sind (-• Arab.-islam. Erzählgut), sowohl in volkstümlicher als auch in literar. Form in den Regionalsprachen P s sowie in Urdu 1 4 . Zu den in ganz P. verbreiteten Erzählungen gehören die durch Nezämi populär gewordenen Liebesgeschichten von Laylä und Majnün 1 5 , von Bahräm und Gulandäm 1 6 und von Shlrtn und Farhäd 1 7 sowie die Geschichte von Gul und Sanobar (cf. AaTh 449: -» Sidi Numan), die aus Urdu-Texten des 19. Jh.s bekannt ist 18 . Teilweise auf koran. Tradition beruht die Liebesgeschichte von Joseph und Zulaykha (Der keusche -> Joseph, Kap. 3); populär sind außerdem Nacherzählungen des Martyriums Husains und seiner Gefolgsleute bei Kerbela im Jahre 680 (cf. Mohammed, Kap. 4) sowie der Abenteuer des Amir Hamza (-» Hamza-näme)19. Ebenfalls meist in Prosa kursieren kurze Geschichten über Mulla NasTr al-dln (-• Hodscha Nasreddin) und Märchen aus -»• Tausendundeinenacht, wie AaTh 676 + 954: Ali Baba und die vierzig Räuber oder AaTh 561: -» Alad(d)in20. 2.3. P e r f o r m a n z u n d Vermittlung. Drucke und Nachdrucke von Volksbüchern im 19. Jh. belegen die Popularität bestimmter Geschichten in Hindi und Urdu, deren Verbreitung in Zusammenhang mit der Entwicklung billiger Drucktechniken und Verbreitungsmechanismen auf dem Subkontinent steht; regionalsprachliche Volksbuchdrucke sind auch dort zu finden, wo sich bereits eine schriftl. Tradition entwickelt hatte 21 . Dabei besitzen benachbarte und untereinander verständliche Dialekte P s eine Brückenfunktion bei der Verbreitung von Erzählungen: Das SassT-Punnün im Pandschabi von Lahore etwa wurde über das Lahndi.bis zu seinen Ursprüngen in Sindh zurückverfolgt 22 . Die Mehrsprachigkeit der Bevölkerung und der Gebrauch von Urdu als Lingua franca stellen Wege für die Übermittlung von Erzählungen dar, wie sich in der Gegenwart auch an der Popularität von Urdu-Filmsongs in den Kerngebieten der Regionalsprachen zeigt. Professionelle Erzähler, die oft in erster Linie professionelle Sänger sind, spielen eine wichtige Rolle für die Verbreitung populären Erzählguts in der männlichen Bevölkerung.

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Für den Zentral-Pandschab ζ. Β. wird dästän (Geschichte, Ballade) unter den musikalischen Gattungen aufgeführt 2 3 , dasselbe gilt im Paschtu für badala 24 . In anderen Regionen P.s werden nur bestimmte Teile oder Arten von Erzählungen gesungen: Das Kesar-Epos (-• Geser Khan) Baltistans darf nicht als musikalische Gattung betrachtet werden, obwohl zu seinem Vortrag Lieder gehören; der Erzähler kann (muß aber nicht) ein mon sein, d. h. ein professioneller Musiker, der seinen Beruf ererbt hat 2 5 . Die Förderung von Volkssängern durch Lok Virsa trug zum Weiterleben verschiedener Erzähl- und Gesangstechniken bei. Im Pandschabi, Sindhi und Siraiki werden Teile gereimter Volkserzählungen auch in religiösem Kontext vorgetragen 26 . Durch die Entwicklung der AudiokassettenTechnik in den 80er Jahren des 20. Jh.s erweiterte sich das Zuhörerpotential für narrative Vorträge. Für die nordwestl. Grenzprovinz P.s sind Erzählungen auf Audiokassetten belegt 27 ; in Balutschistan vertrieben Musikzentren Kassetten mit nationalistischer Dichtung — ζ. B. wurden in Peschawar und anderen Grenzstädten Kassetten für die afghan. Revolution hergestellt 28 . Die pakistan. Filmindustrie produzierte Verfilmungen von Volkserzählungen in Lokalsprachen wie auch in Urdu, die später auf Videokassetten erhältlich waren 29 . 3. R e g i o n a l e A s p e k t e . Die folgenden Aussagen zu Volkserzählungen in einzelnen Sprachen wollen lediglich Hinweise darauf geben, welche Art von Material verfügbar ist. Zu beachten ist, daß sich die geogr. Bezeichnungen im Laufe der Zeit geändert haben. Generell fehlen in Slgen aus der Zeit vor 1947 Erzählungen über Gegner der brit. Herrschaft, und aus religiös-politischen Gründen werden Erzählungen über Heilige und Wallfahrtsorte darin manchmal anders behandelt als in Slgen aus späterer Zeit. 3.1. P a n d s c h a b i . Temples dreibändige Slg mit 58 Erzählungen 30 setzte frühe Maßstäbe für die Region des Pandschab. Sie enthält hauptsächlich Texte in Pandschabi, engl. Übers.en mit Angabe der Erzähler sowie knappe komparatistische Hinweise. Temples Vorworte enthalten Angaben über die Erzählungen im Zusammenhang der indoar. Über-

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lieferung und der klassischen Texte sowie allg. der ide. Erzähltradition; der 3. Band enthält u. a. ein Motivverzeichnis. Viele der Geschichten von Temples Erzählern, die in zum heutigen Indien gehörenden Landesteilen aufgezeichnet wurden, stellen für Pakistanis einen Teil ihrer eigenen Folklore dar 3 1 . C. Swynnerton sammelte um die Wende zum 20. Jh. zwei Bände von Erzählungen aus dem Gebiet des heutigen P., äußert sich aber weder zu seinen Sammelprinzipien noch zu den Orig.texten 32 . Auf Distriktebene ist B. Zubairs Buch mit 20 Erzählungen aus Jhang zu nennen, von denen sich acht auf Ereignisse des 20. Jh.s aus der Zeit vor P.s Unabhängigkeit beziehen 33 . Ansonsten finden sich in neueren Slgen meist nur Nacherzählungen von Geschichten aus dem 19. Jh. 3.2. S i n d h i . Schimmels Slg von 46 Erzählungen enthält Anmerkungen zu den Erzählern und eine Typen- und Motivliste nach AaTh und Mot. 3 4 L. H. Ajwani betrachtet Erzählungen über Heilige und lokale Legenden als Hauptquellen der Sindhi-Lit. Khwäja Khizr (cf. Chadir), die sowohl von Muslimen als auch von Hindus verehrte Flußgottheit des Indus, bringt er in Verbindung mit einer hist. Persönlichkeit; detailliert gibt er sieben Legenden wieder, die in den Werken verschiedener Sufi-Dichter erscheinen 35 . Eine weitere Slg von 13 Volkserzählungen enthält keine Angaben zu den Quellen 36 . Das seit 1957 existierende Folklore- und Lit.-Projekt des Sindhi Adabi Board (Haiderabad/Karatschi) veröffentlicht Bände mit Texten in Sindhi, viele mit einem engl. Vorwort; Herausgeber der Reihe ist Ν. A. Baloch. Zwei der Bände sind den zur mündl. Rezitation bestimmten Verserzählungen über muslim. Propheten und Heilige gewidmet: manäqibä (Dichtungen zum Preis von Propheten und Heiligen) und mu'jazä (Dichtungen über die Wunder der Propheten und Heiligen), die von 33 namentlich bekannten und vier anonymen Volksdichtern stammen 37 . Der 9. Band (1961) enthält volkstümliche Dichtungen zur Erinnerung an -» Katastrophen und bedeutsame Ereignisse im Dorfleben aus dem Zeitraum 1716—1961: Überschwemmungen, Heuschrekkenplagen, Erdbeben, Dürren, Hungersnöte, Eisenbahnunglücke, Heldentaten und eine be-

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rühmte Hochzeit. Spätere Bände bringen eine Vielfalt von Volkserzählungen, Legenden und anderen Geschichten, die von den Dorfbewohnern ,kahanyoon/galhiyoon' (Geschichten/Erzählungen) oder ,badshahan jun kahaniyoon/ galhiyoon' (Königsgeschichten/-erzählungen) genannt werden, weil sie oft mit der Erwähnung eines Königs beginnen 38 . Die Reihe enthält auch romantische Erzählungen 39 . Etwas ungewöhnlich sind die traditionellen SindhiLiebesgeschichten, weil die Frau darin die aktive Heldin ist und die männlichen Gestalten nur eine Folie bilden. Schimmel führt dieses in der islam. Lit. seltene Phänomen auf ind. Seelenvorstellungen zurück. Das Gedankengut der Mystiker habe in Verbindung mit Volksüberlieferungen in den Werken der Sindhi-Dichter weibliche Gestalten von unglaublicher Kühnheit und geistiger Kraft entstehen lassen 40 . 3.3. P a s c h t u . Die größte Slg von Volkserzählungen unter den frühen Schriften brit. Beamter, die in der Paschtu-sprachigen Zone lebten, stellt die von S. S. Thorburn dar 4 1 . Neben zwei Balladen des Marwat-Stamms bringt er 50 übers, und gekürzte Erzählungen, die er als heiter und moralisch, komisch und witzig sowie als Fabeln klassifiziert. Als die besten Erzähler bezeichnet Thorburn eine im Verschwinden begriffene Klasse wandernder Berufserzähler von niedriger Kaste (dums), die Musikinstrumente benutzten (rabäb, sarinda). J. Darmesteters Slg von Verserzählungen (ballades) enthält die Paschtu-Texte und Angaben über die Erzähler sowie Übers.en ins Französische; unter seinem Material befinden sich hist. Erzählungen, erzählerische Zyklen über die Kriege von 1761 — 1881, Legenden und traditionelle Liebesgeschichten 42 . F. H. Malyons auf 1910 datiertes Vorw. zu seinem Band mit zehn Volkserzählungen aus Bannu macht nur sehr allg. Aussagen über seine Slg 43 . Kh. Ghazanvis 31 Erzählungen sind meistens nach Regionen innerhalb der Nordwestl. Grenzprovinz und der angrenzenden Gebiete einschließlich Gilgit und Kafiristan angeordnet. Einige der Geschichten sind tief in der Paschtu-Tradition verwurzelt; andere beziehen sich auf Ereignisse der neueren Vergangenheit 44 . R. Hamdanis Slg enthält 41 PaschtuTexte zusammen mit Urdu-Fassungen und

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Kommentaren zu den Quellen; das Spektrum reicht von einer Erzählung aus der Frühzeit des Islam bis hin zu Geschichten von Paschtun-Helden aus der Zeit vor der Unabhängigkeit 45 . Veränderungen der Sichtweise zwischen der Zeit vor der Unabhängigkeit und danach zeigen sich ζ. B. in der Geschichte von Kamäl Khän, den Rudyard Kipling noch als Dieb aus dem Grenzland bezeichnet hatte; klare Grenzen zwischen populärer Überlieferung und hist. Wahrheit werden nicht immer gezogen 46 . 3.4. B a l u t s c h i . Im Balutschi besteht eine breite mündl. Tradition; die Schriftsprache ist noch nicht vereinheitlicht. Die ersten Slgen der umfangreichen Balladenüberlieferung wurden im 19. Jh. zusammengetragen. Die Slg von M. L. Dames enthält heroische oder epische Verserzählungen über Kriege aus weit zurückliegenden Zeiten bis hin ins 19. Jh., romantische Verserzählungen sowie religiöses Erzählgut und Sagen in Prosa und Versen 47 . Dames erklärt, daß der professionelle Barde (dom, lori) der Vorträger, aber nicht der Dichter der Verse ist. Dames' Slg wurde später u. a. bei der Erstellung von Lit.geschichten herangezogen 48 . 1.1. Zarubins Slg von 21 Erzählungen in einem Balutschi-Dialekt aus dem Gebiet der früheren Sowjetunion, die in lat. Schrift transkribiert und ins Russische übersetzt sind, bietet Vergleichsmaterial 49 . J. Elfenbeins Anthologie von in lat. Schrift transkribierten Texten mit Übers, unterscheidet zwischen den klassischen Werken bekannter Dichter des 18./ 19. Jh.s und traditionellen Balladen aus klassischem Erbe 50 ; soweit bekannt, sind die Vortragenden und die schriftl. Quellen angegeben. Die Anthologie enthält auch zwei kurze Volkserzählungen. Die Nacherzählung der traditionellen Liebesgeschichte von Dosten und Shiren als modernes Versepos, das 1964 veröffentlicht wurde und nach dem Vortrag seines Autors Gul Khan wiedergegeben ist, stellt ein zeitgenössisches Beispiel für die literar. Verwertung von Volkserzählungen dar 5 1 . Da es sich bei der balutsch. Dichtung um mündl. Dichtung handelt und die Orthographie noch nicht vereinheitlicht ist, sind Aufzeichnungen von Volkserzählungen bes. für linguistische oder volkskundliche Zwecke nützlich. Einige Tonbänder mit Balutschi- und Brahui-Texten wurden von Angestellten von

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Lok Virsa in Balutschistan und im benachbarten Sindh gesammelt 52 . Die Balochi Academy in Quetta publizierte eine Reihe von BalutschiErzählungen (gedl qissa [Volkserzählung]), die von Themen wie Kinderlosigkeit, der Beziehung zwischen Stiefmutter und Stiefkind und anderen in der balutsch. patriarchalischen Stammesgesellschaft häufigen Problemen handeln. Oft helfen Feenwesen (-> Peri) und andere übernatürliche Wesen den Guten, während die Bösen vernichtet werden 53 . Die Balochi Academy veröffentlichte auch einige Liebesgeschichten, die ebensogut der populären Überlieferung wie der Lit. zugerechnet werden können, so daß ein und dieselbe Geschichte einerseits als ,Volkserzählung' bezeichnet werden, andererseits aber auch in einer Lit.geschichte erscheinen kann 5 4 . In einem kleinen Band mit Erzählungen in einfachem Urdu beginnt jede Geschichte mit der auch sonst häufigen Einleitungsformel ,Es war einmal ein König' 55 . Bei der Rezitation von Dichtungen haben auch nationalistische Themen einen Platz. Wo entsprechende Einrichtungen in den Städten es erlauben, wird manches davon vertont, aufgenommen und zum Verkauf angeboten. In den Dörfern hingegen dauern die älteren Traditionen an: Erzähler übermitteln Geschichten und passen ihren Vortrag den lokalen Gegebenheiten an. Die Themen solcher Barden können ζ. B. Ursprungsmythen, Dreiecksverhältnisse oder Stammesschlachten sein; sie rezitieren alte Überlieferungen, didaktische Erzählungen und geistreiche Reden aus dem Gedächtnis, oft begleitet von den traditionellen Instrumenten tambura und siroz 56 . 3.5. A n d e r e S p r a c h e n u n d D i a l e k t e . A. R. Brahuis Slg enthält 34 Erzählungen, in denen sich wie im Idiom Brahui selbst der kulturelle Austausch mit Sprachen, zu denen naher Kontakt besteht, sowie mit Urdu-Quellen zeigt. Sie bringt Versionen der Geschichten von Papagei und Myna, den vier Derwischen und Amir Hamza sowie Geschichten über Könige, Prinzen, Prinzessinnen und Feengestalten 57 . Die Slg des brit. Missionars J. H. Knowles enthält ca 40 Erzählungen. Name und Wohnort der Erzähler (meist Srinagar) sind angegeben; in den Anmerkungen wird auf Parallelen

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zu Erzählungen aus anderen Teilen Südasiens hingewiesen 58 . In der von Lok Virsa herausgegebenen Slg von Kaschmiri-Erzählungen in Urdu-Übers. finden sich 27 Erzählungen, darunter sowohl in ganz P. verbreitete Stoffe als auch eher lokale Erzählungen; ein einziger Abschnitt gibt Informationen über den entsprechenden Erzähler 59 . Die Slg von N. Mayeda und W. N. Brown aus Dschammu bringt ausführliche Anmerkungen und Nachweise sowie ein Motivverzeichnis nach Mot. und Thompson/Balys 60 . Bei einigen Erzählungen aus den nördl. Gebieten P.s zeigt sich ein kultureller Zusammenhang mit den angrenzenden Gegenden, so bei den Balti-, Burushaski- und Gultari Shina-Versionen des tibet. Epos Geser Khan6i. Die sieben Erzählungen von R. I. Qizalbash sind ζ. T. mit bestimmten Örtlichkeiten verbunden 62 . Mit ausführlichen Anmerkungen wurde eine Slg von vier kurzen aus Gilgit stammenden Kindergeschichten in Shina veröffentlicht 63 . 1923-24 sammelte D. L. R. Lorimer 47 Burushaski-Texte, darunter einige Erzählungen ausländischen Ursprungs (über Shähzäda Bahräm, Shahrl Bänü und den weißen Dev; den armen Mann von Rum und den König von Iran; Buzur Jamhür [= Bozorgmehr] und Alqash Wazir [aus dem Hamza-näme]; die Abenteuer von Kisar/Qesar/Gessar) und 28 kürzere Lokalsagen, die er mit engl. Übers, veröffentlichte; die Neuauflage erschien ohne die Burushaski-Originale 64 . Eine neuere Ausg. von Texten aus dem Yasin-Tal wurde im Burushaski-Orig. und frz. Übers, publiziert 65 . Eine Khowar-Erzählung über einen König mit sieben Söhnen wurde ebenfalls im Orig. mit engl. Übers, veröffentlicht 66 . Urdu-Zusammenfassungen von Geschichten aus der Gegend von Chitral bringt I. U. Faizi; unter den Erzählungen unterscheidet er das kürzere lok kahänl, das längere lok dästän, das oft aus einer nichteinheimischen literar. Quelle stammt und gewöhnlich von einem professionellen Erzähler (qissa-khwän, dästän-go) erzählt wird, und die volkstümliche Liebesgeschichte (lok rümän) 6 7 . Auf ihre rhetorische Struktur hin wurde eine Kalasha-Fassung der in verschiedenen südasiat. Versionen bekannten Geschichte von Skorpion und Frosch (Mot. U 124) untersucht 68 .

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Siraiki und Hindko, die vorher als Pandschabi-Dialekte galten, wurden bei der Pakistan. Volkszählung von 1982 als eigene Sprachen anerkannt 6 9 . C. Shackles Abhdlg über die Siraiki-Volksliteratur enthält einige kurze Erzählungen. N a c h Shackle stellen Verse auch im Siraiki das Hauptausdrucksmittel dar 7 0 . Shackle hat auch die unterschiedliche Benutzung volkstümlichen Materials bei den mystischen Dichtern Sachal und Bedil in Siraiki und Sindhi behandelt 7 1 . Eine frühe Slg aus dieser Region enthält Geschichten über lokale Ereignisse; die längste von ihnen handelt v o n der Entführung eines Leutnants Grey 7 2 . Obwohl Kulturvereine schon 1977 mit der Veröff. mündl. Hindko-Lit. begannen, liegen bislang n o c h keine Erzählsammlungen vor 7 3 . 'P.Statistical Yearbook. Karatschi 1995, 66. ibid., 64 sq. - 3 cf. Jahani, C.: Standardization and Orthography in the Balochi Language. Uppsala 1989. - 4 cf. Trumpp, E.: Eine Sindhl-Sprachprobe. Sörathi. In: Z D M G 17 (1863) 245-315, hier 246 sq.; Schimmel, Α.: Pearls from the Indus. Studies in Sindhi Culture. Jamshoro-Haiderabad 1986, 36; Elfenbein, J.: An Anthology of Classical and Modern Balochi Literature 1. Wiesbaden 1990, 2; Temple, R. C.: The Legends of the Punjab 1 - 3 . Bombay 1884/85/1900 (Nachdr. Patiala 1962; Ν. Y. 1977), hier t. 1, Vsq. - 5 Edwards, D. B.: Words in the Balance. In: Eickelman, D. F. (ed.): Russia's Muslim Frontiers. Bloom. 1993, 114-129; Schimmel (wie not. 4) 223. - 6 Temple (wie not. 4) t. 1, VII. 7 Grima, B.: The Performance of Emotion among Paxtun Women. Austin 1992. - 8 Islam, M.: A History of Folktale Collections in India, Bangladesh and P. Calcutta (21982). - 9 Mahmud, S. F.: There was once a King. Folk-Tales of P. Islamabad 1980 (meist Nacherzählungen von Erzählungen aus der Zs. „The Indian Antiquary", 1874-95); id.: Folk Romances of P. Islamabad/Lahore 1995. - 10 cf. Dera Ghazi Khan. Field Staff Report. Islamabad [ca 1985], 11 Mufti, U.: Documentation of Performing Arts and Crafts in Asia and Computer Retrieval Systems. Islamabad [ca 1987], - 12 Khalil, M. J.: Pa süba sarhadd kshe da mukhtalifo Pashto AdabT Tolüno aw Jirgo Tanzemüna (Organisationen verschiedener Lit. ges.en und -kuratorien in der Grenzprovinz). Peschawar 1994; Jahani, C.: Poetry and Politics. Nationalism and Language Standardization in the Balochi Literary Movement. In: Titus, P. (ed.): Marginality and Modernity. Karatschi 1990, 105-137, hier 112 sq. - 13 Abbas, Ζ. G.: Folk Tales of P. Karatschi 1957; Komal, L.: Folk Tales of P. Neu Delhi 1976; Hasan, M.-ul-: Famous Folk Tales of P. Lahore s. a.; Naz, Μ. Α.: Lok Kahäniyän (Volkserzählungen). Lahore 1969. - 14 Hanaway, W. L./Nasir, M.: Chap-

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book Publishing in P. In: Hanaway, W. L./Heston, W. (edd.): Studies in Pakistani Popular Culture. Islamabad/Lahore 1996, 339-615; Jatoi, I. Α.: Bibliogr. of Folk Literature. Islamabad 1980. - 15 Hanaway/ Nasir (wie not. 14) num. 253 (Urdu), 53, 277 (Pandschabi), 742, 484 (Paschtu); Pritchett, F. W.: Marvelous Encounters. Folk Romance in Urdu and Hindi. Delhi 1985, 199; Dames, M. L.: Popular Poetry of the Baloches. L. 1907, 111-113; Baluch, M. S. K.: A Literary History of the Baluchis 1. Quetta 1977, 496-508. - 16 Hanaway/Nasir (wie not. 14) num. 522 sq. (Paschtu), cf. 783 (Urdu), 223 (Pandschabi). - 17 ibid., num. 488 sq., 668 [recte 658], 678 (alle Paschtu), 137, 283 (Pandschabi); Dames (wie not. 15) 117; Baluch (wie not. 15) 508-515. - 1 8 Garcin de Tassy, M.: Allegories, recits poetiques et chants populaires. P. 1876; Hanaway/Nasir (wie not. 14) num. 468, 481, 181, 782. - 1 9 Zu Joseph und Zulaykha cf. ibid., num. 545 (Paschtu), 7, 232, 404 (Urdu), 79, 380, 284 (Pandschabi); zu Karbala-Geschichten cf. ibid., num. 131, 229, 231 (Pandschabi), 464, 456, 609 (Paschtu); zu Hamza-Geschichten cf. ibid., num. 141 (Urdu), 462 (Paschtu), 222 (Pandschabi). — 20 Zu Mulla Nasir-al Din cf. ibid., num. 64 (Urdu), 539, 671 (Paschtu), 534 (Pandschabi); zu AaTh 561 cf. num. 536 (Paschtu). 21 Pritchett (wie not. 15). - 22 cf. Shah(a), H.: SassI Punnün. Übers. C. Shackle. Lahore 1985, 15 (Einl. von A. Tahir). - 23 Faruqi, F./Kumar, A./Mohyuddin, A./Sakata, H. L.: Musical Survey of P. Three Pilot Studies. Islamabad 1989, 32. - 2 4 Pathan Folk Songs. In: P. Quart. 10,4 (1962) 17-23. - 25 Faruqi u. a. (wie not. 23) 19. - 26 cf. Abbas, S. B.: Speechplay and Verbal Art in the Indo-P. Oral Sufi Tradition. Diss. Austin 1992. - 27 cf. Heston, W. L.: Footpath Poets of Peshawar. In: Appadurai, A./Korom, F. J./Mills, M. A. (edd.): Gender, Genre, and Power in South Asian Expressive Traditions. Phil. 1991, 305-343. - 28 Slimbach, R. Α.: Ethnic Binds and Pedagogies of Resistance. In: Titus (wie not. 12) 138-167, hier 153; Edwards (wie not. 5) 118. - 29 cf. Gazdar, M.: Pakistan Cinema, 1947-1997. Karatschi 1997, 243-347; verfilmt wurden mindestens vier der 14 Paschtu-Erzählungen aus Heston, W. L.l Nasir, M.: The Bazaar of the Storytellers. Islamabad 1988, 165, 251, 325, 337; cf. auch Zubairi, B.: Jhang kl lok kahäniyän (Volkserzählungen von Jhang). Jhang 1975, 111 (auch als Film verbreitete Geschichte eines Banditen, datiert auf 1911). - 30 Temple (wie not. 4). — 31

cf. Jatoi (wie not. 14) 143 sq., 145 sq. (= Temple [wie not. 4] 2, num. 33; ibid. 3, num. 39). - 32 Swynnerton, C.: Indian Nights' Entertainment; or, Folktales from the Upper Indus. L. 1892 (Nachdr. Ν. Y. 1977); id.: Romantic Tales from the Punjab. Westminster 1903 (Nachdr. Lahore 1976). - 33 Zubairi (wie not. 29). — 34 Schimmel, Α.: Märchen aus P. MdW 1980. - 35 Ajwani, L. Η.: History of Sindhi Literature. Karatschi 1984; Kincaid, C. Α.: Folk Tales of Sind and Guzarat. Ahmadabad 1925 (Nachdr. 1976). - 36 Salim, Α.: Lok Dästänen

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Pan ist tot

(Volkserzählungen). Islamabad 1980. - 37 1. 2: Manäqibä. Haiderabad/Karatschi 1960 (cf. Vorw., 2 sq.); t. 3: Mu'jazä. Haiderabad/Karatschi 1960. — 38 1. 21, 22, 23, 24, 25, 27: Folk Tales 1 - 5 , 7. Haiderabad/Karatschi 1960/63/63/61/62/64. - 39 1. 29: Popular Folk Stories. The Romantic Stories of Sind 1. Haiderabad/Karatschi 1964; t. 30: Suni-Mehar & Noori-Jam Tamachi. Haiderabad/Karatschi 1972; t. 31: Lilan-Chanesar. Haiderabad/Karatschi 1971; t. 33: Sasui-Punhu. Haiderabad/Karatschi 1976. 40 Schimmel (wie not. 4) 179. 41 Thorburn, S. S.: Bannii; or Our Afghan Frontier. L. 1876 (Nachdr. Lahore 1978). - 42 Darmesteter, J.: Chants populaires des Afghans. P. 1888-90. 43 Malyon, F. H.: Pushtu Folk Stories. Nachdr. Islamabad 1980. - 4 4 Ghazanvi, Kh.: Sarhadd! rümänl kahäniyän (Romantische Grenzerzählungen). Islamabad 1978. - 4 5 Hamdani, R.: Razmiya dästänen (Epische Geschichten). Islamabad 1981. - ^ K i p ling, R.: The Ballad of East and West. In: id.: The One Volume Kipling. Garden City, Ν. Y. 1928, 1 - 3 ; cf. Heston/Nasir (wie not. 29); Salim, Α.: Pashtun and Baloch History. Punjabi View. Lahore 1991, 116. - 47 Dames (wie not. 15). — 4 8 cf. Baluch (wie not. 15) 1, 135-156. - 4 9 Zarubin, 1.1.: Beludzskie skazki (Erzählungen aus Belutschistan). Len. 1932. - 50 cf. Elfenbein (wie not. 4). 51 ibid. 1, 203-255. - 5 2 D e r a Ghazi Khan (wie not. 10). — 53 cf. Jahani (wie not. 3) 21; zur Reihe cf. Marri, M./Ghazi, A./Buzdar, Μ. M. (ed.): Gedl qissah (Volkserzählungen) 1 - 5 . Quetta 1968/69/71/70/ 71. - 5 4 cf. Baloch, Β. Α.: Lallah Gränäz. Quetta 1970, 1 (engl. Text); ibid., 16-18, abgedr. in Baluch (wie not. 15) t. 1, 414-416. - 55 QadTm balüchl kahäniyän (Alte Erzählungen aus Balutschistan). Übers. A. G. Nadim. Quetta 1980. - 5 6 Slimbach (wie not. 28) 153 sq. - 57 Brahui, A. R.: Brähü'I lok kahäniyän. Taläsh aur tarjamah (Brahui-Volkserzählungen. Forschung und Ubers.). Islamabad 1978. - 58 Knowles, J. H.: Folk-Tales of Kashmir. L. 1888 (Nachdr. u. d. T. Kashmiri Folk Tales. Islamabad 1981). - 59 Bänihäll, R. T.: Kashmiri lok kahäniyän (Volkserzählungen aus Kaschmir). Islamabad 1978. - 60 Mayeda, N./Brown, W. N.: Tawi Tales. Folk Tales from Jammu. New Haven, Conn. 1974. — 61 Hook, P.: Kesar of Layul. A Central Asian Epic in the Shina of Gultari. In: Hanaway/Heston (wie not. 14) 121-183; Skyhawk, H. van: Libi Kisar. Ein Volksepos im Burushaski von Nager. Wiesbaden 1966; Faruqi u . a . (wie not. 23). - 6 2 Qazalbäsh, R. I.: GulmuttT. ShimälT 'aläqah-jät kl lok kahäniyän (Gulmuttl. Volkerzählungen der Bewohner der Nördl. Gebiete). Islamabad 1990, num. 4. - 6 3 Radioff, C./Shakil, S. Α.: Folktales in the Shina of Gilgit. Islamabad 1998. - 6 4 Lorimer, D. L. R.: The Burushaski Language 2. Oslo 1935; id.: Folk Tales from Hunza. Islamabad 1981; cf. auch Felmy, S.: Märchen und Sagen aus Hunza. Köln 1986. - 6 5 Tiffou, Ε./ Pesot, J.: Contes du Yasin. P. 1989. - 66 Morgensterne, G.: A Khowar Tale. In: Indian Linguistics 16 (1955) 163-169. - 67 Faizi, I. U.: Chitral. Islamabad

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1990, 135-150. - 6 8 Trail, R. L./Hale, Α.: A Rhetorical Structure Analysis of a Kalasha Narrative. Horsleys Green 1995. - 6 9 Addleton, J. S.: The Importance of Regional Languages in P. In: al-Mushir 28,2 (1986) 5 5 - 8 0 . - 70 Shackle, C.: From Wuch to Southern Lahnda. A Century of Siraiki Studies in English. Multan 1983, 47. 71 id.: Styles and Themes in the Siraiki Mystical Poetry of Sind. Multan 1975, 19. - 7 2 Skemp, F. W.: Multani Stories. Lahore 1917. - 7 3 Hamdani, R.: Hindko zabän ka süfi shi'r (Sufi-Dichtung in der Hindko-Sprache). Islamabad 1977.

Philadelphia

Wilma Heston

Pan ist tot (AaTh 113 A), Sage über eine Todesbotschaft (-> Tod), die ein übernatürliches Wesen einem anderen durch einen menschlichen Zwischenträger überbringen läßt. Die Sage ist fast ausschließlich im germ., kelt. und finn.-ugr. Sprachbereich belegt 1 und weist zwei Hauptredaktionen auf: (1) Anthropomorphe Akteure 2 : (1.1) Eine Person hört unterwegs die -» Stimme eines meist -» Unsichtbaren: ,Sag X, daß Y gestorben ist'. Beide Namen sind der Person unbekannt. Als sie zu Hause (auf einer Hochzeit) von ihrem Erlebnis erzählt, ruft plötzlich die Magd: ,Da muß ich hingehen', und eilt für immer davon. Die Magd ist eine Ubernatürliche, die vom Tod eines Verwandten erfahren hat. (1.2) verläuft wie (1.1), nur ist der Empfänger der Nachricht ,Sag X, sein Kind ist tot' (,Sag Χ, Y ist ins Feuer gefallen') ein bisher nicht bemerkter Hausgeist (ein gerade [meist Bier] stehlender Jenseitiger), der (unter Zurücklassung von Gegenständen) überstürzt davoneilt (Nähe zu Ο Süilleabhäin/Christiansen 501*: The Fairy Hill is on Fire). (1.3) -> Zwerge feiern Hochzeit in Wohnungen der Menschen. D a ruft eine Stimme: ,X ist tot'. Die Feiernden eilen (unter Zurücklassung von Geschenken) davon (Kombination mit dem Sagentyp Hochzeit der Zwerge, cf. Grimm DS 70; oft verbunden mit der Auswanderung der Zwerge, Mot. F 451.9). (2) Zoomorphe Akteure 3 : (2.1) Ein Mann bekommt von einer -> Katze (Katzen) den Auftrag, X zu sagen, daß Y tot sei. Der Mann berichtet seiner Frau von seinem Erlebnis mit der sprechenden Katze. D a sagt der Hauskater: ,Ist Y gestorben, dann muß ich fort' (,Ist Y tot, so werde ich König'; -> Herr der Tiere), und verschwindet auf Nimmerwiedersehen. (2.2) Ein Mann (zwei Männer) gibt unterwegs einer immer mehr fordernden Katze (hinzukommenden Katzen) zu fressen. Schließlich erschlägt er sie (die letzte). Diese ruft, bevor sie stirbt: ,Sag X, daß du Y getötest hast'. Als der Mann dieses zu Hause ausspricht, wird er von (s)einer Katze getötet.

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Pan ist tot

Benannt wurde die Sage nach ihrem ältesten Beleg, der aus der Antike bisher nur durch -> Plutarch (De defectu oraculorum, Kap. 17) bekannten sog. P.-Sage4: Die Insassen eines vor den Paxosinseln treibenden Schiffes hören eine geheimnisvolle Stimme laut den Namen des ägypt. Steuermanns rufen. Beim dritten Anruf antwortet er. Die Stimme befiehlt ihm: ,Wenn du nach Palodes kommst, dann melde, daß der große P. gestorben ist.' Als er den Auftrag ausführt, ertönt großes Schreien und Wehklagen.

Die Plutarch-Stelle erscheint wörtlich bei dem Kirchenvater Eusebios von Caesarea (um 2 6 4 - u m 340; Praeparatio Evangelica 5,17), und seither wurde der Tod des P. im christl. Kontext als Allegorie für das Ende der heidnischen Religionen oder für den Tod -> Christi gedeutet: Bes. im 16. und 17. Jh. wurde einerseits unter Berufung auf Eusebios der mit Bockshörnern und -beinen dargestellte arkad. Hirtengott P. als -> Dämon mit dem -> Teufel identifiziert, der seine Macht durch die Kreuzigung Jesu verloren habe, und andererseits wurde der totgemeldete P. mit dem am Kreuz gestorbenen Jesus gleichgesetzt 5 . Die Erzählung Plutarchs wurde auch durch die MagicaLit. verbreitet 6 . Bereits in der -> Zimmerischen Chronik (16. Jh.) findet sich jedoch die Geschichte mit Katzen als Beteiligten: Hier gilt die von einem Reisenden im Wald gehörte Todesbotschaft der Katze des Brixener Bischofs von Meckow 7 . Auf die Parallelen zwischen Plutarchs P.-Geschichte und rezenten Volksüberlieferungen wies 1856 als erster F. Liebrecht hin, der die Geschichte in Zusammenhang mit Vegetationskulten interpretierte 8 . Vor allem W. Mannhardt führte die Jenseitigen in der neueren Volksüberlieferung zu AaTh 113 A — in den zahlreichen süddt. Var.n meist -> Wildmenschen bzw. -> Waldgeister - auf sterbende und wiederauferstehende Fruchtbarkeitsgeister der germ. Mythologie zurück 9 . Ihm folgten J. G. Frazer sowie die Philologen G. A. Gerhard und C. Clemen mit bes. Betonung der P.-Geschichte als Bruchstück eines Rituals antiker Fruchtbarkeitskulte 10 . Nach A. -• Tayl o r " hingegen ist der Ursprung von AaTh 113 Α in der -» Sinnestäuschung zu suchen, im Wind seien menschliche Stimmen zu hören, die als Todesbotschaft interpretiert wurden. Die Variabilität der Geschichte sei durch die

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jeweiligen lokalen Glaubensvorstellungen über Jenseitige (griech. P., südgerm. bes. Waldgeister, skand. und norddt. Zwerge und Bergmännlein, kelt. vermutlich eine Art Katzendämon) bestimmt worden 12 . I. M. ->• Boberg ergänzte in ihrer Monogr. Taylors Textkorpus (ca 250 Var.n) um über 100 neue Var.n 13 und bestimmte die anthropomorphe Gruppe als vorwiegend germ, und die Katzengruppe als vorwiegend kelt. Nach ihren Erkenntnissen dominiert (1) in Skandinavien, ist in Deutschland häufig belegt und kommt auch in den Niederlanden, Belgien und Frankreich vor 14 . In England, Schottland, Irland und im Norden Islands sei hingegen ausschließlich die Katzengruppe belegt, die aber auch in Frankreich beliebter als die anthropomorphe Gruppe sei und ebenso in Dänemark, den Niederlanden und Deutschland (oft mit Hexensagen vermischt) vorkomme 1 5 . Mündl. Var.n der anthropomorphen Gruppe datiert Boberg aufgrund von siedlungsgeschichtlichen Kriterien schon vor 100 p. Chr. n., so daß sie einen Einfluß germ. Traditionen auf Plutarch nicht ausschließt 16 . Diese Gruppe habe spätestens im 6. Jh. England erreicht, sich dort in die zoomorphe Form gewandelt und sich über Irland, Schottland, ostwärts auf das europ. Festland und wiederum nordwärts in Teile von Skandinavien verbreitet 17 . Die Gruppe (2) unterteilte Boberg in die brit. Katzengruppe in einfacher Form (2.1) und die brit. Katzengruppe mit einer Tötung aus Rache (2.2); letztere, wie sie sich in Irland und Schottland findet, betrachtet sie als entschieden ,kelt.' Form 18 . Weiteres Textmaterial zu AaTh 113 Α erschlossen J. Kahlen (westschwed. Var.n) 19 , R. T. -+ Christiansen (norw. Var.n) 20 und M. Haavio (finn. und estn. Var.n) 21 . Haavio weist auf Mischformen von (1) und (2) hin, in denen es ζ. B. heißt, der Empfanger der Todesbotschaft sei ein Troll in Katzengestalt. Ihm zufolge entwickelte sich die Katzengestalt sekundär aus der anthropomorphen Gestalt 22 . Haavio stimmt der rationalistischen Erklärungsweise Taylors über den Ursprung der Geschichte zu und sieht das auditive Erlebnis als wesentlichen Faktor für die Entstehung von Var.n in Memoratform an. Die These Bobergs vom germ. Ursprung der Sage lehnt er ab und hält östl. oder ägypt. Einflüsse für wahrscheinlicher 23 . Nach W. ->· Liungman ist

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Pan ist tot

keine der beiden Gruppen vor dem 15. Jh. und das Erscheinen der Katzengruppe in England und Irland erst im 16. Jh. anzusetzen 24 . Für seine Unters, der ir. Var.n trug E. R. Ο Neill 25 über 240 Texte aus ganz Irland zusammen. Alle Var.n gehören zur Katzengruppe, wobei die ,einfache' (2.1) etwas häufiger als die Rache-Redaktion (2.2) vertreten ist. Mischformen sind selten und erscheinen hauptsächlich in Kombination mit dem ir. Erzähltyp Ο Süilleabhäin/Christiansen 2412 C: The Cat Asks for Boots. Redaktion (2.1) ist mit Ostirland und der engl. Sprache verbunden, Redaktion (2.2) hingegen mit dem Westen Irlands und der gäl. Sprache. Die Redaktion (2.2) dominiert bei den gäl.sprachigen Var.n aus den kulturellen Rückzugsgebieten und ist daher vermutlich älter als (2.1). Die Einheitlichkeit der ir. und schott. Fassungen weist auf ein beträchtliches Alter der Rache-Redaktion in diesen Ländern hin, auch wenn sie in Irland gedruckt erst in einer Quelle aus der 2. Hälfte des 16. Jh.s erscheint 26 . Die Tatsache, daß in dieser Geschichte die unheimliche Katze Gälisch spricht, läßt sich als Indiz dafür ansehen, daß sie in Irland im 16. und in vorhergehenden Jh.en weit verbreitet war und sich mit der Abnahme der gäl. Sprache im Osten nach dem 17. Jh. in den Westen zurückzog. Auch die nach Boberg 27 aus Irland und Schottland nach Island gelangten Var.n der Rache-Redaktion weisen auf das vermutlich beträchtliche Alter der Erzählung in Irland hin 28 . Zumindest theoretisch ist für die Rache-Redaktion in Irland seit den ersten Jh.en p. Chr. n. über die Zeiten hinweg ein entsprechender zoomorpher Hintergrund vorhanden. Neuere archäologische Funde zeigen, daß die Wildkatze in Irland heimisch war, aber vor frühchristl. Zeit (5. Jh.) ausgerottet wurde, während die Hauskatze wahrscheinlich in den ersten Jh.en p. Chr. n. aus dem röm. Britannien eingeführt wurde 29 . Auch schon durch frühir. Lit. bezeugte Glaubensvorstellungen über die supranormalen Kräfte von Katzen und die alte Auffassung des Königtums, die ein wichtiges Prinzip der kelt. und frühir. Gesellschaft war, könnten den gedanklichen Hintergrund beim frühen Erscheinen der Erzählung über ein Königtum der Katzen gebildet haben. Literar. Verwendung fand vor allem die P.Geschichte des Plutarch, deren Bekanntheits-

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grad sich auch durch Anspielungen erweist 30 . Im 16. Jh. erschien sie in der engl, und frz. Lit.: bei -> Rabelais (Gargantua et Pantagruel 4,28), Noel Du Fail (Contes et discours d'Eutrapele 2, Kap. 34) und Edmund Spenser (The Shepheardes Calender)31. John Milton stellte in seiner Ode On the Morning of Christ's Nativity (1629) das P.mysterium neben das Christusmysterium 32 . Im 18. Jh. entstand die Oper Der Tod des großen Ρ.Ώ, im 19. Jh. erschien Elizabeth Barrett Brownings Gedicht The Dead Ρ 3 4 Aber auch die Volkssage fand durch Adalbert Stifters Erzählung Katzensilber (1853) Eingang in die Lit. 35 1 Ergänzend zu AaTh: Ο Süilleabhäin/Christiansen; Baughman; M N K ; György, num. 166; cf. aber Tille, Soupis 2,2, 435 sq. (6 Katzenvar.n: meist Aufforderung, zur Beerdigung zu kommen). - 2 Mot. F 442.1; Simonsuuri G 1201; Liungman, W.: Sveriges sägner i ord och bild 4. Sth./Djursholm 1961, num. 809 Β; Christiansen, Migratory Legends, num. 6070 Α. — 3 Mot. Β 342; Baughman Β 342 a - c ; Liungman (wie not. 2) num. 809 A; Christiansen, Migratory Legends, num. 6070 B. - 4 Wassmann, X.: Der Tod des großen P. Zum Untergang des Naturgottes in der Antike. Lizentiatsarbeit (masch.) Zürich 1994. 5 Gerhard, G. Α.: Der Tod des großen P. In: Sb.e der Heidelberger Akad. der Wiss.en., Phil.-hist. Kl. 5 (1915) 1 - 5 2 ; id.: Zum Tode des großen P. In: Wiener Studien 26 (1915) 322-352; id.: Nochmals zum Tode des großen P. ibid. 28 (1916) 343-376; Weinreich,

0 . : Zum Tod des großen P.In: ARw. 13 (1910) 467-473. - 6 [Grosse, H.:] Magica, Das ist: Wunderbarliche Historien von Gespenstern und mancherley Erscheinungen der Geister [...] 1. Eisleben [1600], 62v sq. - 7 Barack, Κ. A. (ed.): Zimmerische Chronik 4. Fbg/Tübingen 2 1882, 188 sq.; cf. die Slg von 68 internat. Var.n bei Ranke, F.: Volkssage. Lpz. [um 1934], 5 2 - 9 0 , hier 53 sq. - 8 Liebrecht, F. (ed.): Des Gervasius von Tilbury Otia imperialia. Hannover 1856, 179-182. - ' M a n n h a r d t , W.: Wald- und Feldkulte 1 - 2 . B. 1875/77, hier t. 1, 9 0 - 9 3 ; t. 2, 133 sq.; cf. auch die Aufzeichnungen aus den 1960er Jahren bei Haiding, K.: Zur Todesbotschaft in steir. Volkssagen. In: Bll. für Heimatkunde 50 (1976) 187-191. - 1 0 Frazer, J. G.: The Golden Bough 3. L. 1911, 120-134; Gerhard (wie not. 5); Clemen, C.: Die Tötung des Vegetationsgeistes. In: Neue Jbb. für das klassische Altertum 25 (1922) 123-134. "Taylor, Α.: Northern Parallels to the Death of P. In: Washington Univ. Studies 10, 1 (1922) 3 - 1 0 2 , hier 4 - 1 1 . - 1 2 ibid„ 10 sq., 8 5 - 1 0 2 . - 13 Boberg, 1. M.: Sagnet om den store Pans Dod. Kop. 1934, 158 (mit dt. Resümee). - 14 ibid., 11 sq., 155 sq., 159. - 15 ibid. - 16 ibid., 167 sq.; zustimmend auch Röhrich, L.: Die dt. Volkssage. In: Studium Generale 11 (1958) 664-691, hier 682sq. - " B ö b e r g (wie

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Panama - Pancatantra(m)

not. 13) 167. - 18 ibid., 142-150, 155-157, 165, 167. - 19 Kahlen, J.: En typ av P.sägnen i västsvenska uppteckningar. In: Folkminnen och Folktankar 23 (1936) 8 9 - 9 2 . - 20 Christiansen, Migratory Legends, num. 6070 Α und Β; zu amerik. Var.n, die hauptsächlich aus engl. Überlieferung zu stammen scheinen, cf. id.: European Folklore in America. Oslo 1962, 100 sq. 21 Haavio, M.: Der Tod des großen P. mit Berücksichtigung neuen finn. Materials. In: SF 3 (1938) 113-136. - 2 2 ibid., 124. - 2 3 ibid., 127 sq. 24 Liungman (wie not. 2). - 25 Ο Neill, E. R.: „The King of the Cats is Dead" in Irish Folk Tradition. Dublin (masch.) 1982; cf. id.: A Preliminary Study of „The King of the Cats is Dead" in Irish Tradition. In: Sinsear 4 (1982-83) 117-126; id.: The King of the Cats (ML 6070 B). The Revenge and Non-Revenge Redactions in Ireland. In: Bealoideas 59 (1991) 167-188. - 2 6 In dem William Baldwin zugeschriebenen Traktat „Beware the Cat". L. 1584, cf. Brie, F.: William Baldwin's „Beware the Cat" (1561). In: Anglia 37 (1913) 303-350, hier 321 sq. - " B o berg (wie not. 13) 165. - 28 cf. Power, R.: ,An Oige, An Saol Agus An Bäs', Feis Tighe Chonain and ,I>00rr's Visit to Utgaröa-Loki'. In: Bealoideas 53 (1985) 217-294, hier 254, not. 77 (isl. Var.n). - 2 9 cf. ζ. B. McCormick, F.: The Domesticated Cat in Early Christian and Medieval Ireland. In: Mac Niocaill, G.AVallace, P. (edd.): Keimelia. Studies in Medieval Archaeology and History in Memory of Tom Delaney. Galway 1988, 218-228, hier 218. - 3 0 Weinreich (wie not. 5); Merivale, P.: P. the Goat-God. His Myth in Modern Times. Cambr., Mass. 1969; Röhrich, Redensarten 2, 1130 sq. 31 cf. Gerhard (wie not. 5) 16 sq. - 32 ibid., 24. 33 Hunger, Η.: Lex. der griech. und röm. Mythologie. Reinbek 1979, 302. - 34 The Poetical Works of Elizabeth Barrett Browning. L. 1904, 303-306. 35 Avanzin, Α.: Die sagenmäßige Grundlage von Stifters „Katzensilber". In: ÖZfVk. 64 (1961) 274-276; Müller, J.: Menschenwelt, Naturereignis, Symbolbezug und Farblichkeitsstruktur in Adalbert Stifters Erzählung „Katzensilber". In: Adalbert-Stifter-Inst. des Landes Oberösterreich, Vjschr. 31 (1982) 145-167.

Dublin

Patricia Lysaght

Panama ->• Mittelamerika

Paficatantra(m), altind. Sammlung von Fabeln, Erzählungen und Sprüchen (Sanskrit, der Titel ist mehrdeutig und umstritten) 1 , wohl verkürzt aus einem ursprünglichen (panca)tanträkhyäyika. Dieses selbst ist bewußt doppeldeutig, bezeichnet doch ,tantra' einmal die ,Herrschaft', andererseits auch ,Lehre, Lehr-

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abschnitt'. Der lange Titel bedeutet somit ,(ein Lehrbuch), welches (fünf) Erzählungen über (das Thema) Herrschaft [cf. Herrscher] enthält', der verkürzte, populäre hingegen nur ,(Werk), das fünf Lehrabschnitte enthält'. Der Autor nennt sich in allen, auch den jüngeren Fassungen, Visnusarman. Damit ist er als Brahmane zu erkennen, doch mehr weiß man von ihm nicht 2 . Aus dem Werk selbst ist zu erschließen, daß er mit dem Leben am Hofe und der Politik bestens vertraut war. Über Burzoes Pehlevi-Fassung Kaiila wa Dimna verbreitete sich das Werk bald im Vorderen Orient; von hier gelangte es in mehreren Strömen nach Europa 3 . Entstehungszeit und -ort sind nur vage eingrenzbar. Der Sassanidenherrscher Anüslrwän I., heißt es eingangs, habe in seiner Regierungszeit (531-579 p. Chr. n.) den Arzt Burzoe nach Indien geschickt, um das selbst im Iran inzwischen hochberühmte Werk ausfindig zu machen und zu übersetzen. Dieses liefert einen Terminus ante quem. Der Text selbst enthält kaum ein Detail, das chronologisch relevant wäre. Eine Maßangabe (hastasatäni) jedoch, die im Vorw. erscheint und die offenbar nie den Weg in das klassische Schrift-Sanskrit gefunden hat, findet sich auch auf einer Inschrift von Rudradäman I., die dieser Mahäksatrapa-König bei Girnar (Berg auf der Halbinsel Kathiawar) um 150 p. Chr. n. hat einmeißeln lassen. Dieses Datum paßt zu einer Vermutung auf sprachlicher Basis 4 , das Werk sei noch vor 250 p. Chr. n. entstanden. Als Entstehungsort scheint das zentralind. Hochland auszuscheiden, denn im Vorw. wird ein kluger König aus dem Dekkan (däksinätya) mit drei einfältigen Söhnen präsentiert, die sich vermittels des Werkes zu brauchbaren Politikern wandeln sollen. Die Stelle hat den Charakter einer Satire, die sich am besten erklärt, wenn man den Ort der Entstehung außerhalb des Dekkans ansetzt. Eine Entstehung im Herrschaftsgebiet Rudradämans, mit der Hauptstadt in Ujjain, würde sowohl die Blickrichtung gegenüber dem Süden erklären als auch verständlich machen, auf welchem Wege das Werk im nahen Iran berühmt werden konnte. Das P. mischt Erzählungen, in denen nur Menschen agieren, mit -> Fabeln, in denen entweder Tiere unter sich sind oder in denen sie sich mit Menschen auseinanderzusetzen ha-

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Pancatantra(m)

ben. Tiere verstehen zwar die menschliche Sprache, können aber nur zu Tieren sprechen. In dieser Hinsicht, aber auch in Bezug auf Handlungsabläufe finden sich zahlreiche Parallelen zu den -> Jätakas der buddhist. Lit. Formal stellt sich das P. als eine Mischung aus Prosa mit eingeschobenen Versen dar, wobei die metrischen Partien nicht narrativ sind, sondern als ,Gutgesagtes' (subhäsita) denkwürdige Einsichten vermitteln. Häufig werden diese Verse als Zitate gekennzeichnet, und in der Tat lassen sich eine Vielzahl von ihnen in den Epen und in den Slgen von Aphorismen (satakäni [Hunderter], drei Sammlungen v o n je 100 Versen) des Bhartrhari (1. Hälfte 1. Jh.) belegen 5 . D a s P. beginnt mit einer Einl., die in pseudohist. Manier Anlaß und Absicht des Werkes schildert: Ziel ist es, naive Jugendliche zu psychol. denkenden Regenten zu machen. Die folgenden fünf Rahmenerzählungen und die eingeschalteten Fabeln sind untereinander nicht verbunden: Keine Figur k o m m t in mehr als einer Geschichte vor. Jede der fünf Haupterzählungen enthält eine Reihe kürzerer Fabeln; diese Technik des Einschachteins hat eine lange Tradition in Indien 6 , wurde aber hier zum ersten Mal systematisch angewendet 7 . Zusammenfassung der Rahmenerzählungen: Das 1. Buch 8 schildert, wie zwei natürliche Feinde, ein -» Löwe und ein freigewordener Stier, sich zuerst in Freundschaft verbinden, um danach dem Ränkespiel eines einflußlos gewordenen -» Schakals auf den Leim zu gehen. Der Löwe tötet seinen neuen Freund, den Stier. Die Lehre heißt: Den Feind im angeblichen Freund (Schakal) nicht zu erkennen bringt Unglück. Im 2. Buch werden vier Tiere, die sich normalerweise entweder indifferent gegenüberstehen oder Freßfeinde sind, zu Freunden: eine Krähe (-» Rabe), eine Schildkröte, eine Gazelle und eine Maus sind gemeinsam von einem Jäger nicht zu besiegen. Wer also im angeblichen Feind den Freund erkennt, der lebt im Glück. Das 3. Buch behandelt den Kampf zwischen Krähen und Eulen, also zwischen zwei Vogelarten, deren Waffen gleich stark sind, die aber unterschiedliche Kampfzeiten (Tag bzw. Nacht) bevorzugen. Das Dauerpatt wird durch eine angeblich verstoßene Krähe beendet, die sich von den Eulen aufnehmen läßt und sie mitsamt ihrer Wohnstatt in Brand setzt. Hintergrund dieser Fabel ist das literar. Werk eines skrupellosen Machtpolitikers, dessen Name aus Zitaten als Kaninka Bhäradväja bekannt ist. Einige

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seiner an Niccolo Machiavelli erinnernden Aussagen und Zielvorstellungen sind im Arthasästra (Buch über das Welt- und Staatsleben, vermutlich 3. Jh. p. Chr. n.) und im -» Mahäbhärata erhalten 9 . Seine Gedanken, die um das Thema -» Täuschung anderer kreisten, waren aber offenbar noch nicht Allgemeingut geworden — sowohl der König der Krähen als auch der der Eulen (-> Tierkönig) kennen sie nicht. Dennoch geht der Krähenkönig auf den Vorschlag seines Ministers ein und läßt ihn beim Feind Unterschlupf suchen. Die Krähen haben somit einen Machtpsychologen mit Kompetenz ausgestattet und gewinnen. Die Eulen hingegen nehmen den vermeintlichen Helfer auf, erkennen den Hintergrund seines Kommens nicht und gehen zugrunde. Nur einer von fünf Ministern des Eulenkönigs durchschaut den Feind an seinen Kanmka-Zitaten, verrät ihn aber nicht. Die angeblich verstoßene Krähe muß ihrerseits aus den Zitaten Kaninkas aus dem Munde des Eulenministers schließen, daß sie es mit einem Gleichwertigen zu tun hat. Der wissende Eulenminister kann den König nicht davon überzeugen, daß hier eine große Gefahr lauert, und zieht mit einigen Gefolgsleuten davon. Nur er, der seinen Gegner durchschaut hat, kommt mit dem Leben davon. Die Lehre ist hier also sehr vielschichtig. Man vertraue den Kennern der Machtpsychologie: Wie der Krähenkönig wird man Erfolg haben. Wer aber einmal den Feind nicht erkennt, wer zudem nicht den schlichten Politiker vom Machtpsychologen unterscheiden kann, dem steht der Untergang bevor. Das 4. Buch handelt von einem vereinsamten -» Affen, der sich von einem -» Delphin auf den Rükken nehmen läßt, um einer Einladung zu folgen. Erst unterwegs erkennt er, daß der Delphin ihn töten will, um seiner Frau ein Schwangerschaftsgelüst zu erfüllen (AaTh 91: Affenherz als Heilmittel). Lehre: Auch Freunde können sich, wenn sie unter Zwang stehen, in Feinde verwandeln. Wer sie dann durchschaut, wird Erfolg haben. Das 5. Buch handelt von einem Brahmanen, der sein neugeborenes Kind von einem Mungo zu Hause kurzfristig bewachen läßt. Der Mungo tötet eine anrückende Schlange und springt wenig später dem heimkehrenden Vater freudig entgegen. Der Brahmane assoziiert in seiner Sorge um den Sohn die blutige Schnauze mit einer Untat des Tieres und erschlägt es. Zu Hause muß er seinen Irrtum erkennen (AaTh 178 A: -» Hundes Unschuld). Lehre: Echte Freunde bleiben es auch; in ihrem Fall darf man nicht Äußerlichkeiten gegen sie auslegen. Wer sich zu sehr von den eigenen Affekten leiten läßt, wird Nachteile davontragen 10 . D e m Werk liegt ein im Vorw. ausgesprochener einheitlicher Gedanke zugrunde: Es ist unwichtig, was ein Gegenüber an Absichten zu erkennen gibt und als Handlung empfiehlt. Der ->• König m u ß hinter die Kulissen blicken und erkennen, w o bei Gegner wie Ratgeber

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Pancatantra(m)

geheime Neigungen versteckt sind und welche Affekte das rationale Denken überlagern. Gleichzeitig muß er sich stets vor Augen halten, daß alles, was er bisher als gegeben ansah, sich von einem Tag auf den anderen in sein Gegenteil verkehren kann. Freunde brauchen keine Freunde zu bleiben, und Feinde können zu Freunden werden (-> Freundschaft und Feindschaft). Alles ist möglich, aber man kann nur seinen Vorteil daraus ziehen, wenn man sich die Wandelbarkeit aller Beziehungen jederzeit vor Augen hält. Um dem Leser diesen Prozeß zu verdeutlichen, hat der Autor bekannte Motive aus Epos und Volkserzählung übernommen — Geschichten, bei denen es von vornherein keinen Zweifel gibt, wer der Böse und wer der Gute ist (-> Gut und böse). In vielen Fällen hat er an den entscheidenden Stellen die Pointe in ihr Gegenteil verkehrt. Damit konnte er einen Überraschungseffekt erzielen, der bei neu erdachten Konstruktionen nicht möglich gewesen wäre. Diese Umkehrung des Gewohnten findet sich einmal im Handlungsablauf, aber auch im Bedeutungsgehalt von Versen, wie etwa bei den Kaninka-ZitaXen, und ζ. T. auch bei Sprichwörtern oder sprichwörtlichen Redensarten". Die Wirkung des Werkes war also von der Kenntnis gängigen Erzähl- und Versguts abhängig. Der nicht vorgebildete Leser war daher nicht in der Lage, Hintergründe und Seitenhiebe zu erkennen. Erst dank der Forschung seit den letzten ca 30 Jahren ist man heute in der Lage, die Wirkung des Werkes in der ersten Zeit seiner Verbreitung nachzuempfinden12. In Indien geriet das Hintergrundwissen um die literar. Anspielungen und die Subtilitäten bald in Vergessenheit, und das Werk wurde mehr und mehr zu seinen volkstümlichen Qu.η zurückgeführt, ζ. B. die Erzählung vom Esel im Pantherfell (AaTh 214 Β: ^ Esel in der Löwenhaut)13. Die Texte wurden je nach Geschmack und Talent der Bearbeiter trivialisiert oder mit literar. Beiwerk ausgeschmückt. Mit Recht steht das Tanträkhyäyika (etwa 3. Jh.) im Rufe, der Urfassung am nächsten zu stehen bzw. auf weite Strecken mit ihm identisch zu sein. Es wurde von J. Hertel mustergültig ediert und übersetzt 14 . Zu Beginn dieses Jh.s in wenigen Hss. aus Kaschmir entdeckt, ent-

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hält es in zwei leicht voneinander abweichenden Fassungen α und β den Text Kathämukha bis zum 5. Tantra (cf. allg. Kathä-Literatur), doch sind ein bis zwei Seiten des Schlusses verloren. Fassung α ist durch eine Erzählung (Die hinterlistige Kupplerin) erweitert. Drei nur in Fassung β enthaltene Texte betrachtete Hertel als Zusätze, doch konnte inzwischen gezeigt werden, daß sie allesamt zur Urfassung gehören 15 . Darüber hinaus lassen Lücken erkennen, daß α und β auf eine gemeinsame Vorgängerversion zurückgehen, die nicht wesentlich vom Urtext abwich. Die Sprache ist subtil und voller Doppeldeutigkeiten, die Einbindung der Schaltfabeln gelingt ohne Brüche. Die weitere ind. Entwicklung wurde von Hertel 16 mit den Kenntnissen seiner Zeit ausführlich dargelegt. Eine Zusammenschau neu gefundener oder bearb. Fassungen 17 fehlt bislang. Unter allen frühen Versionen steht das sog. Südl. P. dem Tanträkhyäyika noch sehr nahe. Eine nur die Verse enthaltende Version blieb in einem einzigen Ms. in Nepal erhalten. Auf diese nepales. Version geht der -> Hitopadesa zurück. Das Südl. P. ist sprachlich anspruchslos, und der Autor sagt gleich zu Beginn, daß sein Werk für Kinder gemacht sei — eine Fehleinschätzung, die sich allerdings in Indien bis heute gehalten hat. Inhaltlich gibt es keine großen Abweichungen, allerdings sind einige Schalterzählungen ausgelassen 18 . Der sog. textus simplicior war als erster von der westl. Wiss. bearb. worden. Er ist zwischen 850 und 1199 p. Chr. n. in Kreisen der -> Jainas entstanden. Die Erzählungen hat man radikal geändert, ergänzt oder ausgelassen. Das 5. Buch wurde gänzlich neu gestaltet. Dieser Text, von T. Benfey 1859 nach der Edition von L. Kosegarten (1848) interpretiert und übersetzt, hatte großen Einfluß auf die moderne Erzählforschung. Eine erheblich verbesserte Edition auf der Basis guter Hss. wurde 1885/86 von G. Bühler und F. Kielhorn erstellt, die immer wieder nachgedruckt und übersetzt wurde 19 . Eine zweite jainist. Fassung entstand 1199 durch den Mönch Pürnabhadra (textus ornatior), der sowohl auf den textus simplicior als auch auf das Tanträkhyäyika zurückgreifen konnte. Seine Fassung ist als Dichtung ansprechend, inhaltlich aber weit vom Original entfernt 2 0 .

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Pancatantra(m)

Bes. folgenreich war die Aufnahme des P. in eine — wohl kaschmir. — Fassung der Brhatkathä des Gunädhya, eine in einer Volkssprache abgefaßte Slg von Erzählungen, die nur in Übers.en und Bearb.en erhalten ist. E r z ä h l t y p e n u n d - m o t i v e (Ausw.): Tanträkhyäyika21: 1 = Schakale stacheln Löwen gegen Ochsen auf (Bodker, num. 81). - 1,2 = Schakal und Schallbecken (Bodker, num. 1069; Dicke/Grubmüller, num. 209). - 1,3b = Schakal und Hirsche (Bedker, num. 990; Dicke/Grubmüller, num. 194). - 1,6 = AaTh 92: cf. -» Spiegelbild im Wasser. — 1,7 = AaTh 282 C*: - Laus und Floh. - 1,10 = Das Meer raubt Vogelpaar die Jungen (B0dker, num. 11). — 1,11 = AaTh 225: cf. -» Fliegen lernen. - 1,12 = Drei Fische: nur der träge wird gefangen (AaTh 246: The Hunter Bends the Bow). - 1,14 = Vogel belehrt Affen über Zwecklosigkeit ihres Versuchs, an einem Glühwürmchen Feuer zu entfachen (Bedker, num. 1019; Dicke/Grubmüller, num. 32). - 2,3 = AaTh 180: The Rebounding Bow. - 3 = cf. Krieg der Tiere (Bedker, num. 15). - 3,1 = AaTh 50 A: Esel in der Löwenhaut. - 3,2 = cf. AaTh 221: —> Königswahl der Tiere. - 3,3 = AaTh 92 A: cf. Spiegelbild im Wasser. - 3,4 = Katze als Richter (Bodker, num. 135; Dicke/Grubmüller, num. 344). - 3,11 = 233 A: cf. -> Vögel und Netz. — 4 = AaTh 91: Affenherz als Heilmittel. - 4,2 = AaTh 52: - Eselherzfabel. - 5 = AaTh 178 A: Hundes Unschuld.

Eine moderne Synthese des ursprünglichen P. verdankt ihre Existenz dem amerik. Indologen F. Edgerton, der alle ind. Fassungen verglich und davon ausging, daß Gedanken oder Phrasen, die in allen zu finden seien, auch dem Urwerk angehören müßten. Alle Subtilitäten des Orig.s gingen jedoch bei seiner Synthese verloren22. Die Frage, wie weit die Urform des P. überhaupt rekonstruiert werden kann, ist auch heute noch nicht endgültig beantwortet23. 1 Hertel, J.: Was bedeutet der Titel Tanträkhyäyika und P.? In: Wiener Zs. für die Kunde des Morgenlandes 20 (1906) 8 1 - 8 9 ; Winternitz, M.: Bemerkungen zum Tanträkhyäyika. ibid. 25 (1911) 4 9 - 6 2 ; Matisic, Z.: The Title Tanträkhyäyika as Opposed to the Title P. In: Indologica Taurinensia 3 - 4 (1975-76) 313-316. - 2 Zuletzt Benthlenfalvy, G.: The Authorship of the P. In: Acta Antiqua 21 (1973) 267-271. - 3 Carnes, P.: Bibliogr. of the P. and Allied Literature. In: J. of the Oriental Inst. Baroda 40 (1990-91) 17-58. - 4 Liebich, B.: Das Kätantra. Heidelberg 1919, 5. - 5 Falk, Η.: Qu.n des P. Wiesbaden 1978, 198 sq.; cf. auch Rez. L. Sternbach in J. of the American Oriental Soc. 100 (1980) 5 0 - 5 4 . 6 Witzel, M.: On the Origin of the Literary Device of the ,Frame story' in Old Indian Literature. In:

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Hinduismus und Buddhismus. Festschr. U. Schneider. Fbg 1987, 380-414. - 7 Geib, R.: Zur Frage nach der Urfassung des P. Wiesbaden 1969, 48. - 8 Zu Erzähltypen und -motiven cf. EM 7, 892-894. - ' F a l k (wie not. 5). - 1 0 Blackburn, S.: The Brahmin and the Mongoose. The Narrative Context of a Well-travelled Tale. In: Bulletin of the School for Oriental and African Studies 59 (1996) 494-507. 11 Falk (wie not. 5); id.: The P. between Arbitrariness and Originality. In: Tristam, H. L. C. (ed.): Texte und Zeittiefe. Tübingen 1993, 217-232. - 1 2 Ruben, W.: Das P. und seine Morallehre. B. 1959; Geib (wie not. 7); Wilhelm, F.: Arthasastra und Tanträkhyäyika. In: 26th Internat. Congress of the Orientalists, New Delhi 1964. Poona 1969, 327 sq.; Blois, F. de: Burzöy's Voyage to India and the Origin of the Book of Kallla wa Dimnah. L. 1991; id.: The P.: From India to the West - and Back. In: Märg 43,1 (1991) 10-15. - 13 Peris, M.: The Ass in the Lion-skin. In: Sri Lanka J. of the Humanities 7 (1981) 2 9 - 6 0 . 14 Hertel, J.: Tanträkhyäyika. Die älteste Fassung des P.Aus dem Sanskrit übers. [...]. Lpz. 1909 (Nachdr. Darmstadt 1970); id.: The P., a Collection of Ancient Hindu Tales, in Its Oldest Recension, the Kashmirian, Entitled Tanträkhyäyika. Cambr. 1915. - 15 Zu „Alter Mann, junge Frau und Dieb" cf. Geib (wie not. 7) 119-125; zu „Fuchs und sprechende Höhle" (AaTh 66 A: Hallo, Haus!) cf. Falk (wie not. 5) 226—228; zu „Der falsche Kriegsmann" cf. Geib (wie not. 7) 113-116 und Falk (wie not. 5) 151-153. - 1 6 Hertel, J.: Das P.Seine Geschichte und seine Verbreitung. Lpz. 1914. - 17 Krause, C.: Eine Neue P.-Mischrezension in Alt-Gujarati. In: Streitberg-Festgabe. Lpz. 1924, 202-217; Venkatasubbiah, Α.: An Amplified Version of the Southern P. In: Zs. für Indologie und Iranistik 10 (1935-36) 6 2 - 9 5 ; id.: The P. of Durgasimha. ibid. 6 (1928) 2 5 5 - 3 1 8 und 7 (1929) 8 - 3 2 ; id.: P. of Vasubhäga. In: Indian Historical Quart. 10 (1934) 104-111; id.: Α Tamil Version of the P. In: Adyar Library Bulletin 29 (1965) 74-143; Artola, G. T.: A Dated Ms. of the P. of Vasubhäga. 24th Internat. Congress of Orientalists, München 1957. Wiesbaden 1959, 538-540; id.: A New P.Text. In: Bharatiya Vidya 2 0 - 2 1 (1960-61) 7 6 - 9 5 ; id.: P. Mss. from South India. In: Adyar Library Bulletin 21 (1957) 185-262; zur Außenwirkung cf. Hooykaas, C.: P. in Java Bali? In: Festschr. L. Sternbach. Lucknow 1979, 291 sq.; Choi, Hyong-won: Sprachliche Unters.en zum P. in der mongol. Version. Diss. Göttingen 1996. 18 Hertel, J.: Das südl. P. Sanskrittext der Rez. Β mit den Lesarten der besten Hss. der Rez. A. Lpz. 1906; Blatt, H. (ed.): Das südl. P. Sanskrittext nach der Rez. Α mit erstmaliger Verwertung der Hs. K. Lpz. 1930. - 19 Kosegarten, I. G. L.: Pantschatantrum sive Quinquepartitum de moribus exponsens, ex codicibus manuscriptis edidit; commentariis criticis auxit. Pars prima textum Sanscriticum simpliciorem tenens. Bonn 1848-49; Benfey, T.: Pantschatantra 1 - 2 . Lpz. (1859) Nachdr. Hildesheim 1966; Kiel-

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Pandora

horn, F./Biihler, G.: P. Bombay 1885-86; Fritze, L.: P. Ein altes ind. Lehrbuch der Lebensklugheit in Erzählungen und Sprüchen. Lpz. 1884. - 2 0 Hertel, J.: The P. A Collection of Ancient Hindu Tales, in the Recension Called Panchakhyanaka, and Dated 1199 A. D. of the Jaina Monk Purnabhadra. Cambr. 1908; id.: The P. Text of Purnabhadra. Critical Introduction and List of Variants. Cambr. 1912; Srlpürnabhadrasüri: P. Ahamadäbäd 1988; Ryder, A. W. (Übers.): The P. Chic. 1925. 21 Hertel 1909 (wie not. 14). - 2 2 Edgerton, F.: The P. Reconstructed. An Attempt to Establish the Lost Original Sanskrit Text of the Most Famous of Indian Story-collections [...]. 1: Text and Critical Apparatus; 2: Introduction and Translation. New Haven 1924; dt. Übers.: Alsdorf, L.: P. Fünf Bücher altind. Staatsweisheit und Lebenskunst in Fabeln und Sprüchen. Bergen 1952. - 2 3 Maten, E. P.: In Quest of the Original P. A Methodological Discussion. In: Indologica Taurinensia 8 - 9 (1980-81) 241-252.

Berlin

Harry Falk

Pandora. Der griech. Mythos der P.1 wird nicht in seiner ursprünglichen Form, sondern in seiner kultur-, geistes- und ideengeschichtlich einfluß- und wirkungsreichsten mythographischen Darstellung durch Hesiod (Theogonie, 565-613; Erga, 4 2 - 1 0 5 2 ) tradiert. P. ist die erste, von den Göttern geschaffene (sterbliche) Frau. Ihre Gestalt wird von dem Schmiedegott Hephaistos (-» Schmied) aus feuchtem Lehm gebildet. Auf Geheiß des -> Zeus steuern andere Götter ihre Gaben bei (P., etymol. u. a.: ,die Vielbeschenkte', ,die von allen Beschenkte'): Athene schmückt P. und lehrt sie ,weibliche' Arbeiten, Aphrodite verleiht ihr Liebreiz und sexuelle Attraktivität, der -» Götterbote Hermes List und Verschlagenheit. P. wird von Hermes zur Erde geleitet (Motiv der aus einer höheren Welt gesandten Verführerin, Mot. F 34), um die Menschheit zu strafen, weil Prometheus ihnen das von den Göttern gestohlene Feuer (-> Feuerraub) gebracht hatte. Prometheus (der .Vorbedenkende') warnt seinen Bruder Epimetheus (der ,Nachbedenkende'), Geschenke des übelmeinenden Zeus anzunehmen. Doch Epimetheus, von der unwiderstehlichen P. betört, nimmt sie zur Frau 3 . P. öffnet - wohl aus -» Neugier - ein Faß (pithos): Diesem entweichen alle Übel der Welt, die fortan die Menschheit plagen: Leid, Krankheiten, die Notwendigkeit zur Arbeit, nicht aber der Tod, der den Menschen auch vorher schon ereilte. Der Deckel des Fasses schlägt zu, und nur die Hoffnung bleibt zurück.

Von P., so eine bereits bei Hesiod angelegte misogyne Interpretation, stammt das männer-

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plagende Geschlecht der Frauen ab. Aus dem kaum bewegbaren Faß der P. wurde wohl bedingt durch einen ,Fehler' des Erasmus 4 - mit Ausnahme des ital. Sprachraums die transportable Büchse (pyxis) der P., eine auch heute noch benutzte Metapher für alle Übel und Laster der Welt, für etwas Unheilbringendes 5 , bes. wenn es menschlicher Hybris entspringt und/oder vom Menschen nicht mehr kontrolliert werden kann. Für viele Interpreten des Mythos ist P s Neugier das dominante Erzählmotiv; zugeordnet wird die Öffnung des Fasses dem Motiv des tabuisierten Blickes in ein verbotenes' Gefäß Tabu) 6 , dessen Öffnung Unglück bringt (Mot. C 320)7: ein Vorgang, der sich einreiht in vielfältige in der Erzählliteratur anzutreffende unheil- und gar todbringende Verbotsübertretungen, häufig seitens einer Frau 8 . In Bezug gesetzt wird die Öffnung des Fasses auch zum häufig schwankhaften Erzähltyp AaTh 1416: Die neue -> Eva9. Doch Neugier allein erklärt den Mythos nicht. Und so sahen sich die Interpreten stets herausgefordert durch (vermeintliche?) Inkonsequenzen und Inkonsistenzen 10 , Motivkontaminationen 11 , Unterschiede in der Darstellung des Mythos zwischen Theogonie und Erga, Widersprüche in Hesiods Darstellung. All dies hat nicht nur die textkritische Skepsis an der Echtheit Hesiodischer Verse genährt 12 , sondern vor allem den Blick auf ältere, .authentischere' Vorlagen oder auch nur stringentere Versionen des Mythos gelenkt. Überdies hat ein gewisser Unmut angesichts des mythol. Inhalts (oft beschworen: Hesiods Pessimismus, Frauenfeindlichkeit 13 ) den interpretatorischen Ehrgeiz in Richtung auf genehmere Lesarten des Mythos gelenkt. Die im Faß verbliebene Hoffnung, Anlaß zu phil.-existentiellen Deutungen, wird sowohl als tröstliches Gegengewicht zu den verstreuten Übeln 14 als auch als Höhepunkt der göttlichen Strafe 15 interpretiert: leere Hoffnung als lähmendes Übel, von dem sich der Mensch durch prometheische Absage an Vergängliches befreien könne 16 . Der Wunsch, den Pessimismus hinsichtlich des Faßinhaltes zu mildern 17 , wird auch gestützt durch den Hinweis auf eine Fabel des Babrios, in dessen Version des P.Mythos das vom Menschen geöffnete Faß

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Pandora

nicht Übles, sondern ,alle Wunschgüter' 18 enthält. Die vielleicht beste Deutung der Hesiodischen Version des P.-Mythos liefert H. Neitzel 19 : Aus Zorn über die List des Prometheus, der Zeus beim gemeinsamen Opfermahl zugunsten der Menschen um das ihm zustehende Fleisch betrogen hatte, und dessen Feuerraub hat Zeus den Menschen den bislang mühelos gewonnenen Lebensunterhalt verborgen; künftig müssen sie ihn mühsam der Erde abringen. Zum Instrument des Verbergens wird die verschwenderische P., die aus dem Vorratsgefäß den Vorrat an Lebensmitteln ,zerstreut'. Im Faß bleibt nur die Hoffnung (auf neue Nahrungsmittel), die eine stete Wiederaufnahme menschlicher Mühen garantiert. Was auf den ersten Blick wie ein „paränetisches Märchen von bestrafter Neugier" 20 erscheint, präsentiert sich nun doch eher als ätiologischer Mythos des , Bauerndichters' Hesiod, der den Ursprung der Übel und der Arbeit erklärt; als didaktischer und paränetischer Mythos aber auch, weil er erzählt wird, um Perses von der Notwendigkeit zur Arbeit zu überzeugen (Erga, 27—41). Dem Mythos von Prometheus und P. fügt Hesiod den „symbolisch gleichwertigen Mythos [...] von den Weltzeitaltern" {Erga, 106-201) 2 1 an. Die ,künstliche Jungfrau' P., bei Hesiod ein erst nach dem Mann geschaffenes Wesen — Beispiel für einen patriarchalischen anthropogonischen Mythos (-* Patriarchat) nach dem Prinzip der formatio (Abfolge: Formung und Belebung) 22 —, begegnet im vorhesiodischen Mythos u. a. als weiblicher Part in einer Art Urpaar, gleichzeitig mit dem Mann auftretend, als Gattin des Prometheus, der mit ihr den ersten Menschen zeugt 23 , und ist ursprünglich eine alte fruchtbare Erdgöttin (P. etymol. dann: Allgeberin, Gabenreiche) oder Erdmuttergottheit (cf. -»• Erde, Kap. 2) 24 . In bildlicher Darstellung begegnet P. ebenso als dem Boden, d. h. auch der Unterwelt Entsteigende, von Männern begleitet, die ihr mit Hammeroder Axtschlägen den Weg öffnen: ein Naturmythos, der die im Frühling von der Starre des Winters aus dem unterirdischen Vorratsgefaß befreite, nun vegetative Fülle austeilende Erdgöttin 25 darstellen könnte. P s Öffnung des Gefäßes wurde auch interpretiert als zeitweilige Entlassung böser Geister aus einem Grab-Pi-

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thos durch die personifizierte Erde 26 . Der Pithos kann auch als Symbol der Unterwelt gedeutet werden 27 . Die vorhesiodischen Formen schärfen den Blick für eine im archaischen Griechenland des 6. Jh.s a. Chr. n. anzutreffende Ängstlichkeit hinsichtlich der Rolle der Frau, des Problems menschlicher Emergenz aus einem Naturzustand, der Entfremdung von der Natur und eines Eintritts in einen Kultur- und Zivilisationszustand 28 und weisen den P.-Mythos als kulturätiologisch aus. In christl. Deutung wird P. als erste Frau der griech. Mythologie mit einer weiteren Urfrau oder Stammutter der Menschheit, der Eva christl. Überlieferung (- Christus und -> Petrus (-» Erden Wanderung der Götter) 9 oder ein König und sein Diener auf die Suche 10 . Alter als der Schwank von der Suche nach dem Herrn im H a u s erscheint eine erstmals bei Jacques de Vitry 11 erwähnte Geschichte ( = 2. H a u p t f o r m ) mit gleicher funktionaler Zielsetzung: Ein Schinken (Speckseite) wird demjenigen als Preis angeboten, der ein Jahr (und einen Tag) nach der Eheschließung beschwört, seine Heirat niemals bereut zu haben, oder beweisen kann, daß er vor seiner Frau keine Angst hat 12 .

Dieser Schwank wurde vom 13. —19. Jh. tradiert. Er ist verortet in D u n m o w (Essex) und Whichnore (Staffordshire; zwischen 1686 und 1750) und ist auch gelegentlich als Brauch belegt, wobei manchmal der Preis verliehen wird, manchmal auch der Anspruch des Bewerbers sich als unbegründet erweist. Es gibt drei weitere Redaktionen, von denen in Deutschland, namentlich in der literar. Überlieferung (seit ca 1534), bes. folgende bekannt wurde: Am Tor einer Stadt hängt ein Stück Speck: „Wo ist ein Mann,/der schwören kann,/daß er nicht unter dem Pantoffel steht?/Der nehme keck/dies Stücklein Speck/herab, wenn er alhier vorüber geht." Ein Bauer will den Speck nehmen, weigert sich jedoch, ihn unter dem Kittel zu verbergen: „Was würde meine Frau dazu sagen, wenn ich Fettflecken im Sonntagsrock hätte!"' 3

Diese Redaktion wurde lokalisiert in Brombey (bei Calbe) und Nürnberg sowie namentlich mit dem Rotenturmtor zu Wien in Verbindung gebracht. An den Toren der meisten dt. Städte hing seit dem ΜΑ., ζ. T. bis ins 20. Jh. hinein, eine Keule, offensichtlich ein ma. Zeichen der Gerichtsbarkeit. Möglicherweise suchte man, als der Sinn nicht mehr verstanden wurde, für dieses einem Schinken ähnliche Zeichen eine Erklärung und fand sie in dem Schwankmotiv vom Schinken als Preis für den Ehemann, der Herr im H a u s ist. Außerhalb Deutschlands fand sich diese Redaktion in Westfriesland bis ins 20. Jh 1 4 . Etwas älter und verbreiteter scheint die 2. Redaktion, in der ein Mann (Schuster) ein Paar Stiefel als Preis aussetzt f ü r einen Mann, der Herr in seinem H a u s ist. Auch hier verrät ein Bewerber Furcht vor seiner Frau. Erstmals erzählt von Heinrich -> Bebel (1508), fand sie

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Pantoffelhelden

Nachhall in meist literar. Bearb.en in Deutschland und, wohl aufgrund dt. Quellen, in Dänemark, Polen, Rumänien, Italien, Frankreich und den Niederlanden 15 . Eine 3. Redaktion (erstmals Frankreich 1657) wird nur in der Romania (Frankreich, Rumänien, Italien, Spanien, Portugal und Brasilien) tradiert: Ein Geistlicher bietet dem Mann, der nicht nach der Pfeife seiner Frau tanzt, einen Korb (Sack) Früchte (Nüsse, Kartoffeln etc.). Der einzige Bewerber kommt mit einem sehr kleinen Korb. Nach Meinung seiner Frau, so erklärt er, sei es nicht angemessen, einen großen mitzubringen16. Von der 2. Hauptform beeinflußt ist sicherlich der nur literar., in Deutschland vom frühen 16. Jh. (Bebel) bis ins 18. Jh. hinein überlieferte, in der Tradition des Risus paschalis stehende Schwank von der Herrschaftsprobe am Ostersonntag17: Der Pfarrer fordert die Ehemänner, die Herren im Haus sind, auf, das Lied „Christ ist erstanden" anzustimmen. Alle Männer schweigen, und die Frauen singen es (oder es singt nur ein Mann und rettet so die Ehre der Männer; oder der Pfarrer stimmt das Lied selbst an: Im folgenden Jahr schweigt auch er, weil er inzwischen eine Magd genommen hat).

Nach Mosers Auffassung ist es sehr wahrscheinlich, daß die stoffliche Grundlage der 1. Hauptform in folgendem Schwank oriental. Herkunft gesucht werden muß: Ein Mann bekommt von seinem Herrn die Erlaubnis, von jedem Ehemann, der seine Frau fürchtet, ein Pferd (Geld) zu erheben. Er kehrt reich zurück und bietet dem Herrn eine schöne Sklavin an. Der Herr bittet ihn, er möge leiser sprechen, damit seine Frau es nicht hört - auch er muß zahlen.

Problematisch jedoch ist, daß diese oriental. Erzählung relativ jung zu sein scheint und es keinen Anhaltspunkt gibt, warum das Motiv von der Buße für jeden P. zum Motiv vom vergeblich ausgesetzten Preis für den Herrn im Haus umgewandelt wurde. Die Erzählung findet sich nur in Quellen des 19. und 20. Jh.s, und zwar im Nahen Osten, auf dem Balkan, wo sie auch dem Hodscha Nasreddin zugeschrieben wird, und in Portugal 18 . Wenig plausibel erscheint die Auffassung W. Liungmans, daß es genetische Zusammenhänge geben müsse zwischen der 1. Hauptform und der bereits im pers. Tuti-Näme (-+ Papageienbuch)

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und im griech. Sieben weise Meister-Roman (um 1330) eingebetteten oriental. Geschichte vom Mann, der auf Reisen geht, um alle Beispiele von Frauenlist aufzuzeichnen, schließlich jedoch davon überzeugt wird, daß ein solches Unternehmen ohne Aussicht auf Erfolg ist19. Die Erzählungen dieser Gruppe werden oft miteinander verbunden; Kontaminationen mit anderen Erzähltypen treten fast nie auf. Eine Ausnahme bildet eine port. Var., in der die oriental. Form mit der Sklavin mit AaTh 921 A: -» Focus: Teilung des Brotes und des Geldes und AaTh 922 B: König auf der Münze verknüpft wird20. 'Röhrich, Redensarten 2, 1133-1138; Metken, S.: Der Kampf um die Hose. Geschlechterstreit und die Macht im Haus. Die Geschichte eines Symbols. Ffm. 1996. — 2 Moser-Rath, E.: Frauenfeindliche Tendenzen im Witz. In: ZfVk. 74 (1978) 4 0 - 5 7 . - ' E r g ä n zend zu AaTh: Rausmaa 1366 A* = Rausmaa 1375; Kecskemeti/Paunonen 1375; Aräjs/Medne 1366 A*; Ο Smlleabhain/Christiansen 1366 A*, 1375; Gonzalez Sanz 1366 A*; Pujol 1366 Α*; de Meyer, Conte, 1375; Sinninghe 905*; van der Kooi 1366 A* = van der Kooi 1375; Cirese/Serafini 1375; SUS 1366 A*; BFP 1366 A*; Archiv G. A. Megas, Athen (1375) (cf. Puchner, W.: Der Zettelkasten des G. A. Megas. In: Die heutige Bedeutung oraler Traditionen, ed. W. Heissig/W. Schott. Opladen/Wiesbaden 1998, 8 7 - 1 0 5 , hier 100); El-Shamy 1366 A*. - 4 Moser, D.-R.: Schwänke um P. oder die Suche nach dem Herrn im Haus (AT 1366 A*, AT 1375). Volkserzählungen und ihre Beziehungen zu Volksbrauch, Lied und Sage. In: Fabula 13 (1972) 205-292. - N a c h weise ibid., 214-216; Bolte, J.: Doktor Siemann und Doktor Kolbmann, zwei Bilderbogen des 16. Jh.s. In: ZfVk. 12 (1902) 296-307. - 6 Kooi, J. van der/ Gezelle Meerburg, Β. Α.: Fries. Märchen. MdW 1990, num. 46. - 7 Kooi, J. van der/Schuster, T.: Märchen und Schwänke aus Ostfriesland. Leer 1993, num. 44. - 8 D B F A 2, 110 sq.; Holbek, B.: Dän. Volksmärchen. B. 1990, num. 37; van der Kooi 1366 A* = 1375; Archiv J. van der Kooi, Groningen (Kalendergeschichte). - 'Gonzalez Sanz 1366 A*; Henßen, G.: Sagen, Märchen und Schwänke des Jülicher Landes. Bonn 1955, num. 271b. - 10 Meier, H.AVoll, D.: Port. Märchen. MdW 1975, num. 109; Rey-Henningsen, M.: The Tales of the Ploughwoman. Hels. 1996, num. 1. 11 Die Exempla aus den Sermones feriales et communes des Jakob von Vitry. ed. J. Greven. Heidelberg 1914, num. 61. — l 2 Nachweise cf. Moser (wie not. 4) 240-244. - 13 van der Kooi/Schuster (wie not. 7). 14 van der Kooi 1375 A*. - 15 Bebel/Wesselski 1,2, num. 16; Moser (wie not. 4) 267—270; van der Kooi 1375 A*; Sinninghe, J. R. W.: Brabantsche volkshu-

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Panzer, Friedrich

mor. Scheveningen 1934, 42; Stroescu, num. 3531. 16 Moser (wie not. 4) 274; Meier/Woll (wie not. 10) num. 64; Rey-Henningsen (wie not. 10) num. 2; Stroescu 1, num. 3673. — 17 Moser (wie not. 4) 280 sq. - 18 ibid., 210 sq.; Marzolph, U.: Nasreddin Hodscha. Mü. 1996, num. 603; BFP *I366B*. l9 Liungman, Volksmärchen, 290 sq. - 20 Meier/ Woll (wie not. 10) num. 7.

Groningen

Jurjen van der Kooi

Panzer, Friedrich, *Eschenfelden (Oberpfalz) 22.10.1794, t München 16.11.1854, Architekt und dt. Sagensammler 1 . P., Sohn eines evangel. Pfarrers, war 1818 zunächst Praktikant, später Ingenieur bei der Bauinspektion Speyer, 1826 in Würzburg 2 , 1832 Leiter der Dompurifizierung in Bamberg, danach in Nürnberg, 1839 Regierungsbaurat in München, 1843 Ministerialoberbaurat. P. publizierte in zwei Bänden Bayer. Sagen und Bräuche (1848/55)3, die zusammen mit den Werken von K. Freiherr von Leoprechting, F. X. von Schönwerth und A. Schöppner zu den .klassischen' Sagenbüchern in Bayern gehören. Auf Anregung seines Freundes J. A. Schmeller hielt P., vom Rettungsgedanken beflügelt, nach dem Vorbild der Brüder ->• Grimm auf seinen zahlreichen Dienstreisen Sagen fest 4 . Nur gelegentlich nannte er seine Gewährsleute. „Er sammelte größtenteils mündliche Überlieferungen, in denen er mythologische Bezüge vermutete" 5 , also keineswegs einen Querschnitt durch das seinerzeit populäre Erzählgut. Seine umfangreiche klassische Bildung befähigte ihn, die ihm wichtigen Motive bis ins Altertum zurückzuverfolgen. Den ersten Band seiner Bayer. Sagen bezeichnete er daher im Untertitel als Beitr. zur dt. Mythologie und widmete ihn J. Grimm. P. neigte wie viele seiner Zeitgenossen dazu, bayer. Überlieferungen als Überreste germ. Götterglaubens zu interpretieren, weshalb seine Erklärungen aus heutiger Sicht nicht haltbar sind. Text und Kommentar trennte er, wobei letzterer in der Orig.ausgabe fast die Hälfte des Werkes ausmacht. P. lieferte mit den beiden Bänden nicht nur die erste große Sagensammlung für Bayern, sondern für den Erzähltyp Drei Schwestern (cf. auch -> Jungfernsprung) mit 304 Nachweisen

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(1: 230; 2: 74) zugleich eine frühe, aus bayer. Qu.η geschöpfte Monogr. Weitere Kap. sind den Themen Feuer, Weisende Tiere, Wasservogel, Bilmerschnitt, Nothalm, Riesen, Teufel, Frau Bercht (-> Percht), Pflanzen, Bäume, Sommer und Winter sowie Aberglaube gewidmet. Der 2. Band greift Themen und Motive des 1. Bandes erneut auf und enthält Natur-, Geister- und Teufelssagen sowie Legenden. Damit war P. der erste, der sich mit der populären Rezeption von Heiligenviten (-» Leonhard, Hl.) beschäftigte 6 . Sein eigentliches Interesse lag jedoch bei alten Kultstätten, für die ihm die Sagen wichtige Zeugnisse waren. Eine Neuausgabe der beiden Sagenbände mit umfangreichem Orts- und Sachregister legte W.-E. -» Peuckert 1954/56 in Göttingen vor, jedoch ohne P.s wiss.sgeschichtlich aufschlußreiche Anmerkungen. Die Quellencorpora, auf die sich P. gestützt hatte, benannte Peuckert nicht, ebenso wenig interessierte ihn die Frage, wie P.s Sammeltätigkeit von den Zeitgenossen beurteilt worden ist. Hier tut sich ein Forschungsdesiderat auf, das auch nicht durch die seither erschienenen Art. in biogr. und literaturhist. Lexika behoben ist 7 . 1 cf. Graf Pocci: Erinnerung an F. P. In: Jahresber. des Hist. Vereins von und für Oberbayern 17 (1855) 138-141 (mit. Verz. von P.s Beitr.en im „Oberbayer. Archiv" und der im „Hist. Verein" gehaltenen Vorträge); Sitzmann, K.: Künstler und Kunsthandwerker in Ostfranken. Kulmbach 1957, 25; Ritz, J. M.: München und die Volkskunstforschung. Eine wiss.sgeschichtliche Studie. In: Bayer. Jb. für Vk. (1958) 155-167, hier 164, not. 7; Moser, H.: Wege zur Vk. als Wiss. Zur 200-Jahrfeier der Bayer. Akad. der Wiss.en. ibid. (1959) 124-158, hier 132 sq., 155, not. 54; Gerndt, H.: Volkserzählforschung. In: Harvolk, E. (ed.): Wege der Vk. in Bayern. Ein Hb. Mü./ Würzburg 1987, 403-420, hier 406 sq.; Alzheimer, H.: Vk. in Bayern. Würzburg 1991, s. v. P. - 2 P , F.: Ber. über mehrere in der Umgegend von Würzburg ausgegrabene Alterthümer. Würzburg 1832. - 3 id.: Bayer. Sagen und Bräuche. t. 1. Mü. 1848; t. 2. ed. E. L. Rochholz. Mü. 1855. - 4 P. 1848 (wie not. 3) IV. - 5 Gerndt (wie not. 1) 407. - 6 P. 1848 (wie not. 3) 395-402. - 7 Hoche, R.: P , F. In: ADB 25 (1887) 132 (in der N D B ist ein Lemma P. nicht mehr vorgesehen); Bosl, K : Bayer. Biogr. 1000 Persönlichkeiten aus 15 Jh.en. Ergänzungsband. Regensburg 1988, 132; Dt. Lit.lex. 11. ed. B. Berger/H. Rupprich. Bern/Mü. '1988, 887; Lit.lex. Autoren und Werke dt. Sprache 9. ed. W. Killy. Gütersloh/Mü. 1991, 71 sq.

Würzburg

Heidrun Alzheimer-Haller

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Panzer, Friedrich (Wilhelm)

Panzer, Friedrich (Wilhelm), *Asch (Böhmen; heute As, Tschechien) 4.9.1870, tHcidelberg 18.3.1956, Germanist und Volkskundler. P. studierte 1888—92 Germanistik und Kunstgeschichte in Leipzig, Jena, München und Wien. 1892 wurde er bei E. Sievers in Leipzig mit einer Arbeit über Meister Rümzlants Leben und Dichten (Lpz. 1893) promoviert und habilitierte sich 1894 bei H. Paul in München mit einer Unters, zu Lohengrin (Lohengrinstudien. Halle 1894). Nach Lehrtätigkeit u. a. in Freiburg im Breisgau wurde P. 1905 Professor für Germanische Sprachen und Lit.en an der Akad. für Sozial- und Handelswissenschaften in Frankfurt am Main (Rektor 1911-12) und übernahm 1914 in der daraus hervorgegangenen Frankfurter Univ. das germanistische Ordinariat. 1918 wurde er als Nachfolger W. Braunes nach Heidelberg berufen, wo er bis zu seiner Emeritierung 1936 wirkte. P. engagierte sich vielfach in der Wiss.sorganisation und Univ.spolitik. Maßgeblich beteiligt war er bei der Gründung des Dt. Germanistenverbandes 1912 (1. Vorsitzender 1922-33) sowie 1922 bei der Gründung des Dt.kundlichen Inst.s in Düsseldorf, hatte 1926—27 das Amt des Rektors in Heidelberg inne und wurde 1941 Präsident der Heidelberger Akad. der Wiss.en. Die Pflege der dt. Hochsprache, in der P. das ,Wesen der Volkheit' klarer als in den Mundarten zu entdecken vermeinte, lag ihm bes. am Herzen 1 . Damit verbanden sich seine Aktivitäten bei der Umgestaltung schulischer und universitärer Lehre, in deren Zentrum er die ,Deutschkunde' stellte. Hierbei vertrat er auch u. a. völkisch-nationale Positionen. Im -> Nationalsozialismus sah P. die Erfüllung mancher seiner Ideen. Editionen und Studien P.s zeichnen sich gleichermaßen durch stetes volkskundliches Interesse aus 2 . Bezeichnend dafür sind bereits die beiden 1902 erschienenen Ausg.η Meier Helmbrecht, den P. als „volkstümlich und völkisch zugleich" bezeichnet 3 , und -> Merlin und Seifrid de Ardemont. An beiden Texten nahm P. ausgiebige Quellenstudien vor; im Seifrid wies er vor allem den Erzähltypus von der gestörten -> Mahrtenehe nach und beschrieb ausgiebig die verschiedenen volkstümlichen und literar. Var.n 4 . Vom Interesse an der Volkserzählung getragen sind auch die Edition der Kinder- und Hausmärchen der Brüder

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Grimm in ihrer Urgestalt (Mü. 1913, seit 1948 mehrfach nachgedruckt), die die Erstausg.n von 1812 und 1815 wieder verfügbar machte, sowie die kritische Ausg. der Werke von Victor von Scheffel (Lpz./Wien 1919). Die Unters.en P.s, die man als herausragende Vorläufer der neueren Intertextualitäts-, der Oral Poetry- und der vergleichenden Erzählforschung beschreiben kann, zielen im wesentlichen darauf ab, die ma. Erzählliteratur und ihre Quellen zu erschließen. Dabei nimmt das Märchen, dessen Wurzeln nach P.s Auffassung in die „Kindheitstage der Menschheit" zurückreichen 5 , eine bes. Stellung ein. In den seinerzeit vielbeachteten Arbeiten zur ma. Heldenepik 6 entwickelte P. seine zentrale These, daß ein großer Teil der ma. Heldenepik (-» Epos) und Heldensage aus Märchentypen abzuleiten sei. Dazu verglich P. eine Vielzahl von Versionen bestimmter Märchentypen und stellte die Motivparallelen heraus. Unter Benutzung vor allem auch der nord. Sagenüberlieferung ( -> Edda, Thidrekssaga [-» Dietrich von Bern]; cf. -> Germ. Erzählgut) führte er die Hilde- und Kudrun-Sage u. a. auf AaTh 314: —• Goldener zurück, den -> Beowulf auf das Märchen vom ->· Bärensohn (AaTh 301: Die drei geraubten -> Prinzessinnen), das -> Nibelungenlied ebenfalls auf AaTh 301 und eine Reihe anderer Märchentypen, ζ. B. auf das von P. so benannte ,russ. Brautwerbermärchen' (AaTh 519: The Strong Woman as Bride [Brunhilde]·, cf. -» Heldenjungfrau, bes. Kap. 3)7. P. bestritt allerdings nicht, daß auch die Heldenepik auf das Märchen Einfluß genommen hat, wie er an den sog. Siegfriedmärchen (-> Sigurd, Siegfried) zu zeigen suchte 8 . Kurz vor seinem Tod hatte P. die Forschungen zu den Quellen des Nibelungenlieds zusammengefaßt und zur Kritik an seiner Methode Stellung bezogen 9 . P.s Ansatz eines quellengeschichtlichen Rekurses auf die Märchen, den P. mit F. von der -> Leyen teilte, wurde von der späteren Forschung kaum akzeptiert 10 . Trotz der kritischen Beurteilung haben P.s Unters.en ihre Wirkung auf die Erzählforschung nicht verfehlt. Prototypisch wurde seine konsequente Durchführung einer vergleichenden Epenforschung. Begriffe wie blindes Motiv", gestörte Mahrtenehe, Erlösungsmärchen 12 , Erbteilungsformel 13 und viele

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Papagei

mehr gehen auf P. zurück, ebenso eine präzise Differenzierung von -• Motiv, -» Formel und Typus 14 . In seinem einschlägigen Beitr. zur Märchenforschung 1 5 beschrieb P. 1926, ausgehend von den K H M , Inhalte und Formen des Märchens. Hier machte er u. a. erstmals auf die -> Eindimensionalität des Märchens aufmerksam (§ 10) und grenzte das Märchen präzise von Sage, Legende und -» Schwank ab (§§21—23). Die Ausführungen etwa zur Problematik der Märchenüberlieferung und zu den Aporien von unterstellten -» Urformen und sekundären Fassungen (§§29-31) stellen einen wichtigen Erkenntnisfortschritt in der Geschichte der Märchenforschung dar. 1 cf. etwa P., F.: Volkstum und Sprache. Rektoratsrede gehalten bei der Stiftungsfeier der Univ. Heidelberg am 22. Nov. 1926. Ffm. 1927; id.: Der dt. Wortschatz als Spiegel dt. Wesens und Schicksals. Köln 1938. - 2 c f . Wapnewski, P.: Die Sehr. F. P.s. In: Studien zur dt. Philologie des MA.s. Festschr. F. P. Heidelberg 1950, 1 6 1 - 1 7 2 ; fortgeführt und ergänzt in: Heidelberger Hs. 3824 a. Verz. des Nachlasses F. P. Bearb. A. Günzburger. Heidelberg (masch.) 1984, 8 8 - 9 9 (p. 1 Überblick über biobibliogr. Qu.n); Brückner, W.: „Vk." kontra „Folklore" im Konversationslex. seit 1887. In: Festschr. der Wiss. Ges. an der Johann-Wolfgang-Goethe-Univ. Frankfurt am Main. Wiesbaden 1981, 7 3 - 8 4 , hier 73 sq. - 3 Wernher der Gartensere: Meier Helmbrecht, ed. F. P. Halle (1902) 5 1941, XXII. - 4 Albrecht von Scharfenberg: Merlin und Seifrid de Ardemont. In der Bearb. Ulrich Füetrers ed. F. P. Tübingen 1902, L X X I I - C I X . - 5 P., F.: Märchen. In: Meier, J. (ed.): Dt. Vk. B./Lpz. 1926, 2 1 9 - 2 6 2 ( = Karlinger, 8 4 - 1 2 8 , hier 115). - 6 id.: Hilde - Gudrun. Eine sagen- und literargeschichtliche Unters. Halle 1901 (Nachdr. Hildesheim/N.Y. 1978); id.: Studien zur germ. Sagengeschichte. 1: Beowulf. Mü. 1910; 2: Sigfrid. Mü. 1912 (Nachdr. Wiesbaden 1969). - 7 c f . auch id.: Nibelungische Ketzereien. 1: Das russ. Brautwerbermärchen im Nibelungenlied. In: Beitr.e zur dt. Sprache und Lit. 72 (1950) 4 6 3 - 4 9 8 ( = Hauck, K. [ed.]: Zur germ.-dt. Heldensage. Darmstadt 1961, 1 3 8 - 1 7 2 ) . - 8 id.: Siegfriedmärchen. In: Aufsätze zur Sprach- und Lit.geschichte. Festschr. W.Braune. Dortmund 1920, 1 3 8 - 1 4 7 . 9 id.: D a s Nibelungenlied. Entstehung und Gestalt. Stg. 1955, 2 6 8 - 4 3 2 (Reaktion auf seine Kritiker 286 sq. und pass.). - 10 cf. zusammenfassend Haug, W.: Epos. In: EM 4, 7 3 - 9 6 , hier 82; zum „Nibelungenlied" cf. Nagel, B.: D a s Nibelungenlied. In memoriam F. P. In: Zs. für dt. Philologie 76 (1957) 2 5 8 - 3 0 5 , hier 284 u. ö. -

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P. 1901 (wie not. 6) 115. - 12 id. (wie not. 5) 90. id. (wie not. 9) 295 sq. - 14 id. (wie not. 5) 105; cf. id. 1901 (wie not. 6) 211, not. 1. - , 5 i d . (wie not. 5). 13

Dresden

Ludger Lieb

Papagei. Der P , auch Sittich genannt, ist eine über Tropen und Subtropen verbreitete Vogelordnung (-• Vogel). Bereits im 5. Jh. a. Chr. n. berichtet Ktesias, der Hofarzt des Königs von Persien, von einem ind. Vogel, der wie ein Mensch sprechen könne 1 . Durch den Zug Alexanders d. Gr. nach Indien (327-325 a. Chr. n.) wird der P. in Europa eingeführt und seither als Ziervogel geschätzt. Das europ. MA. kannte den Vogel durch Plinius d. Ä. (Naturalis historia 10, 117) und Solinus (Collectanea rerum memorabilium 52, 43—45)2. Nach der Entdeckung Amerikas wurden P.en meist von dort nach Europa exportiert 3 . Im Erzählgut sind P.en in den jeweiligen Regionen ihres natürlichen Vorkommens stark vertreten; außerhalb dieser Regionen erscheinen sie oft austauschbar mit anderen sprechenden Vögeln, meist -> Elster oder Rabe. Darüber hinaus unterscheiden sich die Nuancierungen der jeweiligen P.endarstellungen in den verschiedenen Erzählgattungen, wobei als dominantes Charakteristikum eine Bezugnahme auf geschlechtliche Liebe besteht (-• Erotik, Sexualität). Ind. Mythen erzählen von Unholden mit P.engesichtern oder vom Mond in der Gestalt eines grünen P.s; als Reittier von Käma, dem ind. Gott der Liebe, erscheint der P. oft in Liebesgeschichten und enthüllt Geheimnisse der Liebe 4 . Ind. und indian. Mythen berichten von der Erschaffung des P.s (Mot. A 1994), Mythen der austral. Ureinwohner von der anschließenden Verwandlung des Totemtiers in einen Menschen 5 . Der buddhist. Überlieferung zufolge kann der Mensch als P. wiedergeboren werden (-• Wiedergeburt; Mot. Ε 613.12) 6 . Sowohl in indian. als auch in austral. Erzählungen tritt der P. als Trickster auf, um einen Feuerraub auszuführen (Waterman, num. 2005) 7 . Aus Indien stammen die Vorstellungen eines Landes der P.en (Mot. Β 222.3, Β 222.4) mit eigenem König (Mot. Β 242.2.8) 8 sowie die der -> external soul in einem P. (Mot. Ε 715.1.3, Ε 715.1.3.2, G 251.1.1).

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Papagei

Das Verhältnis des P.s zum Menschen ist ambivalent: Einerseits kann der P. Helfer sein (Mot. A 2493.35, afrik.; Mot. Β 122.08, ind.buddhist.), andererseits Schädiger, wenn er ζ. B. den Helden an eine Zauberin verrät 9 . Zahlreiche Ätiologien erklären das Aussehen des P.s (Mot. A 2343.2.1, A 2378.8.2, A 2411.2.6.11; Waterman, num. 1300, 1345)10, aber auch andere Eigenschaften wie den hohen Flug (Mot. A 2442.1.2, kongoles.) oder das Leben auf Bäumen (Mot. A 2433.4.4, kongoles.). In Tiererzählungen gibt es keinen dem P. fest zugeordneten Partner oder Gegenspieler: Aus der frühchristl. Antike wird von der Freundschaft mit einem Wolf berichtet 11 , ind. und ceylones. Qu.η nennen Hasen (Mot. A 2493.13) 12 , Erzählungen südamerik. Indianer einen Fuchs 13 , die der austral. Ureinwohner eine Krähe (Waterman, num. 4180). Geschichten von Feindschaften sind meist durch einen binären Aufbau bestimmt, etwa die Struktur Gleichgewicht/Verlust des Gleichgewichts (ζ. B. durch Schließen von Freundschaft/ Bruch der Freundschaft oder List/Gegenlist). Dem P. feindlich gesinnt können Krähe (ceylones., ind.) 14 , Star (Mot. A 2494.13.11.3, ind.), Schlange (ind.) 15 , Spatz (Mot. Β 271.1, westafrik.), Krokodil (Haring, num. 19; Madagaskar) oder Hund (AaTh 100*: The Parrot Abuses the Dog, fläm.) sein; meist bleibt der P. Sieger. In Erzählungen, in denen der P. sprechend mit Menschen kommuniziert, ist er fast ausnahmslos hilfreich und weise. Als moralische Instanz wirkt er im -• P.enbuch, dessen Rahmenerzählung (AaTh 1352 A: Sukasaptati) von einem P. berichtet, der Nacht für Nacht die Aufmerksamkeit einer Strohwitwe durch das Erzählen von Geschichten fesselt und sie mit dieser List bis zur Rückkehr ihres Gatten vom -»• Ehebruch abhält. Auch bei Männern wird das didaktische Erzählen von Geschichten erfolgreich gegen verbotene Liebesabenteuer eingesetzt 16 . Hilfreich ist der P. ebenfalls in anderen Liebesangelegenheiten: Er tritt als Brautwerber auf (mongol.) 17 , verkündet der Geliebten das Nahen des Helden (ind.) 18 , gewinnt dem König eine Braut und führt beide nach der Trennung wieder zusammen (AaTh 546: The Clever Parrot)19 oder ermöglicht es einer -> Frau in Männerkleidung, -> Ge-

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schlechtsproben zu bestehen (Mot. Η 1578.1.6, ind.). Bereits im 13. Jh. erzählt der Dominikaner -» Etienne de Bourbon davon, wie ein P. aus Alexandrien den flirtenden Knecht entlarvt 20 . In einem anderen Exempel bringt eine Frau, die der P. wegen Untreue bloßstellen will, ihren Mann dazu, den Vogel zu töten (Tubach, num. 3147). Ein mahnender P. bewirkt die Freilassung des späteren byzant. Kaisers Leo IV. aus dem Kerker 21 . Gelegentlich handeln P.en gewitzt in eigener Sache: Der P. Heinrichs VIII. bietet dem Fährmann, um übergesetzt (vom Ertrinken gerettet) zu werden, einen hohen Preis, setzt diesen aber nach vollbrachter Tat stark herab (cf. AaTh 778, 1533 A*: Geloben der großen Kerze)22·, ein P. ruft bei Gefahr durch Sperber Heilige an (Dvorak, num. 3604*) 23 ; andere tricksen einen Falken aus 24 , stellen sich tot, um die Freiheit zu erlangen (Mot. Κ 522.4, ind.) 25 , oder erreichen Schenkungen und Strafverschonung (ind.) 26 . Die ind. Überlieferung kennt den -» Gestalttausch von Männern mit P e n (Mot. D 357, R 115). Aus dem - Pancatantra und dem P.enbuch ist die Geschichte von der Seelenübertragung eines betrügerischen Ministers in den Körper seines Königs bekannt, dessen Seele seinerseits im Körper eines P.s weilt (cf. - Seelentier; Mot. D 157, Κ 1175)27. Schädigt ein P. den Menschen, dann tut er das aus Rache für vorher erlittenes oder angedrohtes Unrecht: Er macht eine Hetäre öffentlich lächerlich, die ihn umbringen will, weil er von ihrem Liebesleben erzählt hat 28 . Ein von seinem Herrn absichtlich in Brand gesetzter P. zündet zunächst dessen Haus an, bevor er sich mit Wasser löscht (-> Brandstiftung durch Tiere) 29 . Ohne klare Motivation verrät der P. in AaTh 1526 B*: The Thief and the Parrot30 einem Dieb das Geldversteck und kann diesen anschließend nicht identifizieren. In europ. Märchen erscheint der P. nur selten. Für Anhänger C. G. Jungs wie H. von Beit ist er ein Bild für die Rätselhaftigkeit des aus dem Unbewußten redenden Geistes 31 . Aufgabe des Helden kann es sein, unter der Gefahr der Versteinerung einen P. zu erschießen, um dadurch ein Schloß zu entzaubern 32 . Ein weißer P., dessen Beschaffung als schwierige -> Aufgabe gefordert wurde, berät den späteren Besitzer und hilft, einen tragischen

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Papagei

Familienkonflikt zum guten Ende zu bringen (AaTh 707: Die drei goldenen -> Söhne)33. In einer Var. von AaTh 510 A: cf. -> Cinderella aus Costa Rica verrät ein P. das Versteck Aschenputtels 34 . Samen von verjüngenden Äpfeln für den Padischah bringt ein P., der dafür getötet wird, weil man annimmt, er habe einen Giftanschlag geplant 35 . Ein weiterer Komplex beschäftigt sich mit in P e n verwandelten Menschen (-> Tierverwandlung): nach einem ind. Märchen rächt sich der verwandelte Held an seiner Feindin 36 , für brasilian. 37 und türk. 3 8 Prinzessinnen werden in P e n Verzauberte wieder zu Männern. In einem sizilian. Märchen treibt ein durch -> Teufelspakt in einen P. verwandelter Notar doppeltes Spiel: Um eine junge Frau vor Ehebruch zu bewahren, erzählt er ihr drei Geschichten, dann aber erwürgt er den Ehemann und heiratet sie selber 39 . 40

Die Fabel spricht selten vom P. , ebenso die Sage 41 . In brit. Var.n der Balladenform von AaTh 311, 312: -> Mädchenmörder wehrt eine Frau die Denunziation ihres P s ab, indem sie ihn durch das Versprechen eines goldenen Käfigs besticht 42 . In der Sinnbildkunst steht der Ρ vorrangig für Gelehrigkeit und, aufgrund des Gefangenseins, für Geduld 43 . Die hauptsächlichen Gattungen der europ. Uberlieferung, in welchen der P. erscheint, sind Schwank und Witz. Hier werden die komischen Konflikte thematisiert, die entstehen, wenn der P. unerlaubten Flirt und Ehebruch publik macht oder auch nur machen will. In AaTh 1422: cf. -> Ehebruch verraten wird eben dieses raffiniert vermieden und der P. listig als Lügner hingestellt 44 . Nicht so erfolgreich ist die Ehebrecherin in AaTh 243: The Parrot Pretends to be God: Weil der P. sie verpetzt hat, gibt sie den Auftrag, ihn zu braten; er jedoch versteckt sich in einem Tempel, wo sie seine Anweisungen für die Stimme Gottes hält 45 . Ein vom P. verratener Flirt führt zu Ermahnungen 46 oder dazu, daß der Vater der Umworbenen den Liebhaber verprügelt 47 . An der Grenze von Schwank und Witz angesiedelt sind pointierte Berichte über Pen, die von Menschen gelernte Redewendungen falsch oder witzig anwenden (Robe 237* Α - D , G, Η, I; cf. AaTh 237: Elster [P.] und Sau). Vom Mißerfolg des menschlichen Kampfes gegen einen P. mit unflätigen Reden berichtet

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eine mexikan. Erzählung (Robe 10***). In einem nicaraguan. Lügenmärchen erklettert ein Mann einen Baum, schmiert die Äste mit Sirup ein und läßt ein Feuerwerk los; alles klebt fest, die P e n erheben sich samt Baum und Mann in die Lüfte und reisen dergestalt in die nächste Stadt 48 . Manche schwankhaften Geschichten zeigen den P. als trickreich (Mot. J 1118.1, ind.) bzw. auf seinen eigenen Vorteil bedacht (Mot. J 215.1.1, ital.): Bei der Ernteteilung (cf. AaTh 1030: -» Ernteteilung) überlisten sich P. und Katze mehrfach gegenseitig (Mot. J 1565.3, ind.), mexikan. Pen werden im Hahnenkampf eingesetzt (Robe 237* F) oder wollen nach gewonnenem Flugwettbewerb anschließend nur eines wissen: Wer sie nämlich vor dem Start mit einer Zigarre in Brand gesetzt habe (Robe 237* E) 49 . Der P. fehlt selten im Witzrepertoire von Kindern und Jugendlichen 50 , bes. bedingt durch das alterstypische Interesse an Sexuellem und Skatologischem sowie der Identifikation des Erzählers mit dem Schwächeren, der etwas sagen darf, was man eigentlich nicht hätte sagen dürfen 5 1 . Vorrangig ist der P.enwitz ein unanständiger' Witz, etwa wenn der P. aus dem Besitz einer Prostituierten in einen Pfarrhaushalt wechselt und in der neuen Umgebung das nun höchst unpassende Sprachrepertoire beibehält 52 . Diese Konstellation benutzt auch der politische Witz, bes. in Ländern, wo die falsche politische Aussage des P s zu Repression oder Tod für seinen Besitzer führen kann 5 3 . Zu den Wortwitzen gehören Beispiele wie ,P. und Mamagei'. Schließlich kann auch der Mensch in Witz und Anekdote dem P. gleichgestellt sein: Einem Irren oder dem einer Fremdsprache Unkundigen wird für eine scheinbar voraussehbare Situation eine Wortfolge eingeübt, ohne daß der Sprecher die Bedeutung kennt. Da die Situation aber nicht wie vorgesehen eintritt, das Gelernte jedoch trotzdem mechanisch abgespult wird, ergeben sich verblüffende oder absurde Pointen (cf. auch AaTh 1697: cf. -* Handel mit dem Teufei)5'· Neben den im engeren Sinne volkskundlich relevanten Gattungen berichten diverse Medien immer wieder angeblich wahre Kuriosa mit witzigen oder schwankhaften Zügen, in denen Pen figurieren 55 .

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Papageienbuch

Keller, Ο.: Die antike Tierwelt 2. Lpz. 1913,45-49, bes. 4 5 . - 2 cf. Hünemörder, C.: P. In: Lex. des MA.s 6. Mü./Zürich 1999, 1662 sq. - 3 Zedler, J. H.: Großes vollständiges Universallex. aller Wiss.en und Künste 26. Halle/Lpz. 1740, 614-617, hier 614. 4 De Gubernatis, Α.: Die Thiere in der idg. Mythologie. Lpz. 1874, 584 sq. - 5 Gennep, A. van: Mythes et legendes d'Australie. P. 1906, 7. - 6 Heissig, W.: Geschichte der mongol. Lit. 1. Wiesbaden 1972, 162. - 7 Wilbert, J.: Warao Oral Literature. Caracas 1964, 5 0 - 5 2 . - 8 Bodker, Indian Animal Tales, num. 1094. - 9 Koch-Grünberg, Τ.: Indianermärchen aus Südamerika. MdW 1921, num. 6; von Beit 1, 127. - 10 Wilbert (wie not. 7) 130 sq. II Keller (wie not. 1) 49. - 1 2 Bodker, Indian Animal Tales, num. 431. - 13 Wilbert, J./Simoneau, K. (edd.): Folk Literature of the Toba Indians 1. L. A. 1982, num. 137. - 1 4 B0dker, Indian Animal Tales, num. 26. - 15 ibid., num. 929. - 16 ibid., num. 257. - 17 Geißler, F.: Brautwerbung in der Weltlit. Halle 1955, 93. - 18 ibid., 88. - 19 Ergänzend zu AaTh: Cirese/Serafini; Ting. - 2 0 Etienne de Bourbon: Anecdotes historiques, legendes et apologues tires du recueil inedit [...]. ed. A. Lecoy de la Marche. P. 1877, 401. 21 Francisci, E.: Die lustige Schau-Bühne allerhand Curiositäten [...]. Nürnberg 1690, 11; Lauremberg, P.: Neue und vermehrte Acerra philologica. (Rostock 1633) Ffm./Lpz. 1717, 707; Keller (wie not. 1) 49. — 22 Francisci (wie not. 21) 11 sq.; Kobolt, W.: Die Groß- und Kleine Welt [...]. Augsburg 1738, 513-516; Zedier (wie not. 3) 617; Schenda, R.: Das ABC der Tiere. Mü. 1995, 253 (mit weiteren Beispielen). - 2 3 Francisci (wie not. 21) 14. - 24 Bodker, Indian Animal Tales, num. 218. - 25 ibid., num. 508. - 26 ibid., num. 802, 806. - 2 7 Benfey 2, 124-128; Benfey, T.: Die Reise der drei Söhne des Königs von Serendippo (FFC 98). ed. R. Fick/A. Hilka. Hels. 1932, 17-19, 7 2 - 8 2 ; cf. EM 3, 769; EM 5, 1214. 28 Bodker, Indian Animal Tales, num. 218. - 29 ibid., num. 651. - 30 Ergänzend zu AaTh: SUS; Ting. 31 von Beit 2, 627. - 32 Christensen, Α.: Märchen aus Iran. MdW 1939, 150. - 33 Meier, H.: Port. Märchen. MdW 1940, num. 34; BP 2, 380-394. 34 Carvajal, M. [i. e. C. Lyra]: Cuentos de mi tia Panchita. San Jose 1936, 8 0 - 8 9 . - 35 Eberhard/Boratav, num. 348. - 36 BP 2, 245. - 37 ibid. - 38 Eberhard/ Boratav, num. 93. - 39 Schenda, R./Senn, D.: Märchen aus Sizilien. MdW 1991, num. 7. - 4 0 cf. Schwarzbaum, Fox Fables, 85, 365-367 (zu Mot. Κ 1860, Κ 522.4); Schenda (wie not. 22) 254. 41 ibid., 252 sq. - 4 2 Child 1, num. 4, hier p. 59. 43 Henkel, A./Schöne, A. (edd.): Emblemata. Stg. 2 1976, 801-804. - ^ E r g ä n z e n d zu AaTh und EM 3, 1065-1068: De Gubernatis (wie not. 4) 585; Bodker, Indian Animal Tales, num. 1017; Keller (wie not. 1) 47 sq. - 45 Ergänzend zu AaTh: BP 3, 126 sq.; Schenda (wie not. 22) 255. - 4 6 Francisci (wie not. 21) 15; Kobolt (wie not. 22) 514. 47 Wehse, R.: Schwanklied und Flugblatt in Großbritannien. Ffm./Bern/Las Vegas 1979, num. 163. -

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P e n a Hernandez, Ε.: Folklore de Nicaragua. Masaya 1968, 236 sq. - 4 9 Legman, G.: Der unanständige Witz. Hbg 1970, 208 sq. - 50 cf. ζ. B. Riedl, A./ Klier, Κ. M.: Lieder, Reime und Spiele der Kinder im Burgenland. Eisenstadt 1957, 11 sq.; Satke, Α.: Soncasna zäkovskä anekdota ve Slezsku a na Ostravsku (Heutige Schülerwitze in Schlesien und dem Gebiet von Ostrau). In: CL 60 (1973) 7 0 - 8 5 , num. 7 4 - 7 7 ; McCosh, S.: Children's Humour. L. u. a. 1976, 321-324; Virtanen, L.: Children's Lore. Hels. 1978, 72; Gaignebet, C.: Le Folklore obscene des enfants. P. 2 1980, 84-105; Wehse, R. (ed.): Warum sind die Ostfriesen gelb im Gesicht? Die Witze der 11-14jährigen. Ffm./Bern 1983, 24 sq., 30 sq., 90 sq.; id.: Die Frau im Witz der Kinder. In: Gender - Culture - Poetics. Festschr. Ν. Würzbach. Trier 1999, 191-206, hier 204. 51 Röhrich, L.: Der Witz. Stg. 1977, 130. - " L e g man (wie not. 49) 207-211; Gaignebet (wie not. 50) 8 4 - 9 4 ; Röhrich (wie not. 51) 133 sq. - " i b i d . , 134; Gaignebet (wie not. 50) 91. - 54 Bethge, H.: Hundert kleine Geschichten um Friedrich d. Gr. B. 1940, 4 8 - 5 0 ; Wehse 1983 (wie not. 50) 10, num. 15. 55 Zedier (wie not. 3) 614-617; Lembke, R. E./Andrae-Howe, I.: Aus dem Papierkorb der Weltpresse. Mü. (1960) 3 1968, 32; Hofmann, P : Der P. aus dem Vogelsberg. In: Hessenland-Kalender 1964, 104107; Schenda (wie not. 22) 252-256. München

Rainer Wehse

Papageienbuch, o r i e n t a l . E r z ä h l s a m m l u n g , im W e s t e n a m b e k a n n t e s t e n in d e n Tuti-näme (P.) betitelten pers. u n d t ü r k . F a s s u n g e n . D i e G r u n d i d e e des W e r k e s , d a s e b e n s o wie -> Kahla und Dimna, Tausendundeinenacht und d a s Sindbäd-näme (-> Sieben weise Meister) v o n einer c h a r a k t e r i s t i s c h e n -»• R a h m e n e r z ä h l u n g u m s c h l o s s e n ist, g e h t z u r ü c k a u f die ind. Sukasaptati (70 E r z ä h l u n g e n [eines P a p a g e i en]). D a s in S a n s k r i t a b g e f a ß t e U r s p r u n g s w e r k , dessen E n t s t e h u n g s z e i t m ö g l i c h e r w e i s e bis in d a s 10. J h . z u r ü c k r e i c h t , ist in drei u n t e r schiedlich a u s g e s t a l t e t e n s p ä t e r e n R e d a k t i o n e n e r h a l t e n 1 . D a r ü b e r h i n a u s existieren F a s s u n g e n in m e h r e r e n i n d . V o l k s s p r a c h e n ( M a r ä t h i , H i n d u s t a n i / U r d u , R ä j a s t h a n i , Bengali) 2 . E i n e tibet. Version liegt in e i n e m 1302 k o m p i lierten S a m m e l w e r k v o r 3 . S o w o h l m a n c h e d e r v o l k s s p r a c h l i c h e n ind. Versionen - wie die U r d u - F a s s u n g e n des G a w w ä s l (1049/1639) 4 u n d des H a i d a r B a h s H a i d a r l (1215/1801) 5 als a u c h die m a l a i . Versionen Hikayat Bayan Budiman ( G e s c h i c h t e des weisen P a p a g e i e n )

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und Hikayat Hoga Maimün (Geschichte des Kaufmanns Maimün) 6 gehen allerdings auf pers. Vorbilder zurück 7 . Eine erste pers. Version, verfaßt 714/1314 von einem gewissen 'Emäd ibn Mohammad u. d. T. Gaväher al-asmär (Juwelen der Abenderzählungen) 8 , enthält neben Erzählungen des ind. Vorbildes auch solche aus anderen ind. Slgen, so dem Pancatantra, Simhäsanadvätrimsikä(-> Vikramacarita)und-» Vetälapancavimsatikä9. Sie fand offenbar wenig Anklang, denn nur kurze Zeit später erhielt Zeyä'addin Nahsabi den Auftrag, eine weitere Bearb. anzufertigen, welche er 730/1329—30 vollendete 10 . Nahsabi benutzte zwar hauptsächlich das Gaväher al-asmär als Vorlage, arbeitete aber wiederum Erzählungen aus anderen Slgen, jetzt der pers. Lit., ein. Darüber hinaus verhalf er dem Werk zu einer ansprechenderen sprachlichen Form, deren Popularität u. a. durch ill. Hss. bereits der frühen MoghulZeit" und diverse pers. Fassungen des 16. und 17. Jh.s bezeugt ist; auch Goethe war vom P. begeistert. Kürzere Fassungen sind die türk. Version von Sari 'Abdallah Efendi (17. Jh.) 12 sowie die pers. von Mohammad Qäderi (17. Jh.), bei dem es sich möglicherweise um den auch als Därä-Soküh bekannten Sohn des Moghul-Herrschers Säh-gahän handelt 13 . Aus dem 19. Jh. schließlich liegen u. a. hs. vulgärarab. Übertragungen 1 4 sowie in zahlreichen populären Drucken seit 1848 bis in die Mitte des 20. Jh.s verbreitete anonyme pers. Kurzfassungen u. d. T. Cehel tuti (40 Papageien) vor 15 , von denen im 20. Jh. auch u. a. türk. und kurd. Übers.en angefertigt wurden 16 . Der Titel Cehel tuti ist — stellvertretend für alle pers. Fassungen des P.es - im Persischen auch synonym für eine unendlich scheinende Geschichte geworden 17 . Auffällig gegenüber den anderen großen oriental. Erzählsammlungen ist, daß in den meisten Versionen des P.s an Zahlen mit hohem symbolischen Wert angeknüpft wird: In der Sukasaptati sind es 70, im Gaväher al-asmär und bei Nahsabi 52 Nächte; das Cehel tuti spielt mit der Nennung der Zahl 40 im Titel auf deren Symbolwert als Ausdruck der Vollendung an 18 . Die Rahmenerzählung des P.s, AaTh 1352 A: Sukasaptati, berichtet von einer jungen Frau, die während einer längeren Abwesenheit

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ihres Mannes beabsichtigt, sich zu einem Liebhaber zu begeben; ein zahmer Papagei fesselt durch das Erzählen von Geschichten Nacht für Nacht ihre Aufmerksamkeit und hält sie mit dieser -• Johannes. - 3 = AaTh 1592 A: cf. Mäuse fressen Eisen. - 4 = Nichtwelkender Blumenstrauß zeigt eheliche Treue an (Mot. D 2167.3) + Treue auf die Probe gestellt (Mot. Η 492). - 6 = cf. AaTh 1426: -> Frau im Schrein. - 7 = Vogeljunge entkommen, indem sie sich -» tot stellen (Mot. Κ 522) + Papagei heilt den König (Mot. Β 469.9). - 8 = Schachspielender Affe (Mot. Β 298.1) + AaTh 91: -» Affenherz als Heilmittel. - 9 = AaTh 945: -> Glück und Verstand. — 10 = Freier soll Kopf seines Wohltäters bringen (cf. Mot. Η 335.4.1). 12 = Keuscher Mann von Frau verleumdet (cf. Der keusche -> Joseph; hier: Rahmengeschichte des Sindbäd-näme). — 13 = AaTh 1419 D: The Lovers as Pursuer and Fugitive. - 14 = Kupplerin führt Mann eigene Frau als Hure zu (cf. Mot. Κ 1223.2). - 16 = Mann, der Listen der Frauen sammelt, mit unbekannter List belehrt. - 17 = cf. AaTh 1418: ^ Isoldes Gottesurteil. — 19 = Veijüngende Frucht (Mot. D 1338.3.3). - 20 = Als einziges Tier rät der Igel dem Salomo, nicht vom Wasser des ewigen Lebens (-» Lebenswasser) zu trinken (cf. Mot. J 369.1). - 22 = Anthropomorphisiertes Meer. - 2 3 - 2 4 = AaTh 976: Die vornehmste -> Handlung. - 27 = Löwe bestellt Katze, um Mäuse zu vertreiben (Eberhard/Boratav, num. 12). - 28 = cf. AaTh 34 A: cf. Hund verliert das Fleisch. — 30 = Frosch als dankbares (hilfreiches) Tier. - 31 = -> Moses will sich eigenes Fleisch herausschneiden, um Taube vor Falken zu retten (cf. Mot. Β 322.1). - 33 = AaTh 653 Β: The Suitors Restore the Maiden to Life (-> Wiederbelebung). - 35 = Betrogener Ehemann (-> Hahnrei) gewinnt Fröhlichkeit wieder, als er sieht, daß andere sein Schicksal teilen (cf. Rahmengeschichte von Tausendundeinenacht). — 36 = Lachender Fisch offenbart Ehebruch 21 . - 37 = Freund des Liebhabers posiert in -> Verkleidung als Frau des betrogenen

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Ehemannes 22 . - 40 = cf. AaTh 838: -> Sohn am Galgen. - 43 = Biene versorgt blinden Sperling. - 47 = cf. AaTh 1149: cf. Kinder begehren Fleisch des Unholds. - 48 = AaTh 66 A: - Hallo, Haus! - 50 = cf. AaTh 20 D*: cf. Tiere fressen einander23. — 51: AaTh 214 B: -> Esel in der Löwenhaut. - 52 = cf. AaTh 712: ^ Crescentia. - 55 = AaTh 653: Die vier kunstreichen -» Brüder. — 56 = AaTh 1169: cf. -» Köpfe vertauscht. - 57 = -» Geschlechtswechsel durch im Mund getragene Kugel. - 60 = cf. AaTh 1164: -» Belfagor (befreundete Schlange im Rüssel des kgl. Lieblingselefanten). - 61 = Biene und Frosch vernichten den mächtigen Elefanten (Mot. L 315.5). - 63 = - Fernliebe. - 64 = cf. AaTh 214 A: Camel and Ass Together Captured because of Ass's Singing. - 66 = Reichtum durch Zaubertopf (Mot. D 1171.1). - 69 = Frau mit drei Brüsten (Mot. F 546.2). - 70 = Sohn ist der Mutter ungehorsam + Blick kann töten (Mot. D 2061.2.1). - 71 = AaTh 670: cf. -> Tiersprachenkundiger Mensch. — 73 = AaTh 155: Undank ist der Welt Lohn. - 75 = AaTh 518: -» Streit um Zaubergegenstände + AaTh 678: cf. -> Seelentier. - 77 = Wiederbelebte Schlange verschlingt Retter. - 78 = Geliebte Sklavin durch Lautenspiel wiedergefunden (Mot. Η 35.1) 24 . - 79 = cf. AaTh 726: Die drei - Alten25. 80 = Kinder der Streitenden miteinander vermählt (cf. -» Salomonische Urteile) 26 . - 81 = König hält Sohn seiner Frau für deren Liebhaber (AaTh 910 B: cf. Die klugen -> Ratschläge) + Scharfrichter hat Mitleid (Mot. Κ 512). - 82 = Oft verleumdete keusche Frau (cf. AaTh 706: -> Mädchen ohne Hände). - 83 = AaTh 567 A: cf. Das wunderbare Vogelherz.

Der Prozeß einer ständigen Variierung des Erzählrepertoires in den verschiedenen Versionen des P.s27 läßt sich aufzeigen bis hin zu der pers. Kurzfassung Cehel tuti, die neben Stoffen aus dem traditionellen Repertoire des P.es auch wieder neue Erzählungen einführt28: num. 1 = Falke warnt König vor Gift (einer Schlange) im Trinkwasser (Mot. Β 331.1) 29 . - 2 = AaTh 851 A: cf. -»• Rätselprinzessin. - 3 = AaTh 881: cf. -» Frau in Männerkleidung. - 5 = Nur eine von drei Frauen des Königs ist tugendhaft. - 6 = AaTh 567 A. - 8 = AaTh 945. - 9 = AaTh 1418. - 10 = AaTh 678. - 12 = Kluges Wiegen des Elefanten (Mot. Η 506.1).

Für diese Fassung fallt ferner auf, daß sie immerhin drei Erzählungen (num. 5, 10, 12) mit dem Peregrinaggio des Christoforo Armeno gemeinsam hat. Dieses Werk, dessen Autor mittlerweile zweifelsfrei als hist. Person identifiziert ist30, weist somit nicht nur zum Hast behest (Acht Paradiese) von Amir Hosrou Dehlavi (gest. 725/1325) - einer Bearb. der Hamse des -> Nezämi 31 — Affinitäten auf, sondern auch zum P.

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I Winternitz, M.: Geschichte der ind. Litteratur 3. Lpz. 1920, 342-348; Schmidt, R.: Die Sukasaptati (textus ornatior) aus dem Sanskrit übers. Stg. 1899; Töttössy, C.: The Problem of the Internal Frame Stories of the Sukasaptati. In: Acta Orientalia Academiae Scientiarium Hungaricae 18,3 (1965) 227-240. - 2 Pertsch, W.: Über Nachschabi's P. In: Z D M G 21 (1876) 505-551, 507. - 3 Herrmann, S.: Die tibet. Version des P.es. St. Augustin 1983. 4 Ahmad, Α.: Hikäya. 4: Urdu. In: EI 2 3 (1971) 375 sq., hier 376. - 5 Small, G.: The Tota Kahaani, or, Tales of a Parrot, Translated from Sayid Haider Bas's Hindustani Version [...]. L. 1875. - 6 Winstedt, R. O.: Hikäya. 5: Malaya. In: EI 2 3 (1971) 377. 7 Zum folgenden cf. Clouston, W. Α.: Flowers from a Persian Garden and Other Papers. L. 1890 (Nachdr. Ν. Y. 1977), 121-182; Hatami, M.: Unters.en zum pers. P. des Nahsabl. (Diss. Mainz 1977) Fbg 1977, 7 - 2 0 ; Marzolph, U.: Die Vierzig Papageien. Cehel Tuti. Das pers. Volksbuch. Walldorf 1979, 6 - 9 . - 8 TütI-Näme. Gaväher al-asmär. ed. S. Äl-e Ahmad. Teheran 1352/1973. - 9 Hatami (wie not. 7) 14. - 10 Nahsabl, Z.: Tütl-Näme. ed. F. Mogtabä'i/G. Äryä. Teheran 1372/1993; cf. Iken, C. J. L.: Touti Nameh, eine Slg pers. Märchen von Nechschebi. [...] mit einem Anhang von [...] J. G. L. Kosegarten. (Stg. 1822) Β ./Lpz. 1905 (Einl. R. Schmidt); Pertsch (wie not. 2); Atsiz, B.: Tutinäme. In: K N L L 12 (1991) 196 sq. II Chandra, P.: The TütT-Näma of the Cleveland Museum of Art and the Origins of Mughal Painting. Graz 1976; Simsar, Μ. Α.: The Cleveland Museum of Art's Tütl-Näma [...]. Graz 1978. - 12 Rosen, G.: Tuti-Nameh. Das P. Nach der türk. Fassung übers. Lpz. 1858 u. ö. - 13 Gladwin, F.: The Tooti-Nameh or Tales of a Parrot [...]. (L. 1801) Nachdr. Teheran 1967; Blatt, H.: Das pers. P. des Nahsabl in der Bearb. des Muhammad Hudävand Qädirl. Kirchhain 1933; Becka, J.: New Contributions to Naxsabl's Tütlnäma. In: Archiv Orientälni 51 (1983) 382-385, hier 384. - 14 Ahlwardt, W.: Die Hss.-Verz.se der Kgl. Bibl. zu Berlin 8,9. B. 1896, 147, num. 15; cf. BP 4, 364-418, hier 393; Muräd, R. Ά . : Fihris mahtütät Dar al-kutub az-Zähirlya (Katalog der Mss. der Zähirlya-Bibl.) 17. Damaskus 1982, 284 sq., num. 5 7 - 6 9 . - 15 Barb, Η.: Naurüs-Bll. Wien 1848, 4 9 - 1 0 8 ; Yüsoff, G.-H.: Cehel Tütl. In: Enc. Iranica 5,2. Costa Mesa 1990, 117 sq.; Marzolph, U.: Dästänhä-ye sirin. 50 pers. Volksbüchlein aus der 2. Hälfte des 20. Jh.s. Stg. 1994, num. XII; id. (wie not. 7). 16 cf. Marzolph (wie not. 7) 10. - 1 7 Dehhodä, ' A . A . : Amsäl va hekam 3. Teheran 3 1352/1973, 1466. - 18 cf. Roscher, W. H.: Die Zahl 40 im Glauben, Brauch und Schrifttum der Semiten. In: Abhdlgen der phil.-hist. Klasse der Kgl. Sächs. Ges. der Wiss.en 27,4 (1909) 9 3 - 1 3 8 . - 19 Konkordanztabellen der pers. und türk. Fassungen bei Pertsch (wie not. 2) 513 sq.; Hatami (wie not. 7) 19 sq. - 2 0 Nach Hatami (wie not. 7). 21 23

Marzolph *875 D,. - 2 2 cf. Marzolph *1379. Marzolph 20 D*. - 2 4 Chauvin 5, num. 75.

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Papst

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Marzolph *726. - 2 6 Marzolph 926 C. - 27 cf. auch Pertsch (wie not. 2) 514. - 28 Übersicht nach Marzolph (wie not. 7). - 29 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 929. - 3 0 Piemontese, A . M . : Gli „Otto Paradisi" di Amir Khusrau da Delhi. Una lezione persiana del „Libro di Sindbad" fonte del „Peregrinaggio" di Cristoforo Armeno. Rom 1995. 31 Aliev, G. Ju.: Temy i sjuzety Nizami ν literaturach narodov vostoka (Themen und Stoffe N.s in den oriental. Lit.en). M. 1985, 4 5 - 5 8 .

Göttingen

Ulrich Marzolph

Papst 1. Allgemeines - 2. Ma. Legenden und Schwänke - 3. Reformatorische Polemik - 4. Neuzeitliche Erzählungen

1. A l l g e m e i n e s . DerP. (griech.-lat.: Vater) ist das Oberhaupt der kathol. Kirche; nach deren Glaubenslehre ist das P.tum von -> Christus eingesetzt, und die P.e (Titel seit dem 4. Jh. belegt) sind Nachfolger des Apostels -+ Petrus im röm. Bischofsamt und in dem damit verbundenen Primat 1 . Der P. hat von der Spätantike bis zur Gegenwart als Erzählfigur eine wechselhafte Bedeutung. An der Spitze der ständischen Gesellschaft stehend, ist er mit der religiösen und hist. Entwicklung des Abendlandes eng verbunden. Er findet sich als Erzählfigur bes. in Legenden, Schwänken, Sagen und Witzen, selten in Märchen. Dabei wird der P. entweder konkret mit Namen benannt oder erscheint als Verkörperung seines Amtes. 2. M a . L e g e n d e n u n d S c h w ä n k e . Qu.nkritisch untersuchte I. von Döllinger die ma. Pfabeln, deren Entstehung er ζ. T. bis in die Spätantike zurückführte 2 . Von einer eigenen hagiographischen Gattung kann jedoch nicht die Rede sein, vielmehr handelt es sich um eine Erscheinungsform der Legende und um Beispiele einer fragwürdigen Historiographie 3 . Dazu gehören Erzählungen von erfundenen Pen wie dem hl. -> Cyriacus, Leo oder der Päpstin Johanna und von hist, gesicherten Pen, deren Biogr. legendenhafte Erweiterungen erfuhr 4 . In der Legende unterscheidet sich das Wirken der P.e kaum von dem anderer frommer Menschen. So habe Gregor d. Gr. Rom von

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der Pest befreit und Clemens VII. durch das Lesen einer Messe Seelen aus dem ->• Fegefeuer erlöst, was zu einem weitverbreiteten Bildmotiv geworden ist5. Bei Pen, denen aufgrund von Verdächtigungen ein kirchliches Begräbnis verweigert wurde, offenbart ein starker Wind deren Lauterkeit (Mot. F 963.3, Q 147.2)6. Von dem verstorbenen Clemens I. weiß die Legende, daß auf das -> Gebet seiner Anhänger hin das Meer zurücktrat (Mot. F 931.9), so daß sie trockenen Fußes zu seinem Grab gelangen konnten 7 . Eine spezifische Funktion übernimmt der P. in Erzählungen, die im Zusammenhang mit der Absolution von Kapitalsünden wie Inzest (Mot. Τ 412.1; AaTh 933: Gregorius) stehen und ein Reservationsrecht des Pes beinhalten. Variantenreich sind Büßererzählungen vom Typus des Tannhäusers 8 . Der P. verweigert dem Sünder scheinbar hartherzig die Absolution, indem er bemerkt, daß ihm nur vergeben werden könne, wenn ein dürrer Zweig ergrüne (Äpfel trage etc.; cf. AaTh 756: Der grünende -> Zweig)9. Erst nachdem entsprechend der kathol. Lehre die frevelhafte Tat durch -» Buße und wahre -> Reue gesühnt ist, stellt sich die durch wunderbare Zeichen bezeugte Versöhnung mit Gott ein. Vom P. ist auch in schwankhaften Erzählungen die Rede. In den -> Cent nouvelles nouvelles (num. 14) findet sich die Geschichte von einem Verführer, der vorgibt, auf Befehl eines Engels einen P. zeugen zu sollen (cf. AaTh 1855 A: Jüdin verspricht, -> Messias zu gebären). 3. R e f o r m a t o r i s c h e P o l e m i k . Die fundamentale Kritik der -> Reformation am P.tum, wie sie in Martin -> Luthers Schrift Wider das Bapstum zu Rom vom Teuffei gestifft (1545) oder in Georg Mylius' Bapstpredigten (1599) zum Ausdruck kommt, spiegelt sich in zahlreichen Erzählungen. In ihnen verkörpert der P. den ,Antichrist'; außerdem wird er des falschen Glaubens, der Lüge, Geldgier und — im Kontext massiver Zölibatskritik - des Kindsmordes beschuldigt 10 . Bezugnehmend auf eine monströse Eselsfigur, die 1496 am Tiber gefunden worden sein soll, publizierten Philipp -> Melanchthon und Luther eine ill. Kampfschrift über die „grewliche Figur des Bapst Esels" (1523)11. Als Tier-

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Papst

fabel hatte der P.esel ein langes Nachleben, so bei Erasmus Alberus, der darstellte, wie ein einfacher Mensch bis zum P. aufsteigt 12 . Bei Hans Sachs und dessen Illustratoren erscheint der P. u. a. als Drache, babylon. Hure, in Verbindung mit Hölle, Teufel und einem siebenköpfigen Ungeheuer 13 . Im Lied vom ,P.austreiben' (1545), einer wohl von Johannes ->• Mathesius verfaßten Parodie auf ein Lied vom Winteraustreiben, wird der P. als Braut von Babylon und Seelenverführer geschmäht 14 . In der Historia von D. Johann Fausten (1587; 3. Fahrt) gelangt -> Faust nach Rom, wo er drei Tage lang Fressen, Saufen, Hurerei und das gottlose Wesen des P e s beobachtet. Faust neckt den P., indem er ihm unsichtbar ins Gesicht bläst und weint, weshalb der P. meint, daß es sich um eine unerlöste Seele handelt, die er nach weiteren Streichen jedoch ins Fegefeuer verdammt. P.kritik findet sich u. a. in Schwänken und Scherzen, deren Konjunktur im 17. Jh. allmählich abflaute. Verbreitet war die scherzhafte Bemerkung beim Tode Pius V. (1572), daß unter 133 P e n nur fünf diesen (frommen) Namen gewählt hätten 1 5 . Beliebt war die Scherzfrage, an welchem Ort Christus nicht sei: In Rom, dort habe er seinen Statthalter 16 . Rom steht auch im Zentrum der Erzählung von einem Juden, der sich erst taufen lassen wollte, nachdem er in Rom gewesen war. Davon versuchte ihn der taufende Pfarrer abzuhalten, jedoch meinte der Jude nach seiner Rückkehr, daß er gerne den Christengott anbete, da dieser gütig sein müsse, weil er alle Sünden in Rom durchleide (Mot. J 1263.3). Ferner kursierte die Erzählung von einem Alchemisten, der Leo X. ein Buch zum Goldmachen geschenkt und dafür statt der erhofften Belohnung einen leeren Beutel erhalten habe, den er selbst mit Geld füllen sollte 17 . 4. N e u z e i t l i c h e E r z ä h l u n g e n . Eine positive Darstellung des P.es findet sich u. a. in der kathol. gegenreformatorischen Erzähltradition (-> Gegenreformation), wo er als Heilsvermittler und im Kampf gegen Sünder und Ungläubige in Erscheinung tritt. So habe Pius V. durch sein Vertrauen auf Gott und Maria den Kampf gegen die Türken in der Schlacht von Lepanto (1571) für sich entschieden 18 .

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In Sagen findet sich der P. häufig im Zusammenhang mit der Bußpraxis, die schwere Sünder zwingt, den P. in Rom um Vergebung ihrer Sünden zu bitten 19 . Nach Bezeugung wahrer Reue und Ableistung von Bußen wird der Sünder in der Regel vom P. von seinen ewigen Strafen befreit. Dem P. wird in Sagen oft eine bes. Macht im Umgang mit Geistern, Hexen, Zwergen u. a. numinosen Gestalten zugeschrieben, die er bannen kann 2 0 . Zudem habe der P. bei Gott erwirkt, daß Geister (Arme Seelen) die Menschen nicht mehr zu Tode erschrecken dürfen, von der Erde verbannt oder zumindest einige Jahre unsichtbar sind 21 . Ferner wird vom P. geweihten Gegenständen eine bes. Heilswirkung zugebilligt 22 . Mitunter ist der P. selbst -> Versuchungen von seiten des Teufels, ζ. B. in Gestalt einer schönen Frau (AaTh 816*: Devils Tempt the Pope), ausgesetzt. Meist schlägt der P. den Teufel in die Flucht und setzt ihm körperlich zu (Mot. G 303.16.2.3.2). Außergewöhnliche Begebenheiten werden im Zusammenhang mit der P.wahl erzählt. Es sind auf wunderbare Weise läutende Glocken (Mot. D 1311.12.1), sich selbst entzündende Kerzen (Mot. Η 41.3) und seltsame Vögel (Mot. Η 171.2), die die Wahl begleiten, oder ein Stuhlwechsel, der zur Wahl des Pes führt (Mot. Η 171.6). Die typischen Insignien des Pes (Ring, Tiara) spielen primär bei Begegnungen mit dem P. eine Rolle. Das gilt ζ. B. für Erzählungen im Zusammenhang mit der spektakulären Reise von Pius VI. im Jahre 1782 nach Wien, München und Augsburg 23 . Sagenhaftes rankt sich auch um die (angeblichen) Aufenthaltsorte des P.es24. Relativ selten findet sich der P. in Märchen. Bekanntestes Beispiel ist K H M 19, AaTh 555: -» Fischer und seine Frau; dort wünscht die Frau in ihrer Unersättlichkeit vom Butt, P. zu werden 25 . In K H M 33, AaTh 671: cf. - Tiersprachenkundiger Mensch geht es um einen dummen Grafensohn, der von Fröschen vernimmt, daß er P. wird. In Rom wird er zum P. gewählt, da ihm beim Eintritt in die Kirche weiße Tauben auf die Schultern fliegen 26 . In Witzen und sprichwörtlichen Redensarten spielt der P. noch immer eine Rolle. Geläufig sind ,Päpstlicher als der P. sein', ,Den P. zum Vetter haben' oder ,Er ist in Rom gewesen und hat den P. nicht gesehen' 27 . Auf die Frage,

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Päpstin Johanna

w e r d a s Z ö l i b a t e i n g e f ü h r t h a b e , l a u t e t die witzige A n t w o r t : ,P. I m p o t e n s VI. d u r c h seine Bulle „ N o n p o s s u m u s ' " , w ä h r e n d die F r a g e n a c h d e m U n t e r s c h i e d zwischen d e m P. u n d d e r Pille (die Pille ist u n f e h l b a r ) a u f d a s D o g m a v o n d e r U n f e h l b a r k e i t d e s P.es a n spielt 2 8 . U . a. v o n A d e n a u e r h e i ß t es i m W i t z , er w ä r e g e r n v o m P. h e i l i g g e s p r o c h e n w o r d e n ; Henry Ford dagegen habe den Wunsch geäuß e r t , seinen N a m e n in d a s V a t e r u n s e r a u f n e h m e n z u lassen 2 9 . D i e L e g e n d e n b i l d u n g u m die P.e ist n i c h t a b g e s c h l o s s e n , wie die L e g e n d e n ü b e r J o h a n nes P a u l II. belegen 3 0 . In i h n e n w i r d d e r P. als w i c h t i g s t e r M a n n d e r Welt h e l d e n h a f t v e r k l ä r t u n d sein T o d m i t e i n e m g r o ß e n K r i e g u n d d e m E n d e d e r Welt in V e r b i n d u n g g e b r a c h t . 'Schwaiger, G.: P., P.tum. In: LThK 7 ( 3 1998) 1327-1335; Aland, K./Fuhrmann, H./Bock, F./ Heyer, F.: P.tum. In: R G G 5 ( 3 1961) 5 1 - 8 6 ; Schwaiger, G./Leipold, H.: P.tum. In: T R E 25 (1995) 647-695. - 2 Döllinger, J. J. I. von: Die P.-Fabeln des MA.s. Mü. 2 1863. - 3 cf. Fuhrmann, H.: Die Fabel von P. Leo und Bischof Hilarius. In: Archiv für Kulturgeschichte 43 (1961) 125-162. - 4 cf. 5 ibid.; Döllinger (wie not. 2) 4 5 - 5 2 . ibid., 52-106; Hahner, G.: Der Exempelgebrauch im Lauretanum Mariale des Laurentius Lemmer, Würzburg 1687. Würzburg 1984, 73, 45; Thomas, Α.: Gregoriusmesse. In: LCI 2 (1970) 199-202. - 6 cf. Bagliani, A. P.: Der Leib des P.es. Mü. 1997, 103-143. 7 Günter 1910, 75 sq.; Hofmann, J.: Unser hl. Vater Klemens. Trier 1992, bes. 70 sq., 107-111. - 8 cf. Moser, D.-R.: Die Tannhäuser-Legende. B./N. Y. 9 1977. Klapper, M A , 160 sq., 190-193, 10 204-208. Brückner, 212; Moser-Rath, Schwank, 157 sq.; Rehermann, E. H./Köhler-Zülch, I.: Aspekte der Gesellschafts- und Kirchenkritik in den Fabeln von Martin Luther, Nathanael Chytraeus und Burkhard Waldis. In: Hasubek, P. (ed.): Die Fabel. B. 1982, 2 7 - 4 2 , hier 39 sq. 11 Lange, K.: Der P.esel. Göttingen 1891; Dussa, I.: Der Wittenberger „P.esel". In: Kunst + Unterricht 68 (1981) 3 7 - 4 0 . - 12 Hasubek, P.: Grenzfall der Fabel? In: id. (wie not. 10) 4 3 - 5 8 , hier 4 6 - 4 8 . 13 Bäumer, R.: Martin Luther und der P.Münster 1970, 7 8 - 8 0 ; Die Welt des Hans Sachs. Ausstellungskatalog Nürnberg 1976, num. 17, 25, 60, 73, 337. - 14 Ameln, K.: Das Lied vom P.austreiben. In: Jb. für Volksliedforschung 33 (1988) 11-18. 15 Moser-Rath, Schwank, 157. - 16 ibid., 157, 390, 441. - 17 ibid., 368, 401. - 18 Hahner (wie not. 5) 97. - 19 Büchli, Α.: Mythol. Landeskunde von Graubünden 1 - 4 . ed. U. Brunold-Bigler. Disentis 1989/ 89/90/92, hier t. 2, 247 sq.; Petzoldt, L.: Dt. Volkssagen. Mü. 2 1978, num. 48; Zaunert, P.: Rheinland Sagen 1. Jena 1924, 103-131, 211. - 2 0 Schönwerth,

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F.: Aus der Oberpfalz 1 - 3 . Augsburg 1857/58/59, hier t. 1, 196; Peuckert, W.-E. (ed.): Schles. Sagen. Weinheim 2 1924, 229; Sieber, F.: Sächs. Sagen. Jena 1926, 252. 21 Kuoni, J.: Sagen des Kantons St. Gallen. St. Gallen 1930, 17; Büchli (wie not. 19) t. 2, 291; t. 3, 54, 238. - 22 Schönwerth (wie not. 20) t. 2, 120 sq.; Depiny, Α.: Oberösterr. Sagenbuch. Linz 1932, 356. 23 cf. Drascek, D.: Der P.besuch in Wien und Augsburg 1782. In: Lauterbach, B./Köck, C. (edd.): Volkskundliche Fallstudien. Münster/N. Y./B. 1998, 2 5 - 4 4 . - 24 Unglaub, E.: „Da den Heiligen Vater niemand ersucht hatte auszusteigen ...". Die Reise von Papst Pius VI. in literar. Denkmälern der Zeit um 1782. In: Altbayern in Schwaben. Friedberg 1987, 130-160, hier 141. - 2 5 Rölleke, H.: Von dem Fischer un syner Fru. In: Fabula 14 (1973) 112-123, hier 112 sq. - 2 6 Luzel, F. M.: Legendes chretiennes de la Basse-Bretagne 2. Nachdr. P. 1967, 302-304. - 27 Röhrich, Redensarten 2, 1141, 1252 sq. 28 Bemmann, H.: Der klerikale Witz. Mü. 1976, 7 1 - 7 6 , hier 73 sq. - 29 ibid., 78, 106. - 3 0 Zowczak, M.: Jan Pawel II - narodziny legendy (Johannes Paul II. - Volkssagen). In: Literatura ludowa (1987) 3 - 1 2 ; Dundes, Α.: Polish Pope Jokes. In: JAFL 92 (1979) 219-222. München

Daniel Drascek

Päpstin Johanna ( M o t . Κ 1961.2.1), h ö c h s t w a h r s c h e i n l i c h f i k t i v e G e s t a l t eines als Frau in M ä n n e r k l e i d u n g ( M o t . Κ 1837) a g i e r e n d e n weiblichen -> P a p s t e s 1 . E r s t m a l s e r w ä h n t J o h a n n e s v o n Mailly u m 1250/60 - H i n w e i s e in ä l t e r e n Q u e l l e n sind i n t e r p o l i e r t — in seiner Chronica universalis Mettensis einen weiblic h e n P a p s t f ü r d a s E n d e des 11. Jh.s: D u r c h K i n d s g e b u r t b e i m R e i t e n als F r a u e n t t a r n t , sei diese z u T o d e geschleift u n d gesteinigt w o r d e n 2 . U n g e f ä h r z u r gleichen Zeit n e n n t E t i e n n e d e B o u r b o n in seinem T r a k t a t De Septem donis spiritus sancti d e n Fall als E x e m p e l f ü r die F o l g e n v o n V e r m e s s e n h e i t (-» H y b r i s ) 3 . I n d e m er die W a h l einer F r a u z u m P a p s t a u f die I n t e r v e n t i o n des -» Teufels z u r ü c k f ü h r t , gestaltet er d e n S t o f f n a c h d e m die weitere T r a d i t i o n des T h e m a s b e s t i m m e n d e n M u s t e r d e r bibl. S ü n d e n f a l l g e s c h i c h t e ( - • A d a m u n d E v a ) 4 . E b e n f a l l s e t w a gleichzeitig verlegt die Chronica minor eines E r f u r t e r F r a n z i s k a n e r s die G e s c h i c h t e in d a s 9. Jh.: H i e r v e r r ä t ein D ä m o n d a s G e s c h l e c h t d e r P ä p s t i n d u r c h ein e n (in e t w a s a n d e r e r F o r m bereits v o n E t i e n n e , d o r t a b e r als I n s c h r i f t , e r w ä h n t e n ) S p r u c h m i t sechs alliterierenden Ρ - ein M o -

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Päpstin Johanna

tiv, das von nun an in zahlreichen Variationen wiederkehrt 5 . Den Übergang von der Anekdote zum biogr. Bericht 6 markiert die Erzählung des Martin von Troppau in der 2. Redaktion seiner Papst- und Kaiserchronik (ca 1277)7: der spätere Johannes Anglicus sei in Mainz als Frau geboren, später sei diese von ihrem Geliebten in Verkleidung als Mann nach Athen gebracht worden, wo sie studiert habe, ehe sie nach Rom ging; dort habe sie das Trivium gelehrt und sei dann zum Papst gewählt worden. Diese Erzählung bietet das Modell für fast alle Adaptionen des Themas und auch eine Erklärung der Namen, die dem weiblichen Papst später zugeschrieben werden: Agnes als Verballhornung von Anglicus sowie Johanna, was zu Jutta verdeutscht wird. Martin fügt auch bereits ein kultätiologisches Element ein: Der Ort der Niederkunft der Päpstin begründet einen Umweg bei der Papstprozession. Hinzu kommt einige Jahre später bei Robert d'Uzes die Erklärung des durchlöcherten Stuhles (porphyra), der bei der Inthronisation der Päpste verwendet wurde, mit der Geschlechtsprüfung, die man nach dem Frauenpontifikat eingeführt habe 8 . Im Spätmittelalter wurde die Erzählung ein Element der Polemik gegen kirchliche Mißstände und den päpstlichen Machtanspruch (William of Ockham, John Wycliff, John Gerson, Jan Hus) 9 . Sie wurde in der Reformation als Beweis für die teuflische Leitung der kathol. Kirche und als Argument gegen die Idee des Priestertums und der apostolischen Sukzession aufgegriffen 10 und dann in der Protestant. Polemik des 17. Jh.s angereichert durch Motive wie das Bluttabu 11 - durch Menstruation und Geburt sei der Hl. Stuhl befleckt worden - und apokalyptische -· Luthers Auftritt vor dem Reichstag zu Worms (1521) symbolisierten die babylon. Hure von Apk. 17,312. Unter den Protestant. Theologen verlor die Legende an Bedeutung, nachdem sich der reformierte Historiker D. Blondel (gest. 1655) mit überzeugenden Argumenten gegen ihre Historizität ausgesprochen hatte 13 . Sie begegnet fortan fast ausschließlich im literar. Bereich. In diesen war sie bereits durch -> Boccaccios De claris mulieribus, Spottverse auf die Renaissancepäpste und die satirischen

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Gedichte von Hans Sachs und Thomas -> Murner 1 4 eingeführt. Die wichtigste frühneuzeitliche Quelle für die weitere Motivtradition bietet jedoch die erste detaillierte künstlerische Ausarbeitung des Materials: Ein schön Spiel von fraw Jutten welche Bapst zu Rom gewesen (ca 1480) von Dietrich Schernberg, der das Thema mit Motiven aus Legenden-, Fastnacht-, Weltgerichts-, Oster- und Passionsspielen, vor allem mit Szenen in Himmel und Hölle, anreicherte 15 . Die Legende dient hier als Beispiel für Fall und Erlösung des Menschen: Als -» Christus der Päpstin wegen ihres Ehrgeizes den Tod schicken will, erreicht Maria, daß Jutta durch Gabriel (der in einer Parodie der Verkündigungsszene auftritt) die Wahl zwischen ewiger Verdammnis und irdischer Demütigung erhält. Sie wählt letztere, wird von Teufeln entführt und gefoltert, schließlich gerettet und vom Erzengel -» Michael in den Himmel getragen. Die Parallele mit Eva wird elaboriert: Verführung zur Sünde durch teuflische Verheißung von Klugheit, schmerzhafte Geburt als Strafe und letztendliche Rettung nach einer Zeit der Buße. Das ganze Erlösungsdrama erscheint feminisiert: Die treibende Kraft des Bösen ist -» Luzifers Mutter Lilith, der sündige Mensch ist Jutta und die himmlische Helferin Maria. Neu ist gegenüber der Tradition die positive Darstellung der Päpstin als reuiger Büßerin.

Im Zuge der Kirchenkritik der Aufklärung und der Frz. Revolution kam es zu Adaptionen des Themas für weitere literar. Gattungen: Roman (Peter Adolph Winkopp: Die Päbstin Johanna. Lpz. 1783)16, Libretto (Auguste Jean Baptiste Defauconpret: L'Ainee des papesses Jeanne. P. 1793)17 und Novelle (Giovanni Battista Casti: La Papessa Giovanna. P. 1804)18. Hier werden vor allem die vulgären Elemente des Stoffes aufgegriffen und ausgemalt: Kotstuhlszene, Sexualleben der Päpstin und der sie umgebenden Kleriker (Mot. Κ 1315.6.3). Eine Romantisierung erfuhr die Erzählung durch Achim von -• Arnims 1846 posthum erschienenen Roman Die P. /19 Der Autor schildert die Päpstin als entwicklungsfähiges Individuum, das allerdings nun seine Rettung im irdischen Bereich erfährt. D a s TravestieMotiv wird entfaltet: Die isoliert aufgewachsene Johanna erfahrt ihr wahres Geschlecht erst als Erwachsene; ihr späterer Ehemann tritt in Verkleidung als Frau auf (Mot. Κ 1836), ohne daß beide zunächst das wahre Geschlecht des anderen kennen. Zusätzlich sind Gestalten aus der antiken Mythologie eingeführt (Melancholia als Mutter der J.; Apoll, Venus und Ceres), die durch verschiedene Motive (Bann

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Papua-Neuguinea

durch Zaubertrank und Spange mit grünem Stein, -» Säugen des Kindes J. durch eine Wölfin [Mot. Β 535; Romulus und Remus]) und Konspirationen mit Luzifer der Sphäre des Dämonischen assoziiert werden. Dieser steht ein romantisiertes und germanisiertes Christentum gegenüber, dessen Sieg ebenfalls durch die Adaption traditioneller Erzählmotive symbolisiert wird: Der Diener des Teufels, Oferus, Vater der J. und am Ende des Romans Papst Leo VIII., verwandelt sich in den Christen Christopherus (AaTh 768); Apoll stirbt beim Vorbeiziehen einer Bittprozession mit dem Allerheiligsten (cf. Mot. D 2060). Dazu gesellen sich zahlreiche weitere Motive: Luzifer versucht, in einem isl. Vulkan einen künstlichen Menschen herzustellen (-» Homunculus); klosterflüchtige, ins Heidentum zurückgefallene Nonnen erscheinen als Nixen am Rhein, welche die Schiffer gefährden (-• Lorelei); zweimal wird die Geschichte vom -» Fischer und seiner Frau (AaTh 555) erzählt, die als Päpstin die Welt regiert und schließlich ein schlechtes Ende findet; Luftschiff (cf. Mot. D 1532.11), in dem die Liebenden ruhen. E m m a n u e l R h o i d e s griff 1866 m i t s e i n e m R o m a n Die P. J. die T r a d i t i o n d e r p i k a n t e n und burlesken, kirchenfeindlichen Bearb.en des T h e m a s a u f , e i n e m W e r k , d a s d u r c h zahlreiche Ü b e r s . e n bis h e u t e eine e b e n s o weite V e r b r e i t u n g g e f u n d e n h a t 2 0 wie d e r die g e r m . Religionen mythifizierende, christentumskritische R o m a n v o n D o n n a W o o l f o l k C r o s s 2 1 . A u c h in d e r d a z w i s c h e n liegenden Zeit ist d a s T h e m a h ä u f i g literar. a d a p t i e r t w o r d e n 2 2 . D e r R J . - S t o f f stellt eine V a r i a t i o n des G r u n d m o t i v s d e r als M a n n v e r k l e i d e t e n F r a u dar. In einer m ä n n l i c h d o m i n i e r t e n Gesells c h a f t ist es n a h e l i e g e n d , d a ß dieser S t o f f sow o h l m i s o g y n , so bes. in d e r f r ü h e n N e u z e i t , als a u c h f r a u e n e m a n z i p a t o r i s c h , so im 20. J h . , gestaltet w e r d e n k a n n . D i e S t e l l u n g als M a n n w i r d d a b e i explizit — ä h n l i c h wie im T h e m a des -» G e s c h l e c h t s w e c h s e l s a u s g e d r ü c k t — als h ö h e r w e r t i g e r a c h t e t ; dies b e d i n g t letztendlich a u c h die d r a s t i s c h e n S a n k t i o n e n gegen f a l s c h e P r ä t e n d e n t e n . I m R J . - S t o f f ist d a r ü b e r h i n a u s die bes. P o i n t e , d a ß eine F r a u die S t e l l u n g des höchsten Kirchenführers einnimmt, Ausdruck einer a n t i r ö m . P o l e m i k . 'cf. Herbers, K.: Die P. J. In: Hist. Jb. 108 (1988) 174-194; Morris, J.: Pope John VIII - an English Woman, alias Pope Joan. L. 1985; cf. allg. Frenzel, Stoffe ( 7 1988), 584-586. - 2 M G H SS 24, 514. 3 Text bei Gössmann, E.: „Die P. J." Der Skandal eines weiblichen Papstes. B. 2 1998, 27, not. 5. — 4 cf. Schüngel-Straumann, H.: Die Frau am Anfang. Eva und die Folgen. Fbg 1989; Leisch-Kiesl, M.: Eva als

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andere. Köln 1992. - 5 M G H SS 24, 184 (Papa, pater patrum, papisse pandito partum [Papst, Vater der Väter, du sollst das Gebären der Päpstin kundtun]). - 6 Boureau, Α.: La Papesse Jeanne. P. 1988, 451. - 7 M G H SS 22, 428. - 8 Bignami-Odier, J.: Les Visions de Robert d'Uzes Ο. P. In: Archivum Fratrum Praedicatorum 25 (1955) 258-310, hier 274; D'Onofrio, C.: Mille anni di leggenda. Una donna sul trono di Pietro. Rom 1978, 124-159. 9 Gössmann (wie not. 3) 5 6 - 6 5 . - 1 0 Hotchkiss, V. R.: The Legend of the Female Pope in the Reformation. In: Acta Conventus Neo-Latini Hafniensis. Proc. of the 8th Internat. Congress of Neo-Latin Studies. Binghamton 1994, 495-505; Tinsley, B. S.: Pope Joan Polemic in Early Modern France. In: Sixteenth Century J. 18 (1987) 381-397. 11 cf. Douglas, M.: Purity and Danger. Binghamton, Ν. Y. 1980. - 12 cf. Sole, J.: Le Debat entre protestants et catholiques frangais de 1598 ä 1685. P. 1985, 662-677; Gössmann (wie not. 3) 149-214. "Blondel, D.: Familier Esclaircissement de la question, si une femme a este assise au siege papal de Rome entre Leon IV et Benoit III. Amst. 1647. 14 Texte bei Völker, Κ.: Die P.J. Ein Lesebuch. Β. 1977; cf. Drescher, Κ.: Hans Sachs und Boccaccio. In: Zs. für vergleichende Litteraturgeschichte 7 (1894) 407-416. - l 5 Haage, R.: Dietrich Schernberg und sein Spiel von Frau Jutten. Marburg 1981; Hotchkiss, V. R.: Clothes Make the Man. N. Y./L. 1996, 7 6 - 8 2 . - , 6 c f . Darnton, R.: Boheme litteraire et revolution. P. 1983, 173 sq. - 1 7 cf. Pardoe, R. und D.: The Female Pope. Wellingborough 1988, 85. - 1 8 cf. Boureau (wie not. 6) 287-289. - 1 9 cf. Ricklefs, U.: Magie und Grenze. Arnims „P.-J."-Dichtung. (Diss. Göttingen 1966) ed. W. Killy. Göttingen 1990. - 2 0 Rhoides, E.: Die P.J. Mindelheim 1985; cf. Gössmann (wie not. 3) 363-369. 21 Woolfolk Cross, D.: Pope Joan. N . Y . 1996 (dt.: Die Päpstin. B. 4 1998); cf. Gössmann (wie not. 3) 394-408; Stanford, P : Die wahre Geschichte der 22 P.J. B. 2 2000. cf. Gössmann (wie not. 3) 350-408 (19./20. Jh.). Mainz

Andreas Merkt

Papua-Neuguinea (1995: c a 4,3 M i l l i o n e n E i n w o h n e r ) u m f a ß t d e n Ostteil d e r Insel N . sowie die Inseln d e s B i s m a r c k - A r c h i p e l s u n d Bougainville; d e n Westteil d e r Insel N . bildet d a s e h e m a l i g e N d l . - N . , als I r i a n J a y a seit 1963 P r o v i n z -> I n d o n e s i e n s . N . ist Teil Melanesiens. T r o t z d e r p o l i t i s c h e n T e i l u n g u n d d e r A u f s p l i t t e r u n g in ü b e r 1000 S p r a c h - u n d K u l t u r g e m e i n s c h a f t e n b e h a n d e l n Slgen d e r M u seen u n d ü b e r g r e i f e n d e P u b l . e n d a s G e b i e t als kulturelle Einheit1. Austrones. Sprachen werd e n a u f d e n k l e i n e r e n Inseln u n d l ä n g s d e r

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Papua-Neuguinea

Nordküste der Hauptinsel gesprochen; die ca 750 P.-Sprachen verteilen sich auf die Hauptinsel und erscheinen als Sprachinseln inmitten austrones. Sprachen jenseits der Hauptinsel 2 . Das Erzählgut der Region hat sich nach festen Gesetzmäßigkeiten aus sakraler Uberlieferung, Ritus sowie Darstellung in nichtsprachlichen Symbolsystemen entwickelt 3 . Erzähltexte wurden meist im Zusammenhang linguistischer 4 oder völkerkundlicher Arbeiten 5 dokumentiert 6 . Die Forscher waren der Ansicht, Erzähltexte würden die geistige Kultur eines Volkes, bes. dessen Religion, widerspiegeln. Daher galten einerseits mündl. Aussagen jedweder Art 7 und andererseits Mythen als zentrale Zugänge, um Denken und Weltbild der Völker der Region zu erschließen 8 . Vorbildliche Slgen bieten die Texte in der Originalsprache, Glossen, Kommentare, Var.n, Angaben zu Erzähler, Ort und Zeitpunkt des Erzählens, Hinweise auf die Archivierung sowie freie Übers.en 9 . Demgegenüber gibt es relativ authentische Texte in Übers, aus der Originalsprache 10 und solche aus einer Verkehrssprache", ohne daß hier die Qu.η verfügbar oder einsehbar sind. Schließlich liegt eine Reihe von Texten vor, bei denen eher Inhalte als originalgetreue Wiedergabe entscheidend zu sein scheinen 12 . Gelegentlich hat sich der ursprüngliche Wortlaut traditioneller Texte wiederherstellen lassen: So gelang es Η. A. Brown anhand zusätzlicher Var.n und mit Hilfe gebildeter Erzähler, einen von ihm gefundenen Text aus dem Jahr 1905 in direkte Beziehung zu dessen Fassung aus der Zeit vor der Ankunft der ersten Missionare zu setzen 13 . Probleme der mündl. Überlieferung sowie gattungstheoretische und strukturalistische Fragen werden oft erst in jüngeren Arbeiten beachtet 14 . In P.-N. selbst widmen sich Zss. (ζ. B. Oral History) und Inst.e (ζ. B. das Institute of P. New Guinea Studies) der Dokumentation. Das Institut ist der exakten Archivierung der lokalen Traditionen verpflichtet, die Zss. geben auch Raum für schöpferische Nachdichtung in überregionalen Verkehrssprachen. Die Sprachen P.-N.s haben meist ein Wort für ,Laut, Wort, Rede, Sprache' und mehrere Verben für ,sagen, erzählen'. Differenzierungen werden häufig als Verbalnomen zu Verben oder nach dem Schema Substantiv plus Verb gebildet: Ursprung erzählen, Wanderung eines

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Clans aufzählen, Wunderbares sagen. Übers.en suggerieren dann europ. Gattungsbegriffe: Schöpfungsmythe, Wandersage, Märchen, Legende. Generell ist ,Lied' von ,Rede' abgesetzt, ebenso ,Spruch' in Heil- und Zauberhandlungen. Gelegentlich finden sich auch eigene Wörter für ,Märchen', im Gegensatz zu ,(wahre) Geschichte'. ,Ahnen aufsagen' kann eine Wendung für ,Sippen- oder Familiengeschichte' werden 15 . Das Erzählen von Mythen ist mit Restriktionen versehen: Erzähler und Zuhörer werden legitimiert, Zeit und Ort des Erzählens sind bestimmt. Mythen können in einem anderen als dem sprachlichen Code, in Riten, Pantomimen oder Dramen, dargestellt werden 16 ; die sprachliche Gestalt kann auf die Nennung von Namen reduziert sein 17 . Wahre Geschichten können im Modus der Möglichkeit erzählt werden, damit sie lebende Personen nicht bloßstellen. Wichtige Stilmittel der Darstellung sind Metaphorik, Metonymie und enigmatische Verkürzung sowie — im Lied — die Technik des Parallelismus membrorum 1 8 . Häufig wiederkehrende Motive sind ζ. B.: Überschreiten der Grenzen zwischen Weiler, Garten und Wildnis; Umkehr der Geschlechterrollen; allein lebende Frauen; Erklettern eines Baumes auf der Flucht; Entstehung von Tieren (ζ. B. erstes Schwein) aus herunterfallenden Abfällen; Hölzer, die der Fluß davonträgt und die entweder Zeichen zwischen getrennt voneinander Wohnenden sind oder als Transportmittel dienen. Mythen weisen folgende Motivkomplexe auf (die in profane Erzählungen übernommen werden können): Geburt des Menschen aus einem Berg; Auftauchen aus der Erde; Säubern oder Fertigstellen der unvollkommenen Menschen; Aufziehen der Menschen an einem ersten sakralen Ort; Etablierung einer totemistischen Beziehung (-> Totemismus); Tod oder Tötung des Totems, aus dessen Teilen Nutzpflanzen und -tiere entstehen oder das sterbend die Festigkeit der Erde verbürgt. In die als heilig verstandenen Erzählungen sind eingebettet und als ,Geschichte' rekonstruierbar: Wanderung und Verteilung der Clans auf verschiedene Gegenden, Entstehen von Speisetabus (-> Tabu), Landnahme und Sakralisierung der profanen Lebenswelt, Errichten von Kultstätten (Männerhäusern) mit -» Reliquien des

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Papua-Neuguinea

Totems oder erster Ahnen, Einsetzen von -» Initiationen und Zeremonien; Mahnung an die folgende Generation, der Tradition zu fol19

gen . Meist interessiert das Werden der menschlichen Welt, nicht Weltentstehung schlechthin. J. Miedema ordnet Auseinandersetzungen zwischen den Geschlechtern den Geschichten von Kulturheroen zu, solche von antagonistischen Brüderpaaren sollen -» Trickster-Geschichten sein20. Die Funktion von Mythen liegt darin, ein sakrales Zentrum zu etablieren: Daher müssen sie nicht eine zusammenhängende Handlung ergeben; Episoden wurden erst spät erzähltechnisch verbunden. Demgegenüber beinhalten Märchen eine Bewegung vom Zentrum weg an die gefahrenreiche Peripherie, mit dem Bestehen von Abenteuern und einer (glücklichen) Heimkehr. Während in Märchen die Protagonisten oft passiv und leidend sind und sich ihre Intelligenz im Finden, Verstecken und Zufügen von Schaden erschöpft, handeln die Kulturheroen planvoll, als Eroberer, Wanderer, Gründer und Gesetzgeber. Ein typisches Märchenschema verläuft folgendermaßen: Die Welt im Zentrum ist in Ordnung, alle Gärten sind gemacht; man bricht auf, um zu jagen, der Hund wird getötet (vom Bruder, von einem Geist); Kampf, Flucht, Verwandlung in einen unfertigen Menschen, Aufzucht durch Frauen, Sehnsucht nach zu Hause; Vögel künden Erlösung, Erwerb von Reichtümern, Heimkehr 21 . Möglicherweise sind Themen und Motive der Region gleichförmiger, als es der durch die These der ,Melanesian diversity'22 erweckte Anschein vermuten läßt: Damit würde sich die Frage nach der Besonderheit einzelner Kulturen in vergleichenden Arbeiten über Melanesien stellen23. Zu berücksichtigen ist auch, daß Erzähler neue Stoffe aufgreifen24: Was in der einen Gruppe eine clanspezifische Erzählung ist, kann über Sprachgrenzen hinweg in der anderen generalisiert werden zur übergreifenden Ansicht über den Ursprung der Menschen und der Kulturgüter. Erzählungen christl. Missionare über Sintflut und Feuer (-• Hölle) fanden Eingang in Mythen(märchen): Sie bilden den Rahmen für neue Interpretationen alter Motive oder Geschichten, in denen Flut, Vulkanausbruch und Ascheregen zu bibl. Motiven werden25. Andererseits sind Kinder und

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Frauen diejenigen, die Neuerungen erzählerisch in profanen Geschichten verarbeiten etwa wenn in der Erzählung eines Mädchens aus neuen Kulturgütern wie Nagel oder Dose Protagonisten werden26. 1

Münzel, M. (ed.): N. 1 - 2 . Ffm. 1987; Foley, W.: The Papuan Languages of New Guinea. Cambr. 1986; Carrington, L.: A Linguistic Bibliography of the New Guinea Area. Canberra 1996. - 2 Bellwood, P./Fox, J. J./Tryan, D. (edd.): The Austronesians. Historical and Comparative Perspectives. Canberra 1995; Laycock, D. C.: Melanesian Linguistic Diversity. A Melanesian Choice? In: May, R. J./Nelson, H. (edd.): Melanesia. Beyond Diversity 1. Canberra 1982, 3 3 - 3 8 . - 3 cf. allg. Schild, U.: Lit.en in P N. B. 1981; Fischer, H.: Geister und Menschen. Mythen, Märchen und neue Geschichten. B. 1994; eine vollständige Bibliogr. enthält Carrington (wie not. 1). - 4 cf. Drabbe, P.: Spraakkunst van het Marind. Wien-Mödling 1955; McKaughan, H. (ed.): The Languages of the Eastern Family of the East New Guinea Highland Stock. Seattle/L. 1973 (58 Erzählungen); Foley, W. Α.: The Yimas Language of New Guinea. Stanford 1991; Enk, J. J. van/Vries, L. de: The Korowai of Irian Jaya. Ν. Y. 1997; Heeschen, V.: An Ethnographic Grammar of the Eipo Language Spoken in the Central Mountains of Irian Jaya (West New Guinea), Indonesia. B. 1998. 5 z . B. 30 Texte in Burridge, K.: Tangu Traditions. A Study of the Way of Life, Mythology, and Developing Experience of a New Guinea People. Ox. 1969; Galis, K. W.: P.'s van de Humboldt-baai. Den Haag 1955 (23 Mythen). - 6 cf. auch Strathern, A. (Übers.): Ongka. A Self-account by a New Guinea Bigman. L. 1979; Kyakas, A./Wiessner, P.: From Inside the Women's House. Enga Women's Lives and Traditions. Buranda 1992; Young, M. W.: Magicians of Manamanua. Living Myth in Kalauna. Berk. 1983; Fischer, H. (ed.): Wampar. Ber.e über die alte Kultur eines Stammes in P. New Guinea. Bremen 1978; cf. auch id. (wie not. 3). - 7 Malinowski, B.: Argonauts of the Western Pacific. Ν. Υ. 1922, 23. 8 cf. Wirz, P.: Die Marind-anim von Holländ.-SüdN. 1 - 2 . Hbg 1922/25; Baal, J. van: Dema. Description and Analysis of Marind-anim Culture (South New Guinea). Den Haag 1966; Zöllner, S.: Lebensbaum und Schweinekult. Die Religion der Yali von Irian Jaya (West-Neu-Guinea). Wuppertal 1977. 9 cf. Fischer (wie not. 3); Brown, Η. Α.: Three Elema Myths. Canberra 1988; Drabbe, P.: Folktales from Netherlands New Guinea. In: Oceania 18 (1947-48) 157-175, 248-270; 19 (1948) 7 5 - 9 0 ; 20 (1949-50) 6 6 - 7 9 , 224-240; Heeschen, V.: Ninye bun. Mythen, Erzählungen, Lieder und Märchen der Eipo. B. 1990; Held, G. J.: Waropense teksten (Geelvinkbaai, Noord Nieuw Guinea). Den Haag 1956. - 10 Iteanu, A./Schwimmer, E.: Parle et je t'ecouterai. Recits et traditions des Orokai'va de Papouasie-Nouvelle-Guinee. P. 1996; McElhanon, Κ. Α.: Legends from

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Parabel

P. New Guinea. Ukarumpa 1974; id.: From the Mouths of Ancestors. Ukarumpa 1982; Voorhoeve, C. L.: We, People of One Canoe — They, People or Wood. Two Asmat Origin Myths. In: Irian 14 (1986) 77-125; Vicedom, G. F.: Die Mbowamb. Die Kultur der Hagenbergstämme im östl. Zentral-N. 3: Mythen und Erzählungen. Hbg 1943; Makambak, M./ Gravelle, G.: Dongeng-dongeng tentang nenek moyang kita yang berasal dari daerah pantai di Sidei/ Folktales about Our Ancestors Who Originated from the Coastal Area of Sidei. Jayapura 1991; Tibiyai, M./Mandacan, M./Igomu, Y./Moktis, Α.: Dongeng-dongeng dari nenek moyang kami/Folktales from Our Ancestors. Jayapura 1991. " K e i m , Α. und Η.: Ein Pfeilschuß für die Braut. Mythen und Erzählungen aus Kwieftim und Abrau, Nordostneuguinea. Wiesbaden 1975; Schild, U.: Märchen aus P.-N. MdW 1977; Z'Graggen, J. Α.: And Thus Became Man and World. Edinburgh 1989; id.: Creation through Death and Deception. Edinburgh 1989. - 12 Kamma, F. C.: Religious Texts of the Oral Tradition from Western New-Guinea (Irian Jaya) 1 - 2 . Leiden 1975/78; Miedema, J.: Texts from the Oral Tradition in the South-Western Bird's Head Peninsula of Irian Jaya. Leiden 1997; id.: Texts from the Oral Tradition in the Eastern Bird's Head Peninsula of Irian Jaya. Leiden 1997. - 13 Brown (wie not. 9) 145; cf. Schild (wie not. 11) 262 sq. - 1 4 cf. Miedema, J./Ode, C./Dam, R. A. C. (edd.): Perspectives on the Bird's Head of Irian Jaya. Amst. 1998; Craig, C./Hyndman, D. (edd.): Children of Afek. Tradition and Change among the Mountain-Ok of Central New Guinea. Sydney 1990; Leroy, J.: Fabricated World. An Interpretation of Kewa Tales. Vancouver 1985; id.: Kewa Tales. Vancouver 1985; Keim (wie not. 11). - 15 van Enk/de Vries (wie not. 4); cf. Fischer (wie not. 3); Heeschen (wie not. 9); Leroy 1985 (wie not. 14); Schild (wie not. 3); Zöllner (wie not. 8). - 16 cf. u. a. Williams, F. E.: Drama of Orokolo. The Social and the Ceremonial Life of the Elema. Ox. 1940; cf. Konrad, G. und U. (edd.): Asmat. Mythen und Rituale. Venedig 1995. - , 7 Wassmann, J.: Der Biß des Krokodils. Die ordnungsstiftende Funktion der Namen in der Beziehung zwischen Mensch und Umwelt am Beispiel der Initiation, Nyaura, Mittel-Sepik. In: Münzel (wie not. 1) 2, 511-557. - 18 Feld, S.: Sound and Sentiment. Birds, Weeping, Poetics, and Song in Kaluli Expression. Phil. 1982; Harrison, S.: Laments for Foiled Marriages. Love-songs from a Sepik River Village. Boroko 1982; cf. Heeschen (wie not. 9); id. (wie not. 4); Schild (wie not. 3). - 19 Zum kosmogonischen Komplex cf. Zöllner (wie not. 8); zu Wanderung und Landnahme cf. Brown und Heeschen (wie not. 9); zum oralgeschichtlichen Komplex cf. Craig/ Hyndman (wie not. 14); Heeschen (wie not. 4); Wiessner, P./Tumu, Α.: Historical Vines. Enga Networks of Exchange, Ritual, and Warfare in P. New Guinea. Wash./L. 1998. - 2 0 Miedema, J.: Fentori, Honori, Ibori. Culture Hero Stories across the Eastern Bird's Head Peninsula (Irian Jaya). Leiden 1996;

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id.: Culture Hero Stories and Tales of Tricksters. In: id. u. a. (wie not. 14) 193-234. 21 Nach Heeschen (wie not. 9); cf. Makambak/Gravelle (wie not. 10); McElhanon 1974 und 1982 (wie not. 10); Schild (wie not. 11); Zöllner (wie not. 8). 22 23 cf. Laycock (wie not. 2). cf. Fischer (wie not. 3) 270-273. - 2 4 cf. Senft, G.: What Happened to „The Fearless Tailor" in Kilivila. A European Fairy Tale - from the South Seas. In: Anthropos 87 (1992) 407-421. - 25 cf. Kamma (wie not. 12); Z'Graggen (wie not. 11); Blong, R. J. (ed.): The Time of Darkness. Local Legends and Volcanic Reality in P. New Guinea. Canberra 1982. - 2 6 Heeschen, V.: New Guinea Myths and Fairy Tales Seen from the Irian Jaya Mountains. In: Miedema u. a. (wie not. 14) 291-312. München

Volker Heeschen

Parabel, griech. p a r a b o l e ( p a r a b a l l e i n = n e b e n e i n a n d e r s t e l l e n ) . E b e n s o wie d a s hebr. m a s c h a l , lat. s i m i l i t u d o o d e r e x e m p l u m , m h d . bispel b e z e i c h n e t p a r a b o l e G l e i c h n i s , P., -> F a bel, Allegorie, B e i s p i e l e r z ä h l u n g (-> E x e m plum)1. D i e U n t e r s c h e i d u n g zwischen P. u n d F a b e l ist u m s t r i t t e n . D i e m o d e r n e literaturwiss. P . f o r s c h u n g b e v o r z u g t einen weiten Begriff u n d v e r s t e h t die F a b e l n v o n d e r g r i e c h . - r ö m . A n t i k e bis ->• Lessing u n d -> G e l i e r t als t r a d i tionelle L e h r p a r a b e l n u n d die F a b e l t h e o r i e n von L u t h e r , Lessing, A . J ü l i c h e r u. a. als P t h e o r i e n . D i e P. gilt als ü b e r g e o r d n e t e F o r m 2 . W ä h r e n d in d e r t r a d i t i o n e l l e n P. die L e h r e vielfach v o r - o d e r nachgestellt ist, Vorg a n g u n d L e h r e g e t r e n n t w e r d e n u n d die beid e n Teile d u r c h A d d i t i o n v e r b u n d e n sind, ist die m o d e r n e P. ein n i c h t m e h r t r e n n b a r e s Kunstwerk. I n d e r n e u t e s t a m e n t l i c h e n F o r s c h u n g ist Gleichnis der Oberbegriff, unter d e m das G l e i c h n i s im e n g e r e n S i n n , die P , die Allegorie u n d die B e i s p i e l e r z ä h l u n g s u b s u m i e r t w e r d e n . D a s G l e i c h n i s i m e n g e r e n Sinn (ζ. B. v o m verl o r e n e n S c h a f [Lk. 15,4—7] o d e r v o m verloren e n G r o s c h e n [Lk. 15,8—10]) b e s c h r e i b t einen t y p i s c h e n Z u s t a n d o d e r V o r g a n g , in d e r P. (ζ. Β. v o m v e r l o r e n e n S o h n ; cf. A a T h 974: -> Heimkehr des verlorenen Sohnes) w i r d ein p r ä g n a n t e r Einzelfall e r z ä h l t . E. L i n n e m a n n hat Jülichers Definition ü b e r n o m m e n u n d , F a b e l ' d u r c h , P ' ersetzt. H i e r k a n n sie sich a u f J ü l i c h e r b e r u f e n , d a f ü r

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Parabel

ihn formal kein Unterschied zwischen den erzählenden Gleichnissen Jesu (-• Christus), den P.n, und den äsopischen Fabeln (-> Äsopika) besteht 3 . P.n erfordern den Transfer. Richtungsweisend können explizite und implizite Transfersignale sein 4 . Zu den expliziten Transfersignalen gehören das fabula docet, das Pro- und Epimythion, vor- oder nachgestellte Vergleichsaufforderungen oder eine Bezugsherstellung wie der den Bezug auf König -> David herstellende Ausspruch des Propheten Nathan „Du bist der Mann!" (2. Sam. 12,7). Ein implizites Transfersignal ist die -> Pointe, die auch in der modernen P. bisweilen den Bezug zum Leser herstellt. Im Vergleich mit Lessings Nathan-P. (Die drei -> Ringe) zeigen Franz Kafkas Kleine Fabel („Du mußt nur die Laufrichtung ändern [...]") und Vor dem Gesetz („Dieser Eingang war nur für dich bestimmt [...]") oder Max Frischs Burleske („Und am Ende bist du verkohlt [...]"), daß an die Stelle der Addition die Integration getreten ist. Mit den P.n der synoptischen Evangelien (Mt., Mk., Lk.) und dem apokryphen Thomasevangelium verwandt sind die rabbinischen P.n, die man in Midrasch und -» Talmud bes. häufig findet. Sie dienen dem Verständnis des Pentateuch. Die Rezeption der bibl. P.n weckte im Barockzeitalter ein neues Interesse an der Textsorte, die von Georg Philipp Harsdörffer und seinen Nachfolgern Georg Neumark (Poetische Fabeln, 1667), Justus Gottfried Rabener (Nützliche Lehrgedichte, 1691) u. a. als Lehrgedicht bezeichnet wird. In der Vorrede zu Nathan und Jotham 1—2 (1650/51) entwickelt Harsdörffer diesen Begriff in Abgrenzung von der ,Lehrgeschichte' (dem Exempel) und dem Lehrgesichte (dem prophetischen Traumbild). Er unterscheidet fünf Arten von Lehrgedichten. Zur ersten, der erzählenden Geschichte, die geschehen kann, gehört die Nathan-P., zur dritten, in der unvernünftige Tiere auftreten, die äsopische Fabel. Die Nathan-P. (2. Sam. 12,1 — 15) ist das titelgebende Paradigma für die geistlichen und die Fabel Jothams (Ri. 9,7-15; AaTh 298 C*: ->• Baum und Rohr) für die weltlichen Lehrgedichte. Den 2. Teil des Buches nannte Harsdörffer nach der Fabel des Jotham, „das ist einen gerechten Herrn/der vermittelst dieser Dichtkunst das Unrecht be-

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straffen/und die bittere Wahrheit frey heraus sagen dörffen". Harsdörffer bezieht sich auf Francis Bacon, der zwischen erzählender, dramatischer und parabolischer Dichtung unterscheidet. Der engl. Staatsmann und Philosoph stellt in seinem Werk De dignitate et augmentis scientiarum libri IX (1623, dt. 1783) Fabeln, P.n und Gleichnisse als ,parabolische Poesie' an höchste Stelle und erläutert an drei Beispielen ihre Bedeutung für den natürlichen, politischen und moralischen Bereich. Einerseits dient sie der Erklärung und will belehren, andererseits stellt sie eine Hülle dar, um das Geheimnisvolle und Verborgene der Religion, Politik und Philosophie würdig einzukleiden. Hier wird - wie später bei Harsdörffer und -» Herder - die Trennung zwischen der rhetorischen und poetischen Bestimmung der P. überwunden. Daß „Poetery und Redkunst" untrennbar miteinander verknüpft sind, betont Harsdörffer auch in dem Poetischen Trichter 1 - 3 (1650/ 48/53), der mit einem fast 400 Seiten langen Verz. der „verblümten Reden und Kunstzierlichen Ausbildungen", einer Metaphorik mit 539 Stichwörtern, endet. In seiner ausführlichen Unters. Vom Geist der Ebrä. Poesie 1 - 2 (1782/83)5 weist Herder auf den oriental. Ursprung der P. hin und betont ihren Kunstcharakter. Im Nachw. zu den Apologen von Johann Valentin Andreae (Mythologiae Christianae 1—3 (1619), die Herder u. d. T. P.n herausgab, schreibt er: „Parabel ist eine Gleichnißrede, eine Erzählung aus dem gemeinen Leben mehr zu Einkleidung und Verhüllung einer Lehre, als zu ihrer Enthüllung; sie hat also etwas Emblematisches in sich. Ueberdem gehet sie den Gang der Fabel, und maaßt sich sehr freie Schritte in diesem Gange an, indem sie oft mehrere Lehren verbirgt, und sich nicht, wie die äsopische Fabel an Einer derselben begnüget." 6

In den Vorlesungen über die Ästhetik (1835) unterscheidet Hegel zwischen „Vergleichungen, welche vom Äußerlichen anfangen" (Fabel, P., Sprichwort, Apolog) und „Vergleichungen, welche in der Verbildlichung mit der Bedeutung den Anfang machen" (Rätsel, Allegorie, Metapher, Bild, Gleichnis). Fabel und P. nehmen erdichtete Begebenheiten aus dem allg. Leben und unterlegen ihnen eine tiefere Bedeutung. Im Gegensatz zu Hegel, für den die Fabel eine prosaische Gattung ohne Poesie

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Parabel

und Philosophie ist, betont sein Schüler F. T. Vischer in seiner Aesthetik oder Wiss. des Schönen 1—6 (1846—57) die enge Verwandtschaft von Fabel und P., die sich in zahlreichen Slgen zeigt, und versteht sie als zwei Arten der didaktischen Poesie. Während die Fabel ihre Handlung der belebten und unbelebten Natur und der Tierwelt entnimmt und der Lebensklugheit dient, gehört die Ρ. (ζ. Β. Jesu Himmelreich-Gleichnisse, Lessings Ringparabel) in den Bereich der -» Ethik. Das monumentale Werk Die Gleichnisreden Jesu7 von Jülicher ist ein Markstein der interdisziplinären Parabelforschung und auch heute noch grundlegend, sofern man die Einseitigkeit der rhetorischen Tradition von Aristoteles über Lessing bis Jülicher erkennt und die zahlreichen kritischen Einwände in die Überlegungen einbezieht 8 . Nach Aristoteles (Rhetorik 2,20) gehört die P. zu den Beispielen, die dem Redner im Induktionsbeweis als allg. anerkannte Beweisund Verdeutlichungsmittel dienen. Anders als die Fabel, die ihren Stoff aus dem Tierreich und der Mythologie nimmt, beruht sie auf der Beobachtung der Wirklichkeit. Daß Aristoteles die P. in der Rhetorik behandelt hat, bedeutet jedoch nach Herder nicht, daß er sie nicht für Poesie halte. Hier konnte er sie nur als ein rhetorisches Werkzeug betrachten, als Beweismittel für den Redner. Aber aus dieser Stelle könne man nicht ihr ganzes Wesen erklären. Aristoteles gebe hier nur einen einzigen Gebrauch an; „denn für öffentliche Staatsreden in Griechenland ist sie doch gewiß nicht zuerst und vorzüglich erfunden worden" 9 . In seiner Poetik hat Aristoteles die P. zwar nicht erwähnt, aber was er hier über Dichtung schreibt, gelte für die Parabel. Die neutestamentliche Forschung kritisierte vor allem den aristotelischen Ansatz, da Jülicher mit der Übernahme der rhetorischen Kategorien des Aristoteles auch dessen Logik und Ontologie übernommen hat. Jesus erscheine als zweiter Plato/Sokrates, das Gleichnis Jesu als Erkenntnishilfe - im Gegensatz zur existentialen Interpretation (R. Bultmann) und zur eschatologischen Gleichnisauslegung (E. Fuchs 10 ). Der im Widerspruch zu seiner eigenen Theorie stehende Hinweis Jülichers, daß sich Jesu Gleichnisse nicht nur an den Verstand, sondern an den ganzen Menschen wen-

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den, führt zur existentialen Interpretation. Jülichers Metapherntheorie ist die Theorie einer Substitution, die auf das Verbergen der Bedeutung zielt. Daraus ergibt sich die enge Verbindung zwischen -> Metapher und Allegorie, die Jülicher grundsätzlich von der P. trennt. Wenn man die biblischen Texte vom Wesen der Metapher her und als Kunstwerke versteht 11 , ist eine interdisziplinäre Annäherung möglich. In den neueren germanistischen Untersuchungen wird Jülicher zwar als Begründer der modernen Pforschung und sein Werk als grundlegend anerkannt, zugleich aber wird unter Berufung auf die theol. Urteile die Einseitigkeit der rhetorischen Tradition kritisiert. Wegweisend für das Verständnis der Parabel als Kunstwerk wurde die Kafka-Forschung. Im 19. Jh. entstand keine nennenswerte P.produktion, aber zu Beginn des 20. Jh.s erlebte die P. eine Renaissance. Sie beginnt mit Bertolt Brecht (ab 1913: Balkankrieg) und Kafka (ab 1915: Vor dem Gesetz). Das aus dem Midrasch und Talmud bekannte Maschal wurde für die Entwicklung der modernen P. bes. von Kafka bedeutsam und erlebte im 20. Jh. eine neue Blüte durch die -> chassid. Erzählungen, die Martin Buber seit 1914 gesammelt und in Ausw. 1949 herausgegeben hat 12 . Die Erzählungen der beiden bedeutendsten P.dichter des 20. Jh.s sind prototypisch für die moderne P. T. Elm kontrastiert ,Deuteforderung' (Brecht) und ,Unverfügbarkeit' (Kafka) 1 3 . Während Brecht sich bei den Keunergeschichten an der rhetorischen Tradition der Fabel, bes. der Fabel der Aufklärung, orientiert 14 , schreibt Kafka ,schwebende' P n , die man auch als Wahrnehmungsparabeln (A. Bourk) oder Vorgangsparabeln (N. Miller) bezeichnet hat 15 . Mit der Erneuerung durch Kafka und Brecht wurde die P. zur wichtigsten Gattung des 20. Jh.s. Brecht hat die enge Beziehung zwischen parabolischer Prosa und Dramatik, wie sie bereits in der Reformationszeit gesehen wurde, theoretisch neu begründet und im Messingkauf (1937-51) den Begriff des Modells entwickelt 16 . Nicht nur das Drama (Brecht, Frisch, Dürrenmatt, Eich, Aichinger u. a.) und der Roman (Kafka u. a.), sondern auch die Kurzgeschichte zeigt den Zug zum Parabolischen der modernen Dichtung. 1 Brettschneider, W.: Die moderne dt. P. B. 21980; Billen, J. (ed.): Dt. P.n. Stg. 1982 (Textslg); id. (ed.): Die dt. P. Darmstadt 1986; Elm, H./Hiebel, Η. H.

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Paracelsus

(edd.): Die P. Ffm. 1986; Elm, T.: Die moderne P. Mü. 2 1991; Heydebrand, R. von: P. Geschichte eines Begriffs zwischen Rhetorik, Poetik und Hermeneutik. In: Archiv für Begriffsgeschichte 34 (1991) 2 7 - 1 2 2 ; Zymner, R.: Uneigentlichkeit. Paderborn 1991; Dithmar, R. (ed.): Fabeln, P.n und Gleichnisse. Paderborn 9 1995; Harnisch, W.: Die Gleichniserzählungen Jesu. Göttingen 3 1995. - 2 Brettschneider (wie not. 1) 10. - 3 Linnemann, E.: Gleichnisse Jesu. Göttingen 7 1978, 14. - 4 Zymner, R.: Uneigentlichkeit. Paderborn 1991, 101. - 5 Herders sämmtliche Werke 1 - 3 3 . ed. B. Suphan. B. 1 8 7 7 - 1 9 1 3 , hier t. 11, 2 1 3 - 4 7 5 ; ibid. 12, 1 - 3 5 0 , bes. 185— 187. 6 ibid., t. 16, 164. - 7 Jülicher, Α.: Die Gleichnisreden Jesu 1 - 2 . (Tübingen 1910) Nachdr. Darmstadt 1963. - 8 Harnisch, W. (ed.): Gleichnisse Jesu. Positionen der Auslegung von Adolf Jülicher bis zur Formgeschichte. Darmstadt 1982; id. (ed.): Die neutestamentliche Gleichnisforschung im Horizont von Hermeneutik und Lit.wiss. Darmstadt 1982. 'Herder (wie not. 5) t. 15, 562. - 1 0 Fuchs, E.: Hermeneutik. Bad Cannstatt 4 1970, 213 sq. ' 1 Via, D . O . : Die Gleichnisse Jesu. Mü. 1970, 9, 82 sq.; Weder, H.: Die Gleichnisse Jesu als Metaphern. Göttingen 4 1990. - 12 Buber, M.: Die Erzählungen der Chassidim. Zürich 1949; cf. Elm/Hiebel (wie not. 1) 1 0 9 - 1 4 4 . - 13 Elm (wie not. 1). - 14 id./ Hiebel (wie not. 1) 2 5 5 - 2 6 8 (mit Lit.). - 1 5 Billen 1986 (wie not. 1) 1 1 8 - 1 3 1 , 1 3 2 - 1 3 6 . - 1 6 Brecht, B.: G. W. 16. Ffm. 1967, 4 9 9 - 6 5 7 .

Berlin

Reinhard Dithmar

Paracelsus Theophrastus Bombast von Hohenheim, genannt P., *in bzw. bei Einsiedeln (Schweiz) 1493/94, tSalzburg 1541, Arzt und Naturforscher, Verf. vielseitiger medizinischer, phil., theol. und zeitkritischer Schriften. Dem Studium, das er nach eigenen Aussagen mit der medizinischen Promotion in Ferrara abschloß, folgten Jahre des Wanderns, die P. durch ganz Europa führten. 1527 erhielt er eine Stelle als Stadtarzt und eine damit verbundene Professur in Basel. Bereits ein Jahr darauf verließ er die Stadt fluchtartig wegen nicht eindeutig geklärter Streitigkeiten. Sein Leben lang befand P. sich in Auseinandersetzungen mit den führenden Autoritäten in Medizin, Scholastik und Politik 1 . Neben dem Werk -> Luthers ist das des P. das umfangreichste seiner Zeit. Die kritische Sichtung und Edition ist bis heute nicht abgeschlossen 2 . Etliche hs. überlieferte Texte, vor allem solche magisch-okkulten Inhalts, wurden P. fälschlich zugeschrieben. Seine Leistung

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wird kontrovers diskutiert. Er überwand das an Hippokrates und Galen orientierte Krankheitsverständnis und gilt als Begründer einer modernen naturheilkundlichen Medizin 3 . Gegen die scholastische Tradition formulierte er das Prinzip einer auf Experiment und Erfahrung basierenden Wiss. Wegen seiner vielfaltigen originellen, vor allem kritischen Studien zu Problemen aller Art wurde er als Universalwissenschaftler bezeichnet 4 . Die neuere Forschung warnt aber auch vor einer Mythenbildung um P , der durchaus noch dem traditionellen spekulativ-intuitiven ma. Weltverständnis 5 verhaftet blieb 6 . Als Bestandteil seiner Theorie von der geistig belebten Materie entwickelte P. eine einflußreiche Lehre über das Phänomen übersinnlicher Wesen (-• Dämon, Dämonologie). Die als Elementargeister bezeichneten Erd-, Luft-, Feuer- und Wassergestalten seien, so erklärte er in seinem Liber de nymphis [ . . . f , rational begabte Geschöpfe Gottes, die eine sinnvolle Aufgabe im Heilsgeschehen erfüllten: Sie hüteten die Schätze der Natur. Eine Seele freilich könnten sie nur in der Ehegemeinschaft mit einem Menschen erhalten. Das Motiv der gestörten -> Mahrtenehe mit einem übernatürlichen Partner, bereits in der Antike gestaltet (AaTh 425 sqq.: Amor und Psyche), wurde seit dem 12. Jh. vor allem mit der Erzählung um die später Melusine genannte Gestalt verbunden und in zahlreichen Var.n verbreitet 8 . Während Luther diese Figur als Beispiel für einen teuflischen Gestaltwandel betrachtete, entdämonisierte P. sie nachdrücklich. Ausgehend von der Versnovelle -> Peter von Staufenberg (1310) erklärte er die mörderische Rache des übersinnlichen Wesens an seinem ungetreuen Partner daraus, daß dieses um seine Beseelung betrogen wurde. Er gestand der Melusinengestalt als einer ,tapferen christl. Frau' 9 quasi menschliche Eherechte zu. In der Theorie des P. von der Erlösungssehnsucht der Elementargeister zeigt sich der Einfluß des humanistischen Neuplatonismus im Italien des 15. Jh.s 10 . In Auseinandersetzung mit diesem Konzept entstanden zahlreiche Erzählungen von der Wasserfrau (-• Wassergeister), die P. als erster Undine (nach lat. unda: Woge, Welle) nannte. Doch lebten die Nymphen und Nixen weniger in populären Erzählungen fort als in Kunstmärchen und

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Paracelsus

Balladen der Romantik 1 1 ; auch ->• Goethe beschäftigte sich mit P. 12 P. wurde selber zu einer -> Kristallisationsgestalt der Sagen-, Schwank- und Märchenliteratur 1 3 , aber auch literar. Gestaltungen 14 sowie verschiedener Aneignungen innerhalb der modernen Medien 15 . Im 20. Jh. wurde er als Prototyp des kraftvollen ,dt.' Arztes mißbraucht, so in Theater, Roman sowie im nationalsozialistischen Film 16 . Darüber hinaus wirkt die Auseinandersetzung mit P. innerhalb der verschiedenen in seinem Werk repräsentierten Wiss.en, vor allem in der Medizin bzw. der Naturheilkunde, bis heute fort 17 . Eine lebendige Rezeption des P. in der Öffentlichkeit reicht von einer ernsthaften Werkanalyse, wie sie etwa innerhalb der Schweiz. P.-Gesellschaft betrieben wird (begründet 1929), bis hin zu der Kommerzialisierung und Werbung mit seinem populären Namen für Haus- und Heilmittel aller Art. Wie andere erfolgreiche Ärzte in populären Überlieferungen gilt P. als Herr über Leben und Tod mit übersinnlichen Kräften. Er macht Blinde sehend, Taube hörend, Aussätzige rein 18 . Seine -» Wunderheilungen zeigen ihn christusähnlich oder im Bunde mit teuflischen Mächten (-• Teufelspakt). Geschichten erzählen, wie P. den Teufel aus einem Gefängnis (Astloch, Fels, Glasflasche) befreit (AaTh 331: Geist im Glas)19. Zum Dank erhält er ein Elixier zum Heilen aller Krankheiten (-• Lebenskraut, ->• Lebenswasser) 20 und eines, um Dinge in Gold zu verwandeln. Durch eine List bannt er den Teufel wieder, doch behält zuweilen der leichtsinnigerweise befreite böse Geist die Oberhand und tötet den Arzt 21 . P. gilt als Schöpfer künstlicher Menschen (-> Homunkulus). In der Hoffnung auf seine Verjüngung läßt er sich zerstückeln (-• Zerstückelung). Doch werden seine Anweisungen aus Unachtsamkeit, Neugier oder übertriebener Fürsorglichkeit übertreten. P. hat die Gestalt eines Embryos oder schönen Jünglings angenommen; als Knabe läuft er dreimal um eine Tonne, stirbt aber, da sein Ausreifen gestört wird 22 . Die zweite Zaubertinktur (auch Stein der Weisen) soll P. zu Reichtum verholfen haben. 1733 berichtet das Compendiöse Gelehrten-Lexicon, P., zumeist bettelarm, habe manchmal überraschend über Säcke voll Gold verfügt 23 .

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Er verschafft sich aber nicht nur materiellen Gewinn, sondern treibt auch Schabernack: In einer Sage heißt es, P. habe aus dem Amboß eines Schmiedes einen Goldklotz gemacht 24 . Bei einer Fahrt mit dem wunderbar geheilten Kaiser habe er die Hufeisen der Pferde und Räder des Wagens in das edle Metall verwandelt 25 . Doch ist seine magische Kraft 2 6 nicht nur diabolischen Ursprungs. Es wird ihm auch eigenes Wirken als -> Alchemist und Zauberer nachgesagt 27 . Noch im 20. Jh. wird erzählt, er habe eine ins Feuer geworfene Rose neu erblühen lassen 28 . Um Geburt und Tod des P. ranken sich (Anti-)Legenden: Schon im Mutterleib habe er sich durch lautes Schreien bemerkbar gemacht (-> Kind spricht [weint] im Mutterleib). Bei seiner Entbindung sei seine Mutter in vier Teile zerstückelt worden 29 . P. habe sein Leben lang mit Anschlägen neidischer Kollegen gerechnet. Um sich zu retten, schluckte er etwa eine Spinne herunter, damit sie Gift aus seinem Magen sauge, oder er hängte sich mit dem Kopf nach unten auf, um sich gefahrlicher Stoffe zu entledigen. Sein Diener verhinderte einmal seine Selbstrettung, da er die Maßnahmen falsch deutete und unterbrach 3 0 . P. habe keinen Nachfolger geduldet und sei einsam gestorben. Selbst die auf wunderbare Weise von ihm Geheilten fürchteten ihn 31 . Der Sterbende soll dem Famulus ein Fläschchen mit der Bitte übergeben haben, es in die Salzach zu entleeren. An dem goldenen Schimmer auf dem Fluß erkannte dieser, daß er die einzigartige Flüssigkeit (das Kraut des Lebens 32 ) vernichtet hatte 33 . Die Geschichten von der Nekromantie des P. erscheinen auch in Verbindung mit anderen Namen 3 4 , so mit Vergil, der in neapolitan. Volkssagen, aber auch in Novellen und lat. gelehrtem Schrifttum seit der Spätantike, bes. seit Ende des 12. Jh.s, als Zauberer bezeichnet wird 35 . 1 Eis, G.: Vor und nach P. Stg. 1965; Debus, A. G.: The English Paracelsians. L. 1965; Benzenhöfer, U.: P. Hbg 1997. - 2 P.: Sämtliche Werke. 1. Abt.: Medizinische, naturwiss. und phil. Sehr. 1 - 1 4 . ed. K. Sudhoff. Mü./B. 1922-33; Reg.band ed. M. Müller/R. Blaser. Einsiedeln 1960; 2. Abt.: Theol. und religionsphil. Sehr. ed. K. Goldammer u. a. t. 2 sqq. Wiesbaden 1955 sqq.; Bibliogr.n: Sudhoff, K.: Bibliographia Paracelsica. Besprechung der unter Ho-

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Paradies

henheims Namen 1527—1893 erschienenen Druckschr. B. 1894 (Nachdr. Graz 1958); id.: P.-Hss. B. 1898-99; Weimann, K.-H.: P.-Bibliogr. 19321960. Mit einem Verz. neu entdeckter P.-Hss. (1900-1960). Wiesbaden 1963; Paulus, J.: P.-Bibliogr. 1961-1986. Heidelberg 1997. - 3 P. entwikkelte auch eine im Ansatz neue Geschlechteranthropologie, cf. Wiesner-Hanks, M./Scholz-Williams, G.: P. über Geschlecht, Weisheit und die menschliche Natur. In: Wunder, H./Engel, G. (edd.): Geschlechterperspektiven. Königstein 1998, 301-312. 4 Goldammer, K.: P. In: Lit. Lex. 9. Gütersloh/Mü. 1991, 7 6 - 8 0 , hier 76. - 5 Z u .Berührungspunkten mit der altgerm. Seele' cf. Lecouteux, C.: Geschichte der Gespenster und Wiedergänger im MA. Köln/ Wien 1987, 227. - 6 Haage, B. D.: Alchemie im MA. Düsseldorf/Zürich 2000, 33. - 7 Liber de nymphis, sylphis, pygmaeis et salamandris et de caeteris spiritibus. ed. G. Pörksen. Marburg 1996. - 8 Lundt, B.: Melusine und Merlin im MA. Mü. 1991, 4 1 - 1 8 6 . 9 Scholz-Williams, G.: Hexen und Herrschaft. Mü. 1998, 81. - 10 Stauffer, I. G.: Undines Sehnsucht nach der Seele. Über P.' Konzeption der Beseelung von Elementargeistern im Liber de nymphis. In: Nova Acta Paracelsica, N. F. 13 (1999) 4 9 - 1 0 0 . " G o l d a m m e r , Κ.: P. in der dt. Romantik. Salzburg 1977; Schmitz-Emans, M.: Wasserfrauen und Elementargeister als poetologische Chiffren. In: Pott, H.-G. (ed.): Liebe und Gesellschaft. Mü. 1997, 161-179. - 12 Domandl, S.: Goethe als P.kenner. In: Jb. des Wiener Goethevereins N. F. 80 (1976) 4 1 - 4 8 . - 1 3 H D S 1, 304 sq.; Petzoldt, L. (ed.): Dt. Volkssagen. Mü. 1970, num. 6 0 a - b ; Lundt, B.: Von Selbstgeburt und Spinnentod. In: Nova Acta Paracelsica, N. F. 14 (2000) 97-132. - 14 Weimann, K.H.: P. in der Weltlit. [1961], In: Benzenhöfer, U. (ed.): P. Darmstadt 1993, 322-373; id.: P. in Lit. und Dichtung. In: Dopsch, H./Goldammer, K./Kramml, P. F.: P. (1493-1541). „Keines andern Knecht ...". Salzburg 1993, 357-364; Analecta Paracelsica. ed. J. Teile. Stg. 1994. - 15 Verschiedene Beitr.e in: Parerga Paracelsica. ed. J.Teile. Stg. 1991. - 1 6 E . G . Kolbenheyer funktionalisiert ihn in seiner 1917-25 erschienenen Romantrilogie „P." für seine „Sorge um den Fortbestand der ,weißen Rasse'", cf. K N L L 9, 603; Wiedl, Β.: P. auf der Bühne, im Film und in Ausstellungen. In: Dopsch u. a. (wie not. 14) 365-374. - 1 7 cf. Beitr.e in Schott, H./Zinguer, I. (edd.): P. und seine internat. Rezeption in der frühen Neuzeit. Leiden 1998. - 18 Petzoldt (wie not. 13) num. 60 b (Siebenbürgen); H D A 9, Nachtrag 60. " H a i d i n g , K.: Alpenländ. Sagenschatz. Wien/Mü. 1977, num. 203; cf. Uther, H.-J.: Zur Bedeutung und Funktion dienstbarer Geister im Märchen. In: Fabula 28 (1987) 227-244. - 2 0 Petzoldt (wie not. 13) num. 60 a (Kärnten). 21 Birlinger, Anton/Buck, M. R.: Sagen, Märchen und Aberglauben. Fbg 1861 (Nachdr. Hildesheim/ N.Y. 1974), num. 23 5. - 2 2 Petzoldt (wie not. 13) num. 6Öb. - 2 3 Jöcher, C. J.: Compendiöses Gelehrten-Lexicon. Lpz. 1733, 494. - 2 4 Reiser, K.: Sagen,

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Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus 1. [Kempten 1894], num. 234. - 2 5 Künzig, J.: SchwarzwaldSagen. Jena 1930, 39 sq.; id.: Bad. Sagen. Lpz. 1913, 213. - 26 Peuckert, W.-E.: Pansophie. Stg. 1936; Weber, R.: Der Zauberer P. In: Festschr. W.-E. Peukkert. B./Bielefeld/Mü. 1955, 128-136; Grabner, E.: Der Zauberer P. In: Antaios 11,4 (1969) 380-392, 128-137. - 27 HDS, 305, not. 7. - 28 Borges, J. L.: Die Rose des P. In: id.: Spiegel und Maske. Erzählungen 1970-1983. Ffm. 1993, 212-216. - 29 H D A 9, Nachtrag, 5 9 - 6 4 , hier 59; cf. Brückner, W.: Ausprägungen und Nachwirkungen von Legende und Antilegende der Orthodoxie und der Kontroversisten. In: Brückner, 260-294, hier 28 3. - 30 Petzoldt (wie not. 13) num. 60 b. 31 ibid. - 32 ibid., num. 60 a. - 33 Haiding (wie not. 19) 367, not. 415. - 34 Agricola, C.: Schott. Sagen. B. 1967, num. 95. - 35 Rossi, L. u. a.: Vergil im MA. In: Lex. des MA.s 8. Mü./Zürich 1997, 1522-1529. Flensburg

Bea L u n d t

Paradies. D i e religiöse u n d f i k t i o n a l e Lit. E u r o p a s u n d des N a h e n O s t e n s k e n n t zweierlei P . v o r s t e l l u n g e n : z u m einen d a s irdische P , d e n -> G a r t e n E d e n , d e n d e r S c h ö p f e r (-» S c h ö p f u n g ) selbst als W o h n o r t des e r s t e n Menschenpaars geschaffen hat, und zum ander e n d a s h i m m l i s c h e Ρ (-> H i m m e l , -> Jenseits), in d e m die Seelen d e r G e r e c h t e n bei Gott d a s ewige L e b e n finden sollen 1 . D a s irdische P. ist d e r O r t , a u s d e m -» A d a m u n d E v a wegen ihres U n g e h o r s a m s v e r t r i e b e n w u r d e n ( G e n . 2 sq.), u n d seine N e u e r s c h a f f u n g stellte f ü r A u t o r e n des A . T.s ein m a c h t v o l l e s S y m b o l f ü r die V e r s ö h n u n g G o t t e s m i t seinem Volk d a r (ζ. B. Jes. 41, 18—20). Seine p h y s i s c h e n W o n n e n b i l d e n eine Vorstellungswelt, welche die j ü d . Ü b e r l i e f e r u n g m i t d e m I s l a m teilt 2 . F ü r die f r ü h e n C h r i s t e n , wie a u c h s p ä t e r f ü r die M u s l i m e , w a r d a s P. ü b e r d e n H i m m e l n angesiedelt: S o w u r d e -> P a u l u s in e i n e m a p o k a l y p t i s c h e n E r l e b n i s „ e n t r ü c k t bis a n d e n d r i t t e n H i m m e l " , ins P., in d e m er „ u n a u s sprechliche W o r t e " h ö r t e (2. K o r . 12, 2 - 4 ) . Ähnlich verkündete der Evangelist Lukas, d a ß der wiederauferstandene C h r i s t u s in d e n H i m m e l a u f g e f a h r e n sei ( L k . 24,51; A p g . 1,9—11). D o r t also b e f i n d e t sich d a s P., d a s J e s u s a m K r e u z d e m r e u i g e n S ü n d e r vers p r a c h , d e r i h n als H e r r n e r k a n n t h a t t e ( L k . 23,43; Dismas der rechte Schächer), u n d das im Ν . T. a u c h als die heilige S t a d t , d a s n e u e

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Paradies

Jerusalem, bezeichnet wird, welches denen vorbehalten ist, deren Namen ins -> Buch des Lebens geschrieben sind (Apk. 21). Hier werde auch des Menschen Sohn die triumphierenden Kirchen (Gemeinden) belohnen, indem er sie vom Baum des Lebens (-• Lebensbaum) speist (Apk. 2,7). In Ermangelung einer einheitlichen neutestamentlichen Eschatologie blieb den Kirchenvätern und ihren ma. Nachfolgern breiter Spielraum zur theoretischen Exegese. Während der hl. Ambrosius die Beschreibung des Gartens Eden im Α. T. allegorisierte 3 , betonte der hl. Augustinus {De civitate Dei 13, 21) sowohl die buchstäbliche Wahrheit des Bibeltexts als auch seine allegorische Bedeutung. Das Hochmittelalter brachte eine üppige Visionsliteratur (-> Jenseitsvisionen) hervor, die Elemente der kirchlichen Tradition mit volkstümlichen Vorstellungen verbindet 4 . Letztere scheinen sich jedoch mehr auf die Bestrafung der Verdammten (-> Hölle, cf. Fegefeuer) konzentriert zu haben als auf die Belohnung der Geretteten. Hierin spiegelt sich vielleicht allg. der Pessimismus der Kirchenväter wider, nach denen es nur für eine kleine Minderheit Errettung geben sollte. Für ma. Christen bildete die Hauptquelle des Wissens über das P. und das Leben nach dem Tode im Prinzip die Liturgie, wonach der Erzengel -» Michael die Seelen der verstorbenen Gläubigen aus den Tiefen der Hölle ins Licht geleiten werde, das Gott dem Abraham versprochen hatte (Offertorium bei der Messe zum Allerseelenfest am 2. Nov.). Das P. stellte dabei weniger einen Ort mit klar definierter Lage als vielmehr die Alternative zu einer konkret vorgestellten Hölle dar. Im Kern enthält der liturgische Text schon die Diskontinuität zwischen gelehrten und populären P.vorstellungen, zu deren Entstehung er vielleicht beitrug. Offenkundig ist er bereits in den Exempla der ma. Prediger, die von den Umständen berichten, unter denen Personen in den Himmel kamen oder aus ihm vertrieben wurden, aber wenig über die Erlebnisse derer zu sagen haben, denen es gelang, aufgenommen zu werden 5 . Ebenso zeigen authentische Aufzeichnungen aus neuerer mündl. Überlieferung eine geringe Neigung, etwas über die Befindlichkeit der Seelen im P. auszusagen. Zu berücksichtigen

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ist dabei allerdings, daß es in der Blütezeit volkskundlicher Sammeltätigkeit versäumt worden sein könnte, an den kirchlichen Lehren orientierte Äußerungen über den christl. Glauben aufzuzeichnen, in der Annahme, daß es sich um passive Wiedergaben der offiziellen religiösen Unterweisung handle, und unter Außerachtlassung der Möglichkeit, daß die Predigten des Landpfarrers der volkstümlichen Tradition, der er angehörte, mehr verdanken könnten als den offiziellen Lehrmeinungen, die er sich auf dem (kathol. oder Protestant.) Seminar in einem relativ kurzen Zeitraum angeeignet hatte. Der schwed. Folkloristin Α. B. ->• Rooth zufolge betont die Volksüberlieferung die Tatsache, daß niemand in den Himmel komme, ohne dieses Recht durch sein oder ihr Betragen im irdischen Leben verdient zu haben, vermeidet aber eine Beschreibung der darauffolgenden Erlebnisse der Gerechten 6 . Einige Beispiele sollen diese allg. Behauptung veranschaulichen: Obwohl die Protagonistin von K H M 3, AaTh 710: -» Marienkind Zuckerbrot und süße Milch zu essen und zu trinken bekommt und goldene Kleider trägt, handelt es sich hier nicht um einen auf den Tod folgenden Aufenthalt im Himmel, sondern um Adoption durch die Jungfrau Maria aus Barmherzigkeit. Die Heldin wird wegen ihres Ungehorsams verstoßen, gibt aber am Ende ihre Schuld zu, wird vor dem Tod auf dem Scheiterhaufen bewahrt und lebt danach glücklich bis an ihr Ende: Diese Parabel von Sünde, Beichte und Absolution enthält also keine Antizipation des christl. Res. In den Erzählungen über Leute, die Einlaß ins P. finden (AaTh 800-809: The Man in Heaven), liegt der didaktische Schwerpunkt auf der Bestrafung von Starrsinn oder Undankbarkeit (cf. AaTh 800: Schneider im Himmel·, AaTh 801: -* Meister Pfriem-, AaTh 804: -> Petrus' Mutter), oder er besteht in einem sarkastischen Kommentar zum korrumpierenden Einfluß weltlicher Güter (cf. AaTh 802: -» Bauer im Himmel). Die Geschichte von Salomos Rettung aus der Hölle und seine Aufnahme in den Himmel (AaTh 804 Β: -» Kirche in der Hölle) ist ein Tricksterschwank mit keiner stärkeren eschatologischen Tendenz als die weithin beliebte Erzählung vom Bruder Lustig (KHM 81, AaTh 785: Lammherz + AaTh 330 B:

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Paradies

cf. -» Schmied und Teufel), zu der er typol. gesehen eigentlich gehört. Das irdische wie das himmlische P. erscheinen auch als Schauplätze schwankhafter Ätiologien. Genau wie der hl. -> Petrus bei einer Wiederbelebung die Köpfe des Teufels und einer alten Frau vertauscht (AaTh 1169: cf. -> Köpfe vertauscht), so verwechselt auch in einem katalan. Ökotyp mit derselben misogynen Tendenz ein Engel bei der Vertreibung aus dem P. die Eva und der Schlange im Zorn abgeschlagenen Köpfe, als er sie ihnen wieder aufsetzen will7. Aus der Oberpfalz stammt die Vorstellung, Platzregen werde dadurch verursacht, daß „die Gäste im himmlischen Wirthshause zu viel getrunken [haben] und [herunter-] pissen" 8 . Ähnlich wie es Petrus nicht gelingt, die von Christus vollbrachten Wunder nachzuahmen (AaTh 774 sqq.: Petrusschwänke), so imitiert in einer ung. Erzählung Eva im P. den Adam, dem seine Gesichtsbehaarung beim Baden im Fluß gewachsen war, weil sie auch einen Bart haben will; und dabei entstehen durch ein Mißgeschick die weiblichen Schamhaare 9 . Der Volksglauben scheint in Hinblick auf die unerhörten Reichtümer des Res zwischen Überzeugung und Zweifel geschwankt zu haben. Von einer einfachen Frau, die Anfang des 20. Jh.s lebte, wurde die Vorstellung berichtet, daß im P. jeder ein eigenes Auto habe 10 . Eine dem fiktiven Bereich entstammende Einfältige dagegen wurde von einem Betrüger dazu gebracht, ihrem verstorbenen Ehemann, der angeblich im P. Mangel leiden müsse, Geld und Kleidung zu schicken. Dieser Schwank (AaTh 1540: -> Student aus dem P. [Paris]), der nach A. -» Aarne im spätma. Europa entstanden ist 11 , weist eine reiche literar. und mündl. Überlieferung auf. Das Mißverstehen des Namens Paris geht vermutlich auf ein altes Wortspiel in klerikalen Kreisen zurück, denn der engl. Bibliophile Richard de Bury, ein Bekannter Petrarcas, nannte bereits Paris das ,P. der Welt' 12 — vielleicht ein Hinweis auf die Umgebung, in der die Geschichte erfunden worden ist. Die Freuden des P.es werden in frommen Erzählungen durch Motive wie die Dauer der Zeit im Jenseits (Mot. F 377.1; AaTh 681: -«· Relativität der Zeit; -> Ewigkeit) symbolisiert. In dem Exemplum AaTh 471 A: Mönch und

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Vöglein - Nacherzählungen dieser Geschichte von der Kanzel scheinen in mündl. Überlieferung vereinzelt stattgefunden zu haben — ist dieses Motiv mit dem des paradiesischen Vogelsangs verbunden, der bes. in Zusammenhang mit Geschichten über die frühen ir. Heiligen beliebt war. Die gleiche Konstellation findet sich auch in der ma. dt. Erzählung über den widerstrebenden Bräutigam (Loringus), die ihrerseits das Vorbild einer Episode von AaTh 470: -> Freunde in Leben und Tod bildet 13 . Zu einer Geschichte über eine junge Frau, die nur ungern heiraten will, ist die Loringus-Erzählung in dem Lied von der Kommandantentochter von Großwardein geworden, in dem der Braut Jesus im Garten erscheint und sie für 120 Jahre entrückt, die ihr wie zwei Stunden erscheinen (-• Entrückung). Die Geschichte wurde als Zeitungslied, Volkslied und Volkserzählung in Drucken verbreitet und auch in Des Knaben Wunderhorn aufgenommen 1 4 . Es ist bezeichnend, daß die idealisierte Ausstattung des P.es in diesen unverhüllt didaktischen Texten erhalten bleibt, aber verloren geht, wenn das Material in Var.n von AaTh 470 als MärchenstofT Verwendung findet. 'Winkler, H.A.: P. In: HDA 6 (1934-35) 1400-1458; Poeschke, J.: P. In: LCI3 (1971) 3 7 5 - 3 8 2 (mit Abb.); Engemann, J.: P. In: Lex. des MA.s 6. Mü./Zürich 1993, 1697-1699; Daemmrich, H. S. und I.: Themen und Motive in der Lit. Tübingen/Basel 2 1995, 274-280; Callam, D.: Paradise, Western Concept of. In: Diet, of the Middle Ages 9. Ν. Y. 1987, 395-398; Stolz, F. u. a.: P. In: TRE 25 (1995) 705-726; Oechslin, C.: Der Himmel der Seligen. In: Jezler, P. (ed.): Himmel, Hölle, Fegefeuer. Ausstellungskatalog Zürich 2 1994, 4 1 - 4 6 . - 2 cf. elSaleh, S.: La Vie future selon le Coran. P. 1971 ( 2 1986); Ormsby, E.: Paradise, Islamic. In: Diet, of the Middle Ages (wie not. 1) 392-395; Gardet, L.: Djanna. In: EI2 2 (1965) 447-452. - 3 cf. MPL 14, 2 7 4 - 3 1 4 (Ambrosius, De paradiso). - 4 cf. z.B. Patch, H. R.: The Other World according to Descriptions in Medieval Literature. Cambr., Mass. 1950, bes. Kap. 5; Dinzelbacher, P.: Vision und Visionslit. im MA. Stg. 1981. - 5 cf. Tubach, num. 3588-3597. - 6 Rooth, A.B.: Frän lögnsaga till paradis. Uppsala 1983, 97. - 7 cf. Amades, num. 743. - 8 Schönwerth, F.: Aus der Oberpfalz. Sitten und Sagen 2. Augsburg 1858, 128 (3). - 9 D h . 1, 229 sq. - 10 H D A 6, 1457. "Aarne, Α.: Der Mann aus dem P.e in der Lit. und im Volksmunde (FFC 22). Hamina 1915; BP 2, 440 sq. - ,2 Carruthers, M.: The Book of Memory.

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Paradigma — Paradox

Α Study of Memory in Medieval Culture. Cambr. 1990, 160 und not. 17. - 13 Hammerich, L. L.: Munken og Fuglen. En middelalderstudie. In: Festschr. Univ. Kop. November 1933. Kop. 1933, 1 - 7 7 , hier 2 9 - 3 5 ; Chesnutt, M.: The Monk and the Bird. A Glimpse of Eternity in Medieval Danish Tradition. In: Copenhagen Folklore Notes (2000) H. 2 - 3 , 1 - 7 ; Meisen, Κ.: Der in den Himmel entrückte Bräutigam. In: Rhein. Jb. für Vk. 6 (1955) 118-175; id.: Die späteren volkstümlichen Var.n der Erzählung von dem in den Himmel entrückten Bräutigam, ibid. 7 (1956) 173-228. - 14 Reissenberger, K.: Zu dem Volksliede der Tochter des Kommandanten zu Großwardein. In: ZfVk. 11 (1901) 298-304; Meisen, K.: Das Lied von der Kommandantentochter von Großwardein oder der ung. Braut. In: Rhein. Jb. für Vk. 8 (1957) 115-196; Hammerich (wie not. 13) 35.

Kopenhagen

Michael Chesnutt

Paradigma -» Didaktisches Erzählgut, Exemplum

Paradigmatische Achse -» Syntagmatische Achse

Paradox. Das P.(on) (griech. para: wider und doxa: Meinung) ist das dem Geglaubten oder Gemeinten Zuwiderlaufende, das scheinbar Widersinnige. In der Logik bezeichnet es eine Aussage, die gleichzeitig wahr und falsch zu sein scheint 1 . Nach M. -> Lüthi ist das P. im Alltagssprachgebrauch - der nach ihm auch für die Unters, der Volksliteratur maßgebend ist — weiter gefaßt als im phil. und theol. Sprachgebrauch: Das mit dem P. Erfaßte enthält hier eine Gegensatzspannung, wobei der Gegensatz wirklich sein kann oder aber nur scheinbar existiert 2 . Obwohl Lüthi das P. vom Absurden (cf. -> Absurdität; ->• Ad absurdum führen) abgrenzt 3 , ist diese Abgrenzung nicht immer möglich bzw. durch die epische Funktion des P. bestimmt: Erdbeeren im Winter zu finden (Mot. Η 1023.3; -> Wintergarten), Wasser mit einem Sieb zu schöpfen (Mot. Η 413.3; -» Danaiden), auf dem Trockenen zu fischen (cf. AaTh 875: Die kluge Bauerntochter·, AaTh 1525 C: cf. Meisterdieb) sind im Schwank und Schwankmärchen absurde Aufgaben. Held oder Heldin im Märchen aber führen sie

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(ζ. T. mit Hilfe von magischen Helfern) aus. In der Legende wiederum werden die erfüllten absurden Aufgaben zum -> Wunder und P.: Sie wirken als Zeichen einer extremen Situation (-> Extreme) und sind Zeugen des Göttlichen. Die Schwierigkeit, absurde Aufgaben gegen paradoxe abzugrenzen, zeigt sich ζ. B. auch darin, daß S. -» Thompson die Motive Mot. Η 1 0 5 0 - Η 1089 als Paradoxical tasks bezeichnet, während Lüthi Mot. Η 1 0 5 0 - Η 1057 unter Absurdität abhandelt 4 . Auch sind Absurditäten oft Schein-Absurditäten, in Wahrheit aber P.e: Die Taten des Engels in AaTh 759: -> Engel und Eremit scheinen absurd, erweisen sich aber als sinnvoll und heilig (cf. auch Arsenius; AaTh 516: Der treue -> Johannes)·. Es handelt sich hier um eine Form der positiven, der Konträrironie, um die -> Ironie des Geschehens, die sich des Darstellungsmittels des Pes bedient. Allg. ausgedrückt: Die Dinge stehen nicht schlimmer, sondern besser, als es scheint 5 . Dieses Darstellungsmittel, das oft mit dem Thema ->· Schein und Sein zusammenhängt, ist in Legenden und Märchen stilistisch, strukturell und thematisch sehr wichtig: Eine Situation wird in ihr Gegenteil verkehrt; Böses führt zum Guten; Not gebiert Glück; Angst und Verzweiflung bringen Rettung; Hilflosigkeit schafft Hilfe. Und es ist ein typisches Märchen-P., daß die Hilfe oft gerade von ->· Unscheinbaren und Schwachen kommt (cf. Dümmling, Dummling) 6 . Dieses P. zeigt sich freilich in der allg. Tendenz der Märchen, stets den Sieg des Kleinen über das Große, des Schwachen über das Starke darzustellen (-> Stark und schwach) 7 : Der wahre Held ist oft der .unpromising hero' (Mot. L 100; cf. Mot. L 300—L 399). Der Protagonist vieler Zaubermärchen sowie Heldendichtungen zeigt sich als paradoxer Held, indem er das Komische und das Erhabene in sich vereinigt 8 . Die zwiespältige Figur des Schelms (cf. Ambivalenz, -» Trickster), die ebenfalls paradoxe -> Charaktereigenschaften aufweist, ist gerade wegen dieser geeignet, als vielseitige Identifikationsfigur zu fungieren. Eulenspiegel etwa ist in der Volksüberlieferung ein Narr, Rebell und boshafter Spaßmacher, und als solcher schafft er Ersatzbefriedigung u. a. auch für antisoziale Bedürfnisse 9 . Die -> Selbstschädigung ist ein P. Im Falle der Märchenhelden schlägt aber das Unheil

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Paradox

zum Heil aus. Nach Lüthi zeigt sich in der Koppelung beider in der Figur „Selbstschädigung wird zu Selbstförderung" ein potenziertes P.10 Dem Weltbild der Märchen gemäß verhält sich das Geschehen bei den Gegenspielern gerade umgekehrt: Indem sie den Helden und die Heldin vernichten wollen, zerstören sie sich selbst. Die Feststellung, daß der Mensch durch sich selbst scheitert", ein Prinzip, das auch in der Sage 12 und im Schwank (ζ. B. AaTh 1380: - Blindfüttern)13 waltet, hat demnach für die Märchenhelden keine Gültigkeit. Daß der Mensch, um sich entfalten zu können, auch Gegner braucht, wird u. a. im Märchen dadurch versinnbildlicht, daß die Anschläge der Feinde gerade das Gegenteil bewirken 14 . Während jedoch diese im Resultat positive Funktion der Gegenspieler im europ. Volksmärchen bereits als ,erstarrtes P.' nicht mehr ohne weiteres als ein solches wahrgenommen wird 15 , werden die paradoxen Interventionen der -> Oger in tradionellen Gesellschaften mitunter als von den Ahnen geplant empfunden, der Oger in seiner Eigenart eines Agent provocateur als Entwicklungshelfer auf dem Weg des Helden zur mündigen Person betrachtet 16 . Die Vorliebe von Volkserzählungen, bes. Märchen, für -» Kontraste und Gegensätze, manifestiert sich auch sonst vielfach in der Paradoxie der Figuren, Gegenstände und Handlungen: Schwache, zum Schweigen verdammte Erlöserinnen sind, anders als die männlichen Helden, autonom 17 . Im Helden des Zaubermärchens zeigt sich ein Bild des Menschen in seiner Eigenkraft und zugleich in seinem Wunsch nach Geborgenheit und Abhängigkeit 18 . Bei der Wahl von Gaben und magischen Gegenständen erweist sich das Unscheinbare, ja Mangelhafte als das Beste (cf. Mot. L 2 0 0 - L 299). Ort und Handlung des Geschehens können im Schwank in einem paradoxen Verhältnis zueinander stehen' 9 . Während all diese Motive, Figuren und Themen zeigen, daß das Märchen auf dem Boden des Vertrauens lebt, spart es auch die tragischen Möglichkeiten nicht aus: In der Binnenstruktur von K H M 53, AaTh 709: ->· Schneewittchen etwa verkehrt sich auch einiges in sein Gegenteil, aber im Sinne einer Perversion: Die Mutter wird zur Stiefmutter, der Apfel zum

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,Stiefapfel', der Schmuck zum ,Stiefschmuck' etc. 20 Weil Paradoxien dank ihres gewollten Widersinnes einen Überraschungseffekt haben, wird die Paradoxie als Grundform des -» Witzes angesehen 21 . Sie bürgt auch für dessen Überzeitlichkeit, denn seine -> Komik liegt weniger in der hist. Einkleidung als in den Techniken der Überraschung 22 . Makabre Witze und Bildwitze haben eine bes. Affinität zum P.23 Es gibt indessen innerhalb des Zyklus der sog. Definitionswitze etliche, die man ausdrücklich als Paradoxie-Witze bezeichnen kann; indem diese das Rationale parodieren (-» Parodie), gehören sie bereits zur Kategorie des absurden Witzes 24 . Unter den Definitionswitzen beginnen etliche gar mit der Frage „Was ist paradox?" Diese, mit ihren komischen Konflikten zweier unterschiedlicher Bedeutungen desselben Wortes, gehören zugleich zur Kategorie des Sprachwitzes (cf. -» Sprachmißverständnisse) und haben den Charakter einer Scherzfrage, eines unlösbaren Rätsels 25 . Witz und Rätsel besitzen ohnehin viel Übereinstimmendes 26 . Das Rätsel selbst tendiert ebenfalls zum P., ja ist selber ein P.: Es stellt Fragen, die oft scheinbar unlösbar sind, für die es aber doch eine Lösung oder gar mehrere Lösungen gibt 27 . Auch etliche ->• Sprichwörter, die eine scheinbare Binsenwahrheit oder Tautologie verkünden, sind eigentlich Rätsel, die gelöst werden wollen (ζ. B. ,Die Arbeit ist kein Hase')· Neben solchen Kryptoparadoxen Selbstverständlichkeiten, die keine sind kennt das Sprichwort auch das offene P., meistens in der Form des Zeugmas (,Ehrgeiz und Flöhe springen gern in die Höhe'), aber auch in der Form eines Bildes der -> verkehrten Welt (,Der Sack trägt den Esel zur Mühle') 28 . Während nach F. Seiler das P. für das Sprichwort ein Mittel neben anderen ist, um die Aufmerksamkeit des Hörers auf sich zu ziehen 29 , kann man nach H. Ruef bei einem Großteil der Sprichwörter zumindest von einem paradoxen Zug sprechen, in dem Sinne, daß es in seiner Aussage ein Element enthält, das gegen die vordergründige Erwartung gerichtet ist: Denn für die Träger der Tradition bedeutet die Weisheit der Sprichwörter nicht die Deklaration des Selbstverständlichen, sondern die Feststellung des vordergründigen Wider-

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Paraguay

spruchs 30 . Ausgeprägt ist der Hang zum P. auch in -» Wellerismus 31 und Epigramm (cf. -> Spruch) 32 . Zusammenfassend kann man feststellen, daß die „Vermählung des Widersprüchlichen als Versuch, Unbegreifliches sinnvoll werden zu lassen", eben das P., „in der scheinbar so einfachen Volksdichtung allüberall präsent" 3 3 ist.

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25

ibid., 108 sq. - 26 ibid., 11. - 27 Lüthi (wie not. 2) 182-185. - 28 ibid., 185-187; cf. Röhrich, L./Mieder, W.: Sprichwort. Stg. 1977, 59. - 29 Seiler, F.: Dt. Sprichwörterkunde. Mü. 1922, 4 sq. - 3 0 Ruef, H.: Sprichwort und Sprache. B./N. Y. 1995, 4 5 - 5 2 ; Röhrich/Mieder (wie not. 28) 20. 31 Lüthi (wie not. 2) 187 sq. - 3 2 Wiegand, J.: Epigramm. In: R D L 1 ( 2 1958) 374-379, hier 374. 33 Lüthi (wie not. 2) 197.

Basel

Katalin Horn

I

Hoflfmeister, J. (ed.): Wb. der phil. Begriffe. Hbg 2 1955, 450 sq. - 2 Lüthi, M.: Das P. in der Volksdichtung. In: id.: Volkslit. und Hochlit. Bern/Mü. 1970, 181-197, hier 181. - 3 ibid., 182. - 4 EM 1, 38. - 5 Lüthi, Märchen, 26; id.: Ironien in der Volkserzählung. In: SF 20 (1976) 6 7 - 7 4 , hier 72; id.: Rumpelstilzchen. Thematik, Struktur- und Stiltendenzen innerhalb eines Märchentyps. In: Antaios 12 (1971) 4 1 9 - 4 3 6 , hier 433. - 6 id. 1976 (wie not. 5) 70; id. 1971 (wie not. 5); id.: „Er fürchtet sich vor mir, ich mich vor ihm". Zum Thema wechselseitiger Angst in der Volkserzählung. In: Rhein.-westfäl. Zs. für Vk. 24 (1978) 231-244, hier 236, 244; Röhrich, L.: Tiererzählungen und ihr Menschenbild. In: Nejgaard, M. u. a. (edd.): The Telling of Stories. Odense 1990, 13-33, hier 20; Horn, K.: Das Große im Kleinen. Eine märchenspezifische Übertreibung. In: Fabula 22 (1981) 250-271, hier 263-266. 7 Lüthi, M.: Parallele Themen in der Volkserzählung und in der Hochlit. In: id. (wie not. 2) 9 0 - 9 9 , hier 97. - 8 Horn, K.: Der König in der Unterhose. Das Erhabene und das Komische im Märchen [...]. In: Kuhlmann, W./Röhrich, L. (edd.): Witz, Humor und Komik im Volksmärchen. Regensburg 1993, 7 4 - 8 6 , hier 7 5 - 8 1 . - 9 Petzoldt, L.: Eulenspiegel, der paradoxe Held. In: Eulenspiegel-Jb. 13 (1973) 3 - 1 3 . 10 Lüthi, M.: Zur Präsenz des Themas Selbstschädigung in Volkserzählungen. In: Vk. Festschr. L. Schmidt. Wien 1972, 482-495, hier 493. II

id. (wie not. 2) 9 2 - 9 5 ; id.: Zum Thema der Selbstbegegnung des Menschen in Volksdichtung und Hochlit. ibid., 100-113, bes. 104-109. - 12 ibid., 94. - 13 id.: Von der Freiheit der Erzähler. In: Neue Zürcher Ztg (6.6.1971) 51 sq., hier 52. - 14 id. (wie not. 2) 194; id.: Das Volksmärchen als Dichtung. Düsseldorf/Köln 1975, 162. - 15 id. (wie not. 2) 194. — 16 Geider, T.: Die Figur des Oger in der traditionellen Lit. und Lebenswelt der Pokomo in Ost-Kenya 1 - 2 . Köln 1990, Reg. s.v. P., paradoxe Intervention. - 17 Lüthi, M.: Lob der Autonomie und der Heteronomie. In: Jb. für Volksliedforschung 27—28 (1982-83) 17-27, hier 19. - 18 ibid., 20. - 19 id. (wie not. 13) 51. — 2 0 id.: Motiv, Zug, Thema aus der Sicht der Volkserzählforschung. In: Elemente der Lit. Festschr. E. Frenzel 1. Stg. 1980, 11-24, hier 17. 21 Röhrich, L.: Der Witz. Stg. 1977, 108; cf. dagegen Lüthi (wie not. 2) 188. - 22 Röhrich (wie not. 21) 209. - 23 ibid., 150, 298. - 24 ibid., 108, 127. -

Paraguay (1998 über fünf Millionen Einwohner; Amtssprachen Spanisch, Guarani). In P. leben über 90% Mestizen, die auf eine Bevölkerungs- und Kulturmischung von indigenen ethnischen Gruppen mit den seit dem 1. Viertel des 16. Jh.s im Land eingetroffenen Spaniern zurückgehen; nur 2 - 3 % sind Indios (Guarani u. a.). Darüber hinaus gibt es Minderheiten von Brasilianern, Europäern (von denen die Deutschen, in der Mehrzahl Mennoniten, die größte Gruppe bilden 1 ), Asiaten (bes. Japaner) sowie von Mulatten, die anders als die Deutschen und Japaner keine eigenen einheitlichen Sozialsysteme bilden und sehr verstreut leben. Guarani, schon vor der span. Eroberung die von den indigenen Völkern meistgesprochene Sprache, wird — ungeachtet der Gesellschaftsschicht - heute von allen Paraguayern im täglichen Leben zusammen mit dem Spanischen benutzt - eine in Lateinamerika einmalige nationale Situation autochthon-europ. Zweisprachigkeit, wobei die Guarani- wie die span, sprachigen Volkserzählungen zur Kontinuität, Koexistenz und Interaktion beider Kulturen beitrugen. Die Guarani-Übers.en europ. Erzählungen zeigen über die Lexik hinaus morphosyntaktische und stilistische Veränderungen, die für die Unters, der mündl. Erzählliteratur P.s ebenso wie für die Lit.wissenschaft, Philologie und Linguistik und mehr oder weniger auch für die Ethnologie von großem Interesse sind. Die Zweisprachigkeit mit ihren psychischen, kulturellen und sozialen Ursachen und Wirkungen verleiht der populären Erzählüberlieferung P.s ein bes. Gepräge, das stringent noch nicht untersucht worden ist. Anfang des 20. Jh.s entstand in P. das Interesse am Sammeln und Verbreiten von Sagen und Erzählungen über mythische Wesen, wie

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Paraguay

Ο. Sole Rodriguez' Leyendas guaranles oder Κ. Nimuendaju Unkels Texte und Analysen von ätiologischen Guarani-Sagen zeigen 2 . 1926 fügte E. Farina Nünez seinen Aufsätzen zur Ästhetik Beschreibungen von GuaraniMythen bei 3 . Mit den Erzählungen über die Figur des Perurimä befaßte sich 1928 T. Lamas Carisimo de Rodriguez Alcalä 4 : Perurimä ist die Guarani-Form für Pedro (de) Urdemalas (Urdemales), den berühmten Trickster (-> Schelmentypen) der span. Kultur. Er erscheint unter einer Vielzahl von Namensformen, die von den genannten abgeleitet sind, in Lateinamerika als Protagonist zahlreicher satirischschwankhafter Erzählungen und entstammt traditionellen mündl. Überlieferungen, die nach M. D a n n e m a n n und Μ. I. Quevedo älter als Cervantes' Comedia famosa de Pedro Urdemalas (Madrid 1615) sind 5 . Die umfassendste Publ. zur Volkskultur P.s bietet P. de ->• Carvalho-Netos 1952 verfaßte, aber erst 1961 veröff. Systematik der Paraguay. Folklore, in deren 3. Teil er die Erzählüberlieferung des Landes behandelt. Dabei unterscheidet er nach bestimmten Formkriterien Mythen, Legenden und Sagen, Erzählungen (u. a. Dummenschwänke, Geschichten über Perurimä, Tiererzählungen, Erotisches und Skatologisches) sowie Erlebnisberichte meist übernatürlicher Art 6 . Von L. Cadogän stammt eine deskriptive Synthese von Sagen, Legenden, mythischen Berichten, Tiererzählungen und Schwankhaft-Anekdotischem aus der mittelparaguay. Provinz Guairä, mit bes. Berücksichtigung der Erzählfiguren 7 . Legenden, Sagen, mythische Berichte und Erzählungen untersuchte auch D. Gonzälez Torres 8 . Von umfangreichen Feldforschungen und einer ertragreichen Analyse der Wirkungen der Textkommunikation zeugt M. Blaches Arbeit über die Struktur der Angst in Guarani-Sagen und -Legenden und die mit ihnen verbundenen mythischen Wesen 9 . C. Vayä untersuchte Erzählungen über ein solches mythisches Wesen der Guarani-Kultur, das pora genannt wird ein Gespenst (auch als büßende Seele aufgefaßt), das Orte heimsucht, an denen Menschen ohne geistlichen Beistand gestorben sind oder an denen sich verborgene Schätze befinden 1 0 . Eine Beschreibung, Interpretation und Kritik der Verwendung des Mythos vom Wolfs-

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menschen in Lit., Hörspiel und Film lieferte E. Romano 1 1 . Wie in anderen Ländern auch sind in P. Prozesse der ->• Entmythisierung festzustellen. In Sagen ging, bedingt durch einen allmählichen Mentalitätswandel, die Auslegungs- oder Erklärungsfunktion zurück und die Protagonisten wurden zu gewöhnlichen Wesen; in Mythen wurden die Gestalten mit dem Verlust ihrer magischen Kräfte weitgehend säkularisiert. Diese Veränderungen machen sich hauptsächlich in den Sagen und mythischen Erzählungen aus der Zeit vor der span. Eroberung bemerkbar und werden durch die Übertragung aus dem Guarani ins Spanische noch gefördert. So ist die 1952 von Carvalho-Neto als ätiologische Sage bezeichnete Geschichte von Carau (Caräun u. a.) etwa 50 Jahre später aufgrund selektiver Vereinfachung des Inhalts zu einer Volkserzählung mit klar unterschiedenen Einzelepisoden geworden, die meist auf Spanisch erzählt wird 1 2 . Carau ist ein ungestümer junger Mann, der eine sexuelle Beziehung mit dem Mädchen Yeruti anknüpfen möchte. Auf einem Fest steht er kurz vor dem Ziel seiner Wünsche, als ein Unbekannter erscheint und ihm berichtet, seine Mutter liege im Sterben. Carau geht aber nicht zu der Todkranken, sondern bedrängt Yeruti unter dem Vorwand, ihr Zögern könne ihn daran hindern, seine Mutter noch lebend anzutreffen. Yeruti willigt ein. Bald darauf kehrt der Unbekannte zurück und teilt Yeruti den Tod seiner Mutter mit. So sehr möchten Carau und Yeruti alles hinter sich lassen, daß ihnen Flügel wachsen, mit denen sie weite Strecken überwinden. Sie können aber nicht vergessen und kehren zur Erde zurück, wo sie weiter leiden.

Wenn mythische Wesen auf Erzählungen über ihre wesentlichen Merkmale reduziert werden und genaueres Wissen um übernatürliche Verhaltensweisen und deren direkte Auswirkungen auf die Mitglieder des betr. gesellschaftlichen Systems verlorengeht, verändert sich die ursprüngliche Funktion der Erzählungen, und es setzt sich eine erzählerisch-erläuternde Form durch, bei der die Bedeutung des mythischen Vorgangs geschmälert ist. Eines dieser mythischen Wesen, die in P. heute im wesentlichen Gestalten von Volkserzählungen sind, ist die wegen ihres Alters und ihrer Verbreitung in vielen Teilen der Welt bekannte Figur des Werwolfs. In der paraguay. Überlieferung wird er meist luison, lobison oder lobizön

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Paris, Gaston Bruno Paulin

g e n a n n t u n d erscheint m e i s t e n s als Hund. C a d o g ä n b e s c h r e i b t i h n als M e n s c h e n , d e r sich in r e g e l m ä ß i g e n A b s t ä n d e n in einen riesigen H u n d verwandelt, Friedhöfe schändet und L e i c h e n f r i ß t . O f t ist er d e r j ü n g s t e v o n sieben B r ü d e r n . N a c h C a d o g ä n ist es schwierig z u bes t i m m e n , w a s a n i h m e u r o p . u n d w a s einheim i s c h e r M y t h o s ist, d e n n a u c h die G u a r a n i kennen einen Jaguar-Menschen (von den M b y ä - G u a r a n i p i c h u ä o d e r t u p i c h u ä gen a n n t ) , ein m e n s c h l i c h e s Wesen, dessen sich die Seele des J a g u a r s b e m ä c h t i g t h a t o d e r in d e m sie sich v e r k ö r p e r t ; a n i h m m u ß v o m M e d i z i n m a n n des S t a m m e s ein E x o r z i s m u s v o r g e n o m m e n w e r d e n . D a s einzige Mittel gegen d e n luisön sind d e r e u r o p . b e e i n f l u ß t e n Ü b e r l i e f e r u n g z u f o l g e v o n e i n e m Priester geweihte K u g e l n m i t e i n g e r i t z t e m K r e u z (cf. ->• Freis c h ü t z ) 1 3 . D i e E r z ä h l u n g e n ü b e r d e n luisön sind e i n a n d e r alle s e h r ä h n l i c h u n d k ö n n e n folgendermaßen zusammengefaßt werden14: Ein junger Mann kommt nachts auf dem Heimweg am Friedhof vorbei. Ein Tier, anscheinend ein Hund, kommt heraus und sucht laut heulend das Weite. Am nächsten Tag besucht er eine Familie, in der er mehrere Freunde hat. Er erfährt, daß der jüngste der Brüder, der siebte, fast jede Nacht verschwindet, und schöpft den Verdacht, dieser könne ein lobison sein. Nachforschungen ergeben, daß es sich tatsächlich so verhält. Seine Bemühungen, den lobison zu erlösen, scheitern. P a r a g u a y . V o l k s e r z ä h l u n g e n , die im eigentlichen Sinne als solche b e z e i c h n e t w e r d e n k ö n n e n , sind die S c h e l m e n g e s c h i c h t e n ü b e r P e r u r i m ä sowie T i e r e r z ä h l u n g e n . E i n Beispiel f ü r die Streiche P e r u r i m ä s bietet die G e s c h i c h t e v o m V e r k a u f des a n g e b l i c h s e l b s t k o c h e n d e n T o p f e s ( M o t . Κ 112.1), die als E p i s o d e u. a. in A a T h 1539: -> List und Leichtgläubigkeit eine R o l l e spielt 1 5 . Vielleicht die r e p r ä s e n t a t i v s t e u n d v e r b r e i tetste Tiererzählung der paraguay. mündl. Ü b e r l i e f e r u n g ist eine V e r s i o n v o n A a T h 6: cf. Überreden zum Sprechen, Singen etc. Sie ist e u r o p . U r s p r u n g s , C a d o g ä n b e z e i c h n e t sie als Fabel: Der kleine Falke schlägt mit den Flügeln und steht in der Luft, ohne sich vom Fleck zu bewegen. Der Fuchs lobt ihn für diese vom Vater ererbte Geschicklichkeit und fragt, ob er auch mit geschlossenen Augen tanzen könne. Der kleine Falke fühlt sich geschmeichelt, dreht auf der Erde mit geschlossenen Augen einige Pirouetten und wird vom Fuchs gefan-

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gen. Ein Mädchen bedauert ihn und beschimpft den Fuchs. Der Falke sagt zum Fuchs, er solle gegen diese Einmischung in fremde Angelegenheiten protestieren, und entschlüpft, als der Fuchs den Mund zum Sprechen öffnet. Der Fuchs geht in den Wald und steckt die Schnauze in einen Ameisenhaufen, bis Lippen und Zunge ganz von Ameisen bedeckt sind. Spöttisch ruft er aus: „Mund, das hast du für deine Dummheit!" 1 6 I Klassen, P. P./Neufeld, K.: Kaputi Mennonita. Asuncion 1976. - 2 Sole Rodriguez, Ο.: Leyendas guaranies 1. Montevideo 1902; Nimuendaju Unkel, K.: Die Sagen von der Erschaffung und Vernichtung der Welt als Grundlagen der Religion der Apapoküva-Guarani. In: Zs. für Ethnologie 46 (1914) 284-403; cf. allg. Niles, S. Α.: South American Indian Narrative [...]. An Annotated Bibliogr. Ν. Y./L. 1981, v. Reg. s. v. Paraguayan. - 3 Farina Nüfiez, Ε.: Conceptos esteticos. Mitos guaranies. Buenos Aires 1926. - 4 Lamas Carisimo de Rodriguez Alcalä, T.: Tradiciones del hogar. Asuncion 1928. — 5 D a n n e mann, M./Quevedo, Μ. I.: El cuento folklorico. In: Revista chilena de historia y geografia 158 (1990) 311-341, hier 327. - 6 Carvalho Neto, P. de: Folklore del P. (Sistemätica analitica). Quito 1961, 75-212. - 7 Cadogän, L.: Fragmentos del folklore guaireno. In: Cuadernos del Instituto nacional de investigaciones folkloricas 3 (1962) 87-109; cf. auch id.: Ayvu Rapyta. Textos miticos de los Mbyä-Guarani del Guairä. In: Antropologia 5 (1959) 1 - 2 1 3 (Nachdr. Asuncion 1992); cf. Niles (wie not, 2) num. 90-100. - 8 Gonzälez Torres, D.: Folklore del P. Asuncion 1980; cf. auch id.: Cultura guarani. Asuncion 1991, 249-261. - 9 Blache, M.: Estructura del miedo. Narrativas folkloricas guaraniticas. Buenos Aires 1982. - 10 Vayä, C.: Distancia interpretativa de una leyenda de creencia. In: Revista de investigaciones folkloricas 1 (1986) 12-15. II Romano, E.: La emigration de los lobizones. Del imaginario popular a la industria cultural, ibid. 12 (1997) 7 6 - 8 5 . - , 2 Carvalho Neto (wie not. 6) 147-149; vom Autor vor ca 10 Jahren in Asuncion mehrfach im Kreis von Freunden gehört. - 13 Cadogän 1962 (wie not. 7) 102. - 14 ibid. - 1 5 Carvalho Neto (wie not. 6) 183 sq. - 16 Cadogän 1962 (wie not. 7) 105 sq.

S a n t i a g o d e Chile

Manuel Dannemann

Paris, Gaston Bruno Paulin, * A v e n a y ( D e p a r t e m e n t M a r n e ) 9.8.1839, f C a n n e s 5.3.1903, f r z . P h i l o l o g e u n d F o l k l o r i s t 1 . P. w a r d e r S o h n v o n P a u l i n P., e i n e m W e g b e r e i t e r d e r a l t f r z . Philologie. N a c h d e m S t u d i u m d e r d t . S p r a c h e u n d A l t e r t u m s k u n d e in B o n n u n d G ö t t i n g e n (1856—58) 2 b e s u c h t e P. in P a r i s die E c o l e des chartes u n d hörte auch juristische Vorlesungen

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Paris, Gaston Bruno Paulin

(1865 Promotion über -> Karl d. Gr. 3 ). Danach lehrte er Rom. Philologie an der Ecole pratique des hautes etudes und wurde Nachfolger seines Vaters am College de France (1872; seit 1895 Direktor) und in anderen einflußreichen wiss. Stellungen. Zusammen mit anderen jüngeren Gelehrten veröffentlichte P. die Zs. Revue critique (1866) und wirkte bei der Gründung der Zs. Romania (1872) sowie der Soc. des anciens textes franfais (1875) mit. 1876 wurde er in die Academie des inscriptions und 1896 in die Academie franpaise aufgenommen. Wegen seines Patriotismus und Idealismus und seiner berühmten Großzügigkeit erreichte die öffentliche Trauer anläßlich seines Todes ein bis dahin unbekanntes Ausmaß 4 . P. war wie andere Forscher seiner Zeit der Ansicht, daß mündl. Überlieferung die Lit. des MA.s beeinflußt habe (eine Theorie, die u. a. seinen Arbeiten über den -» Cymbeline- [AaTh 882, 892] und - Tristan-Stoff zugrunde liegt5) und daß Reste dieser Überlieferung immer noch aus der zeitgenössischen frz. Volksdichtung gewonnen werden könnten. Vermutlich war es auch P., der den Begriff folk-lore in die frz. Sprache eingeführt hat 6 . Er förderte die Veröffentlichung von Volkserzählungen durch Sammler und Forscher wie J.-F. ->• Blade und E. Cosquin und stritt energisch für eine Editionspraxis, die Treue zum vorgetragenen Text mit Aufmerksamkeit für die Individualität des Traditionsträgers verbindet 7 . P. öffnete die Zs. Romania für folkloristische Beitr.e, bis 1886 die Revue des traditions populates unter der Leitung von P. -> Sebillot ins Leben gerufen wurde. P. war auch ein fleißiger anonymer Mitarbeiter der von I. Kopernicky und F. S. ->• Krauss herausgegebenen Zs. -> Kryptädia. P. veröffentlichte zahlreiche Ausg.η und Studien zu Heldendichtungen und romantischen bzw. religiösen Erzählungen des MA.s 8 . Über das Märchen AaTh 700: Däumling verfaßte er eine astralmythol. orientierte Monogr. 9 Was die Frage nach dem Ursprung der Märchen betrifft, war er ein Anhänger der -> Ind. Theorie; seine Erklärung, vor T. Benfey habe die Forschung auf der Suche nach den Ursprüngen europ. Erzählungen des MA.s nur den halben Weg zurückgelegt, ist eine Anspielung auf die Vorliebe frz. Gelehrter für Vergleiche mit der Erzähltradition des Nahen

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Ostens 10 . Ind. Ursprung schrieb er u. a. den Erzähltypen AaTh 992; -> Herzmäre und AaTh 1536 B: Die drei Buckligen z u " . Das gemeinsame Interesse für Tiermärchen brachte P. gegen Ende seines Lebens in Verbindung mit K. -> Krohn, dessen geogr.-hist. Methode er mit Enthusiasmus begrüßte 12 . P ' Sicht der Folklore und bes. seine Erklärung der Ursprünge des -» Fabliau wurde jedoch von seinem Schüler J. -» Bedier in Frage gestellt, dessen ->• agnostische Theorie in -> Frankreich das Vertrauen in die komparatistische Methode untergrub. Dies führte dort in der 1. Hälfte des 20. Jh.s zu einem allg. Niedergang der volkskundlichen Erzählforschung. I Bedier, J./Roques, M.: Bibliogr. des travaux de G. P. P. 1904, bes. 131-139; Nyrop, K : G. P. Kop. 1906; Senn, Η. Α.: G. P. as Folklorist (1867-1895). The Rise and Decline of French Folklore Studies. In: JFI 12 (1975) 4 7 - 5 6 ; Nelson, D.: G. P. in Context. His Predecessors and His Legacy. In: Studies in Medievalism 2 (1983) 5 3 - 6 6 . - 2 N y rop (wie not. 1) 7 7 - 8 9 ; Gumbrecht, H. U.: ,Un souffle d'Allemagne ayant passe'. Friedrich Diez, G. P. und die Genese der Nationalphilologien. In: Zs. für Lit.wiss. und Linguistik 14, 5 3 - 5 4 (1984) 3 7 - 7 8 (Themenheft: Wiss.sgeschichte der Philologien); Werner, M.: A propos des Voyages de philologues frangais en Allemagne avant 1870. Le cas de G. P. et de Michel Breal. In: Les Echanges universit ä r e s franco-allemands du moyen äge au XX e s. ed. M. Parisse. P. 1991, 139-155. - 3 P , G.: Histoire poetique de Charlemagne. P. 1865 (ed. P. Meyer. P. 2 1905). - 4 cf. Romania 32 (1903) 334-341; Nyrop (wie not. 1) 2 0 - 2 2 , 9 0 - 9 2 (Verz. der Nachrufe). 5 P., G.: Le Cycle de la „Gageure". In: Romania 32 (1903) 481-551; id.: Tristan et Iseut. In: Poemes et legendes du Moyen-Äge. P. 1900, 113-180. - 6 cf. G. P.' Rez. von W. Bottrells „Traditions and Hearthside Stories of West Cornwall" in: Revue celtique 1 (1870-72) 483-486, hier 484. - 7 Senn (wie not. 1) 49 sq. - 8 cf. u. a. P., G. (ed.): Orson de Beauvais. P. 1899; id.: Romans en vers du cycle de la Table Ronde. P. 1887; id. (ed.): La Vie de saint Alexis. P. 1885 ( 2 1903). - 9 P., G.: Le Petit Poucet. In: Memoires de la Soc. de linguistique de Paris 1 (1868) 372-404; id.: Le Petit Poucet et la Grande Ourse. P. 1875; cf. P.' Rez. von L. $äineanus „Basmeie romäne" in: Romania 24 (1895) 304. - 10 id.: Les Contes orientaux dans la litterature franijaise du moyen age. P. 1875. II id.: La Legende du Chätelain de Couci dans l'Inde. In: Romania 12 (1882) 359-363; cf. P ' Rez. von A. Pillet „Das Fableau von den Trois Bossus menestrels" in: Romania 31 (1902) 136-144. 12 id.: Le Roman de Renard. P. 1895; cf. Krohn, K.:

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Parlament der Vögel

Die folkloristische Arbeitsmethode. Oslo 1926, 15, 147; Korompay, B.: Zur finn. Methode. Gedanken eines Zeitgenossen. Hels. 1978, 73 sq.

Kopenhagen

Michael Chesnutt

Parlament der Vögel (AaTh 220, 220 A). Das P. der V. (-• Vogel) ist die verbreitetste Form der Vorstellung vom Parlament der -» Tiere und findet sich vor allem in AaTh 221: The Election of Bird-king (cf. -> Königswahl der Tiere), einem aus äsopischer Tradition stammenden Fabeltyp 1 . Während in AaTh 221 die Beratung des P s über die Eignung des vorgeschlagenen Kandidaten zur Königswahl wesentlicher Teil der Handlung ist, berichten andere Erzählungen über weitere Anlässe für das Zusammentreten des P.s der V. In AaTh 220: The Council of Birds zugeordneten Erzählungen findet die Versammlung statt, um Nahrung und Nistplätze zuzuteilen 2 , Aufgaben im Vogelstaat zu vergeben 3 oder über verbesserte Lebensbedingungen für alle Vögel zu beraten 4 . Die Versammlung der Waldvögel in einer finn. Var.5 veranschaulicht das übliche Erzählmuster von AaTh 220: Unter dem Vorsitz des zum Richter über die Waldvögel ernannten Adlers werden den versammelten Vögeln abhängig von ihren Nahrungsgewohnheiten Nistplätze zugewiesen.

Daran schließen sich Ätiologien für die Gewohnheiten vieler Vogelarten an. Sie werden auf eine Verhaltensweise oder ein Vergehen zurückgeführt, die zu bestimmten Vergünstigungen oder Strafen führen. Die nicht sehr zahlreichen Belege stammen aus Europa (vor allem ir. und finn.) und Asien (mongol., jakut., ind., philippin., chin.) 6 . Als Exempel ist die Erzählung bereits bei -> Johannes Gobi Junior bezeugt; sie berichtet von der Verteilung der Ämter im P. der V. durch den ->· Adler und der Unfähigkeit des Raben, das Amt des Schreibers auszuüben 7 . Ausgehend von Laurentius -> Abstemius hat eine Erzählung in die Fabelliteratur (Joachim -» Camerarius, Burkhart -> Waldis) Eingang gefunden, in der die Vögel darüber diskutieren, ob dem Adler Mitregenten zur Seite gestellt werden sollen 8 . Literar. Verwendung fand AaTh 220 in Geoffrey Chaucers allegorischer Dichtung The Parlement of Foules9:

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Die Vögel versammeln sich zur Feier des Valentinstages unter der Leitung der Göttin Natura zur Partnerwahl 10 . Natura weist zu Beginn den Vögeln je nach ihren Lebens- und Nahrungsgewohnheiten die Plätze zu. Die Partnerwahl ist an die Zustimmung des Weibchens gebunden und erfolgt nach der Rangfolge der Vögel. Drei unterschiedlich ranghohe Adler werben um die Gunst des von Natura präsentierten Adlerweibchens. Als das Verfahren den niederen Vögeln zu langwierig und zu wenig erfolgversprechend erscheint, erheben sie lautstark Einspruch. Natura gebietet Schweigen und bestimmt, daß jede Gruppe (Raubvögel, Wasservögel, Körnerfresser, Würmerfresser) einen Wortführer bestimmen soll, der den jeweiligen Standpunkt zur Partnerwahl vertritt. Nachdem die vom Falken, der -» Gans, der Turteltaube (-> Taube) und dem -» Kuckuck vorgetragenen Meinungen keine Entscheidung herbeiführen, stellt Natura dem Adlerfräulein selbst die Wahl anheim. Dieses bittet um ein Jahr Aufschub. Die Partnerwahl der niederen Vögel verläuft unkompliziert".

Im Erzähltyp AaTh 220 A: The Trial of the Crow by the Eagle, der als selbständige Erzählung nur durch ostslav. und chin. Var.n belegt ist 12 , geht es in der Versammlung um die Klage eines Geschädigten und die Bestrafung des Täters. Die russ. Var.n präsentieren den Typ am vollständigsten 13 : Der Kuckuck verklagt die Krähe beim Regenpfeifer (Adler, Falken), weil sie während seiner Abwesenheit sein Nest zerstört und seine Jungen getötet hat. Die Krähe wird zunächst schuldig gesprochen und bestraft, auf ihren Protest hin wird jedoch der Kuckuck zur Strafe für seine angebliche Verleumdung in den Wald verbannt.

Eine Var. schließt mit der Ätiologie, daß seither der Kuckuck kein Nest mehr baue 14 . Eine sibir. Var. 15 kombiniert AaTh 220 mit AaTh 220 A: Nachdem der Steinadler als König den Wasservögeln eine bestimmte Anzahl von Eiern zugeteilt hat, unternimmt die Taucherente (-> Ente) aus Rache für die vermeintlich ungerechte Behandlung einen Mordanschlag auf den Steinadler und wird verurteilt. Eine Kombination von AaTh 220 Α mit AaTh 221 stellt das thailänd. Paksi-Pakaranam (Buch der Vögel) dar: Hier veranschaulichen nach der Wahl Garudas zum König die von den Vögeln vorgebrachten Klagen die Struktur des Vogelstaates 16 . Konstituierendes Erzählmotiv ist das P. der V. auch im ma. sog. Rat der Vögel17, der in meist in Reimpaarversen abgefaßten didaktischen Texten zur Laienunterweisung 18 anonym überliefert ist. Das P. der V. tritt auf

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Parodie

Wunsch des Zaunkönigs zusammen, der um Rat für die Regierung bittet. Das P. erteilt „Ratschläge zum (menschlichen) Verhalten und zur Lebensführung"19. Die Erzählung eröffnet zahlreiche Variationsmöglichkeiten: Art, Anzahl und Reihenfolge der beteiligten Vögel können geändert werden; es können nur positive ,Räte' oder positive und negative ,Räte' in unterschiedlicher Anordnung erteilt werden; der motivische Rahmen des Rs kann fehlen. Räte der Vögel gibt es in vielen europ. Volkssprachen (dt., ndl., engl., tschech., frz.) vom 14. bis zum 18. Jh., darunter 15 dt. Fassungen sowie vereinzelte lat. 20 Da die in AaTh 221 im Zentrum stehende List des Zaunkönigs nicht im Rat der Vögel vorkommt, umgekehrt die für letzteren konstitutiven Ratschläge nicht Bestandteil der Erzählung vom Zaunkönig sind21, muß eine zunächst angenommene Verbindung zur Zaunkönigserzählung textgeschichtlich als sekundär gelten22. Die Textgeschichte beginnt mit dem Rat der Vögel (um 1351/58) Ulrichs von Lilienfeld, der im Anhang seiner Concordantiae caritatis überliefert ist23. Das sich auf zwei gegenüberliegende Seiten erstreckende farbige Text-Bild-Arrangement zeigt einen Baum, an dessen Wipfel sich der Zaunkönig und an dessen Fuß sich der Eisvogel befindet. Die übrigen 46 namentlich bezeichneten Vögel sitzen in den Zweigen, wobei jeweils einem positiv ratenden Vogel einer mit einem korrespondierenden negativen ,Rat' gegenüber sitzt. Inhaltlich sind die Ratschläge an christl.-adliger Tugendlehre orientiert. Hinsichtlich der Anordnung und Formulierung der Ratschläge sowie der Reihenfolge und Anzahl der Vögel präsentiert sich der Rat der Vögel außerhalb des Überlieferungszusammenhangs mit den Concordantiae caritatis als „verfügbare^] und frei veränderbare^] Texttyp innerhalb der didaktischen Literatur"24. Die größte Wirkung geht von den Fassungen aus, die von den Concordantiae caritatis unabhängig sind 25 . Der Rat der Vögel könnte als Vorbild für die Beratung der Vögel am Königshof im Reynke de Vos (1498; V. 3247-3274) gedient haben (-> Reineke Fuchs)26. 1 cf. Dicke/Grubmüller, num. 349, 350, 474, 555, 655. - 2 cf. Wrigglesworth, H.: Philippin. Märchen. MdW 1993, num. 45; Simonsuuri, L./Rausmaa, P.L.: Finn. Volkserzählungen. B. 1968, num. 18. 3 Zelenin, D. K.: Velikorusskija skazki Permskoj gu-

bernii. Petrograd 1914, num. 89. - 4 Doerfer, G.. Sibir. Märchen. MdW 1983, num. 103 (jakut.); Ergis, num. 34, 35. - 5 Simonsuuri/Rausmaa (wie not. 2). — 6 Ergänzend zu AaTh: Ο Süilleabhäin/Christiansen; Archiv van der Kooi, Groningen; SUS; Lörincz; Ting; Thompson/Balys Β 232, Β 238.2. - 7 La Scala Coeli de Jean Gobi. ed. M.-A. Polo de Beaulieu. P. 1991, num.327. - 8 cf. Kirchhof, Wendunmuth 7, num. 104. - 9 The Complete Poetry and Prose of Geoffrey Chaucer, ed. J. H. Fisher. Ν. Y. u. a. 1977, 566-579. - 1 0 cf. Sartori, P.: Sitte und Brauch 3. Lpz. 1914, 88. 11 cf. Rothschild, V.: The Parliament of Fowls. Chaucer's Mirror up to Nature? In: Rev. of English Studies N. F. 35 (1984) 164-184; Worth Frank, R.: Structure and Meaning in the Parlement of Foules. In: Publ.s of the Modern Language Assoc. of America 71 (1956) 530-539; Benson, L. D.: The Occasion of The Parliament of Fowls. In: id. u. a. (edd.): The Wisdom of Poetry. Festschr. M. W. Bloomfield. Kalamazoo, Mich. 1982, 123-144. - 12 Ergänzend zu AaTh: SUS; Ting. - 13 Zelenin, D. K : Velikorusskija skazki Vjatskoj gubernii. Petrograd 1915, num. 71; cf. auch id. (wie not. 3); Afanas'ev, num. 74; De Gubernatis, Α.: Die Thiere in der idg. Mythologie. Lpz. 1874, 527. - 14 Zelenin 1915 (wie not. 13). 15 Doerfer (wie not. 4) num. 104; cf. auch Ergis, num. 36. - 16 Hertel, J.: Das Pancatantra, seine Geschichte und seine Verbreitung. Lpz./B. 1914, 347-356. - 17 Henkel, Ν.: Lehre in Text und Bild. Der ,Rat der Vögel' des Ulrich von Lilienfeld. In: Zwischen den Wiss.en. Beitr.e zur dt. Lit.geschichte. Festschr. B. Gajek. Regensburg 1994, 160-170; id.: Rat der Vögel. In: Verflex. 7 ( 2 1989) 1007-1012; Meiners, I.: Vogelsprachen. In: Beitr.e zur Geschichte der dt. Sprache und Lit. 91 (1969) 313-334, bes. 326 (zur Bezeichnung); Seelmann, W.: Die Vogelsprachen (Vogelparlamente) der ma. Litteratur. In: Jb. des Vereins für niederdt. Sprachforschung 14 (1888) 101-147. - 1 8 Henkel 1994 (wie not. 17) 161 sq.; id. 1989 (wie not. 17) 1007. - 1 9 id. 1994 (wie not. 17) 160. - 20 ibid., 161, 164; Übersicht über die dt. Versionen bei Henkel 1989 (wie not. 17) 1009 sq.; Übersicht über alle Fassungen bei Seelmann (wie not. 17) 103-106. 21 cf. Henkel 1994 (wie not. 17) 161. - 22 Pfeiffer, F.: Das Märchen vom Zaunkönig. In: Germania 6 (1861) 8 0 - 1 0 6 , hier 82 sq.; Seelmann (wie not. 17) 104 (abgedr. bei Pfeiffer, 91-106); Henkel 1989 (wie not. 17) 1007. - 2 3 Henkel 1994 (wie not. 17) 167-169. - 2 4 id. 1989 (wie not. 17) 1008. - 2 5 id. 1994 (wie not. 17) 164. - 26 ibid., 1011.

Göttingen

Stefanie Schmitt

Parodie 1. Begriff - 2. Hist. Entwicklung - 3. Gattungen - 4. Kontext und Funktion

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Parodie

1. B e g r i f f . P. (griech. parodia: Neben- oder Gegengesang) bedeutete ursprünglich in der griech. Musik die Verzerrung, später auch andere Nachahmungsformen. Der Begriff ging im 17. Jh. in die dt. Sprache ein. Gegenwärtig versteht man unter P. vorrangig die verspottende, verzerrende oder übertreibende, oft humorvolle oder komische (-> Humor, Komik) Nachahmung einer Vorlage oder einzelner Teile von ihr, unter Beibehaltung der äußeren Form, doch mit anderem Inhalt 1 . Im Gegensatz zur P. behält die Travestie (ital. travestire: verkleiden) den Inhalt bei, gibt ihn jedoch in anderer Gestalt wieder. Da Travestie und P. eng verwandt sind, wird im folgenden zwischen beiden Begriffen nicht getrennt. Die P. ist eine Form des Spiels und beachtet daher keine Wertmaßstäbe. Als Objekte der P. dienen vorrangig literar. und musikalische Gattungen, daneben im weiteren Sinn auch kulturelle Zustände, Anschauungen, Kunstwerke etc.; dabei muß das Original dem Kreis, für den eine P. bestimmt ist, bekannt sein. Die folgende Darstellung bezieht sich im wesentlichen auf den dt. Sprachraum. 2. H i s t . E n t w i c k l u n g . Die antike literar. P. begann im 8 . - 7 . Jh. a. Chr. n. mit dem komischen Epos. Das homerische Heldenepos (-• Homer) wurde schon in der griech. Batrachomyomachia (ca 1. Jh. a. Chr. n.; -> FroschMäuse-Krieg) parodiert. Zu nennen sind bes. -» Aristophanes mit seinen P.n des Euripides sowie -» Lukians P.n der Mythologie. Eine Geschichte der dt. P. fehlt, das Material ist allg. und bes. im volkskundlichen Bereich sehr verstreut und heterogen. Nach A. Liede vollzog sich im MA. bruchlos der Übergang von den vorliterar. zu den literar. P.n 2 . War im Minnesang P. noch lediglich artistische Nachahmung, so kam es im 14./15. Jh. zu einer Blütezeit der P. im eigentlichen Sinne 3 . Parodiert wurden eher Gattungen als Einzelwerke; so wurde ζ. B. die Gattung der Predigt parodiert durch lat. und dt. Predigten, die als akademische und handwerkliche Dispositionsrede, als Kinderpredigt, Polterabend- und Fastnachtsbrauch bis heute bestehen 4 ; auch Mirakel- 5 und Legenden-P.n 6 existierten. Bereits im 11. Jh. wurde die P. agitatorisch genutzt, im 16. Jh. geriet sie in die Konfessionspolemik 7 . Parallel dazu entstanden P.n auf Prozessionen,

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Passionsspiele, Kinderlehren etc. Kirchliche Texte und Lieder wurden in Zech-, Schlemm-, Spiel- und Liebespoesie umgewandelt — eine Entwicklung, die in den mittellat. Spiel- und Saufmessen gipfelte. Umgekehrt wurden weltliche Vorlagen ins Geistliche transponiert, bei Liedern Kontrafaktur genannt. Andere Gattungen, wie die Kalender-, Praktik- und Grabinschrifts-P.n, setzten zwar im MA. ein, erreichten aber erst später eine gewisse Bedeutung. Im 16. Jh. trieb Johann Fischarts Geschichtklitterung ihr Spiel mit der gesamten Bildung und Sprache der Zeit. Allg. verstärkte sich der kritische und agitatorische Zug der P.8 Das 17. Jh. brachte eine neue Blüte der eigentlichen künstlerischen P., trug aber zu den parodistischen Gattungen nur die aus der Antike (Martial) und dem lat. MA. übernommene scherzhafte Grabinschrift bei, die als eine Sonderform des Epigramms (-» Spruch, Spruchdichtung) Mode wurde, teils bis in die Gegenwart weiterlebt und mit erfundenen Marterln auch in die volkstümliche Sphäre eindrang 9 . Im 18. Jh. dominierte zum einen in den großen literar. Fehden die kritische P., ein Phänomen, das Wesen und Wert der P. bis heute bestimmt; zum anderen diente die unkritische P. einem heiteren Spiel mit der Bildung: vornehmlich -+ Horaz wurde immer wieder das Opfer der Parodisten. Da das Epos in der Aufklärung als Krone der Dichtung galt, die antiken Vorbilder jedoch allen bürgerlichen und moralischen Tendenzen der Zeit zuwiderlaufen und ein eigenes Epos fehlte, diente hier die P. als Brücke. So entstand, als wohl freieste Form der P., das komische Epos, das immer P. auf die Heldensage als Gattung ist 10 . Die komische P. florierte bes. in der 1. Hälfte des 19. Jh.s in bürgerlichen geselligen Zirkeln und Vereinen". Im Altwiener Volkstheater erreichte sie einen Höhepunkt: 1817—25 wurden an einzelnen Wiener Vorstadttheatern ausschließlich P.n gespielt, wobei Ferdinand Jakob Raimund und Johann -> Nestroy eine Sonderstellung einnahmen. In der 2. Hälfte des 19. Jh.s eroberte sich die artistische P. unter dem Deckmantel der Kritik wieder einen bedeutenden Platz. Vereins- und Theater-P. finden im Kabarett eine neue Wirkungsstätte. Die 1. Hälfte des 19. Jh.s war bes. die Blütezeit des komisch-parodistischen

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Parodie

Spiels mit der dt. klassischen Dichtung; dessen künstlerischer Wert ist zwar eher gering, es zeugt aber auch von der weiten Verbreitung eines literar. Hausschatzes. Als typisch für die ganze Gattung können die bis in die Gegenwart vorhandenen zahllosen P.n auf Schillers Lied von der Glocke und seine Balladen gelten; von ->• Goethes Werken wurden bes. einzelne Szenen des -> Faust und der Erlkönig parodiert 12 . Bis in die Gegenwart halten sich travestierende Übers.en von literar. Werken in die Mundart oder, als gelehrtes Gegenstück dazu, ins Lateinische und Griechische, bes. von Heinrich Hoffmanns -» Struwwelpeter und Wilhelm Büschs Max und Moritz13. Eine Sondergattung ist die Moritaten-P. für die balladenhafte Schilderung lokaler Begebenheiten oder weltgeschichtlicher Ereignisse. Sie fand Eingang in die Kommersbücher der dt.sprachigen Studentenverbindungen, die einen großen Teil des Bildungsspiels des 19. Jh.s tragen. Zur selben Zeit verschwand das -> Puppentheater, das sich teilweise von P. und Travestie genährt hatte. Vom 18. Jh. bis heute besteht in wiss.snahen Kreisen ein Hang zur Wiss.s-P. 1963 erscheint ζ. B. Hans Traxlers Die Wahrheit über Hänsel und Gretel (zu AaTh 327 A: -> Hänsel und Grete!), 1972 Iring Fetschers Wer hat Dornröschen wachgeküßt?, eine P. auf Methoden und Schulen der Märcheninterpretation 1 4 . Beide Veröff.en wurden teilweise ernstgenommen. Auch die kritische und spielerische P. wird im 20. Jh. in den herkömmlichen Formen weitergeführt 1 5 . 3. G a t t u n g e n . Volksläufig werden oder sind vorrangig verbale und musikalische Ausdrucksformen. Aufgrund der prägenden Kraft des Christentums im Abendland ist es nicht verwunderlich, daß neben bes. bekannten Teilen der Bibel 16 auch Versatzstücke aus der religiösen Praxis eine lange P.-Tradition aufweisen. Mit zu den ältesten, nach wie vor wirkkräftigsten gehören P.n des Vaterunsers 17 . P.n anderer bekannter (Kinder-)Gebete sind ebenfalls beliebt 18 . P.n weiterer religiöser Texte (Evangelien, Dekalog 19 , Glaubensbekennt20 nis , ->• Katechese, Katechismus, Ave Maria 21 ; cf. Katechismusschwänke 22 , Beichtschwänke) erfreuen sich ζ. T. noch heute unge-

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brochener Vitalität ζ. B. in der Kneipenkultur, in -> Xeroxlore oder Kinderfolklore. Der aus dem spätma. Eselsfest hervorgegangene sermon joyeux findet späte Ausläufer in den Trau-, Kinder- und anderen Predigt-P.n (-» Predigtschwänke) 23 . Eng damit verknüpft sind P.n auf profane Reden. Einen volkskundlich gut dokumentierten Sonderfall der P. stellt die komische Grabinschrift dar, deren gebildete, weniger populäre Überlieferung auf das lat. MA. zurückgeht 24 . L. Röhrich unterscheidet zwischen unfreiwilliger Komik, beabsichtigter komischer Wirkung, aber echten Sprüchen, und erfundenen Marterlsprüchen, die in bewußter Nachahmung und Übersteigerung die genannten Möglichkeiten parodistisch nachahmen 2 5 . Von den Gattungen der Volkserzählung wurden, vornehmlich im 20. Jh., vor allem einige bes. beliebte (Grimmsche) Märchen (-» Kinder- und Hausmärchen) literar. parodiert 26 . Aufs Korn genommen werden der unwahrscheinliche Handlungsablauf des Märchens, sein Wiederholungsstil, die Häufung der Formeln 27 . Beliebt sind auch Übertragungen in Soziolekte 28 oder die Nutzung der Märchen als Träger von Ideologien und Weltanschauungen; ζ. B. können sie eine angenommene Grausamkeit der Gattung 2 9 oder eine feministische Sicht 30 parodieren oder als Invektive gegen Institutionen und Trends 31 dienen. Der größte Anteil kommt jedoch der spielerischen P. zu. Sie reicht von der märchenhaften Darstellung des Lehrsatzes des Pythagoras 3 2 über pornographische Umwidmungen 3 3 bis zur Hochliteratur 34 . Neben sprachlichen Formen, die auch in der -> Werbung zu finden sind 35 , fungieren Malerei und Zeichnung, vornehmlich in Bilderwitz und Karikatur 3 6 , als Medien der P. Märchenparodien zielen weniger auf den Stil als auf die Inhalte, bes. der -• Kindermärchen, von denen vor allem solche reizen, die modernem Empfinden als unglaubwürdig erscheinen (cf. ζ. Β. K H M 18, AaTh 295: Strohhalm, Kohle und Bohne; K H M 41, AaTh 210: cf. -» Tiere auf Wanderschaft). Das Erzählte wird von der Kinder- auf die Erwachsenenebene gehoben; das Märchen gerät dabei in die Nähe von -» Schwank und - Horrorgeschichte und Schreckmärchen, einen Umschlag ins Komische geradezu herausfordern 40 . Sprichwörter, Redensarten und Sprüche (auch Segensspruch, Wetterregel, Redewendung) mit ihrem hohen Bekanntsheitsgrad und ihren häufigen belehrenden Implikationen reizen ebenfalls stark zum Parodieren 41 . Als Techniken dienen dabei die Veränderungen einzelner Wörter, komische Neuprägungen, die Mischung zweier Sprichwörter, ironische Zusätze, Verkehrung der ursprünglichen Aussage sowie die Selbstparodierung des Sprichworts in der Form des Wellerismus 42 . Auch die Werbung macht von diesen Möglichkeiten Gebrauch 4 3 . P.n auf Zitate und geflügelte Worte können vorbehaltlos zum volkstümlichen Überlieferungsgut gerechnet werden, wenn eine breite Schicht mit ihnen vertraut ist 44 . Häufig geht dabei durch eine populäre P. Bewußtsein und Kenntnis des Originalzitats verloren, und die P. gewinnt ein Eigenleben als unabhängiger Text. Bevorzugt werden Gedicht- und Reimvorlagen parodiert, wobei die Versform erhalten bleibt 45 , oder Prosavorlagen werden gereimt 46 . Gängig sind auch parodistische Verballhornungen von Buch- oder Werktiteln. Den Hauptteil gegenwärtiger P.-Kultur bilden zweifelsohne witzig gemeinte, verspottende und kritische Benennungen von Subjekten, Objekten, Handlungen, Funktionen und Ideologien (cf. - Ironie, Polemik, Agitation, -> Satire und Spott. Letzterer spielt in den volkskundlich relevanten P.n, u. a. im Berufsspott (-> Beruf, Berufsschwänke) und in der Ortsneckerei, eine bes. Rolle 6 1 . H. -> Bausinger stellt die P. unter das Prinzip der -» Verkehrten Welt, das sich „nicht nur in der blutten Aufhebung oder U m k e h r u n g der sozialen Ordnungen, sondern weit häufiger in der stilisierten Parodie, in einem Ritual v o n Absetzung und Inthronisation" äußert 6 2 . D i e P. k a n n praktisch alle ernsten Gattungen der Volksüberlieferung erfassen. Parodiert wird das Viel- und Abgenutzte, das Veraltete, Unglaubwürdige, nicht mehr Geglaubte, Sentimentale, Pathetische und Moralisierende. Funktionsprinzip ist hier der Überdruß. D a s komplizierte gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis v o n volkstümlichen P.n nicht volkstümlicher Vorlagen, v o n nicht volkstümlichen P.n auf volkstümliche Stoffe und v o n volkstümlichen P.n volkstümlicher Stoffe ist bisher k a u m beachtet worden. Formal gesehen hat die P. verbale, musikalische, ikonographische u n d szenische Ausprägungen. Als Träger der mündl. überlieferten P. werden vornehmlich Kinder 6 3 und Städter ang e n o m m e n . Medien der Verbreitung sind neben der mündl. Überlieferung Theater 6 4 und Kabarett, Printmedien, Radio, Fernsehen, Werbung 6 5 , Bürofolklore, Graffiti 6 6 und Ende des 20. Jh.s z u n e h m e n d auch das Internet. 1

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Parodie

15-35; Röhrich, L.: Wage es, den Frosch zu küssen. Köln 1987; Ritz, H. [i. e. U. Erckenbrecht]: Die Geschichte vom Rotkäppchen. Göttingen 132000. 28 Claus, U./Kutschera, R.: Total tote Hose. 12 bockstarke Märchen. Ffm. 1984. - 29 Janosch erzählt Grimms Märchen. Weinheim/Basel 3 1974. 30 Carter, Α.: The Bloody Chamber. Ν. Y. 1979. 31 Bond, Α. H.: Ein modernes psychoanalytisches Märchen. 1: Aschenputtel dekompensiert sich nicht. In: J. für seelische Radschläge, ed. G. C. Ellenbogen. Ffm. 1988, 3 4 - 3 6 . - 3 2 Hauck, G.: Wie Pythagoras seinen Lehrsatz entdeckte. In: Geometrie für die 7. und 8. Klasse an Walldorfschulen, ed. A. Bernhard. Stg. 1993, 8 3 - 9 6 . - 33 Spielnagel, J. C.: Zauberflöte und Honigtopf. Erotische Märchen. Mü. (1979) 1992. - 3 4 Mieder, W.: Grimmige Märchen. Prosatexte von Ilse Aichinger bis Martin Walser. Ffm. 1986. - 3 5 Herles, H.: Sprichwort- und Märchenmotive in der Werbung. In: ZfVk. 62 (1966) 7 7 - 8 0 . 36 Horn, K.: Märchenmotive und gezeichneter Witz. In: ÖZfVk. 86, N. S. 37 (1983) 209-237; Wehse, R.: Schneewittchen hatte sieben Zwerge, oder: Märchen in Bilderwitz und Karikatur. In: Der Grimm auf Märchen. Motive Grimmscher Volksmärchen in den aktuellen Künsten, ed. W. P. Fahrenberg/A. Klein. Marburg 1985/86, 97-108; Haitzinger, H.: Archetypen. Mü. 1989; Röhrich, L.: Wandlungen des Märchen in den modernen Bildmedien. Comics und Cartoons. In: Märchen in unserer Zeit. ed. H.-J. Uther. Mü. 1990, 11-26. - " R ö h r i c h (wie not. 4) 152—155; cf. auch Nikiforov, Α.: Rosijs'ka dokucna kazka (Das russ. Scherzmärchen). In: Ethnohraficnyj visnyk 10 (1932) 4 7 - 1 0 5 ; Parpulova, L.: Küm vüprosa za parodijata ν bülgarskata narodna proza (Zur Frage der P. in der bulg. Volksprosa). In: Izvestija na Etnografskija institut i muzej 16 (1975) 149-207. - 38 Freud, S.: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. Ffm. 141975, 143, 163 sq.; Röhrich (wie not. 18) 65 - 73. - 3 9 cf. jedoch ζ. B. Wehse, R.: Schwanklied und Flugblatt in Großbritannien. Ffm./Bern/Las Vegas 1979, 90, 115 sq., 166, 171, 191, 210, 228, 233, 237. - 4 0 R ö h rich (wie not. 4) 130; Kvelds et stubbar (Sagen und P.). In: Ärbok for Gudbrandsdalen 38 (1970) 1 9 6 201. 41 Loomis, C. G.: Traditional American Word Play. The Epigram and Perverted Proverbs. In: W F 8 (1949) 348-357, hier 352-357; Röhrich (wie not. 4) 181-214; Mieder, W.: Antisprichwörter 1 - 2 . Wiesbaden 3 1985/1985; Röhrich, Redensarten 1, 16-18; Mieder, W.: Phrasen verdreschen. Antiredensarten aus Lit. und Medien. Wiesbaden 1999; id./Töthne Litovkina, Α.: Twisted Wisdom. Modern Anti-Proverbs. Burlington, Vt 1999. - 4 2 Neumann, S.: Sprichwörtliches aus Mecklenburg. Göttingen 1996. - 4 3 Herles (wie not. 35) 7 7 - 8 0 . - 4 4 Röhrich (wie not. 4) 173-181; Mieder, W.: „Nach Zitaten drängt, am Zitat hängt doch alles!" Zur modernen Verwendung von Goethe-Zitaten. In: Muttersprache 92 (1982) 7 6 - 9 8 ; id.: „Wo neue Kräfte sinnvoll walten?" Zur Umformung Schillerscher Zitate zu Apho-

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rismen und Graffiti. In: Festschr. W. Wittkowski. Ffm./Bern 1995, 293-311; id.: Ver-kehrte Worte. Antizitate aus Lit. und Medien. Wiesbaden 1997. 45 Müller, C.: Parodistische Volksreime aus der Oberlausitz. In: ZfVk. 15 (1905) 274-282; Loomis, C. G.: Mary Had a Little Parody. A Rhyme of Childhood in Tradition. In: W F 17 (1958) 4 5 - 5 1 ; Rotermund, Ε. (ed.): Gegengesänge. Lyrische P.n vom MA. bis zur Gegenwart. Mü. 1964; Opie, I. und P.: The Lore and Language of Schoolchildren. Ox./ L./N.Y. 1973, 8 7 - 9 7 . - 4 6 Dahl, R.: Revolting Rhymes. Harmondsworth 1984 u. ö. - 47 cf. bes. Küpper, Η.: Wb. der Umgangssprache 1 - 6 . Hbg 1963-70. - 4 8 ζ . Β. Renner, U.: The Afterlast English Letters. Ffm. 1986. - 4 9 Richter, L.: P.verfahren im Berliner Gassenlied. In: Dt. Jb. für Musikwiss. (1959) H. 4, 4 8 - 8 1 ; Röhrich (wie not. 4) 155-172; Mieder, W.: Dt. Volkslieder. Texte, Variationen, P.n. Stg. 1980. - 5 0 Opie (wie not. 45) 6 sq., 20 sq., 34, 38, 40, 48, 8 7 - 9 7 . 51

ζ. B. Lieder zu Markolsheim und Wyhl. Weisweil 197 5. - 5 2 Ujväry, Z.: Das Begräbnis parodierende Spiele in der ung. Volksüberlieferung. In: ÖZfVk. 69 (1966) 267-275. - " K a u f m a n n , D.: Parodijni oplakvanija (P.n von Totenklagen). In: Smehüt vüv folklora 7 (1987) 227-238. - 54 Schmidt, L.: Volksbrauch in der Karikatur. In: Anzeiger der phil.-hist. Kl. der Österr. Akad. der Wiss.en 114,15 (1977) 321-344. - 5 5 Kutter (wie not. 17) 109 sq. - " F e l des, R.: Der wahrhaft feurige Drache. Zwei Zauberbuch-P.n aus dem 18. und 19. Jh. Bonn 1979. 57 Mieder, W.: Moderne Var.n des Blumenorakels. In: Jb. für Volksliedforschung 2 7 - 2 8 (1982-83) 335-345, hier 342-345. - 58 Wienker-Piepho, S.: Mißverständnisse als destruktives und produktives Element in der Liedüberlieferung. In: Festschr. H. Gerndt/K. Roth. Münster u. a. 1999, 219-239. 59 Röhrich (wie not. 4) 214-221. - 6 0 Liede (wie not. 1) 322. 61

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Parry, Milman

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München

Rainer Wehse

Parry, Milman, "Oakland (Cal.) 20.6.1902, fSan Francisco 3.12.1935, klassischer Philologe, Komparatist und Sammler südslav. mündl. Ependichtungen, Mitbegründer der -» Formeltheorie. P. studierte 1919-23 klassische Philologie an der Univ. of California in Berkeley (Μ. A. 1925) und 1925-28 an der Sorbonne in Paris, an der er 1928 mit den Diss.en L'Epithete traditionnelle dans Homere und Les Formules et la metrique d'Homere promoviert wurde. 1928—29 war er Assistant Professor für klassische Philologie an der Drake Univ. in Des Moines, Iowa; 1929-35 gehörte er der Abt. für klassische Philologie an der HarvardUniv. in Cambridge, Mass. an. P. war einer der größten Neuerer und einflußreichsten Forscher in der Altphilologie des 20. Jh.s 1 . P.s Hauptleistung besteht in einer neuen Lösung für die seit der Antike ungeklärte homerische Frage, d. h. der Identität -» Homers und des Ursprungs von Ilias und Odyssee. Indem er eine unerwartete Erklärung lieferte, förderte P. auch die moderne Wiederentdeckung der weltweiten mündl. Überlieferungen, bes. der lange verschütteten Traditionen hinter so prägenden Texten wie der jüd.-christl. Bibel, und begründete zusammen mit Α. B. -> Lord die unter den Namen Formeltheorie bzw. orale Theorie (engl. Oral-Formulaic Theory) oder auch P.-Lord-Theorie bekannte vergleichende Methode, die inzwischen auf über 150 verschiedene Sprachgebiete ausgedehnt wurde (-» Oral Poetry) 2 . Als P. Mitte der 1920er Jahre die wiss. Szene betrat, wurden die homerischen Epen herkömmlicherweise entweder - nach Ansicht der ,Analytiker' — als Ubereinanderschichtungen einer Auswahl kürzerer Dichtungen oder - nach Ansicht der ,Unitarier' — als einem einzigen genialen Schöpfer zu verdankende Originalwerke verstanden. Anstatt jedoch die Debatte unter diesen Prämissen aufzugreifen, zeigte P. anhand akribischer philol. Analysen, daß die Ilias und die Odyssee weder bloße Textagglomerationen eines Redaktors noch

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die brilliante Leistung eines Einzelnen darstellen, sondern das Produkt einer jahrhundertealten traditionellen Praxis des Versdichtens sind. Seine Textuntersuchungen machen deutlich, daß der repetitiv verwendete Grundstock an sprachlichen Versatzstücken, dessen sich Generationen von Sängern bedienten, ein bes. für die Dichtung in Hexameterzeilen geeignetes Idiom darstellt, eine systematische, vorgefertigte Form des Ausdrucks, die die Dichter als modus operandi ererbt hatten. P.s neuartiges Interpretationsprogramm beruhte in erster Linie auf der ,Formel', dem funktionalen Kern poetischer Diktion in den Epen. Er definierte sie als,Ausdruck, der unter denselben metrischen Bedingungen regelmäßig zur Bezeichnung eines wesentlichen Gedankens gebraucht wird' 3 . In seinen beiden Diss.en wies er detailliert nach, daß es sich bei Nomen-Epitheton-Formeln wie ,Wolkenversammler Zeus' und ,weißarmige Hera' um vorgeformte Elemente handelt, die geordnete Systeme formelhafter Wendungen bilden 4 . Die programmatische Ökonomie dieser Diktion sehe gewöhnlich nur eine einzige metrisch akzeptable Form vor, mit der eine Person oder Gottheit in der homerischen Hexameterzeile benannt werden kann. Bei weiteren homerischen Wendungen zeigte P. ähnliche Eigenschaften auf, so die Vielfalt metrisch passender Ausdrucksweisen für ,er/sie sprach', die sich mit dem Namensystem ökonomisch zu vollständigen Hexameterzeilen verbinden lassen. Unter dem Einfluß seines Pariser Doktorvaters A. Meillet und des slov. Philologen und Feldforschers M. Murko kam P. zu dem Schluß, daß Formelhaftigkeit das entscheidende Kriterium nicht nur der traditionellen, sondern auch der mündl. Dichtung sei5, denn nach seiner Auffassung ist die Entstehung und Bewahrung einer solchen traditionellen Diktion nur durch das anhaltende und sich steigernde Reagierenmüssen der Sänger auf den Zwang mündl. Dichtens während einer -> Performanz zu erklären. Dieser logische Ausbau seiner Thesen führte zu zwei grundlegenden, 1930 und 1932 veröff. Aufsätzen 6 , die den Kern seiner theoretischen Leistungen bilden. Im ersten analysierte er beispielhaft Passagen aus Ilias und Odyssee, um zu veranschaulichen, wie sie auf formelhafter Phraseologie beruhen; im zweiten erklärte er die lange umstrit-

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Pars pro toto

tene Identität der homerischen Sprache als traditionelles Amalgam zeitgenössischer Dialekte in Kombination mit einer hist. Auswahl von zu verschiedenen Zeiten geläufigen Wörtern und Formen. Er begann auch mit der Beschreibung der immer wiederkehrenden erzählerischen Bauteile, die Lord später ,Themen' nannte, während andere sie als ,typische Szenen' bezeichneten, und die ein Parallelphänomen zu den Formeln darstellen. Aber P. war nicht allein Theoretiker, und es ist typisch für die von ihm so genannte ,literar. Ethnologie', daß der nächste Schritt in seinem Homerunternehmen eine Reise ins damalige Jugoslawien war. Dort wollte er seine anhand von schriftl. Texten gewonnenen Hypothesen an der lebendigen Tradition des südslav. mündl. Epos überprüfen, die er durch Murko kennengelernt hatte. P. verbrachte zusammen mit seinem Assistenten Lord und mit Unterstützung des einheimischen Sängers Nikola Vujnovic den größten Teil der Jahre 1933-35 damit, von Hunderten von Performanzen epischer Sänger (guslari) aus verschiedenen Regionen des Landes Direktaufzeichnungen auf Tonträgern oder nach Diktat anzufertigen. Der begabteste dieser analphabetischen epischen Dichter war Avdo Medjedovic aus Bijelo Polje in Montenegro, der mündl. zwei Epen dichtete, die jeweils etwa ebenso lang wie die Odyssee sind 7 . Die von ihm und vielen anderen Sängern stammenden Performanzen, insgesamt mehr als 700000 Zeilen südslav. epischer Texte aus lebendiger mündl. Überlieferung, werden in der M. P. Collection of Oral Literature an der Harvard-Univ. aufbewahrt. In seinem kurzen Leben blieb P. keine Zeit mehr, die geplante vergleichende Unters, mündl. Dichtung zu schreiben oder ausgewählte südslav. Epen im Original und engl. Ubers, zu publizieren (beide Projekte wurden später von Lord realisiert 8 ); doch seine Forschungen revolutionierten das Verständnis nicht nur der homerischen Epen, sondern der mündl. Dichtkunst und anderer Ausdrucksformen weltweit 9 . Durch die von Lord forcierte komparatistische Ausweitung der Formeltheorie fanden P.s Ideen Eingang in so unterschiedliche Fächer wie Ethnologie, Folkloristik, Geschichte, Sprach-, Lit.- und Religionswissenschaft, Musikologie und Philosophie und wurden über die antiken, ma. und

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modernen westl. Kulturen hinaus auf so andersartige Zivilisationen wie China, Afrika und die der ursprünglichen Bewohner Amerikas und Australiens angewandt. 1 Gesamtbibliogr. von M. P.s veröff. und unveröff. Sehr, in P., Μ.: The Making of Homeric Verse, ed. A. Parry. Ox. 1971 (Nachdr. 1987). - 2 Zur Entwicklung der Methode cf. Foley, J.: The Theory of Oral Composition. History and Methodology. Bloom. 1988; bibliogr. Anmerkungen bei id.: Oral-Formulaic Theory and Research. Ν. Y. 1985 (laufend auf den neuesten Stand gebracht in der Zs. „Oral Tradition" und der Homepage des Center for Studies in Oral Tradition an der Univ. of Missouri in Columbia); id.: Teaching Oral Traditions. Ν. Υ. 1998. - 3 P. (wie not. 1) 13. — 4 id.: L'Epithete traditionnelle dans Homere. Essai sur un probleme de style homerique. Diss. P. 1928 (Übers, in id. [wie not. 1] 1-190); id.: Les Formules et la metrique d'Homere. Diss. P. 1928 (Übers, in id. [wie not. 1] 191-239). - 5 cf. bes. Meillet, Α.: Les Origines indo-europeennes des metres grecs. P. 1923; Murko, M.: La Poesie populaire epique en Yougoslavie au debut du XXe siecle. P. 1929. - 6 P., M.: Studies in the Epic Technique of Oral Verse-Making 1 - 2 . In: Harvard Studies in Classical Philology 41 (1930) 73-147, 43 (1932) 1 - 5 0 (Nachdr. bei P. [wie not. 1] 266-324, 325-364). - 7 T h e Wedding of Smailagic Meho. ed. A. B. Lord. Cambr., Mass. 1974; Zenidba Smailagina sina. ed. A. B. Lord/D. E. Bynum. Cambr., Mass. 1974; Osmanbeg Delibegovic i Pavicevic Luka. ed. D. E. Bynum. Cambr., Mass. 1980, 153-333. - 8 cf. not. 7; Lord, A. B.: The Singer of Tales. Cambr., Mass. 1960; cf. auch id.: Epic Singers and Oral Tradition. Ithaca 1991; id.: The Singer Resumes the Tale. Ithaca 1995. - 9 cf. Foley, J.: Traditional Oral Epic. Berk. 1990; id.: Immanent Art. Bloom. 1991; id.: The Singer of Tales in Performance. Bloom. 1995; id.: Homer's Traditional Art. University Park 1999.

Columbia, Missouri

John Miles Foley

Pars pro toto (lat.: Teil, der für das Ganze steht), Begriff aus der klassischen Rhetorik, in der er eine bestimmte Form der Synekdoche bezeichnet 1 . U. a. findet sich das Prinzip des P. p. t. als Redefigur in sprichwörtlichen Redensarten (Jemanden um die Hand seiner Tochter bitten') und Volksliedern (,mein Herz' für die geliebte Person). In seinem wörtlichen Sinn ist es ein Phänomen in -» Magie und phantastischen Erzählungen (-> Similia similibus; ->• Sympathiezauber; Partizipation) 2 . In Volkserzählungen finden sich unterschiedliche

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Pars pro toto

Erscheinungsformen des P. p. t.: Ein Teil kann zu einem Ganzen werden, oder mittels eines Teils kann das Ganze herbeigerufen werden, der von einer Person hinterlassene Teil ihres Körpers spricht an ihrer Stelle, oder aber ein Teil führt zur Entdeckung des Ganzen. Ein Teil kann zu einem Ganzen werden: Bei der Hindernisflucht werfen die Flüchtenden (AaTh 313 sqq.: - Wiederbelebung), wenn man die -> Knochen des -» Skeletts als dauerhafteste Teile des Körpers sammelt und zurechtlegt (-> Pelops) 4 . Aus Körperteilen Ermordeter entstehen Pflanzen, die in deren Sinne handeln (cf. -> Grabpflanzen). In AaTh 511: —• Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein erwächst nach der Tötung der helfenden K u h aus einem Knochen oder einem anderen Uberrest ein Baum, der die Helferfunktion übernimmt 5 ; in einem der von C. Goldberg beschriebenen beiden Subtypen zu AaTh 408: Die drei Orangen wird die schöne Fee zuerst zu einem Fisch, von dem eine Schuppe, ein Tropfen Blut oder eine Gräte zu einem Baum heranwächst, und schließlich verwandelt sich ein Splitter von diesem Baum wieder zurück in die Fee selbst 6 . AaTh 318: cf. Das ägypt. Brüdermärchen enthält eine Aufeinanderfolge mehrerer solcher Motive (Blutstropfen, die zu Bäumen werden; Holzsplitter, aus dem der jüngere Bruder wiedergeboren wird). Oft erscheint das Prinzip des P. p. t. den Auffassungen vom Sitz der Kraft in einem bestimmten Körperteil (-» Archaische Züge im Märchen; -> Bart; -> Haar; -> Kraftproben) und vom Sitz der Seele außerhalb des Körpers (-• External soul) angenähert. Ein Teil kann dazu benutzt werden, um das Ganze herbeizurufen: In Märchen wie AaTh 552: Tierschwäger, AaTh 665: -> Mann, der wie ein Vogel flog und wie ein Fisch schwamm

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oder AaTh 531: -» Ferdinand der treue und F. der ungetreue schenken dankbare Tiere dem Helden charakteristische Teile ihres Körpers, damit er sie bei Bedarf herbeirufen kann (Mot. Β 501) 7 : Er erhält von einem Vogel eine -> Feder, von einem Bären, einem Pferd oder einem Hirsch ein Stück Fell, von einem Fisch eine Schuppe und von einer Ameise ein Bein. Die Heldin von AaTh 432: -> Prinz als Vogel kann den Prinzen mit Hilfe seiner Geschenke (Haar oder Feder; Gegenstände aus seinem Besitz wie Buch, Pflanze, Sand aus seinem Garten) in ihr Zimmer holen 8 . Auch in AaTh 425 K: Search in Men's Clothing (AaTh 425 sqq.: ->• Amor und Psyche) kann der Geliebte mit Hilfe von Haaren herbeigeholt werden 9 . In AaTh 325: Zauberer und Schüler ist jeder, der das Zaumzeug hat, in der Lage, sich das Pferd zu verschaffen. Felle und Federn (cf. auch AaTh 553: -> Rabe als Helfer) als P. p. t. von Tieren erlauben es Menschen, sich in diese zu verwandeln oder zu fliegen (-» Fluggeräte). Auch f ü r die Kleidung der Schamanen werden bes. Federn, aber auch Felle, Knochen und Hörner verwendet, um ihnen die K r a f t der Tiere, von denen sie stammen, zu verleihen (-> Schamanismus) 1 0 . Ähnlich ist in den -> Reliquien Heiliger deren Heiligkeit verkörpert, und auch Gegenstände, die mit Tod (-> Leiche; Tot, Tote) und Hinrichtung zu tun haben, sollen übernatürliche Kräfte besitzen. In Zusammenhang mit seiner Behandlung des Sympathiezaubers führte J. G. -> Frazer die Idee der kontagiösen Magie (Berührungszauber) ein, wonach alles, was mit Dingen geschieht, die mit einer Person in Zusammenhang stehen (Blut, Haare, Fingernägel, Kleidung, Fußabdrücke etc.), sich in vergleichbarer Weise auf diese Person selbst auswirken soll: Was mit dem Teil geschieht, betrifft das Ganze (d. h. die Person, von der es stammt). Auch einige von Frazers Beispielen für homöopathische Magie (Übertragungsmagie) scheinen P. p. t.-Vorstellungen zu enthalten: Beim Essen von Fleisch oder Trinken von -> Blut überträgt sich die Kraft des Tiers oder der Person, von denen das eine oder andere stammt (cf. - Magisches Weltbild, Naturvölkermärchen). Die primitive Denkungsart sei vom Gesetz der P. her zu verstehen, wonach zwei Daseinsformen ein und dasselbe Wesen ausmachen können. Angewendet wurde der Begriff auf die sympathetische Verbindung eines Menschen mit einem Tier oder Gegenstand außerhalb seiner selbst (-> Sympathiezauber). In den Augen des zivilisierten Menschen bildet das Individuum eine Einheit, während bei Primitiven die Grenzen verschwimmen und es gleichzeitig Einheit und Mehrheit, ein „geometrischer Ort mehrerer Partizipationen" 3 sein kann. Die wiss. Auseinandersetzung mit dem Begriffsmodell Levy-Bruhls ging bes. von dem Ethnologen E. Arbmann aus. Er vertrat die Auffassung, daß jenes von Levy-Bruhl unter P. angeführte Phänomen, das Arbmann als Seele außerhalb des Körpers (-• External soul) versteht, mit der Vorstellung einer -> Seele nicht viel gemein habe, doch erkannte er an, daß gerade in diesem Fall das sonst von ihm bestrittene Gesetz der P. eine Erklärung sein könnte. „Es handelt sich lediglich um etwas außerhalb des Menschen Befindliches, ein Tier, einen Baum, eine Pflanze, zu dem er in einem Verhältnis mystisch-sympathetischer Reziprozität

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steht und von dem sein Leben abhängig ist, nicht um eine Seele." 4 Doch gebe es Fälle, von denen man annehmen könne, „daß das Lebensprinzip — auch die Psycheseele — des Menschen (seine Seele, sein Herz, sein Leben, sein Tod) in einem Tiere, einem Gegenstand usw. deponiert ist". Levy-Bruhl war der Meinung, daß es kein Alter ego gibt, entgegen dem Verständnis des Animismus, der die Vorstellung einer Seele außerhalb voraussetzt; die Auffassung, daß sich eine Person als gleichzeitig getrennt und zusammengehörig erlebt - wenn sie nicht den Begriff Seele verwendet - , stehe mit dem Gesetz der P. in Zusammenhang: „Für die prälogische Geistesart ist alles Wunder, d. h. gar nichts ist es. Daher ist alles glaublich und nichts unmöglich oder absurd." 5 Ein gutes Beispiel bietet tamaniu, ein Wort aus der Mota-Sprache (Neue Hebriden). Es bedeutet Ähnlichkeit, Abbildung, Ebenbild und ist eine Ableitung vom Modalwort tama (gleich, gleichwie). Manche Menschen auf Mota setzten sich in Verbindung zu einer Eidechse, Schlange etc. oder zu einem Stein und empfänden diese als ihr tamaniu, ihr Ebenbild. „Die Eingeborenen glauben, daß das tamaniu herbeikäme, wenn man es riefe, und das Leben des Menschen an das tamaniu gebunden sei. Wenn das tamaniu starb oder zerbrach, starb auch der Mensch." 6

Obwohl Levy-Bruhl das Denken der Primitiven und der Zivilisierten streng gegensätzlich auffaßte, bemühte er sich doch um die Darstellung von Übergangsformen. -> Mythos ζ. B. bedeutete für ihn bereits eine vermittelte Form der P , die dann auftrete, wenn die mystische Verbindung schwächer werde. Je schwächer die P , desto mehr würden Mythen zu Geschichten. Dennoch werde die prälogische Geistesart nicht völlig verdrängt, sondern wandere in der Welt der Zivilisierten in den Bereich des Irrationalen, Phantastischen bzw. Paranormalen ab 7 . In seinen letzten Lebensjahren revidierte Levy-Bruhl seine Theorie, hob die Opposition prälogisch = primitiv und logisch = zivilisiert auf und postulierte, daß die P. als prälogische Denkungsart bei allen Menschen anzutreffen sei. Diese erst posthum veröff. Überlegungen wurden allerdings weit weniger stark rezipiert als seine früheren Konzepte, die ζ. B. in C. G. Jungs Begriff vom kollektiven -> Unbewußten und in H. Naumanns Theorie des Ge-

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Partner: Der unreelle P.

sunkenen Kulturguts einflossen. Naumann negierte die Vorstellung eines schöpferischen Kollektivs, da er dem bäuerlichen Volk (vom Gesetz der P. her bestimmte) mystische Kollektivvorstellungen und prälogisches, ja prämoralisches Denken und Verhalten, wie es Levy-Bruhl bei den ,Primitiven' postulierte, unterstellte 8 . Diese Dichotomie der Denkformen ist, allerdings in anderer Form, von der Entwicklungspsychologie erst in jüngerer Zeit wieder vertreten worden 9 . 1

cf. Hirschberg, W. (ed.): Wb. der Völkerkunde. Stg. 1965, 259; id. (ed.): Neues Wb. der Völkerkunde. B. 1988, 285. - 2 Levy-Bruhl, L.: L'Äme primitive. P. 1927, 143 (dt.: Die Seele der Primitiven. Wien 1930 [Nachdr. Darmstadt 1956]); La Mentalite primitive. P. 1922 (dt.: Die geistige Welt der Primitiven. Mü. 1927 [Nachdr. Darmstadt 1959]). - 3 id. 1930 (wie not. 2) 206. - 4 Arbmann, E.: Seelenvorstellungen im alten Indien. In: Le Monde oriental 20 (1926) 85-226, hier 132, not. 1. - 5 Levy-Bruhl, L.: Das Denken der Naturvölker. Wien/Lpz. 1921, 338; cf. Arbmann (wie not. 4) 143. - 6 Levy-Bruhl 1927 (wie not. 2) 141; cf. auch Frazer, J. G.: Balder the Beautiful 1 - 2 . L. 1919, hier t. 1, 198. - 7 cf. Les Carnets de Levy-Bruhl. ed. M. Leenhardt. P. 1949. - "Gilomen, H.-J.: Volkskultur und Exempla-Forschung. In: Modernes MA. ed. J. Heinzle. Ffm. 1999, 165-208, hier 166. - 9 ibid., 166, not. 8 (Hinweis auf Hallpike, C. R.: The Foundations of Primitive Thought. Ox. 1979).

Wien

Christa Tuczay

Partner: Der unreelle P. (AaTh 9), Tiermärchen, dessen Inhalt A. ->• Aarne 1910 folgendermaßen beschreibt: „Auf d e m F e l d e u n d in d e r S c h e u n e : der Bär arbeitet, der Fuchs steht müssig; in der Scheune drischt der Bär, der Fuchs gibt vor, die Dachbalken zu stützen, damit sie nicht dem Bären auf den Kopf fallen; bei der Teilung nimmt der Fuchs das Korn, der Bär den grösseren Spreuhaufen; beim Mahlen gibt das Getreide des Fuchses ein anderes Geräusch als das des Bären; beim Kochen wird die Grütze des Fuchses hell, die des Bären schwarz; beim Essen nimmt der Fuchs heimlich einen Löffel voll von der Grütze des Bären und lässt den Bären kosten; dieser glaubt nun, dass die Grütze des Fuchses ebenso schlecht schmeckt wie seine eigene."'

In S. Thompsons revidierter 2. Revision von Aarnes Typenkatalog findet sich übergreifend bei AaTh 9: The Unjust Partner immer noch der Anfang von Aarnes Definition, doch

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hat Thompson den unterschiedlichen Handlungen entsprechend die drei Subtypen AaTh 9 A: In the Stable the Bear Threshes (cf. Tausch von Pseudotätigkeiten), AaTh 9 B: In the Division of the Crop the Fox Takes the Corn und AaTh 9 C: In Cooking the Dinner the Fox's Porridge is Light eingeführt. Nach den vorliegenden Typenverzeichnissen ist AaTh 9 in Europa, Afrika, Asien und Amerika sehr verbreitet 2 . Der Erzähltyp ist in verschiedenen Verzeichnissen recht weit gefaßt worden, ihm wurden auch Texte zugeordnet, die kaum etwas mit der oben vorgestellten Normalform gemein haben. Ausgangspunkt ist in einigen Fällen offensichtlich nur das Lemma 3 . Da Aarnes Inhaltsangabe auf der Grundlage finn. Materials erstellt wurde, entsprechen die 245 finn. Aufzeichnungen ihr sehr genau 4 . Das gleiche gilt auch für die Belege der nord. Länder sowie für die der Esten 5 . Allerdings ist AaTh 9 C in Schweden und Estland recht selten. Internat, ist dieser Subtyp, das Kochen des Breis, Brotbacken aus schlechten Zutaten etc., am seltensten belegt; außer in Finnland, Schweden und Estland findet er sich noch in Deutschland und der Schweiz 6 . AaTh 9 B, die Teilung der Ernte, ist sicher am bekanntesten und wird auch selbständig ohne die anderen mit AaTh 9 verbundenen Motive sowie in Kombination mit zahlreichen anderen Märchentypen erzählt. Bes. eng verwandt ist AaTh 1030: jErntet eilung mit den Akteuren Bauer und Teufel, aber ζ. B. auch Mann und -> Bär. Als Teilungsgrundlage dient meist die Teilung in unterirdische (Wurzeln, Knollen) und oberirdische Teile (Kraut, Frucht), wobei der Überlegene seinen Partner durch die Wahl der jeweils .besseren Hälfte', d. h. der eigentlichen Früchte der Pflanze, übervorteilt und der Vertragspartner leer ausgeht. AaTh 1030 und AaTh 9 Β sind vielfach miteinander verwoben, und in verschiedenen Verz.en werden die Nummern unterschiedlich verwendet. Ζ. B. gibt es in Estland, wo AaTh 9 Β häufig vertreten ist (41 Var.n), nur zwei Var.n mit Tierakteuren. In den anderen Var.n sind Mann und Bär die Akteure, zudem sind keine weiteren Motive von AaTh 9 enthalten 7 . Es gibt verschiedene Arten der Ernteteilung. Außer der genannten Aufteilung nach den Kriterien größer/kleiner, auf/unter der Erde kann

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Partner: Der unreelle P.

auch das Kriterium leichter/schwerer 8 auftreten oder die Aufteilung ζ. B. auch mit Hilfe eines Wettlaufes vorgenommen werden (AaTh 275: cf. - Wettlauf der Tiere)9. Manchmal tritt ein -> Fuchs oder Bär als Teilungsbeauftragter oder herbeigerufener Richter auf, der sich natürlich selbst den besten Teil zuschanzt 10 . In AaTh 9 Α handelt es sich bei der gemeinsamen Arbeit meist um Feldarbeit wie Pflügen, Säen und Kornernte sowie Dreschen des Korns in der Scheune. Dies wird nicht immer präzisiert, sdhdern oft nur angedeutet. Häufig beginnt die Beschreibung der Arbeit erst mit dem Dreschen. Die Tierakteure differieren je nach Überlieferungsgebiet. Fuchs und Bär erscheinen hauptsächlich in den nord. Ländern, aber auch in fries. Märchen und ζ. B. in Tadschikistan. In anderen europ. Ländern (Deutschland, Estland, Frankreich 11 ) tritt der ->• Wolf an die Stelle des Bären. Der Wolf als Partner des Fuchses ist auch in Finnland üblich, ebenso treten oft alle drei Tiere in demselben Märchen auf. In der tschech. Überlieferung 12 bestellt der Fuchs das Feld gemeinsam mit einem Krebs, in der alban. und ital. zusammen mit einem Vogel 13 . Auf Korsika sind die Akteure Fuchs und Igel 14 , in Afrika (Marokko und Namibia) Schakal und Igel oder Schakal und Stachelschwein 15 . Wieder andere Tiere erscheinen in Asien. In Japan sind Affe und Krebs die Handlungsträger, in Burma Kaninchen und Tiger; als Akteure können auch ganze Gruppen von Tieren auftreten, ζ. B. Wolf, Wildkatze, Leopard, Fuchs und Maus im Himalaya 16 . Solche Var.n sind zwar recht weit entfernt von der Normalform des Erzähltyps, enthalten aber trotzdem den gleichen Grundgedanken. Die Tiere in den Var.n des Himalaya ζ. Β. gehen gemeinsam auf die Jagd, aber der Fuchs läßt die anderen die ganze Arbeit machen und gibt selbst nur Ratschläge. Zum Schluß richtet der Fuchs es so ein, daß alle anderen die Flucht ergreifen und er die Beute allein fressen kann. Fraglich ist jedoch, ob man hier noch von einer Var. von AaTh 9 sprechen kann. Auch die von den Tieren übernommenen Rollen können variieren: Der Fuchs, in den nord. Ländern immer das klügere und schlauere Tier und Gewinner bei der Ernteteilung, ist in den südl. Var.n der Betrogene. Hier

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haben Krebs, Igel oder Vogel den Vorteil von der Teilung. Dies beruht einfach auf der Größe der Tiere: In den Tiermärchen ist im allg. der kleinere und schwächere Partner der schlauere. AaTh 9 Β ist als der älteste Teil des Märchens angesehen worden. Ursprünglich gehörte es K. Krohn und W. ->• Liungman zufolge zum Zyklus über den Wettkampf zwischen Mann (Heiligem) und Teufel; die Tiere seien erst unter dem Einfluß anderer Tiermärchen als Akteure erschienen 17 . So wird auch AaTh 9 A, die gemeinsame Feldbestellung der Tiere, als eine jüngere Anfügung an andere Tiermärchen in den nord. Ländern gesehen 18 . AaTh 9 C ist nach Krohn in Finnland AaTh 9 Α und AaTh 9 Β hinzugefügt worden 19 . 1

Aarne, Α.: Verz. der Märchentypen ( F F C 3). Hels. 1910. - 2 Ergänzend zu AaTh: Ο Süilleabhäin/Christiansen 9; Hodne 9, 9 C; Kippar 9, 9 Α - B ; Kecskemeti/Paunonen 9, 9 A - C; van der Kooi 9 B; Delarue/Teneze 9 B; Camarena/Chevalier 9, 9 B; Cirese/ Serafini 9, 9 B; Rapallo, C.: Fiabe di animali in Sardegna. Indice dei tipi. In: Brads 11 (1982-83) 8 5 - 9 4 (9, 9 B); BFP 9 Α - B ; Archiv G. A. Megas, Athen, 9 Α - B ; Eberhard/Boratav, num. 4, 22 (9); Coetzee 9, 9 A; cf. Schmidt, num. 468 (9); Noy 9, 9 A; Ergis, num. 3, 255; STF 9, 9 Α - B ; Jason, Types 9; Jason, Indic Oral Tales 9, 9 C; Ikeda 9 (cf. 2 K, 1030). 3 ζ. B. Lambrecht, num. 553 (9); Coetzee 9, 9 A; Nowak, num. 33; Seki, num. 51 (9); Flowers 9. - 4 H s . Slgen der Suomalaisen Kirjallisuuden Seura [Finn. Lit.ges.], Hels.; ζ. B. Rausmaa, P.-L./Schellbach-Kopra, I.: Finn. Volksmärchen. MdW 1993, num. 2. 5 ζ. Β. Hackman, Ο.: Finlands svenska folkdiktning I A 1. Hels. 1917, num. 8; Bergström, R./Nordlander, J.: Sagor, sägner ock visor. Stockholm 1885, num. 7; Kvideland, R.: Kongsdottera i Koppartärnet. Oslo 1970, 216; Viidalepp, R.: Eesti muinasjutud. Tallinn 1967, num. 4. - 6 ζ . Β. Henssen, G.: Sagen, Märchen und Schwänke des Jülicher Landes. Bonn 1955, 242; Todorovic-Strähl, P./Lurati, O.: Märchen aus dem Tessin. MdW 1984, num. 2; Keller, W.: Am Kaminfeuer der Tessiner. Bern 2[1963], 122 (in den Schweiz. Var.n findet sich AaTh 9 A nicht). - ' K i p p a r , P.: Eesti loomamuinasjuttude vahekorrast vanapagana-muinasjuttudega (Das Verhältnis der estn. Tiermärchen und der Teufelsmärchen). In: Rahvaluulest. ed. H. Ahven/I. Sarv. Tallinn 1987, 5 7 - 7 5 ; Hackman, J.: Sagan om skördedelningen. Folkloristiska och etnografiska studier 3. Hels. 1922, 140-170. - 8 z . B. Rozenfel'd, A.Z.: Skazki i legendy gornych tadzikov. M. 1990, num. 36. - 9 ζ . Β. Sirovatka, Ο.: Tschech. Volksmärchen. MdW 1969, num. 40; Massignon, G.: Contes corses. P. 1984, num. 5; Scelles-Millie, J.: Contes arabes du Maghreb. P. 1970, 24. - 10 Eschker, W.: Mazedon.

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Parzen - Parzival

Volksmärchen. MdW 1972, num. 8; Camaj, M./ Schier-Oberdorffer, U.: Alban. Märchen. MdW 1974, num. 50; Eschker, W.: Serb. Märchen. MdW 1992, num. 49. 11 Viidalepp (wie not. 5); Henssen (wie not. 6); Todorovic-Strähl/Lurati (wie not. 6); Delarue/Teneze 9 B. - 12 Sirovätka (wie not. 9). - 13 Camaj/Schier-Oberdorffer (wie not. 10); Toschi, P./Fabi, Α.: Buonsangue romagnolo. Bologna 1960, num. 5. - 14 Massignon (wie not. 9). - 15 Laoust, E.: Contes berberes du Maroc. P. 1949, num. 9; Schmidt, S.: Märchen aus Namibia. MdW 1980, num. 50. - 16 Seki, K.: Folktales of Japan. Chic. 1963, num. 5; Htin Aung, Μ.: Burmese Folk-Tales. Nachdr. L. 1954, 29; Pathak, R.: Die Logik der Narren und andere Volksgeschichten aus dem Kumaon-Himaläya. Wiesbaden 1978, num. 41. - 17 Krohn, K.: Tutkimuksia suomalaisten kansansatujen alalta (Forschungen auf dem Gebiet der finn. Volksmärchen) 1. Hels. 1887, 239, 247; Liungman, Volksmärchen, num. 9 AB. - 18 ibid.; Dh. 4, 249. - " K r o h n (wie not. 17). Helsinki

Parzen

Pirkko-Liisa R a u s m a a

Schicksalsfrauen

Parzival, H e l d d e r -» A r t u s t r a d i t i o n . D e r N a m e P. ist eine dt. F o r m v o n Perceval, dessen Variationen (Percevaus, Peredur, Perlesvaus, Perceuell, P a r c e v a l , P., P a r s i f a l ) die u n t e r schiedlichen G e s t a l t u n g e n des T h e m a s zu u n t e r s c h e i d e n helfen. D i e H e r k u n f t des -> N a m e n s ist u n b e k a n n t , a b e r k e i n A r t u s h e l d h a t z u so vielfältigen N a m e n s e t y m o l o g i e n a n g e regt 1 . D e r PercevaP ist d a s letzte, u m 1190 abgeb r o c h e n e W e r k des D i c h t e r s - • C h r e t i e n d e Troyes3. Nachdem P.s Vater und Brüder in Waffentaten umgekommen sind, will die Mutter den Jüngsten davor bewahren, das Ritterwesen kennenzulernen. So wächst P. als wilder Bursche und namenlos im Wald auf. Eines Tages trifft er dennoch mit Rittern zusammen und verläßt die Mutter, um sich von König Artus zum -» Ritter machen zu lassen. Auf dem Weg dahin raubt P., indem er die Ratschläge der Mutter wörtlich nimmt, einem Fräulein seinen Ring und entzweit es dadurch mit seinem Freund. Am Tor zum Artushof erblickt P. einen Ritter in einer roten Rüstung, die er alsbald begehrt. Bei Artus erregt P. Aufsehen ebenso seiner Einfalt wie seiner Schönheit wegen. Ein junges Mädchen und ein Narr sagen voraus, P. werde der beste Ritter, den die Welt je gesehen habe. Die Einkehr am Artushof führt nicht zum Ziel, doch P. verschafft sich die Rüstung des roten Ritters,

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indem er ihn mit seinem Wurfspeer tötet. Bei einem erfahrenen Ritter holt er seine ritterliche Erziehung nach. Danach will er zu seiner Mutter zurück, gelangt jedoch zu dem bedrängten Burgfräulein Blanchefleur, befreit sie von ihrem Angreifer und lernt bei ihr die Liebe kennen. Wieder will er zur Mutter zurück, doch er gelangt zur Gralsburg (-> Gral). Der König dort ist gelähmt. Er schenkt P. ein Schwert. In einem feierlichen Ritual werden die blutende Lanze und der Gral unausgesetzt an P. vorübergetragen, aber er stellt keine Frage. Am anderen Tag ist die Burg verlassen. P. begegnet seiner Kusine. Von ihr vernimmt er, warum der sieche Gralskönig Fischerkönig heißt, die schlimmen Folgen seines Frageversäumnisses, den Tod der Mutter. An dieser Stelle errät der Held seinen Namen: Percevaus Ii Gallois (3575). Zuletzt warnt die Kusine den Helden vor dem Gebrauch des Schwerts. Ein zweites Mal bewegt sich P. auf den Artushof zu. Er versöhnt das Fräulein, das er ehedem ins Unglück brachte, mit seinem Freund. Drei Blutstropfen im Schnee bringen P. seine Freundin in Erinnerung und ziehen ihn in ihren Bann 4 . Der Artusritter Gauvain (-> Gawein) weckt den Träumenden und holt ihn an den Artushof. Ein häßliches Fräulein erscheint und verflucht Perceval wegen der unterlassenen Frage beim Gral. Von nun an folgt die Handlung eine Weile lang Gauvains Abenteuern. Als die P.-Handlung wieder einsetzt, ist dieser fünf Jahre auf der Suche nach dem Gral umhergeirrt. Am Karfreitag gelangt er zu einem Einsiedler, dem er seine Sünden beichtet. Der Einsiedler ist der Bruder von P.s Mutter und ebenso der Bruder des Gralskönigs. Er belehrt P. darüber, was dieser hätte fragen sollen: wen man mit dem Gral bedient und warum die Lanze blutet. P. tut Buße und empfängt an Ostern die Kommunion. Damit bricht die Percevalhandlung ab. C h r e t i e n bietet die erste literar. A u s f o r m u n g d e r P e r c e v a l g e s c h i c h t e . Von P e r c e v a u s , d e r a n gesichts v o n L a n z e u n d G r a l die e n t s c h e i d e n d e F r a g e v e r s ä u m t e , e r z ä h l t j e d o c h bereits eine S t r o p h e des p r o v . S ä n g e r s R i g a u t d e s B a r b e zieux, die sich m i t aller W a h r s c h e i n l i c h k e i t a u f die M i t t e des 12. J h . s d a t i e r e n l ä ß t . C h r e t i e n s E r z ä h l u n g w u r d e im e u r o p . M A . in m e h r e r e n S p r a c h e n u n d a u f u n t e r s c h i e d l i c h e Weise b e a r beitet u n d f o r t g e s e t z t . A u s d e m e r s t e n J a h r z e h n t des 13. J h . s s t a m m t d e r R o m a n P. v o n W o l f r a m v o n E s c h e n b a c h . A n d e r s als C h r e t i e n v o l l e n d e t d e r N a c h d i c h t e r seinen G r a l s r o m a n . A u c h schickt er d e r K i n d h e i t des H e l d e n die J u g e n d g e s c h i c h t e d e r E l t e r n v o r a u s : S t a m m u t t e r des G e s c h l e c h t s v o n P.s Vater soll eine Fee sein. Ü b e r h a u p t v e r m e h r t d e r d t . D i c h t e r d a s epische P e r s o n a l b e t r ä c h t l i c h . D e r m a s s i v e n inh a l t l i c h e n E r w e i t e r u n g e n t s p r i c h t hier a u c h

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Parzival

eine grundlegende Umgestaltung in der Motivierung der Handlung 5 . Die Abenteuer von P.s Vater Gahmuret spielen im islam. Orient und bei den schwarzen Heiden. Von dort stammt P.s Halbbruder, der schwarzweiß gefleckte Feirefiz, mit dem P. am Ende des Romans in einen Kampf verwickelt wird. Bereits in der Kindheit des Helden wird das Dümmlings-Motiv (P.s ,tumpheit') 6 religiös vertieft und vielfältig ausgebaut. Das Verwandtschaftsthema arbeitet Wolfram zu einem dichten Zusammenhang der Abstammung mütterlicherseits und väterlicherseits aus. Er macht den roten Ritter Ither zu einem Verwandten P.s und behaftet dadurch seinen Helden mit dem Problem des Verwandtenmordes. Das Liebesabenteuer des Helden konsolidiert er durch die Heirat, und mehrmals wird dem Verlangen des Helden nach dem Gral die Sehnsucht nach der Ehefrau an die Seite gestellt. Beim Gral hätte P.s Teilnahme an den Schmerzen seines Mutterbruders Anfortas diesem die Erlösung gebracht. Die Verstümmelung des Gralskönigs ist hier als Verletzung an den Hoden präzisiert. Durch die richtige Frage hätte P. den kranken Gralskönig nicht nur geheilt, sondern sich selbst darüber hinaus für das Gralskönigtum qualifiziert. Eine bes. Erweiterung erfährt die Unterweisung P.s beim Einsiedleronkel, deren Angelpunkte der Abfall des Helden von Gott, seine Einweihung in die Familiengeschichte und die Anklage seiner Verfehlungen gegen die Verwandtschaft bilden. Am Ende darf P. die entscheidende Frage noch einmal stellen. Damit wird der Gralskönig erlöst und zugleich von P. in der Herrschaft über den Gral abgelöst. P.s Gattin Condwiramurs wird mit ihren beiden jungen Söhnen zum Gral geholt. Einer der beiden Söhne heißt Loherangrin. Dessen zukünftiges Schicksal wird am Ende des Romans skizziert (-• Lohengrin). Auch die weitere Geschichte des Bruders Feirefiz wird nachgetragen. Wolfram vermählt ihn mit der Gralsträgerin Repanse de Schoye, läßt Mann und Frau nach Indien ziehen und macht sie zu Stammeltern des legendären -> Priesters Johannes. Obwohl er Wolfram kennt, erzählt Heinrich von dem Türlin in der Crone (um 1230) die P.Handlung nach Chretien. Allerdings schreibt er das Gralsabenteuer auf seinen Protagonisten Gawein um. P. kommt zwar vor, wird

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aber als Bauerntölpel und jämmerlicher Versager zur Randfigur degradiert. In Frankreich führen drei Forts.en in Versen Chretiens P.-Handlung weiter. Die erste, vermutlich von Wauchier de Denain 7 , ist knapp 13000 Verse lang und wohl bald nach 1200 anzusetzen. Sie schließt an den Abschied P.s vom Einsiedleronkel an und bricht mitten in P.s zweitem Gralsbesuch ab. P. fügt das zerbrochene Gralsschwert zusammen, doch eine kleine Scharte bleibt. Hier übernimmt der zweite Fortsetzer, Manessier (1214—25 oder 1233-37) 8 ; er führt P. nach ca 9000 Versen zu einem dritten Gralsbesuch und bringt das Werk zu Ende. An derselben Stelle wie Manessier setzt Gerbert de Montreuil (1226—30) ein. Er läßt eine 17000 Verse lange Abenteuersequenz wiederum in eine Szene münden, in der P. die Schwertprobe besteht, danach bricht das Werk ab. In der ersten Perceval-Forts, wird P.s Suche nach dem Gral erzählt. Obwohl der Held immer wieder Wegweisungen erhält, kommt er ständig vom rechten Weg ab und gerät in weltliche Abenteuer. So kehrt er auch wieder bei seiner Freundin Blanchefleur ein und verbringt mit ihr eine Liebesnacht. Eine bedeutungsvolle Verirrung führt ihn zu der Herrin des magischen Schachbretts, für die P. augenblicklich entflammt. Sie bittet ihn, ihr den Kopf des weißen Hirschs zu bringen, ein Auftrag, aus dem sich eine Verkettung von Abenteuern ergibt. Es stellt sich heraus, daß die Tochter des Fischerkönigs ein Verwirrspiel mit P. trieb, zur Strafe für die versäumte Frage beim Gral. Auch modifiziert der Erzähler P.s Verwandtschaftsverhältnisse 9 . Nicht die Kusine, sondern seine Schwester eröffnet hier P. den Tod der Mutter. Sie geleitet den Bruder zum Einsiedleronkel, der sich ihm als Bruder des Vaters vorstellt. Vom Gral und vom Fischerkönig scheint der Eremit nichts zu wissen, doch gibt er P. religiöse Unterweisung. P.s Wiedereintritt in die Sphäre des Grals wird durch Wunderzeichen eingeleitet: Sturm und Gewitter, ein Lichterbaum, dessen Helligkeit beim Näherkommen zergeht, eine schwarze Hand, die sich durch das Fenster einer Kapelle reckt. Bei Manessier erfahrt P. vom Gralskönig die Geschichte der blutenden Lanze, die Geschichte des Schwerts und bes. des Grals nach

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Robert de Boron (cf. -» Joseph von Arimathia). Bei Manessier wie bei Gerbert läßt sich P. durch den Schmied Trebuet bzw. Trebuchet sein Schwert zusammenlöten, und in beiden Versionen kehrt er zu seiner Freundin Blanchefleur zurück - bei Manessier, um die einstige Geliebte einmal mehr aus Bedrängnis zu erlösen, bei Gerbert indessen, um sie zu heiraten. Allerdings geloben die Brautleute einander in der Hochzeitsnacht, eine enthaltsame Ehe zu führen. Doch eine Stimme vom Himmel verkündet ihnen eine zahlreiche Nachkommenschaft. Dabei spielen die Andeutungen über das künftige Geschick der Nachfahren deutlich auf die Sage vom Schwanenritter an. Indem Manessier P. am Feind des Gralsgeschlechts Rache üben läßt und ihn in Kämpfe mit dem Teufel verwickelt, verleiht er ihm Züge einer geistlichen Militanz. Zuletzt heilt P. den Gralskönig, und dieser erkennt ihn als seinen Schwestersohn. Nach dessen Tod wird P. von Artus zum neuen Gralskönig gekrönt. Doch am Ende verläßt P. die Welt und unternimmt in der Wildnis ein geistliches Studium. Er beendet seine Tage als Priester. Zusammen mit seiner Seele werden Gral und Lanze in den Himmel entrückt. Der sog. Didot-Perceval10 ist in zwei Fassungen überliefert und vielleicht bald nach 1200 entstanden: damit wäre er das früheste wichtige Zeugnis frz. Prosa. Die Erzählung ist hier Teil eines Zyklus; dem Perceval voraus gehen die Prosaversion von Roberts de Boron Gralsgeschichte und dessen Merlin, auf ihn folgt eine kurze Morl Artu. Der Perceval-Teil bietet den dritten Teil der Gralstrilogie, die Robert de Boron angekündigt, aber wohl nicht geschrieben hat. Für P.s Biogr. setzt der anonyme Erzähler Chretiens Version voraus, für P.s Abenteuer holt er den größten Teil des Materials aus der Forts, des Wauchier de Denain; was das Programm der Handlung betrifft, versucht er die Vorgaben des Robert de Boron zu erfüllen. P. ist in dieser Fassung kaum einfältig, auch wird er frühzeitig in seine Rolle des Erwählten eingeweiht, wobei der Zauberer Merlin eine Rolle spielt. Allerdings ist P. anmaßend, indem er am Artushof, kaum daß er einiges Ansehen gewonnen hat, den gefährlichen Sitz (Mot. Η 41.9) einnimmt. Der Stein spaltet sich zum Zeichen, daß der Held noch nicht der beste Ritter in der arthurischen Ord-

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nung ist und zugleich noch nicht würdig, die Erlösung des Gralskönigs zu vollbringen. Auch hier kehrt P., begleitet von seiner Schwester, bei seinem Einsiedleronkel, einem Verwandten väterlicherseits, ein, jedoch bevor er zum ersten Mal zum Gral gelangt. Die Schuld am Tod der Mutter ist von geringem Belang, gewarnt wird vor der Sünde der Fleischeslust. Hier schlägt der Einfluß Roberts de Boron durch, der die Sünde der luxuria verdammt. So bekehrt sich P , der zu Beginn der Erzählung Turniere im Dienst schöner Damen geritten war, im Laufe seiner Karriere zu einem keuschen Leben. Beim Gral versagt P. denn auch nicht wegen seiner Sündhaftigkeit, sondern weil er als Ritter noch nicht vollkommen genug ist. Sieben Jahre lang irrt P. durch die Welt auf der Suche nach Abenteuern und vollbringt Wundertaten; er schickt in der Zeit über 100 gefangene Ritter an den Artushof, kann aber den Hof des Fischerkönigs nicht finden und vergißt Gott; ein zweites Mal kehrt er beim Einsiedler ein, wobei dieser vom Tod der Schwester erfährt. Diesmal beichtet er und bekommt die Absolution. Schließlich erlöst er den Großvater, indem er die bei Chretien vorgeschriebene Frage abwandelt: Die Frage nach der blutenden Lanze wird durch ihre Identifikation mit der Longinuslanze (-> Kreuzigung) beantwortet, die Frage nach dem Gral durch dessen Identifikation mit dem Joseph von Arimathia anvertrauten Behältnis mit -> Christi Blut. In der anonymen Queste del Saint Graal (1225-30) 1 1 , dem vierten Teil des Prosa-Lancelot-Zyklus (-• Lancelot), ist P. nicht mehr der beste Ritter der Welt, sondern einer von drei auserwählten Helden, welche die Suche nach dem Heiligen Gral vollenden. Obwohl P. hier das Verlassen der Mutter durch einen Akt der Täuschung erreicht, wird sein Vergehen in eine spirituelle Qualität umgedeutet: Er hat die Mutterbindung zugunsten der brüderlichen Liebe in der Gemeinschaft der Artusritter aufgegeben. Das Werk enthält durchweg typol. Bezüge und bietet regelmäßig eine geistliche Allegorese des Erzählten. Zwar kommt auch hier die Heilung des Gralskönigs vor; dennoch ist das eigentliche Ziel der Suche lediglich, den Gral zu sehen. Entscheidend ist nicht das Erraten der richtigen Frage oder das Bestehen einer magischen Probe, sondern der Grad der

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Vollkommenheit des Gralssuchers. P.s Erprobung besteht in einer sexuellen Versuchung. Bezeichnenderweise besteht er sie dank seiner Einfalt. Der Ritter Bohort kennt die geschlechtliche Liebe, lebt aber enthaltsam; P.s Keuschheit ist die kindliche Unschuld. Vollkommen rein ist nur Galahad, der makellose Sohn des der fleischlichen Liebe verfallenen Lancelot. Die Ritterschaft der drei Erwählten ist von geistlicher Militanz geprägt. Eine Weile segeln die Gefährten, in der Begleitung von P.s Schwester, auf einem mysteriösen, einst von Salomo eingerichteten Schiff. Nachdem die Schwester ihr -» Blut für eine Lepröse (-> Aussatz) geopfert hat, fährt das Schiff mit der Toten allein über das Meer. Bohort wie P. wird eine Vision des Grals zuteil; doch allein der perfekte Ritter Galahad verdient den letzten Grad mystischer Offenbarung. Der Perlesvaus, Werk eines anonymen Autors, wird auf 1230-40 oder 1200-10 datiert. Er bietet auf seine Weise eine Forts, von Chretiens Werk. Es beginnt damit, daß P.s -> Schweigen die Krankheit seines Mutterbruders, des Fischerkönigs, verursacht und König Artus derart affiziert, daß er seine königlichen Tugenden vergißt. Ähnlich wie in Wolframs P. ist der Gralsheld hier in einen großangelegten Verwandtschaftszusammenhang eingebettet. Ein böser Mutterbruder macht dem Fischerkönig das Gralserbe streitig und befehdet P.s verwitwete Mutter. Verloren ist auch P.s väterliches Erbe. Auch hier spielen neben dem rechtmäßigen Erben und erwählten Erlöser zwei andere Gralshelden eine Rolle: Gauvain, der beim Gral angesichts der Blutstropfen in Schweigen versinkt, und Lancelot, der wegen seiner sündigen Liebe zur Frau des Königs Artus den Gral nicht zu sehen bekommt. Einen gewissen Handlungsspielraum hat auch P.s Schwester inne; sie macht sich auf, den Bruder als Beistand der .bedrängten Familie zu finden. P. tritt in dieser Version weniger als Suchender auf denn als Ziel der Suche der Nebenhelden, denen er sich immer wieder entzieht. Bei den Rittertaten geht es durchweg darum, Übeltäter, meist Feinde des christl. Glaubens, zu bestrafen. Die Racheaktionen sind außerordentlich blutrünstig und grausam (-• Kannibalismus, Enthauptung). P. wird in dieser Fassung den hilfsbedürftigen Gralskönig nicht erlösen, sondern den Usurpator besiegen und

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den Gral erobern. Eine Weile führen P., die Mutter und die Schwester auf der Gralsburg ein heiligmäßiges Leben. Nach deren beider Tod wird P. von einem weißen Schiff abgeholt und verschwindet, so daß kein Sterblicher zu sagen weiß, was aus ihm geworden ist. Die norw. Parcevals saga (1230—50)12 kennt als einzige Vorlage Chretiens Perceval, dessen Handlung sie folgt; konsequent getilgt sind allerdings dessen rhetorische Einkleidung und Reflexivität. Anschließend an den Besuch beim Einsiedler bekommt die Erzählung eine dem Stil der Saga entsprechende Abrundung, indem P. Blankifleur heiratet und der berühmteste Ritter seiner Zeit wird. Die älteste Hs., die die walis. Prosaerzählung Peredur13 überliefert, wird auf das Ende des 13. Jh.s datiert. Während die Forschung früher annahm, daß diese Erzählung und Chretiens Perceval auf eine gemeinsame Quelle zurückgehen, neigt man heute dazu, in ihr eine Bearb. von Chretiens Werk zu sehen. Es sind auch Rezeptionsspuren der PercevalForts.en festzustellen. Interessant ist die Gestaltung der P.-Kindheit. Der ritterliche Lehrer des Helden ist ebenso sein Mutterbruder wie der Gralskönig; die Züge dieser beiden Figuren zeigen Überlagerungen. In der Gralsszene hat die Lanze riesenhafte Ausmaße: drei Bäche von Blut fließen von ihrem Schaft zu Boden. Der Gral ist ein großer Teller, auf dem der Kopf eines Mannes im Blut liegt. In der Blutstropfenszene kommt ein Rabe hinzu, so daß P. über der Weiße des Schnees, der Röte des Bluts und der Schwärze des Raben ins Sinnen gerät. Nach dieser Szene vermehren sich die von Chretien abweichenden Episoden. Die Begegnung mit einem Priester an einem Karfreitag wird erwähnt. P. findet seinen verstümmelten Onkel ein zweites Mal, es ist ihm bestimmt, diesen zu rächen. Die Erzählung endet damit, daß P. alle Hexen des Landes tötet. Die mittelengl. Romance off Sir Percyuell off Gales14, in Stanzen mit Schweifreim gedichtet, ist vermutlich in der Mitte des 14. Jh.s entstanden. Bereits P.s Vater, dem hier König Artus seine Schwester zur Frau gibt, trägt diesen Namen. Beim Turnier anläßlich der Hochzeit besiegt Sir P. den roten Ritter, beim Turnier zu Ehren der Geburt des Sohnes wird der Vater vom roten Ritter getötet. Bes. Aufmerksamkeit widmet die Erzählung durchweg den

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Folgen des Waldlebens für den Sohn der Witwe. Am Artushof stellt sich P. auf die Frage nach seinem Namen als .meiner eigenen Mutter Kind' vor. Indem er den roten Ritter erschlägt, nimmt er - gemäß einer Prophezeiung, aber unwissentlich — Rache für den Tod des Vaters. Die Erzählung betont, daß P. sowohl dem Mutterbruder (Artus) als auch dem Vaterbruder (dem ritterlichen Lehrer) begegnet ist, ohne sie zu erkennen. Auch das Problem des Verwandtenmords wird thematisiert. Zur Verteidigung der von einem Sultan bedrängten Lady Lufamour eilen auch Gawein und Artus herbei; sie halten ihrerseits den in der Rüstung des roten Ritters steckenden Verwandten für einen Feind, und es kommt fast zum Kampf mit Gawein, dem anderen Schwestersohn des Königs Artus, der durch eine Erkennungszene abgewendet wird. König Artus schlägt P. zum Ritter und verleiht ihm den Namen ,Sir Perceval der Waliser'. Nach dem Sieg über den Sultan nimmt P. Lufamour zur Frau. In dieser P.-Geschichte kommt der Gral nicht vor. An dessen Stelle in der traditionellen Handlungssequenz folgt eine Abenteuerkette, die zur Auffindung der Mutter führt. Durch falsche Indizien überzeugt, P. sei getötet worden, verfällt die Mutter dem Wahnsinn und verbirgt sich in der Wildnis. P. streift die Insignien der Kultur (Pferd, Rüstung) ab, macht sich zu Fuß auf, findet die Mutter, die sich in wilder Wut auf ihn stürzt, heilt sie durch einen Trank und führt sie nach Hause. Später wird er im Heiligen Land getötet.

I Wolfram von Eschenbach: P. ed. K. Lachmann. B./ Lpz. 6 1926, V. 140,16-19; Perlesvaus. Le Haut Livre du Graal 2. ed. W. A. Nitze/A. T. Jenkins. Chic. 1937, V. 457-463, 2930-2932; Gerbert de Montreuil: La Continuation de Perceval 1 - 2 . ed. M. Williams. P. 1922/25; t. 3. ed. M. Oswald. P. 1975, V. 16221 sq.; Heinrich von dem Türlin: Diu Cröne. ed. G. H. Scholl. Stg. 1852, V. 389-6391; cf. auch Richard Wagners „Parsifal" (2. Aufzug). - 2 Chretien de Troyes: Der Percevalroman. ed. M. Schöler-Beinhauer. Mü. 1991. - 3 cf. Motivauflistungen bei Guerreau-Jalabert. — 4 Cosquin, E.: Le Sang sur la neige. In: id.: Les Contes indiens et l'Occident. P. 1922, 218-246; Grisward, J.: ,Com ces trois Goutes de sane furent, Qui sor le Blance noif paurent.' In: Festschr. F. Lecoy. P. 1973, 157 - 164. - 5 Neugart, I.: Wolfram, Chretien und das Märchen. Ffm. 1996. - 6 Meiners, I.: Schelm und Dümmling in Erzählungen des dt. MA.s. Mü. 1967. - 7 Roach, W. (ed.): The Continuations of the Old French ,Perceval' of Chretien de Troyes 1 - 5 . Phil. 1949-83, hier t. 4: The Second Continuation. Phil. 1971 (Wauchier de Denain). — 8 ibid., t. 5: The Third Continuation by Manessier. Phil. 1983. - 9 Bogdanow, F.: The Transformation of the Role of Perceval in Some Thirteenth Century Prose Romances. In: Studies in Medieval Literature and Language in Memory of F. Whitehead. Manchester 1973, 4 7 - 6 5 . - 10 Roach, W. (ed.): The Didot Perceval, According to the Mss of Modena and P. Phil. 1941. -

Nachdem der P.-Mythos — wie die arthurische Thematik überhaupt — im 16. Jh. in Vergessenheit geriet, wurde er im Zuge der romantischen Wiederentdeckung des MA.s wieder belebt. 1831 vollendete Friedrich de la Motte -» Fouque das Rittergedicht Der Perceval, das allerdings erst seit 1997 im Druck zugänglich ist. Anhaltende Berühmtheit erlangte der Stoff in der musikalischen Bearb. Richard ->• Wagners, dessen Parsifal auch die weitere Rezeption der Gralsthematik beeinflußte 15 . Seit den 80er Jahren des 20. Jh.s sind einige zeitgenössische Verarbeitungen des P.-Themas zu verzeichnen: Peter Handkes Spiel vom Fragen (1989), Tankred Dorsts Drama P. (1990), Walter Muschgs Roman Der rote Ritter (1993)' 6 .

Würzburg

II Pauphilet, A. (ed.): La Queste del Saint Graal. Roman du XHIe siecle. P. 1923. - 12 Die Saga von Parceval und die Geschichte von Valver. Übers. R. Simek. Wien 1982. - 13 Kelt. Erzählungen vom Kaiser Arthur, ed. H. Birkhan. Wien 1989. - 14 Corzi, B. (ed.): Sir Perceval of Galles. Turin 1994. - 15 cf. Schulze, U.: Stationen der P.-Rezeption. In: MA.Rezeption. ed. P. Wapnewski. Stg. 1982, 555-580. 16 Mertens, V.: Der dt. Artusroman. Stg. 1998.

Elisabeth Schmid

Pastor -> Pfarrer

Pate, Patin 1. Historisches - 2. Brauch - 3. Erzählüberlieferung

1. H i s t o r i s c h e s . P.nschaft ist eine vor allem christl. Form künstlicher bzw. geistlicher' Verwandtschaft 1 , die auch von vor- und außerchristl. Vorstellungen geformt wurde 2 . P.n haben seit Beginn der Taufen von Säuglingen (ca 2 . - 5 . Jh.) und dem kirchlich propagierten Ausschluß der Eltern vom P.namt die

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Pate, Patin

Aufgabe, für das -• Kind zu antworten, seine geistliche Erziehung zu überwachen und seine Interessen zu vertreten bzw. seine Zukunft zu sichern, falls es verwaist (-• Waise) 3 . Möglichst viele und/oder einflußreiche P.n dienten armen Eltern zur materiellen Absicherung, reichen zu prunkvollen Tauffeiern oder politischen Allianzen 4 . In früheren Jh.en sollte die Wahl je eines Vertreters aus der engeren Verwandtschaft, oft aus der Großelterngeneration, helfen, die Beziehungen zwischen beiden -» Familien zu intensivieren und zu stabilisieren, während beim gegenwärtigen P.nwesen eher Freundschaften gepflegt und jüngere Leute bevorzugt werden 5 . P. (lat. patrinus, compater) und das veraltete dt. Wort Gevatter betonen den gewollt familiären Charakter. Die Kirche postulierte daher eine Reihe von Eheverboten (ζ. B. für P. und Täufling, P. und Patin [Pin]) und erließ Verordnungen gegen sog. Kuppelgevatterschaften (zu P.n wurden paarweise bevorzugt Ledige gebeten), was sich auch in Sagen und Volkserzählungen niedergeschlagen hat (Mot. Q 242.1) 6 . Bis zum 9. Jh. erlaubte die Kirche nur einen P.n; im Spätmittelalter wurden zwei, drei und mehr zugestanden, eine Zahl, die einerseits viele Eltern aus materiellen Gründen weit überschritten. Andererseits hatten bes. Vermögende eine Vielzahl von Pnschaften inne, da das Ablehnen einer Gevatterbitte als schwere Sünde und Beleidigung galt. Die drei (ersten) P.n standen für die hl. Tugenddreiheit Glaube, Liebe, Hoffnung, und üblicherweise hatten zwei von ihnen das gleiche Geschlecht wie der Täufling 7 . Von der Kirche nicht vorgesehen war die auffallende Bedeutung und Wichtigkeit von Frauen im Pnamt 8 . Neben bes. Gaben für den Täufling und eventuell seine Mutter, die von ein paar Windeln im rumän. Harbachtal bis zum Gegenwert von einigen 100 Schweizer Franken reichen konnten, war der Hauptpate oft für den -» Namen des Täuflings zuständig und verlieh ihm bei der Taufe oft auch den eigenen Namen; in der Normandie bedeutete noch 1939 der Ausdruck ,nommer un enfant' P. bzw. P.in sein 9 . Wohl aufgrund der engen Beziehungen zwischen P. und Pnkind bis in die 1. Hälfte des 20. Jh.s kam es vielerorts zur Vermischung der Bezeichnungen von P. und Pnkind (ζ. B. Pet-

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ter bzw. Goth, in der Schweiz Taufgötti für P.n und Pnkinder), während das Wort Gevatter eine Bedeutungsausweitung bis hin zu Nachbar erfuhr und, ähnlich wie Vetter, auch negative Eigenschaften wie Beschränktheit oder Engherzigkeit beinhalten konnte 10 . Entschieden säkularisiert erscheint die P.nschaft in der Gegenwart, wenn ζ. B. der dt. Bundespräsident ab dem 7. Kind eine symbolische P n s c h a f t " oder eine Schule die Pnschaft für die Schule einer Partnerstadt, bes. in notleidenden Gebieten, übernimmt. 2. B r a u c h . Da P.stehen vom Teufel losbindet bzw. einen Platz im Himmel sichert, hoben Reiche die Kinder Armer aus der Taufe, und umgekehrt baten Vertreter des Adels Bettler ,an Jesus Christus Statt' zu Gevatter 12 . Die Gevatterbitte, meist gleich nach der Geburt des Kindes, galt als schwerer Gang für den jungen Vater, bes. bei großer Kinderzahl, verlangte spezielle Grußformeln oder sogar einen feierlichen Vortrag in Versform; danach reichte man ihm den .Gevatterschnaps' 13 . Schwangere und Witwen wurden nicht gefragt, um das Neugeborene nicht zu gefährden 14 . Viele -> Tabus regelten bes. den Kirchgang: Wenn ζ. B. die P.in sich umsah oder Fragen stellte, wurde das Kind neugierig; das Brechen der ,Gevattersemmeln' oder des Ritualkuchens beim Taufessen garantierte rasches Gehenlernen oder Wachsen 15 . Das Ein- oder Angebinde im Gevatterbrief bewahrte den Säugling vor späterer Armut und mußte blank geputzt oder neu sein wie in Wilhelm -> Hauffs Kunstmärchen Das kalte Herzie. Im orthodoxen Südosteuropa war die Gevatterschaft bis ins 20. Jh. hinein eine wichtige, mit komplexem Brauchsystem verbundene Institution, und sie spielt ζ. T. noch in der modernen Volkskultur eine Rolle. In Bulgarien etwa waren bei erblicher Gevatterschaft (kumstvo) bes. Bräuche üblich, die einen Wechsel des Gevatters erlaubten: vor der Taufe das erste Haarschneiden, die sog. Haarschur, nach der Taufe das ,Stehlen des Kindes' und die Verpfändung des Kindes'. Bei dem Brauch der Haarschur ζ. B. wurde, vor allem wenn Kinder in der Familie des Neugeborenen starben, das Kind an einem Kreuzweg ausgesetzt und erhielt als P.n die erste (auch andersgläubige) Person, die es fand und schor 17 .

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Pate, Patin

Zwischen P.nkindern und P.n gibt es nach dem Volksglauben sympathetische Beziehungen und charakterliche Ähnlichkeiten; mit dem Namen ,erbt' das Kind die geistigen und körperlichen Eigenschaften. Der hist. Vorbildfunktion des P.n entspricht in Sagen, Märchen und Legenden eine ,Wundermacht' geistlicher Verwandtschaft, die frommen P.nkindern eine -> Erlösung bedrohter oder verzauberter P.n ermöglicht 18 . Bräuche und Volksglaube rund um die P.nschaft sind in Europa nicht mehr so präsent oder gar bewußt, aber viele alte Vorstellungen spiegeln sich in Märchen und Volkserzählungen mit P.n als Handlungsträgern. 3. E r z ä h l ü b e r l i e f e r u n g . Unter den Tiermärchen ist bes. AaTh 15: Gevatter stehen zu nennen, in dem der -» Wortwitz zentral ist: Unter dem Vorwand Gevatter stehen zu müssen, verläßt die Katze die Maus, frißt heimlich den gemeinsamen Vorratstopf auf und nennt jeweils die Namen der angeblichen P.kinder, wie ζ. B. Hautab, Halbaus und Ganzaus ( K H M 2) 19 . In anderen Tiermärchen, wie ζ. B. AaTh 4: cf. Kranker trägt den Gesunden (ζ. B. K H M 74), kann auch die List eines wirklichen P.n im Mittelpunkt stehen, der ein Elternteil des Täuflings betrügt. In Zaubermärchen verleihen P. und P.in dem Kind bei der Taufe den (sprechenden) Namen 2 0 , bringen ihm ein Tier (Kalb, Kuh; versprechen ein Zauberpferd) oder ein unscheinbar wirkendes, aber zukunftsträchtiges P.ngeschenk (Schlüssel, Apfel aus Holz, kleine Steine), geben ihm, wenn es älter ist, Rat oder Schutz 21 . Sie können aber auch wie in AaTh 334: -> Haushalt der Hexe dämonische Gestalten sein, die dem P.nkind gefahrlich werden 22 . Für bestimmte Erzähltypen sind P.n spezifisch. AaTh 332: Gevatter Tod beginnt regelmäßig mit der verzweifelten P.nsuche eines armen vielfachen Vaters. Oft wird -> Gott als P. abgelehnt, da er nicht gerecht sei, hingegen der personifizierte -> Tod ausgewählt, der dem Kind oder dem Vater die Gabe zu heilen verleiht; in rom. und slav. Texten handelt es sich um eine P.in, da Tod in diesen Sprachen ein Femininum ist 23 . Häufig sind P.n, die außerhalb der Familie gesucht werden müssen oder die sich in einer Notlage der Eltern selbst anbieten, alte, ärmlich wirkende Menschen, bei deren

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Anblick die feinen Leute in der Kirche die Nase rümpfen, Jenseitige im schlichten Gewand, Gott und/oder Petrus, die Jungfrau Maria oder die Sonnenmutter, bisweilen ein -» Dämon, eine Hexe, der Teufel 24 . Einen Sonderstatus haben schöne, reiche -» Feen (Kap. 3; Mot. F 311.1 ) 25 . Ein Prinz, König oder Zar wird, zunächst oft inkognito, P. des Jungen im Erzähltyp AaTh 531: -> Ferdinand der treue und F. der ungetreue, von dem bes. viele frz. und auch slav. Var.n vorliegen. Auf der Reise zum königlichen P.n entwendet der Gegenspieler dem Helden das Erkennungszeichen oder zwingt ihn zum Rollentausch 26 . Als umsichtige und schützende Helferin der jungen Heldin tritt die (Feen-)P.in in AaTh 510 Α - B : -» Cinderella und in AaTh 511: —• Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein auf. In AaTh 410: -> Schlafende Schönheit verleihen meist sieben geladene Feen ihrer kleinen P.ntochter Wundergaben wie Schönheit, Geist und Anmut 2 7 . Der Heranwachsenden ist die P.in Ratgeberin in Martin -» Montanus' Erdkühlein oder Lehrmeisterin wie in Musäus' Nymphe des Brunnens', heiratet jedoch der Vater die P.in seiner Tochter, dann handelt diese als böse Stiefmutter 28 . In AaTh 652: - Le Prince de Beaumont, in dt. Kunstmärchen ζ. B. bei Christoph Martin ->• Wieland (Prinz Biribinker), Clemens -> Brentano (Fanferlieschen Schönefüßchen mit Sternen als P.n) und Wilhelm -> Hauff (Das Wirtshaus im Spessart)32.

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Pate, Patin

Im Schwank wird der P. (Gevatter) als lästiger Schmarotzer angeprangert, der sich seit der Taufe durchfüttern läßt, und die P.in (Gevatterin) wegen zu großer ->• Geschwätzigkeit 3 3 . Eulenspiegel wird dreimal getauft, weil seine v o m Kindelbier betrunkene ,Tauffgöttel' ihn in eine Lache fallen läßt. Witz, Lied, Sprichwort (,Gevatterschaft ist e Ehr, m a c h t aber den Beutel leer') und legendenartige Erzählungen setzen sich auf je eigene Weise mit Erscheinungen und A u s w ü c h s e n der P.n- und Gevatternschaft auseinander 3 4 . In der Sage stehen M e n s c h e n bei Unterirdischen, Zwergen oder Wasserwesen P. (oder umgekehrt: M o t . F 451.5.6), mißachten aber die P.ngabe, die sich erst daheim in G o l d verwandelt (-» H e b a m m e ) 3 5 . D ä m o n i s c h e Macht hat die Hexenpatin, der seit einer unerklärlichen Erkrankung des P.nkindes -» Schadenzauberei nachgesagt wird, und die b ö s e alte P.in, die ein Engegefühl im Schlaf bewirkt, während der Scharfrichter als P. sich als guter Christ zu erkennen gibt 3 6 . Ein sechsjähriger P.nsohn kann seine P.in, eine ehrsame Jungfrau, retten, o b w o h l sie öffentlich als H e x e abgestempelt ist 3 7 . D a ß ein Priester Kinder in Teufels N a m e n tauft, merkt ein studentischer P , der Latein versteht, und erstattet Anzeige 3 8 . Wer einen P.n beim Totenvolk hat, entgeht der nächtlichen Gefahr, u n d umgekehrt werden gleich nach der Taufe verstorbene P.nkinder „die schönsten Engelein" u n d k ö n n e n als Fürsprecher für einen frevelhaften P.n Wundertaten vollbringen, vorausgesetzt, sie haben v o n i h m ein P.ngeschenk erhalten 3 9 . 'Evangel. Kirchenlex. Göttingen 1959, 81; Felmy, K. C.: Die orthodoxe Theologie der Gegenwart. Darmstadt 1990, 177-187; Hämmerle, E./Ohme, H./Schwarz, K.: Zugänge zur Orthodoxie. Göttingen 1988, 74; Vries, S. P. de: Jüd. Riten und Symbole. Wiesbaden 5 1988, 183. - 2 Wenner, J./Beitl, K.: P.n. In: LThK 8 ( 2 1963) 166-168, hier 167; Kummer, B.: Gevatter, P. In: H D A 3 (1930-31) 789-804, hier 790 sq. - 3 Jussen, B.: P.nschaft und Adoption im frühen MA. Künstliche Verwandtschaft als soziale Praxis. Göttingen 1991, 138, 146, 149; Daschner, D./ Paarhammer, H./Spendel, S./Beitl, K.: P., P.in. In: LThK 7 ( 3 1998) 1450-1452; Bouteiller, M.: Tradition folklorique et „parentes paralleles". Le couple parrain-marraine et ses implications dans les lignees familiales. In: Festschr. C. Levi-Strauss 1. P. 1970, 153-161, hier 155, not. 9; Fojtik, K.: Die Inhaltsund Funktionswandlungen der Gevatterschaft in Böhmen, Mähren und Schlesien vom XIV. bis zum

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XX. Jh. In: Kontakte und Grenzen. Festschr. G. Heilfurth. Göttingen 1969, 337-343, hier 339 sq. - 4 Uther, H.-J.: Märchen vor Grimm. MdW 1990, 298; Rubi, C.: Taufe und Taufzettel im Bernerland. Wabern 1968, 15; Lynch, J. H.: Godparents and Kinship in Early Medieval Europe. Princeton 1986, 75, 173 (Karl d. Gr., Papst Hadrian I.); Jussen, Β.: P.nschaft. In: Lex. des M A . s 6 . Stg./Weimar 1999, 1779 sq. - 5 Simon, M.: Vornamen wozu? Taufe, P.nwahl und Namensgebung in Westfalen vom 17. bis zum 20. Jh. Münster 1989, 5 1 - 5 4 ; Bouteiller (wie not. 3) 154; Staudt, R.: Studien zum P.nbrauch in Hessen. Darmstadt 1958, 29. - 6 Evangel. Kirchenlex. (wie not. 1); Lynch (wie not. 4) 335; Staudt (wie not. 5) 29 sq.; H D A 3, 791, 795; Büchli, Α.: Mythol. Landeskunde von Graubünden 1. ed. U. Brunold-Bigler. Disentis 21989, 361; cf. Tubach, 7 2 num. 2333. LThK 8 ( 1963) 166; Staudt (wie not. 5) 31, 33, 35 sq. (im Sauerland Dutzende von P.n, im Barock bis zu 50); Rubi (wie not. 4) 30. 8 H D A 3, 791; Bouteiller (wie not. 3) 155; Jussen (wie not. 3) 163 (das .weibliche' Element bei der Taufe stellte laut kirchlichen Zeugnissen die Ecclesia als Mater). - 9 D W b . 7, 1500 sq.; Rubi (wie not. 4) 29; Schullerus, P.: Rumän. Volksmärchen aus dem mittleren Harbachtal. ed. R. W. Brednich/I. Talo§. Buk. 1977, 76; Simon (wie not. 5) 4 6 - 5 2 ; cf. Gadient, R.: Taufe - Taufnamen - Taufp.n. Stand und Entwicklung in Flums SG. In: Schweizer Vk. 78 (1988) 6 5 - 7 5 , hier 67; Bouteiller (wie not. 3) 158. 10 Staudt (wie not. 5) 49; Rubi (wie not. 4) 34; DWb. 7, 1500; Gadient (wie not. 9) 73; DWb. 4, 4651 sq.; cf. dagegen die Verhältnisse im mähr.-slovak. Oberland bei Fojtik (wie not. 3) 337. " Mittig vom Bundespräsidialamt in Berlin zur „Übernahme der Ehrenpatenschaft durch den Bundespräsidenten", Stand 27.11.2000. - 1 2 H D A 3 , 795; Staudt (wie not. 5) 31; Fojtik (wie not. 3) 340. 13 Staudt (wie not. 5) 3 9 - 4 3 ; Rubi (wie not. 4) 27 sq. (Beispiel aus dem 17. Jh.), 6 6 - 7 0 (Gevatterbitte bei J. Gotthelf). - 14 Bouteiller (wie not. 3) 155; H D A 3, 792. - 15 H D A 3, 797; Rubi (wie not. 4) 89 (bei J. Gotthelf); DWb. 7, 1501; Sebillot, P.: Le Folk-lore de France 4. P. 1907, 147; Bouteiller (wie not. 3) 154, not. 3; Schauerte, H.: Volkskundliches zur Taufe. In: Europ. Kulturverflechtungen im Bereich der volkstümlichen Uberlieferung. Festschr. B. Schier. Göttingen 1967, 4 1 - 6 1 , hier 4 6 - 4 8 . - 1 6 H D A 3 , 801 sq.; Staudt (wie not. 5) 77; Hauff, W.: Märchen, ed. H.J. Uther. MdW 1999, 394; cf. Musäus, J . K . Α.: Volksmärchen der Deutschen, ed. N. Miller. Mü. 1976, 284, 287 sq. - 17 Gencev, S.: Phänomen, hist. Wurzeln und Entwicklung der traditionellen volkstümlichen Gevatterschaft bei den Bulgaren. In: Ethnologia Slavica 6 (1974) 117-136; hier 117 sq., 121; Palosija, Dj.: Das Brauchtum der Haarschurpatenschaft bei den Südslaven und seine anderwärtigen Entsprechungen. In: Zs. für Balkanologie 11 (1975) 5 9 - 6 5 , hier 59 sq.; ead.: Zu den Haarschurbräuchen bei den Slawen. In: Ethnologia Slavica 8/9 (1976/77) 193-202, hier 193; cf. auch Weibust, K.: Ritual Co-

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Pathelin

parenthood in Peasant Societies. In: Ethnologia Scandinavica (1972) 101-114, hier 108 sq. 18 HDA 3, 796-798, 803 sq.; Staudt (wie not. 5) 22 sq. (Redensart); cf. Hagen, F. H. von der (ed.): Gesammtaben teuer 3. Stg./Tübingen 1850, num. 66, bes. p. 274 (Helmbrecht). - 19 Ambainis, O.: Lett. Volksmärchen. B. 1982, num. 18; Pomeranzewa, E.: Russ. Volksmärchen. Wiesbaden 1964, num. 2; Köhler-Zülch, I.: Bulg. Märchen im balkan. Kontext und ihre Stellung in der internat. Erzählüberlieferung. In: Kulturelle Traditionen in Bulgarien, ed. R. Lauer/ P. Schreiner. Göttingen 1989, 185-201, hier 193 sq. - 20 von Beit 2, 374; cf. Klaar, M.: Tochter des Zitronenbaums. Kassel 1970, num. 9 (griech.); Märchen aus Frankreich, den Niederlanden und der Schweiz, ed. K. Rauch. Zürich s. a., 17-19; Ranke 2, 180 sq. (num. 3). 21 Schullerus (wie not. 9) num. 40; Busch, W.: Sämtliche Werke 8. ed. O. Nöldeke. Mü. 1943, 98-104; KHM 126; Musäus (wie not. 16); Kreutzwald, F. R.: Estn. Märchen, ed. A. Kaidja. Talinn 1981, num. 11; Montanus/Bolte, 260-266 (Erdkühlein); Wildhaber, R./Uffer, L.: Schweizer Volksmärchen. MdW 1971, num. 54. - 22 Bünker, J. R.: Schwänke, Sagen und Märchen in heanz. Mundart. Lpz. 1906, num. 46; Roth, 48 sq. - 2 3 ζ. B. Jahn, U.: Volksmärchen aus Pommern und Rügen, ed. S. Neumann/K.-E. Tietz. Bremen/Rostock 1998, num. 9; Karlinger, F./Greciano, G.: Prov. Märchen. MdW 1974, num. 44; Haiding, K.: Österreichs Märchenschatz. Wien 1965, num.248. — 24 Badker, L.: Dän. Volksmärchen. MdW 1979, num. 7; Nemcovä, B.: Das goldene Spinnrad [...]. Lpz. 1967, num. 13 (tschech.); Busch (wie not. 21); Tillhagen, C. H.: Taikon erzählt Zigeunermärchen. Zürich 1948, 115-121 (Roma-Märchen aus Schweden); Meier, H./Karlinger, F.: Span. Märchen. MdW 1961, num. 24; Asbj0rnsen, P. C./Moe, J.: Norw. Märchen. Übers. F. Bresemann. Nördlingen 1985, num. 8; Moser-Rath, E.: Dt. Volksmärchen. MdW 1966, num. 57; Soupault, R.: Frz. Märchen. MdW 1963, num. 31 (Hexe); Bechstein, L.: Dt. Märchenbuch. Lpz. [1845], 68-76 (Teufel), 88-91 (Tod); zu den dämonischen Zügen der P.in cf. Scherf, 920, 931 sq., 534 sq. - 25 ζ. B. Karlinger, F./Laserer, E.: Bask. Märchen. MdW 1980, num. 3; Le Prince de Beaumont, J.-M.: Märchen von dem Prinzen Fatal und dem Prinzen Fortunat. In: Das Kabinett der Feen. ed. F. Apel/N. Miller. Mü. 1984, 727-735; Diederichs, U.: Who's who im Märchen. Mü. 1995, 98-100. - 26 Delarue/Teneze 2, 316-321; Cosquin 1, num. 3; Afanas'ev, num. 185; zur Armut der Eltern als Vorbedingung für das Erscheinen des wunderbaren P.n cf. von Beit 1, 214 sq.; BP 3, 31; Cosquin 2, num. 73 (hier sind Gott, P. und Maulesel identisch; ein Zauberpferd ist das übliche P.ngeschenk in diesem Erzähltyp); Megas, G.: Griech. Volksmärchen. MdW 1965, num. 27; Luzel, F. M.: Contes populaires de Basse-Bretagne 1. P. 1887, 40-65 (königlicher P. wird nach der Taufe zum Widersacher des Helden). - 27 Delarue/Teneze 410; Perrault, C.: Contes de ma mere l'Oye. ed. A. Coe-

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roy. P. 1948, bes. 153 sq., 190; Scherf, 288 (nennt die Feenpatin in Perraults „Peau d'äne" eine „Ablösungs-Deckfigur für die Mutter"). - 28 Montanus/ Bolte, 260-266; zum doppeldeutigen' Rat der P.in cf. von Beit 1, 168 sq., 172 sq.; Scherf, 306-309 (Mme d'Aulnoys „Finette Cendron"); Musäus (wie not. 16) 293; Nedo, P.: Sorb. Volksmärchen. Bautzen 1956, num. 52 a. — 29 Mode, Η. (ed.): Zigeunermärchen aus aller Welt. Lpz. 1991, num. 60 (slovak. Roma-Märchen); Kerbelyte, B.: Litau. Volksmärchen. B. 1982, num. 73. - 30 Scherf, 852; Roth, 158 sq. (bezeichnet AaTh 710 als „Das Geheimnis der P.in"). 31 Cadic, F.: Contes de Basse-Bretagne. P. 1955, num. 7. — 32 Delarue/Teneze, 432; Klotz, V.: Das europ. Kunstmärchen. Stg. 1985, 97, 208 sq. - 33 Mykytiuk, B.: Ukr. Märchen. MdW 1979, num. 44; Basile, Pentamerone2, 10; KHM 115; Musäus, J . K . Α.: Legenden von Rübezahl. B. 1983, 70 (num. 4); cf. DWb. 4, 4669. - 34 Lindow, W. (ed.): Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel. Stg. 1966, 9-11; Senti, Α.: Anekdoten, Schwänke und Witze aus dem Sarganserland. Mels 1988, num. 328; Zuccalmaglio, A. W. von: Dt. Volkslieder mit ihren Original-Weisen. B. 1840, num. 20; Wander 1, 1641-1643, hier 1643; HDA 3, 799; Afanas'ev, Α. N.: Narodnye russkie skazki 3. ed. L. G. Barag/N. V. Novikov. M. 1985, 287-289 (Dopolnenija, I, num. 1-3); Schott, A. und Α.: Rumän. Volkserzählungen aus dem Banat. ed. R.W. Brednich/I. Talo§. Buk. 1975, num. 29; Djuric, R.: Märchen und Lieder europ. Sinti und Roma. Ffm. 1997, 41 sq. - 35 KHM 39, 2; Bechstein, L.: Neues dt. Märchenbuch, ed. H.-J. Uther. Mü. 1997, num. 7; Cammann, A./Karasek, Α.: Volkserzählungen der Karpatendeutschen. Slowakei. Marburg 1981, 242 sq.; Jegerlehner, J.: Sagen und Märchen aus dem Oberwallis. Basel 1913, num. 85; Grimm DS 47. - 36 Brunold-Bigler, U.: Hungerschlaf und Schlangensuppe. Hist. Alltag in alpinen Sagen. Bern/Stg./Wien 1997, 66-68; Büchli (wie not. 6) t. 1, 137 und 519; ibid. 2 (31989), 743; Eckart, R.: Südhannoversches Sagenbuch. Lpz. s. a., 140 sq. - 37 Kuoni, J.: Sagen des Kantons St. Gallen. St. Gallen 1903, num. 243, 269. - 38 Zender, M.: Sagen und Geschichten aus der Westeifel. Bonn 2 1966, num. 166. - 39 Müller, J.: Sagen aus Uri 1. ed. H. Bächtold-Stäubli. (Basel 1945) Nachdr. Basel 1978, num. 93 a - d , p. 65 (Zitat); Walliser Sagen 1. Brig 1907, 215; Büchli (wie not. 6) t. 1, 420, 505, 590; Wildhaber, R.: Die Sage vom Westerkind. In: Schweiz. Vk. 37 (1947) 102-107.

Gebenstorf

Barbara Gobrecht

Pathelin (AaTh 1585), schwankhafte Erzählung aus dem Themenkreis vom betrogenen -» Betrüger. Der Erzähltyp AaTh 1585 verdankt seine Benennung der frz. Farce de maistre P.

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Pathelin

(anonym verfaßt ca 1464-69) 1 , in der er im Anschluß an AaTh 1525 M: Schaf in der Wiege den 2. Teil darstellt: Ein Beklagter (oft Schuldner) erhält von einem Listigen (Advokat) den Rat, sich vor Gericht verrückt zu stellen oder nur mit einem Tierlaut (Bellen, Blöken) bzw. immer nur dasselbe (Ja; Aha; Nichts; beliebiges Unsinnswort) zu antworten. Als der Beklagte freigekommen ist und der Advokat seinen Lohn fordert, wird er mit der von ihm selbst empfohlenen List abgespeist.

AaTh 1585 geht möglicherweise auf antike Vorbilder zurück und ist zuerst in der arab. Lit. im Hayät al-hayawän (Das Leben der Tiere) des 'Amr ibn Bahr al-Gähiz (gest. 255/ 868) 2 nachgewiesen 3 . Bereits seit dem 12. Jh. ist die Erzählung als Sprichwort 4 in der pers. Lit. bekannt, u. a. im mystischen Lehrgedicht Masnavi-ye ma'navi des Galäloddin Rumi (gest. 672/1273)5; der älteste ausführliche pers. Textbeleg findet sich allerdings erst in der Anekdotensammlung des 'Ali Safi (gest. 939/ 1532). Wahrscheinlich über das Zwischenglied des Persischen ist der Erzähltyp in das Türkische 6 sowie in die Überlieferung des ind. Subkontinents 7 gelangt. In der mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s ist AaTh 1585 sowohl im Orient (und in Afrika) als auch im europ. und davon abhängigen amerik. Kulturbereich verbreitet 8 . Dabei können manche Texte über Zwischenstufen — türk. für den Balkan, arab. für Ost- oder Westafrika 9 - auf den oriental. Überlieferungszweig zurückgehen. Zum überwiegenden Teil wird die Tradierung jedoch auf der Nachwirkung der als .bedeutendster Komödie des Spätmittelalters' 10 bis in die unmittelbare Neuzeit beliebten frz. Farce und auf ihr basierenden anderen Bühnenfassungen 11 beruhen. Woher der Verf. des Maistre P. den Stoff schöpfte, ist nach wie vor nicht eindeutig geklärt. Während für AaTh 1525 Μ als 2. Teil des Schauspiels Parallelen in der antiken lat. Lit. nachgewiesen sind (Macrobius, Saturnalia·, Epigramm des Martial) 12 finden sich engere Analogien zu AaTh 1585 erst in ma. lat. Exempelsammlungen: In der Scala coeli des -> Johannes Gobi Junior (num. 51) wird der Bauer vom Advokaten angewiesen, alles zu leugnen; in der -» Mensa philosophica (4,32) steht zusätzlich der Rat, den Prozeß mit allen nur erdenklichen Mitteln in die Länge zu zie-

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hen 13 . Danach finden sich verwandte literar. Fassungen der Erzählung in ital. (L. Guicciardini) 14 , engl. 15 und dt. 16 Schwank- und Unterhaltungsbüchern bis hin zur europ. Kalenderliteratur des 18./19. Jh.s 17 . Die Var.n aus mündl. Überlieferung sind meist recht einfach strukturiert, Kontaminationen mit anderen Erzähltypen treten selten auf (ζ. B. mit AaTh 1543: Keinen -> Pfennig weniger18; AaTh 1551: - Wettbetrug™ \ AaTh 1642 A: cf. Der gute Handel2·0; AaTh 1735: Die zehnfache -*• Vergeltung21; AaTh 1741: Priesters Gäste und AaTh 921: König und kluger Knabe12). Auch die einzelnen Elemente der Erzählung sind meist stabil: Helfer und Art der Empfehlung bzw. des vorgeschlagenen Unsinnswortes werden bestenfalls sprachlich oder regionaltypisch variiert. Konstitutiv für den Erzähltyp ist im Gegensatz zu anderen Erzähltypen um Gerichtssituationen (cf. Rechtsfalle) die Tatsache, daß die List und somit die Pointe ausschließlich verbal ausagiert wird (cf. auch AaTh 1534 D*: Sham Dumb Man Wins Suit). Einzig bei den die Handlung einleitenden Vergehen tritt eine nennenswerte Variation auf, die allerdings überwiegend auf das Schema ,Armer begeht (wegen seiner Armut entschuldbares) Vergehen' zurückgeführt werden kann: Der arme Hirt will die von ihm zeitweilig gehüteten Kühe des Reichen nicht zurückgeben 23 ; die Ziegen des Hirten haben Setzlinge in der Olivenpflanzung des Nachbarn gefressen 24 ; ein Wilderer wird ertappt 25 ; ein Bauer hat versehentlich einen Arbeiter erschlagen 26 . Eine auffällig internat. Verbreitung besitzt die Ausprägung, nach der ein Bauer Schlachtvieh (Schwein, Kuh, Kalb, Hase) ζ. T. aus Bedürftigkeit, ζ. T. bewußt als listiger Betrug angelegt — mehrfach verkauft 2 7 . AaTh 1585 verdankt seine weite Verbreitung der ubiquitären Attraktivität sowohl der Ausgangssituation als auch der Lösung. Wenn der Arme nicht nur seiner Strafe (der Bezahlung) entgeht, sondern auch noch den zunächst listiger erscheinenden Ratgeber mit dessen eigener List betrügt, kann dies durchaus als Ausdruck unterschichtlichen Wunschdenkens interpretiert werden. In diesem Sinn exemplifiziert AaTh 1585 den sozialen Konflikt zwischen -» Arm und Reich. Allerdings überwiegt in der sprachlichen Ausgestaltung der meisten Texte

Patriarchat

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schlicht die Freude an der überraschenden Wendung, eine Sozialkritik ist narrativ nur implizit zu spüren. I Dufournet, J./Rousse, M.: Sur „La Farce de Maitre Pierre P." Genf 1986; Frenzel, Stoffe ( 7 1988), 463-465. - 2 Weisweiler, M.: Von Kalifen, Spaßmachern und klugen Haremsdamen. Düsseldorf/Köln 1963, 200-202. - 3 Im folgenden weitgehend nach Marzolph, U.: Maistre P. im Orient. In: Gottes ist der Orient, Gottes ist der Okzident. In: Festschr. A. Falaturi. Köln/Wien 1991, 309-321; Marzolph, Arabia ridens 2, num. 87; cf. früher Oliver, Τ. E.: Some Analogues of Maistre Pierre P. In: J A F L 22 (1909) 395-430; Rauhut, F.: Fragen und Ergebnisse der „Ρ.''-Forschung. In: G R M 19 (1931) 394-407. 4 Parvin-e Gonäbädi, M.: Rise-ye masal-e ,Bä hame bale, bä ma ham bale?' (Der Ursprung des Sprichworts ,Allen [sagst du] Ja - und mir auch?'). In: Gozine-ye maqälehä. Teheran 2536/1977, 186-191; Vakiliyän, Α.: Tamsil va masal 2. Teheran 1366/1987, 7 2 - 7 5 . - 5 Rumi, Galäloddin: Masnavi-ye ma'navi 3. ed. R. A. Nicholson. Neuausg. ed. N. Purgavädi. Teheran 1363/1984, 226. - 6 Bahadinli, Υ. Z.: Deyimlerimiz ve kaynaklari. Istanbul 3 1958, 23; Belenli, M.: Bazi täbirlerimizin tarihi ve hikäyesi. Istanbul 3 1964, 15 sq.; Ege, H./Yukari, C.: Cikma. Yekmisbes deyimin nedenleri. Ankara 1965, 79. - 7 Jetabhai, G.: Indian Folklore. Limbdi 1903, num. 44; Jason, Indic Oral Tales. - 8 Ergänzend zu AaTh: Rausmaa; Aräjs/Medne; SUS; Soboleva; Kecskemeti/Paunonen; Baughman; Ο Süilleabhäin/Christiansen; Sound Archive, School of Scottish Studies, Edinburgh (18 Var.n); van der Kooi; de Meyer, Conte; Pujol; Cirese/Serafini; M N K ; Stroescu, num. 5672; BFP; Archiv G. A. Megas, Athen (10 Var.n); Haboucha; IFA, num.7772, 9850, 9883, 11566, 13297, 14499; El-Shamy, Folk Traditions 1, 437; Jason, Iraq; Jason, Indic Oral Tales; Flowers; Robe; cf. auch Kretzenbacher, L.: „Maitre Patelin" in der Oststeiermark. In: Bll. für Heimatkunde 30 (1956) 2 - 1 1 . - 9 Kohl-Larsen, L.: Der Perlenbaum. Kassel 1966, 190-192 (ostafrik.); Barker, W. H./Sinclair, C.: West African Folk-Tales. L. 1917, 139 sq.; Walker, Β. K. und W. S.: Nigerian Folk Tales. New Brunswick, N . J . 1961, 55 sq. - 10 cf. Schoell, K.: Das komische Theater des frz. MA.s. Mü. 1975,

222. II

-

cf. Bolte, J.: Veterator und Advokatus. Zwei Pariser Studentenkomödien aus den Jahren 1512 und 1532. B. 1901; D B F A 2, 235 sq. - 12 Jordan, L.: Zwei Beitr.e zur Geschichte und Würdigung des Schwanks vom Advokaten P. In: ArchfNSprLit. 123 (1909) 342-352; Whiting, Β. J.: An Analogue to the Mak Story. In: Speculum 7 (1932) 552. - 1 3 Tubach, num. 2259; cf. auch Wesselski, Α.: Humanismus und Volkstum. In: ZfVk. N. F. 6 (1934) 1 - 3 5 , hier 11; György, num. 170; Hervieux4, num.105. - , 4 cf. auch Wesselski, Α.: Angelo Polizianos Tagebuch (1477-1479). Jena 1929, num. 326; id. (wie not. 13).

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- 15 Stiefel, A. L.: Die Qu.n der engl. Schwankbücher des 16. Jh.s. In: Anglia 31, N. F. 19 (1908) 453-520, hier num. 45. - 1 6 Moser-Rath, Schwank, 440 sq. (zu num. 86); Tomkowiak, I.: Curiöse BauerHistorien. Würzburg 1987, 106 sq., not. 66. - 17 cf. EM 7, 872; Archiv van der Kooi, Groningen. 18 Haiding, K.: Märchen und Schwänke aus Oberösterreich. B. 1969, num. 7. - 19 Joisten, C.: Contes populaires du Dauphine 2. Grenoble 1971, num. 133.1. - 2 0 Paasonen, Η.: Gebräuche und Volksdichtung der Tschuwassen. ed. E. Karahka/M. Räsänen. Hels. 1949, num. 21. 21 Toschi, P./Fabi, Α.: Buonsangue romagnolo. Bologna 1960, num. 93; Lemieux, G.: Les Vieux m'ont conte 4. Montreal/P. 1975, num. 11, 20. - 22 Sebillot, P.: Litterature orale de la Haute-Bretagne. P. 1991, num. 7. - 23 Kohl-Larsen (wie not. 9). - 24 Lambertz, M.: Alban. Märchen. Wien 1922, num. 5. 25 Haiding, K.: Märchen und Schwänke aus dem Burgenland. Graz 1977, num. 30. - 2 6 Peuckert, W.E.: Schlesiens dt. Märchen. Breslau 1932, num. 261. - 2 7 Grundtvig, S.: Danske folkeaeventyr 3. Kop. 1884, 2 7 - 2 9 ; Stübs, H.: Uli Lüj verteilen. Plattdt. Geschichten aus dem pommerschen Weizacker. Greifswald 1938, num. 80; Kovacs, Α.: Ung. Volksmärchen. MdW 1966, num. 45; NicolofT, Α.: Bulgarian Folktales. Cleveland 1979, num. 69; J A F L 34 (1921) 168, num. 26 (puertorican.); J A F L 36 (1923) 2 5 3 - 2 5 5 (frankokanad.). Göttingen

Ulrich Marzolph

Patriarchat 1. Allgemeines - 2. Erzählüberlieferungen Kritische Wertung

3.

1. A l l g e m e i n e s . D e r BegriffP. (aus gr. patriarchies) für eine vaterrechtliche Gesellschaftsform (cf. -> Matriarchat) wird seit d e m 19. Jh. auf ein Stadium der Sozialgeschichte der -» Familie b e z o g e n und bedeutet, d a ß das männliche Familienoberhaupt die Macht ausübt. Im röm. Familienrecht beinhaltete patria potestas die v o m Vater über seine Kinder, seine Frau und seine entfernteren N a c h k o m m e n ausgeübte Macht. Eine Tochter unterstand der väterlichen potestas bis zu ihrer Eheschließung, mit der sie unter die Verfügungsgewalt (manus) ihres Gatten k a m 1 . Im weitgefaßten Sinn bedeutet P. die androzentrische Ausrichtung einer Kultur auf den M a n n als Subjekt, verbunden mit der Zuschreibung eines minderen Status der Weiblichkeit (die die Ü b e r h ö h u n g weiblicher Gestalten nicht ausschließt) 2 .

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Die Patriarchen, Bezeichnung für die Erzväter des A. T.s (-> Abraham, Isaak, Jakob, Jakobs zwölf Söhne), repräsentierten die höchste männliche Autorität. Deren Geschichten in der Genesis enthalten einige Hinweise auf einen Übergang von matrilokalen und matrilinearen Familienstrukturen zu patrilokalen und patrilinearen (Jakobs Werbung, seine Flucht aus Labans Haus, Raheis Diebstahl der Hausgötter und deren Überführung ins Haus ihres Ehemanns [Gen. 28-35]). Der -> Dekalog bezieht sich jedoch bereits auf eine gefestigte patriarchalische Familienstruktur: Die Frau wird unter die Besitztümer des Mannes eingereiht - Haus, Weib, Knecht, Magd, Rind, Esel (Ex. 20,17). Im Α. T. zeigt sich eine allmähliche Beschneidung der öffentlichen und wirtschaftlichen Rolle der Frau, ein Abnehmen ihrer Teilnahme an der Ausübung des Kults und eine zunehmende Regulierung der weiblichen Sexualität (cf. die Bücher der Propheten) 3 . Die Privilegierung der zweiten -> Schöpfungsgeschichte von Mann und Frau (Gen. 2,7 und 18-24) in der Exegese gegenüber der ersten (Gen. 1,26-29) und die Interpretation des Sündenfalls (Gen. 3; Adam und Eva) führte zu der Vorstellung einer gottgegebenen Untergeordnetheit des weiblichen Geschlechts. Die feministische theol. Forschung wendet sich gegen androzentrische Deutungstraditionen, die sich u. a. in der Auffassung von -> Adam als männlichem Eigennamen und nicht als allg. Gattungsbezeichnung ,Mensch' zeigten 4 . Die P.svorstellungen der Kirchenväter (-» Vitae patrum) erhielten in den Werken von Calvin und -• Luther eine neue Interpretation. Die Reformatoren werteten die verheiratete Frau als .Helferin des Mannes' auf. Die Unterordnung der Frau unter die gottgewollte Herrschaft des Ehemanns wurde mit den ,Haustafelstellen' des N. T.s (Eph. 5,22-6,9; l . K o r . 11,2-16) begründet 5 . Die von Luther gebrauchten Topoi wurden für die -» Hausväterliteratur konstituierend, als deren Analogon im russ. Kulturraum der im 16. Jh. von hohen Geistlichen verfaßte Domostroj (Altruss. Hausbuch) und nachfolgende Lit. anzusehen sind. Vertreter des Darwinismus und Sozialhistoriker des 19. Jh.s (L. H. Morgan, H. Maine)

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sahen die Entwicklung der Gesellschaft als Fortschritt von der Barbarei über das Matriarchat zum ,modernen' P. an, womit sie ein auf dem patrilinearen Verwandtschaftssystem basierendes höheres Entwicklungsstadium bezeichneten. Männliche Dominanz galt dabei als universell und naturgegeben 6 . F. Engels wandte sich gegen den biologischen Determinismus: Auf der Grundlage von J. J. -» Bachofens Evolutionstheorien zum Übergang von der Gruppenheirat zur monogamen -» Ehe faßte er das patriarchalische System als ,welthist. Niederlage des weiblichen Geschlechts' auf; der untergeordnete gesellschaftliche Status der Frau wurde im -» Marxismus als eine Form der Klassenunterdrückung angesehen 7 . Das ethnogr. Material, auf dem die Argumentation von Bachofen und Engels beruht, ist inzwischen von der ethnol. Forschung weitgehend widerlegt: Matrilokalität und Matrilinearität stellen keinen hinreichenden Beweis für ein Matriarchat dar, da alle Entscheidungen im öffentlichen und familiären Bereich von einem männlichen Verwandten, gewöhnlich dem Bruder oder Onkel der Ehefrau, getroffen wurden. Der Begriff P. der neueren Forschungen wird sehr differenziert gebraucht. So beschreibt K. Käser 8 die regionale Sonderform des balkan. P.s, auf die als einer der ersten G. Gesemann 9 unter Hinweis auf Parallelen zu anderen europ. Regionen (Peloponnes, Korsika, Island, Schottland) aufmerksam gemacht hatte. Während Gesemann die .scheinbare Misogynie' als Teil eines auch von Frauen getragenen ,heroischen P.s' erklärte, bestimmt Käser hingegen das P. als durch die kombinierten Merkmale der Patrilinearität, Patrilokalität, der generellen Überordnung des Mannes über die Frau und der Hierarchie des Alters (innerhalb der Männer) charakterisierte Gesellschaftsstruktur, für deren Familienstruktur der sog. ,komplexe Familienhaushalt' (slav. zadruga) kennzeichnend ist 10 . C. ->• Levi-Strauss' 11 Beschreibung der Einheirat von Frauen in andere Stämme als Form des kulturellen Austausche zum Zweck der Anknüpfung friedlicher Beziehungen und Bündnisse wurde zum Ausgangspunkt feministischer Forschungen. Das zunächst marxistisch beeinflußte kritische feministische Denken wandte sich von den ökonomischen Ur-

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Sprüngen der Ungleichheit ab und hin zu einer Unters, der Symbolik und Bedeutung kultureller Systeme in der Gesellschaft. Sozialwiss. und ethnol. Forschungen zu Geschlechterrollen und sozialen Bedingungen in verschiedenen Kulturen und verschiedenen hist. Epochen stellen das theoretische Modell der Annahme einer generell untergeordneten Rolle der Frau in der Gesellschaft durch neue empirische Daten in Frage: Ethnogr. Material aus Jäger- und Sammler-Gesellschaften zeigt, daß der Hauptnahrungsbedarf dort durch die Tätigkeiten der Frauen und Kinder gedeckt wurde. Auch neuere Belege über die Teilhabe von Frauen am städtischen Zunftwesen im ma. Europa, den Einfluß der Mystikerinnen auf die ma. Spiritualität oder die Wichtigkeit der Frauenarbeit in der Landwirtschaft lassen vermuten, daß die patriarchalische Hierarchie sich im Bürgertum eher verstärkte und bes. in der städtischen Bourgeoisie stark ausgeprägt war, in der die Frau und Mutter durch die Tätigkeit und/oder das Vermögen ihres Ehemanns unterhalten wurde 12 . Die patriarchalische Interpretation durch Ethnographen und Sozialwissenschaftler hat die Darstellung ursprünglich stark auf Ergänzung der Geschlechter beruhender Systeme verzerrt 13 . Das zeigen u. a. Unters.en über muslim., vorderoriental., afrik. und karib. Gesellschaften, die eine westl.-industrielle Sichtweise der Arbeit vertreten, indem sie den Mann, dessen Haupttätigkeit im Getreideanbau für die eigene Familie besteht, als Vollzeitbeschäftigten definieren, während seine Frau als wirtschaftlich inaktiv gilt, obwohl sie die Haustiere aufzieht und versorgt, beim Jäten und bei der Ernte hilft, Getreide mahlt, Produkte für den Markt bearbeitet etc. 14 Die Interpretation des P.s als System von Beziehungen zwischen den Geschlechtern basiert vor allem auf einer speziellen Auslegung der Bibel und der bürgerlichen Moral des 19. Jh.s 15 .

gend männliche Perspektive (-> Frauenmärchen; ->• Männermärchen) 1 7 . Diese Asymmetrie in der Geschlechterordnung findet sich in Motivik und Struktur wieder. Für die -» Frau (Kap. 3.2) sind in der Erzählüberlieferung weitaus mehr negativ bewertete Rollen tradiert als für den Mann (Kap. 4.3). Darüber hinaus erscheinen Negativcharakterisierungen von Frauen oft mit einem allg. Gültigkeitsanspruch für das weibliche Geschlecht an sich, während bei negativ bewerteten Rollen für Männer eher individualisiert wird. Ein Indiz für die Herrschaft des P.s ist auch, daß als „das wichtigste Negativstereotyp [für den Mann] der feminine M[ann]" 18 in Volkserzählungen gesehen wird (cf. auch -» Geschlechtswechsel). Beispiele für Misogynie sind in entschieden größerem Ausmaß überliefert worden als solche für Misandrie, was sich in den verschiedenen Gattungen unterschiedlich zeigt. Bes. im Bereich der Exempel über die Fabliau- und Märenliteratur, die Novellistik bis hin zur Schwankliteratur setzen sich misogyne antike, jüd. und christl. Traditionen fort 1 9 .

2. E r z ä h l ü b e r l i e f e r u n g e n . Erzähltraditionen vermitteln geschlechtsspezifische Normen der jeweiligen Kulturen, Religionen 16 etc. (-• Erotik, Sexualität). Für die seit dem 19. Jh. in Europa aufgezeichneten Volkserzählungen zeigt sich eine Übereinstimmung mit den Grundmustern einer männlich dominierten Welt und darüber hinaus auch eine vorwie-

Im Bereich der Sage wirken sich christl. Traditionen bes. stark bei der Darstellung der Frau als Hexe oder als Teufelskonkubine (-» Pfaffenköchin) aus, wobei wiederum Vorstellungen von der Frau als leicht verführbar und triebhaft konnotiert sind. Für den Komplex Zaubermärchen ist zu konstatieren, daß den aufgezeichneten Mate-

Zu gängigen -» Stereotypen gehören die Wollust der Frau (ζ. B. AaTh 1426: Frau im Schrein), ihre Austauschbarkeit als Sexualobjekt (-> Cent nouvelles nouvelles', AaTh 983: Das gleiche -» Essen) und ihre Schilderung als Triebwesen, ζ. B. in Erzählungen über die aus Tieren erschaffene Frau (-» Affe) 20 . Die Frau ist genuin böse (AaTh 1353: Böses -» Weib schlimmer als der Teufel·, AaTh 921 B: Der beste Freund, der schlimmste Feind) und seit dem bibl. Sündenfall neugierig (AaTh 1416: Die neue -» Eva). Handelt es sich in AaTh 1370: Die faule -» Frau wird kuriert um tatsächliche Faulheit, die mit Schlägen ausgetrieben wird, so wird im scheinbaren Gegenstück AaTh 986: Der faule -> Ehemann eher dümmliches Verhalten angeprangert. Weibliches Aufbegehren wird als Widerspenstigkeit und Rechthaberei verharmlost (AaTh 1365 A—C: Die widerspenstige -» Ehefrau). Die Stereotypen werden in -» Sprichwort und -» Witz weitertradiert und dienen der Stabilisierung männlicher Vorherrschaft („Mädchen, die pfeifen, Hühnern, die krähen, denen soll man beizeiten die Hälse umdrehen") 21 .

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rialien zufolge eine weit größere Anzahl der Erzähltypen von -» Helden als von Heldinnen handelt: Von dem Schicksal eines Mannes wird öfter erzählt als von dem einer Frau. Die männliche Perspektive kommt ζ. B. zum Ausdruck, wenn eigene Partnerwahl bzw. die Ablehnung von Partnern durch die Königstochter nicht akzeptabel erscheinen (AaTh 900: König Drosselbari) oder wenn der Held die schlafende Prinzessin schwängert (AaTh 304: Der gelernte -> Jäger, -» Vergewaltigung). Bei Gegenspielern und Schädigern sowohl von Helden als auch Heldinnen handelt es sich bes. häufig um Frauen 2 2 . Ein bes. krasses Beispiel findet sich im Erzähltyp AaTh 590: Die treulose -» Mutter, in dem die Mutter nicht nur die Gunst eines Liebhabers über Leben und Sicherheit ihres Sohnes stellt, sondern Wege ersinnt, den Sohn zu vernichten und zu töten. S. Apos Analyse finn. Zaubermärchen mittels semantischer Strukturanalysen kann für das europ. Zaubermärchen verallgemeinert werden: Alle von ihr untersuchten Texte einschließlich der Märchen mit einer Heldin präsentieren in der Darstellung geschlechtlicher Beziehungen Grundmuster einer männlich dominierten Welt 23 . Negativ bewertetes Verhalten wird generell Frauen und nicht Männern zugeschrieben: Die Frau verdient gewissermaßen immer, was ihr zuteil wird, während Männer, die unter Frauen leiden, unschuldig sind 24 . So ist es ζ. B. meist die Frau, die schuld ist, wenn eine Ehe scheitert. In der Blaubartgeschichte (AaTh 312: cf. -> Mädchenmörder) ist der Tod der Frauen die Strafe für ihre Neugier und ihren Ungehorsam, die sie dazu bringen, das verbotene -» Zimmer zu öffnen. Auch wenn Märchen von Frauen erzählen, die klug sind und selbständig handeln, so geschieht dies innerhalb des gegebenen männlich dominierten Systems unter der Benutzung bzw. Ausnutzung vorhandener Normen (ζ. B. AaTh 981: Mann, der seine Frau verließ', AaTh 501: Die drei Spinnfrauen). Den Normen widersprechendes Handeln wird mit wenigen Ausnahmen (AaTh 440: -< Froschkönig) lediglich jenseitigen weiblichen Wesen (-• Fee, Feenland; Die gestörte - Rusalka; Vila) 25 . Eine ebenfalls herkömmliche Normen überschreitende Frau ist

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die -» Heldenjungfrau ζ. B. in AaTh 519: The Strong Woman as Bride (Brunhilde), die sich bes. ausdrucksvoll in russ. Var.n verschiedener Erzähltypen findet26. Diese nicht nur im Märchen, sondern in verschiedenen Gattungen wie der Byline 27 vorkommende Kämpferin heiratet den Mann, der sie körperlich besiegt, und fügt sich nach der Hochzeit den vorhandenen Regeln. Märchenheldinnen, die männlich agieren, legen zur Erreichung eines bestimmten Ziels - meist die Befreiung ihres Liebsten oder Ehemanns (AaTh 880: The Man Boasts of his Wife) oder aber zur Übernahme von Heeresdiensten für Bruder oder Vater (AaTh 514: The Shift of Sex) — oft Männerkleidung an (-+ Frau in Männerkleidung). Der damit verbundene Rollenwechsel ist wie bei der Heldenjungfrau ein temporär begrenzter. Beispiele für Männer in Frauenkleidern hingegen bietet das Märchen nicht, ein -> Kleidertausch von Männern findet mit anderen Männern statt und ist mit einem sozialen Rollenwechsel verbunden. Der Rollenwechsel der Frau wird in der Forschung unterschiedlich interpretiert. Zum einen können realhist. Hintergründe angeführt werden: Frauen konnten außerhalb des Hauses und der Familie in der männlich beherrschten Außenwelt nur als ,Mann' agieren, wenn sie Bewegungsfreiheit gewinnen und unerwünschte sexuelle Kontakte vermeiden wollten. In balkan. patriarchalischen Gemeinschaften könnte auch der bis ins 20. Jh. belegte Brauch des funktionalen Geschlechtswechsels eine Erklärung bieten: Mädchen, bes. aus Familien ohne Söhne, leisteten in der Kirche und vor der Gemeinschaft einen Eid, für den Rest ihres Lebens die gesellschaftliche Rolle und Verantwortung eines Sohnes zu übernehmen 28 . Für die Ballade aus dem slav. Balkanraum ζ. B. zeigt E. Agoston-Nikolova Entsprechungen zur patriarchalen Gesellschaftsstruktur auf 2 9 . Inwieweit der Rollenwechsel, die Figur der Heldenjungfrau oder die oft in Märchen erscheinende Matrilokalität als archaische Uberreste (-• Archaische Züge im Märchen) eines matriarchalen Systems gesehen werden können, ist umstritten. So kann es nach Apo ζ. B. nicht als Relikt einer matriarchalen Kultur gesehen werden, wenn die ideale Ehefrau im Märchen Erbin eines reichen Vaters ist und keine Brüder hat; dies sei dem Umstand zu verdanken, daß in einer patriarchalen

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Kultur beim Fehlen männlicher Erben der Schwiegersohn das Erbe antreten könne 30 . Mit der Veränderung des hist, und sozialen Hintergrunds der Überlieferungsträger änderten sich auch Einstellungen. M. Warner ging anhand des Themas -»• Inzest den durch unterschiedliche Moralvorstellungen bedingten Änderungen in der christl. Kultur nach: Während im Α. T. (Gen. 19,8) Lots Töchter einen bewußten Inzest begehen, um die väterliche Erblinie zu erhalten, verweigert sich in ma. und späteren Inzesterzählungen die Tochter dem Vater (ζ. B. in der Vita der hl. Dympna, in der der Vater seine Tochter daraufhin eigenhändig tötet; -»· Perraults Fassung von AaTh 510 B: cf. Cinderella); in den meisten im 19. Jh. veröff. Var.n von AaTh 706: Mädchen ohne Hände kommt ein Inzestverlangen nicht mehr vor 31 . Zu solchen Änderungen, die zeitgemäßen Vorstellungen von der Familie und einem veränderten Adressatenkreis (cf. ->• Pädagogik) entsprachen, ist auch der Wechsel von Mutter zu -> Stiefmutter zu stellen, wie ζ. B. in K H M 53, AaTh 709: - Schneewittchen. Im 20. Jh. wurden verstärkt traditionelle Stoffe aus dem ursprünglich männlich dominierten Kontext gelöst und umgeschrieben, indem weiblichen Figuren eine weibliche Subjektivität verliehen wurde (in den Bereichen Lit., Film, Psychotherapie) 32 . 3. K r i t i s c h e W e r t u n g . Für die Interpretation von Volkserzählungen sowie ihre Nutzung als hist. Quellen sind Aufschlüsse zu den Erzählkontexten nötig. Das internat. Material aus verschiedenen Zeiten und von Sammlern unterschiedlicher Intentionen läßt generalisierende Aussagen schwierig erscheinen. In der Forschung wird ζ. B. die These vertreten, daß das Erzählen von Zaubermärchen eine ursprünglich männliche Tradition darstellte, die erst nach einem durch die Industrialisierung bedingten schwindenden Interesse von Männern verstärkt von Frauen übernommen wurde 33 . Das wäre auch eine mögliche Erklärung für das Überwiegen von Märchen mit männlichen Helden. Allerdings wäre hier zu berücksichtigen, daß aus verschiedenen Regionen dieser These widersprechendes Material vorliegt, meistens männliche Sammler im öffentlichen Bereich von Männern aufzeichneten und zu Frauen weniger Zugang hatten. Das

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Präferenzverhalten bei der Auswahl der Märchen erweist sich als unterschiedlich: Männer erzählen überwiegend Märchen mit einem männlichen Helden, Frauen hingegen Märchen sowohl mit einem Helden als auch mit einer Heldin 34 . Inwieweit Einstellung und Ideologie der überwiegend männlichen Sammler und Herausgeber durch Auswahl und Bearbeitung mündl. Traditionen geschlechtsspezifisch veränderten, ist in der Erzählforschung erst in den letzten Jahrzehnten intensiver untersucht worden 35 . D a ß geschlechtspezifische Voreingenommenheiten auch in der Forschung eine Rolle spielen, zeigt T. Lundell am Beispiel der Anlage der Typen- und Motiv-Kataloge AaTh und Mot. 3 6 Sind Unters.en zu patriarchalischen Strukturen in der Folkloristik vor allem der Frauenforschung zu verdanken, so konzentrieren sich neuere Ansätze im Rahmen der gender studies auf die Interdependenz der Geschlechter 37 . Die Geschlechtsunterschiede in vergleichenden Unters.en oder die Rezeption von Erzählungen in rein männlichen, rein weiblichen oder gemischten Zuhörerkreisen fanden bisher weniger Aufmerksamkeit 38 . Für die Frage ζ. B., ob der Rollenwechsel der Frau im Märchen ein subversiver Akt und Ausdruck eines weiblichen Verlangens nach mehr Freiheit sei oder aber der Unterhaltung von Männern diene, sind Analysen wie solche von M. Mills anhand afghan. Volkserzählungen aufschlußreich. Mills hebt die unterschiedlichen Präferenzen der Erzähler hervor: Erzählerinnen zeigen eine starke Vorliebe für weibliche Strategien; dagegen sind es häufiger Männer, die in Geschichten über Frauen in Männerkleidung ihrer Phantasie freien Lauf lassen 39 . Volkserzählungen entziehen sich einfachen Zuweisungen. Sie sind keine direkten Abbilder patriarchalischer Realität (-• Fiktionalität) und ermöglichten Frauen in quantitativ größerem Ausmaß als in öffentlicher Lit. zu Wort zu kommen und ihrem Interesse in gewissem Rahmen Ausdruck zu geben. Hinsichtlich patriarchalischer Strukturen im Erzählgut erscheinen viele Geschichten als doppelgeschlechtlich: Erzählerinnen und Erzähler setzen Akzente unterschiedlich; Hörerinnen oder Leserinnen reagieren auf die weiblichen Stimmen der Erzählung, männliche Leser oder Hörer erkennen darin ihr eigenes Echo.

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" B l o c h , Η. R.: Medieval Misogyny and the Invention of Western Romantic Love. Chic. 1991; Rogers, Κ. M.: The Troublesome Help-mate. A History of Misogyny in Literature. Seattle/L. 1966. - 2 0 cf. Goetze, E. (ed.): Sämtliche Fabeln und Schwänke von Hans Sachs 2. Halle 1894, num. 385 (Die vier Naturen der Frawen). 2 1 Röhrich, Redensarten, 699; Moser-Rath, E.: Frauenfeindliche Tendenzen im Witz. In: ZfVk. 74 (1978) 4 0 - 5 7 ; Wehse, R.: Männerfeindliche Tendenzen in Witz und Schwank. In: ZfVk. 75 (1979) 5 7 - 6 7 ; Huffzky, K.: Wer muß hier lachen? Das Frauenbild im Männerwitz. Darmstadt/Neuwied 1979; cf. auch Lövkrona, I.: Gender and Sexuality in Pre-Industrial Society. Erotic Riddles. In: Fabula 34 (1993) 2 7 0 - 2 7 9 . - 2 2 c f . E M 5, 123; cf. auch Stein, H.: Zu Herkunft und Altersbestimmung einer Novellenballade. (DVldr Nr. 26 und Nr. 77). Die Schwiegermutter beseitigt die ihr anvertraute Schwiegertochter ( F F C 224). Hels. 1979. - 2 3 cf. Apo, S.: The Narrative World of Finnish Fairy Tales ( F F C 256). Hels. 1997, 1 7 3 - 1 7 5 . - 2 4 ibid., 184. 2 5 Burkhart, D.: Aspekte des Weiblichen im bulg. Tier- und Zaubermärchen. In: Fabula 23 (1982) 2 0 7 - 2 2 0 ; cf. auch Dunn, S. P.: The Family as Reflected in Russian Folklore. In: The Family in Imperial Russia, ed. D. L. Ransel. Urbana u. a. 1978, 1 5 3 - 1 7 0 ; Meletinsky, E.: Die Ehe im Zaubermärchen. In: Acta Ethr ographica 19 (1970) 2 8 1 - 2 9 1 ; Hubbs, J.: Mother Russia. The Feminine Myth in Russian Culture. Bloom./Indianapolis 1988. 2 6 ζ . Β. SUS 551, SITS 519; cf. Gobrecht, B.: Die Frau im russ. March ;n. In: Die Frau im Märchen, ed. S. Früh/R. Wehse. Kassel 1985, 8 9 - 1 1 0 . 27 z . B . Byliny. ed. F. M. Selivanov. M. 1988, num. 9, 54. - 2 8 Käser, K.: Die Mannfrau in den patriarchalen Gesellschaften des Balkans und der Mythos vom Matriarchat. In: L'Homme 5 (1994) 5 9 - 7 7 ; Gremaux, R. J . M.: Manninen uit de hooglanden. Seksualiteit en identiteit van de als mannen levende vrouwen op de Balkan. In: Van Sappo tot de Sade. Momenten in de geschiedenis van de seksualiteit. ed. J . Bremmer. Amst. 1988, 1 3 5 - 1 6 0 ; Horten, E./Stanislavljevic, Α.: Der Balkan in Europa. B. 1994. - 2 9 Agoston-Nikolova, E.: Immured Women. Representations of Family Relationships in Balkan Slavic Oral Narrative Poetry. Diss. Groningen 1994. - 3 0 Apo (wie not. 23) 172. Warner, M.: From the Beast to the Blonde. On Fairy Tales and Their Tellers. L. 1995, 3 3 5 - 3 5 2 . 3 2 ibid., 417; Zipes, J.: Don't Bet on the Prince. Contemporary Feminist Tales in North America and England. Ν. Y. 1986; Lovell-Smith, R.: Feminism and Bluebeard. In: Estudos (wie not. 16) 4 3 - 5 4 . 3 3 Degh, L.: Märchen, Erzähler und Erzählgemeinschaft. Β. 1962, 9 8 - 1 0 0 ; Holbek, Β.: Interpretation of Fairy Tales ( F F C 239). Hels. 1987, 157; Fabre, D./Lacroix, J.: La Tradition orale du conte occitan. Les Pyrenees Audoises 1. P. 1974, 61, 64. - 3 4 cf. Holbek (wie not. 33) 168; Köhler-Zülch, I.: Ostholsteins Erzählerinnen in der Slg Wilhelm Wisser: ihre

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Patrick, Hl.

Texte - seine Berichte. In: Fabula 32 (1991) 94-118. - 35 Bottigheimer, R. B.: Motif, Meaning and Editorial Change in Grimms' Tales. In: D'un Conte ... ä l'autre. ed. V. Görödy-Karady. P. 1990, 541-553; ead.: Grimms' Bad Girls and Bold Boys. L. 1987; Köhler-Zülch, I.: Who Are the Tellers? Statements by Collectors and Editors. In: Fabula 38 (1997) 199-209. - 36 Lundell, T.: Gender-Related Biases in the Type and Motif Indexes of Aarne and Thompson. In: Fairy Tales and Society, ed. R. B. Bottigheimer. Phil. 1986, 149-163. - 3 7 Apo, S./Nenola, A./ Stark-Arola, L. (edd.): Gender and Folklore. Perspectives on Finnish and Karelian Culture. Hels. 1998; Handoo, L./Bottigheimer, R. B. (edd.): Folklore and Gender. Mysore 1999. - 38 Mitchel, C.: Some Differences in Male and Female Joke-telling. In: Women's Folklore, Women's Culture, ed. R. A. Jordan/S. J. Kalcik. Phil. 1985, 163-185; Baldwin, K.: A Word on Women's Roles in Family Storytelling. ibid., 149-163; De sprokende kleedwagen. Verhalen van Kleüsien uut Zalk. ed. P. Bloemhoff-de Bruijn/J. van der Kooi. Kampen 1984; Angelova, R.: Izpülnitel i zritelslusatel ν bülgarskija folklor (Vortragender und Zuschauer-Hörer in der bulg. Folklore). In: Problemi na bülgarskija folklor 3. Sofia 1977, 8 2 - 9 1 ; Kuzmanova, V.: Komunikativnoto povedenie na izpülnitelja ν konteksta na obstuvane (Kommunikatives Verhalten im Kontext der Interaktion). ibid. t. 4. Sofia 1979, 8 9 - 9 6 . - 39 Mills, M.: Sex Role Reversals, Sex Changes and Transvestite Disguise in the Oral Tradition of a Conservative Muslim Community in Afghanistan. In: Jordan/Kalcik (wie not. 38) 187-213.

Groningen

Elka Agoston-Nikolova

Patrick, HI., *bei Bannavem Taburniae (vermutlich am Severn im westl. Britannien) um 385-390?, fwohl Saul bei Downpatrick (südl. Belfast) 17.3.461? (491?), Schutzpatron Irlands und Apostel der Iren (Fest: 17. März) 1 . Über den hist. P. geben seine eigenen Schriften Auskunft, die frühesten überlieferten liturgischen Dokumente der ir. Kirche: die Confessio, in der er viel über sein Leben berichtet, und die Epistola ad miles Corotici, in der er sich gegen Raubzüge der Soldaten des brit. Herrschers Coroticus wendet, bei denen mehrere neugetaufte Christen gefangengenommen oder getötet wurden 2 . P. stammte aus einer ranghohen christl. Familie im röm. Britannien. Sein Vater Calpornius war städtischer Beamter und Diakon, sein Großvater Potitus Priester 3 . Traditionell werden die Jahre 432—461 als Zeit der Missionstätigkeit P.s in Irland angegeben 4 . Übereinstimmung herrscht

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über den Todestag, der in mehreren liturgischen Kalendern erscheint, darunter dem des Willibrod (frühes 8. Jh.) 5 . Der Confessio zufolge wurde P. im Alter von 16 Jahren von ir. Plünderern als Sklave nach Irland verkauft. Nach sechs Jahren verkündete ihm eine Stimme im -> Traum, daß ein Schiff für ihn bereitliege. Trotz der Entfernung von 200 Meilen floh P., fand das Schiff und kehrte zu seiner Familie nach Britannien zurück. Dort hatte er eine Reihe von ->• Visionen; in der ersten übergab ihm ein Mann, den er Victoricius nennt, einen Brief mit der .Stimme der Iren', der ihn aufforderte, als Prediger nach Irland zurückzukehren. P. reiste daraufhin auf den Kontinent, wo er - angeblich durch den hl. Germanus von Auxerre — zum Priester ausgebildet und nach der Bischofsweihe nach Irland gesandt wurde, um dem Volk das Christentum zu bringen. Die Legende des hl. P. nimmt im 7. Jh. mit zwei Berichten über sein Leben und Werk ihren Anfang: einer lat. Vita des Muirchü, der Mitglied von P.s Kirche von Armagh, seiner wichtigsten Gründung, gewesen zu sein scheint, und einer Reihe lat. Akten des vermutlich aus Tirawley (Nord-Connacht) gebürtigen Bischofs Tireachän. Beide schöpften aus P.s Confessio sowie anderen gemeinsamen, nicht erhaltenen Quellen, darüber hinaus aus der Bibel und der frühchristl. Lit. Auch Wundertaten des Heiligen werden von ihnen beschrieben. Viten des 8. und 9. Jh.s schmückten P.s Legende weiter aus, die ihren Höhepunkt mit dem anonymen dreiteiligen, größtenteils in ir. Sprache verfaßten Leben P.s (Bethü Phätraic; Ende 9. Jh.) erreichte. Dessen 1. Teil bildet eine Biographie, die Teile 2 und 3 enthalten viele -> Wunder und Prophezeiungen, die P. zugeschrieben werden. Eine mittelir. Predigt über das Leben P.s erscheint auch in The Book of Lismore (spätes 15. Jh.); in ihr findet sich viel Material aus den früheren Texten 6 . Die eindruckvollste Erzählung in den frühen Lebensbeschreibungen, bes. der Vita Muirchiüs, handelt von der Entzündung des ersten Osterfeuers in Irland: Entgegen einheimischem Brauch entzündet P. an Ostern in der Ebene von Brega, in Sichtweite des Königssitzes Tara, ein Feuer. Dies führt zu einer Auseinandersetzung mit König Laoghaire, der zu dieser Zeit in Tara ein Feuer zu entzünden pflegte,

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Patrick, Hl.

und zu heftigen Zusammenstößen mit den Druiden. Einer von ihnen wird in die Luft geschleudert und sein Kopf gegen einen Stein geschmettert. Ein Erdbeben, das Dunkelheit und Verwirrung verursacht, verhindert P.s Ergreifung. Er und seine Gefährten entkommen der Gefangennahme durch den König mit Hilfe eines Segensspruchs P.s, der eine Sinnestäuschung bewirkt: Sie scheinen sich in Rehe, P.s Schüler Benignus in ein Kitz zu verwandeln und in der Wildnis zu verschwinden. Diese Episode wurde in der dreiteiligen Vita zur Rahmenerzählung der als .Schrei des Rehs' oder ,Brustharnisch des hl. P.' (Lorica S. Patricii, Lüireach Phädraig, ein altir. Morgengebet, vermutlich 9. Jh.) bezeichneten Hymne, die P. zugeschrieben wird 7 . Bei einer Einladung von König Laoghaire nach Tara versucht ein Druide, P. zu vergiften; ein Segen P.s bewirkt jedoch, daß die Flüssigkeit im Becher gefriert und das Gift ausgefallt wird. Der König ordnet daraufhin eine Feuerprobe (-> Gottesurteil) zwischen Benignus und seinem noch verbliebenen Druiden an, bei dem der Druide bei lebendigem Leibe verbrennt, während P.s Schüler unverletzt bleibt.

Tireachäns Bericht über P.s Missionstätigkeit besteht im wesentlichen aus einer Sammlung von Lokaltraditionen, deren Hauptzweck es war, von P. gegründete Kirchen, P.s Schüler und bes. seine Reiseroute durch N o r d - C o n nacht zu dokumentieren 8 . Er enthält aber auch einige mirakulöse Geschehnisse sowie die erste Version von P.s 40 Tage und N ä c h t e dauerndem Fasten auf dem Cruach Phädraig (Croagh P., county Mayo), wo er wie -> Moses auf dem Berg Sinai in direkte Verbindung zu G o t t trat. Z u dem Berg findet bis in die Gegenwart alljährlich eine Wallfahrt statt 9 . Die Vita beschreibt auch eine hist, nicht belegte Missionsreise durch die südl. Provinz Munster. P. sollte so zu einem Nationalheiligen stilisiert werden, der das ganze Land bereist und die Iren zum Christentum bekehrt hatte. Tireachäns Bericht, P. habe einen -» Riesen wieder zum Leben erweckt, u m ihn zu taufen, fand seit dem 11. Jh. in der ir. Lit. in Erzählungen, wie P. längst verstorbene mythische Krieger und Könige wiederbelebte und bekehrte, seinen Niederschlag. In der umfangreichsten ma. Sammlung von Fenierüberlieferungen (-» Finnzyklus), Acallam na Senorach (Das Gespräch der Alten; Ende 12. Jh.), wird erzählt, d a ß Oisin (-• Ossian) und Caoilte die anderen Fenierkrieger bis zur Zeit P.s überlebten, mit dem sie bei einer gemeinsamen Reise durch Irland lebhafte Gespräche führten 1 0 .

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Relativ j u n g ist die um das 12. Jh. zu datierende Überlieferung, nach der P. die -> Schlangen aus Irland bannte. Sie sollte als Metapher seiner christl. Mission gegen die , D ä m o n e n des Heidentums' betrachtet werden, da Schlangen in Irland niemals heimisch gewesen s i n d " , und ist häufiger in schriftl. und bildlichen Quellen als in der mündl. Überlieferung anzutreffen. In der reichen u n d vielfältigen mündl. P.Überlieferung erscheinen dagegen häufig Berichte, der Heilige habe an mehreren Orten des Landes Ungeheuer in Seen gebannt. Die Überlieferung, nach der P. ein Ungeheuer in den Lough Derg (county Donegal) gebannt habe, der auch als ,St. P.'s Purgatory' nach einer Höhle auf der Insel im See b e k a n n t ist, die den Eingang zum -> Fegefeuer bilden soll, war wahrscheinlich der H a u p t g r u n d f ü r die seit dem M A . bis heute gepflegte Wallfahrt an diesen See 12 . Die weite Verbreitung des Tractatus de Purgatorio de Sancti Patricii, der ersten Beschreib u n g der Wallfahrt zum Lough Derg, 1184 von Bruder H., einem a n g l o n o r m a n n . Zisterziensermönch aus der Abtei von Saltrey im engl. Huntingdonshire auf Latein verfaßt, und die Popularität der Wallfahrt selbst bei ma. Pilgern trugen entscheidend zur Ausbreitung des P.kults in vielen Teilen des ma. E u r o p a bei. Belegt sind 150 Handschriften des lat. Texts und ebensoviele Übers.en in verschiedene europ. Sprachen 1 3 . Auch die P.-Legende, wie sie in den Viten geschildert wird, war in E u r o p a weit bekannt. Eine dt. Übers, existierte schon in der f r ü h e n 2. Hälfte des 12. Jh.s. D a s a n o n y m e Fragment beruht auf der in Irland verfaßten lat. Tertia vita Patricii (9. Jh.) 1 4 . P.-Legenden finden sich in den wichtigsten Slgen von Heiligenlegenden und Exempla aus dem 1 3 . - 1 5 . Jh. 1 5 , ζ. B. der Legenda aurea des Jacobus de Voragine (13. Jh.) 1 6 , dem Dialogus miraculorum des Caesarius von Heisterbach (13. Jh.) 1 7 , dem -» Alphabetum narrationum (13. Jh.) 1 8 , im Liber exemplorum (13. Jh.) 1 9 , im Großen -> Seelentrost (14. Jh.) 2 0 und im -> Libro de los exemplos (15. Jh.) 2 1 (cf. Tubach, num. 475, 3504, 3998, 4317). Erinnerungen an den im ma. Frankreich weitverbreiteten P.skult gibt es noch in Rouen und Lerins, während in einigen dt.sprachigen Gegenden - in Teilen von Württemberg und

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Patrick, Hl.

in der Steiermark — P. der Schutzheilige des Viehs ist 2 2 . P.-Legenden aus den frühen Viten, wie über die Feuerprobe v o n Benignus und d e m Druiden, finden sich ebenfalls in jüngerer mündl. Überlieferung, es gibt j e d o c h auch neue Legenden volkstümlichen Ursprungs. Eine verbreitete Erzählung aus d e m P.-Zyklus berichtet v o n einem gewitzten jungen Knecht, der durch sein Gebet drei Flüche des hl. P. ablenkt, den einen auf den oberen Teil der Binsen, den zweiten auf die Spitzen der Ochsenhörner und den dritten auf den unteren Teil des Ginsterbusches, w e s w e g e n alle drei seitd e m schwarz sind 2 3 . D e r Brauch, a m P.stag ein Kleeblatt z u tragen, ist relativ j u n g und stammt wahrscheinlich erst aus d e m späten 17. Jh. Volkstümlich wird er dadurch erklärt, d a ß P. das Kleeblatt dazu benutzte, u m die Trinität zu erklären. In vielen Ländern der Welt, die eine ir. D i a spora besitzen, finden a m P.stag farbenprächtige U m z ü g e statt, die religiöse, kulturelle und politische Bedeutung haben 2 4 . 1 Kenney, J.: The Sources for the Early History of Ireland: Ecclesiastical. Ν. Y. 1929, 165-170, 319-356, 812; Coccia, E.: La cultura irlandese precarolingia. Miracolo ο mito? In: Studi medievali 8 (1967) 257-420, hier 272-274, 366-370; Lapidge, M./Sharpe, R.: A Bibliogr. of Celtic Latin Literature. Dublin 1985, num. 25 sq. —2 Das älteste Exemplar der „Confessio" enthält das „Book of Armagh" (frühes 9. Jh.) in der Bibl. des Trinity College, Dublin (Faks. bei Gwynn, E. G.: The Patrician Documents in the Book of Armagh. Dublin 1937, fol. 22-24); zur Hss.Überlieferung cf. Bieler, L. (ed.): Libri epistolarum Sancti Patricii Episcopi 1 —2. Dublin 1952, hier t. 1, 1 - 1 0 ; zu Vorbehalten gegenüber Bielers Ausg. cf. Exposito, M.: St. P.'s ,Confessio' and the ,Book of Armagh'. In: Irish Historical Studies 9 (1954-55) 1 - 1 2 ; cf. White, N . J . D.: Libri Sancti Patricii. The Latin Writings of St. P. In: Proc. of the Royal Irish Academy 25 C (1905) 201-326, hier 2 0 3 - 2 0 6 ; id.: The Writings of St. P. His Life and Writings. L. 1920; Bieler, L.: The Works of St. P. St. Secundinus Hymn on St. P. Westminster, Md/L. 1953; Hood, Α. Β. E.: St. P. His Writings and Muirchiii's Writings. Chichester 1978; Hanson, R. P. C.I Blanc, C. (edd.): St. P.: Confession et Lettre a Coroticus. P. 1978; Hanson, R. P. C.: The Life and Writing of the Historical St. P. Ν. Y. 1983; Conneely, D.: The Letters of St. P. Maynooth 1993; Howlett, D. (ed.): The Book of Letters of St. P. the Bishop = Liber Epistolarum Sancti Patricii Episcopi. Dublin 1994; De Paor, L.: St. P.'s World. Dublin 1993 (mit Übers.en anderer Dokumente aus der Zeit P.s und

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anderer hagiographischer Qu.n); O'Loughlin, T.: St. P. The Man and His Works. L. 1999; cf. auch Devine, K.: A Computer-Generated Concordance to the Libri Epistolarum of St. P. Dublin 1989. - 3 Epistola 10, cf. O'Loughlin (wie not. 2) 21, 99; cf. auch Howlett (wie not. 3) 116; Hanson (wie not. 2) 22. - "ibid., 18-25; cf. Howlett, D. R.: Patricius von Irland. In: T R E 26 (1996) 9 4 - 9 6 ; einige Wissenschaftler möchten P.s Missionstätigkeit in die 2. Hälfte des 5. Jh.s verlegen, cf. Maund, Κ. L.: The Death-Date of St. P. In: Dumville, D. N. u. a. (edd.): St. P. A. D. 493-1993. Woodbridge 1993, 2 9 - 3 3 ; Wimmer, Ο.: Hb. der Namen und Hll. Innsbruck/ Wien/Mü. 1956, 358 sq.; Bieler, L.: Patricius. In: LThK 8 ( 2 1963) 178-180. - 5 Kenney (wie not. 1) 234; O'Loughlin (wie not. 2) 17. - 6 v. Ausg.n; Bury, J. B.: The Life of St. P. and His Place in History. L. 1905; Bieler, L.: Studies on the Life and Legend of St. P. Dublin 1949; Thompson, Ε. Α.: Who Was St. P.? Woodbridge 1985; O'Rahilly, T.: The Two St. P.s. Dublin 1942; Carney, J.: The Problem of St. P. Dublin 1963; Binchy, D.: P. and His Biographers. In: Studia Hibernica 2 (1962) 7 - 1 7 3 ; Bray, D. Α.: A List of Motifs in the Lives of the Early Irish Saints ( F F C 252). Hels. 1992, 8 0 - 8 2 ; cf. auch O'Loughlin (wie not. 2) 108-112; Stokes 1890 (v. Ausg.n). - 7 Bieler 1953 (wie not. 2) 6 7 - 7 2 , 104 sq.; cf. auch Kenney (wie not. 1) 272-274; Bernard, J. H./Atkinson, R. (edd.): The Irish Liber Hymnorum 1 - 2 . L. 1898, hier t. 1, 133-136. - 8 Bury, J. B.: The Itinerary of P. in Connaught According to Tireachän. In: Proc. of the Royal Irish Academy 24 C (1904) 153-256. - 9 MacNeill, M.: The Festival of Lughnasa. Ox. 1962 (Faks. Dublin 1992), 7 1 - 8 4 , 686. - 10 Stokes, W. (ed.): Acallamh na Senorach. In: id./Windisch, W. (edd.): Ir. Texte 4. Serie t. 1. Lpz. 1900; Ni Sheaghda, N. (ed.): Agallamh na Seanoräch (The Dialogue of the Ancients) 1 - 3 . Dublin 1942-45; ,An Seabhac' (i.e. P. 0 Siochfhradha): Laoithe na Feinne (Fianna Lays). Dublin 1941; Nagy, J. F.: Conversing with Angels and Ancients. Literary Myths of Medieval Ireland. Ithaca/L. 1997. 11 cf. Drake, M. und W.: Saints and Their Emblems. L. 1916, 62 (Honoratus bannt Schlangen von der Klosterinsel). - 12 Leslie, S.: St. P.'s Purgatory. L. 1932; Haren, M./Pontfarcy, Y. de: The Medieval Pilgrimage to St. P.'s Purgatory. Enniskillen 1988; Hopkin, Α.: The Living Legend of St. P. L. 1989, 84-105; Curley, M. J.: St. P.'s Purgatory. A Poem by Marie de France. Binghamton, Ν. Y. 1993. 13 Haren/Pontfarcy (wie not. 12) 5 - 7 , 48. - 14 Freytag, W.: Patricius. Dt. Legende. In: Verflex. 7 ( 2 1989) 358 sq. - 15 Herbert, 83, num. 14; 96, num. 35; 402, num.510; 518, num.135; 711, num.27. - 1 6 Legenda aurea/Benz, 245-249; Legenda aurea/ Graesse, n u m . 5 0 (49). - 17 Scott, H. E./Swinton Bland, C. C. (edd.): The Dialogue on Miracles (Caesarius von Heisterbach) 2. L. 1929, 293. - 18 Banks, Μ. M. (ed.): An Alphabet of Tales. An English 15th Century Translation of the Alphabetum narratio-

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Patriotismus

num of Etienne de Besangon. Nachdr. Millwood, Ν. Υ. 1987, num. 322, 504. - 19 Little, A. G. (ed.): Liber exemplorum ad usum praedicantium [...]. Aberdeen 1908 (Nachdr. Farnborough 1966), num. 182. - 2 0 Schmitt, Μ. (ed.): Der große Seelentrost. Ein ndd. Erbauungsbuch des 14. Jh.s. Köln 1959, 45 sq., num. 17. 21 Gayangos, P. de (ed.): El Libro de los enxemplos. Madrid 1860, num. 108, 353; cf. auch Verdaguer, A. (ed.): Recull de eximplis e miracles [...]. Barcelona 1881, num. 278, 441. - 22 Bieler (wie not. 4) 179 sq. - 23 Zahlreiche P.-Überlieferungen befinden sich im Archiv des Department of Irish Folklore, Univ. College, Dublin. - 24 ζ. B. Schmitz, N.: Irish For A Day. St. P.'s Day Celebrations in Quebec City, Canada 1765-1990. Quebec 1991; Byron, R.: Einen Tag lang Ire sein. Die St. Patrick's Day Parade als Ausdruck kultureller Integration in den Vereinigten Staaten. In: Giordano, C. u. a. (edd.): Interkulturelle Kommunikation im Nationalstaat. Fribourg/Münster 1998, 261-275. A u s g . η d e r V i t e n ( A u s w . ) : Bieler, L. (ed.): The Patrician Texts in the Book of Armagh. Dublin 1979, 1 - 3 5 , 6 1 - 1 2 2 , 193-213 (Muirchiü), 3 5 - 4 6 , 122-163, 2 1 3 - 2 3 3 (Tireachän). - id.: Four Latin Lives of St. P. Colgan's Vita Secunda, Tertia, Quarta and Quinta. Dublin 1971. - Stokes, W. (ed.): The Tripartite Life of P., with Other Documents Relating to That Saint 1 - 2 . L. 1887 („Bethu Phätraic" - Ms. Rawlinson Β 512). - Mulchrone, K. (ed.): „Bethu Phaträic". The Tripartite Life of St. P. 1: Text and Sources. Dublin 1939. - Stokes, W. (ed.): Lives of Saints from the Book of Lismore. Ox. 1890, 1 - 1 9 . - Byrne, J. F./Francis, P. (edd.): Two Lives of St. P. „Vita Secunda" and „Vita Quarta". In: J. of the Royal Soc. of Antiquaries of Ireland 124 (1994) 5-117.

Dublin

Patricia Lysaght

Patriotismus 1. Allgemeines - 2. P. und Volksforschung - 3. P. und Nationalismus

1. A l l g e m e i n e s . Der Begriff P. ist im 16. Jh. im Französischen geprägt und von dort in andere Sprachen übernommen worden; er enthält seither einen moralisch-politischen Aufforderungscharakter 1 . In der 2. Hälfte des 18. Jh.s kam es im Deutschen zu zahlreichen Weiterbildungen wie etwa vaterländisch' 2 . Damals wurde der P. zur gemeineurop. (und -amerik.) Bewegung. In der folgenden Darstellung liegt der Schwerpunkt auf dem dt. Sprachgebiet 3 .

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R. Vierhaus definiert den P. des Zeitraums 1740-1800 als „eine auf das Gemeinwesen bezogene moralisch-politische Gesinnung, die das jeweils eigene Vaterland als gesetzlich gesicherte Stätte menschenwürdiger Existenz einrichten und erhalten" wollte 4 . Er war also zunächst eine persönliche Haltung, welche auf einer ,,mittlere[n], durch Altruismus, Wohlwollen, Einsicht und Rechtschaffenheit bestimmtein] Tugend" gründete 5 . Der P. beinhaltete zwar die Bereitschaft, Verantwortung für das Ganze zu übernehmen, dies aber vor allem im eigenen Lebens- und Wirkungskreis. Der Patriot war ein Reformist, der das Gegebene im Rahmen seiner Möglichkeiten schrittweise verbessern wollte. Eine ,mittlere', jedem erreichbare Tugend kann von dem, der sie schon hat, auch jedem anderen zugemutet werden. Insofern war der P. eine Mobilisierungsdoktrin: Die Liebe zum Vaterland, die bisher Neigung war, machte er zur Pflicht. Was mobilisiert werden sollte, waren territoriale, ständische und konfessionelle Partikularismen übergreifende Großgruppen. Man hat den P. als eine Bewegung eigener Dignität, die zur Etablierung der sog. bürgerlichen Gesellschaft führte, und insofern als Alternative zum späteren aggressiven Nationalismus (N.) verstanden 6 oder aber als Frühphase desselben, nämlich als Übergangsform vom b ü r gerlich-territorialen' zum ethnisch-genealogischen' Nationsbegriff (-> Nation) 7 . Als seine Trägerschicht identifiziert B. Giesen das ,Bildungsbürgertum' 8 . Diese Gruppe 9 erhob nunmehr als ,Patrioten' Anspruch auf eigenverantwortliche Mitwirkung im Staat 10 . Ihre Begegnungsstätten waren die ,Aufklärungsgesellschaften' 11 , gelehrte, ökonomische, gemeinnützige, literar. oder geheime Ges.en, die, durch Mehrfachmitgliedschaften untereinander verbunden, ein von den Regierungen nur schwer kontrollierbares Netzwerk bildeten, in welchem das Ideengut der Aufklärung bis herab zur lokalen Ebene wirksam werden konnte 12 . Hierher gehören auch die eigens so genannten patriotischen Ges.en', von denen zwischen 1760 und 1820 im dt. Sprachraum etwa 60 gegründet wurden 13 . Dem P. waren politisch-rechtlich-administrative Reformen zunächst wichtiger als kulturelle. Doch hatte er mit dem ihm vorangegangenen Absolutismus die Staatsbezogenheit

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gemeinsam, die M. Rassem als „die Neubildung einer politischen Einheit oder, wenn diese schon gegeben ist, [...] ihre Durchbildung" bestimmt hat 1 4 . Ein derart umfassendes Reformstreben konnte vor der kulturellen Dimension nicht haltmachen. In der patriotischen Bewegung kam es zu Bildungsprogrammen f ü r das gesamte Volk (,Nationalerziehung') 1 5 . Gerade in diesen wurde die Vernunftgläubigkeit, der praktische Sinn und das moralisch-didaktische Pathos des R um eine „stärker historisch orientierte, mehr auf traditionelle Bindungen setzende und an Gefühlskräfte appellierende" Komponente ergänzt 1 6 . Bes. der dt. R hatte außer an der Aufklärung auch Anteil am Pietismus, die ja alle beide pädagogische Bewegungen' waren 1 7 . Das Überschreiten der Territorial-, Standesund Konfessionsschranken wurde durch die A b k u n f t des P. aus der pietistischen Gefühlsreligiosität erleichtert, welche doktrinären und andern Grenzziehungen wenig Bedeutung beimaß. G. Kaiser spricht hier von einer Strukturübertragung aus dem religiösen auf den säkularen Kontext 1 8 . Pietistische Elemente im P. waren vor allem die elitären Zirkel (Folgeorganisationen der namensgebenden Collegia Pietatis), das Motiv der selbstlosen Wohltätigkeit' und das der missionarischen Erweckung des Volkes 19 . Pietistisch war überdies die „Sympathie für das Idyllische, Kleinräumige und Traditionelle" 2 0 . 2. P. u n d V o l k s f o r s c h u n g . Die Zwischenstellung des P. zwischen Aufklärung und Vorromantik hat ihn für die Erforschung der Gesellschaft und Kultur bes. prädisponiert. Er verfügte „von Anfang an [über] eine Empirie, die das Prinzip des Ganzen — den esprit des lois, den Geist des Volks - zu erfassen sucht" 2 1 . Die Patrioten haben die empirische Sozial- und Kulturforschung nicht nur den Bürokraten des Absolutismus überlassen, sondern auch in privater Initiative, vor allem über die ,Aufklärungsgesellschaften' betrieben und sie damit vom Staatsgeheimnis zu einem Thema für die gebildete Öffentlichkeit gemacht 2 2 . So trat als Betätigungsfeld patriotischen Reformwillens neben das Vaterland auch die Muttersprache. Das Sammeln mündl. Überlieferungen fügte sich in diese Bestrebungen ein.

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Wenn hierauf im folgenden etwas näher eingegangen wird, ist dem ein weitgefaßter P.begriff zugrunde gelegt: mit ihrer „staatspädagogischen patriotischen P r o p a g a n d a " wollte die „Literatur und Publizistik der Zeit [...] ein ,Klima' schaffen, in dem auch die Regierenden sich um den Ruf bemühen mußten, patriotisch zu handeln" 2 3 . Es bestand eine Wesensverwandtschaft zwischen dem P. und der sog. antiquarischen 2 4 Forschung: Das Aufnehmen nationaler Monumente, Rechtsformen, Sitten und Bräuche, Traditionen und Sprechweisen hatte ja auch mit der Erkundung von ,Land und Leuten' zu tun. Patriotische Juristen und Staatsmänner wie J. Moser und C. F. von Moser erörterten das Wesen der ,dt. Freiheit' 2 5 und engagierten sich „für die Wiederherstellung, f ü r die Erneuerung der geschichtlichen deutschen Verfassung" 2 6 . Damit konvergierte das ab etwa 1740 fühlbar werdende Interesse von Literaten f ü r das .national Eigene' 2 7 . Vor allem in den westl. und nördl. Protestant. Teilen Europas bedeutete dies die Hinwendung zu archaischen Kulturwelten abseits der bislang allein maßgeblichen klassisch-christl. Tradition, zu den eigenen barbarisch-heidnischen Vorfahren. Zwischen ihnen und der gegenwärtigen Epoche wurde eine übergeschichtliche Identität konstruiert. Deshalb sollte in „einer sich wandelnden Zeit mit erschütterten Traditionen" der „Sinn für Heimat und Vaterland" erhalten und erneuert werden 2 8 . Die Urzeit der Nation dachte man sich in den Überlieferungen des Volkes noch lebendig, wenn auch durch die Modernisierung verdunkelt 2 9 . So kam es also darauf an, jeden i r gend verborgenen Rest' des Urtümlichen im Volke zu sammeln und zu bewahren (cf. -> Survivaltheorie) 30 ; entlegene, noch wenig modernisierte Gebiete (-• Reliktgebiete) erschienen d a f ü r bes. geeignet; Rückständigkeit konnte so auch positiv bewertet werden 3 1 . Das Sammeln und Edieren bislang mündl. oder semiliterar. überlieferter Texte bedeutete deren Verschriftlichung und Aufnahme in die Elitekultur 3 2 . Sie wurden also dekontextualisiert 33 . Gerade die Suche nach vermeintlich Authentischem verwandelte dieses in Inauthentisches (cf. -> Authentizität) 3 4 . Das war den Zeitgenossen durchaus klar. Laut -> Herder singt der vorliterar. Sänger zwar nur f ü r

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den Augenblick, doch er wirkt auf Jh.e, während das Buch bloß eine ,papierene Ewigkeit' gewährt 35 . Die Aufgabe solcher Sänger war Herder zufolge eine patriotische. Indem sie von ihren Vorgängern ,lebendig vernommene' Lieder den Zuhörern ,mit Nägeln des Gesanges in die Seele' hefteten, wurde mancher von ihnen zum .Schöpfer eines Volkes um sich', zum ,Mann für sein Volk und Vaterland' 36 . Skalden und Barden waren .Religions-, Mutund Tugendsänger': „solange es Barden gab, war der Nationalgeist dieser Völker unbezwinglich, ihre Sitten und Gebräuche unauslöschbar" 37 . Durch die entsprechende Selbststilisierung des berühmtesten dt. Dichters der Zeit, Klopstocks, wurde der archaische Sänger-Dichter zum Identifikationsangebot für patriotische Literaten. Eine vergleichbare Rolle beanspruchten nun aber auch die Sammler und Herausgeber von ,Volkspoesie' für sich. Wie -> Goethe es später formulierte: „Warum soll der, der [ein Volkslied] in letzter Instanz aufzeichnet, mit anderen zusammenstellt, nicht auch ein gewisses Recht daran haben?" 38 Ganz passend ist die Analogie freilich nicht. Die juristische Formulierung ,in letzter Instanz' weist ja darauf hin, daß mit dem Gesammeltwerden der ,Volkspoesie' die lebendigen Traditionsketten abrissen. Demgemäß verwendeten die Sammler für ihre Tätigkeit oft die Metapher der Ernte. Dahinter steckte der zyklische Geschichtsmythos vom Weltenjahr, vom Wachsen, Blühen, Fruchttragen und Vergehen der Völker und Kulturen, sowie der schon bei Piaton (Phaidros, 276b—277a) belegte Vergleich der Kulturinhalte mit Samenkörnern 3 9 . Eine andere, ebenfalls auf Piaton (Nomoi 1, 644d—e) zurückreichende Metapher für solches Sammeln war die des Spiegels. Verschriftlichung von Mündlichem bedeutete ja die Transferierung der Texte aus Primärgruppen in die Sekundärgruppe des lesenden Publikums und zugleich ihre Zusammenführung zu einem Supertext — wie die von Strahlen in einem Brennpunkt. Herder nennt -> Ossian einen ,Zauberspiegel' des Keltentums 40 . Das Märchenmotiv des Zauberspiegels (Mot. D 1163) verdeutlicht, daß ein solches Fokussieren immer auch ein Verfügbarmachen ist. Als Reformisten konnten sich die Patrioten mit nostalgischen Rettungsaktionen für dahin-

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schwindende Kulturgüter nicht zufrieden geben. Eine Art Synthese von Sehnsucht nach dem Ursprünglichen, Fatalismus des Weltenjahr-Mythos und reformistischem Aktivismus bot ihnen C. Bonnets Lehre von den Palingenesien. Bonnet hatte zu zeigen versucht, daß alles Lebendige dazu bestimmt sei, nach seinem Absterben auf einer höheren Stufe des Seins wiederzukehren 41 . Durch seinen Ubersetzer und Popularisator J. C. Lavater 42 wirkte der Genfer Naturphilosoph auf den dt. Sturm und Drang 4 3 . Das Ur- und Volkstümliche wurde von den ,Stürmern und Drängern' und der auf sie folgenden Sammlergeneration nicht nur in seinem Eigenwert erschlossen; es sollte zugleich für eine höhere Zivilisationsstufe fruchtbar gemacht werden. Als der für die Wiederaussaat der gesammelten kulturellen Samenkörner geeignete Boden erwiesen sich die im Aufbau begriffenen ,Nationalkulturen' 4 4 . Die ,Volkserwecker' in ihrem ersatzreligiösen Kultus der nationalen Ursprünge projizierten die erstrebte Einheit der Nation ,anaklitisch' 45 in die Urzeit, um sie dann aus dieser als etwas Gottgewolltes (bzw. Naturgegebenes) wieder ableiten zu können. Daraus ergab sich der welthist. Auftrag für die Elite, die hist. Fehlentwicklungen der Nation rückgängig zu machen, den Weg zum Volke zurückzufinden und eine dem ,Nationalgeist' 46 gemäße Kultur von den Ursprüngen her wieder aufzubauen. Dazu sollten ja auch die ,Nationalerziehungspläne' des ausgehenden 18. Jh.s dienen 47 . Die sich im P. ankündigenden und mit der Frz. Revolution hervortretenden Nationalkulturen waren Schrift- und Elitekulturen, die sich indes aus den jeweiligen Volkskulturen ableiteten. Darin lag etwas Zwiespältiges, wurde doch so das Volkskulturelle Legitimationsgrundlage und Manipulationsobjekt in einem. Diesen Widerspruch suchte man durch die Unterscheidung zwischen ,Volk' und ,Pöbel' (so J. Moser schon 1748) abzufangen 48 . Damit wiesen die Gebildeten sich selbst eine politische Schlüsselstellung zu: Die Patrioten waren die früheste Erscheinungsform nationalkultureller Eliten 49 . Die ihre bildungsbürgerliche Sensibilität verletzende ,Pöbelhaftig keit' trafen sie vor allem in den Städten und hier bei den Handwerksgesellen (Vorläufern des späteren ->• Proletariats) an, während ih-

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nen die Landbevölkerung den Ursprüngen der Nation näher geblieben zu sein schien. Moser bezeichnete die ,gemeinen Landeigenthümer' als ,die wahren Bestandtheile der Nation', die ,grossen und kleinen Bedienten dieser Nation' dagegen als ,böse oder gute Zufälle [ihres] Körpers' 5 0 . Der Bauernstand war für ihn Überlieferungsträger des Goldenen -> Zeitalters dt. Gemeinfreiheit, die Städte galten ihm als ,anomalische Körper' 5 1 . Auch Herder in seinem Aufruf zum Sammeln dt. Volkslieder (1773) wandte sich gegen schlechte Handwerkslieder' 52 und bemängelte die mit der Verstädterung einhergehende kulturelle Auflösung 53 . So zogen also die Sammler Texte aus ländlichen Räumen, bes. solchen mit noch relativ intakter vorindustrieller Struktur, vor. Die ,Nationalerziehungspläne' lassen sich zugleich als Programme verstehen, die städtische der ländlichen Lebensweise wieder einzugliedern 54 . Der P. schrieb damit der Volkskultur eine gewisse Biederkeit zu, die er als Überbleibsel oder Nachhall der -» Naivität der nationalen Frühzeit deutete. Diese Naivität bot das Unterscheidungskriterium zwischen Volksund ,Pöbelliedern' (-• Lessing) 55 . Als Richtschnur gebraucht, gab sie den Literaten die Macht, „Kehricht zur lebendigen Pflanze umzupalingenesieren" (Goethe) 56 . Dazu mußten sie nur die stets und überall vorhandenen ,edlen Keime' 57 auswählen und die ,Kräfte der Natur pflegen' (Herder) 58 . Es kam also auf die .Verbesserung unserer eigenthümlichen Güter und ihrer Kultur' an 59 . Von daher gesehen verschwamm die Unterscheidung zwischen echten, bearbeiteten und nachempfundenen Texten. Hauptsache war, daß die patriotische Elite den Volkston traf. Damit konnte sie dann wieder das Volk zu sich emporheben. 1772 gelobten die Göttinger Studenten Johann Heinrich Voß und Ludwig Carl Hölty ,unter heiligen Eichen' 60 , als Barden Deutschland zu durchwandern, um „das Leben und die Geschäfte der Landbewohner veredelt in Liedern und Idyllen darzustellen" 61 . 1787 setzte ein anonymer ,Volksfreund' zur Verdrängung der „sowohl den Sitten als dem Verstände gefährlich[en]" Gassenhauer auf „muntere, gefallige und zugleich auf Verbesserung der Sittlichkeit Einfluß habende" Lieder einen Preis aus - es ist unklar, ob für neuge-

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schriebene oder aus dem Volksmund aufgezeichnete 62 . 1798 wies J. G. Hoche in Halberstadt der Volkspoesie aufgrund ihrer konkreten, sinnlichen Natur den Auftrag zu, alle menschlichen und bürgerlichen Tugenden, bes. aber die des P., dem Volke ,einzusingen' 63 . 3. P. u n d N a t i o n a l i s m u s . Mit der Wende zum 19. Jh. zerbrach die Einheit von Vernunft, Gefühl und Handeln, an der der alte P. festgehalten hatte 64 . Die ,napoleonische Herausforderung' 6 5 emotionalisierte das Nationalgefühl; ein neuer P. bildete sich, der schon ziemlich dem modernen N. glich. Man konnte, ja mußte nunmehr Patriot sein unter Aufopferung des Selbstdenkens und der bürgerlichen Moralbegriffe, während „die sozusagen .normale' Bereitschaft zur praktischen Gemeinnützigkeit aus moralischen Gründen" kaum noch etwas galt 66 . Volk und Nation erforderten jetzt eine irrationale Hingabe' und ,außerordentliche Leistung', die jene, die sie zu erbringen bereit waren, weit über die ,mittleren' Tugenden der anderen hervorhoben und allein ihr Tun legitimierten 67 . Der Begriff der Biederkeit hat seither etwas Abwertendes. Die Volksliedersammlung Des Knaben Wunderhorn (1805—08) von A. von Arnim und C. -+ Brentano gehört bereits zu diesem neuen P. Sie sollte die dt. Stämme auf ihre Einheit hinweisen und zum Widerstand gegen -> Napoleon ermutigen. Die Herausgeber hatten seit 1802 teils direkt (durch Feldforschung), teils indirekt (durch Rundschreiben) mündl. Überlieferungen gesammelt; die Brüder -> Grimm arbeiteten als Sammler und bei der Redaktion mit. Doch darüber entfremdeten sich die beiden Gelehrten von den beiden Dichtern: „Während die Brüder Grimm von einer Wiederherstellung des verlorenen Paradieses der Vorzeit auf dem Wege strenger historischer Forschung träumten, waren Arnim und Brentano im Vertrauen auf die .Wahrheit der Phantasie' zur Rekonstruktion der verlorenen Seinseinheit durch die Kunst entschlossen." 68 In seiner Rezension von 1806 gab Goethe den Dichtern recht und drückte die Hoffnung aus, die Lieder des Wunderhorns würden „belebt und verherrlicht zum Volke" zurückkehren 69 . Entschlossener noch ergriff J. Görres die Partei seiner Dichterfreunde. Ihm zufolge sollten die Nachgeborenen bei den noch vorhan-

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denen .Ruinen' der Frühzeit, bei den noch lebenden ,Urahnen' anfragen, um die .Volksliteratur' wieder auferstehen zu lassen 70 . Auch die -> Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm gingen vom Wunderhorn aus. Diese haben ihre Sammlung indes äußerst gewissenhaft dokumentiert und dabei versucht, die Texte „so rein als möglich war aufzufassen" 71 . Das hohe Ideal einer der Vorzeit nachtrauernden und doch die neuzeitlichen Standards nicht preisgebenden Gelehrsamkeit 72 hat zumindest W. Grimm später zugunsten einer nationalen Wirksamkeit abgemildert. Zwischen 1812 und 1857 veränderte er von Ausg. zu Ausg. ,mit bewußter Kunst' die Texte in Richtung einer „volkstümlichen, dem einfach reinen Kindersinne angemessenen Erzählung" (-• Bearbeitung) 73 . So konnten die allseits respektierten und geliebten K H M anders als das diese Rolle anstrebende Wunderhorn, zur .zentralen Ikone in der Nationwerdung Deutschlands' und .moralischen Richtschnur des entstehenden Bürgertums' werden 74 . Die Durchsetzung.wiss. Standards in der Erforschung der ,Naturpoesie' hat die auf patriotische Wirkung abzielenden .Barden' aus dieser vertrieben. Dieselben wurden damit freilich auch einer Fessel ledig; sie mußten nun keine Standards der Wahrhaftigkeit und Gewissenhaftigkeit beobachten, folgten sie doch der .höheren' Wahrheit der Nation. Der romantische Super- und Immoralismus ist denn auch vor verschleiernden Manipulationen, mythopoetischen Nachempfindungen, ja vor krassen Fälschungen nicht zurückgeschreckt. Bes. auffällig ist dies bei den kleineren, später entstandenen Nationen, welche sich anhand der kulturpolitischen Aktivität ihrer Intelligenz erst selber konstituieren mußten 7 5 . Fälschungen, die die wiss. Standards zugleich unterliefen und anerkannten, verbanden eine eigentlich schon kriminelle Praxis mit patriotischer Motivation. Einen derartigen Fall stellen die vom Dichter-Philologen V. Hanka fabrizierten angeblich frühma. Königinhofer und Grünberger Hss. (1817, 1818) dar, die zu Ikonen des tschech. N. wurden (-• Libussa) 76 . Überhaupt wurde mit der -> Romantik die Rolle der Intelligenz als der Verwalterin ,anaklitischer' Geschichtsmythologien für die nationale Selbstorganisation zentral 77 .

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Der auf persönlicher Integrität und Tugendhaftigkeit insistierende alte P. hat in der 1. Hälfte des 19. Jh.s weiterbestanden, wobei er jedoch immer mehr auf lokale und untergeordnete Betätigungsfelder abgedrängt wurde; als maßgebende Ideologie wurde er indes vom N. überlagert. Die zahlreichen Gründungen hist. Vereine und Museen und die .vaterländische' Erziehung in den Weltanschauungsfächern waren diesem fortbestehenden P. verpflichtet 78 , und so auch die sich akademisch etablierende Vk. 79 In der 2. Hälfte des 19. Jh.s, mit dem Hervortreten des nationalen Machtstaates, begann sich der Unterschied zwischen P. und N. zu verwischen 80 . Als durchgängiges Unterscheidungskriterium zwischen den Begriffen P. und N. läßt sich vielleicht festhalten, daß der N. in der Verbindung ,Land und Leute' das erste, der P. das zweite Glied bevorzugt. Da er sich auf das Vaterland und damit auf ein vorhandenes Staatswesen bezieht, ist der P. tendenziell konservativer als der die .organisierte Ethnizität' und in Verbindung damit oft revolutionäre Staatsgründungen anstrebende N. Im 20. Jh. hat der Begriff P. wieder eine positivere Färbung gewonnen. Wer immer sich vom N., dessen Schattenseiten erst in diesem Jh. unübersehbar wurden, distanzieren wollte, konnte auf den unverfänglicheren P.begriff zurückgreifen, vor allem dann, wenn es möglich war, sich mit einem vorhandenen Staatswesen zu identifizieren. So hat denn auch die D D R , deren Status als Nation zweifelhaft war, an die Stelle der aus dem 19. Jh. überlieferten n a t i o nalen' eine patriotische' Erziehung zu setzen gesucht 81 . Die Karriere des Begriffs ,Verfassungspatriotismus' in der Bundesrepublik hatte verwandte Gründe 8 2 . ' Aulard, F.-A.: Patriotisme fran9ais de la Renaissance ä la Revolution. P. 1921. - 2 D W b . 12,1, 29 sq.; Kluge, F.: Etymol. Wb. der dt. Sprache. B./ N . Y . 2I 1975, 535, 810. - 3 Vierhaus, R. (ed.): Dt. patriotische und gemeinnützige Ges.en. Mü. 1980; Prignitz, C.: Vaterlandsliebe und Freiheit. Dt. P. von 1750 bis 1850. Wiesbaden 1981; Vierhaus, R.: Deutschland im 18. Jh. Göttingen 1987, 9 6 - 1 0 9 ; Schmidt-Sasse, J.: Der Patriot und sein Vaterland. In: Bödecker, H. E./Herrmann, U. (edd.): Aufklärung als Politisierung - Politisierung als Aufklärung. Hbg 1987, 2 3 7 - 2 5 2 ; Giesen, B.: Die Intellektuellen und die Nation. Eine dt. Achsenzeit. Ffm. 1993, 104-122. - 4 Vierhaus, R.: P. - Begriff und

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Realität einer moralisch-politischen Haltung [1980]. In: Herrmann, U. (ed.): Die Bildung des Bürgers. Die Formulierung der bürgerlichen Ges. und die Gebildeten im 18. Jh. Weinheim/Basel 1982, 119-131, hier 129. - 5 ibid., 121. - 6 ibid. - 7 cf. Smith, A. D.: The Politics of Culture. Ethnicity and Nationalism. In: Ingold, t. (ed.): Companion Enc. of Anthropology. L./N. Y. 1994, 706-733, hier 717-721; zum P. als Übergangsphänomen cf. Giesen (wie not. 3) 104-107; Hermann, Η. P.: Einl. In: id./Blitz, H.-M./ Moßmann, S. (edd.): Machtphantasie Deutschland. Ν., Männlichkeit und Fremdenhaß im Vaterlandsdiskurs dt. Schriftsteller des 18. Jh.s. Ffm. 1996, 7 - 3 1 , hier 27. - «Giesen (wie not. 3) 107-111. "cf. etwa Gerth, H.-H.: Die Struktursituation der bürgerlichen Intelligenz im ausgehenden 18. Jh. In: Herrmann (wie not. 4) 329-358. - 10 Aulard (wie not. 1 ) 6 . " Dülmen, R. van: Die Aufklärungsges.en in Deutschland als Forschungsproblem. In: Herrmann (wie not. 4) 8 1 - 9 9 ; id.: Die Ges. der Aufklärer. Zur bürgerlichen Emanzipation und aufklärerischen Kultur in Deutschland. Ffm. 1986. - 12 Koselleck, R.: Kritik und Krise. Ein Beitr. zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Ffm. 1986. - , 3 Kopitzsch, F.: Die Hamburg. Ges. zur Beförderung der Künste und nützlichen Gewerbe (Patriotische Ges. von 1765) im ZA. der Aufklärung. In: Vierhaus 1980 (wie not. 3) 71-118, hier 71. - 14 Rassem, M.: Die Volkstumswiss.en und der Etatismus. Mittenwald 2 1979, 8. 15 cf. König, H.: Zur Geschichte der Nationalerziehung in Deutschland im letzten Drittel des 18. Jh.s. B. 1960. - 16 Vierhaus (wie not. 4) 125. - " i d . : Kulturelles Leben in Deutschland im ZA. des Absolutismus. In: Herrmann (wie not. 4) 11-32, hier 24. 18 Kaiser, G.: Pietismus und P. im Iiterar. Deutschland. Wiesbaden 1961, 97. - 19 ibid., 9, 14; Hinrichs, C.: Friedrich Wilhelm I., König von Preußen. Hbg 1943, 528 sq. - 20 Honigsheim, P.: Die geistesgeschichtliche Stellung der Anthropologie, Ethnologie, Urgeschichte und ihrer Hauptrichtungen. In: Festschr. P. W. Schmidt. Wien 1928, 844-864, hier 848. 21 Rassem (wie not. 14) 10; cf. das für den P. ungeheuer bedeutende Werk von Montesquieu: De l'Esprit des lois [...] 1 - 2 . Genf 1748; hiervon ist der dt. Begriff ,Nationalgeist' abhängig, der erstmals wohl von dem patriotischen Schriftsteller und Juristen F. C. von Moser 1760 gebraucht wurde; dieser wurde zu Ende des 18. Jh.s durch ,Volksgeist' (zuerst bei J. H. Campe) ersetzt, cf. Kluge (wie not. 2) 824. 22 Rassem, M./Stagl, J.: Einl. In: iid. (edd.): Geschichte der Staatsbeschreibung. Ausgewählte Qu.ntexte 1456-1813. B. 1994, 1 - 3 7 ; Stagl, J.: Leopold Graf Berchtold. In: ÖZfVk. 99 (1996) 153-180. 23 Vierhaus (wie not. 4) 123. - 24 Lohre, H.: Von Percy zum Wunderhorn. Beitr.e zur Geschichte der Volksliedforschung in Deutschland. B. 1902; Momigliano, A. D.: Studies in Historiography. L. 1966, 1 - 4 5 ; Wegmann, N.: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Lit. des 18. Jh.s.

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Stg. 198 8. - 25 Vierhaus, R.: Deutschland im 18. Jh. In: Herrmann, U. (ed.): Das pädagogische Jh. Volksaufklärung und Erziehung zur Armut im 18. Jh. in Deutschland. Weinheim/Basel 1981, 15-28, hier 25. - 26 Vierhaus (wie not. 4) 127. - 27 Stauf, R.: Justus Mosers „Arminius" und die Frage der dt. Identität um 1750. In: Möser-Forum 1 (1989) 2 8 - 4 5 , hier 28; cf. Beckers, H.: Moser und die Wiederentdeckung der ma. dt. Lit. ibid., 96-116. - 28 Vierhaus (wie not. 4) 129. - 29 Kluckhohn, P.: Die Idee des Volkes im Schrifttum der dt. Bewegung von Moser und Herder bis Grimm. B. 1934; Mühlmann, W. E.: Rassen, Ethnien, Kulturen. Neuwied/B. 1964; Meinecke, F.: Die Entstehung des Historismus. Mü. 4 1965. 30 Herder, J. G.: Ueber die Würkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten. In: Herders Sämmtliche Werke 8. ed. B. Suphan. B. 1892, 334-436, hier 389. 31 id.: Vom Einfluß der Regierung auf die Wiss.en und der Wiss.en auf die Regierung, ibid. 9 (1893) 307-408, hier 399. - 3 2 cf. Stagl, J.: Verschriftlichung von Volkskultur. In: Die Printmedien und ihr Verhältnis zur musikalischen Volkskultur. Graz 1998, 4 0 - 5 2 . - 33 Stewart, S.: Crimes of Writing. Ν. Υ. 1991; Gerndt, Η.: Volkssagen. Über den Wandel ihrer zeichenhaften Bedeutung vom 18. Jh. bis heute. In: Volkskultur in der Moderne, ed. U. Jeggle/ G. Korff/M. Scharfe/B. J. Warneken. Reinbek 1986, 397-409. - 34 Bendix, R.: in Search of Authenticity. The Formation of Folklore Studies. Madison 1997, 2 5 - 9 4 . - 35 Herder (wie not. 30) 224 sq. - 36 ibid., 197 sq., 23 6. - 37 ibid., 212; cf. Köhler-Zülch, I.: Der Diskurs über den Ton. Zur Präsentation von Märchen und Sagen in Slgen des 19. Jh.s. In: Homo narrans. Festschr. S. Neumann. Mü./B. 1999, 2 5 - 5 0 . 38 Goethe, J. W. von: Des Knaben Wunderhorn. In: id.: Goethes Werke 40. Weimar 1901, 337-359, hier 358. - 39 cf. dazu Stagl (wie not. 32). - 4 0 Herder, J. G.: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Wiesbaden 1985, 426; cf. auch Görres, J.: Die teutschen Volksbücher. In: id.: Ausgewählte Werke 1. ed. W. Schellberg. Kempten/Mü. 1911, 183, 189; Szyrocki, M.: Barde, Genie, Wieszcz. Zum Geniebegriff im 18. Jh. und seiner Rezeption. In: Goethe-Jb. 101 (1984) 5 6 - 6 2 . 41 Bonnet, C. de: Idees sur l'etat futur des etres vivants, ou Palingenesie philosophique 1 - 2 . Genf 1769. - 4 2 Lavater, J. C.: Zueignungsschrift der Bonnetischen Phil. Unters, der Beweise für das Christenthum. Zürich 1770. - 4 3 Pascal, R.: Der Sturm und Drang. Stg. 1963, 226 sq. - 4 4 Stagl, J.: Zur Geschichte der Nationalkultur. In: Sommerakademie Volkskultur 1993. ed. W. Deutsch/M. Walcher. Wien 1994, 4 2 - 5 5 ; cf. auch Giesen (wie not. 3). 45 Mühlmann, W. E.: Chiliasmus und Nativismus. Studien zur Psychologie, Soziologie und hist. Kasuistik der Umsturzbewegungen. B. 2 1964. - 4 6 cf. Hammerstein, N.: Das politische Denken F. C. v. Mosers. In: Hist. Zs. 212 (1971) 316-338. 47 König (wie not. 15). - 48 cf. Stauf (wie not. 27) 28; Marx, J.: Alchimie et palingenesie. In: Isis 62 (1971)

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Paul Bunyan

275—289; McCalla, Α.: Palingenesie philosophique to Palingenesie sociale. From a Scientific Ideology to a Historical Ideology. In: J. of the History of Ideas 65 (1994) 421-439. - 4 9 Giesen (wie not. 3). - 50 Moser, J.: Osnabrück. Geschichte [1768]. In: Irmscher, Η. D. (ed.): Von dt. Art und Kunst. Einige fliegende Blätter: Herder, Goethe, Frisi, Moser. Stg. 1968, 125-137, hier 125. 51 ibid., 126. — 52 Herder, J. G.: Auszug aus einem Briefwechsel über Oßian und die Lieder der alten Völker. In: id. (wie not. 30) 6 - 6 2 , hier 44. - 53 id. (wie not. 31) 337 sq. - 54 Wilson, S. W. Α.: Herder, Folklore, and Romantic Nationalism. In: J. of Popular Culture 6 (1973) 819-835; Mosse, G. L.: The Nationalization of the Masses. Ν. Υ. 1975; Gellner, Ε.: Nations and Nationalism. Ox. 1983; Anderson, B.: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. L. 1983; Smith, A. D.: The Ethnic Origins of Nations. Ox. 1986; Stauf, R.: Justus Mosers Konzept einer dt. Nationalidentität. Tübingen 1991. - 55 Lessing, G. E.: Sämtliche Sehr. 18. ed. K. Lachmann. Lpz. 3 1907, 251. - " Z i t i e r t nach Irmscher, D.: Nachw. In: id. (wie not. 50) 163-196, hier 167. - " H e r d e r (wie not. 31) 305. 58 id.: Ursachen des gesunknen Geschmacks bei den verschiednen Völkern, da er geblühet. In: id. (wie not. 30) 141-178, hier 172. - 59 Moser, J.: Über die dt. Sprache und Lit. Schreiben an einen Freund [1781], In: id.: Sämtliche Werke 3. ed. B. R. Abeken. B. 1942, 7 1 - 9 0 , hier 84. - 60 Martini, F.: Dt. Lit.geschichte. Stg. 131965, 213. 61 Lohre (wie not. 24) 3 sq. - 62 ibid., 71. - 6 3 Hoche [, J. G.]: Über den Wert der Volkslieder. In: Jbb. der preuss. Monarchie unter der Regierung Friedrich Wilhelms III. 2 (1799) 3, zitiert nach Lohre (wie not. 24) 23. - 6 4 Thienen-Adlerflycht, C. von: Graf Leo Thun im Vormärz. Grundlagen des böhm. Konservativismus im Kaisertum Osterreich. Graz/Wien/ Köln 1967, 59. - 65 Vierhaus (wie not. 4) 119. 66 ibid., 129; zum romantischen N. cf. auch Billington, J. H.: Fire in the Minds of Men. Origins of the Revolutionary Faith. Ν. Y. 1980, bes. 128-364. 67 Vierhaus (wie not. 4) 129. - 68 Frühwald, W.: Des Knaben Wunderhorn. In: KLL 7 (1986) 5285 sq., hier 52 86. - 6 9 Goethe (wie not. 38) 308, 294. 70 Görres (wie not. 40) 247, 220, 255 sq., 183, 248 sq. 71 Grimm, J. und W.: Kinder- und Hausmärchen. Vergrößerter Nachdr. der zweibändigen Erstausg. In Verbindung mit U. Marquardt ed. H. Rölleke. Göttingen 1986, t. 1, XVIII. - 7 2 cf. Bendix (wie not. 34) 51. — 73 Panzer, F.: Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm in ihrer Urgestalt 1. Mü. 1913, XXXVIII. - 7 4 Bendix (wie not. 34) 51. - 75 Tilly, C. (ed.): The Formation of National States in Western Europe. Princeton 1975, Einl. - 7 6 Husovä, M.: Tschech. N. und die Wiss. im Streit um die Echtheit der Hss. Die Königinhofer und die Grünberger Hs. In: Kiss, Ε. u. a. (edd.): Nation und N. in wiss. Standardwerken Österreich-Ungarns, ca. 1867—1918. Wien 1997, 33—41. — 77 cf. neuerdings Döring,

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S. Α.: Vom „nation-building" zum Identifikationsfeld. Zur Integrationsfunktion nationaler Mythen in der Lit. In: Turk, H./Schultze, B./Simanowski, R. (edd.): Kulturelle Grenzziehungen im Spiegel der Lit.en. Göttingen 1998, 6 3 - 8 1 ; Riemenschnitter, Α.: Revolution als Fundament nationaler Identität? Literar. Interventionen zum Gründungsmythos der VR China. In: Essen, G. von/Turk, H. (edd.): Unerledigte Geschichten. Der literar. Umgang mit Nationalität und Internationalität. Göttingen 1999, 334-361. - 78 ibid., 129 sq. - 79 Winternitz, M.: Völkerkunde, Vk. und Philologie. In: Globus 77,22 (1900) 345-350, 370-377, 349; Hoffmann-Krayer, E.: Die Vk. als Wiss. Zürich 1902. - 80 P. In: Meyers Konversations-Lex. 13. Lpz./Wien 5 1897, 594. 81 Kocialek, Α.: Die Bedeutung der Volksmärchen für Unterricht und Erziehung in der Unterstufe der dt. demokratischen Schule. B. 1955, bes. 173. 82 Isensee, J.: Staatsrepräsentation und Verfassungspatriotismus. In: Gauger, J.-D./Stagl, J. (edd.): Staatsrepräsentation. B. 1992, 223-242. Salzburg

J u s t i n Stagl

Paul Bunyan, l e g e n d ä r e r riesiger H o l z f ä l l e r (-> Riese), K r i s t a l l i s a t i o n s g e s t a l t v o n in d e n U S A und K a n a d a verbreiteten Holzfällererzählungen1, der bekannteste Held nordamerik. -> L ü g e n g e s c h i c h t e n (tall tales) u n d a u ß e r d e m die a m h ä u f i g s t e n g e n a n n t e Figur, w e n n N o r d a m e r i k a n e r n a c h e i n e m Beispiel a u s d e r F o l k lore g e f r a g t w e r d e n 2 . P. B. ist b e k a n n t f ü r seine u n g e h e u r e G r ö ß e , seine a u ß e r g e w ö h n l i c h e ->• S t ä r k e u n d seinen gewaltigen A p p e t i t (-» Vielfraß). Sein Ausseh e n w i r d in d e n L ü g e n g e s c h i c h t e n selten beschrieben, seine k ö r p e r l i c h e G r ö ß e ist a b e r a u s seinen T a t e n z u erschließen. B ä u m e b e n u t z t er als Z a h n s t o c h e r 3 o d e r z u m B ü r s t e n seines Barts; drei B ä r e n u n d zwei H i r s c h e , die er erlegt h a t , steckt er in die T a s c h e seines R e g e n m a n t e l s 4 . O f t w i r d P. Β. m i t a u ß e r g e w ö h n lichen N a t u r e r s c h e i n u n g e n in V e r b i n d u n g geb r a c h t , ζ. B. f ü r gewaltige F l u t w e l l e n v e r a n t w o r t l i c h g e m a c h t : Als er g e r a d e drei W o c h e n alt w a r , schlief P. Β. e i n m a l so u n r u h i g , d a ß er in e i n e m U m k r e i s v o n vier Q u a d r a t m e i l e n die B ä u m e p l a t t d r ü c k t e ; z u m S c h u t z des W a l d e s w u r d e eine s c h w i m m e n d e Wiege f ü r ihn geb a u t , die m a n v o r d e r K ü s t e v o n M a i n e v e r a n kerte; j e d e s m a l , w e n n er d a r i n s c h a u k e l t e , e n t s t a n d eine 75 F u ß h o h e F l u t w e l l e (cf. M o t . A913)5. Z u d e n vielen ä t i o l o g i s c h e n F i k t i o n e n , in d e n e n P. Β. eine R o l l e spielt, g e h ö r t die E r k l ä -

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Paul Bunyan

rung, der Grand Canyon sei entstanden, als er seine Hacke hinter sich her zog 6 . Als er einmal nichts zu tun hatte, grub er den Puget Sound und errichtete mit dem Aushub Mount Rainier 7 . In anderen Erzählungen wird P. B. mit einer sonderbaren Landschaft und absurd übertriebenen Tier- und Pflanzenwelt verbunden: Sein Holzfällerlager befindet sich am Round River, der in einem Kreis fließt und zu dessen Umrandung man mit dem Boot zwei Wochen braucht 8 . In Erzählungen ebenso wie in Zeichnungen, Karikaturen und Plastiken erscheint P. B. in Begleitung des blauen Ochsen Babe, eines Monstrums, das 42 Axtstiele lang ist oder 42 Axtstiele und einen Priem Tabak zwischen Augen oder Hörnern mißt 9 . Wie P. B. verändert Babe die Landschaft, so ζ. B., wenn in seinen -» Fußspuren Seen entstehen 10 . Gebrauchsgegenstände sind in P. B.-Erzählungen seiner Gestalt entsprechend vergrößert, so daß normale Menschen winzig erscheinen: Sein Tisch ist 900 Fuß lang, und die Kellner fetten sein Backblech, indem sie mit an den Füßen befestigtem Speck darauf Schlittschuh laufen 11 . Ursprung und Alter der P. B.-Erzählungen sind nicht mit Sicherheit anzugeben. Der vermutlich frz. Name Bunyan (der sowohl auf einen angeblich hist, bezeugten kanad. Revolutionär und Holzfäller namens Paul Bunyon, den frz. Märchenhelden Bon Jean bzw. Tit Jean als auch andere frz. Begriffe zurückgeführt wurde 12 ) macht es jedoch wahrscheinlich, daß die Geschichten zuerst unter frz.sprachigen Holzfällern an der nordamerik. Atlantikküste kursierten. Um die 80er Jahre des 19. Jh.s waren viele der Erzählungen im nördl. Michigan, in Wisconsin und Minnesota lokalisiert und hatten sich bis nach Washington, Oregon und Kalifornien im pazif. Nordwesten verbreitet 13 . Die frühesten Aufzeichnungen von P. B.Geschichten aus mündl. Überlieferung stammen von E. O. Tabor, der sie zusammen mit S. -» Thompson 1910 von einem Iren namens Duffy in Palmer Junction (Oreg.) erzählen hörte, noch bevor die Gestalt nationale Berühmtheit erlangte 14 . 1910 erschien auch in einer Detroiter Ztg eine Beschreibung des ,Round River Drive', die den frühesten bekannten Druckbeleg für eine P. B.-Erzählung

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darstellt 15 . P. B.s große Popularität geht zu einem guten Teil auf W. B. Laughead zurück, einem für die Werbeabteilung der Red River Lumber Company in Minneapolis tätigen früheren Holzfäller, der 1914 begann, Reklamebroschüren als P. Β.-Hefte aufzumachen (-> Werbung). Das letzte und umfangreichste war auch zum Kauf erhältlich; insgesamt wurden mehr als 100 000 Exemplare davon vertrieben. Zwischen 1922 und 1950 kamen dann zahlreiche P. B.-Bücher auf den Markt 1 6 . In der mündl. Überlieferung gelangten die P. B.-Erzählungen von den Holzfallerlagern zu anderen männlichen Berufsgemeinschaften, so zu Arbeitern auf den westtexan. Ölfeldern, wo die Figur des P. B. als Schreckfigur für Neulinge fungiert 17 . Aufgrund der Tatsache, daß P. B. der großen Mehrheit der Nordamerikaner durch die populären Medien bekannt ist, hat R. M. -» Dorson ihn als Paradebeispiel für -» Fakelore angeführt, d. h. als ein unechtes Produkt, das als authentische Volksüberlieferung ausgegeben wird 18 . Andere dagegen halten P. B. für eine volkstümliche Gestalt, die in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung ist: Erstens steht er im Mittelpunkt einiger wichtiger aus mündl. Überlieferung belegter Geschichten 19 ; D. G. Hoffman zufolge erfüllten diese Erzählungen für die Holzfäller eine komische Entlastungsfunktion hinsichtlich der potentiellen Gefahren ihrer Arbeit 20 . Zweitens vereinigt P. B. viele beliebte Elemente amerik. Lügengeschichten auf sich, wie sie sich in zahlreichen mündl. Kontexten ohne Nennung seines Namens finden21. Und drittens gilt P. B. als Musterbeispiel für den verbreiteten amerik. Volksgeschmack, in dem Kraft und Fülle der Natur, Hang zur Prahlerei und Lob des Größten und Besten ihren vollendeten Ausdruck finden 22 . 1

Hoffman, D.: P. B., Last of the Frontier Demigods. Ν. Υ. 1966. - 2 Nach C. Lindahls 23jähriger Unters, bei Studienanfängern im Fach Folklore an der Univ. of Houston, der Indiana Univ., Bloomington, und der Ohio State Univ., Columbus. - 3 Dorson, R. M.: P. B. in the News, 1939-41. In: W F 15 (1956) 2 6 - 3 9 , 179-193, 247-261, hier 189, 248. - 4 Blair, W./Hamlin, L. H.: America's Humor. From Poor Richard to Doonesbury. N.Y. 1978, 388-392. 5 Library of Congress, Archives of American Folk Song, recording 2266 A 1, St. Louis, Mich., August 1938 (Perry Allen); Shephard, Ε.: P. Β. Ν. Y. 1924. - 6 ibid., 146; McCormick, D. J.: P. B. Swings His

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Paul et Virginie

Axe. Caldwell, Idaho 1946; Turney, I. V.: P. B. Comes West. Boston 1928, 6; Baughman X 958 (la). 7 Dorson (wie not. 3) 252; Baughman X 958 (d). 8 Hoffman, D. G.: Folk Tales of P. B. Themes, Structure, Style, Sources. In: W F 9 (1950) 302-320, hier 308. - 9 Dorson (wie not. 3) 187 sq., 248. - 10 Bleger, T. C.: Minnesota. A History of the State. St. Paul 1975, 335; Baughman X 958 (ga). " D o r s o n , R. M.: American Folklore. Chic. 1959, 214-226, hier 223. - 12 Gartenberg, Μ.: P. Β. and Little John. In: J A F L 62 (1949) 416-422; Stevens, J.: P. Β. Ν. Y. 1925; Shephard (wie not. 5) 8. 13 Dorson (wie not. 3) 258-261; Fowke, E.: In Defense of P. B. In: New York Folklore Quart. 5 (1979) 4 3 - 5 2 , hier 45. - 1 4 Thompson, S.: A Folklorist's Progress, ed. J. McDowell. Bloom. 1996, 44. - 15 Tabor, E. O./Thompson, S.: P. B. in 1910. In: J A F L 59 (1946) 34 sq.; Dorson (wie not. 11) 216. - 16 ζ. B. Shephard (wie not. 5); Stevens (wie not. 12); id.: The Saginaw P. Β. Ν. Y. 1932; Rounds, G.: Ol' Paul, the Mighty Logger. Ν. Y. 1936; McCormick und Turney (wie not. 6); Turney, I. V.: P. B., the Work Giant. Portland, Oreg. 1941; Newton, S.: P. B. of the Great Lakes. Chic. 1946; Felton, H. W.: Legends of P. B. Ν. Y. 1947. - 17 Brooks, J. L.: P. B„ Oil Man. In: Publ.s of the Texas Folklore Soc. 26 (1954) 315 - 321; Hoffman (wie not. 8) 314. - 18 Dorson, R. M.: American Folklore and the Historian. Chic. 1971, 9. - " F o w k e (wie not. 13). - 2 0 H o f f m a n (wie not. 8) 304-309. 21 z.B. Baughman X 1286.1.4.1.3*; Shephard (wie not. 5) 57; Newton (wie not. 16) 154; cf. Beck, E. C.: Songs of the Michigan Lumberjacks. Ann Arbor, Mich. 1942, 285. - 22 Hoffman (wie not. 8) 302.

Houston

Carl Lindahl

Paul et Virginie, 1788 in Paris erschienener Roman des frz. Schriftstellers und Naturphilosophen Jacques-Henri Bernardin de St.-Pierre (1737—1814). Als Ingenieur war er weit gereist (u.a. nach Preußen und Rußland; 1768-70 lebte er auf Mauritius [damals Isle de France]), bevor er sich (von 1771 bis zu seinem Tod) in und bei Paris niederließ. Als Nachfolger des berühmten Naturforschers G. L. L. Buffon wurde Bernardin 1792 für kurze Zeit Leiter des Botanischen Gartens in Paris; 1794 erhielt er an der Pariser Ecole Normale Superieure vorübergehend Lehraufgaben auf dem Gebiet der Moral 1 . Er spielte eine Rolle in der Sklavenbefreiungsdebatte während der Frz. Revolution. Bernardin gehörte zu den wenigen, die Verbindung zum späten Rousseau hatten 2 , was sein Denken und Schreiben prägte: Idealisie-

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rung der Natur als gut und harmonisch auf den Menschen hin angelegt. Aufklärerisch bestimmt ist der Anspruch auf ein phil.-wiss. System einer Gesamterklärung (wobei der Autor sich oft polemisch in Einzelfragen verliert) 3 . Die Etudes de la nature ergänzte Bernardin 1788 durch den Roman P. et V. (= t. 4), der dem eher ungesichert Lebenden endlich Erfolg brachte. Natur und Moral spielen Schlüsselrollen in P. et V. Der Roman 4 ist auf der Insel Mauritius angesiedelt, über die Bernardin auch schon in seinem ersten, anonym publizierten Werk, Voyage ä l'Isle de France (P. 1773), berichtet hatte — übrigens durchaus kritisch, etwa über die Sklaverei. Im Roman idealisiert Bernardin lediglich einen kleinen Bezirk der Insel: ein von Bergen abgeschirmtes, Pflanzenreiches Tal, das den Müttern der Titelfiguren Zuflucht gewährt, ebenso wie dem gut behandelten schwarzen Dienerpaar Domingue und Marie, neben anderen Figuren Beispiele des edlen -> Wilden. Die kleine Gemeinschaft mit utopischen Zügen (-• Utopie) versucht, ein naturverbundenes Leben zu führen, jenseits der Standesschranken, die, in der Endzeit des Ancien Regime, Unglück verursachen: V.s Mutter hatte bürgerlich geheiratet und so die Unterstützung ihrer adligen Familie verloren. Das Paar versucht daraufhin sein Glück in den Kolonien, wo der Mann stirbt. Der jungen Witwe gehobener Herkunft steht ein einfaches Mädchen ländlichen Ursprungs zur Seite, das von einem Aristokraten verführt und schwanger im Stich gelassen wurde. Es will seine ,Schande' in Übersee verbergen. Im paradiesischen Tal wachsen P. und V., durch geschwisterliche Liebe engstens miteinander verbunden, in einer mit rührenden Details geschilderten liebevoll-idyllischen Gemeinschaft auf. Die Freundschaft der Heranwachsenden wird zum Problem. Die geld- und standesorientierte Außenwelt drängt, vor allem V.s Mutter gibt, gewiß auch von inneren Einstellungen und Vorurteilen bestimmt, nach: P. und V. sollen vorübergehend getrennt werden. V. kommt zu ihrer reichen, herzlosen Großtante nach Frankreich; sie wird im Kloster erzogen und soll gegen ihren Willen verheiratet werden. Sie weigert sich und wird zu ungünstiger Jahreszeit zur Isle de France zurückgeschickt. Der Segler erleidet unmittelbar vor der Insel Schiffbruch. V. lehnt es ab, sich von einem nackten Matrosen retten zu lassen und dazu ihr hinderliches Kleid abzulegen. Ihr Leichnam wird ans Ufer gespült. P. und die beiden Mütter sterben kurz nacheinander aus Trauer.

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Paul et Virginie

Ein alter Nachbar vermittelt die Geschichte dem Ich-Erzähler an den Ruinen der Hütten im nunmehr verwilderten Tal, so daß der tragische Ausgang von vornherein über der Evokation vergangenen Glücks liegt. Eine Zwischenreflexion des Erzählers, genau in der Mitte des klar aufgebauten Romans piaziert, markiert den Übergang zur Unglückshälfte. Als Schüler Rousseaus bindet Bernardin die Vorstellungen Natur und Tugend (im Sinne bes. weiblicher Unschuld) eng aneinander. Für positiv gesehene Sexualität ist in dieser Rückzugswelt kein Platz — im Unterschied zum ansonsten vergleichbaren Hirtenroman Daphnis und Chloe (2. Jh. p. Chr. n.) von Longos und zum damaligen Tahitimythos 5 ; V. erscheint vielmehr, ihrem Namen entsprechend, als verfolgte Unschuld (cf. -> Frau, Kap. 3.1.2.). Die Rousseausche Entdeckung der Kindheit wird hier in eine Kinderidylle umgesetzt. Literarhist. neu (der Autor war sich dessen bewußt) ist die Situierung einer pastoralen Idylle in dem kenntnisreich und eindrucksvoll geschilderten exotischen Rahmen (-• Exotik, Exotismus). Die intensive und breite Wirkung von P. und V. setzte rasch ein, erreichte während der Romantik ihren Höhepunkt und hielt bis weit ins 20. Jh. an. Zu den produktiv auf das Werk reagierenden Autoren gehören frz. Romantiker wie F r a n c i s Rene de Chateaubriand, Charles Nodier und Alphonse de Lamartine, ebenso Alexandre Dumas pere und fils, George Sand, Honore de Balzac, Gustave Flaubert und Emile Zola, zuletzt der 1940 geborene JeanMarie Gustave Le Clezio, Autor erfolgreicher exotisch-eskapistischer Romane, außerhalb Frankreichs etwa Casanova, A. von Humboldt, Theodor Storm und Wilhelm Raabe, Edgar Allan Poe und Tanja Blixen 6 . Von 1794 an erschien eine lange Reihe von insgesamt fast fünfzig verschiedenen dt. Übers.en 7 . Die empfindsame Tropenidylle hat zunächst, -> Goethes Werther durchaus vergleichbar, einen großen Tränenerfolg erzielt. Die Grund- und Ausgangssituation der rührenden Kinderliebe in der tropischen Natur und V.s Keuschheitstod haben geradezu den Charakter von Mythen angenommen. Die enge Verbindung ,Geschwisterlichkeit' Liebe wurde gern aufgegriffen; so tauchen in den beeinflußten Werken mehrfach etwa Cou-

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sin und Cousine als Liebende auf. Die klassisch gewordene Darstellung einer Kinderliebe hat P. et V. auch zum Kinderbuch werden lassen. In dt. Sprache existieren mindestens fünf verschiedene Bearb.en; die beiden ältesten (übers, von E. Freisleben [Lpz. 1837]; J. G. Fels [Chur 1841]) firmieren als „Erzählung für die reifere Jugend"; zwei spätere (Α. H. Fogowitz [Stg. 1886]; A. Puchta [Stg. 1902]) sprechen generell die J u g e n d ' an (ohne eine solche spezifische Angabe: P. Schanz [Dresden 1872])8. In berühmten Büchern für Kinder und Jugendliche ist der Einfluß von P. et V. spürbar: bes. deutlich bei der in Frankreich sehr bekannten Comtesse de Segur (1799-1874), aber auch in Harriet Beecher-Stowes Uncle Tom's Cabin9. Einerseits ist bes. die populäre Rezeption des Werkes von dem Wunsch geprägt, das emotional Ansprechende für wahr zu halten: So wurde Bernardins vage Anbindung an einen wirklichen Schiffbruch begierig weitergesponnen, bis hin zu lokalem Grab- und Erinnerungskult (wie bei -> Romeo und Julia). Andererseits suchte man eine Überlebenschance, die die Tragik vermeidet: V. wird oftmals gerettet, meist durch P., auf der Bühne (bes. in Opernfassungen) und in Bearb.en für Kinder und Jugendliche, denen man kein solches tragisches Ende zumuten wollte. Frühe Verfilmungen jedoch (1912, 1928) haben den Mut, den tragischen Ausgang beizubehalten. Ill.en in den zahlreichen Buchausgaben von P. et V. besitzen einerseits ζ. T. Luxuscharakter und künstlerischen Rang 10 . Andererseits wird die Geschichte vor allem auf volkstümlichen Bilderbogen (bes. aus Epinal) dargestellt", aber auch auf Tapeten, erwähnt ζ. B. von Storm, Friedrich Georg Jünger und dem Historiker F. Meinecke 12 . Auch Oralität spielt in der breiten Wirkung dieser tragischen Idylle ihre Rolle; in der Reportage einer dt. Frauenzeitschrift heißt es: „Jeder Junge auf Mauritius erzählt einem diese lokale Legende in immer neuen Variationen". Es folgt die naive Wiedergabe einer erheblich entstellten Version: „Der liebende Nichtschwimmer Paul kommt beim Schiffbruch um, und die verzweifelte Virginie stürzt sich daraufhin vom Cap Malheureux in den Ozean

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Pauli, Johannes

1 P. et V. Repertoire bibliographique et iconographique. ed. P. Toinet. P. 1963; Hudele, H.: Bernardin de St.-Pierre: P. et V. Studien zum Roman und seiner Wirkung. Mü. 1975; Eich, H.: St.-Pierre, Jacques Henri Bernardin. In: LKJ 3 (1984) 247 sq.; Robinson, P.: Bernardin de Saint-Pierre: P. et V. (Critical Guide). L. 1985; Hudde, H.: Bernardin de SaintPierre, „P. et V." (1788). In: Rieger, D. (ed.): 18. Jh.: Roman. Tübingen 2000, 303-326. - 2 Bernardin de St.-Pierre: Essai sur Jean-Jacques Rousseau. P. 1907. - 3 id.: Etudes de la nature 1 - 4 . P. 1784/84/84/88; id.: Les Harmonies de la nature. P. 1815. - 4 id.: (Euvres completes 1 - 1 2 . ed. L. Aime-Martin. P. 1818-20 (t. 6 enthält P. et V.); P. et V. ed. E. Guitton. P. 1989 (nach der Ausg. von P. Trahard; Bernardin de St.-Pierre: P. et V. P. 1964). - 5 Ritz, H.: Die Sehnsucht nach der Südsee. Göttingen 2 1983. 6 Casanova et Bernardin de St.-Pierre. ed. M. Leeflang/T. Vitelli. Utrecht 1985; Hudde, H.: Theodor Storm und Bernardin de St.-Pierre. In: Arcadia 11 (1976) 178-184; zur Wirkung des Romans allg. cf. id. (wie not. 1). - 'Verzeichnet bei Fromm, H.: Bibliogr. dt. Übers.en aus dem Frz. 1700-1948. Baden-Baden 1952, 408-412; Neudruck einer älteren Übertragung: Zürich 1953. - 8 cf. Fromm (wie not. 7); Grisch, Β.: P. et V. - Popularisierung einer Utopie. Lizentiatsarbeit (masch.) Zürich 1985; Klotz, Α.: Kinder- und Jugendlit. in Deutschland 1840-1950. t. 4. Stg./Weimar 1996, 138 sq.; LKJ 3, 248. - 9 Hudde, H.: Zum Einfluß von Bernardin de St.-Pierres „P. et V." auf Romane über die Negersklavenproblematik. In: Rom. Lit.beziehungen im 19. und 20. Jh. Festschr. F. Rauhut. Tübingen 1985, 157-167. - 1 0 cf. ζ. Β. P. et V. par J.-H. Bernardin de St.-Pierre. P. 1838 (dt. Nachgestaltung von G . F i n k : Pforzheim 1840); Bernardin de St.-Pierre: P. et V. (Lpz. 1887) Nachdr. Würzburg 1981, 2 3 9 - 2 4 8 (Nachwort W. Scherf). " Toinet (wie not. 1). - 1 2 cf. Hudde (wie not. 1); id. (wie not. 6); Jünger, F. G.: Heinrich March. Stg. 1979, 18; Meinecke, F.: Erlebtes 1862-1901. Lpz. 1941, 38. - 13 Körber-Dorsch, P.: Die Inseln des ewigen Sommers. In: Petra 12 (1973) 148.

Erlangen

Hinrich Hudde

Pauli, Johannes, *vermutlich zwischen 1450 und 1454, tThann (?) nach 1519, Franziskaner-Prediger. Angaben über P.s Leben sind nur wenigen Urkunden zu entnehmen, einige autobiogr. Hinweise finden sich in den von ihm betreuten oder verfaßten Werken. P. trat um 1479 in den Franziskanerorden (Barfüßer) ein, wahrscheinlich im oberelsäss. Kloster Thann. Gesicherte Aufenthalte als franziskanischer Prediger sind nachweisbar für Villingen 1490-94, 1498 hat er der Basler Kustodie vor-

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gestanden, 1503/04 war er Guardian in Bern, 1504-10 hielt er sich in Straßburg auf, dort war er seit 1506 ebenfalls Leiter des Konvents. 1515 betätigte er sich als Lektor in Schlettstadt, in den letzten Lebensjahren ab 1519 hielt er sich in Thann auf 1 . Die eminente Bedeutung P.s resultiert aus seiner Ausg. der Predigtsammlungen des berühmten Straßburger Kanzelredners Johann - Schwankbuch des 16. Jh.s gilt und über eine ungemein lange Zeitspanne Vorbild für zahlreiche gleichartige Slgen wurde. P.s Bearb.en und eigene Schöpfungen sind als repräsentative Zeugnisse homiletischer Erzähltradition anzusehen. Von P. sind außerdem 28 von einer Klarissenschwester 1493/94 aufgeschriebene Predigten überliefert, darunter in sich geschlossene Stücke (9), die anderen als Zyklus in Form einer -> Rangstreitdichtung zwischen Leib und Seele (6) sowie Vernunft und Willen (11) und schließlich Teilpredigten (2): u . a . über die Bedeutung der Sakramente, der Auferstehung, der klösterlichen Askese 2 . Bei den beiden Streitdichtungen stützte sich P. einerseits bes. auf eine Predigt des ital. Dominikaners Thomasinus de Ferrara (De penitencia et hypocrisi) und andererseits auf Heinrich von Friemars Werk über die Geister (De quatuor instinetibus, älteste Hs. von 1381). Die Predigten zeigen eine Tendenz zur Satire. P. spricht menschliche Schwächen und kirchliche Mißstände an. Er hielt sich an seine Vorlagen, scheute aber auch nicht Änderungen, Erweiterungen und inhaltliche Umgruppierungen zur thematischen Präzisierung 3 . Die von P. herausgegebenen Predigten Geilers hatte er als Guardian des Barfüßerklosters in Straßburg gehört. Bei Johannes Grüninger in Straßburg erschienen Das Euangelibuch (1515), Die Emeis (1516), Her der küng ich diente gern (1516) und Doctor Keiserspergs narenschiff (1520), vielleicht noch Das buch der Sünden des munds (1518) 4 . Quellenkritische Unters.en zur Bearb.sweise P.s stellen heraus, daß er von allen Mitschreibern die Geilerschen Predigten am genauesten tradiert zu haben scheint 5 . Doch zeigt sich bei ihm auch hier die Tendenz zu thematischer Änderung und Ergänzung. Bei dem von Geiler stammenden und von P. wieder ins Deutsche übers. Predigtzy-

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klus Nauicula siue speculum fatuorum (Fastenzeit 1498 bis Ostern 1499, veröff. 1511) über Sebastian Brants Narrenschiff {1494) z.B. sind deutlich abnehmende Wertschätzungen der Cyrillus-Fabeln (Speculum sapientiae) zu finden, etwa im „konkreten Gebrauch der Fabeln als Belege und Exemplifikationen der ,Narrenschiff-Gleichung', der zufolge Sünder Narren sind" 6 . P. bringt statt Geilers Fabelanspielungen die Fabelbeispiele in ganzer Länge, die als Einschübe den Predigtverlauf unterbrechen, und markiert sie durch die einleitende Formel „vff ein mal" 7 . Vielleicht angeregt durch G.s Predigten 8 , hat P. das Buch Schimpf und Ernst zusammengestellt, das neu mit vergleichenden Anmerkungen von H. Oesterley und vor allem mustergültig von J. Bolte herausgegeben vorliegt9. Im Titel des Straßburger Erstdrucks (1522) heißt es über das Buch: „durchlaufft es der weit handlung mit ernstlichen und kurtzweiligen exemplen, paraboln und hystorien nützlich und gut zu besserung der menschen". Die Slg vereint 693 Stücke, davon sind fast zwei Drittel unterhaltsam (,Schimpf = Scherz), ein Drittel hat eher belehrenden Charakter: Als Adressaten sind nach der Vorrede (datiert 1519) Mitbrüder, Prediger und Adlige genannt, von der Funktion her ist das Werk jedoch vor allem wohl als Exempelbuch für Prediger gedacht 10 . Manche Formulierungen legen die Vermutung nahe, daß P. häufiger aus eigenem Erleben bzw. Gehörten geschöpft hat. Dagegen spricht, daß mehr als 40 antike und zeitgenössische geistliche und weltliche Quellen einschließlich des humanistischen Bildungsguts seiner Zeit als direkte oder mittelbare Vorlagen in Frage k o m m e n " . Nicht wenige von P.s Bearb.en bzw. Übernahmen sind Frühbelege für weitverbreitete Erzählungen (ζ. B. num. 55, 206, 232, 326, 335, 423, 598). Dies gilt gleichermaßen für die Adaptation arab. Erzählguts, vermutlich vermittelt über Exempelsammlungen wie die Disciplina clericalis des Petrus Alfonsus oder das Alphabetum narrationum und über Fazetiensammlungen (z. cf. -> Poggio, Arlotto Mainardi) 12 . P. kannte die griech. und röm. Klassiker und zitierte fleißig daraus, teilweise ζ. B. unter Nennung von Aristoteles (num. 611), Macrobius (num. 502, 503), Valerius Maximus (num. 113, 502),

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Aulus Gellius (num. 392), -> Plutarch (num. 622), Diogenes Laertios (num. 471, 475). Er schöpfte aus hagiographischen Sammlungen wie den -» Vitae patrum und der Legenda aurea, aus hoch- und spätma. Exempel- und Fabelkompilationen und naturkundlichen Werken (-> Caesarius von Heisterbach, John -» Bromyard [rund 130 Übernahmen bzw. Anleihen], -» Etienne de Bourbon, ->• Romulus, -» Johannes Gobi Junior, -> Gesta Romanorum, Cyrillus, Anton von -> Pforr, Pelbärt von Temesvär, Heinrich Steinhöwel, -> Dialogus creaturarum). Mehr als einhundert Predigten entlehnte er aus Geilers Predigtbeispielen. Die humanistischen Werke des Petrarca oder Erasmus zog er ebenso heran wie die wenige Jahre zuvor erschienenen Facetiae Heinrich Bebels und das -» Eulenspiegelbuch13. P. präsentiert Beispielgeschichten in 90 Gruppen unterschiedlicher Anzahl, beginnend mit solchen Von der Warheit (num. 1—9) bis Zu den Kriegsleuffen (num. 661 -693). Es handelt sich um ein breites Gattungsspektrum: Prosaschwänke und Anekdoten, Historien, Fazetien, Lügengeschichten, Fabeln und Parabeln. Er setzt sich wie in den Predigten mit Mißständen seiner Zeit auseinander und kritisiert die Kirche und ihre Vertreter, sehr deutlich und ohne verhüllendes Beiwerk (Prälaten: num. 498; - Küster: num. 82, 600, 652 14 ; Pfaffenköchin: num. 404, 690), mitunter gegenüber der Vorlage auch gemildert (num. 650); im ganzen ist die Kritik jedoch mit Humor abgefaßt und wirkt weniger satirisch als etwa bei den Zeitgenossen Thomas Murner und Brant. Die Themen sind vor allem -> Tugenden und Laster und die Sakramente. Berühmte Herrscher erscheinen als -> Kristallisationsgestalten (-> Alexander d. Gr., Oktavian); ganze Abschnitte sind einzelnen Ständen (-> Ständespott) und Berufen (Ärzte, Gesinde, Maler, Spieler, Wirte, Wucherer, Prostituierte) gewidmet. P.s Ziel ist, menschliches Fehlverhalten aufzuzeigen — ζ. B. Bestechung (num. 124, 125, 128), Faulheit der Mönche (num. 260), Lasterhaftigkeit der Frauen (ζ. B. num. 85, 136, 204, 641) 15 . Seine Darstellungen greifen auf traditionelle -> Stereotypen (Antijüdisches: num. 154, 557, 684) und Vorstellungen (Zauberglauben: num. 150-153) 1 6 zurück. Die unter dem Stich wort des Bösen (-» Teufel) tradierten Exempla aus den beliebte-

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sten älteren Kompilationen, rund drei Dutzend Stücke, dienen der Propagierung speziell ma. Glaubens-, Moral- und Frömmigkeitsvorstellungen 17 , der Teufel ist Verursacher allen Übels (Diebstahl [8. Gebot]: num. 8 6 - 8 8 ) . Das altchristl. Bild des Affen als Ebenbild des Teufels (cf. De bestiis des Pseudo-Hugo von St. Victor) verwendet P. zur Kritik an Amtsleuten (num. 89). Die Verspottung des Narren als ein zentrales Thema des späten 15. und des 16. Jh.s spielt bei P. ebenfalls eine wichtige Rolle; in einer späteren Ausg. (1533) ist die Figur zusätzlich durch den sächs. Spaßmacher Claus Narr (num. 694-696, 840, 841) repräsentiert. In zwei umfangreichen Kapiteln (87, 88) wird ein buntes, vielseitiges Bild des Volkslebens des frühen 16. Jh.s gezeichnet 18 . P.s Erzählweise besticht durch Anschaulichkeit und Kürze. Die Lehren (Schlußmoral bei jeder zweiten Geschichte) 19 sind dagegen nicht selten ausführlicher dargestellt, mitunter bei der weltlichen Lehre durch ein Sprichwort oder eine sprichwörtliche Redensart ergänzt 20 ; die geistliche Moralisation ist direkt oder analog daraus abzuleiten. Die homiletische Kunstfertigkeit P.s zeigt sich in der Struktur seiner Exempla, die häufig auch einzig der Verdeutlichung geistlicher Inhalte dienen. An der Pflanzenfabel Von der Eiche und dem Rohr (num. 174) ζ. Β. läßt sich die Lehre von Lohn und Strafe im Jenseits exemplifizieren 21 , bei der Fabel Vom Hund und Wolf (num. 433) die den Tieren zugeordnete Typik auf Geistliches übertragen: Den Wolf, der in der Fabel vom freien Leben, wenn auch in Armut, schwärmt und den in Knechtschaft lebenden Hund vergleicht P. in der Auslegung mit den Menschen reinen Gewissens und den zwar luxuriös lebenden, aber unfreien und dem Teufel ausgelieferten. Neben Luther gilt P. als erfolgreichster Autor des 16. Jh.s, bis Ende des 17. Jh.s erschienen über 60 Ausg.η von Schimpf und Ernst22. Die unter wechselnden Titeln veröff. Slg mit insgesamt 878 verschiedenen Texten (Ausg.η in anderen Sprachen z.B.: lat. 1568 [Johannes Hulsbusch]; ndl. 1554, 1576, 1680; frz. 1591; dän. 1626, 1677, 1749, 1781)23 zeugt davon, daß seine Stoffe offenbar den Zeitgeist trafen. In der Folgezeit wurde P.s Slg mehr und mehr nur noch als Steinbruch für

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diverse Ausg. η mit Schwankmaterialien benutzt. Seine Absichten als reformerischer Prediger gerieten ins Hintertreffen. Andere Verleger mit anonym bleibenden Bearbeitern sorgten seit etwa 1545 für eine Umformung der Stoffe in Richtung Unterhaltungsliteratur, die breitere Kreise ansprechen sollte. Die (häufig ill.24) Ausg.n kamen ohne Moralisationen aus, entbehrten geistlich orientierter Stücke, so daß die Neugestaltungen vollends zu Schwankbüchern wurden. Später kamen Ausg.n wegen der mitunter deftigen Stücke kirchlicherseits auf den Index und standen für Schmutz und Schund 25 . Doch der Popularität tat dies keinen Abbruch. Die Slg galt bes. in den Ausg.n von 1545 und 155026 als Prototyp des Schwankbuchs 27 und nutzte Autoren von Sprichwortsammlungen des 16./17. Jh.s (Sebastian -> Franck, E. Ey[e]ring) und Protestant. Exempelkompilatoren (Wolfgang -» Bütner, Johannes -» Mathesius) trotz gelegentlicher Kritik. Vor allem die Verf. von Schwankbüchern (Jacob ->• Frey, Michael -> Lindener, Valentin Schumann, Georg Wickram, Hans -» Sachs, Bartholomäus Krüger) schrieben P. aus, beriefen sich auf ihn — Martin -» Montanus in der Widmung zum Wegkürtzer (1557) — oder spielten auf den erfolgreichen Titel an, etwa in einer 1544 von Michael Beuther anonym in Frankfurt veröff. hochdt. Bearb. des ndd. Reynke de vos (-• Reineke Fuchs), die sich als Ander Teyl des Buochs Schimpff und Ernst bezeichnet, in O. Melanders Joco-Seria: Das ist: Schimpff und Ernst (Darmstadt 1607) oder W. - Kobolts Schertz und Ernst beysammen (Augsburg 1747). Zwar ließ das Interesse seit dem späten 17. Jh. merklich nach (cf. jedoch M. -» Abele von Lilienberg, -» Grimmelshausen) 28 , aber selbst noch im späten 18. und im 19. Jh. ist es spürbar, etwa bei Friedrich Nicolai, der P. für sein zehnbändiges Vademecum (1764—92) ausschlachtete, in den Kinder- und Hausmärchen ( K H M 145, 151) der Brüder - Grimm 2 9 oder — trotz abfälliger Wertung - in Carl Julius Webers Demokritos (1832-40) 3 0 ; darüber hinaus erschienen im 19. Jh. erste Publikationen, die sich mit P. und seiner Nachwirkung beschäftigten 31 , sowie .sprachlich erneuerte' Teilausgaben 32 . E r z ä h l t y p e n u n d - m o t i v e (Ausw.) 33 : num. 3 = AaTh 1691 B: The Suitor who Does not Know how

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to Behave at Table. - 6 = AaTh 237: - Elster (Papagei) und Sau. - 9 = AaTh 243 A: cf. -> Ehebruch verraten. — 1 1 = AaTh 706 B: Die keusche Nonne. - 14 = AaTh 1463: cf. - Brautproben. - 18 = AaTh 157 A: cf. Tiere lernen -* Furcht vor den Menschen + AaTh 151: cf. -> Einklemmen unholder Wesen. — 19 = AaTh 838: - Sohn am Galgen. - 20 = cf. AaTh 157: Furcht: Tiere lernen F. vor den Menschen. — 29 = Gnade, letzte: Fuchs auf dem Weg zum Galgen bittet, noch einmal am Federvieh vorbeigeführt zu werden (Dicke/Grubmüller, num. 215). - 32 = AaTh 924 A: cf. Zeichendisput. - 34 = Narrenregen (Mot. J 1714.2)34. - 37 = AaTh 1282: House Burned Down to Rid it of Insects (cf. AaTh 1281, 1651: -» Katze als unbekanntes Tier). — 48 = cf. AaTh 1804 Β: - Scheinbuße. - 55 = AaTh 922: Kaiser und Abt. — 57 = AaTh 785 A: -» Einbeiniges Geflügel. - 58 = AaTh 1533: Die sinnreiche Teilung des Huhns. - 68 = AaTh 1836 A: The Drunken Parson: „Do not Live as I Live". -12 = AaTh 1842: Testament des Hundes. — 74 = AaTh 1341 Β: -> Gott ist auferstanden. - 81 = AaTh 1186: -» Advokat und Teufel. - 82 = AaTh 1791: The Sexton Carries the Parson ( - Küster). - 94 = AaTh 778*: - Kerzen für den Heiligen und den Teufel. - 108 = Gelehrtenspott: Gelehrter Hase erhält von König Löwe eine Pension (Dicke/Grubmüller, num. 255). - 112 = AaTh 1631: -» Pferd geht nicht über Bäume. - 113 = AaTh 1591: Die drei - Gläubiger. - 125, 128 = AaTh 1861 A: The Greater Bribe ( - Bestechung). 139 = AaTh 1562 B: - Pflichtenzettel. - 142 = AaTh 1365 A: cf. Die widerspenstige -» Ehefrau. — 155 = cf. AaTh 1833 B: The Parson: „ Where did the Father Stay?" - 173 = AaTh 122 C: cf. Überreden zum Sprechen, Singen etc. - 174 = AaTh 298 C*: -» Baum und Rohr. — 178 = Krippenhund neidet dem Vieh das Heu, obwohl es für ihn selbst nicht als Futter taugt (Dicke/Grubmüller, num. 301). - 180 = AaTh 775: cf. -> Midas. - 206 = AaTh 1418: Isoldes Gottesurteil. - 208 = AaTh 1362: -» Schneekind35. - 221 = AaTh 1688: Der übertreibende -» Brautwerber. - 223 = AaTh 992 A: - Buße der Ehebrecherin. - 232 = Tötung des als Wachsbild geschaffenen Mannes durch Abwehrzauber vereitelt (Tubach, num. 5218; cf. - Bild, Bildzauber). - 239 = AaTh 1621 A*: Ass Refuses to Drink after it has had Enough. - 243 = AaTh 839: Die drei -> Sünden des Eremiten. — 250 = AaTh 38: cf. Einklemmen unholder Wesen. - 257 = AaTh 178 A: Hundes Unschuld. - 261 = AaTh 1950: Faulheitswettbewerb. - 263 = AaTh 1337 C: cf. Die lange - Nacht. - 264 = AaTh 921 D: Im - Bett sterben. - 267, 268 = AaTh 335: - Boten des Todes. - 269 = AaTh 120: Sonnenaufgang zuerst sehen. — 282 = Ratte tut Buße in der Speckkammer (Dicke/Grubmüller, num. 485). - 283 = AaTh 1587: - Baum zum Hängen gesucht. - 285 = AaTh 1661: Die dreifache -> Steuer. - 288 = Kranker Weih schickt Mutter zu den Göttern, um für seine Genesung zu beten (Dicke/Grubmüller, num. 582). - 290 = Hochmütiger Adler geht Vogelsteller ins Netz (Dicke/Grubmüller, num. 10).

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- 298 = AaTh 1804: cf. Scheinbuße. - 304, 305 = AaTh 778: cf. Geloben der großen -> Kerze. - 306 = AaTh 1447: Trinken nach dem Handel. - 307 = AaTh 165: The Wolf in the Company of Saints. - 324 = AaTh 1735: Die zehnfache -> Vergeltung. — 326 = AaTh 841: Die beiden - Bettler. - 327 = AaTh 947 A: cf. -» Glück und Unglück. - 332 = AaTh 827: -> Heiligkeit geht über Wasser. - 334 = Wolf und Fuchs in der Schule: können nicht das Vaterunser lernen, weil sie ihre Beutetiere im Sinn haben (Dicke/ Grubmüller, num. 644). - 350 = Wolf und Esel beichten vor Löwe ihre Sünden; der Esel wird getötet, der Wolf nicht (Dicke/Grubmüller, num. 558). 364 = AaTh 1741: Priesters Gäste. - 380 = AaTh 150: Die drei -> Lehren des Vogels. - 381 = AaTh 48*: The Bear who Went to the Monkey for the Gold Chain (hier Zigeuner). - 387 = AaTh 1562: -» „Denk dreimal, bevor du sprichst". - 395 = AaTh 1381 D: cf. Die geschwätzige -> Frau. — 397 = AaTh 782: cf. Midas. - 399 = AaTh 293: Magen und Glieder. - 403 = AaTh 202: - Böcke auf der Brücke. - 409 = AaTh 1347: Lebendes Kruzifix gewünscht. - 4 1 6 - 4 1 8 = cf. AaTh 1558: - Kleider machen Leute. — 422 = AaTh 179: Was der -» Bär dem sich Totstellenden ins Ohr flüstert. - 423 = AaTh 921 B: Der beste Freund, der schlimmste Feind. - 426 = AaTh 34 A: -» Hund verliert das Fleisch. - 431 = AaTh 107: Dog Leader Fears Defeat Because his Forces are of Different Breeds36. — 433 = AaTh 201: Der freie - Wolf (Hund). - 435 = AaTh 982: Die vorgetäuschte Erbschaft. - 436 = AaTh 980 A: cf. - Großvater und Enkel. - 437 = AaTh 980 D: cf. Der undankbare - Sohn. - 442, 446 = AaTh 981: - Altentötung. - 462 = AaTh 1553: ^ Ochse für fünf Pfennig. - 463 = AaTh 1540: ^ Student aus dem Paradies (Paris). — 489 = AaTh 613: Die beiden - Wanderer. - 494 = AaTh 50: Der kranke -» Löwe. — 498 = Erde traurig wegen geplanter Hochzeit zweier Sonnen: alles auf der Erde könne verbrennen (Dicke/Grubmüller, num. 285). - 503 = -» Bett des Schuldners (Mot. J 1081.1). - 520 = AaTh 1430: cf. - Luftschlösser. - 530 = cf. AaTh 112**: The Mice and the Cock. - 540 = cf. AaTh 981: Altentötung. - 561 = AaTh 470: - Freunde in Leben und Tod. — 562 = AaTh 471 A: Mönch und Vöglein. - 566 = AaTh 1615: -> Teilung des Geldes. - 576 = AaTh 1834: Pfarrer mit der feinen Stimme. — 577 = AaTh 1215: -> Asinus vulgi. - 587 = AaTh 129 A*: Sheep Licks her Newly-born. — 595 = cf. AaTh 1365 B: Ehefrau: Die widerspenstige E. - 598 = AaTh 1537: Die mehrmals getötete Leiche. - 599 = AaTh 1238: The Roof in Good and Bad Weather. - 614 = AaTh 1610: - Teilung von Geschenken und Schlägen. - 632 = AaTh 1551: Wettbetrug. - 634 = AaTh 110: -> Katze mit der Schelle. - 635 = AaTh 736 A: Ring des -> Polykrates. - 644 = AaTh 1555: Milk in the Cask. - 645 = AaTh 162: -> Herr sieht mehr als der Knecht. — 646 = AaTh 1526 A: Supper Won by α Trick. - 647 = AaTh 1331: Neidischer und Habsüchtiger. - 648 = AaTh 207 C: - Glocke der Gerechtigkeit. - 649

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= AaTh 156 A: The Faith of the Lion. - 665 = AaTh 767: - Kruzifix gefüttert. - 669 = AaTh 237: Elster (Papagei) und Sau. - 672 = cf. AaTh 1339 D: Speisen unbekannt. - 673 = AaTh 1586: -> Fliege auf des Richters Nase. - 682 = AaTh 759: Engel und Eremit. - 684 = -» Glaube versetzt Berge (Tubach, num. 3424). Spätere Ausg.n (1533 sqq.): 700 = AaTh 1567 C: Den großen Fisch befragen. - 709 = AaTh 910 D: cf. -» Schatz hinter dem Nagel. - 711 = AaTh 1825 A: The Parson Drunk. - 719 = AaTh 1698 D: cf. -» Schwerhöriger (Bauer versteht alles falsch). 723 = AaTh 1617: Kredit erschwindelt. - 729 = AaTh 1836: The Drunken Parson. - 745 = AaTh 155: - Undank ist der Welt Lohn. - 751 = AaTh 1350: Die rasch getröstete -» Witwe. - 752 = AaTh 1510: - Witwe von Ephesus. - 762 = AaTh 1677: cf. Eierbrüter. - 790 = AaTh 1792: Der geizige Pfarrer und sein Schwein. — 792 = AaTh 1862 C: Die einfältige - Diagnose. - 835 = AaTh 920 C: -> Schuß auf den toten König. - 850 = AaTh 1525 A: -» Meisterdieb. - 867 = AaTh 93: -» Worte des Herrn sind ernstzunehmen. — 875 = AaTh 1515: Die weinende -> Hündin. 'Warnock, R. G.: P., J. In: Verflex. 7 (21989) 369-374; Rapp, F.: P., J. In: Lex. des MA.s 6. Stg./ Weimar 1999, 1811 sq. - 2 Die Predigten J. P.s. ed. R. G. Warnock. Mü./Zürich 1970. - 3 cf. Verflex. 7 (21989) 369-371. - 4 Pfleger, L.: Der Franziskaner J. P. und seine Ausg.n Geilerscher Predigten. In: Archiv für elsäss. Kirchengeschichte 3 (1928) 47-96. 5 EM 5, 904 sq. - 6 Bodemann, U.: Die Cyrillusfabeln und ihre dt. Übers. Mü./Zürich 1988, 233-237, 240 sq., 235 (Zitat). - 7 ibid., 236. - 8 Nach J. Bolte (Pauli/Bolte 1, *24) gibt es über 100 gemeinsame Exempel. - 9 P., J.: Schimpf und Ernst, ed. H. Oesterley. Stg. 1866 (Nachdr. Amst. 1967); P., J.: Schimpf und Ernst 1 - 2 . ed. J. Bolte. B. 1924 (Nachdr. Hildesheim 1972). - 10 Wendland, V.: Ostermärchen und Ostergelächter. Brauchtümliche Kanzelrhetorik und ihre kulturgeschichtliche Würdigung seit dem ausgehenden MA. Ffm./Bern/Cirencester 1980, bes. 180. 11 Zum folgenden cf. bes. auch Pauli/Bolte; György; BP 2, 471 sq. - 12 Ausführliche Nachweise bei Pauli/ Bolte 1, *22-*36 und ibid. 2, 254-406; Dvorak; Tubach; György; Schwarzbaum, Fox Fables; für arab. Qu.η cf. Marzolph, Arabia ridens 2, 299 sq. 13 Nachweise bei Virmond, W.: Eulenspiegel und seine Interpreten. B. 1981, bes. 98-100, 197 sq.; cf. auch Takahashi, Y.: Eulenspiegel-Schwänke in Schimpf und Ernst. Wie Eulenspiegel von J. P. interpretiert wird. In: Eulenspiegel-Jb. 27 (1987) 39-50. - 14 EM 8, 668, 677. - 15 Schmitz, S.: Weltentwurf als Realitätsbewältigung in J. P.s ,Schimpf und Ernst'. Göppingen 1982. - 16 Ehrenfeuchter, M.: Aspekte des zeitgenössischen Zauberglaubens in Dichtungen des 16. Jh.s. Ffm. u. a. 1996, bes. 16 sq. - 17 Brückner, 394-416, bes. 411, 423. - 18 Künssberg, D. von: Das Recht in P.s Schwankslg. Diss.

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Heidelberg 1939; Schott, C.: ,Wer da kauft, der luog, wie es lauft'. Kaufrecht und Kaufmoral in J. P.s ,Schimpf und Ernst'. In: Alemann. Jb. 1973—75 (1976) 244-269. - 19 Deufert, W.: Narr, Moral und Gesellschaft. Grundtendenzen im Prosaschwank des 16. Jh.s. Bern/Ffm. 1975, 85. - 20 Stöber, Α.: Sprichwörter und sprichwörtliche Redensarten aus J. P.'s „Schimpf und Ernst". In: Alsatia (1873-74) 83-96; cf. Beispiele bei Pauli/Bolte 1, *36. 21 Eischenbroich, Α.: Die dt. und lat. Fabel in der frühen Neuzeit 1 - 2 . Tübingen 1990, hier t. 2, 127. - 22 Kelchner, E./Wülcker, R. (edd.): Meß-Memorial des Frankfurter Buchhändlers Michel Harder. Fastenmesse 1569. Ffm./P. 1873, V I - V I I I ; Pauli/ Bolte 2, 141-154. - 23 ibid., 152-154; Stiefel, A. L.: Zur Schwanklitteratur im 16. Jh. In: ArchfNSprLit. 94 (1895) 129-148; cf. Dekker/van der Kooi/Meder, Reg. s. v. P., J. — 24 ζ. B. 37 Holzschnitte von Hans Baidung Grien (Straßburg 1533). - 25 Pauli/Bolte 1, *38; Brückner, 80. - 26 Stiefel, A. L.: Über das Schwankbuch ,Schertz mit der Warheyt'. In: ArchfNSprLit. 95 (1895) 55-106. - 27 Schröder, C.: J. P., der Begründer der dt. Schwanklit. In: Franziskanische Studien 13 (1926) 393-397. - 2 8 cf. auch Moser-Rath, E.: Kl. Sehr, zur populären Lit. des Barock. ed. U. Marzolph/I. Tomkowiak. Göttingen 1994, Reg. s.v. P. - 2 9 K H M / U t h e r 4 , 269-271, 280 sq.; zum Dornenmotiv in K H M 50, AaTh 410: Schlafende Schönheit cf. Trümpy, H.: Kleine Beitr.e zur Schwank- und Exempellit. In: Fabula 22 (1981) 290-296, hier 294-296. - 30 Pauli/Bolte 1, *39. 31 ζ. B. Veith, K.: Ueber den Barfüsser J. P. und das von ihm verfaßte Volksbuch Schimpf und Ernst nebst 46 Proben aus demselben. Wien 18 39. - 32 cf. Aufstellung bei Pauli/Bolte 2, 151. — 33 Numerierung nach Pauli/Bolte; ausführliche Klassifikation im EM-Archiv, Göttingen; cf. ferner die Konkordanz mit Tubach bei Berlioz, J./Polo de Beaulieu, Μ. A. (edd.): Les Exempla medievaux. P. 1992, 273-282; Dicke/Grubmüller, Reg. s. v. P., J. (hat 39 Fabeln erfaßt). - 34 Marzolph, num. 724; Bambeck, M.: Peire Cardenal, Guilhem de Montanhagol und J. P. Zur Wanderung des Motivs vom Narrenregen. In: GRM 34 (1984) 351-355. - 3 5 McGrady, D.: Were Sercambi's Novelle Known from the Middle Ages on? (Notes on Chaucer, Sacchetti, Cent Nouvelles nouvelles, P., Timoneda, Zayas). In: Italica 57 (1980) 3 - 1 8 . - 36 Dicke/Grubmüller, num. 594. Göttingen

Hans-Jörg Uther

Paulus, Hl., Apostel, Märtyrer (Feste: 29. Juni: Hauptfest zusammen mit -• Libro de los e(n)xemplos und in den Dt. Sagen der Brüder - Grimm 1 7 . Durch seine lat. Übers, der griech. Legende von ->• Maria Aegyptiaca, die Vita Mariae Aegyptiacae, hat P. D . wesentlich zur Popularisierung der Prostituierten-Heiligen im Westen beigetragen' 8 . Von P. D . sind auch zahlreiche Gedichte, meist Epitaphe im Auftrag seiner Dienstherren, überliefert 19 . Nicht v o n P. D . stammen die ihm gelegentlich zugeschriebenen lat. Versfassungen der Erzählungen v o m kranken Löwen (AaTh 50) sowie v o m Fieber und Floh (AaTh 282 A*: -> Fliege und Floh tauschen). 1 cf. P. D.: Historia Langobardorum (MGH Scriptores 1). Hannover 1878 (Nachdr. 1964), 4,37; Langosch, K.: Profile des lat. MA.s. Darmstadt 1965, 7 8 - 1 3 3 (zur Person); Brunhölzl, F.: Geschichte der lat. Lit. des MA.s 1. Mü. 1975, 257-268 (zum Werk). - 2 P. D.: Historia Romana. ed. A. Crivellucci. Rom 1913; cf. Bauch, G.: Über die Historia Romana des P. D. Diss. Göttingen 1872. - 3 Lindsay, W. M. (ed.): S. Pompeji testi de verborum significatu quae supersunt, cum Pauli epitome. Ox. 1913; cf. Villa, C.: Un schedario di Paolo Diacono. Festo e Grauso di Cemeda. In: Italia medioevale e umanistica 27 (1984) 56-80. - 4 M G H SS 2, 260-268. 5 Zur Verbindung der Bischofschronik mit Karl d. Gr. cf. Goffart, W.: P. the Deacon's Gesta Episcoporum Mettensium and the Early Design of Charlemagne's Succession. In: Traditio 42 (1986) 59-93; Jäschke, K.-U.: Zu Metzer Geschichtsqu.n der Karolingerzeit. In: Rhein. Vierteljahrsbll. 33 (1969) 1 - 1 3 . - 6 MPL 95, 1159-1566; cf. Wiegand, F.: Das Homiliar Karls d. Gr. Lpz. 1897. - 7 Vita St. Gregorii. ed. H. Grisar in: Zs. für kathol. Theologie

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Paulus Eremita, Hl.

11 (1887) 162-173 (recensio interpolata in M P L 7 5 , 41-59); cf. Limone, O.: La tradizione manuscritta della Vita Gregorii Magni di Paolo Diacono. In: Studi medievali 29 (1988) 887-953. - 8 Paolo Diacono: Storia dei Langobardi. ed. L. Capo. Verona 1992 (ed. und ital. Übers.); Die Geschichtsschreiber der dt. Vorzeit. 2. Gesamtausg., 15. Übers. O. Abel. Lpz. 3 1939, 1 - 1 5 4 (dt. Übers.). - 9 Bognetti, G. P.: Processo logico e integrazione delle fonti nella storiografia di Paolo Diacono. In: id.: L'etä langobarda 3. Mailand 1967, 159-184; Mommsen, T.: Die Qu.n der Langobardengeschichte des P. D. In: id.: Gesammelte Sehr. 6. B. 1910, 484-539; Gardiner, Κ. H. J.: Paul the Deacon and Secundus of Trent. In: Croke, B./Emmet Α. M. (edd.): History and Historians in Late Antiquity. Sydney u. a. 1983, 147-153. - 10 Vinay, G.: Un mito per sopravvivere. L'Historia Langobardorum di Paolo Diacono. In: id.: Alto medioevo latino. Neapel 1978, 125-149; Bullough, D.: Ethnic History and the Carolingians. An Alternative Reading of Paul the Deacon's ,Historia Langobardorum'. In: Holdsworth, C.AViseman, t. P. (edd.): The Inheritance of Historiography 350-900. Exeter 1986, 8 5 - 1 0 5 . 11 Lasch, Β.: Das Erwachen und die Entwicklung der hist. Kritik im MA. (vom 6.—12. Jh.). Diss. Breslau 1887, 16-18. - 12 Zitiert nach Abel (wie not. 8). 13 Heinisch, C. F.: Der Wassermensch. Stg. 1981, 22—24. — 1 4 Zurli, L.: Le ,proprietä' del motivo dello ,scambio de persona' nella narrativa classica e nel ,raconto storico' di Paolo Diacono. Perugia 1978, 71-104. - 15 Gregor, Historia Francorum 5,15. 16 Lecouteux, C.: Geschichte der Gespenster und Wiedergänger im MA. Köln/Wien 1987, 212-214. 17 cf. Grimm DS, Reg. s.v. P . D . - , 8 M P L 73, 671-690; cf. Mazo Karras, R.: Holy Harlots. Prostitute Saints in Medieval Legend. In: J. of the History of Sexuality 1 (1990) 3 - 3 2 , bes. 8. - l 9 Neff, K. (ed.): Die Gedichte des P. D. Mü. 1908.

Mainz

Andreas Merkt

Paulus Eremita, Hl. (auch: P. von Theben), Wüstenvater (Fest 15. Jan.) 1 . Die von -> Hieronymus 375/377 verfaßte Vita 2 propagiert ihn als ersten Eremiten (-» Einsiedler). Inspiriert durch die Antonius-Vita (-» Antonius Eremita, Hl.) des Athanasius (-• Hagiographie) verfertigte Hieronymus in spätklassischem Latein und weniger phantastisch die Geschichte eines Eremiten, der noch älter und verehrungswürdiger als Antonius sein sollte - vermutlich, ohne daß eine hist. Person zugrunde lag 3 . Nur die Jugend und die letzten Tage des Heiligen, der sich im Alter von etwa 16 Jahren in die Wüste begeben und dort 98 Jahre als Einsiedler zugebracht haben soll4, werden behandelt

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und dabei bes. der Besuch des Antonius (Tubach, num. 280) hervorgehoben. Im einzelnen berichtet die Vita: Zur Zeit der Christenverfolgung unter Decius und Valerian flieht der aus vermögendem Hause stammende und in griech. und ägypt. Lit. bewanderte P. zuerst auf ein Landgut und dann, weil sein Schwager ihn verraten will, um an sein Erbteil zu kommen, in die Wüste. Um die Grausamkeit jener Verfolgung zu illustrieren, führt der Verf. zwei Martyrien an: Ein Bekenner des Glaubens wird mit Honig bestrichen und nackt an die sengende Sonne gelegt, um von den Mücken zu Tode gestochen zu werden. Einen Jüngling setzt man in einem herrlichen Garten, auf ein Bett gefesselt, den Umarmungen einer Dirne aus. Er aber beißt sich die Zunge ab und speit sie dem Weib ins Gesicht, um die aufsteigende Lust mit Schmerzen zu besiegen (-» Keuschheit). P. findet Zuflucht in einer Felsenhöhle bei einer Quelle und einem Palmbaum, der ihm Nahrung und Kleidung bietet (Tubach, num. 3581). Hier lebt er bis zu seinem Tod. Kurz vorher erhält der 90jährige Antonius, der an einem anderen Ort in der Wüste lebt und der Meinung war, kein anderer Mönch sei so vollkommen wie er, eine Offenbarung: Ein anderer sei viel tugendhafter, und diesen solle er aufsuchen. Auf dem Weg zu P. trifft er auf einen Zentaur, einen Satyr, der um Fürbitte beim Erlöser der Welt ansucht, und einen Wolf. Sie weisen ihm den Weg. Als er P.' Behausung erreicht, hat dieser den Zugang versperrt. Erst nach inständigem Bitten empfängt ihn P , die beiden umarmen einander und begrüßen sich mit ihren Namen. Während ihrer Unterredung bringt ein Rabe ein ganzes Brot (Tubach, num. 757)5, wohingegen er 60 Jahre lang immer nur ein halbes gebracht hatte. Nun will keiner der beiden aus Bescheidenheit das -» Brot teilen, bis sie es schließlich gemeinsam brechen. Die Nacht verbringen sie im Gebet. Am nächsten Morgen bittet P., da er nun bald sterben werde, Antonius möge den Mantel holen, den dieser einst von Bischof Athanasius erhalten hatte, damit er seinen Leichnam darin einhülle. Antonius eilt in seine Behausung und von dort, ohne Speise zu sich genommen zu haben, wieder zurück zu P. Kurz vor dem Ziel sieht er P. umringt von Engelscharen, umgeben von den Chören der Propheten und Apostel, schneeweiß gekleidet, zum Himmel emporsteigen (-• Entrückung). Schmerzerfüllt fallt er auf sein Angesicht, wehklagend, weil P. ihn, ohne Abschied zu nehmen, verlassen hat. In der Höhle findet er P.' Leichnam in Gebetshaltung, als ob er noch lebe. Antonius umwikkelt die Leiche und begräbt sie mit Hilfe zweier Löwen ( - Grab, Grabwunder; Mot. Β 431.2) 6 , die in Trauer brüllend herbeigeeilt sind und ihm danach Hände und Füße lecken (Mot. Β 251.2.3.), ihn gleichsam um seinen Segen bittend. Die aus Palmblättern geflochtene Tunika des P. nimmt Antonius mit, um sie jeweils am Oster- und Pfingstfest zu tragen.

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Paulus-Vision -

Die Vita St. Pauli wurde im MA. viel gelesen und beeinflußte andere Berichte von Besuchsreisen zu Einsiedlern 7 . Sie wurde in die Vitae patrum aufgenommen, wo sie gleich am Anfang steht 8 . Danach erzählt die Legenda aurea, knapper, doch bis auf die Episode mit dem Mantel des Athanasius alle Motive und wesentlichen Züge wiedergebend 9 ; ähnlich verfährt Der Heiligen Leben10. Das mhd. Väterbuch weiß wiederum nichts von der Mantelepisode, auch läßt es die in der Vita eingangs angeführten Martern unerwähnt". Das P.-Leben findet sich auch in der nach Protestant. Verständnis gereinigten Ausgabe der Vitae patrum des Wittenberger Reformationstheologen Georg -> Major 1 2 . Der Protestant. Pfarrer Andreas -» Hondorff läßt in seiner Exempelkompilation Promptuarium exemplorum P. zusammen mit Petrus von einem in Landsknechtskleidung predigenden Mönch verspotten (Mot. J 1263.4.2)13. Unter den fünf Legenden Hermann -> Hesses, die unter Berufung auf die Vitae patrum von frühchristl. Einsiedlern in der ägypt. Wüste handeln, befindet sich auch eine P.-Legende 14 . Hesse stellt darin den Satyr (,Feldteufel') in den Vordergrund, der nach Gott und dem Segen des P. und Antonius verlangt. 1 Allg. cf. AS Jan. 1 (1643) 6 0 2 - 6 0 9 ; Calio, G.: Paolo di Tebe. In: Bibliotheca Sanctorum 10. Rom 1968, 2 6 9 - 2 7 6 ; Weigert, C.: P. von Theben. In: LCI 8 (1976) 1 4 9 - 1 5 1 ; Swidzmski, S.: Der Hl. P. von Theben. In: Auf den Spuren des hl. Antonius, ed. P. Frieß. Memmingen 1994, 2 0 1 - 2 1 4 ; Frank, K. S.: Paulos von Theben. In: LThK 7 ( 3 1998) 1528 sq. - 2 Vita St. Pauli Primi Eremitae. In: M P L 2 3 , 1 7 - 2 8 ; dt. Übers.en: Ausgewählte Sehr, des hl. Hieronymus 2. Übers. P. Leipelt. Kempten 1874, 1 2 - 2 6 ; Des hl. Kirchenlehrers Eusebius Hieronymus ausgewählte Sehr. 1. Übers. L. Schade. Kempten/Mü. 1914, 2 1 - 3 3 ; Fuhrmann, M.: Christen in der Wüste. Zürich/Mü. 1983, 7 - 2 1 ; cf. Williams, C. Α.: Oriental Affinities of the Legend of the Hairy Anchorite 2. Urbana, 111. 1926, 8 9 - 1 0 0 ; Wolpers, T.: Die engl. Heiligenlegende des MA.s. Tübingen 1964, 48 — 52. - 3 Zur Diskussion um die Historizität des P. cf. Williams (wie not. 2) 94, bes. not. 2; Swidzmski (wie not. 1) 201, not. 2. - 4 M P L 23, 17 und 73,105; Martyrologium Romanum. Rom 1956, s. v. 10. Jan. - 5 cf. auch Hofmann, L.: Exempelkatalog zu Martin Pruggers Beispielkatechismus von 1724. Würzburg 1987, num. 412. - 6 ibid., num. 534. - 7 c f . Williams (wie not. 2) bes. 100. - 8 M P L 73, 1 0 1 - 1 1 6 ; M P L 2 3 , 1 7 - 2 8 . - ' L e g e n d a aurea/Benz, 111 sq. - 10 Der Heiligen Leben und Leiden 1. Übers. S. Rüttgers. Lpz. 1913, 2 6 3 - 2 6 5 . -

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Pausanias 11

D a s Väterbuch 1. ed. K. Reissenberger. B. 1914, V. 1 0 3 7 - 2 1 0 4 . - 12 Vitae patrum in usum ministrorum verbi. Wittenberg 1544, 6 4 - 7 3 . - 13 Hondorff, Α.: Promptuarium exemplorum. Lpz. 3 1573, fol. 101v. 14 Hesse, H.: Legenden, ed. V.Michels. Ffm. 1975, 88-96.

Würzburg

Erich Wimmer

Paulus-Vision - L a F o n t a i n e (11,7) b e k a n n t g e w o r d e n e s h u m a -

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Paysan du Danube

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nistisches Exemplum von der Beredsamkeit eines groben ,villanus', der dem röm. Senat zur Zeit des Mark Aurel eine Sittenpredigt hält. Die älteste Fassung der Rede dieses ,edlen Wilden' findet sich in dem vielfach gedr. Moraltraktat des Antonio de -> Guevara, dem Libro aureo de Marco Aurelio emperador y eloquentissimo orador (1518—25, Erstdruck 1528)1, dann aber vor allem in dem davon abhängigen Fürstenspiegel Relox de Principes (Valladolid 1529 und danach mehr als 120 Male) 2 .

scheinenden Mannes; dieser stellt in seiner Rede die arrogante Vorherrschaft der Römer in Frage und behauptet die selbstgenügsame und friedliche kulturelle Eigenständigkeit der germ. Völker. Der P. wird in Rom hoch geehrt. Die ersten beiden V.e der Fabel: „II ne faut point juger des gens sur l'apparence" (cf. -> Schein und Sein) und „Le conseil (en) est bon, mais il n'est pas nouveau" sind in Frankreich zu geflügelten Worten, die Bezeichnung des P. als ,Ours mal leche' ist zur Redensart geworden.

Der von dem Sprecher Marcus Aurelius als ein tierisch-häßlicher und ärmlicher Wilder beschriebene Bauer namens Mileno wendet sich in seiner langen, rhetorisch glänzenden Ansprache an die in Rom versammelten Senatoren; sie beschreibt den allg. Verfall der Tugenden und speziell die röm. Politik der Besetzung und tyrannischen Unterdrückung in Germanien. Beklagt wird die Grausamkeit der Eroberer, von denen jeder nimmt, was er kann, und tötet, wen er will', und die Unvernunft der Kriege; getadelt werden die ungerechten Justizbeamten, gefordert wird ein friedliches Auskommen der Römer mit ihren Nachbarvölkern, gepriesen wird das einfache, anständige und nüchterne Leben der Landbevölkerungen. Die Römer nehmen den Tadel des Fremden günstig auf.

Das Thema der Gegenüberstellung eines schlichten Landmannes und einer verderbten Welt (eines mundus immundus in der Großstadt bzw. in der Moderne) hat nicht zuletzt frz. Schriftsteller mehrfach beschäftigt. Der Protagonist des P. parvenu (1734/35) des Pierre Carlet Chamblain de Marivaux (1688-1763) gelangt nach Paris, paßt sich den dortigen Unsitten an und macht eine moralisch zweifelhafte Karriere 14 . Nicolas Edme Restif de la Bretonne (1734—1806) beschreibt in seinen (ζ. T. autobiogr.) Briefromanen Le P. perverti (1759) und La Paysanne pervertie (1784) den Schock, dem unschuldige junge Leute vom Lande in der Metropole ausgesetzt sind, und ihren Untergang im Abgrund von Lüsten und Lastern 15 . Einen in der Großstadt integrierten Mann vom Lande, der die Welt von Paris als tägliches Wunder erlebt, beschreibt Louis Aragon (1897—1982) in seiner surrealistischen ,modernen Mythologie' Le P. de Paris (1926) 16 . Damit ist die simple Kulturendichotomie in der alten Fabel zugunsten eines Modells aufgehoben, das die fortgeschrittene Zivilisation in ihrer Farbigkeit und Variationsbreite ohne moralischen Tadel akzeptiert.

Neben der allg. disziplinierenden und der (wie so oft bei de Guevara) die höfische Welt kritisierenden Bedeutung der Rede dieses gebildeten Landmannes liegt ihr Sinn in einer versteckten (dissimulierenden) Kritik 3 an der span. Conquista Südamerikas. Durch die zahlreichen Übers.en 4 dieser Moraltraktate hat die Beispielrede internat. Verbreitung erlangt. Aegidius -> Albertinus macht in seinen Bearb.en der Guevara-Texte allerdings aus dem Donau-Bauern einen Juden und entwickelt aus dessen Rede ein Plädoyer für ein friedliches Zusammenleben von Römern und Juden 5 , während sich ζ. B. die ital. 6 und engl. Übers. 7 enger an die Vorlage halten. Die erste Popularisierungswelle der Geschichte wird durch die Autoren von ,curiösen' Kompilationswerken (-• Kuriositätenliteratur) angestoßen. Für Deutschland sind ζ. Β. E. Francisci8 und E. W. -> Happel 9 , für Frankreich Pierre Boaistuau 10 und Jean de Marcon11 ville zu nennen 12 . Über eine der zahlreichen frz. Bearb.en gelangte der Stoff dem Dichter La Fontaine zur Kenntnis. Er beschreibt in seiner Fabel Le P. du D.13 die Grobschlächtigkeit des ungebildet

1

In den mehr als 100 Editionen findet sich die Rede meist in Kap. 31. - 2 Zumeist im 3. Buch, Kap. 3 - 5 ; cf. jetzt Guevara, F. A. de: Relox de principes. ed. E. Blanco. Madrid 1994, 698-713; ibid., 699, not. b (Bibliogr. der Lit. zum ,Villano del Danubio'). 3 Zum Einfluß von A. de Guevaras Hofkritik auf Basile und zum Begriff der ,Dissimulation' (R. Villari) cf. Schenda, R.: Giambattista Basile, Neapel und die mediterranen Erzähltraditionen. In: Fabula 40 (1999) 3 3 - 4 9 , hier 43. - 4 z . B. frz. Übers, von Bertaut de la Grise, R.: Le Liure dore de Marc Aurele. P. 1531 (bis 1555 sechs Aufl.n ζ. T. mit modifizierten Titeln). - 5 Albertinus, Α.: Dritter und letzter Theil deß Horologij Principum, oder Fürstlichen Weckuhr unnd Lustgartens. [...]. Mü. 1599, 39v°-46r°; id.:

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Pedroso — Peeters, Karel Constant

Horologium Principum [...]. Ffm. 1634, 5 1 7 - 5 2 3 . 6 Libro di Marco Aurelio con l'horologio de principi [...] 3. Übers. C. di Franchi. Venezia 1562, 5 v ° - 1 2 r ° . - 7 The Diall of Princes. Compiled by [...] D o n Anthony of Gueuara [...]. Übers. Τ. North [...]. L. 1557 (Faks. Amst./N. Y. 1968), Buch 3, Kap. 3 - 5 (Bauer tritt hier als „villaine" auf)· — 8 Francisci, E.: Die lustige Schau-Bühne allerhand Curiositäten [...]. Nürnberg 1690, 4 6 0 - 4 7 6 , 460 (als Qu. „der Guevarra" genannt), 466 (Bauer bezeichnet „das edle Teutschland" als seine Heimat), 478, cf. auch 486 sq. (die Rede läßt sich hier auch als eine Auseinandersetzung zwischen dem sittenstrengen Protestant. Deutschland und dem lasterhaften kathol. Rom begreifen). - 9 Happel, E. W.: Gröste Denkwürdigkeiten der Welt [...] 5. Hbg 1691, 3 0 9 - 3 1 8 (Der Oratorische Bauer). — 1 0 Boaistuau, P.: Histoires prodigieuses [...]. P. (1560) 1561 u. ö., Kap. 38 (bzw. 39) (Holzschnitt: mit Fell bekleideter, bärtiger, wilder Mann. Boaistuau benützt die Klage des Bauern zu einer Kritik gegen das frz. Justizwesen und für ein Plädoyer zugunsten der armen Kläger); Qu.: Guevara-Übers. von Herberay des Essarts, N. de: L'Horloge des Princes, avec le tres-renomme Livre de Marc-Aurele. P. 1555 u. ö., Buch 3, Kap. 3 - 5 . " Marconville, J. de: Recueil memorable d'aucuns cas merveilleux advenus de noz ans [...]. P. 1564 u. ö., Kap. 25. - 12 Zur weiteren Nachwirkung cf. La Fontaine [J. de]: (Euvres completes 1. ed. J.P. Collinet. P. 1991, 1268; id.: Fables choisis2. ed. A. Cart/G. Fournier. P / N . Y. 1941, 69, not. 3. 13 id.: Fables 2. Livres VIII ä XII. ed. J.-P. Collinet. P. 1974, num. 11,7 (not. p. 272 sq.); La Fontaines Qu. war aber wohl die von Boaistuau bei de Herberay des Essarts (wie not. 10) plagiierte Textfassung; dt. Übers.: Lindner, H. (ed.): Jean de La Fontaine: Sämtliche Fabeln (Übers. E. Dohm/G. Fabricius). Mü. 1978, 8 5 5 - 8 5 9 (mit einer III. von J.-J. Grandville); III. aus der Edition P. 1796, nach Ignace Vivier in Bodemann, U. (ed.): Fabula docet. III. Fabelbücher aus sechs Jh.en. Ausstellungskatalog Wolfenbüttel 1983, 54 sq., num. 55. - 1 4 cf. Le Nouveau Diet, des CEuvres de tous les temps et de tous les pays 5. P. (1980) 1994, 6407 sq. - 15 ibid., 5408 sq. - 16 Aragon, L.: Le P. de Paris. P. 1953.

Jona

Pedroso (Zöphimo)

Rudolf Schenda

Consiglieri-Pedroso,

Zöfimo

Peeters, Karel Constant, *Wuustwezel 29.12.1903, Antwerpen fl6.12.1975, fläm. Journalist und Volkskundler. An der Antwerpener Katholieke Normaalschool erwarb P. die Lehrbefugnis für die Primarstufe (1923) und unterrichtete 1923—33 in seinem Geburts-

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ort, studierte gleichzeitig weiter, erwarb 1925 das Diplom für Verwaltungswissenschaften und wurde 1938 an der Univ. Gent im Fach Pädagogik mit der Arbeit De psycho!, aspecten van het volksleven promoviert. 1930-40 verdiente P. seinen Lebensunterhalt mit journalistischen Arbeiten für verschiedene Tageszeitungen. 1940 trat er als Verwaltungsangestellter in den Dienst der Stadt Antwerpen ein, deren Oberstadtdirektor er 1950—68 war. Die akademische Laufbahn des Volkskundlers P. begann 1946 als Assistent an der Univ. Löwen, 1949 wurde er Lektor, 1959 Professor (Emeritierung 1974). 1964—71 war P. erster Vorsitzender der Soc. Internat. d'Ethnologie et de Folklore (SIEF). Er war Mitglied der Kgl. Belg. Kommission für Vk., und nach seinem Tod wurde das von ihm in Antwerpen gegründete Instituut voor Volkskunde zum K. C. Peeters-Instituut voor Volkskunde umbenannt. Seinen Ruf als Volkskundler verdankt P. vor allem dem Werk Eigen Aard. Grepen uit de Vlaamsche Folklore (Antw. 1946), das zuvor u. d. T. Fläm. Volkstum in einer Kurzfassung im Eugen Diederichs Verlag (Jena 1943) erschienen war. Dieser ill. Thesaurus der fläm. Volkskultur war ein Bestseller und erlebte einige Neuauflagen (1947, 1963). Obwohl sein Interesse anfangs dem Volkslied, bes. dem Weihnachtslied (1938, 1942)1, gegolten hatte, widmete P. sich später vor allem den Volkserzählungen. 1950 veröffentlichte er in Antwerpen Vlaamsche Sprookjes, eine Reihe von zehn kommentierten fläm. Märchen. Sein größtes Verdienst besteht jedoch wohl darin, Dutzende von Löwener Studenten für das Sammeln von Sagen in Flandern angeregt und begeistert zu haben 2 . Zwischen 1949—74 wurden Tausende von Sagen gesammelt, klassifiziert und kartographisch dokumentiert. Obwohl das erhobene Sagenmaterial nicht vollkommen einheitlich ist, handelt es sich doch um eine beeindruckende Sammlung, die für eine ganze Reihe veröff. wie unveröff. Motivstudien als Materialgrundlage diente. Zu erwähnen sind u. a. die Arbeiten über den Werwolf 3 und über die Templer 4 . Auch ein Sagenbuch der Provinz Antwerpen, das 1983 von der Kgl. Akad. für Ndl. Sprachund Lit.Wissenschaft preisgekrönt wurde, kam aufgrund des Löwener Materials zustande 5 . In

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Pegasus

der Internat. Soc. for Folk Narrative Research (ISFNR) hat P. eine wichtige Rolle gespielt: 1962 wurde der 2. Kongreß der I S F N R in Antwerpen abgehalten, der u. a. der Anfertigung nationaler Sagenkataloge und Diskussionen um ein internat. Typenregister für Volkssagen gewidmet war 6 . Zusammen mit F. Harkort und R. Wildhaber war R Herausgeber von Volksüberlieferung, der Festschr. für K. - Ranke (Göttingen 1968). Ein anderes großangelegtes Forschungsvorhaben, das die fläm. und ndl. Volkskundler P. zu verdanken haben, ist die Nederlandse Volkskundige Bibliografie. Seit 1964 sind 37 Bände erschienen. Alle wichtigen volkskundlichen Periodika sind nach dem Schema von E. Hoffmann-Krayer exzerpiert. Für die Zs. Vk. spielte P. ebenfalls eine entscheidende Rolle. Nach dem Tod des fläm. Herausgebers V. de -> Meyere (1938) setzte sich P., zusammen mit J. de -> Vries und M. de -» Meyer, dafür ein, daß die Zs. Vk. weiter erscheinen konnte. Nach dem Tode de Meyers 1967 wurde P. zum Hauptschriftleiter für Flandern. Weitere wichtige volkskundliche Publ.en von P. sind: Over Volkskunst (Antw. 1956); Volkskundige Aantekeningen. Nota's en Bibliografie bij „Eigen Aard" (Antw. 1962); Een Jaar met Sanctjes van L. J. Fruijtiers (Brüssel 1974); Vlaams Sagenboek (s. 1. 1979, Löwen 2 1981). Über sein eigenes volkskundliches Werk hinaus gelang es P., der Vk., vor allem in Flandern, eine größere Bekanntheit und mehr Ansehen zu verschaffen 7 . 1

P., Κ. C.: Het Kerstlied in de Kempen. Brüssel 1938; id.: Het Volksche Kerstlied in Viaanderen. Antw. 1942. - 2 cf. Miscellanea Prof. Em. Dr. K. C. P. ed. W. van Nespen. Antw. 1975, 4 7 - 5 4 . 3 Roeck, Α.: De weerwolf in de Nederlandse volkssage van de negentiende en twintigste eeuw 1 - 2 . Diss, (masch.) Löwen 1967. - 4 Cumps, L. K.: De tempeliers in Viaanderen. Tielt 1976. - 5 Berg, M. van den: De volkssage in de provincie Antwerpen in de 19de en de 20ste eeuw 1 - 3 . Gent 1993; cf. auch id.: 140 jaar volksverhaalonderzoek in de provincie Antwerpen. In: Vk. 84 (1983) 121-179. - 'Tagung der „Internat. Soc. for Folk-Narrative Research" in Antwerp ( 6 . - 8 . Sept. 1962). Ber.e und Referate. Antw. 1963. - 7 Top, S.: Huldegroet aan Prof. em. Dr. K. C. P. In: Vk. 76 (1975) 169-176; Linden, R. van der: In Memoriam Prof. em. dr. K. C. P. In: Oostvlaamse Zanten 51 (1976) 2 1 - 2 4 ; Haver, J. van: In memoriam Prof. em. dr. K. C. P.: In Jaarboek Koninklijke Belg. Commissie voor Vk. Brüssel 28

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(1975) 18-20; cf. auch Top, S.: P., K. C. In: Nationaal Biografisch Woordenboek 13. Brüssel 1990, 632-637; Vandewalle, E./Top, S.: P., K. C. In: Nieuwe Enc. van de Vlaamse Beweging. Tielt 1998, 2411 sq.

Leuven

Stefaan Top

Pegasus. Ein geflügeltes, flugfähiges Pferd (Mot. Β 41.2) begegnet in hethit. und assyr. Darstellungen seit dem 13. Jh. a. Chr. n. 1 Die myken. Kultur 2 übernahm diese Vorstellung 3 . Seit Hesiod 4 ist Pegasos 5 bekannt als Kind des Poseidon und der von -» Perseus enthaupteten Medusa (-• Gorgo, Gorgonen) 6 , meist als Wunderpferd des Bellerophon, später des Perseus 7 . P. diente Zeus als Träger für Blitz und Donner 8 , einige wollen ihn auch im Sternbild des Pferdes verkörpert sehen 9 . Oft erscheint er allg. als göttliches Reittier (ζ. B. der Eos) 10 . Die Verbindung mit der Wassergottheit Poseidon 11 erklärt, daß P. durch einen Huftritt zahlreiche -» Quellen erzeugt haben soll, vor allem die Hippukrene (Pferdebrunnen) am Helikon 12 . Der Quelltritt berühmter Pferde wurde zu einem verbreiteten Motiv (Mot. A941.1) 1 3 . Neben dieser Tradition ist vielleicht noch eine andere für die Vorstellung des Flügelpferdes relevant, nach der Stuten durch den Wind befruchtet werden können 1 4 . Gelegentlich findet sich auch der Glaube, daß Pferde ursprünglich überhaupt geflügelt waren 15 . Während -» Plinius d. Ä. P. ausdrücklich zum - Jenseitsreise gehört ebenfalls in diesen Kontext 23 . Durch seine Verbindung mit Bellerophon, mit dem Helikon und den Musen wurde P. zur Chiffre sowohl für die Heldentat als auch für ihre dichterische Verherrlichung 24 . Das Auftreten des P. in der Monumentalkunst seit dem 15. Jh. ist dementsprechend Legion 25 , in der Emblem-Tradition bis ins 18. Jh. begegnet er häufig 26 . P.-Amulette sind noch in der neuzeitlichen Pferdemedizin bezeugt 27 .

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Peik

Der ungebrochenen Bildtradition entspricht das Nachleben des P.-Motivs in Volkserzählungen: Die Legende kennt zahlreiche fliegende Pferde (für -> Mohammed, -> Albertus Magnus, -> Paracelsus28, Faust 29 ). Eine der Analogiebildungen zum P. stellt der Hippogryph dar 30 . Die Zauberpferde der Erzählüberlieferung stehen mit großer Wahrscheinlichkeit in P.-Nachfolge, so etwa der altfrz. Bayard (-• Haimonskinder)31 oder die fliegenden/geflügelten Pferde in Märchen unterschiedlicher Regionen 32 . Im neugriech. Märchen findet sich eine direkte Rezeption des P.Mythos 33 . Das (oft fliegende) Zauberpferd, das dem Helden hilft, ζ. B. in AaTh 314: -> Goldener, dürfte ebenfalls auf P. zurückgehen 34 . Flugautomaten (Holz- oder Metallpferde in -> Chaucers Squire's Tale, im europ. Märchen 35 , in Tausendundeinenacht36, Holzvögel im Pancatantra31; Automat) und fliegendes Zaumzeug 38 stellen eine rationalisierende Adaptation des P.-Motivs dar. Stets gelangt der Held auf seiner Flugmaschine zu einer Jungfrau; vermutlich steht also überall die Rettung der Andromeda durch Perseus auf dem P. dahinter, die bes. als Bildmotiv sehr verbreitet war 39 . Als Markenname (einer Fahrradmarke; cf. auch -» Fluggeräte) bzw. Emblem (der Mobil Oil Corporation) ist P. in der -> Werbung präsent; auch ein verbreitetes e-mail-Programm trägt seinen Namen. 1 Malten, L.: Bellerophon. In: Jb. des Dt. Archäologischen Inst.s40 (1925) 121-160, hier 143,148; Moortgat, Α.: Assyr. Glyptik des 13. Jh.s. In: Zs. für Assyriologie N. F. 13 (1941-42) 5 0 - 8 8 , hier 63 sq.; Schachermeyr, F.: Poseidon und die Entstehung des griech. Götterglaubens. Mü. 1950, 174, not. 2, 181; Yalouris, N.: P.Mainz 1987, Abb. 2 - 5 . - 2 ibid., Abb. 1. - 3 Türk, G.: Pegasos. In: Pauly/Wissowa 19 (1937) 5 6 - 6 5 , hier 56; Lochin, C.: Pegasos. In: Lex. iconographicum mythologiae classicae 7,1. Zürich/ Mü. 1994,214-230, hier 227,229. - 4 Hesiod, Theogonie, 278-283, 325; Hesiod, Ehoien, Fragment 43a,84; Pindar, Olympien 13,86; id., Isthmien 7,44; Homer, Ilias 6,183 (Anspielung auf P). - 5 Zur Etymologie cf. Peppermüller, R.: Die Bellerophontessage. Diss. Tübingen 1961, 48. - 6 z . B. Ovid, Metamorphosen 4,785-789, 5,256-262; Apollodor, Bibliothek 2,32 und 42 sq.; Aristophanes, Frieden, 1 - 1 8 0 , 7 2 2 (Ritt auf P. parodiert). - 7 So wohl schon bei Aratos, Phainomena, 218—232. — 8 Hesiod, Theogonie, 285 sq.; Euripides: Fragment 312. ed. A. Nauck. Lpz. 3 1871; hethit.-assyr. Parallelen bei Malten (wie not. 1) 138-143. - 'Boll, F.: Sphaera. Lpz.

1903, 117 sq.; Eratosthenes: Katasterismoi. ed. A. Rehm. B. 1878, 120. - 1 0 cf. Lykophron, 16 sq.; Fragmente griech. Historiker, ed. F. Jacoby. B./Leiden 1923,12 F 13 (Asklepiades von Tragilos). 11 Burkert, W.: Greek Religion. Cambr., Mass. 1985, 138 sq. - 12 Aratos, Phainomena, 216-224; Hyginus, Astronomica 2,18,1; weitere Qu.n: Solinus, Collectanea rerum memorabilium 7,22 sq.; Statius, Thebais 4,60 sq.; Mythographi Vaticani 2,135. ed. P. Kulcsär. Turnhout 1987; Pausanias, Perihegesis 2,31,9. - 13 Steller, W.: Pferd. In: H D A 6 (1934-35) 1598-1652, hier 1632 sq. - 1 4 Varro, Res rusticae 2,1,19; Vergil, Georgica 3,274 sq.; Plinius, Naturalis historia 8,166. - 15 Steller (wie not. 13) 1605. 16 Plinius, Naturalis historiae 10,136. - 17 Solinus, Collectanea rerum memorabilium 7,22 sq. und 30,29; Papias, Vocabulista, s. v. P.; Vincent de Beauvais, Speculum naturale 16,126; zur ma. Tradition cf. Hünemörder, C.: P. In: Lex. des MA.s 6. Mü./Zürich 1993, 1855 sq. - 18 Hiller, S.: Bellerophon. Mü. 1970, 4 1 - 4 3 , allg. 93 sq. - 19 Brink, C./Hornbostel, W. (edd.): P. und die Künste. Mü. 1993, 34; Lochin (wie not. 3) 231; Hiller (wie not. 18). - 20 P , geflügelte Pferde. In: LCI 3 (1971) 389 sq. 21 Wind, E.: Pagan Mysteries in the Renaissance. Ox. 1980, 252, Abb. 95. - 2 2 ibid., 289-291. - 23 EM 7, 528; EM 8, 1255. - 24 cf. LCI 3, 390; Brink/Hornbostel (wie not. 19) 14-18. - 2 5 ibid., 18-23, 4 7 - 6 0 ; zur ikonographischen Tradition cf. Yalouris (wie not. 1). - 2 6 Henkel, A./Schöne, Α.: Emblemata. Stg. 2 1976, num. 63, 1661 sq., 1666-1668, 1827. 27 Steller (wie not. 13) 1650. - 28 ibid., 1627; Herold, L.: Flug. In: H D A 2 (1929-30) 1657-1676, hier 1671. - 29 ibid., 1673; Kiesewetter, C.: Faust in der Geschichte und Tradition. Lpz. 1893, 208. 30

Schöpf, H.: Fabeltiere. Graz 1988, 105. cf. Wetzel, Η. Η.: Märchen in den frz. Novellenslgen der Renaissance. B. 1974, 40 sq.; Steller (wie not. 13) 1628. - 3 2 ζ. B. von Beit 2, 244, 330; Prym, E./Socin, Α.: Syr. Sagen und Märchen. Göttingen 1881, 53 sq., 91, 156, 166; Andrade, M. J.: Folk-Lore from the Dominican Republic. Ν. Υ. 1930, num. 115; Klaar, Μ.: Tochter des Zitronenbaums. Märchen aus Rhodos. Kassel 1970, num. 1. 33 Kretschmer, P.: Neugriech. Märchen. MdW 1919, num. 41, 56; Hahn, num. 3. - 34 Radermacher, L.: Mythos und Sage bei den Griechen. Brünn/Mü./ Wien 2 1943, 99. - 3 5 B P 2 , 131 sq. - 3 6 C h a u v i n 5 , 221-231. - 3 7 cf. Benfeyl, 159 sq.; Wlislocki, H. von: Beitr.e zu Benfey's Pantschatantra. In: Z D M G 42 (1888) 118-121; Hertel, J.: Über einen südl. textus amplior des Pancatantra. In: Z D M G 61 (1907) 4 5 - 4 8 . - 38 EM 4, 1367 sq.; magische Flughilfen: BP 2, 134 sq.; Chauvin 5, 230. - 39 cf. Brink/ Hornbostel (wie not. 19) 57 sq., 7 1 - 9 2 . 31

Konstanz

Markus Asper

Peik (AaTh 1542), Schwank vom klugen Mann, der sich mit Betrügereien durchs Leben schlägt, indem er einen König (reichen Mann,

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Peik

Priester) mehrmals zum Narren hält und ihm Wertloses (gefährliche Tiere) verkauft. Der Meisterbetrüger P. wird vom König herausgefordert, ihn zu überlisten. Er reitet auf dessen Pferd nach Hause, angeblich um seine Narrenhölzer zu holen, verkauft aber statt dessen das Tier und kommt nicht zurück. Als der König ihn aufsucht, verkauft er ihm einen Kessel, der ohne Feuer kocht. Bei der dritten Begegnung ,ersticht' P. seine Schwester, die eine mit Blut gefüllte Blase unterm Kleid hat, und schwatzt dem König eine Flöte auf, mit der er sie wieder zum Leben erwecken könne. Der König tötet eine seiner Töchter und nimmt P., der die Kleider seiner Schwester angezogen hat, als Gesellschaftsdame der Prinzessin mit. Ein Prinz will P. heiraten, aber dieser flieht in der Hochzeitsnacht (wird wegen der Schwangerschaft der Königstochter entlarvt). P. wird zum Tode verurteilt, soll in einem Sack (Tonne) ertränkt werden, tauscht aber mit einer anderen Person den Platz und wird schließlich selbst König.

Dieser nicht deutlich abzugrenzende Episodenschwank ist in Europa, Nordafrika und Asien verbreitet 1 und besteht aus verschiedenen, beliebig austauschbaren Szenen. P. wird nicht immer bestraft, sondern steigt sogar zum Schwiegersohn des Königs auf 2 . Der Schwank hat vor allem Motive mit AaTh 1535: -> Umbos, AaTh 1525 sqq.: -» Meisterdieb und AaTh 1539: List und Leichtgläubigkeit gemeinsam und ist oft mit einer populären Schelmenfigur verbunden, der auch andere Streiche angedichtet werden. In Norwegen heißt der Trickster P.3, im Jemen -> Abü Nuwäs 4 , bei den Udmurten Aldar Iwan 5 , bei den Wotjaken Aldartaz 6 (-> Hodscha Nasreddin 7 ). In Malaysia heißt er Toba oder Towo (Betrüger) 8 . Das Motiv des Pferdediebstahls kommt auch als selbständige Erzählung (AaTh 1542 A: Return for Tools) u. a. in Estland, Litauen und Rumänien vor 9 . In russ. und tatar. Var.n von AaTh 1542 läßt der Trickster von Leichtgläubigen eine krummgewachsene Birke stützen, während er seinen Narrenbeutel holt (AaTh 1530: -> Tausch von Pseudotätigkeiten)[0. Motive aus dem Meisterdiebzyklus wie der Trick mit den getrennt auf den Weg gelegten Schuhen (AaTh 1525 D: Theft by Distracting Attention) und die Düpierung zweier Honigdiebe in AaTh 1525 H4: Junge im Bienenkorb werden ebenfalls mit AaTh 1542 kombiniert 11 . Die Schlußepisode des Rollentauschs kommt auch allein 12 oder in anderen Erzähl typen 13 vor. In einem komplexen Märchen aus

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jüd.-jemenit. Überlieferung ist sie u. a. mit AaTh 950: -> Rhampsinit verknüpft 1 4 . In mittel- und südeurop. Ländern fehlen die Episoden mit den vergessenen Narrengeräten und mit der Prinzessin. Hier verläuft der Schwank ζ. T. wie AaTh 1535: Ein Junge will sich rächen, nachdem ein Reicher seine Kuh getötet hat. Der Düpierte gibt vor, seine Kuhhaut für viel Geld verkauft zu haben, und wird nun selbst zum Meisterbetrüger 15 . Auch bei den Südslaven 16 , Ungarn 1 7 , Tibetern 18 , Kabylen und Bewohnern Sibiriens finden sich ähnliche Geschichten 19 . In wallon., dt. und fläm. Erzählungen sowie in einer nordafrik. und einer afghan. Var. beginnt der Schwank damit, daß der Bursche von drei Betrügern verführt wird, sein Pferd oder ein anderes Tier gegen ein wertloseres zu tauschen oder zu verschenken (AaTh 1539)20. Hier ist der Held anfänglich selbst der Dumme, wie in einer Erzählung -> Straparolas (1,3), in welcher der Held Scarpacifico ein alter Priester ist, der dem Rat seiner schlauen Haushälterin folgt. Die pseudomagischen Gegenstände oder Tiere variieren: eine Tierhaut, die alles weiß oder Ehebruch ans Licht bringt (verknüpft mit Mot. Κ 443.1: Hidden paramour buys freedom from discoverer21); ein Hut, der alles bezahlt (Mot. K i l l .2); ein Esel, der Goldstücke fallen läßt (cf. AaTh 563: -> Tischleindeckdich)', ein Eichhörnchen, das Geld aus einem Baum pflückt 2 2 etc. In bayer., bengal, und ceylones. Var.n gibt der Mann vor, er könne seine Mutter mit einem Stock in ein junges Mädchen verwandeln 23 . In einer jüd.-jemenit. Var. verkauft Abu Niwas ein Feld, auf dem er Ziegenhörner und ähnliches gesät hat 2 4 . Nicht immer wird behauptet, das Verkaufte habe pseudomagische Kräfte. So liefert der Trickster dem Dummen einen Wolf, um die Schafe zu bewachen (Mot. Κ 133)25, einen Fuchs als Gänsehirten und einen Bären als Imker 26 . In einer Erzählung aus Nordfrankreich kauft ein Herr nicht nur einen selbstkochenden Kessel, sondern auch eine Dose mit Engeln (Bienen), die ihn bei seinem Tode zum Himmel führen sollen 27 . In einer bengal, und einer isl. Var. gibt der Bursche vor, Geld mit dem Verkauf der Asche seines abgebrannten Hauses verdient zu haben (Mot. Κ 121)28. Durch mißglückte Nachahmung (cf. -» Imita-

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Peik

tion: Fatale und närrische I.) ruiniert sich auch hier sein Gegner. Weniger schlimm ergeht es einem Bauern in einem schwed. Märchen, der v o n seinem Knecht dazu überredet wird, mit seinem Abfall z u m Markt z u gehen 2 9 . In einer türk. Var. verkauft der Betrüger Exkremente 3 0 und läßt sich listig einen nicht erlittenen Schaden ersetzen 3 1 . A u c h andere minderwertige D i n g e wie Besen 3 2 werden für viel Geld verkauft. In verwandten Geschichten spielt ein Narr n o c h ganz andere Streiche: Er macht ζ. B. d e m K ö n i g weis, dessen Pferd in einen Esel verwandelt z u haben, verdingt sich in Verkleidung als Frau bei einem Pfarrer und schwängert dessen Töchter oder wettet erfolgreich mit d e m K ö n i g (nicht die Milch, sondern der Tag ist das hellste D i n g ) 3 3 . In Insulinde, w o solche Schelmengeschichten zu den beliebtesten Erzählungen gehören, läßt der Trickster sich v o m K ö n i g in einem Bündel Palmblätter tragen, in d e m er sich versteckt hat; als der K ö n i g das nächste Mal das Bündel durchsticht, hat P. es voll mit roten Früchten gepackt 3 4 . D i e Geschichte v o m Meisterbetrüger ist ein gutes Beispiel dafür, d a ß Märchen durch K o m b i n a t i o n e n v o n Einzelepisoden immer wieder neu gestaltet werden können. D i e p s e u d o m a g i s c h e n G e g e n s t ä n d e - erstmals im 11. Jh. in d e m kleinen lat. Gedicht Unibos [AaTh 1535] in K o m b i n a t i o n mit d e m M o t i v des Ertränkens — bilden das pervertierte schwankhafte Gegenstück zu ähnlichen Requisiten im Zaubermärchen. D i e vielen und o f t derben Streiche, die hier gespielt werden, sind mit denen aus ma. Tierepen vergleichbar (-• Reineke Fuchs). D i e Freude a m Erzählen v o n Geschichten über schlaue Betrüger und ihre leichtgläubigen Opfer m a g das Entstehen solcher S c h w ä n k e begünstigt haben. 1 Ergänzend zu AaTh: Hodne; Ο Siiilleabhäin/Christiansen; Cirese/Serafini; Lörincz; Nyman; Jason; Jason, Types; Jason, Indic Oral Tales; Choi; Ting; Ikeda; Seki; Kristensen, Ε. T.: Efterslaet til „Skattegraveren". Kolding 1890, num. 113; id.: /Eventyr fra Jylland 4. Kop. 1897, num. 68 (Tausch mit dem Müller in der Mitte der Schwankepisoden); Mauland, T.: Folkeminne fraa Rogaland 1. Oslo 1928, num. 18; Kvideland, R.: Norske eventyr. Bergen/Oslo/Tromso 1972, num. 55; Liungman 1, 506-509; Qvigstad, J.: Lappiske eventyr og sagn 2. Oslo 1928, num. 74, 75, 97; Kannisto, Α.: Wogul. Volksdichtung 3. ed. M. Liimola. Hels. 1956, 2 0 - 3 5 (mit atypischen De-

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tails); Zelenin, D. K.: Velikorusskie skazki Permskoj gubernii. Petrograd 1914, num. 21 (kombiniert mit AaTh 1538*); Moldavskij, D. M.: Russkaja satiriceskaja skazka. M./Len. 1955, 40 sq. - 2 Kristensen 1890 (wie not. 1). - 3 Hodne (23 Var.n). - 4 Noy, D.: Jefet Schwill erzählt. B. 1963, num. 113. - 5 Kralina, N.: Sto skazok udmurtskogo naroda. Izevsk 1961, num. 83 (18 Texte). - 6 Munkäcsi, B.: Volksbräuche und Volksdichtung der Wotjaken. Hels. 1952, num. 81. - 7 Bushnaq, H.: Arab Folktales. Bungay 1986, 2 6 0 - 2 6 4 (alger.); cf. Jason, Types (marokkan.); Walker, W. S./Uysal, Α. E.: Tales Alive in Turkey. Cambr., Mass. 1966, num. 7. - 8 Hambruch, P.: Malai. Märchen. MdW 1922, 235-237. 9 Ergänzend zu AaTh: Rausmaa; Aräjs/Medne; SUS; cf. auch Zelenin, D. K.: Velikorusskie skazki Vjatskoj gubernii. Petrograd 1915, num. 51; Sidel'nikov, V. M.: Kazachskie skazki. Alma-Ata 1958, 312-318; cf. Cammann, Α.: Dt. Volksmärchen aus Rußland und Rumänien. Göttingen 1967, num. 107 (bessarab.); cf. Gasparikovä, num. 426 (ein Zigeuner hat sein Zigeunertum zu Hause vergessen). — 10 Zelenin (wie not. 9) num. 135; Kralina (wie not. 5); Jarmuchametov, C. C.: Tatarskie narodnye skazki. Kasan 1957, 170; Potanin, G. N.: Kazak'-kirgizskija i altajskija predanija, legendy i skazki. SPb. 1917, 132-134. "Zelenin (wie not. 9) num.135; Munkäcsi (wie not. 6); Kristensen 1897 (wie not. 1). - 12 Schier, K.: Märchen aus Island. MdW 1983, num. 44. - 13 Sakryl, K. S.: Abchazskie narodnye skazki. M. 1975, num. 50 (untypische Motivkombination). — 14 Noy (wie not. 4) num. 126. — 15 cf. Var.n bei Cosquin 1, 111-120, 223-231; cf. ibid. 2, 124-127, 223-231. - 1 6 Zbornik narodni zivot i obicaje Juznih Slavena 16,1 (1911) 133-135. - , 7 Koväcs, Ä.: Kalotaszegi nepmesek 2. Bud. 1943, num. 50. - 18 Kassis, V.: Prodelki djadjuski Denba. Tibetskoe narodnoe tvorcestvo. M. 1962, 5 8 - 6 1 . - 1 9 Cosquin 2, 228. 20 Wolf, J. W.: Dt. Märchen und Sagen. Lpz. 1845, num. 11; Bushnaq (wie not. 7); Cosquin 1, 116 (afghan.); cf. auch Dekker/van der Kooi/Meder, 204-206. 21 Stroebe, K./Christiansen, R. T.: Norw. Volksmärchen. MdW 1967, 220-226; Sahlgren, G. und J.: Zweedsche volkssagen. Antw. 1946, 3 3 - 3 9 . 22 Sahlgren, J./Liljeblad, J.: Svenska sagor och säg23 ner 3. Sth. 1939, num. 40. Cosquin 1, 117 und ibid. 2, 354 sq. - 2 4 N o y (wie not. 4) 260-263. 25 Sahlgren/Liljeblad (wie not. 22); Bjazyrov, A. Ch.: Osetinskie narodnye skazki. Stalinir 1960, num. 36; Moldavskij (wie not. 1). - 26 Danner, E.: Die Tanne und ihre Kinder. B. 1961, 144-146 (litau.). - 27 Lamerant, G.: Vlaamsche wondervertellingen uit Fransch-Viaanderen. Brüssel 1929, 59. - 28 Cosquin (wie not. 15). - 29 Sahlgren (wie not. 21). - 30 Walker/Uysal (wie not. 7). 31 Mode, H. (unter Mitarbeit von M. Hübschmannovä): Zigeunermärchen aus aller Welt 4. Wiesbaden 1985, num. 245 (aus dem Kosovo). - 32 Cosquin 2, 287 (dt.); Wisser, W.: Plattdt. Volksmärchen 1. MdW

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Pelbart von Temesvär

1927, 281-285; anderswo sind es automatisch fegende Besen, cf. Cosquin 2, num. 71; cf. auch Dekker/van der Kooi, 204-206. - 33 Papashvily, G. und H.: Yes and No Stories. Ν. Y./L. 1946, 117-124 (georg.); Qvigstad (wie not. 1) hier t. 1 (1927) num. 46; Diller, I.: Zypriot. Märchen. Athen 1982, num. 81 (beginnt mit der Episode vom Sack). - 34 Hambruch (wie not. 8).

's-Gravenwezel

Marcel Van den Berg

Pelbart von Temesvär, *Temesvär (dt. Temeschburg, rumän. Timi^oara) um 1435, fBuda 22.1.1504, ung. Minoritenprediger 1 . P. studierte ab 1458 Philosophie und Theologie an der Univ. Krakau (1463 baccalaureus in artibus). Um 1471 kehrte er als Magister der Theologie nach Ungarn zurück, wo er in den 1480er Jahren an der Hochschule der Minoriten in Buda unterrichtete und um 1496 in Esztergom als Prior tätig war. Später wurde er Provinzial der observanten Ordensprovinz. P. besitzt für die Erzählforschung als Vermittler Bedeutung, denn im 16.-18. Jh. zählt er zu den meistzitierten spätma. Exempelautoren. In seinen lat. Predigtwerken2 berücksichtigte P. vor allem die Ansprüche des niederen Klerus und des einfachen Volkes. Seine Marienpredigten mit zahlreichen Mirakelerzählungen stellte er u. d. T. Stellarium coronae beatae Mariae virginis (Hagenau 1498) zusammen; als indirektes Vorbild diente der Traktat De duodecim gemmis des Epiphanios von Salamis über die zwölf Edelsteine des hohepriesterlichen Brustschildes. Bes. wichtig für die Erzählforschung ist die dreibändige Predigtsammlung Pomerium, die nach den großen Festkreisen, Sonn- und Feiertagen des Kirchenjahres gegliedert ist: Sermones de tempore (Hagenau 1498), Sermones de sanctis (Hagenau 1499) und Sermones quadragesimales (Hagenau 1499). Ps weitere Werke sind die von Osvät Laskai vollendete, alphabetisch geordnete theol. Enz. Aureum rosarium theologiae 1—4 (Hagenau 1503—08) und die Expositio psalmorum (Hagenau 1504), ein Kommentar zu den Psalmen und Hymnen des A. T.s und des N. T.s, zur Confessio Athanasii und zum Tedeum3. Die Werke wurden bis in die 1520er Jahre in Hagenau, Venedig, Basel, Augsburg, Nürnberg, Paris, Straßburg und Lyon in insgesamt etwa 120 Aufl.η publiziert; einige weitere

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Editionen kamen bis zum Ende des 16. Jh.s hinzu 4 . Für die Sermones, die vornehmlich aus moralischer und allegorischer Exegese von Bibeltexten bestehen und als Muster für Predigten in den Nationalsprachen gedacht waren, ist ein scharfer sozialkritischer Ton charakteristisch, der jedoch über den Rahmen der scholastischen Moral nicht hinausweist5. Eine enge Verbindung seiner Werke mit dem Geist der devotio moderna und imitatio Christi ist erkennbar 6 . Nicht alle der über 400 Exempla P.s, die L. -» Katona aus den Sermones de tempore und den Sermones quadragesimales zusammengestellt hat, sind Erzählungen im engeren Sinn; so führt er auch Vergleiche, Hinweise, Beschreibungen und Allegorien an. Die von Katona publizierten Exempel stellen etwa ein Drittel von P.s Exempelmaterial dar. F. C. -» Tubach führt in seinem Index exemplorum über 300 Nachweise von P. auf der Basis von Katona auf, davon ist etwa die Hälfte nur bei P. ausgewiesen. In seinen Geschichten7 berücksichtigt P. die religiösen Ansprüche des Volkes auch dadurch, daß er empfiehlt, während der Predigt Bilder zum Thema zu zeigen8. Die meisten Exempel P.s basieren auf schriftl. Qu.n 9 , er beruft sich aber auch auf mündl. Überlieferung und eigene Erfahrung. Die zwei Hauptquellen der Sermones de tempore und der Sermones quadragesimales sind das Speculum exemplorum und die Vitae patrum. Häufig zitiert werden -» Thomas Cantipratanus, -> Caesarius von Heisterbach, Johannes -> Herolt, die -» Gesta Romanorum, -> Gregor d. Gr., die -» Legenda aurea, -> Vincent de Beauvais, ferner -» Barlaam und Josaphat, Johannes Gobi Junior, -> Etienne de Bourbon, -» Valerius Maximus, -» Plinius, -· Äsop, Albertus Magnus, -> Hieronymus, der -» Physiologus, Robert Holcot, Aristoteles, Augustinus und Solinus. P. konsultierte auch Zeitgenossen aus dem Wiener Universitätskreis wie Johannes -> Nider, Paulus Wann und Heinrich von Langenstein sowie den Basler Minoriten Johannes Gritsch 10 . Schließlich führt er noch die Legenden zahlreicher Heiligen und das -> Pancatantra als Quelle an. Hauptquelle und Vorbild des Stellarium war die Scala coeli des Johannes Gobi Junior und das Corona beatae Mariae virginis des Johan-

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Pelbärt von Temesvär

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nes D u l m a n i a " . A u c h das früher A n s e l m v o n Canterbury zugeschriebene Mariale magnum und den Tractatus miraculorum sowie die Legenda communis nativitatis beatae Mariae hat P. benutzt.

Allegorien; Andachts- u n d Kultformen, Sakramente, theol. Begriffe; Bekehrungsgeschichten; Tod, Jenseits; Teufelserzählungen; Tugenden und Laster; Priester, M ö n c h e , Einsiedler.

E r z ä h l t y p e n u n d - m o t i v e (Ausw.) 12 : num. 3, 9, 134, 188 = cf. AaTh 1242: - Holzladung. - 4 = Mot. U 125: Wolf loses interest in sermon when he sees a flock of sheep (Dicke/Grubmüller, num. 634). - 28 = Mot. U 11.1.1: Animals confess sins to one another: fox and wolf forgive each other, punish ass (Dicke/Grubmüller, num. 558). - 30 = -» Brotlegenden (Tubach, num. 761). - 35, 376 = AaTh 150: Die drei -> Lehren des Vogels. - 54 = AaTh 770: -» Nonne, die in die Welt ging. - 59 = AaTh 1166*: -> Soldat und Teufel. - 62 = -» Elternmörder (Tubach, num. 2879). - 69 = AaTh 1430, 1681*: - Luftschlösser. - 80 = -+ Tierprozeß' 3 . - 91, 175 = AaTh 980, 980 C - D : cf. Der undankbare Sohn. - 93 b = AaTh 111 A: - Wolf und Lamm. - 95 = Mot. Κ 1281: Woman draws a pelt to her instead of her husband (-> Fernzauber). - 98 = -» Bratenwunder (Tubach, num. 1131). - 112 = Mot. A 2851: The four characteristics of wine (-> Noah) 1 4 . - 142 = AaTh 1842: -> Testament des Hundes. - 143 = AaTh 1353: Böses -> Weib schlimmer als der Teufel. — 145 = cf. AaTh 243 A, 1422: -» Ehebruch verraten. — 149 = — Leben am seidenen Faden. - 164 = -> Löwentreue. - 165 = AaTh 156: -> Androklus und der Löwe. - 171 = AaTh 910 C: - Barbier des Königs. - 203 = AaTh 1331: Neidischer und Habsüchtiger. — 228 = AaTh 613: Die beiden -> Wanderer. - 230 = AaTh 766: -> Siebenschläfer. - 231 = AaTh 910 F: -> Einigkeit macht stark. - 239 = AaTh 471 A: - Mönch und Vöglein15. - 248 = AaTh 1835 D*: Vaterunser beten, ohne an anderes zu denken. — 272 = AaTh 910 K: -> Gang zum Eisenhammer (Kalkofen). - 275 = -» Lahmer und Blinder. — 276 = Mot. J 1714.1: A wise man follows a fool against his better judgement. — 300 = AaTh 293: -> Magen und Glieder. - 321, 403 = AaTh 759: -» Engel und Eremit™. - 333 = AaTh 920 C: - Schuß auf den toten König. - 343 = AaTh 335: Boten des Todes. - 377 = Mot. J 861.1: Consoled by a drop of honey. - 380 = Mot. Η 701.1: How many seconds in eternity? ( - · Ewigkeit). - 395 = Jahreskönig. 396 = AaTh 920 Β: Vogelwahl der Königssöhne. 397 = -» Glaube versetzt Berge. - 401 = Mot. J 912.1: King orders piece of cloth shown after his death. - 402 = Mot. V 39.4: Vision of sacrament in form of young child (-• Hostienwunder).

D i e nachma. Rezeption P.s läßt sich in der Protestant. Polemik bei H i e r o n y m u s Rauscher e b e n s o nachweisen 1 8 wie bei den kathol. Autoren der Gegenreformation und des Barock. Mehrere Qu.nhinweise begegnen ζ. B. bei W. G u m p p e n b e r g 1 9 , B. - Kybler 2 0 , G. Vogler 21 oder L. Lemmer 2 2 . Bei ung. Autoren lassen sich Spuren v o n P.s Exempeln ζ. B. im Mirakelbuch v o n Mariatal des F. Orosz 2 3 , in den Predigtsammlungen v o n G. Käldi 2 4 und J. Telek 2 5 , den Meditationssammlungen v o n J. N ä dasi 2 6 und den Beispielsammlungen des J. Tax o n y i 2 7 u n d G. Faludi 2 8 nachweisen. In der theol. D i s p u t a t i o n v o n J. Apäczai Csere wird das Rosarium v o n P. angeführt 2 9 . Kritisch hingewiesen wird auf die Arbeiten P.s im kirchenrechtlichen Traktat des V. Lupoli (Ende 18. Jh.) 3 0 . D i e ung. Kodexliteratur der 1. H ä l f t e des 16. Jh.s weist zahlreiche Stoff-und Motivparallelen mit P. auf 3 1 . Evident ist auch der Einfluß P.s auf J. -> Paulis Schimpf und Ernst32.

Auf A a T h 1631: -»• Pferd geht nicht über Bäume wird bei P. als Sprichwort angespielt 1 7 . Thematisch lassen sich die übrigen Erzähltypen und -motive nach folgenden Schwerpunkten gruppieren: Naturkundliche Hinweise; pagan-antike Stoffe; bibl. und parabibl. Erzählungen; christl. Legenden; geistliche

' Allg. cf. Stoll, B./Varga, I./Koväcs Sändor, V.: A magyar irodalomtörtenet bibliografiäja 1772-ig (Bibliogr. der ung. Lit.geschichte bis 1772). Bud. 1972, 238 sq.; Szabo, K./Hellebrant, Α.: Regi magyar könyvtär (Alte ung. Bibl.) 3,2. Bud. 1898, 832-834; cf. Schneyder, J. B.: Pelbartus. In: LThK 8 ( 2 1963) 252; Marienlex. 5. ed. R. Bäumer/L. Scheffczyk. St. Ottilien 1993, 143 sq.; U j magyar irodalmi lex. 3 (Neues ung. Lit.lex.), ed. L.Peter. Bud. 1994, 2071. 2 Ausg.n: Katona, L.: T.i P. peldai (Die Exempel des P. von T.). Bud. 1902 (Anh.: Elenchus exemplorum quae in Pomerio quadragesimali et de tempore P.i de t. occurrunt; Anh. selbständig publiziert als: Specimina et elenchus exemplorum [...]. [Bud. 1903]); Közepkori legendäk es peldäk. Ködexeinkböl es T.i P. irataiböl (Legenden und Beispielerzählungen aus dem MA. Aus unseren Kodexen und aus den Sehr. P.s von T.). ed. L. Katona. Bud. (1907); T.i P. müveiböl (Aus den Werken P.s von T.). ed. F. Brisits. (Bud. 1931); T.i P. välogatott iräsai (Ausgewählte Sehr. P.s von T.). ed. V. Koväcs Sändor. Bud. 1982. - 3 Szilädy, Α.: T.i P. elete es munkäi (Leben und Werke P.s von T.). Bud. 1880. - 4 cf. Rozsondai, M.: T.i P. nepszerüsege Euröpäban (Die Popularität P.s von T. in Europa) In: Magyar Könyvszemle 100 (1984) 300-319. - 5 cf. Koväcs Sändor, V.: T.i P. egy korszakvältäs sodräban (P. von T. im Fluß eines Epochenwechsels). In: Stoll u . a . (wie not. 1) 411-441.

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Peleus

- 6 Redl, Κ.: T.i Ρ. es az Imitatio Christi (P. von T. und die Imitatio Christi). In: Irodalomtörteneti Közlemenyek 48 (1960) 182-184. - ' H o r v ä t h , C.: T.i P. es beszedei (P. von t. und seine Predigten). In: Egyetemes Philologiai Közlöny (1889) Suppl.band, 145-233; cf. Pomäzi, G.: T.i P. beszedszerkeszto müveszeteröl (Über die rhetorische Kunst P.s von T.). In: Eszmei es stilisztikai kerdesek a regi magyar prözäban (Ideelle und stilistische Fragen in der alten ung. Prosa). Debrecen 1977, 14-19; Benedek, K.: Α közepkori exemplum müfaj Magyarorszägon (Die Gattung des ma. Exemplum in Ungarn). In: Mohay, T. (ed.): Közelitesek. Festschr. T. Hofer. Debrecen 1992, 3 7 - 6 3 . - 8 cf. Szilädy (wie not. 3) 22 sq., not. 3 (zu Sermones de sanctis, Ende Pars 1). - 9 c f . Katona 1902 (wie not. 2) Anh. — 1 0 Thienemann, T.: T.i P. nemet kortarsai (Die dt. Zeitgenossen P.s von T.). In: Egyetemes Philologiai Közlöny 34 (1920) 54-61. 11 Katona, L.: T.i P. Stellariuma es a „Scala coeli" (Das „Stellarium" P.s von T. und die „Scala coeli"). In: Irodalomtörteneti Közlemenyek 10 (1900) 158-164. - 1 2 Numerierung nach Katona 1902 (wie not. 2) Anh. - 13 György, num. 5. - 14 cf. Scheiber, S.: Folklör es tärgytörtenet (Folklore und Stoffgeschichte) 2. Bud. 1977, 250-259; Lukäcsy, S.: Isten gyertyäcskäi (Die Kerzchen Gottes). Pees 1994, 277—281. — , 5 c f . Borzsäk, I.: Die antiken Bezüge einiger Exempla von P. und Oswald Laskai. In: Acta Litteraria Academiae Scientiarum Hungaricae 15 (1973) 347-365, hier 359 sq. - 16 Katona, L.: A remete es az angyal (Der Eremit und der Engel). Bud. 1900. — , 7 cf. György, num. 125 (Sermones quadragesimales 2,31 R); cf. Tubach, num. 2632. 18 Schenda, R.: Hieronymus Rauscher und die protestant.-kathol. Legendenpolemik. In: Brückner, 179—259. — 19 cf. Tüskes, G.: Bucsüjäräs a barokk kori Magyarorszägon a miräkulumirodalom tükreben (Die barockzeitliche Wallfahrt in Ungarn im Spiegel der Mirakellit.). Bud. 1993, 75 (zu Gumppenberg, W.: Atlas Marianus. Mü. 1672, num. 928). - 2 0 Vollmer, R.: Die Exempel im „Wunderspiegel" des P.Benignus Kybler S. J. von 1678. Würzburg 1989, num.741. 21 Metzger, W.: Beispielkatechese der Gegenreformation. Georg Voglers „Catechismus in Außerlesenen Exempeln", Würzburg 1625. Würzburg 1982, num. 106, 696, 697. - 22 Hahner, G.: Der Exempelgebrauch im Lauretanum Mariale des Laurentius Lemmer, Würzburg 1687. Würzburg 1984, num. 165. - 2 3 Orosz, F.: Elö vizek kuttya (Der Brunnen des lebendigen Wassers). Nagyszombat 1743, num. 1,11; cf. auch die ung. Übers, des Mirakelbuchs von Mariazell: Elö vizeknek kuttya (Der Brunnen des lebendigen Wassers) 3. Györ 1766, 107. - 2 4 Käldi, G.: Az innepekre valö predikäcioknak elsö resze (Der erste Teil der Feiertagspredigten). Pozsony 1631, 595. 25 Telek, J.: Tizen-ket tsillagü Korona (Die Krone mit zwölf Sternen) 1 - 2 . Buda 1769/Väc 1772; cf. Tamäs, P.: Telek Jözsef elete es müve (Leben und Werk des J. Telek). Bud. 1948. - 26 Nädasi, J.: Maria ago-

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nizantium mater. Prag 1644, 7 3 - 7 5 , 9 7 - 1 0 1 ; id.: Maria aeternitatis beatae porta saneta. (Pozsony 1645), 157-164; id.: Annus Marianus. Wien 1648, 90 sq.; cf. Tüskes, G.: A XVII. szäzadi elbeszelö egyhazi irodalom euröpai kapcsolatai (Nädasi Jänos) (Europ. Beziehungen der geistlichen Erzähllit. des 17. Jh.s [J. Nädasi]). Bud. 1997, 186 sq., 200 sq. 27 Taxonyi, J.: Az emberek erköltseinek es az Isten igazsägänak tükörei (Die Spiegel der Sitten des Menschen und der Wahrheit Gottes). Györ 1740, 5 8 - 6 5 ; cf. Jablonkay, G.: Taxonyi Jänos S. J. XVIII. szäzadbeli magyar irö elete es erkölestanitö peldatära (Leben und moralische Exempelslg des ung. Schriftstellers J. Taxonyi aus dem 18. Jh.). Kalocsa 1910, 158, 25 3. - 28 Faludi, F.: Törtenetek az Szüz Märiärul (Geschichten über die Jungfrau Maria) [1776]. In: Vörös, I. (ed.): Faludi Ferenc prözai müvei (Die Prosawerke von F. Faludi) 2. Bud. 1991, 778, num. 4. 29 Apäczai Csere, J.: Disputatio theologica. Ultrajecti 1650; cf. Bän, I.: Apäczai Csere Jänos. Bud. 1958, 127 sq. - 3 0 Lupoli, V.: Juris ecclesiastici praelectiones 3. Venedig 1787, 83 sq.; zitiert bei Bitskey, I.: Humanista erudiciö es barokk vilägkep. Päzmäny Peter predikäciöi (Humanistische Gelehrsamkeit und barockes Weltbild. Die Predigten des P. Pämäny). Bud. 1979, 175, not. 3. 31 Horväth, C.: P. es codexeink (P. und die ung. Kodexlit.). In: Budapesti Szemle 65 (1891) 382-400, 66 (1892) 2 1 - 4 3 ; Katona 1902 (wie not. 2); Bän, I.: A Karthausi Nevtelen müveltsege (Die Bildung des Anonymus Carthusiensis). Bud. 1976; Tarnai, Α.: „A magyar nyelvet irni kezdik". Irodalmi gondolkodäs a közepkori Magyarorszägon („Man fängt an, auf Ungarisch zu schreiben". Literar. Denken im ung. MA.). Bud. 1984. - 3 2 cf. B P 2 , 471 sq.; György, pass.

Budapest

Gabor Tüskes Eva Knapp

Peleus, mythischer griech. Held, König der Myrmidonen, Sohn des Aiakos und der Endeis, Vater des ->• Achilleus 1 . P. gehörte einem Geschlecht an, das durch lokale Beziehungen sowohl mit Thessalien als auch mit Ägina und Salamis verbunden war. Zu P. gibt es nur verstreute Hinweise in der Dichtung. In einer harmonisierenden Darstellung seiner Lebensgeschichte bei Pseudo-Apollodor 2 finden sich folgende Erzählschwerpunkte: P. und sein Bruder Telamon werden von ihrem Vater Aiakos aus Ägina verwiesen, nachdem sie ihren Halbbruder Phokos getötet haben. Telamon begibt sich nach Salamis, P. nach Phthia in Nordgriechenland (Thessalien). Dort reinigt König Eurytion ihn von der Befleckung, die er durch den Mord auf sich geladen hat 3 , und gibt ihm seine Tochter Anti-

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Peleus

gone zur Frau. Aber P. tötet durch einen Fehlschuß seinen Schwiegervater auf der Jagd nach dem kalydon. Eber 4 . P. flieht nach Iolkos, zu Akastos, dem König Magnesias, der ihn entsühnt, aber auch hier wird er zum Auslöser eines Unglücks: Akastos' Ehefrau Hippolyte 5 verliebt sich in P.; er weigert sich jedoch standhaft, den Mann zu kränken, der ihn entsühnt hatte. Daraufhin klagt Hippolyte ihn bei ihrem Mann an und überzeugt diesen davon, daß P. sie verführen wollte. Akastos nimmt P. mit auf die Jagd, und während er schläft, entwendet Akastos ihm sein von Hephaistos geschmiedetes Jagdmesser, so daß er gegenüber wilden Tieren und feindlichen Kentauren wehrlos ist. Der weise Kentaur Cheiron bringt ihm aber das Messer rechtzeitig zurück. Einer anderen Version zufolge bekommt er das Messer von den Göttern erst in der Stunde der Not 6 ; die Redewendung ,P.' Jagdmesser' (griech.: machaira Peleös) wurde sprichwörtlich für,Rettung im letzten Augenblick' 7 . Überliefert ist noch eine Episode während der Jagd: P. schneidet die Zungen der von ihm erlegten Tiere aus (cf. Mot. Η 105.1) und versteckt sie. Als Akastos und seine Genossen ihn verhöhnen, weil er nichts erlegt hätte, zeigt er die Zungen als Beweis seiner Tüchtigkeit vor 8 .

Die Forschung hat sich vor allem — auch unter Heranziehung bildlicher Darstellungen - für komparatistische und mythol. Aspekte interessiert. Für J. G. Frazer war P.' Ausweisung ein Beispiel für eine Thronfolgeordnung, bei der die Königstöchter im Heimatland blieben, während die Königssöhne ausziehen mußten, um Frau und Königsmacht in einem fremden Land zu gewinnen 9 . Das Motiv der unabsichtlichen Tötung findet sich wieder in Herodots Erzählung von Adrastos, der durch König Kroisos in Lydien von einem Brudermord entsühnt wird, seinem Wohltäter aber Unglück bringt, indem er dessen Sohn bei einem Jagdunglück tötet 10 . Die -> Verführungs- und -> Verleumdungs-Thematik ist bekannt aus der Erzählung von Joseph und Potiphars Frau (Mot. Κ 2111; Der keusche ->• Joseph), die für den Helden glücklich endet; in griech. Dichtung findet sich die Thematik ferner in der Sage von Hippolytos und Phaidra, der Frau des Theseus, allerdings mit tragischem Ausgang für den Helden". Ein weiteres Beispiel ist der Mythos von ->• Bellerophon, der sich der Verführung durch Anteia (oder Stheneboia) widersetzt und deshalb später zu Unrecht bei deren Mann Proitos angeklagt wird. Dieser weigert sich wie Akastos, seinen Gast zu töten, versucht aber, ihn auf andere Weise aus dem Weg zu räumen 1 2 .

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Ein wichtiger Themenkreis im Zusammenhang mit P. sind Erzählungen über seine Ehe mit der Nereide Thetis, der Mutter des Achilleus (cf. Tubach, num. 3604) 13 . Es gibt hauptsächlich zwei Überlieferungen: Nach der einen gewann P. Thetis, indem er sie im Ringkampf besiegte, bei welchem sie verschiedene Gestalten annahm, die von wilden Tieren und sogar die des Feuers 14 . Nach Apollodor 1 5 hatte der Kentaur Cheiron P. geraten, Thetis während der Verwandlungen festzuhalten, bis sie wieder in ihre ursprüngliche Gestalt zurückgekehrt sei. P. befolgte den Rat, besiegte Thetis und heiratete sie auf dem Berg Pelion 16 . Der Ringkampf zwischen Thetis und P. ist häufig auf Vasen abgebildet. Die früheste literar. Darstellung findet sich bei Pindar 1 7 . Auch bei Pelias' Bestattung, die P. als Gast bei Akastos erlebt, trägt er mit einer Frau, der Jägerin Atalante, einen Ringkampf aus. Der anderen Uberlieferung zufolge sind es die Götter, die P. Thetis zur Frau gegeben haben. Dieses wird unterschiedlich begründet: (1) Eine Form dieser anderen Überlieferung besagt, daß sowohl Zeus als auch Poseidon um Thetis warben; als aber die Göttin der Weissagung, Themis, prophezeite, daß Thetis' Sohn stärker würde als sein Vater, gaben sie beide ihr Werben auf und ließen sie einen Sterblichen heiraten 18 . Dieses -> Vater-SohnMotiv findet sich auch bei -> Hesiod, hier verbunden mit Zeus und der Göttin Metis 19 . In diesem Fall wird die Bedrohung dadurch abgewendet, daß Zeus Metis verschlingt, bevor sie gebiert. (2) Einer anderen Version dieser Überlieferung zufolge wirbt Zeus um Thetis, die ihn jedoch aus Rücksicht auf Hera abweist. Zeus rächt sich, indem er sie einem Sterblichen schenkt 20 , aber aus Dankbarkeit sorgt Hera im Gegenzug dafür, daß sie den besten aller Sterblichen bekommt, nämlich P.21 In der Ilias finden sich schwache Spuren der letzten Version, auch wird dort angedeutet, daß Thetis eine Ehe mit P. nicht wollte 22 . Außerdem heißt es in der Ilias, daß die berühmte Waffe des Achilleus, die er an Hektor verliert, ein Hochzeitsgeschenk der Götter an P. war 23 . Die Überlieferungen zum Eheleben von P. und Thetis differieren erheblich. Nach Homer (Ilias 18,57-60 und 329-332) wird vorausgesetzt, daß die eheliche Gemeinschaft in P.' kö-

703

Pelops

niglicher Burg fortgesetzt wird. Häufiger wird in den literar. Quellen jedoch erwähnt, Thetis habe P. verlassen, Anlaß und Zeitpunkt werden aber nicht genannt. P.' Ehe mit der Nereide Thetis bietet eine interessante Verdoppelung der Beziehung seiner Vaters Aiakos zu der Nereide Psamathe, Mutter von P ' Halbbruder Phokos 24 . In der Ilias ist P. nicht präsent, wird aber als ein alter, ehrwürdiger Mann beschrieben, der zu Hause in Phthia sehnsuchtsvoll auf seinen Sohn wartet. Ein Hesiod-Fragment 25 erwähnt P. als einen strahlenden Helden, einen glücklichen Mann, der die Gunst der Götter besaß, wofür seine Ehe mit einer Göttin ein Beweis ist. Bei Pindar wird P. als ein berühmter Held erwähnt. 1 Reitzenstein, R.: Die Hochzeit des P. und der Thetis. In: Hermes 35 (1900) 73-105; Bloch, L.: P. In: Roscher, W. H. (ed.): Ausführliches Lex. der griech. und röm. Mythologie 3,2. Lpz. (1902-09), 18271845; Lesky, Α.: P. In: Pauly/Wissowa 19,1 (1938) 271-308; id.: P. und Thetis im frühen Epos. In: Studi italiani di filologia classica 2 7 - 2 8 (1956) 216-226; Geisau, H. von: P. In: Kl. Pauly 4 (1972) 596-598; Gantz, T.: Early Greek Myth. Baltimore/ L. 1993. - 2 Apollodor, Bibliotheke, 3,3,12 sq. 3 Zur Vorstellung, daß Mord in archaischer Zeit nicht nur eine kriminelle Handlung war, sondern auch eine ,Befleckung', die bis zu einer rituellen Reinigung menschliches Zusammenleben beeinträchtigte, cf. Burkert, W.: Griech. Religion der archaischen und klassischen Epoche. Stg./B./Köln/Mainz 1977, 129-142; Parker, R.: Miasma. Pollution and Purification in Early Greek Religion. Ox. 1983. 4 Homer, Ilias 9, 529-599; Pindar, Fragment 17 (P. tötet Eurytion); cf. Bloch (wie not. 1) 1840 sq.; Kl. Pauly 3 (1975) 1168-1170. - 5 Pindar, Nemea 5,26-34. - 6 ibid., 4,92 a (Scholia vetera 1 - 3 . ed. A . B . Drachmann. Lpz. 1903-27). - 7 Zenobios 5,20. - 8 Apollodor, Bibliotheke, 3,13,3. - 9 Frazer, J. G.: The Golden Bough 1,2,2. L. 31911 (Nachdr. 1976), 278. - 10 Herodot, Historien 1,34-45. "Euripides, Hippolytos. — 1 2 Homer, Ilias 6,152— 205. - 13 Nilsson, M. P.: Geschichte der griech. Religion 1. Mü. 1941, 21 sq. (zur Ehe einer Seejungfrau mit einem Sterblichen und Parallelen in Märchen).

- 14 Pindar, Nemea 4,62-65. - 15 Apollodor, Bibliotheke, 3,13,3. - 16 cf. auch eine vergleichbare Episode zwischen Menelaos und dem Meergott Proteus: Homer, Odyssee 4,351-570, bes. 4,420 sq. und 4,460 sq. - 1 7 Pindar, Nemea 4,62-65. - 18 Pindar, Isthmia 8,27-41. - 1 9 Hesiod, Theogonie, 886-900. - 2 0 Homeri opera 5. ed. T.W.Allen. Ox. 1911 (Nachdr. 1946), Kypria, Fragment 2. 21 Homer, Ilias 24,55-63 und 24,534-537. 22 ibid., 18,85 und 18,433. - 2 3 ibid., 18,84 sq. -

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24

cf. Übersicht bei Gantz (wie not. 1) 230 sq. Merkelbach, R.AVest, M. L. (edd.): Fragmenta Hesiodea. Ox. 1967, num. 211.

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Vallensbaek

Lene Andersen

Pelops, nach der griech. Mythologie Sohn des -• Tantalus 1 . P. war als Kind von seinem Vater zerstückelt, gekocht und den Göttern als Speise vorgesetzt worden, um ihre Allwissenheit zu prüfen. Die Götter erkennen den Frevel und vermeiden das Mahl; zur Strafe wird Tantalos in die Unterwelt verbannt. Das Kind wird durch Zusammenlegen der -> Knochen wiederbelebt (Zauberpraktiken des Hermes; -» Wiederbelebung); nur ->• Demeter (Ares, Thetis) hat (aus Unachtsamkeit, vor Heißhunger, in Trauer um ihre entführte Tochter Persephone etc.) ein Schulterstück verzehrt, so daß dem Knaben das fehlende Stück aus Elfenbein ersetzt wird (Pindar, Olympiade 1, 2 4 - 2 8 ; - · Kleiner Fehler, kleiner Verlust). P., auf Vasenbildern als Mundschenk der Götter und als Liebling Poseidons 2 dargestellt, bekommt von diesem bei der Entführung der Hippodameia Hilfe: Er erhält geflügelte Rosse, mit denen er ihren Vater Oinomaos, König von Pisa, im Wagenrennen besiegt. Nach anderer Version (Appollodorus, Epitome 2,6) besticht er den Wagenlenker des Königs, Myrtilos, der die Eisennägel des königlichen Wagens durch Wachsstifte ersetzt; auf der Rückkehr mit Hippodameia stürzt P. Myrtilos von einem Felsen ins Meer, um sich des Zeugen seines Betruges zu entledigen. Myrtilos verflucht das Pelopidengeschlecht; der Fluch erfüllt sich an den P.söhnen: Atreus setzt seinem Bruder Thyestes dessen eigene Kinder zum Mahl vor (-» Kannibalismus).

Während die Schilderung von Brautwerbung und Brautraub (-• Entführung) der Hippodameia — das Wagenrennen um sie wurde in der Antike als Vorläufer der Olymp. Spiele angesehen - in die Dramatik eingegangen sind3, ist die Kinderepisode des P , seine Zerstückelung, das Kochen der Stücke im Kessel, das Vorsetzen als Mahl und seine Wiederbelebung durch Zusammensetzen der Knochen mit dem kleinen Fehler (Schulterstück), als Wandermotiv in verschiedenen Volkserzählungen anzutreffen. Dabei erweist sich die P.Geschichte als vom Lykaon-Mythos beeinflußt (König von Arkadien setzt -> Zeus das Fleisch eines geschlachteten Knaben vor)4, die beide auf ehemals bestehende Opferpraktiken zurückgehen dürften (-> Menschenopfer) 5 . Interpretationen, die das Schulterstück als

705

Pelops

Schulterblatt sehen und die P.-Erzählung in Zusammenhang mit der Schulterblattwahrsagung (-> Divination) bringen, sind auch unter Einbezug rezenter griech. Erzählungen in Frage zu stellen 6 . Deutlicher ist die archaische Auffassung des Knochens als Lebenssitz in der germ. Mythologie: Thor läßt die Knochen der geschlachteten und verzehrten Schafböcke zusammenlegen und belebt sie mit seinem Hammer. Weil I>ialfi einen Schenkelknochen gespalten hat, lahmt der Hammel (-• Edda, Kap. 3.2)7. Ähnliche Geschichten finden sich in den Acta martyrum et sanctorum als Wunderhandlungen, bei denen die gesammelten Knochen der verzehrten Tiere in die Haut gelegt und durch ->• Gebet wiederbelebt werden 8 . Von hier aus dürfte das Motiv in die Sagen von der Haselhexe gelangt sein, wobei die verspeisten Tiere beliebig sind, der kleine Verlust als erzähldramaturgisches Wiedererkennen aber fast immer nachzuweisen ist 9 . Der Übergang zu den Menschen ist fließend; aufgrund des Kannibalismus werden sie freilich zu -» Hexen: Am Schiern erzählt man, daß ein Bauernknecht ein Hexenmahl beobachtet habe. Eine Magd war von den anderen Hexen gekocht und aufgegessen worden, bis auf eine Rippe, die man dem Knecht zuwarf. Dieser aß aber das Rippenstück nicht, sondern steckte es ein. Als bei der Wiederbelebung durch die Hexen die Rippe fehlte, wurde sie durch ein Stück Haselholz ersetzt. Zu Hause sagte der Knecht in Anwesenheit der Magd seinem Bauern, im Haus sei eine Haselhexe, worauf die Magd tot vom Stuhl fiel10.

Die Ersatzglieder sind Lindenhüften, Erlenund Holunderrippen oder Holzschienbeine. Als Verbreitungsraum hat L. Schmidt Südtirol, den Grenzraum Kärnten/Friaul/Krain sowie die nordöstl. Voralpenländer lokalisiert 11 . Häufig handelt es sich um eine Rippe und fast immer um eine weibliche Hauptperson, was Schmidt mit dem bibl. Schöpfungsmythos in Zusammenhang bringt (Gen. 2,21—22). Der Glaube an die Knochen als Sitz des Lebens ist mit jägerzeitlichen Vorstellungen verbunden; ähnliche Erzählungen finden sich bei -» Schamanen und Jägern in Nordsibirien 12 , wo analoge Bräuche und Vorstellungen (Sammeln der Tierknochen, Aufbewahrung an bestimmtem Ort) noch nachweisbar sind 13 . Im Märchen ist die Zerstückelung eines Menschen eine Tat der Lebenserhaltung 14 .

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Unter diesem Aspekt ist auch der Erzähltyp AaTh 720: -> Totenvogel zu sehen 15 , den W. Burkert allerdings aufgrund der Vogelverwandlung eher mit dem Prokne-Mythos (Proknes und Tereus' Sohn Itys wird getötet und dem Vater zum Mahl vorgesetzt; die ganze Familie wird von Zeus in Vögel verwandelt) und der Vergil-Lesetradition der Lateinschulen in Zusammenhang bringt 16 . Auch hier ist die Sammlung der Knochen und die Verwahrung in einem Tuch erhalten. Zerstückelung und Wiederzusammensetzung der Knochen sind auch Akte der Erneuerung, ζ. B. in einer russ. Var. zu AaTh 475: Höllenheizer11, in der ein im Teufelsdienst verwahrloster Soldat auf diese Weise zum schmucken Zarenbräutigam wird. Die Wiederbelebung durch Zusammensetzung der Knochen ist auch als Rettungsakt anzutreffen, wie in dem Erzähltyp AaTh 311: cf. Mädchenmörder, in dem die jüngste Schwester die beiden vom Hexenmeister zerstückelten älteren auf diese Weise zum Leben erweckt 18 . Ins Schwankhafte gewendet ist das Motiv, wenn in K H M 81, AaTh 785: -» Lammherz + 330 B: cf. Schmied und Teufel + 753 A: cf. Fatale und närrische -> Imitation ein Soldat die Totenerweckung nicht vollziehen kann, weil er nicht weiß, in welcher Anordnung die Gebeine zu legen sind. 1 Hunger, H.: Lex. der griech. und röm. Mythologie. Wien 8 1988, 397-399; Pauly/Wissowa, Suppl. 7 (1940) 849-856; Roscher, W. H. (ed.): Ausführliches Lex. der griech. und röm. Mythologie 3,2. Lpz. 1909, 1870; Parke, H. W.: The Bones of P. In: Hermathena (1931) 153-162. - 2 Kl. Pauly 4 (1975) 607 sq. 3 cf. Hunger (wie not. 1) 398; Lesky, Α.: Die griech. Pelopidendramen und Seneca's Thyestes. In: Wiener Studien 43 (1922-23) 172-198; Borger, O.: La Legende de Pelops et d'Oinomaos d'apres les sources litteraires et monumentales. Diss. Louvain 1934/35; Meautis, G.: Mythes inconnus de la Grece antique. P. 1949, 57-67; Devereux, G.: The Abduction of Hippodameia as the Aition of a Greek Animal Husbandry Rite. In: Studi e materiali di storia delle religioni 36 (1965) 3 - 2 5 ; zur Neuzeit Hunger (wie not. 1) 398; Zwanzig, Ε.: Vertonte Märchen, Mythen, Sagen und Legenden. Erlangen 1989, s. v. P. — 4 Hunger (wie not. 1) 298; Halliday, W. R.: The Greek Questions of Plutarch. Ox. 1928, 169 sq.; Nilsson, Μ. P.: Geschichte der griech. Religion 1. Mü. 3 1967, 373 sq.; eng verwandt, doch historisierend ist die Harpagos-Geschichte bei Herodot (1, 119), die die kunstvollste Fassung des kannibalischen Mahls bietet. — 5 Zum Zusammenhang von Schafopfer im P.kult, elfenbeinerner Schulterreliquie und

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Penis - Penis: Der gekaufte P.

kannibalischem Mythos cf. Schmidt, L.: P. und die Haselhexe. Sagengeschichte und Sagenkartographie [1952], In: id.: Die Volkserzählung. B. 1963, 145-155, hier 150; Burkert, W.: P. in Olympia. In: id.: Homo necans. Interpretationen altgriech. Opferriten und Mythen. B./N. Y. 21997, 108-119. - 6 cf. Boehm, F.: Spatulimantie. In: H D A 8 (1936-37) 125-140 (erst nachweisbar bei Psellos [11. Jh.] und in byzant. Hss. des 13. Jh.s); Megas, G. Α.: Biblion ömoplatoskopias ek ködikos tes Ethnikes Bibliothekes Athenön (Schulterblattorakel aus einem Kodex der Nationalbibl. Athen). In: Laographia9 (1926) 3 - 5 1 (schließt diese Orakelform für die Antike nicht aus und weist auf rezente Praktiken hin); cf. auch Burkert (wie not. 5) 108-119; Schmidt (wie not. 5) (zeichnet über das antike Griechenland laufende Traditionslinien); cf. Hahn, num. 32 (Witwe wird von einem gefundenen Schulterblatt schwanger und gebiert einen Heldensohn). - 7 BP 1, 422. - 8 F r e n ken, G.: Wunder und Taten der Heiligen. Mü. 1925, 221 sq. - 9 Zaunert, P : Rheinland Sagen 1. Jena 1924, 86 sq.; Reiser, K.: Sagen, Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus 1. Kempten (1894), num. 40; Vonbun, J.: Volkssagen aus Vorarlberg. Innsbruck 2 1850, num. 22 (1 Var.); Rochholz, E. L.: Schweizersagen aus dem Aargau 1. Aarau 1856, num. 224, 229; Sann, H. von der: Sagen aus der grünen Mark. Graz 3 1922, 138 sq.; Ceresole, Α.: Legendes des Alpes vaudoises. Lausanne 1885, 237 sq.; Beitl, R.: Im Sagenwald. Neue Sagen aus Vorarlberg. Feldkirch 1953, num. 525. - 1 0 Heyl, J. Α.: Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol. Brixen 1897, 435 sq.; cf. auch Schmidt (wie not. 5) 146 sq. 11 ibid., 146-149. - 12 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 71. - 13 ibid., 135 sq.; zur bes. Behandlung menschlicher Knochen cf. auch Ez. 37, 1 - 1 4 (Schau vom Wiederbeleben der Totengebeine); cf. auch Harva, U.: Die religiösen Vorstellungen der alta. Völker (FFC 125). Hels. 1938, 434-448. - 14 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 134 sq. - 15 Scherf, 1316-1321. - 16 Hunger (wie not. 1) 444 - 446; Cazzaniga, I.: La saga di Itis nella tradizione letteraria e mitografica greco-romana 1 - 2 . Mailand 1950/51; Burkert, W.: Vom Nachtigallenmythos zum Machandelboom. In: Siegmund, W. (ed.): Antiker Mythos in unseren Märchen. Kassel 1984, 113-125, 196 sq.; id.: Tereus und die Nachtigall. In: id. (wie not. 5) 201-207. - " R ö h r i c h , Märchen und Wirklichkeit, 68. - 18 Scherf, 317-321. Athen

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h u n g in d e n G e s c h l e c h t s a k t - unwilligen o d e r u n w i s s e n d e n F r a u e n bis ins E x t r e m e gesteigert wird. Ein Vater (Bauer) mit einer heiratsfähigen Tochter, die in Sachen Sexualität völlig unwissend ist oder Angst vor dem Beischlaf (-• Koitus) hat, findet für sie einen Mann (Knecht), der vorgibt, er habe kein Glied. Mit einem .Striegel' (,Kamm l , andere von ihr wörtlich genommene Umschreibung für seinen P.) bringt dieser der Tochter die Freude am Beischlaf bei, mit so großem Erfolg, daß sie ihm zu anspruchsvoll wird. Darum täuscht er ihr vor, er habe seinen Striegel nicht mehr (er hätte ihn nur geliehen und wieder zurückgeben müssen etc.). Sie gibt ihm Geld (er listet ihr eine Summe ab), um auf dem Markt einen neuen zu kaufen. Als er sie verläßt (der Knecht von ihrem Vater weggeschickt wird, weil er sie geschwängert hat), läuft sie ihm nach und ruft, er solle doch den Striegel dalassen. Er tut so, als schneide er ihn ab, wirft einen Stein ins Wasser und erklärt, das sei der Striegel gewesen. Sie bittet einen Passanten (Mönch, ihren Vater), ihn herauszuholen. Als dieser sich zu diesem Zweck auszieht, sieht sie ,ihren' Striegel zwischen seinen Beinen hängen und greift zu (reißt ihm den P. ab). D i e s e r S c h w a n k ist in E u r o p a , N o r d - u n d M i t t e l a m e r i k a u n d im N a h e n O s t e n o f f e n sichtlich weit v e r b r e i t e t , j e d o c h - zweifelso h n e wegen des I n h a l t s — n u r relativ selten und m a n c h m a l unzulänglich dokumentiert w o r d e n 1 . Z u m e r s t e n M a l f i n d e t er sich in ein e r w o h l s c h w ä b . , in h ö f i s c h e r S p h ä r e spielend e n V e r s e r z ä h l u n g des 14. Jh.s, w o j e d o c h d e r P . - K a u f n o c h fehlt: E i n e Prinzessin soll h e i r a ten, sie will n u r einen M a n n o h n e P., ein vera r m t e r R i t t e r g e w i n n t sie. In d e r H o c h z e i t s n a c h t f i n d e t sie G e f a l l e n a m ,Striegeln' etc 2 . Dieses M ä r e w u r d e im 16. J h . b e a r b e i t e t d u r c h Hans S a c h s (1552) 3 u n d Valentin ->• S c h u m a n n (1559) 4 , die d a s P . - K a u f - M o t i v e i n b r i n gen u n d d a s G e s c h e h e n in ein b ä u e r l i c h e s Milieu v e r l a g e r n . S a c h s h a t d a s M o t i v v o m k ö r p e r u n a b h ä n g i g e n P. ein zweites M a l in sein e m M e i s t e r g e s a n g Der Kaufmann mit dem dilla dolla (1558) v e r w e n d e t :

Walter Puchner

Penis ->• G e n i t a l i e n

Penis: Der gekaufte P. ( A a T h 1543*, 1543 A*), S c h w a n k , in d e m d e r u n e r s ä t t l i c h e Sex u a l t r i e b v o n a n f ä n g l i c h - v o r i h r e r Einwei-

Eine Frau bittet ihren Mann, der zu einer Messe reist, sein dilla dolla dazulassen. Er sperrt eine Maus in ein Kästchen. Die Frau öffnet es, und die Maus schlüpft ins falsche Loch. Der heimkehrende Gatte tröstet sie, er habe einen neuen mitgebracht. Sie hätte gern noch etwas Geld draufgelegt, damit er einen größeren besorgt hätte 5 . D i e j ü n g e r e m ü n d l . Ü b e r l i e f e r u n g ist teilweise v o n diesen literar. Var.n a b h ä n g i g , teil-

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Pension: Die doppelte P.

weise auch stark variiert, bis hin zu Fassungen mit versöhnlichem Ende 6 . AaTh 1543* ist oft mit anderen erotischen Motiven und Typen wie AaTh 1739: Priester soll Kalb gebären und AaTh 1281 A: Das menschenfressende -> Kalb7 (cf. auch -> Anatomie, fatale) verbunden. Laut AaTh zerfällt die Überlieferung in zwei wohl zu Unrecht als selbständige Typen aufgeführte Redaktionen: In der kürzeren (AaTh 1543*: The Man Without a Member) steht das Kauf-Motiv im Zentrum, als Handlungsträger agieren zumeist ein Mann und dessen dumme Ehefrau; in der längeren (AaTh 1543 A*: A Combing-machine) ist das Motiv vom ins Wasser geworfenen P. voll ausgebaut. In Var.n von AaTh 1543 A* fehlt manchmal das Kauf-Motiv, hinzugefügt wird gelegentlich ein ätiologischer Schluß, warum Priester Hosen tragen 8 . Zumeist ist der Trickster in diesen späteren Fassungen ein schlauer Knecht, der die Tochter seines Herrn verführt 9 . Die kürzere Redaktion wurde in England im 17. Jh. Thema eines oft nachgedruckten Schwankliedes 10 . ' Ergänzend zu AaTh 1543*: Hoffmann; Hodne; Kecskemeti/Paunonen; Rausmaa; Raudsep, num. 391; van der Kooi; Jason; El-Shamy, Folk Traditions, J 1919.8. - 2 Ziegeler, H.-J.: Der Striegel. In: Verflex. 9 ( 2 1995) 450 sq. - 3 Sachs, H.: Sämtliche Fabeln und Schwänke 5. ed. E. Goetze/C. Drescher. Halle 1904, num.800. - 4 Schumann, V.: Nachtbüchlein. ed. J. Bolte. Tübingen 1893, 5 5 - 5 7 , 369-371, 394; cf. auch Frey/Bolte, 281. - 5 Sachs (wie not. 3) hier t. 6 (1913) num. 1018; auch als erotisches Volkslied „Rutschi Butscherle", cf. Brednich, R. W.: Erotische Volkslieder aus 500 Jahren. Ffm. 1979, num. 27. - 6 Parsons, Ε. C.: Folk-Lore from the Cape Verde Islands 1. Cambr., Mass./N. Y. 1923, num. 54. - 7 Rausmaa; Raudsep, num. 391. - 8 Parsons, Ε. C.: Folk-Lore of the Antilles, French and English 3. Ν. Y. 1943, num. 356. - 'Ergänzend zu AaTh 1543 A*: Rausmaa; Raudsep, num.391; Hodne; van der Kooi; Afanasyev, A. N.: Russian Secret Tales. Bawdy Folktales of Old Russia. Ν. Y. 1966, 127-131 (mit AaTh 1542**); Randolph, V.: Pissing in the Snow and Other Ozark Folktales. Urbana/Chic./L. 1976, 15. - 10 Wehse, R.: Schwanklied und Flugblatt in Großbritannien. Ffm./Bern/Las Vegas 1979, num. 116.

Groningen

Jurjen van der Kooi

Pension: Die doppelte P. (AaTh 1556), schwankhafte Erzählung darüber, wie sich ein Trickster durch eine List Geld beschafft:

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Ein verarmter Mann (Dichter, Narr), der früher in Diensten des Herrschers stand, heckt zusammen mit seiner Frau, einer früheren Bediensteten der Herrscherin, einen Plan aus, wie sie wieder zu Geld kommen: Sie geben sich gegenseitig beim früheren Dienstgeber des jeweils anderen als tot aus und erhalten Geld für das Begräbnis. Als die Betrogenen später den wahren Sachverhalt herausfinden, sind sie über die angewandte List amüsiert (nehmen den Mann wieder in Dienst).

Die ältesten Fassungen von AaTh 1556 sind aus der arab. Lit. der 1. Hälfte des 10. Jh.s belegt. Sie entstammen dem narrativen Repertoire über den arab. Dichter Abü Duläma (gest. ca 160/776), als dessen Gegenspieler der abbasid. Kalif al-Mahdi und dessen Gemahlin al-Haizu rän auftreten 1 . Zumindest bis ins 19. Jh. wird die Geschichte in unterhaltenden und biogr. Werken über Abü Duläma tradiert. Daneben heftet sie sich in der populären Überlieferung des arab.-islam. Raumes an bekanntere Kristallisationsgestalten humoristischer Kurzprosa, so den Dichter -» Abü Nuwäs (tunes., irak., ostafrik.) 2 oder den Weisen Narren Buhlül (irak.) 3 und deren Gegenspieler -> Härün ar-RasTd und dessen Gattin Zubaida sowie an Guhä (libanes.), das arab. Gegenstück des -> Hodscha Nasreddin 4 . In einer arab. Geschichtensammlung des 14. Jh.s bildet der Schwank das Endstück einer Fassung von AaTh 1641: Doktor Allwissend5, später erscheint er anschließend an AaTh 1531: -• Bauer wird König für einen Tag in der Geschichte von Abü 1-Hasan, dem erwachten Schläfer, in den Erzählungen aus -> Tausendundeinenacht6. Nach R. Basset wurde diese spezielle Kombination wahrscheinlich erst im 19. Jh. vorgenommen 7 : Die älteste arab. Fassung von AaTh 1531 in einem hist. Werk aus der 1. Hälfte des 17. Jh.s läßt die Erzählung noch ohne Anschluß von AaTh 1556 enden. Ohnehin erscheint AaTh 1531 (mit Ausnahme einer auf 1046/1636 datierten türk. Übers, sowie einer möglicherweise in der 2. Hälfte des 17. Jh.s fertiggestellten arab. Fassung) weitgehend erst in denjenigen arab. Redaktionen von 1001 Nacht, die nach dem Erscheinen von A. -> Gallands frz. Adaptation kompiliert wurden 8 . Relativ eindeutig auf den Einfluß von 1001 Nacht zurückzuführende Nacherzählungen der Kombination AaTh 1531 + AaTh

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Pension: Die doppelte P.

1556 sind aus Ungarn 9 , Indien 10 und von den Philippinen" nachgewiesen. Außerhalb des islam.-oriental. Verbreitungsgebietes findet sich AaTh 1556 in der oriental, und europ.-jüd. 12 , der christl.-äthiop. (über Aläqa Gäbre-Hanna, eine Schelmenfigur des 19. Jh.s) 13 , der russ. (über den Narren Balakirev) 14 sowie der ir. und schott. 15 Überlieferung. Die Angaben des ir. Katalogs betreffen ζ. T. Nebenformen, in denen eine Frau das Ruhestandsgeld für ihren vor kurzem verstorbenen Mann bezieht und ihn erst danach beerdigen läßt 16 . Jüd. Erzählungen über Herscheie Ostropoler enthalten nur eine Hälfte des spiegelbildlich gestalteten Erzähltyps: Der Listige erhält für das Begräbnis seiner angeblich verstorbenen Frau Geld; als er später darauf angesprochen wird, daß seine Frau noch lebe, erwidert er: ,Laß nur, sie wird schon noch sterben!' 17 Diese Bemerkung wiederum findet sich ganz ähnlich schon in einem ma. arab. Witz, in dem der Dumme statt eines Arztes den Totenwäscher zum Kranken bringt; er beruhigt den Totenwäscher damit, daß der Kranke sicher bald sterben werde 18 . Inhaltlich ist AaTh 1556 relativ stabil. Variationen ergeben sich vor allem bei der Begründung der Notsituation (Verschwender verarmt; Narr fällt in Ungnade) sowie bei der abschließenden Enthüllung der List. Gelegentlich setzt der Herrscher, der zusammen mit seiner Frau bei den vorgeblichen Leichen erscheint, noch eine zusätzliche Belohnung dafür aus, wenn er erfahren könne, wer zuerst gestorben sei — woraufhin sich der Mann erhebt und das Geld für sich beansprucht 19 . In einer irak. Var. läßt der Herrscher die angeblichen Leichen mit eiskaltem Wasser übergießen und erweckt sie so wieder zum Leben 20 . Eine der äthiop. Var.n ist ganz an christl. Glaubensvorstellungen adaptiert: Als der zunächst verbannte, dann totgeglaubte Narr nochmals in Not gerät, geht er wieder zum Herrscher und rechtfertigt sein Erscheinen damit, daß die Wiederauferstehung der Toten schließlich möglich sei21. Dem ursprünglichen Protagonisten von AaTh 1556, Abu Duläma, wird auch sonst ein ausgesprochen cleveres Gewinnstreben zugeschrieben, so wenn er sich in einer seit dem 9. Jh. häufig überlieferten Anekdote eine Kette von Geschenken erschleicht 22 :

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Der Hofdichter erbittet vom Herrscher zunächst einen Jagdhund. Als er diesen erhält, erbittet er nacheinander: ein Pferd, um mit dem Hund auszureiten; einen Diener, um für das Pferd zu sorgen; eine Sklavin für den Diener; ein Haus, in dem beide wohnen können; schließlich noch Land zum Bestellen.

Derartige Anekdoten fügen sich in das bereits seit der Antike bekannte und auch in den islam. Lit.en verbreitete Genre der Bittsteller-Anekdoten ein 23 . Andere häufiger belegte Beispiele hierzu betreffen etwa die Geschichte vom Bittsteller, der behauptet (über Adam und Eva), mit dem Herrscher verwandt zu sein (Mot. J 1283, J 1337), oder die, in der der Bittsteller beim Vortragen seiner Bitte unabsichtlich einen Furz läßt (Rotunda J 1289.27). 1 Fähndrich, H.: Compromising the Caliph. In: J. of Arabic Literature 8 (1977) 3 6 - 4 7 , hier 38; Marzolph, Arabia ridens 1, 168-170; 2, num.427. 2 Stumme, Η.: Tunis. Märchen und Gedichte 2. Lpz. 1893, num. 9; Brandt, E.V.: 69 tunesiske eventyr. Kop. s.a., 126 sq.; Campbell, C. G.: Told in the Market Place. L. 1954, 6 6 - 69 (irak.); Reinisch, L.: Die Somali-Sprache 1. Wien 1900, num. 48; Ingrams, W. H.: Abu Nuwas in Life and Legend. PortLouis 1933, 60. - 3 Meißner, B.: Neuarab. Geschichten aus dem Iraq. Lpz. 1903, num. 45; Marzolph, U.: Der Weise Narr Buhlül. Wiesbaden 1983, num. 65. - 4 Nowak, num. 462. - 5 Das Buch der wundersamen Geschichten, ed. U. Marzolph. Mü. 1999, num. 9. - 6 Chauvin 5, 274 sq., num. 155, not. 1; Gerhardt, M.: The Art of Story-Telling. Leiden 1963, bes. 443-449. - 7 Basset, R.: Notes sur les Mille et uneNuits. 11: LeDormeureveille. In: RTP 16(1901) 7 4 - 8 8 . - 8 cf. Chraibi, Α.: Contes nouveaux des 1001 nuits. Etude du manuscrit Reinhardt. P. 1996, 253; zur Chronologie der Hss. von „1001 Nacht" cf. Marzolph, U.: Re-locating the Arabian Nights. In: Orientalia Lovanensia Analecta 87 (1998) 155-163, hier 159sq. - ' M N K . - 1 0 Dracott, Α. E.: Simla Village Tales. L. 1914, 166-173; Jason, Indic Oral Tales. 11 Fansler, D.S.: Filipino Popular Tales. Hatboro, Pa 1965, num. 16. - 12 IFA (16 Var.n); Jason (tunes., irak.; osteurop.); Jason, Iraq. - 1 3 J A F L 70 (1957) 71. — 14 Vasilenko, V. Α.: Skazki, poslovicy, zagadki. Omsk 1955, num. 29. - 15 Sound Archive, School of Scottish Studies, Edinburgh (3 Var.n). - 16 0 Süilleabhain/Christiansen; freundliche Mittlg P. Lysaght, Dublin. - l 7 01svanger, I.: Rosinkess mit Mandlen. Basel 1931, num. 27; cf. Schwarzbaum, 56, 405, 452.

- 18 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 164. - 1 9 Dracott (wie not. 10); cf. Stumme (wie not. 2). 20 Campbell (wie not. 2). -

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Pentamerone — Pentikäinen, Juha Yrjänä

21

J A F L 70 (1957) 71. - 2 2 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 86; Basset (wie not. 7) 87, not. 1. - 2 3 cf. Marzolph, Arabia ridens 2, 319.

Göttingen

Ulrich Marzolph

Pentamerone -» Basile, Giambattista

Pentikäinen, Juha Yrjänä, *Rantsila 26.2. 1940, finn. Religionswissenschaftler, Kulturanthropologe und Folklorist. Studium der Folkloristik, Ethnologie, Psychologie und Finno-Ugristik in Helsinki und Innsbruck, 1963 Magisterabschluß an der Univ. Helsinki, 1968 Promotion an der Univ. Turku mit der Diss. The Nordic Dead-Child Tradition ([FFC 202], Hels. 1968), 1972-95 und erneut seit 1998 Professor des neugegründeten Faches Religionswissenschaft an der Univ. Helsinki, 1995-98 Professor für Religionswissenschaft an der Univ. von Tromso. P. hat zahlreiche Ämter in internat. Ges.en sowie auf dem Gebiet der Wiss.spolitik wahrgenommen. Er ist Gründungsmitglied der Zs. Ethnologica Uralica und war 1967-79 Hauptherausgeber der religionswiss. Zs. Temenos. Als Forscher repräsentiert P. einen Zweig der finn. Kulturwissenschaft, zu dessen Begründern U. Harva, M. -» Haavio sowie L. -> Honko zählen. P. besitzt eine breite Praxiserfahrung. Neben seinen Feldforschungen 1960-70 im russ. Karelien, in Finnland, Estland, Lappland sowie bei den ingr. Einwanderern in Schweden befaßte er sich in den 1980er und 1990er Jahren mit den kleineren Völkern Sibiriens und der arktischen Gebiete, mit Auslandsfinnen (in den USA, Australien, Värmland) und finno-ugr. Völkern in Ungarn und Westsibirien (Komi). P. veröffentlichte ca 20 selbständige Arbeiten und zahlreiche Aufsätze, Rez.en und Uberblicksartikel. Seine Studien wurden u. a. mit dem Chicago Folklore Prize (1978) und dem Pitre-Preis (1995) ausgezeichnet. In seiner Diss, zu nord. Volksglaubensvorstellungen über Kindgeister wandte P. hist, und geogr. sowie genre-, frequenz- und funktionsanalytische Methoden an, die er mit unterschiedlichen theoretischen Anschauungen zu einer ganzheitlichen Betrachtungsweise der

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Glaubensüberlieferung verband. Eine ähnliche Kombination theoretischer und empirischer Arbeitsweisen prägt auch P.s Studie Marina Takalonuskonto ([Die Religion der Marina Takalo], Hels. 1971; engl. Übers. Oral Repertoire and World View [FFC 219]. Hels. 1978), eine auf langjähriger Feldforschung beruhende Arbeit, für die P. mehrfach die aus dem russ. Karelien vertriebene Marina Takalo interviewt hatte. P.s Studie zeichnet ihre Lebensgeschichte, ihr Weltbild und die von ihr bewahrten Überlieferungen in einer exemplarischen Gesamtdarstellung nach. In Kalevalan mytologia (Hels. 1987; engl. Übers. Kalevala Mythology (Bloom./Indianapolis 1989, erw. Aufl. 1999) beschreibt P. Ursprung, Aufbau und Vortrag des finn. Nationalepos Kalevala. In seinen Interpretationen betont er den schamanistischen Charakter der Mythologie des Kalevala (-» Schamanismus) und befaßt sich mit dessen Weltbild und Jenseitsbegriff. Die Mythologie der Saamen (B. 1997) ist eine allg.verständliche Gesamtdarstellung des sam. Volksglaubens, die gleichfalls zur heutigen Lage der sam. Kultur, den Lebensbedingungen und den Identitätsproblemen der Samen (-• Lappen) Stellung bezieht. P. beschäftigte sich auch in anderen Zusammenhängen mit nationalen Minoritäten, so ζ. B. als Herausgeber von Cultural Minorities in Finland (Hels. 1985, mit V. Anttonen [ 2 1995, mit M. Hiltunen]). Weitere Forschungsgebiete P.s sind die sog. Altgläubigen der russ.-orthodoxen Kirche sowie der Schamanismus der sibir. Völker und der Samen. Die wiss. Eigenständigkeit von P.s Arbeiten über den Schamanismus zeigt sich am deutlichsten in seinem Art. The Shamanic Drum as a Cognitive Map (1987), in dem er die Geschichte einer Schamanentrommel darstellt und den kosmologischen Aufbau der auf der Trommel abgebildeten Figuren sowie das zyklische Weltbild der Samen untersucht. W e i t e r e V e r ö f f . e n (Ausw.): Grenzprobleme zwischen Memorat und Sage. In: Temenos 3 (1968) 1 3 6 - 1 6 7 . - The Division of the Lapps into Cultural Areas. In: Berg, G. (ed.): Circumpolar Problems. Ox. 1972, 1 3 5 - 1 5 1 . - The Pre-Literature Stage of Religious Tradition. In: Les Religions de la prehistoire. Actes du Valcamonica Symposium '72. Capo di Ponte 1975, 5 5 1 - 5 6 5 . - Life History. A Neglected Folklore Genre. In: Folklore in Two Continents.

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Penzer, Norman Mosley

Festschr. L. Degh. Bloom. 1980, 150-159. - The Saami Shaman. Mediator Between Man and Universe. In: Hoppäl, M. (ed.): Shamanism in Eurasia. Göttingen 1984, 125-148. - The Shamanic Drum as Cognitive Map. In: P., J./Gothoni, R. (edd.): Mythology in Cosmic Order. Hels. 1987, 17-36. Lemminkäinen — a Shaman or God? In: Hoppäl, M./P., J. (edd.): Uralic Mythology and Folklore. Bud. 1989, 287-307. - The Revival of Shamanism in the North. In: Irimoto, T./Yamada, T. (edd.): Circumpolar Religion and Ecology. Tokio 1994, 375—403. - Shamanism and Northern Ecology, ed. J. P. B. 1996. — Saamelaiset — pohjoisen kansan mytologia (Die Saamen. Die Religion eines nördl. Volkes). Hels. 1995. - Die lapp. (saam.) Mythologie. In: Schmalzriedt, E./Haussig, H. W. (edd.): Wb. der Mythologie 7. Stg. 1998, 703-827. - Shamanism and Culture. Hels. 1998. B i b l i o g r . : Ethnography is a Heavy Rite. Festschr. J. P. Abo 2000, 352-385.

Helsinki

Anna-Leena Siikala

Penzer, Norman Mosley, *Mawdesley (Lancashire) 30.9.1892, f27.ll.I960 1 , brit. Polyhistor, vielseitig interessierter Kulturwissenschaftler, Folklorist, Ethnologe 2 , Anthropologe 3 , (Wirtschafts-)Geograph und Geologe 4 . P. studierte in Cambridge. Er war Mitglied in zahlreichen wiss. Ges.en. Der Vielschreiber P. hat im wesentlichen Beiträge zu zwei Bereichen der Erzählforschung geleistet: (1) Er gab nach der Übers. C. H. Tawneys eine fast schon monumental zu nennende, bibliophile Edition von -»• Somadevas Kathäsaritsägara (Ozean der Erzählungsströme) 5 heraus (2. Hälfte 11. Jh.). Sie enthält umfangreiche Annotationen, zahlreiche bibliogr. Hinweise und Appendices, die teilweise eigene Abhandlungen darstellen. Gelobt wurde P.s Edition der Kathäsaritsägara u. a. als „indispensable reference-book for all future investigations in fiction-themes and fiction-motifs" 6 . Teilweise stark überarbeitete Versionen von vier Beiträgen zu den Appendices der Somadeva-Edition - über AaTh 507 C: -> Giftmädchen, Betelkauen, AaTh 950: -» Rhampsinit und ,heilige Prostitution' — erschienen in P.s Sammelband Poison-Damsels and Other Essays in Folklore and Anthropology (L. 1952). (2) P. legte eine kommentierte Übers, von Basiles Pentamerone7 vor, nicht nach dem neapolitan. Original, sondern nach

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der ital. Fassung B. ->• Croces. Am Pentamerone schätzte P. die oriental. Einflüsse, vor allem von Tausendundeinenacht, das Unerhörte, Außergewöhnliche, Farbige und Exotische. P. war bestrebt, das Pentamerone wörtlich in modernes Englisch zu übersetzen 8 und Derbheiten und Obszönitäten des Originals beizubehalten 9 . Überdies hat P. die Geschichte des Liebespaares Nala und DamayantI aus dem -> Mahäbhärata neu erzählt 10 . Als akribischer Bibliograph mit einem Faible für umfänglich annotierende, auch textkritische Fragestellungen einbeziehende Bibliogr.n hat P. sich u. a. dem Werk R. F. Burtons 11 gewidmet, mit dem er vielfältige Gemeinsamkeiten hatte: enzyklopädistische Tendenz, Leidenschaft für den Orient, Vorliebe für (Entdeckungs-)Reisen, Interesse an Geographie, Folklore, Sitten und Bräuchen sowie Kuriosem, anthropol.-ethnol. Erkenntnisinteressen 12 . P , der sich selbst gerne auch als Erzählforscher oder ,storiologist' 13 verstand, neigte zu einer pragmatischen Sicht des Erzählens und unterstrich gern dessen strategische, dramaturgische Aspekte und Effekte 14 . Er zeigte eine Vorliebe für Märchen, Novelle und Erzählung, bes. wenn sie in großen traditionellen, motivreichen Slgen und Repertoires erzählender Lit. wie Tausendundeinenacht begegnen. Zudem schätzte er die Erzähl- und Reiseliteratur als wichtige ethnogr. Quelle. So sehr P. einerseits angetan war vom Novellistisch-Unerhörten, vom Unerwarteten und Unerklärten, so war er andererseits nüchterner, durch ,common sense' und das Erbe der Aufklärung geprägter, zugleich illusionsloser, der spekulativen Deutung von Märchen und Mythen abgeneigter Historiker. P. erklärte Variationen von Motiven wie Bräuchen durch unterschiedliche hist. Bedingungen, kulturelle Umgebungen, Kontexte und Klimate 15 ; bes. das bloß Zufallige oder Dekorative statt des Konstruktiven war ihm hier von Bedeutung 16 . P. suchte Märchenund Mythenmotive auf wahre Begebenheiten zurückzuführen, wobei er jedoch nicht den Gegensatz zwischen ,fact' und ,fiction' verwischte 17 . Ob es um das Weiterleben von Erzählmotiven geht, um die Ausbreitung von Krankheiten, um Entdeckungsreisen 18 — letztere übten auf P. einen dem Märchen nicht unähnlichen Zauber aus, auch deren Wege sind

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Penzer, Norman Mosley

Transportwege für Erzählmotive, auch Entdeckungsreisen wollen .erzählt' 19 sein: stets zeigte sich der Historiker P. fasziniert v o n Wanderungen. Zugleich war er ein naturkundlich, bes. botanisch und geologisch, aber auch medizin- und pharmaziegeschichtlich interessierter Kulturhistoriker. Als Erzählforscher war er zudem komparatistisch orientiert und engagierte sich für die Auffindung motivgeschichtlicher Parallelen, analoger 2 0 , auch transkulturell anzutreffender Erzählmotive, Themen, Stoffe und Symbole sowie für deren hist.-vergleichende Erarbeitung und Profilierung 2 1 ; P.s ,motifs' sind allerdings von recht unterschiedlichem Abstraktionsniveau oder Differenzierungsgrad. Obwohl kein dezidierter Anhänger der ind. Theorie, sah P , der einem verbreiteten Topos gemäß - den Orient als bes. erzählfreudig empfand, Indien doch als eine Heimat des Erzählens, der das Abendland verpflichtet ist. P. zeigte ein bes. Interesse für die klassifikatorisch-typol. Aspekte der Erzählforschung 2 2 . Wollte man ihn einer bestimmten Methode zuordnen, so zeigt sich am ehesten eine Affinität zur geogr.-hist. Methode. P. — dessen Themen ein weites Spektrum abdecken, von magischen Kreisen bis zu Automaten, v o n tantrischen Riten bis zu ind. Eunuchen oder Pferdeopfern - hat sich gern mit (scheinbar) ephemeren oder peripheren, teilweise auch wenig auratischen Themen wie Weinetiketten 2 3 , Regenschirmen 2 4 und Nieswünschen 2 5 befaßt. Die Gründe, warum er heute nahezu völlig in Vergessenheit 26 geraten ist, sind vielfältig. P. ist weniger Autor originärer oder gar origineller Texte denn enzyklopädisch ausgreifender Kommentator und extensiver Annotator, dessen Texte durchaus nicht unumstritten erscheinen 2 7 . Z u m einen ist P., dem Quantität gelegentlich wichtiger scheint als Qualität, eher Eklektizist. Z u m anderen ist er zu sehr multiund transdisziplinär, teilweise auch genuin interdisziplinär ausgerichtet — aus der spezialisierten Sicht einer Einzeldisziplin auch angreifbar —, als daß sich einzelne Disziplinen - etwa Indologie oder Italianistik - zu einer eigenen Erinnerungsleistung aufgerufen sähen. 1

Zu biobibliogr. Daten cf. Who Was Who 1951-1960. L. 1961, 836 sq.; Who Was Who among English and European Authors 1931 —1949. t. 3. De-

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troit, Mich. 1978, 1113; Nachruf in The Geographical J. 127 (1961) 142. - 2 P., Ν. M.: The Harem. An Account of the Institution as It Existed in the Palace of the Turkish Sultans with a History of the Grand Seraglio from Its Foundation to the Present Time. L. 1936 (Nachdr. L. 1965); Rez.en: A . J . Arberry in J. of the Royal Asiatic Soc. (1937) 343-345; F. Taeschner in Orientalistische Lit.ztg 42 (1939) 542-544. - 3 Biographical Directory of Anthropologists Born before 1920. ed. T. L. Mann. N. Y./L. 1988, 156. - 4 The British Library General Catalogue of Printed Books to 1975, t. 251. L. u. a. 1984, 214 sq.; N U C Pre-1956 Imprints 449, 428 sq. - 5 P., Ν. M. (ed.): The Ocean of Story. Being C. H. Tawney's Translation of Somadeva's Kathäsaritsägara (or Ocean of Streams of Story) 1 - 1 0 . 2. rev. erw. Ausg. Delhi 1923 (L. 1924-28) (Nachdr. Delhi u. a. 1968 u. ö.); Rez.en: J. Charpentier in J. of the Royal Asiatic Soc. (1928) 679-681; F. Edgerton in American J. of Philology 46 (1925) 375 - 378; R. E. Enthoven in J. of the Royal Asiatic Soc. (1927) 606- 608; M. Gaster ibid. (1927) 360-363 und ibid. (1928) 946 sq.; W. R. Halliday in Folk-Lore 35 (1924) 399-406, 37 (1926) 105-108, 197-200; T. Zachariae in ZfVk. 39 (1930) 299-306. - 6 Edgerton (wie not. 5) 376. ' T h e Pentamerone of Giambattista Basile 1—2. ed. Ν. M. P. L./N. Y. 1932 (Nachdr. Westport, Conn. 1979); Rez. L. Di Francia in Giornale storico della letteratura italiana 101 (1933) 336 sq. - 8 Basile (wie not. 7) t. 1, VII sq. - 9 cf. ζ. B. ibid. t. 1, 4, 22, 38, 98, 258. - 10 P., N . M . : Nala and Damayanti. L. 1926; Rez.en: S. Μ. E. in J. of the Royal Asiatic Soc. (1927) 363 sq.; (anonym) in The New Statesman 29, num. 745 (6.8.1927) 543; R. L. T. in Bulletin of the School of Oriental Studies 5 (1928-30) 151. " P . , Ν. M.: An Annotated Bibliogr. of Sir Richard Francis Burton. L. 1923 (Nachdr. Ν. Y. 1970). 12 id. (ed.): Selected Papers on Anthropology, Travel and Exploration. By Sir Richard Burton. L. 1924 (Nachdr. Ν. Y. 1972). - 13 Zu storiology und storyologist cf. P. (wie not. 5) t. 9, 171; id. (wie not. 7) t. 1, IX; Bibliogr. (wie not. 11) 80, 319. - 14 id. (wie not. 5) t. 2, 107; id.: Poison-Damsels and Other Essays in Folklore and Anthropology. L. 1952, 68, 98; id. (wie not. 7) t. 1, 140; t. 2, 26, 52, 276 sq. - 15 id. (wie not. 5) t. 1, 279; t. 2, 290; t. 9, 119; id. 1952 (wie not. 14) 21, 172, 180, 182, 184. - , 6 id. (wie not. 5) t. 1, 29; id. (wie not. 14) 85, 110. - " i d . (wie not. 5) t. 2, 313; id. 1952 (wie not. 14) 13, 16, 71,91. - 18 id. (ed.): The Most Noble and Famous Travels of Marco Polo, together with the Travels of Nicolo de'Conti. ed. from the Elizabethan Translation of J. Frampton. L. 21937. - , 9 ibid„ XXI. - 2 0 cf. id. (wie not. 7) t. 2, 279-285. 21 cf. ζ. B. id.: Note on the ,Letter of Death' Motif. In: id. (wie not. 5) t. 3, 277-280; cf. auch t. 1, 165-168. - 22 id. (wie not. 7) t. 1, IX; cf. die von S. Thompson hinzugefügten Motiv- und Typenregister ibid. t. 2, 305-319 (Motifs in the Pentamerone), 320 sq. (Tale-Types in the Pentamerone) nach Thompson, S.: Motif-Index of Folk-Literature 1

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Perceforest

(FFC 106). Hels. 1932 und der noch nicht publ. Teile sowie nach Aarne, A./Thompson, S.: The Types of the Folk-Tale (FFC 74). Hels. 1928. - 2 3 P., Ν. M.: The Book of the Wine-Label. L. 1947 (L. u. a. 1974). - 2 4 id. (wie not. 5) t. 2, 263-272. - 25 ibid., t. 3, 303 - 3 1 5. - 2 6 P. wird ζ. Β. in Dorson, R. M.: The British Folklorists. L. 1968 nicht behandelt. - 27 Zur Kritik cf. ζ. Β. Wesselski, Α.: Narkissos oder das Spiegelbild. In: Archiv orientälni 7 (1935) 3 7 - 6 3 , 328-350, hier 328, not. 3.

Berlin

Werner Bies

Perceforest, anonymer frz. Prosaroman, vermutlich zwischen 1330 und 1340 entstanden 1 . Einen Eindruck vom Stil des Werks vermittelt schon der Titel La treselegante, delicieuse, melliflue et tresplaisante Hystoire du tresnoble, victorieux et excellentissime roy P. [ . . . ] . Im 15. Jh. wurde der Roman bes. am Hof der Herzöge von Burgund geschätzt, wovon die prachtvolle Kalligraphie der einzigen vollständig erhaltenen Hs. zeugt 2 . Die Aufnahme der Erstausgabe Paris 1528, bereits 1531-32 neu aufgelegt, war ähnlich positiv wie die anderer Frühdrucke von Ritterromanen, ζ. B. des -» Amadis oder der Haimonskinder. Das Werk wurde 1558 ins Italienische und in Teilen auch ins Spanische übertragen (nur hs. Übers, des 1. und 2. Buchs, datiert auf 1573 bzw. 1576)3. Eine Einzelepisode, die Geschichte von Troylus und Zellandine, liegt im 20. Jh. sowohl im altfrz. Orig. als auch in modernen frz., engl, und ital. Übertragungen vor 4 . Der Roman de P., der sich als hist. Bericht über die Eroberung und Christianisierung Englands durch den fiktiven König P. ausgibt, ist der längste ma. Prosaroman. Der einzige vollständig publizierte Text, die Erstausgabe von 1528, umfaßt sechs Bände, die in zwölf Bücher unterteilt sind. Das Werk, dessen Hauptanliegen die Verherrlichung der engl. Monarchie ist, will diese bis auf die Könige von Troja (cf. -» Troja-Romari) und die Helden um Alexander d. Gr. zurückführen (cf. ->· Aretalogie). Die ersten Kapitel bieten eine hist.-geogr. Beschreibung Großbritanniens seit der Römerzeit. Mit dem 3. Buch beginnen die höfisch-galanten Abenteuer des Königs P. und seiner Gefährten mit Turnieren, Verwicklungen, bei denen Zaubermotive eine Rolle spie-

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len, und erotischen Momenten; gelegentlich finden sich parodistische Züge. Der Roman ist in vieler Hinsicht eine von der Nachwelt zu Unrecht vernachlässigte umfassende Darstellung des ritterlichen Lebens. Seit 1945 haben sich J. Lods 5 , J. Η. M. Taylor 6 , L.-F. Flütre 7 , G. Roussineau 8 sowie J. Barchilon und E. Zago 9 in hist.-kritischen Arbeiten mit dem Roman de P. befaßt; Roussineaus Ausg.n einzelner Teile der Hs. bieten sorgfältige hist.-philol. Kommentare. B. Mazenauer und S. Perrig haben eine provozierende Interpretation aus hist.-soziol. Sicht vorgelegt 10 . Für die Erzählforschung ist der Roman de P. wegen der Fülle der in ihm enthaltenen Märchentypen und -motive von Bedeutung. R. G. Lewis hat das Werk in seiner unveröff. Diss, eingehend untersucht und bietet im 4. Kap. ein detailliertes Motivverzeichnis 11 . Am stärksten beschäftigte die Erzählforschung das Abenteuer von Troylus und Zellandine (Buch 3, Kap. 46, 48 und 55), das häufig als frühester Beleg für AaTh 410: Schlafende Schönheit bezeichnet wird 12 . Wie Lods zeigte, finden sich im Roman de P. in vollständiger Form die fünf Bestandteile dieser klassischen Erzählung: (1) die Ursache der Verzauberung, (2) der Vorfall, der den Zauberschlaf verursacht, (3) die Ankunft des Prinzen, (4) das Erwachen der Prinzessin, (5) die späteren Schicksale des Prinzen, der Prinzessin und ihrer Kinder. Die Version des Roman de P. weicht jedoch in vielem von den Fassungen -> Perraults und der Brüder -> Grimm ( K H M 50) ab: Hier wird die Geschichte nicht in einem Stück erzählt, sondern in verschiedenen Abschnitten, immer wieder unterbrochen von Kapiteln über die ritterlichen Abenteuer des Prinzen Troylus, der seine verschwundene Braut Zellandine sucht. Als er sie (nach einem Jahr) in einem magischen Zustand völliger Lethargie findet, versucht er, sie durch Beischlaf (->• Koitus) wiederzubeleben. Sie erwacht aber erst, als sie das Kind aus dieser Verbindung gebiert. Mazenauer und Perrig haben gezeigt, daß die moderne Gestalt des DornröschenMärchens aus einer organischen Verschmelzung verschiedener Elemente in einer Aufeinanderfolge von Versionen, die dem Roman de P. nacherzählt sind, wie dem katalan. Frayre de Joy e Sor de Plaser und -> Basiles Sole,

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Luna e Talia (5,5) herrührt 1 3 . Diese enthalten auch das Motiv der sexuellen Vereinigung während des Zauberschlafs, welches dann in den Versionen Perraults und der Brüder Grimm ausgeschieden wurde. Außerdem ist die angebliche Vergewaltigung Zellandines keine solche, denn selbst im Schlaf genoß sie nach dem Zeugnis des Textes den sexuellen Akt; zudem konnte nach ma. Vorstellung keine Frau schwanger werden (-> Schwangerschaft), wenn sie nicht, wie im Roman de P., einen Orgasmus gehabt hatte. I Hupka, W.: Le Roman de P. In: KNLL 19 (1992) 410 sq. - 2 Paris, Bibliotheque de l'Arsenal, Ms. 3483-3494. - 3 Zu den Übers.en cf. Barchilon, J./ Zago, E.: Renaissance du Roman de P. In: Les Lettres romanes 46 (1992) 275-292. - 4 cf. Zago, E.: La Bella Addormentata. Genesi e metamorfosi di una fiaba. Bari 1984; Barchilon, J./Zago, E.: La Belle au bois dormant ä travers l'aventure de Troylus et Zellandine dans le Roman de P. In: Merveilles & Contes 2,1 (1988) 3 7 - 4 3 ; 2,2 (1988) 111-119; 3,2 (1989) 240-246; McNeil Cox, S.: The Complete Tale of Troylus and Zellandine. ibid. 4,2 (1990) 118-139. - 5 Lods, J.: Le Roman de P. Origine, composition, caracteres, valeur et influence. Genf 1951. - 'Taylor, J. Η. M. (ed.): Le Roman de P. Edition critique 1. Genf 1979. - 7 Flütre, L. F.: Etudes sur le roman de P. In: Romania 70 (1948) 474-522; 81 (1950) 374-492; 84 (1953) 44-102; 88 (1966) 475-508; 89 (1968) 354-386; 90 (1969) 341-370; 91 (1970) 189-226. - 8 Roussineau, G. (ed.): P. Edition critique 1. Genf 1979; t. 3,1 (1988); t. 3,2 (1991); t. 3,3 (1993); t. 4,1 (1987); t. 4,2 (1987). - 9 Barchilon/Zago (wie not. 3). - 10 Mazenauer, B./Perrig, S.: Wie Dornröschen seine Unschuld gewann. Lpz. 1995 (Mü. 21998); cf. Rez. R. Freudenburg in Marvels & Tales 11 (1997) 209 sq. II Lewis, R. G.: Preliminary Studies in the P. Diss. Chapel Hill, N. C. 1949. - 12 cf. schon BP 1, 434-442. - 13 cf. Mazenauer/Perrig (wie not. 10).

Boulder, Colo.

Jacques Barchilon

Percht 1. Allgemeines - 2. Ma. und frühneuzeitliche Zeugnisse - 3. Profile der Sagengestalt - 4. P.enbräuche - 5. Erklärungsansätze

1. A l l g e m e i n e s . P. (auch Frau P , Per[c]hta, Ber[c]ht[a], Perschtl) ist eine im Oberdeutschen, vor allem in Bayern, Österreich und Südtirol, im slov. Kärnten, aber auch im Vogtland verbreitete Sagen- und

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Brauchgestalt mit ambivalenten Zügen und vielschichtigen Funktionen. Bes. M. -> Rumpf hat die Gestalt in zahlreichen Arbeiten erforscht 1 . J. -> Grimm setzte sie mit der mitteldt. -> Frau Holle gleich und verstand sie als deren dunkle, dämonische Seite2. Als männliches Pendant kommt der in der Schweiz bekannte Berchtold 3 in Betracht, als verwandte weibliche Figuren sind aus dem dt.sprachigen Raum u. a. Stempa, Stampa, Gstampa, Posterli, Sträg(g)ele, Frau Faste, das Fronfastenwibele, die Quatemberca zu nennen 4 ; diesen ist auch die ital. Befana zuzuordnen. Das Auftreten der gelegentlich als schöne Frau im weißen Gewand, zumeist aber als häßliche, zerlumpte und furchterregende Alte mit eiserner Nase geschilderten P , welche den -» Hexen ähnlich ist, fällt in erster Linie in die sogenannten Zwölften, den Zeitraum zwischen Weihnachten und der Dreikönigsnacht bzw. Epiphanie. 2. M a . u n d f r ü h n e u z e i t l i c h e Z e u g n i s s e . Bei den ma. Belegen für das Wort P. ist zwischen Datumsangaben (P.tag, P.nacht) und Erwähnungen einer Domina Perchta oder Frau P. zu differenzieren. Das früheste Zeugnis findet sich in Glossen aus Monsee (11./ 12. Jh.): Der Begriff giperehtennaht entspricht hier dem griech. bzw. lat. theophania apparitio und meint den Tag Epiphanie bzw. den Abend oder die Nacht davor 5 . Die Gleichsetzung von P.tag/-nacht mit Epiphanie begegnet sodann in einer Reihe weiterer Qu.n, u. a. in der Biblia Alderspacensis, dem Oberaltaicher Evangelienbuch und der Reimchronik des Ottokar von Steiermark oder Horneck 6 . Eine Domina Perchta erscheint im 13. Jh. im Kontext eines Traktats über die sieben Hauptlaster aus Oberaltaich. P. wird hier als Teufels- und Lastergestalt geschildert, die für die Luxuria und die ihr untergeordneten Laster steht und insofern mit allegorischen Figuren wie Frau Welt (cf. Fortuna) vergleichbar ist 7 . In dem auf 1393 datierten Tiroler Gedicht Von Berhten mit der langen Nase tritt Frau P. als Warn- und Schreckfigur auf, welche jene bestraft, die sich nicht an das -» Fasten gehalten haben 8 . Martin von Amberg erwähnt die .berichte mit der eyserein nasen' in seinem Gewissensspiegel (Ende 14. Jh) im Zusammenhang mit nachtfahrenden dämonischen Gestalten unterschiedlicher Provenienz, und

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Hans von Vintler übernimmt diese Vorstellung von der P. ,mit der eisnen nas' in Pluemen der tugent (1411; Fiore di virtü)9. In spätma. und frühneuzeitlichen Poenitentialen und Katechismen wird der Glaube an Frau P. immer wieder unter den abergläubischen Versündigungen und zwar bes. jenen wider das 1. Gebot aufgeführt 1 0 . Im Thesaurus pauperum des Petrus Hispanus (ca 1219—77) ist von der abergläubischen Praxis die Rede, nachts Speisen für die Dämoninnen Habundia und Satia bereitzustellen, die im Volk unter dem Namen Frau P. oder P. bekannt seien; die Einkehr dieser Dämonen bedeute Fülle und Glück für das H a u s " . Diese Nachrichten basieren auf den dämonologischen Schriften des Wilhelm von Paris (Guilelmus Alvernus [Parisiensis]; gest. 1249) und lassen sich bis auf die Beschreibung von Kaiendenbräuchen bei Caesarius von Arles (gest. 542) zurückverfolgen 12 . In der frühen Neuzeit wurde die Überlieferung zu Frau P. über Einblattdrucke und Bilderbogen verbreitet 13 , was dazu beigetragen haben mag, daß Verbindungen zwischen der noch heute volksläufigen Sagen- und Brauchtumsgestalt und der Darstellung der Figur nach den ma. Belegen festzustellen sind. 3. P r o f i l e d e r S a g e n g e s t a l t . In den P.enschilderungen der Sagensammlungen des 19./20. Jh.s lassen sich heuristisch mehrere Funktionsbereiche und Motivgruppen differenzieren. Da P. in den Zwölften und vor allem in der Dreikönigsnacht an der Spitze der Wilden Jagd erscheint, sind ihr typische Motive aus jenem Sagenkreis zugeordnet 14 : So ist sie dafür bekannt, Menschen oder Tiere in ferne Länder zu entführen (-> Entführung, -> Entrückung), Neugierige, die sie beobachten wollen, zu blenden (-> Blendung) oder mit einem Beil zu verletzen. Schutz gegen Schädigungen durch die P , die oftmals bei ihrem Umzug im darauffolgenden Jahr rückgängig gemacht werden, versprechen apotropäische Mittel (ζ. B. Weihwasser, Taufwasser, Kreuzzeichen). Dabei kann sich die P. auch wohlwollend zeigen: Wer ihr hilft, ihren Wagen auszubessern, erhält mitunter Späne, die zu Gold werden (Mot. Ε 501.15.4, F451.1.4). Als Seelenführerin ist P. vor allem in Begleitung einer Schar ungetaufter Kinder gedacht.

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Mit jenen, die durch das Schürzen oder Gürten des zu großen Kinderhemdchens und durch den Zuruf eines Namens erlöst werden können, dringt sie in die Häuser ein, um die für sie bereitgestellten Speisen zu verzehren 15 . Frau P. überwacht die Fastengebote und die Spinnarbeit (-» Spinnen, Spinnrad). Häufig wird in Sagen, denen enge Beziehungen zu Brauchschilderungen zu unterstellen sind 16 , eine Frau P. erwähnt, die in den Rauhnächten erscheine, um die Einhaltung der christl. Fastengebote oder die Durchführung und Beendigung der Haus- und Spinnarbeit zu kontrollieren 17 . Wurde das Fastengebot übertreten (-• Frevel, Frevler) oder haben die Mädchen und Frauen nicht sauber abgesponnen und geputzt, droht ihnen eine drastische Strafe: Frau P. schneidet ihnen den Bauch auf und füllt ihn mit Haarwickeln, Stroh oder Backsteinen (-• Gastrotomie). 4. P . e n b r ä u c h e . Die frühesten Belege für P.enläufe 18 im Berchtesgadener Land, in Tirol und in Salzburg stellen Archivalien aus dem 16. —18. Jh. dar. Die Dokumente zeigen, daß es sich bei den Penbräuchen, die von der Kirche und der weltlichen Obrigkeit bekämpft wurden, um Maskenzüge und ausgelassene Tänze handelte, welche den Charakter von Heischegängen annehmen konnten. Erst ab dem späten 18. Jh. wurden P.enbräuche von Literaten und Gelehrten als Formen der sog. Volkskultur entdeckt. Im Zuge der wiss. Beschäftigung mit den Bräuchen seit dem 19. Jh. wurden diese meist als Relikte germ.-dt. Mythologie verstanden (-• Survivaltheorie), Deutungen, die sich zunehmend auch im Selbstverständnis der (ausschließlich männlichen) Brauchträger spiegelten. Dementsprechend werden die noch heute zumeist um den 6. Januar etwa in der Gastein, in St. Johann, Altenmarkt, Bischofshofen oder Kirchseeon ζ. T. mit aufwendigen Masken durchgeführten P.enläufe (-tänze, -umzüge) von Veranstaltern, Trägern und den regionalen Medien nicht selten als uralte, bis in heidnische Vorzeit zurückreichende Winterbräuche dargestellt 19 . Die Annahme solcher -> Kontinuitäten, die dem Bedürfnis nach Tradition entspringt und in Richtung Folklorismus weist, ist nicht durch die Qu.nlage gedeckt.

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Percht

Verbindungslinien zu den ma. Nachrichten von Frau P. zeichnen sich in der noch nach dem 2. Weltkrieg vor allem in alpenländ. Gegenden anzutreffenden Brauchform des Aufstellens der sog. P.milch ab 2 0 . D a ß diese Speiseopfer im Zusammenhang mit Augurien am Beginn des Jahres stehen, zeigt sich deutlich in dem Glauben, es bedeute Glück, wenn die P. etwas v o n den vorbereiteten Gaben verzehrt. Beim sogenannten Löffelorakel schließt man aus dem Umfallen des in die Milchschüssel gesteckten Löffels auf Unglück und Tod des Besitzers. 5. E r k l ä r u n g s a n s ä t z e . U m eine Deutung der P. bemühten sich vor allem die Mythologen des 19. Jh.s und deren Nachfolger (-> Mythol. Schule). J. Grimm und seine Adepten sahen in Frau P. die dämonisierte Form einer ursprünglich strahlenden heidnisch-germ. Lichtgestalt, die über H o l d a mit der nord. Göttin Frigg gleichzusetzen sei 21 . Im Kontext von -> Natur- und -> Astralmythologie wurde P. als -> Personifikation der Wolke verstanden 2 2 , zu den ,elbischen Vegetationsdämonen' gerechnet 2 3 , als Regen-, Gewitter- und Sonnengottheit 2 4 oder als Fruchtbarkeitsgöttin 2 5 klassifiziert. Unter dem Einfluß des -> Animismus entwickelte sich die Ansicht, P. sei ein Seelendämon, der zur Führerin des Seelenheers elbischer Wesen geworden sei 26 . Neuere Deutungen der P. gehen deutlicher v o n den überlieferten Qu.η aus 2 7 . Beachtet man die Chronologie der Zeugnisse, gewinnt die von Grimm abgelehnte 2 8 Hypothese an Plausibilität, der N a m e der P. sei durch Personifikation aus den zeitlich früher belegten Kalenderbegriffen P.tag/-nacht entstanden 2 9 . Allerdings sind auf diese Weise nicht die divergierenden Funktionen und Zuständigkeiten der P. erklärt. Als verschiedene Schichten der Brauchtums- und Sagengestalt sind sie durchaus unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Provenienz, weshalb sie sich einer m o n o genetischen D e u t u n g entziehen: So geht das Aufstellen von P.milch wohl auf ursprünglich röm. Kaiendenbräuche zurück, während die Fastenkontrolle auf christl. Gebote weist und die Überwachung der Spinnarbeiten mit dem Einhalten v o n Zeiten der Arbeitsruhe zusammenzuhängen scheint.

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I Rumpf, M.: Perchta in der Sage und in ma. Qu.n. In: Röhrich, L. (ed.): Probleme der Sagenforschung. Fbg 1973, 112-138; ead.: Spinnstubenfrauen, Kinderschreckgestalten und Frau Perchta. In: Fabula 17 (1976) 215-242; ead.: Butzenbercht und Kinderfresser. In: Beitr.e zur dt. Volks- und Altertumskunde 19 (1980) 57-76; ead.: Der Brauch des Aufstellens von „Bertimilch". In: Beitr.e zur dt. Volks- und Altertumskunde 34 (1984) 61-85; ead.: Luxuria, Frau Welt und Domina Perchta. In: Fabula 31 (1990) 97-120; ead.: Pen. Populäre Glaubensgestalten zwischen Mythos und Katechese. Würzburg 1991; cf. ferner Wolfram, R.: P. und P.engestalten. In: Österr. Vk.-Atlas. Kommentar. Lfg 6,2 (zu Bll. 112-114). Wien 1980; Kellner, B.: Grimms Mythen. Studien zum Mythosbegriff und seiner Anwendung in Jacob Grimms Dt. Mythologie. Ffm./B./Bern 1994, 319-351. - 2 Grimm, Mythologie 1, 226-234. - 3 Rumpf, M.: Der Berchtoldstag in der Schweiz. In: Beitr.e zur dt. Volks- und Altertumskunde 21 (1982) 65-85. - 4 ead. 1973 (wie not. 1) 121; die auf J. Grimm (Grimm, Mythologie 1, 232 sq.) zurückgehende Identifizierung der P. mit der im karoling. Sagenkreis bedeutsamen Königin Berta ist höchst spekulativ. - 5 H s . München, Bayer. Staatsbibl., clm 18140, fol. 242a. - 6 Grimm, Mythologie 1, 233; Schmeller, Α.: Bayer. Wb. 2. Bearb. K. Frommann. Mü. 2 1872, 1, 269; Rumpf 1973 (wie not. 1) 124; ead. 1991 (wie not. 1) 61-64; Kellner (wie not. 1) 331 sq. - 7 Hs. München, Bayer. Staatsbibl., clm 9528, p. 321, 329, 332, 342; cf. Rumpf 1990 (wie not. 1) 98-120. - 8 cf. Haupt, M.: Von Berhten mit der langen Nase. In: Altdt. Bll. 1 (1836) 105-107; cf. Rumpf 1973 (wie not. 1) 124; ead. 1976 (wie not. 1) 220 sq.; ead. 1980 (wie not. 1) 71; ead. 1991 (wie not. 1) 87; Kellner (wie not. 1) 321. - 9 cf. Martin von Amberg: Der Gewissensspiegel, ed. S. N. Werbow. B. 1958, 42; Vintler, H.: Die Pluemen der Tugent. ed. I. V. Zingerle. Innsbruck 1874, 261; cf. Rumpf 1991 (wie not. 1) 88; Kellner (wie not. 1) 320. - 10 cf. Rumpf 1991 (wie not. 1) 88-93. II Hs. München, Bayer. Staatsbibl., clm 18434, fol. 292 v -293 r . - 12 Rumpf 1991 (wie not. 1) 77-87; Kellner (wie not. 1) 334-336. - 13 Rumpf 1980 (wie not. 1) 57-76. - 1 4 ead. 1973 (wie not. 1) 112-116; ead. 1991 (wie not. 1) 2 3 - 2 5 , 29. - 15 ead. 1973 (wie not. 1) 112-116; ead. 1991 (wie not. 1) 25-27. 16 ibid., 27. - I 7 ead. 1973 (wie not. 1) 116-118; ead. 1976 (wie not. 1) 215-242; ead. 1991 (wie not. 1) 27-29. - 1 8 Zum folgenden bes. Schuhladen, H.: Zur Geschichte von P.enbräuchen im Berchtesgadener Land, in Tirol und Salzburg vom 16. bis zum 19. Jh. In: Bayer. Jb. für Vk. (1983-84) 1 - 2 9 ; id.: Bayer. P.ebräuche im 20. Jh. ibid. (1985) 1 - 2 3 ; Rumpf 1991 (wie not. 1) 94-162; Salzburger P.enbrauch. Tagungsband zum Salzburger P.en-Symposion Maske, Mystik, Brauch. Burg Hohenwerfen, 13. bis 15. November 1992. Salzburg (1993). - 19 Schuhladen 1985 (wie not. 18) 5 - 2 0 ; Rumpf 1991 (wie not. 1) bes. 163-174. - 20 ead. 1984 (wie not. 1) 61-85; ead. 1991 (wie not. 1) 4 9 - 5 6 , 77-87. -

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Percy, Thomas

Grimm, Mythologie 1, 2 2 6 - 2 3 4 , 252 sq.; cf. u. a. Simrock, K.: Hb. der dt. Mythologie mit Einschluß der nord. Bonn "1874, 379 sq.; Meyer, Ε. H.: Mythologie der Germanen. Straßburg 1903, 424 sq.; Wuttke, Α.: Der dt. Volksaberglaube der Gegenwart 3. Bearb. E . H . Meyer. Lpz. "1925, 24sq.; Bretschneider, Α.: Der Mythus von Berchta [...]. In: Dt. Vk. Vjschr. der Arbeitsgemeinschaft für Dt. Vk. 1 (1939) 1 1 5 - 1 3 0 , hier 126 sq. - 2 2 Mannhardt, W.: Germ. Mythen. B. 1858, 726. - 2 3 Koch, H.: Stetit puella. In; Beitr.e zur Geschichte der dt. Sprache und Lit. 61 (1937) 1 5 1 - 1 8 2 , hier 163, 167. - 2 4 Schwartz, F. L. W.: Der Ursprung der Mythologie. B. 1860, 6sq.; id.: Der heutige Volksglaube und das alte Heidenthum. B. 2 1862, 9 5 - 9 7 . - 2 5 N o r k , F.: Mythologie der Volkssagen und Volksmärchen. Stg. 1848, 458. - 2 6 Waschnitius, V.: Perht, Holda und verwandte Gestalten. In: Sb.e der Kaiserlichen Akad. der Wiss.en in Wien, phil.-hist. Kl. 174,2 (1913) 1 4 0 - 1 6 4 ; cf. auch Sepp, J. N.: Die Religion der alten Deutschen und ihr Fortbestand in Volkssagen, Aufzügen und Festbräuchen bis zur Gegenwart. Mü. 1890, 3 2 - 3 5 ; Bronner, F. J.: Von dt. Sitt' und Art. Volkssitten und Volksbräuche in Bayern und den angrenzenden Gebieten. Mü. 1908, 20 sq.; Peuckert, W.-E.: Dt. Volksglaube des SpätMA.s. Stg. 1942, 1 0 4 - 1 0 8 ; Weiser, L.: Altgerm. Jünglingsweihen und Männerbünde. Bühl 1927, 5 0 - 5 9 . - 2 7 cf. not. 1. 28 Grimm, Mythologie 1, 233 sq. - 2 9 Rumpf 1991 (wie not. 1) 6 1 - 7 0 , 1 7 4 - 1 8 1 ; Kellner (wie not. 1) 331 sq. 21

Dresden

Beate Kellner

Percy, Thomas, * Bridgnorth (Shropshire, England) 13.4.1729, t Dromore (Irland) 30.9. 1811, engl. Geistlicher, Übersetzer und Herausgeber. Ausbildung am Christ Church College in Oxford (1746-53) und am Emmanuel College in Cambridge (Doctor of Divinity 1770), Pfarrer in Easton Maudit (1753-82) und Wilby, Northamptonshire (1756-82), Ernennung zum Hofkaplan (1769), Dean (Vorsitzender des Domkapitels) von Carlisle (1778-82), Bischof von Dromore, Irland (1782-1811) 1 . P. änderte die ursprüngliche Schreibweise seines Namens, Pearcy oder Piercy, um die Verbindung zum Adelsgeschlecht der Percys anzudeuten. P. begann sein literar. Werk mit einer Übers, des chin. Romans Hao-ch'iu chuan und anderer chin. Werke (u. a. Slg chin. Sprichwörter und Fragmente chin. Dichtkunst) aus einem port. Ms., die er u. d. T. Hau Kiou Choaun, or the Pleasing History, with an Appendix [...] 1—4 (L. 1761) und Miscellaneous Pieces Relat-

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ing to the Chinese 1 - 2 (L. 1762) publizierte. Unter dem Einfluß von James Macphersons (1736—96) angeblichen Übers.en von Ossian-Liedern aus dem Gälischen folgten Five Pieces of Runic Poetry, Translated from the Icelandic Language (L. 1763), und im gleichen Jahr gab er Henry Howard Earl of Surreys Poems heraus. 1765 publizierte P. die Reliques of Ancient English Poetry 1 - 3 (weitere Aufl.η 1767, 1775 und 1794, jeweils mit Änderungen und Verbesserungen und die letzte mit herausgeberischer Unterstützung seines Neffen T. Percy). Zu späteren VeröfF.en P.s gehören die Edition des Household Book of the Earl of Northumberland in 1512 [...] (L. 1768), Übers.en der -» Edda und anderer isl. Dichtung in P. H. Mallets Northern Antiquities (L. 1770), seine Ballade The Hermit of Warkworth (L. 1771) und geistliche Lit. 2 Unter P.s Werken sind zweifellos die Reliques2 das wichtigste und einflußreichste. Lit.kritiker und Kulturhistoriker in Großbritannien bezeichnen ihre Veröff. als epochemachend in der engl.sprachigen Lit.; sowohl Sir Walter -» Scott als auch William Wordsworth sprachen ihre Bewunderung aus 4 . Der Bericht P.s über die abenteuerliche Entdeckung eines Ms.s bei seinem Freund H. Pitt in Shifnall (Shropshire) 5 , das die Grundlage der Reliques bildet, veranlaßte P.s größten Kritiker, J. Ritson (1712-1803) zunächst dazu, die Existenz des Ms.s energisch zu bezweifeln 6 . Jahrzehntelang wurde aller Zugang zu dem Ms. verwehrt. Erst 1867/68 wurde es zusammen mit einer Biogr. P.s von J. W. Haies und F. J. Furnivall gedruckt 7 , so daß ein Vergleich zwischen dem Orig. und P.s Reliques möglich wurde. F. J. -» Child betrachtete die Reliques als „foundation document of English balladry" 8 , so daß er zur Publ. drängte und diese durch eine erhebliche finanzielle Zuwendung ermöglichte 9 . Die Reliques sind nicht mit dem ganzen Ms., das wohl auf etwa 1650 zu datieren ist, identisch; denn P. druckte nur ein Viertel seines Inhalts (45 von 180 Balladen) ab 10 und fügte Balladen aus anderen Qu.η hinzu. Dabei handelt es sich um Balladen aus in verschiedenem Besitz befindlichen Mss., um schott. Balladen, welche ihm durch Sir D. Dalrymple (Lord Hailes) zugänglich gemacht wurden, um gedr. Balladen aus der Slg von S. Pepys in Cambridge und Dichtungen aus anderen Samm-

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Performanz

lungen". Es waren bes. die neueren Balladen, welche zeitweise Zweifel an der Authentizität der Reliques hervorriefen, ζ. B. bei R. -» Chambers12. Obwohl oder vielleicht gerade weil P. selbst die Reliques abwertend als „the barbarous productions of unpolished ages"13 bezeichnet hatte, waren der sofortige Eindruck und der andauernde Einfluß der Reliques auf den Brit. Inseln und außerhalb überwältigend. Das galt vor allem für Deutschland 14 , wo sie über -» Herder15 auch J. und W. -> Grimm nachhaltig beeinflußten und nicht nur zu einer Differenzierung zwischen ->· Volksdichtung (-• Naturpoesie) und Kunstdichtung beitrugen, sondern auch viele Sammlungen von -> Volksliedern (ζ. B. durch Achim von -> Arnim, Clemens -> Brentano, Ludwig Uhland) und auch von Volksmärchen aus der mündl. Überlieferung sowie Übers.en und Nachahmungen (ζ. B. durch Gottfried August ->• Bürger, cf. AaTh 365: -> Lenore) anregten16. Sowohl die Wirkung auf die Zeitgenossen als auch die dauernde Nachwirkung der Reliques sind deshalb nicht hoch genug einzuschätzen. ' T h e Diet, of National Biogr. 15. Ox. 1917, 882-884; Pickford, J.: Life of Bishop P. In: Hales, J. W./Furnivall, F. J. (edd.): Bishop P.'s Folio Ms. Ballads and Romances 1 - 3 . L. 1867/68/68, hier t. 1 (unpaginiert). - 2 ibid.; cf. auch Wheatley, Η. B. (ed.): Reliques of Ancient Poetry [...] by T. P. 1 - 3 . L. 1886, hier t. 1, lxxi-lxxx; Davis, Β. Η.: T. P. Boston 1981; id.: Τ. P. A Scholar-Cleric in the Age of Johnson. Phil. 1989; Groom, N.: Celts, Goths, and the Nature of the Literary Source. In: Ribeiro, A./ Basker, J. G. (edd.): Tradition in Transition. Ox. 1996, 275-296, hier 281-290. - 3 P., Τ.: Reliques of Ancient English Poetry, Consisting of Old Heroic Ballads, Songs, and Other Pieces of Earlier Poets, [...] together with some few of a Later Date 1 - 3 . L. 1765 (21765/67/67); Schröer, Α. (ed.): Percy's Reliques of Ancient English Poetry 1 - 2 . Nach der 1. Ausg. von 1765. Mit den Var.n der späteren Originalausg.n. B. 1893 (t. 1, 1. Hälfte auch Heilbronn 1889); Wheatley (wie not. 2). - "Grierson, Sir H. J. C. (ed.): The Letters of Sir Walter Scott 1 - 1 2 . L. 1932-37, hier t. 1 (1932) 108-110; t. 12 (1937) 167-170; Wordsworth, W.: Essay Supplementary to Preface 1815-1845. In: Wordsworth's Prefaces and Essays on Poetry, ed. A . J . George. Boston 1910, 5 9 - 9 4 , hier 7 9 - 8 1 ; Hartman, Η.: Wordsworth's „Lucy" Poems. In: Publ.s of the Modern Language Assoc. of America 49 (1934) 134-142, hier 136. 5 Τ. P., Memorandum (7. Nov., 1769), zitiert in Wheatley (wie not. 2) t. 1, lxxxii. — 6 Ritson, J.: Ancient

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Songs from the Time of King Henry the Third to the Revolution. L. 1790, xix; Burd, Η. Α.: Joseph Ritson. A Critical Biogr. Urbana, 111. 1916. - 7 Hales/Furnivall (wie not. 1). - 8 Wheatley (wie not. 2) 1, lxxxiii. — 9 ibid., lxxxiv. — 10 Rieuwerts, S.: P., T. (1729-1811). In: Brown, M. E./Rosenberg, B. A. (edd.): Enc. of Folklore and Literature. Santa Barbara, Calif./Denver, Colo./Ox. 1998, 495-497, hier 495. "Wheatley (wie not. 2) 1, Ixxxi, lxxxiii-lxxxix. 12 ibid., xlviii—lviii. — 13 cf. ibid., 1 sq. (Widmung in den ersten drei Aufl.η). - 14 Lohre, H.: Von P. zum Wunderhorn. Beitr.e zur Geschichte der Volksliedforschung in Deutschland. B. 1902, bes. 1 - 6 0 ; Bausinger, 13-15; EM 8, 1119-1137. - , 5 c f . Nicolaisen, W. F. H.: Herder, Johann Gottfried (1744-1803). In: Brown/Rosenberg (wie not. 10) 298-300. - 1 6 cf. Grätz, M.: Das Märchen in der dt. Aufklärung. Stg. 1988, 215.

Aberdeen

Wilhelm F. H. Nicolaisen

Performanz 1. Allgemeines — 2. Die Wurzeln performanzorientierter Betrachtungsweisen — 3. P. als künstlerische Kommunikationsform — 4. Implikationen der P. - 5. P.studien von Volkserzählungen

1. A l l g e m e i n e s . Der Begriff P. kam in der nordamerik. Folkloristik in den 60er und 70er Jahren des 20. Jh.s im Zusammenhang mit der Verlagerung von der text- zur kontextorientierten Unters, mündl. Überlieferungen in Gebrauch (Paredes/Bauman 1972; Ben-Arnos/ Goldstein 1975; Bascom 1977; cf. aber schon Jansen 1957). P.orientierte Unters.en stellen den situativen Sprechakt in den Mittelpunkt; bei der Analyse richtet sich ihre Aufmerksamkeit auf die -> Funktionen und Bedeutungen mündl. Überlieferungen (-• Orale Tradition) in ihren jeweiligen sozialen und kulturellen Kontexten. Darüber hinaus bewirken sie eine Erweiterung des Forschungsinteresses über die Eigenheiten und formalen Merkmale mündl. Überlieferungen hinaus um Belange wie Stil, Kreativität, kommunikative Fähigkeiten (-• Kommunikation), Publikumsreaktionen (-» Zuhörer), Ereignisstrukturen etc. Hinzuweisen ist darauf, daß der Begriff P. in verschiedenen Bedeutungen gebraucht wird. In der allgemeinsten bezeichnet P. die Praxis des Vortrags der mündl. Überlieferung. Hier bezieht sich P. sowohl auf den Akt des -» Er-

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zählens einer Geschichte oder des Singens einer Ballade als auch auf das situative Ereignis, bei dem sich dieser Akt vollzieht. Dieser Gebrauch betont die dynamischen Qualitäten miindl. Überlieferungen (-> Dynamik) und versteht sie als aussagekräftige symbolische Formen, auf die die Vortragenden als R ü s t zeug für das Leben' zurückgreifen können (Burke 1941, 293-304). Auf dem Verständnis von P. als Praxis baut eine zweite, stärker eingeschränkte Bedeutung der P. als kunstvolle Art der Kommunikation auf (Bauman 1977; Hymes 1975 a). Bei dieser Sicht der P. stehen die dem P.vorgang innewohnende Kreativität sowie die Muster und Funktionen künstlerischen Sprachgebrauchs in der sozialen Interaktion im Mittelpunkt. Eine dritte Bedeutung von P. bezieht sich auf größere oder kleinere organisierte sog. kulturelle P.en wie Festivals, Paraden, Schauspiele, Jahrmärkte, Vorführungen, Spiele und Rituale (Singer 1972; Abrahams 1977; Stoeltje/Bauman 1987). Diese P.en stellen Kultur in einer Form zur Schau, die symbolischen Charakter besitzt, und machen sie dadurch den Teilnehmern zu Überprüfung, Interpretation und Analyse zugänglich (cf. Abrahams 1981; Glassie 1975; Bauman 1992 a, 261-271). Da kulturelle P e n die Aufmerksamkeit auf kulturelle Symbole lenken, bilden sie wirkungsvolle Bühnen, auf denen Kultur nicht nur zur Schau gestellt und gefeiert, sondern auch neu gestaltet werden kann (Bauman 1989). Volkserzählungen können einen Bestandteil kultureller P e n bilden, aber die semiotische Komplexität und die breite Skala dieser Ereignisse schließen eine detaillierte Unters, des Zusammenhangs an dieser Stelle aus (cf. auch Märchenpflege). Im folgenden wird den Implikationen des Verständnisses von P. als Praxis und P. als Form der künstlerischen Kommunikation mit ihrem engen Bezug zur verbalen Kunst und bes. zur Volkserzählung nachgegangen (cf. auch Bauman 1986, 1992 a; Bauman/Braid 1998). Der Schwerpunkt liegt dabei auf performanzorientierten Ansätzen, wie sie in der amerik. Folkloristik entwickelt wurden. In der europ. Volkserzählforschung gibt es vergleichbare Forschungsrichtungen, die sich mit der Bedeutung der Rolle der Erzähler, des Kontexts und der sozialen Funktion im Prozeß des

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mündl. Erzählens befassen. Einer der ersten, der sich mit der Persönlichkeit von Märchenerzählern befaßte, war der Russe Μ. K. -> Azadovskij. In kritischer Auseinandersetzung mit der -> geogr.-hist. Methode forderte der Schwede C. W. von -> Sydow, die Forschung über die Erzählungen selbst hinaus auf die -» Biologie des Erzählguts auszudehnen - ein Begriff, der zur Unterstreichung der dynamischen Rolle der Traditionsträger im Leben der Überlieferung diente. Von bes. Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die Arbeiten der russ. (u. a. Azadovskij, Ν. E. -» Oncukov, die Brüder -> Sokolov) und der ung. Schule (u. a. G. -» Ortutay, L. -» Degh). Der Terminus ,Biologie des Erzählguts' wurde bes. von der dt. Forschung rezipiert und für die Beschreibung der ethnogr. Unters, des Erzählens im sozialen Kontext angewandt (cf. ζ. B. Brinkmann 1933). Ein umfassenderes Verständnis der Märchenbiologie entwickelte M. Lüthi ( 8 1990, 81-102). Einen Überblick über die von ihr als ,performanzorientiert' bezeichnete Erzählforschung bietet Degh (1995). 2. D i e W u r z e l n p e r f o r m a n z o r i e n t i e r t e r B e t r a c h t u n g s w e i s e n . Die Geschichte performanzorientierter Betrachtungsweisen mündl. Überlieferungen kann hier nicht im Detail nachgezeichnet werden (cf. Fine 1984; Bauman 1977, 1982; Bauman/Briggs 1990); es ist jedoch darauf hinzuweisen, daß diese Ansätze auf älteren Arbeiten zur Folkloristik, Ethnologie, Soziologie, Linguistik, vergleichenden Lit.Wissenschaft und Lit.kritik aufbauen (cf. Biologie des Erzählguts). Schon früh wurde ζ. B. von verschiedenen Seiten eine ethnogr. Unters, von Sprechereignissen gefordert. Bereits 1910 machte E. Sapir auf die Bedeutung der außertextlichen Aspekte erzählerischer P e n bei den Paiute für ein volles Verständnis von Bedeutung und Funktion der erzählten Ereignisse aufmerksam (Sapir 1910, 1915). Ähnlich bemerkte B. -> Malinowski, daß stilistische Aspekte der P. wie Stimmqualität, Rhythmus, Gestik und Mimik (-> Gebärde) entscheidend für das umfassende Verstehen von P e n verbaler Kunstformen seien (Malinowski 1926, 1935) und daß verbale Äußerungen nicht voll erfaßt werden könnten, wenn sie nicht exakt mit dem Situations- und Kulturkontext der P. in Beziehung gesetzt

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würden (Malinowski 1923). Malinowskis Überlegungen zum Kontext wurden von P.forschern bei der Ausbildung eigener Betrachtungsweisen des situativen Gebrauchs mündl. Uberlieferungen weiter entwickelt (Ben-Amos/ Goldstein 1975, 1 - 7 ) . Der Terminus Kontext wurde für diese neue Forschungsrichtung so zentral, daß R. M. - Dorson (1972, 4 5 - 4 7 ) Rforscher als ,contextualists' bezeichnete. Die Entwicklung performanzorientierter Perspektiven kann als Ausdruck einer allg. Hinwendung zum Menschen in der Gesellschafts- und Kulturanalyse angesehen werden (Fine 1984; Geertz 1980). Wichtig ist in diesem Zusammenhang der rhetorische Ansatz K. Burkes mit seinem dramatischen Modell', das auf in der Lit. gebräuchliche Situationen und Strategien aufmerksam macht (Burke 1941, 1969; Abrahams 1968). P.orientierte Folkloristen schöpften auch aus den von den Linguisten der Prager Schule gewonnenen Einsichten zu den sozialen Funktionen der Sprache (Bauman 1982; cf. bes. Jakobson 1960). Die Feldforschungen von M. -> Parry und Α. B. Lord mit südslav. Epensängern enthüllten die bei deren P. stattfindenden dynamischen Neuschöpfungsprozesse, bei denen sich die Sänger auf einen festen Bestand mündl. Formeln stützen (Lord 1960; Oral Poetry). Von bes. Belang ist das Gewicht, das Parry und Lord auf die Entstehung epischer Texte aus der Interaktion zwischen Vortragenden, Publikum und Situationskontext legten. Großen Einfluß auf performanzorientierte Folkloristen übte die von D. Hymes entwikkelte Ethnographie des Sprechens aus (Hymes 1962, 1974; Gumperz/Hymes 1972; Bauman/ Sherzer 1989; Bauman 1987). Im Blickpunkt der damals in der linguistischen Forschung vorherrschenden Theorie der generativen Transformationsgrammatik stand hauptsächlich die Kompetenz, d. h. ,die Beherrschung der Sprache durch den Sprecher oder Hörer'; die P., d. h. ,der faktische Gebrauch der Sprache in konkreten Situationen', wurde als nebensächlich angesehen, da sie mit Fehlern wie ,falschen Anfangen, Regelabweichungen, Änderungen des Plans auf halbem Wege etc.' behaftet sei (Chomsky 1965, 4). Dieser Betrachtungsweise setzte Hymes die Ethnographie des Sprechens entgegen, die den Sprechakt in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses stellt

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und die Muster, Regeln und Kompetenzen beim Gebrauch von Sprache in der sozialen Interaktion untersucht. Zentral für diesen Ansatz ist die Einsicht, daß jede Sprachgemeinschaft kulturell anerkannte Formen des Sprechens entwickelt, die funktional in die soziale Interaktion integriert sind. Während allg. Kategorien des Sprechens - wie Beleidigung, Scherz, wörtliche Rede — identifizierbar sein können, sind ihre bes. Formen, Bedeutungen und Funktionen kulturspezifisch und bedürfen daher der ethnogr. Unters. 3. P. a l s k ü n s t l e r i s c h e K o m m u n i k a t i o n s f o r m . P.orientierte Folkloristen stellten bald fest, daß nicht alle Umsetzungen mündl. Überlieferungen denselben Grad an künstlerischem Können oder an Virtuosität aufweisen. Einige davon ζ. B. stellen lediglich Zitate einer künstlerischen P. oder Berichte darüber dar. Aufbauend auf dem sich entwickelnden Verständnis von P. als Praxis sowie auf der Ethnographie des Sprechens entstand eine weitere Bedeutung, nach der P. eine bes., kunstvolle Art der Kommunikation darstellt (Bauman 1989; cf. auch Bauman 1977; Hymes 1975 a). Aus dieser Sicht ist P. eine durch das Künstlerische gekennzeichnete, den Mitgliedern einer bestimmten Gemeinschaft zugängliche Art des Sprechens — im Gegensatz etwa zu Anspielung, Zitat, Spiel. Da P. von der Einstellung des Darbietenden definiert ist, kann es sich bei jeder Kommunikation in stärkerem oder geringerem Maß um eine P. handeln, das Erzählen kann von vollständiger P. bis zu flüchtigem ,Durchbruch zur P.' (Hymes 1975 a) reichen. Zum Verständnis der Abgrenzung von P. gegenüber anderen Arten der Kommunikation ist das Modell des Interpretationsrahmens nützlich (Bateson 1972; Goffman 1974). Interpretationsrahmen bieten den Zuhörern Orientierungshilfen in Hinblick auf die Kommunikation und greifen auf konventionelle Strategien zum Verständnis der Botschaft zurück. Diese Interpretationsrahmen sind durch eine Metakommunikation — Aspekte der Interaktion, die Richtlinien zum Verständnis der Äußerungen innerhalb des Rahmens übermitteln — definiert. Der Prahmen signalisiert: ,Da bin ich! Schaut, wie ich diese Geschichte erzähle! Paßt auf, wie geschickt und kunstvoll ich sie erzähle!' Damit lenkt der Prahmen die Auf-

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merksamkeit auf die Poetik der Kommunikation, auf die Art, wie die P. über den Inhalt hinaus ausgeführt wird. Eine derartige Steuerung der Aufmerksamkeit kann den Eindruck der P. auf das Publikum — ihre Kraft zu rühren, überzeugen, unterhalten — verstärken. Sie kann auch poetisch kodierte Bedeutungen hervorheben oder die Bewertung kultureller Symbole, Glaubensvorstellungen, traditioneller Erzählmuster, Erfahrungen etc., die in der P. zum Ausdruck kommen, fördern. Die Mittel der P.einstimmung unterscheiden sich kulturell und hist, und müssen daher für jede Kultur mit Hilfe der ethnogr. Forschung bestimmt werden. Zum häufig belegten Instrumentarium von P.en gehören: spezielle Rahmenformeln (-> Eingangsformeln; ->• Schlußformeln; Pointen); formale Gestaltungsprinzipien oder -mittel (-» Verse, grammatische Parallelismen, Metrik, Intonationsmuster); spezielle Sprachstile oder Register (archaische Sprache, indirekte oder anspielende Sprache, drastische Sprache, -» Dialekt, Jargon); bildliche Sprache (Gebrauch von Metapher, Vergleich, Ironie u. a. Tropen); Berufung auf die Tradition (,die Alten sagen'); bestimmte Arten der Körperbewegung (Aufstehen, Herumlaufen, Kopfbewegungen, mimetische Gebärden); Schauplätze, die üblicherweise mit einer P. verbunden werden (-» Spinnstuben, Lesepult, Lügenbank, Bühne); rhetorische Figuren in Form von P.dementis (,So wenig ich gewöhnt bin, in der Öffentlichkeit zu sprechen ...'; ,Ich bin nicht so ein guter Erzähler wie mein Großvater, aber ...'; Edwards 1984; Bauman/Braid 1998, 111).

Da bei der P. die Aufmerksamkeit auf die formale Gestaltung der Botschaft gelenkt wird, könnte falschlich geschlossen werden, formale Brillanz sei die wesentliche Eigenschaft der P. Doch nicht alle Umsetzungen künstlerisch gestalteter Texte sind Pen. Wird ζ. B. eine künstlerische P. zitiert oder über sie berichtet, sind nicht dieselben Funktionen und Bedeutungen wie bei der vollständigen P. präsent. Die Verpflichtung, die der Träger oder die Trägerin einer P. dem Publikum gegenüber eingehen und die nachfolgende Bewertung durch dieses sind wesentlich für die Definition der P. als Modus kommunikativen Handelns. In diesem Sinne bedeutet P. nicht einfach die Einbringung eines künstlerisch gestalteten Texts in den Fluß der Rede. P. ist eine Leistung, die darin besteht, daß der Vortragende überliefertes Erzählgut den Erfordernissen des situativen P.ereignisses anpaßt. Dabei können Erzähltext, Bedeutung, Funktion und selbst

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die sozialen Beziehungen durch die Interaktion zwischen Vortragendem, Publikum und Kontext neu gestaltet werden (Bauman 1977, 37-45). Das Publikum bewertet die Vortragenden in Hinblick darauf, wie sie traditionelle Quellen, Inhaltsmuster und Stile seinem Geschmack und Wertesystem entsprechend auswählen und anpassen, wie sie Kommunikationsziele erfüllen und wie sie die entstehende P. in Reaktion auf Publikums-Feedback und -Bewertung gestalten bzw. umgestalten. Die performanzorientierte Erzählforschung richtet ihr Augenmerk daher sowohl auf Aufbau und Präsentation der erzählten Ereignisse durch die Darbietenden als auch auf die Art und Weise, in der sie die Dynamik der kommunikativen Interaktion während des P.ereignisses bewältigen. 4. I m p l i k a t i o n e n d e r P. Bei der Betrachtung der P. als einer künstlerischen Form der Kommunikation werden Kreativität und Auftreten neuer Elemente, wie sie für die Interaktion bei der P. charakteristisch sind, betont. Porientierte Ansätze bieten daher Einsichten in Sachverhalte, die für die Erforschung mündl. Überlieferungen zentral sind. Mehrere Implikationen dieser Ansätze sind bes. für die Volkserzählforschung relevant. Bei jeder P. besteht eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen Text und Kontext (cf. auch -> Hermeneutik). Kontextelemente können die Form der im Entstehen begriffenen Erzählung hinsichtlich Stil, Inhalt, Bedeutung und Funktion beeinflussen - wenn ζ. B. dadurch, daß Kinder hinzukommen, Schlüpfrigkeiten reduziert werden. Andererseits können Erzählperformanzen auch konstitutiv für die Ereignisse sein, innerhalb derer sie erzählt werden — ζ. B. kann das Singen eines Liedes oder das Erzählen einer Geschichte eine Unterhaltung in eine informelle Erzählgelegenheit verwandeln. Dabei erkennen die Vortragenden Aspekte der Umgebung als bes. relevant für das Verständnis der Funktionen und Bedeutungen ihrer P. an (Bauman/Briggs 1990, 66—72). Sie können ζ. B. Verbindungen zum Schauplatz (,Wir saßen genau hier, in diesem Anhänger ...'), zu kulturellen Werten und Vorstellungen (,Also, kein Traveller würde einem Landstreicher was antun ...'), zu den Teilnehmern am Ereignis (,Er war ein junger Mann,

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genau wie du ...'), zu früheren Erlebnissen (,Ich habe oft selbst bei der Ernte gearbeitet ...'), zu anderen Erzählungen (,In den Geschichten ist Jack immer ein junger Mann. Also, einmal wurde Jack alt ...') herstellen. P.orientierte Ansätze bieten auch Einsichten zur Traditionalität. Diese wird gewöhnlich als Eigenschaft verstanden, die durch wiederholte Übermittlung über einen Zeitraum hinweg entsteht (Ben-Arnos 1984). Manche Texte besitzen Traditionalität, andere nicht; die Vortragenden können jedoch einer Geschichte symbolisch Traditionalität verleihen, indem sie die gegenwärtige P. in Beziehung zu früheren P.en der Erzählung setzen (ζ. B.: ,Ich erinnere mich, daß mein Vater mir diese Geschichte erzählt hat', oder: ,Jede Familie kannte eine Version dieser Geschichte'). Derart kann die Herstellung eines Kontexts als Akt der Traditionalisierung dienen, als in der Gegenwart stattfindende Schaffung von Verbindungen zu einer sinnvollen Vergangenheit, die ihrerseits bei der P. geschaffen wird (Hymes 1975 b, 353-355; cf. auch Bauman 1992 b). In ähnlicher Weise -können Gattungen als Produkt der P. verstanden werden (cf. Bauman 1992 a, 4 1 - 4 9 ; Braid [im Druck]). Gattungen werden traditionell als typol. Kategorien angesehen, nach denen Gegenstände der Volksüberlieferung und der Lit. zum Zweck der Unters, klassifiziert werden (-• Gattungsprobleme). Für performanzorientierte Gattungskonzeptionen jedoch hat dieses Verständnis einen relativ geringen Stellenwert; betont wird hier die Rolle der Gattung in der Kommunikation. Aus dieser Sicht ist Gattung das Produkt der Kontextualisierung eines Texts durch Evozierung der konventionellen Assoziationen und Interpretationsstrategien einer bestimmten Gattung. Bezugnahme auf eine bestimmte Gattung wird teilweise durch formale und stilistische Gestaltung der P. erreicht. Auch metanarrative Rahmentechniken spielen dabei eine wichtige Rolle (ζ. B. ,Es war einmal ...'; ,Ich schwöre beim Grab meiner Großmutter, daß diese Geschichte wahr ist'; ,Kennen Sie den schon?'). Gattungstypische Rahmen sind jedoch nichts Feststehendes, sondern Assoziationen, die durch intertextuellen Bezug zu einem früheren Diskurs hervorgerufen werden. Als solche können Gattungsassoziationen strategisch genutzt oder zu

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neuen Formen mit interpretierbarer Bedeutung adaptiert bzw. verwandelt werden oder in diesen aufgehen (Briggs/Bauman 1992). Ζ. B. treiben Lügengeschichten ein wirkungsvolles Spiel mit der Erlebnisberichten herkömmlicherweise entgegengebrachten Erwartung, daß das Erzählte sich tatsächlich ereignet hat. P.orientierte Betrachtungsweisen sind zwar kritisiert worden, da sie sich vorrangig auf situative P.ereignisse beziehen (ζ. B. Limön/ Young 1986); tatsächlich schließen sie aber die hist, oder intertextuellen Dimensionen der Volkserzählungsforschung nicht aus. Neuere P.untersuchungen stellen die miteinander verflochtenen Prozesse der De- und Rekontextualisierung in den Mittelpunkt (Bauman/Briggs 1990, 7 2 - 7 8 ; Silverstein/Urban 1996). Rekontextualisierung bezieht sich auf den Prozeß, der stattfindet, wenn ein Diskurs, der einem Kontext entnommen wurde, einem neuen Kontext angepaßt wird. Die als zwei Seiten eines Vorgangs verstandenen Begriffe betonen die Dialektik zwischen dem sozial Gegebenen und dem in der Praxis des sozialen Lebens Auftretenden. Die Unters, erzählerischer P e n vom Gesichtspunkt der De- und Rekontextualisierung aus bietet einen geeigneten analytischen Rahmen zur Behandlung der folgenden Probleme: wie die Vortragenden Erzählungen aus früheren Erzählereignissen in Form, Funktion, Stil, Inhalt, Bedeutung etc. den Zielen und Erfordernissen des gegenwärtigen P.ereignisses entsprechend umformen; wie die Vortragenden durch Herstellung von intertextuellen Verbindungen und Kontinuitäten mit früheren P.en Interpretationsrahmen schaffen und Bedeutungen suggerieren; und was Erzählungen mitbringen, wenn sie in einer neuen Umgebung rekontextualisiert werden (cf. Bauman 1996; Braid 1993). Die Begriffe Dekontextualisierung und Rekontextualisierung können auch Einsichten über wiss. Gepflogenheiten vermitteln. Jedesmal, wenn ein Text einem ethnogr., hist, oder literar. Kontext entnommen und in eine Erzählsammlung, Radiosendung oder wiss. Abhandlung eingebracht wird, vollzieht sich ein Vorgang der De- und Rekontextualisierung. Der De- und Rekontextualisierungsrahmen beleuchtet Fragen der hist, und wiss. Gepflogenheiten, die ihn bestimmen (Briggs 1993). Aus diesem Rahmen ergeben sich auch Fragen

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des sozialen und politischen Gebrauchs der Texte in außerhalb des akademischen liegenden Diskursbereichen (cf. ζ. B. Bauman 1993). 5. P . s t u d i e n v o n V o l k s e r z ä h l u n g e n . P.orientierte Methoden brachten ein breites Spektrum von Publikationen hervor, die sich mit Volkserzählungen und erzählerischen Traditionen befassen. Zum einen konzentriert sich eine Reihe von Studien auf situative P.en und untersucht die Kreativität der Vortragenden, das Wechselspiel zwischen Tradition und Situation, Aspekte kommunikativer Kompetenz, die Dialektik zwischen P.en und sozialen und kulturellen Kontexten, die Poetik der P. etc. Diese Arbeiten behandeln eine Vielzahl kultureller Gruppen und erzählerischer Gattungen, ζ. B. Erlebnisberichte, Anekdoten und Lügengeschichten (Bauman 1986), amerik. -» Jack Tales (McCarthy 1994), religiöses Erzählgut aus Indien (Narayan 1989), den epischen Gesang (Foley 1995), Erzählen in Afghanistan (Mills 1991) oder die Rolle des Erzählens bei den schott. Travellers (Braid [im Druck]). Mit ähnlichen Fragen befassen sich neuere Arbeiten in der europ. Volkserzählforschung (Kaivola-Bregenhoj 1996; Siikala 1990). Hier ist auch die Interessenkonvergenz von performanzorientierten Ansätzen und Arbeiten der europ. Folkloristik in Hinblick auf die kreative Rolle der Darbietenden bei der Gestaltung von Erzählüberlieferungen hervorzuheben, wie sie bes. im Werk Ortutays und der Budapester Schule der Volkserzählforschung, so u. a. von Degh (1962, 1995), praktiziert wird. Eine zweite Gruppe von P.studien konzentriert sich umfassender auf Erzähltraditionen innerhalb des Gesamtmusters des Gemeinschaftsdiskurses. Hier untersuchen die Autoren ζ. B. den Status hist. Erzählungen (-• Oral History) in einer ir. Gemeinschaft (Glassie 1982), die Rolle ,guter Sprecher/Diskutierer' in karib. Kulturen (Abrahams 1983), die Gestaltung von Leben und Erfahrung durch verbale Kunst in der Kultur der Kuna (Sherzer 1990) und die Kreativität und Kompetenz mexikan. Erzähler (Briggs 1988). Wichtige Einsichten zur erzählerischen P. finden sich auch in Studien zur Ethnopoetik, einem eng mit performanzorientierten Methoden verwandten Gebiet. Ethnopoetische Unters.en haben viel zum Verständnis der for-

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malen Mittel und Muster beigetragen, durch die erzählerische P.en geprägt sind (Hymes 1998). Von zentraler Bedeutung ist hier die These, daß mündl. Erzählperformanzen der Poesie näher stehen als der Prosa (cf. Hymes 1981; Tedlock 1971; Sherzer/Woodbury 1987). Ethnopoetische Ansätze haben auch zur Entwicklung von Transkriptionsmethoden für die Dokumentation von Stil- und Ausdrucksaspekten der P. beigetragen (cf. Fine 1984; Tedlock 1983). Zusammenfassend ist darauf hinzuweisen, daß performanzorientierte Betrachtungsweisen sich nicht auf die Unters, von gegenwärtigen Ereignissen beschränken. Da P. ein Kulturverhalten ist, ist sie innerhalb jeder Gesellschaft in kulturspezifisch, überkulturell und hist, veränderlichen Formen ausgeprägt. Die Mittel, Ausdrucksformen, Funktionen und Bedeutungen von P. in einer bestimmten Kultur müssen durch ethnogr. Unters.en bestimmt werden. Obwohl die Ethnographie im wesentlichen in der Feldforschung gründet, können ihre Unters.smethoden auch auf hist, oder archivierte Texte angewandt werden (Hymes 1981; Bauman 1992 b). L i t . : Sapir, E.: Song Recitative in Paiute Mythology. In: JAFL 23 (1910) 455-472. - id.: Abnormal Types of Speech in Nootka [1915]. In: Mandelbaum, D. G. (ed.): Selected Writings of Edward Sapir in Language, Culture and Personality. Berk. 1963, 1179-1196. - Malinowski, B.: The Problem of Meaning in Primitive Languages. In: Ogden, C. K./ Richards, Α. I. (edd.): The Meaning of Meaning. L. 1923, 4 5 0 - 5 1 0 (Ν. Υ. 1953, 296-336). - Malinowski, Β.: Myth in Primitive Soc. Ν. Y. 1926. - Brinkmann, Ο.: Das Erzählen in einer Dorfgemeinschaft. Münster 1933. - Malinowski, B.: Coral Gardens and Their Magic 1 - 2 . L. 1935. - Burke, K.: The Philosophy of Literary Form. Studies in Symbolic Action. Baton Rouge 1941 ( 2 1967). - Jansen, W. H.: Classifying Performance in the Study of Verbal Folklore. In: Studies in Folklore. Festschr. S.Thompson. Bloom. 1957, 110-118. - Jakobson, R.: Closing Statement. Linguistics and Poetics. In: Sebeok, T. (ed.): Style in Language. Cambr., Mass. 1960, 350-377. - Lord, A. B.: The Singer of Tales. Cambr., Mass. 1960. - Degh, L.: Märchen, Erzähler und Erzählgemeinschaft. Β. 1962. - Hymes, D.: The Ethnography of Speaking. In: Gladwin, T./Sturtevant, W. C. (edd.): Anthropology and Human Behavior. Wash. 1962, 15-53. - Chomsky, N.: Aspects of a Theory of Syntax. Cambr. 1965. - Abrahams, R. D.: Introductory Remarks to a Rhetorical Theory of Folklore. In: JAFL 81 (1968) 143-158. - Burke, K.: A Rhetoric of Motives. Berk. 1969. - Tedlock,

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Performanz

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Peri (Pari)

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Indianapolis

Donald Braid

Peri (Pari), meist weibliche und neben dem -> Dev häufigste übernatürliche Gestalt der iran. Überlieferung (Avesta: pairikä; mittelpers.: parlk; sogd.: pr'yk; armen.: parik; Pashtö: peral; neupers.: P.; cf. Elf, Elfen; -» Fairy; Fee, Feenland) 1 . Etymol. Deutungen reichen von ,Verführerin' über ,fremde Frau' bis zu ,Dämonin der sexuellen Lust' 2 . P.s scheinen ursprünglich eng mit Sexualität verbundene Gottheiten gewesen zu sein, möglicherweise verführerische -> Wassergeister 3 . Das zoroastr. Dogma gestaltete sie im Avesta zu übelwollenden Wesen, die in formelhaften Wendungen oft zusammen mit -» Zauberern und -> Dämonen angeführt werden 4 . Demgegenüber sind P.s sowohl in der neupers. klass. Lit. als auch in der populären Überlieferung meist freundlicher Natur und werden mit -> Liebe und -» Erotik bzw. Sexualität verbunden. In der auf vorislam. Quellen zurückgehenden mittelpers. Lit. ist das Bild der P.s noch ambivalent: Aus dem Geschlechtsverkehr des Kulturheros Gam mit einer P. gehen die Bären und Affen hervor 5 ; ein heiliges Feuer bekämpft P.s, die aus dem Meer kommen und durch Zauberei und üblen Geruch Unheil verbreiten 6 ; der Held Srit kommt durch eine P. in Hundegestalt zu Tode, deren gespaltene Hälften sich jeweils als neue Hunde vervielfältigen 7 . In der klassischen pers. Lit. werden P.s als außergewöhnlich schön 8 wie auch als -> unsichtbar 9 geschildert; zudem können sie fliegen 10 . Oft steht die P. als Metapher für Spiritualität und weist manchmal Nähe zu -> Engelsvorstellungen auf 11 . Die Mirabilienliteratur nennt als Wohnorte der P.s Höhlen oder verlassene Bergwerke 12 , Wälder, Quellen und andere feuchte und dunkle Orte 13 . In den pers. mythol. und hist. Epen erscheinen P.s relativ selten. Als der Held Bizan etwa

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in einer Episode von Ferdousis Säh-näme (-> FirdausT) seine Anwesenheit in den Gemächern der Königstochter Maniza damit rechtfertigt, er sei von einer P. im Schlaf entführt worden, bezeichnet der König dies als ein , Altweibermärchen' 14 ; Farämarz, der eponyme Held eines Epos, wirbt um eine P.-Prinzessin, deren Vater sich aber ablehnend verhält, da er menschliche Liebe als unverläßlich betrachtet 15 ; im Säm-näme wird der Held Säm von einer in ihn verliebten P. entführt und (wie -> Odysseus von Circe) in erotischer Gefangenschaft gehalten 16 . Die von den klassischen Quellen vorgegebenen Wesenszüge der P.s werden in den romantischen Epen (Eskandar-näme [-• Alexander d. Gr.], -» Hamza-näme) und der traditionellen Volkserzählung detailliert ausgestaltet. Dabei erscheinen bes. folgende Motive 17 : Eine P. verliebt sich in einen menschlichen Mann; da dieser sich oft der menschlichen Welt verpflichtet fühlt, kommt es gelegentlich zu seiner -» Entführung. Die P. besitzt die Fähigkeit zur Tierverwandlung, meist in eine Gazelle (Wildesel) oder einen -» Schwan (-• Taube); dies bedingt einerseits, daß P.s durch den Diebstahl der (beim Baden) abgelegten -» Tierhaut bzw. des - Feder (Mot. Β 501.4) herbeigerufen werden kann. Ebenso wie die P.s selbst besitzen die mit ihnen gezeugten Kinder magische Eigenschaften, oft außergewöhnliche Stärke. Die P. s leben in einem Land im Osten, oft auf dem mythischen Berg Qäf, gelegentlich auch in einer gewissermaßen parallel zur Menschenwelt verlaufenden Dimension; ihr Reich ist wie das der Menschen hierarchisch organisiert. Andere P.s leben einzeln auf Inseln, im Meer oder unter der Erde. P.s können rechtgläubig (i. e. islam. Glaubens) oder heidnisch sein. Sie sind immer außergewöhnlich schön - bis auf ihre behaarten Füße, die eine Verbindung zur Welt der Tiere herstellen. P.s sind mächtige Zauberinnen, die im Besitz des Schatzes -» Salomos sind und durch -> Magie ihre Gegner verwandeln (-• Verwandlung), -> bannen oder ihrer Kraft berauben können. Machtlos sind sie allerdings gegen -» Eisen sowie gegen den als -» Abwehrzauber ausgesprochenen Segen Gottes. P. können fliegen und sich unsichtbar machen, setzen ihre magischen Kräfte aber meist zum Wohl der Menschen ein. Einzig wenn sich diese ihren verliebten Avancen widersetzen, greifen sie zu Gewalt oder erpresserischen Mitteln. Hervorstechende Eigenschaft der P.s in der Liebe ist ihre absolute Zuverlässigkeit sowie die hieraus resultierende Bestrafung von Vertrauens- oder -» Tabubruch

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Perrault, Charles

durch Verlassen des untreuen Partners (Die gestörte Mahrtenehe; AaTh 400: -> Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau; Marzolph *832 A). Hauptfeinde der P.s sind die D ä m o n e n , deren üblen Geruch die P.s verabscheuen. Ü b e r h a u p t besitzen P.s einen ausgeprägten -» Geruchssinn, denn obwohl sie keine Kannibalen sind, können sie Menschen riechen (-ι· Menschenfleisch riechen). Trotz der ausgeprägten Abneigung gegen D ä m o n e n wird gelegentlich von Heiraten zwischen diesen und P.s erzählt; aus einer solchen Verbindung entspringen magische Wesen, ζ. B. ein dreiäugiges Pferd 1 8 .

Verschiedene Formen psychischer Störungen sowie epileptische Anfälle wurden im Volksglauben dadurch erklärt, daß eine P. in den Kranken verliebt sei19. Spezielle Geisterbeschwörer (P.fänger) beschwörten die Schadenzauber wirkenden P.s und setzten sie in Flaschen gefangen; wenn sie dann freigelassen wurden, konnten sie durch magische Formeln zur Dienstbarkeit verpflichtet werden (cf. AaTh 331: Geist im Glas)20. Der naive Glaube an derartige magische Fähigkeiten bewirkte, daß noch ein Sohn des Qägärenherrschers Fath-'Ali Säh sich von einem Derwisch foppen ließ, der ihm eine P. zuführen wollte21. 1 Haussig, H. W. (ed.): Wb. der Mythologie. 4: Götter und Mythen der kaukas. und iran. Völker. Stg. 1986, 418; Bivar, A. D.: A Persian Fairyland. In: Festschr. Μ. Boyce. Leiden 1985, 2 5 - 4 2 . - 2 Gray, L. H.: The Foundations of the Iranian Religions. Bombay 1925, 195 sq.; Sarkäräti, Β.: Pari. Tahqiqi dar häsiye-ye osture-senäsi-ye tatbiqi (P. Unters, zur vergleichenden Mythologie). In: Nasriye-ye Däneskade-ye adabiyät va 'olum-e ensäni-ye Tabriz 23 (1350/1971) 1 - 3 2 , hier 2 - 5 . - 3 ibid., 18 sq., 21. 4 Christensen, Α.: Essai sur la demonologie iranienne. Kop. 1941. - 5 Sarkäräti (wie not. 2) 17; Farnbagh dädagl: Bundahish [Schöpfungsgeschichte], ed. M. Bahär. Teheran 1369/1980, 84. 6 B a h ä r , M.: Pazuhesi dar asätir-e Irän (Unters, zu iran. Mythen). Teheran 1375/1996, 128. - 7 G o z i dehä-ye Zäd-sparam (Ausw. der Sehr, des Zäd-sparam). Übers. Μ. T. Räsid Mohassel. Teheran 1366/ 1987, 19 sq. - "Farrohi: Divän [Gedichtslg]. ed. M. Dabirsiyäqi. Teheran '1363/1984, 147; Näser-e Hosrou: Divän [Gedichtslg]. ed. M. Minovi. Teheran 3 "l 372/1993, 13; Ferdousi: Säh-näme (Königsbuch) 2. ed. G. Häleqi-Motlaq. N. Y./Costa Mesa, Calif. 1990, 206. - 9 O n s o r i : Divän [Gedichtslg]. ed. M. Dabirsiyäqi. Teheran 2 1363/1984, 311; Farrohi (wie not. 8) 380; Asadi: Garsäsp-näme (Das Buch von Garsäsp). ed. H. Yagmä'i. Teheran 1354/1975, 22; Näser-e Hosrou (wie not. 8) 413. — 10 ibid.,

100. -

'

" i b i d . , 13, 59, 101; Farrohi (wie not. 8) 378; Ferdousi (wie not. 8) t. 1 (1988) 23; O n s o r i (wie not. 9)

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202, 299. - 1 2 Tusi: 'Agä'eb al-mahluqät (Die Wunder der Schöpfung), ed. M. Sotude. Teheran 1345/ 1966, 508, cf. 502, 510. - 13 cf. Mazdäpur, K.: Afsäne-ye pari dar Hezär va yek sab (Die Geschichte der P. in „1001 Nacht"). In: Senäht-e hovviyat-e zane iräni [...]. ed. S. Lähigi/M. Kär. Teheran 1371/ 1992, 2 9 0 - 3 4 3 , hier 290 sq., 293, 342. - 14 Ferdousi (wie not. 8) t. 3 (1992) 326. - 15 Farämarz-näme (Das Buch von Farämarz). ed. B. Tafti. Bombay 1324/1907, 3 4 7 - 3 6 9 . - 1 6 Säm-näme (Das Buch von Säm). ed. A. Bonsähi. Bombay 1319/1901, 90. 17 Belege zum folgenden bes. aus Eskandar-näme (Das Buch von Alexander), ed. I. Afsär.Teheran 1343/1964; Qesse-ye Hamze (Die Geschichte von Hamze) 1 - 2 . ed. G. Se'är. Teheran 1347/1968; Engavi, Α.: Ferdousi-näme (Das Buch von Ferdousi) 1 - 3 . Teheran 2 1363/1985. - 18 Se'är (wie not. 17) t. 1, 236; ibid. 2, 321. - " M a s s e , H.: Croyances et coutumes persanes 2. P. 1938, 354. - 2 0 (Pseudo-)Ibn Sinä: Kunüz al-mu'azzimln [Dämonologische Schrift], ed. G. Homä'i. Teheran 1331/1952, 9 0 - 9 7 , bes. 92. 21

Masse (wie not. 19).

San Gabriel, Calif.

Mahmoud Omidsalar

Perrault, Charles, * Paris 12.1.1628, t ebenda 16.5.1703, frz. Schriftsteller und bekanntester frz. Märchendichter 1 . P, der aus einer angesehenen bürgerlichen Familie stammte 2 , erlangte 1651 das Jura-Diplom der Univ. von Orleans. Nach einer Tätigkeit als Rechtsanwalt (1651—54) wurde er Assistent bei seinem Bruder Pierre, dem Steuereinnehmer der Stadt Paris. 1663 wurde P. zum Assistenten von J. B. Colbert, dem Generalinspekteur der kgl. Bauten, ernannt. 1671 erfolgte seine Aufnahme in die Academie franijaise, zu deren Kanzler er 1672 gewählt wurde; 1683 wurde er pensioniert. 1687 trug P. in der Akademie sein Preisgedicht Le Siecle de Louis le Grand vor, das die Vorzüge der zeitgenössischen gegenüber den klassischen Dichtern darlegte3. Hiermit löste er die als ,Querelle des Anciens et des Modernes' bekannt gewordene große Debatte aus, zu der er später mit der Streitschrift Parallele des Anciens et des Modernes (t. 1 - 4 . P. 1688-95) Stellung nahm. P.s Gegner waren der Lit.kritiker Nicolas Boileau-Despreaux (1636—1711) — auf dessen Satire gegen die Frauen P. 1694 mit dem Gedicht Apologie des femmes erwiderte4 — sowie der Dramatiker Jean Racine (1639—99)5. P. geriet in eine prekäre Situation

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Perrault, Charles

dadurch, daß der König sich für die Kunst der Alten aussprach und der Debatte um neue und alte Lit. Einhalt bot. Die Texte, die P. als Verf. der populärsten frz. Märchensammlung berühmt gemacht haben, erschienen zunächst in loser Folge: die Versnovelle La Marquise de Salusses ou la patience de Griselidis (P. 1691; AaTh 887: Griseldis), 1693 das Versmärchen Les Souhaits ridicules (AaTh 750 A: cf. Die drei Wünsche) im Mercure galant, 1694 das Versmärchen Peau d'asne (AaTh 510 B: cf. -> Cinderella) in einer Ausg. zusammen mit den beiden vorher publizierten Geschichten 6 , 1696 das Prosamärchen La Belle au bois dormant (AaTh 410: -> Schlafende Schönheit) im Mercure galant. Nachdem P. bereits 1695 fünf Märchen hs. u. d. T. Contes de ma mere l'Oye zusammengestellt hatte 7 , erschienen 1697 unter dem Namen seines Sohnes Pierre P. Darmancour die gesammelten Feenmärchen als Les Histoires ou contes du temps passe. Die hs. Slg enthält die fünf Märchen La Belle au bois dormant, Le petit Chaperon rouge (AaTh 333: -> Rotkäppchen), La Barbe-Bleue (AaTh 312: cf. ->• Mädchenmörder), Le Maitre Chat ou Le Chat botte (AaTh 545 B: Der gestiefelte -> Kater) und Les Fees (AaTh 480: Das gute und das schlechte -> Mädchen)', die Druckfassung bringt zusätzlich Cendrillon (AaTh 510 A: cf. Cinderella), Le petit Poucet (AaTh 327 B: -> Däumling und Menschenfresser) sowie Riquet ä la houppe und die Prosafassung von Peau d'asne. Die eigentliche Märchenmode in den Pariser Salons (-• Conte de[s] fees) wurde mehr von zeitgenössischen Autorinnen wie Madame d' -> Aulnoy, Mademoiselle -» L'Heritier, Mademoiselle de la Force getragen 8 . Demgegenüber liegt P.s Verdienst darin, einen volkstümlichen Stil entwickelt und damit das Märchen als neue Kunstform geprägt zu haben 9 , die seiner im Rahmen der ,Querelle' formulierten Idee des Modernen entsprach 10 . In der Diskussion um die Verf. schaft der Histoires hat u. a. M. Soriano 11 gezeigt, daß P. wahrscheinlich den Namen seines Sohnes als Pseudonym nutzte, um einen direkten Konflikt mit dem König, der in der ,Querelle' die P. entgegengesetzte Position vertrat, zu vermeiden 12 . Hinsichtlich seines Publikums muß daran erinnert werden, daß es damals noch keine Kinderliteratur im eigentlichen Sinn gab, wenngleich die

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Protagonisten von P.s Märchen meist Kinder sind. Vielmehr wandte sich P., wie andere zeitgenössische Schriftsteller auch, mit seinen Märchen bes. an die Besucher der literar. Salons, die die ironische und subtile Art, in der er volksläufige Uberlieferung in frühbürgerliche Normen der Zivilisation umformte, goutieren konnten 1 3 . Obwohl es schwer ist, P.s Qu.η genau zu benennen, war er offenbar mit literar. umlaufenden Märchen vertraut; so behandelt er Stoffe, die auch in -» Straparolas Piacevoli notti (1550—53) oder -> Basiles Cunto de Ii cunti (1634—36) vorkommen 1 4 . Daneben scheint er wiederholt auch aus der mündl. Überlieferung zu schöpfen, die sich allerdings nie eindeutig nachweisen läßt. Mithin muß offenbleiben, inwieweit derartige Stoffe oder Motive Erfindung P.s sind. Allg. gilt, daß P. sowohl die populäre Überlieferung als auch Umgangsformen der höfischen Kultur nutzte, um Konflikte und Sitten seiner Zeit zu kommentieren 15 . Die zunächst gesondert erschienenen Versmärchen wurden erst später in manche der gedr. Ausg.n integriert. Den Stoff zu Griselidis (AaTh 887) konnte P. nicht nur aus Boccaccios Erzählung im Decamerone (10,10) kennen, sondern auch aus den seit Ende des 15. Jh.s mehrfach veröff. Volksbuchfassungen 16 . Für P. war die Geschichte der tugendhaften Frau, die zu Unrecht von ihrem Mann hart geprüft wird, ein Beispiel dafür, wie edel und mutig die Frauen in seiner eigenen Gesellschaft waren 17 . Die Bauernsatire Les Souhaits ridicules (AaTh 750 A) behandelt die Geschichte vom dummen Ehepaar, das drei Wünsche verschwendet. Dieses Thema ist seit der Antike weit verbreitet und findet sich auch bei frz. Autoren wie -» Marie de France (num. 57) oder —* Philippe de Vigneulles (num. 67) 18 . Von Peau d'asne (AaTh 510 B), einem Stoff, der auch von Straparola (1,4) und Basile (2,6) bearbeitet wurde, liegen sowohl eine Vers- als auch eine Prosafassung vor 19 .

Die acht Prosamärchen in den Histoires ou contes du temps passe sind - teils mit burlesken Elementen 20 - naiv-schlicht im Stil der Volksmärchen verfaßt und schließen jeweils mit einer ironischen Moral in Versen 21 . La Belle au bois dormant (AaTh 410), das einzige separat veröff. Prosamärchen, wurde von der spätma. Fassung des ->• Perceforest und von Basile (5,5) beeinflußt 22 . P. führte im 2. Teil des Märchens die kannibalische Schwiegermutter ein, die die schlafende Schöne und ihre zwei Kinder fressen möchte.

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Perrault. Charles

Le petit Chaperon rouge (AaTh 333) ist das einzige Märchen der Slg, das ein schlechtes Ende nimmt: Das vom Wolf verschlungene unschuldige Mädchen wird später nicht gerettet. Es gibt keine literar. Vorläufer für dieses Märchen, das wahrscheinlich auf Grundlage einer in Südfrankreich und Norditalien verbreiteten mündl. Überlieferung entstand. P.s Fassung ist gegenüber den belegten mündl. Var.n deutlich pädagogisiert und schließt mit einer Moral, die unrnißverständlich die sexuelle Komponente des Textes als Warnung vor männlichen Verführern herausarbeitet 23 . Auch La Barbe bleue (AaTh 312) hat P. wohl eher unter Bezug auf eine volksläufige Überlieferung konstruiert, selbst wenn er Alain Bouchards Les grandes Chroniques (1531), in dem ein Mädchenmörder erscheint, und andere Chroniken kannte 2 4 . Zu Le Chat botte (AaTh 545 B) gibt es Vorläufer bei Straparola (11,1) und Basile (2,4) 25 . P. nennt nicht wie Straparola eine Katze, sondern wie Basile einen Kater 26 , gab diesem Stiefel (ein neues Motiv) und ließ ihn als bürgerlichen' Maitre Chat am Ende triumphieren. Les Fies (AaTh 480) besitzt Ähnlichkeiten mit der Fassung Basiles (3,10). Das Kernmotiv des freundlichen und des unfreundlichen Mädchens war wohl auch in der populären Überlieferung weit verbreitet, und P.s knapper, einfacher Stil zeigt das Bemühen um den Volkston 27 . Auch Cendrillon (AaTh 510 A) ist offenbar von Basiles Version (1,6) beinflußt 28 . Allerdings ist davon auszugehen, daß der Cinderella-Typ allg. bekannt war, und P.s Fassung scheint Elemente aus literar. und mündl. Tradition zu verbinden. Ein ungewöhnlicher Held ist der häßliche Mann in Riquet ä la houppe, einem entfernt mit AaTh 500: Name des Unholds verwandten Märchen, das höchstwahrscheinlich in freundschaftlicher Konkurrenz mit Mademoiselle Bernard entstand 29 . Sie schrieb unter demselben Titel ein ähnliches Märchen von einem häßlichen, aber klugen Gnom, der durch die Heirat mit einer schönen und dummen Frau sein Glück finden will. Im Gegensatz zu P.s Fassung weist ihr Märchen ein eher zynisches Ende auf. Das letzte Märchen in P.s Slg, Le petit Poucet (AaTh 327 B) behandelt das Thema verlassener und vernachlässigter Kinder, wie es in zahlreichen Geschichten seit dem MA. erscheint und ähnlich wie bei P. auch schon bei Basile (5,8) verarbeitet wurde. P. führte den Däumling (cf. AaTh 700: -» Däumling) als jüngsten von sieben Brüdern ein: Der kleine Held besiegt listig einen Menschenfresser und flieht zusammen mit seinen Brüdern mit dessen -> Siebenmeilenstiefeln 30 . Im 18. Jh. waren P.s Märchen vor allem durch populäre Ausg.n (-> Bibliotheque bleue) verbreitet 3 1 . A u ß e r d e m wurden die M ä r c h e n mündl. weitererzählt 3 2 . 1729 erschien die erste engl. Ubers, der Histoires, danach wurde die Slg ins D e u t s c h e (1745), Niederländische

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(1747), Italienische (1752) und Russische (1768) übertragen, so daß P.s M ä r c h e n in ganz Europa bekannt wurden 3 3 . Bes. die dt. R o mantik wurde stark v o n P. beeinflußt: Ludwig ->• Tieck veröffentlichte drei auf P. basierende Märchenstücke, Der gestiefelte Kater (1797), Blaubart (1798) und Leben und Tod des kleinen Rothkäppchens (1800). Mehrere Texte der -> Kinderund Hausmärchen der Brüder ->• G r i m m haben mit P.s Märchen gemeinsame M o t i v e u n d Themen 3 4 : K H M 15, A a T h 327 A: Hansel und Gretel; K H M 21, A a T h 510 A: Aschenputtel·, K H M 26, A a T h 333: Rotkäppchen; K H M 50, A a T h 410: Dornröschen-, K H M 65, A a T h 510 B: Allerleirauh; aufgrund der allzu offensichtlichen Abhängigkeit v o n P. wurden zwei Märchen der Ausg. v o n 1812 ( K H M 33, A a T h 545 B: Der gestiefelte Kater, K H M 62, A a T h 312: Blaubart) nicht mehr in die Folgeauflagen ü b e r n o m m e n . Ähnlich wie die bekannten Märchenausgaben anderer Dichter wurden P.s M ä r c h e n seit d e m 19. Jh. o f t für Kinder bearbeitet, und bis heute besteht die Tendenz, seine M ä r c h e n zur G a t t u n g der Kinderliteratur zu zählen 3 5 . Andererseits haben zahlreiche Autoren höchst subtile P.Fassungen für Erwachsene geschrieben, in Frankreich etwa Alphonse Daudet ( 1 8 4 0 - 9 7 ) 3 6 , Charles Marelle (geb. 1827) 3 7 , A n a t o l e France ( 1 8 4 4 - 1 9 2 4 ) 3 8 , Pierre Cami ( 1 8 8 4 - 1 9 5 8 ) 3 9 , Charles G u y o t 4 0 , Marcel A y m e (1902—67) 4 1 oder Philippe D u m a s (geb. 1940) 4 2 ; m o d e r n e engl. Autorinnen wie Angela Carter ( 1 9 4 0 - 9 2 ) 4 3 und Tanith Lee (geb. [942)44 haben feministische Interpretationen verfaßt 4 5 . P.s M ä r c h e n bilden das Fundament der klassischen Märchentradition in Frankreich und sind auch nach mehr als 300 Jahren n o c h immer modern.

1 Fink, G.-L.: Naissance et apogee du conte merveilleux en Allemagne 1740-1800. P. 1966; Soriano, Μ.: Les Contes de P. Culture savante et traditions populates. P. 1968; Barchilon, J.: Le Conte merveilleux fran?ais de 1690 ä 1790. P. 1975; Klotz, V.: Das europ. Kunstmärchen. Stg. 1985, 6 5 - 7 9 ; Tricentenaire C. P. Les grands contes du XVIIe siecle et leur fortune litteraire. ed. J. Perrot. P. 1998; Mothe, J.-P: Du Sang et du sexe dans les contes de P. P. 1999. 2 Hailays, Α.: Essais sur le XVIIe siecle. Les P.P. 1926; Barchilon, J./Flinders, P.: C. P. Boston 1981. - 3 S o r i a n o (wie not. 1) 307-310. - "ibid., 313 sq. - 5 Kortum, H.: C. P. und Nicolas Boileau. Der Antike-Streit im ZA. der klassischen frz. Lit. Β.

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Perrault, Charles

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rouge medieval? „La petite fille epargnee par les loups" dans la Fecunda ratis d'Egbert de Liege. In: Merveilles & Contes 5,2 (1991) 246-263; Ritz, Η. [i. e. U. Erckenbrecht]: Die Geschichte vom Rotkäppchen. Kassel 121997, bes. 9 - 1 4 ; Zipes, J.: A Second Gaze at Little Red Riding Hood. In: id.: Don't Bet on the Prince. Ν. Y. 1986, 227-260; id.: The Trials and Tribulations of Little Red Riding Hood. Ν. Y. 2 1 993. - 2 4 Suhrbier, H.: Blaubarts Geheimnis. Köln 1984; Velay-Vallantin, C.: L'Histoire des contes. P. 1992, 4 4 - 9 3 ; Uther, H.-J.: Der Frauenmörder Blaubart und seine Artverwandten. In: SAVk. 84 (1988) 3 5 - 5 4 ; Lovell-Smith, R.: Feminism and Bluebeard. In: Estudos de literatura oral 5 (1999) 4 3 - 5 3 . - 25 Escarpit, D.: Histoire d'un conte. Le Chat botte en France et en Angleterre 1—2. P. 1986. - 2 6 Zipes, J. (ed.): Happily ever after. Fairy Tales, Children, and the Culture Industry. Ν. Y. 1997, 15 - 38. - 2 7 cf. Fumaroli, M.: Les Enchantements de l'eloquence. Les Fees de C. P. ou De la litterature. In: Le Statut de la litterature. Festschr. P. Benichou. Genf 1982, 152-186; Lovell-Smith, R.: Dundes' Allomotifs and Female Audiences. A Reading of P.'s Les Fees. In: Fabula 37 (1996) 241-247. - 28 Belmont, N.: De Cendrillon ä La Cenerentola. Transformation ou avatar? In: Ethnologie franfaise 28 (1998) 167-175. - 29 Vincent, M.: Les deux Versions de Riquet a la houppe. Catherine Bernard (mai 1696), C. P. (octobre 1696). In: Litteratures classiques 25 (1995) 299-309. - 30 Hippolyte, J.-L.: Etude comparee du Petit Poucet de P. et de Hänsel et Gretel des Freres Grimm. In: Merveilles & Contes 5,2 (1991) 390-402. 31 Mandrou, R.: De la Culture populaire au XVIIe et au XVIIIe siecle. P. 1965; Krüger, H.: Die Märchen von C. P. und ihre Leser, (s. 1. 1969) Diss. Kiel 1971; Velay-Vallantin, C.: Le Miroir des contes. P. dans les Bibliotheques bleue». In: Chartier, R.: Les Usages de l'imprime. P. 1987, 129-185. - 3 2 cf. die Belege zu den einzelnen Typen bei Delarue/Teneze. - 33 Simonsen (wie not. 15) 123 sq. - 34 Velten, H.: The Influence of C. P.'s Contes de ma mere l'Oie on German Folklore. In: Germanic Review 5 (1930) 14-18; Hagen, R.: Der Einfluß der P.schen Contes auf das volkstümliche dt. Erzählgut und bes. auf die K H M der Brüder Grimm 1 - 2 . Diss, (masch.) Göttingen 1954; id.: P.s Märchen und die Brüder Grimm. In: Zs. für dt. Philologie 74 (1955) 392-410; Neemann, H.: La Survivance de quelques contes de P. dans les Märchen des Freres Grimm. In: Merveilles & Contes 5,2 (1991) 372-389. - 35 Malarte, C. L.: Du Folklore ä la litterature enfantine. La fortune des contes de P. Diss. Davis, Calif. 1984. 36 Daudet, Α.: Le Roman du Chaperon rouge. P. 1862. - 3 7 Marelle, C.: Affenschwanz. Variantes orales de contes populaires etrangers. Braunschweig 1888. - 38 France, Α.: Les sept Femmes de la BarbeBleue et autres contes merveilleux. P. 1909. 39 Cami, P.: L'Homme ä la tete d'epingle. P. 1914. 40 G u y o t , C.: Le Printemps sur la neige et d'autres contes du bon vieux temps. P. 1922. -

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Perry, Ben Edwin

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Ayme, Μ.: Les Contes du chat perche. P. 1934. Dumas, P.: Contes ä l'envers. P. 1977. - 4 3 Carter, Α.: The Bloody Chamber and Other Stories. L. 1979; cf. Marvels and Tales 12,1 (1998) (Themenheft Angela Carter and the Literary Märchen). — 4 4 Lee, T.: Red as Blood, or Tales from the Sisters Grimmer. Ν. Y. 1983. - 4 5 Warner, M.: From the Beast to the Blonde. On Fairytales and their Tellers. L. 1994. 42

Minneapolis

Jack Zipes

Perry, Ben Edwin, »Fayette (Ohio) 21.2. 1892, t Urbana (111.) 1.11. 1968, nordamerik. klassischer Philologe, der bes. für seine Arbeiten über Äsop und die äsopische Fabel (-• Äsopika) bekannt wurde. P. studierte Klassische Philologie und wurde 1919 mit der Diss. The Metamorphoses Ascribed to Lucius of Patrae (Lancaster, Pa 1920) an der Univ. Princeton promoviert. Er wirkte 1924-60 an der Univ. of Illinois in Urbana. Ps erste größere Publ. auf dem Gebiet der Äsopika waren die Studies in the Text History of the Life and Fables of Aesop (Haverford, Penn. 1936), eine philol. Unters, der Vita Aesopi, einer aus der Kaiserzeit stammenden, in griech. Sprache abgefaßten komischen Biogr. des Äsop, und verschiedener anonymer Slgen äsopischer Fabeln in griech. Prosa. Ein Teil von Ps folgenden Veröff.en befaßte sich mit dem Wesen und der Geschichte der griech. Fabel1. Eine weitere Gruppe von Publ.en P.s bilden kritische Ausg.n griech. und lat. Texte, die mit der griech.-röm. Fabel in Zusammenhang stehen. Am bekanntesten ist wohl seine monumentale Textsammlung zur äsopischen Tradition des Altertums: Aesopica. A Series of Texts Relating to Aesop or Ascribed to Him or Closely Connected with the Literary Tradition that Bears His Name 1 (Urbana 1952). Dieses Werk enthält die verschiedenen Fassungen der Vita Aesopi, Zeugnisse für das Leben Äsops, Äsop zugeschriebene Redensarten und Sprichwörter sowie die Texte von 725 griech. und lat. Fabeln, faktisch ein Typenverzeichnis der äsopischen Fabel. Das Buch war als erster Band eines drei- oder vierbändigen Werks gedacht, das auch oriental. Material und einen Kommentar enthalten sollte; die geplanten Folgebände erschienen jedoch nicht. Außerdem gab P. die beiden ältesten Bücher versifizierter griech. und lat. Fabeln, die -> Babrios und ->

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Phädrus zugeschrieben werden, in Orig. und Ubers, heraus 2 . Dieses Bändchen enthält auch eine Zusammenfassung und Motivanalyse der 725 Fabeln in P.s Aesopica. Über seine Leistungen als Herausgeber und Philologe hinaus waren P.s Darlegungen zum Wesen der Fabel und zum Ursprung des Epimythions von bleibender Wirkung in der Fabelforschung3. Zum umstrittenen Problem der Definition der Fabel führte P. aus, daß Fabeln insgesamt nicht eine bestimmte Art von Geschichten darstellten, sondern sich durch eine bestimmte Art der Benutzung von Geschichten auszeichneten; sie dienten sozusagen als rhetorische Werkzeuge, wobei eine Geschichte metaphorisch gebraucht werde, um etwas zu demonstrieren. Dies erkläre die große Heterogenität der Erzählungen in alten Fabelbüchern4. Das Epimythion, d. h. die an die Fabel angehängte -» Moral, interpretiert P. als eine Entwicklungsform des Promythions, d. h. der knappen, auf die Anwendung bezogenen Einleitung zur Fabel5. Nach P. diente letzteres in frühen Fabelbüchern, so in dem des Demetrios von Phaleron, ursprünglich als Inhaltsangabe, die den Leser kurzgefaßt über das Hauptanliegen oder die Anwendung der folgenden Fabel informierte, so daß der Benutzer nur die Promythien durchgehen mußte, um eine für seine Zwecke geeignete Fabel zu finden. Nach P.s Ansicht waren die frühesten Kompilationen griech. Fabeln Handbücher, die für Rhetoriker zusammengestellt worden waren; als sich die Hauptfunktion der Fabelbücher von Nachschlagewerken zur erbaulichen oder vergnüglichen Lektüre wandelte, wurden die Promythien durch Epimythien ersetzt oder gänzlich fallengelassen. Außer zur novellistischen Vita Aesopi leistete P. auch einen bedeutenden Beitrag zur Unters, anderer früher Beispiele der Erzählliteratur und des Volksbuchs. Seine wichtigsten Veröff.en auf diesem Gebiet sind eine Studie über das Sindbadbuch (-• Sieben weise Meister), eine Arbeit über die literar. Überlieferung von AaTh 823 A*: Mother Dies of Fright when she Learns that she was about to Commit Incest with her Son (-* Inzest) und eine Reihe einflußreicher Vorlesungen über den griech. und röm. Roman 6 . 1 Am wichtigsten sind P., Β. Ε.: The Origin of the Epimythium. In: Transactions of the American Philological Assoc. 71 (1940) 391-419; id.: Fable. In:

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Perseus

Studium Generale 12 (1959) 17-37; id.: Demetrius of Phalerum and the Aesopic Fables. In: Transactions of the American Philological Assoc. 93 (1962) 287-346. - 2 id.: Babrius and Phaedrus. Newly Edited and Translated into English, Together with an Historical Introduction and a Comprehensive Survey of Greek and Latin Fables in the Aesopic Tradition. Cambr., Mass. 1965. - 3 Dijk, G.-J. van: Ainoi, Logoi, Mythoi. Fables in Archaic, Classical, and Hellenistic Greek Literature. With a Study of the Theory and Terminology of the Genre. Leiden u. a. 1997, 3 - 3 7 . - 4 z . B. P. (wie not. 2) xix-xxxiv. 5 id. 1940 (wie not. 1). - 6 id.: The Origin of the Book of Sindbad. In: Fabula 3 (1959) 1 - 9 4 ; id.: Secundus the Silent Philosopher. Ithaca, Ν. Y. 1964; id.: The Ancient Romances. A Literary-Historical Account of Their Origins. Berk. 1967. L i t . : Heller, J. L.: Commemoration: Β. E. P. In: Classical J. 64 (1968) 143 sq. - Classical Studies. Festschr. Β. E. P. Urbana, 111. 1969. - Megas, G. Α.: Β. Ε. P., 1892-1968. In: Laographia 27 (1971) 344 sq. - Who Was Who in America, with World Notables 5. Chic. 1973, 565. - Calder III, W. M.: Β. E. P. In: Biographical Diet, of North American Classicists, ed. W. W. Briggs, Jr. Westport, Conn. 1994, 494-496. Bloomington

William H a n s e n

Perseus, H e l d d e r griech. M y t h o l o g i e 1 . P. w i r d u. a. v o n H o m e r (Ilias 14,319 sq.) erw ä h n t , die w i c h t i g s t e n Q u e l l e n d e r P. sage sind die M y t h o g r a p h e n P s e u d o - A p o l l o d o r o s 2 u n d ->• H y g i n u s (Fabulae 63 sq.) s o w i e -> O v i d (Metamorphosen 4,663-5,235). Episoden der P.sage sind a u c h o f t in d e r a n t i k e n K u n s t d a r gestellt. D i e f o l g e n d e Z u s a m m e n f a s s u n g e n t s p r i c h t d e r D a r s t e l l u n g des P s e u d o - A p o l l o d o ros: König Akrisios von Argos erfährt durch einen Orakelspruch, daß sein eigener Enkel, der künftige Sohn seiner Tochter -» Danae, ihn töten werde (Mot. Μ 343.2). Um dies zu verhindern, läßt Akrisios Danae in einen unterirdischen Raum sperren (Mot. Τ 381), in den aber -» Zeus in Form eines goldenen Regens eindringt. Aus der Verbindung geht P. hervor. Als Akrisios von dem Kind erfährt, läßt er Mutter und Sohn in einer Kiste ins Meer werfen (-» Aussetzung). Diese wird auf der Insel Seriphos angetrieben und von Diktys, dem Bruder des Königs Polydektes, gefunden, der den Jungen großzieht. Polydektes verliebt sich in Danae. Um P. loszuwerden, beauftragt er ihn, das Haupt der -> Gorgo Medusa zu holen (Mot. Η 1332.3). Bei der Lösung dieser lebensgefahrlichen Aufgabe stehen dem P. der -> Götterbote Hermes sowie die Göttin Athene

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zur Seite. Sie schicken ihn zu den -» Graien, die er zwingt, ihm den Weg zu den Nymphen zu zeigen. Bei diesen beschafft er sich Flügelschuhe (Mot. D 1065.5), Zaubertasche und -> Tarnkappe (Mot. D 1361.15). Nachdem er von Hermes ein Sichelschwert bekommen hat, fliegt P. zum Fluß Okeanos, an dem er die drei Gorgonen (Mot. F 526.3) schlafend findet. Um bei deren Anblick nicht -» versteinert zu werden (Mot. D 581), schaut P. ihr Spiegelbild (-> Spiegel) in seinem Schild an. Mit Hilfe Athenes schlägt er der schlafenden Medusa den Kopf ab, darauf entspringen ihrem Leib der -» Pegasus (Mot. D 447.3.2) und der Held Chrysaor. P. steckt das Haupt der Medusa in seine Tasche und fliegt fort; die Tarnkappe verhindert, daß ihre beiden unsterblichen Schwestern ihn verfolgen können. Auf der Heimreise kommt P. nach Aithiopien, wo Andromeda, die Tochter des Königs Kepheus, einem Seeungeheuer geopfert werden soll, das Poseidon zur Strafe für die -» Hybris ihrer Mutter Kassiepeia gesandt hatte. Aufgrund eines Orakels hatte das Volk den König gezwungen, Andromeda dem Monstrum an einen Felsen gebunden auszuliefern (Mot. Β 11.10). P. verliebt sich in Andromeda und tötet das Ungeheuer gegen das Versprechen, sie zur Frau zu bekommen (Mot. R 111.1.3, Τ 68.1). Doch nun zettelt Phineus, der Bruder des Königs, mit dem die Prinzessin ursprünglich verlobt gewesen war, eine Verschwörung gegen den jungen Mann an. Als P. das Komplott entdeckt, zeigt er Phineus und seinen Mitverschwörern das Gorgonenhaupt, worauf sie zu Stein werden. Ebenso verfährt P. bei seiner Heimkehr nach Seriphos mit Polydektes und dessen Freunden. Er macht Diktys zum König der Insel, gibt die geborgten Zaubergegenstände zurück und schenkt das Gorgonenhaupt Athene. Dann reist er zusammen mit Danae und Andromeda nach Argos, um Akrisios zu besuchen. Bei einem Wettkampf im Diskuswerfen trifft er unabsichtlich Akrisios in den Fuß und tötet ihn auf der Stelle. Beschämt darüber, daß er nun die Herrschaft über Argos antreten soll, tauscht er sein Königreich gegen das des Königs Megapenthes von Tiryns. Andromeda gebiert P. fünf Söhne, darunter Perses, den Stammvater der pers. Könige, und Elektryon, den Vater der Alkmene (Gattin des -> Amphitryon, Mutter des Herakles). S c h o n in d e n a l t e n Q u e l l e n sind einzelne E p i s o d e n u n t e r s c h i e d l i c h lokalisiert. So f a n d einigen A u t o r e n z u f o l g e P.s K a m p f gegen d a s S e e u n g e h e u e r n i c h t in A i t h i o p i e n , s o n d e r n im p a l ä s t i n . I o p p e ( J a f f a ) statt, w o A n d r o m e d a s Fesseln n o c h in s p ä t e r e n Z e i t e n gezeigt w u r d e n 3 . N a c h H y g i n u s ist A g e n o r A n d r o m e d a s Verlobter, t r a c h t e t a b e r wie P h i n e u s P. n a c h d e m Leben und wird dabei von Kepheus unt e r s t ü t z t . M e h r f a c h w i r d b e r i c h t e t , d a ß P. die Stadt Mykene gründete4.

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Persien - Personifikation

Als Biogr. eines idealisierten kgl. Jünglings weist die P.sage Ähnlichkeit mit vielen griech. und nichtgriech. Heldensagen auf. Wie einige andere Helden auch hat P. sowohl menschliche als auch göttliche Vorfahren. Der Name P. mit seinem Suffix -eus gehört zu einer Gruppe nicht völlig geklärter Heldennamen (cf. -» Peleus, -» Achilleus, -» Odysseus), deren Träger in den traditionellen Stammbäumen relativ weit oben stehen. Die Namen ihrer Nachkommen sind dagegen gewöhnlich eindeutig griech. Komposita (Neoptolemos, Telemachos, Agamemnon) 5 . Wie andere griech. Helden ist P. eng mit Örtlichkeiten verbunden, die in der myken. Periode von Bedeutung waren, was darauf schließen läßt, daß diese Sagen damals ihre wesentliche Form erhielten 6 . Es ist daher wahrscheinlich, daß die Figur des P. alte Wurzeln in Griechenland hat und die P.sage etwa um 1200 a. Chr. n. ihre Gestalt annahm. Die Andromeda-Episode der P.sage stimmt in zahlreichen Elementen überein mit AaTh 300: cf. -» Drache, Drachenkampf, Drachentöter: Der Held kommt in ein Land, das von einem Ungeheuer heimgesucht wird, so daß der König gezwungen ist, diesem seine Tochter zu opfern. Der Held verliebt sich in die Prinzessin, tötet das Ungeheuer im Kampf und rettet sie damit. Das Ungeheuer steht oft in irgendeiner Weise mit Wasser in Zusammenhang. Nur bedingt wiederzuerkennen ist hingegen die Episode, in der ein falscher Held Ansprüche geltend macht. In vielen Märchen dieses Typs schlägt ein Betrüger dem (bereits toten) Drachen den Kopf (Köpfe) ab und verlangt die Prinzessin als Preis; der echte Held kann allerdings die Drachenzunge(n) als Beweis dafür vorzeigen, daß er derjenige ist, der den Drachen erschlagen hat (Mot. Η 105.1). Eine mögliche Spur dieser Betrügergestalt läßt sich in der P.sage in der Gestalt des Phineus ausmachen, der nach der Tötung des Ungeheuers als Rivale um die Hand Andromedas auftritt 7 . Phineus erscheint genau an der Stelle der Erzählung, an der im Märchen der Betrüger auftaucht, und wie dieser beansprucht er den Preis des Helden, scheitert und wird bestraft. Der Unterschied zwischen dem falschen Helden und Phineus besteht lediglich in der Grundlage ihres Anspruchs: Der Betrüger im Märchen behauptet fälschlich, er habe den Drachen getötet; Phineus weist auf ein tat-

sächlich bestehendes früheres Verlöbnis mit der Königstochter hin. Darüber hinaus zeigt AaTh 581: The Magic Object and the Trolls, ein seltenes, in Deutschland und Skandinavien aus mündl. Überlieferung belegtes Märchen 8 , auffallende Parallelen zur P.sage. In AaTh 581 stiehlt der Held das einzige Auge von drei alten Frauen, erwirbt dadurch verschiedene Zaubergegenstände (cf. auch AaTh 518: Streit um Zaubergegenstände) und rettet eine Prinzessin, die er heiratet. Unsicher ist, wie man sich diese Übereinstimmung erklären soll. ' Literar. und kunsthist. Qu.n: Kuhnert, Ε.: P. In: Roscher, W. H. (ed.): Ausführliches Lex. der griech. und röm. Mythologie 3,2. Lpz. 1909, 1 9 8 6 - 2 0 6 0 ; Woodward, J.: P. Α Study in Greek Art and Legend. Cambr. 1937; Hunger, H.: Lex. der griech. und röm. Mythologie. Wien 6 1969, 3 2 0 - 3 2 4 ; Roccos, L. J.: P. In: Lex. Iconographicum Mythologiae Classicae 7,1. Zürich/Mü. 1981, 3 3 2 - 3 4 8 ; Carpenter, Τ. Η.: Art and Myth in Ancient Greece. L. 1991, 1 0 3 - 1 1 6 ; Napier, A. D.: Foreign Bodies. Performance, Art, and Symbolic Anthropology. Berk. 1992, 77—111; Gantz, T.: Early Greek Myth. Baltimore 1993, 2 9 9 - 3 1 6 ; Reid, J. D.: The Oxford Guide to Classical Mythology in the Arts 1 3 0 0 - 1 9 0 0 t. 2. N . Y./Ox. 1993, 8 7 0 - 8 8 3 ; Unters.en zur P.sage: Hartland, Ε. S.: The Legend of P. A Study of Tradition in Story, Custom, and Belief 1 - 3 . L. 1 8 9 4 - 9 6 ; Schmidt, H.: Jona. Eine Unters, zur vergleichenden Religionsgeschichte. Göttingen 1907, 12—22; Nilsson, Μ. P.: The Mycenaean Origin of Greek Mythology. Berk. 1932, 3 6 - 4 2 ; Krappe, Α.: La Legende de Persee. In: Neuphilol. Mittigen 34 (1933) 2 2 5 - 2 3 2 ; Sicard, H. von: P. und Pygmalion in Afrika. In: Laographia 22 (1965) 4 9 8 - 5 1 2 ; Fontenrose, J.: Python. Α Study of Delphic Myth. Berk. 1959, 2 7 5 - 3 0 6 . 2 Apollodorus: The Library 1. Übers. J. G. Frazer. L./N. Y. 1921, 1 5 2 - 1 6 3 (2,4,1-2,4,5). - 3 z . B. Pausanias 4,35,9; Josephus Flavius, Bellum Judaicum 3,9,3. - 4 z . B . Pausanias 2,16,3. - 5 N i l s s o n (wie not. 1) 26. - 6 ibid., 3 6 - 4 2 . - 7 Hartland (wie not. 1) t. 3, 152. - 8 ibid. 1, 3 1 - 3 4 ; 3, 164; BP 1, 536, not. 1.

Bloomington

William Hansen

Persien -» Iran Personennamen

Name

Personifikation (aus lat. persona: Maske, Gestalt und facere: machen), ein in den Bereich der -> Allegorie gehörendes Verfahren,

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Personifikation

bei dem abstrakte Begriffe oder Naturphänomene in menschlicher Gestalt dargestellt werden. Personifizierte Körperteile sind dem Bereich des pars pro toto zuzuordnen, Tiere mit menschlichen Verhaltensweisen dem der Anthropomorphisierung. Aus der klassischen Rhetorik in den Figuren der Prosopopöie, der Ethopöie und der personae fictio bekannt, werden P.en auch in Mythen (ζ. B. Chronos als Gott der Zeit, Nike als Göttin des Sieges), Sagen (Darstellung der Pest) 1 , Ätiologien und Märchen verwendet. Märchen personifizieren vor allem Zeit- und Naturphänomene wie -> Monate und Wochentage, Tag und Nacht, -> Wind und Sonne. J. Polivka 2 geht in seiner Studie über die P.en von Tag und Nacht u. a. auf Var.n von AaTh 334: - Lang der Ansicht, daß diese Überlieferungen bei verschiedenen Völkern unabhängig voneinander entstanden seien (-• Polygenese) 9 .

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Winde, die im Zaubermärchen personifiziert werden, erscheinen in einer Doppelrolle: zuerst als Gegenspieler, dann als Schenker (-• Ratgeber). Oft treten drei Personen auf, und jede besitzt die charakteristischen Eigenschaften des von ihm vertretenen Windes: Der Südwind läßt alles vertrocknen, der Nordwind bringt Kälte und Frost, der Ostwind zerstört alles. In Var.n von AaTh 408: Die drei -> Orangen kommt der Held auf seiner Suche nach den wunderbaren Früchten nacheinander zu Sonne, Mond und Wind sowie den jeweiligen Müttern (cf. ->• Teufelsmutter, Teufelsgroßmutter) und erhält wichtige Hinweise für seine Suche (cf. auch AaTh 451: -» Mädchen sucht seine Brüder, Kap. 5). Der personifizierte Wind kommt aber auch in anderen Erzählformen vor, in denen es um eine Kraftprobe zwischen dem Wind und einer anderen Naturgewalt geht und die bei AaTh unter den Tiermärchen klassifiziert sind. In dem eher didaktischen Erzähltyp AaTh 298: Streit zwischen Sonne und Wind bleiben beide Naturphänomene abstrakt. In dem schwankhafteren Erzähltyp AaTh 298 B*: cf. Gruß an den Wind streiten Frost und Wind um das Gerstenfeld eines Bauern. In AaTh 298 A: -> Frost und Sohn wollen zwei personifizierte Fröste einen Herrn und einen Bauern quälen, von letzterem erhält der Frost eine tüchtige Tracht Prügel. Personifizierungen von Monaten und Wochentagen erinnern ζ. T. an ma. Streitgedichte über personifizierte -» Jahreszeiten (-» Streitgespräch) 10 . In Var.n von AaTh 403: Die schwarze und die weiße -> Braut und AaTh 480: Das gute und das schlechte -> Mädchen begegnet die Heldin, die von ihrer Stiefmutter mitten im Winter zum Pflücken von Erdbeeren oder Blumen geschickt wird, den Pen der Monate in Gestalt von zwölf Männern (-• Wintergarten) 11 ; in der bulg. Überlieferung ist der Monat März weiblich personifiziert (Baba Marta, cf. BFP *294 Β, *294 B*, *735**, *830 E*). Vor allem in der slav. Überlieferung ist der Sonntag mit dem ihm anhängenden Arbeitsverbot in Erzählungen, die eher Sagen als Märchen sind, in der Gestalt der Frau Sonntag personifiziert 12 . Auch andere Begriffe der menschlichen Erfahrungswelt erscheinen in Volkserzählungen in personifizierter Form, vor allem - Neides) magische Festhaltekraft, und Invidia hält den Tod so lange fest, bis der Tod dem Neid Unsterblichkeit verspricht 15 . Diese Erzählung hat den schwankhaft-ätiologischen Subtyp AaTh 330 D beeinflußt. Sein Held heißt .Misere' und ist die P. des Elends. Als der Tod das Elend am Ende seines Lebens holen will, hält es ihn in der üblichen Weise fest und läßt ihn erst frei, nachdem er versprochen hat, niemals wiederzukommen, „und darum wohnt das Elend noch immer fort in der Welt" 16 . Das Allegorische dieser Erzählung wird in manchen Var.n noch dadurch betont, daß der Held Misere einen Hund namens ,Pauvrete' hat, doch bleibt das Ätiologische hier dem Schwankhaften untergeordnet. Ohne jede Magie wird der Tod in AaTh 332: -» Gevatter Tod überlistet, in dem er als Mann oder, in süd- und osteurop. Fassungen entsprechend des femininen grammatikalischen Geschlechts des Wortes für Tod in slav. Sprachen, als Frau personifiziert (Tödin) 17 auftritt:

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Er verleiht seinem Patenkind die Gabe, den Ausgang jeder Krankheit voraussagen zu können, je nachdem, ob er den Tod am Kopf- oder am Fußende des Krankenbetts erblickt. Oft ist der Erzähltyp mit AaTh 1199: Gebet ohne Ende kontaminiert: Als der Tod den Helden selbst holen will, erhält jener einen Aufschub, um ein Vaterunser zu beten, doch mitten im Gebet hält er inne, und der überlistete Tod muß gehen. In einem Meisterlied des Hans ->• Sachs hingegen verkleidet sich der durch die Unterbrechung des Vaterunsers überlistete Tod als Kranker und bittet den Arzt, für ihn zu beten. Dieser kommt dem Wunsch ohne Überlegen nach, und so kann ihm der Tod den Hals umdrehen 18 . In Var.n von AaTh 331: Geist im Glas, gelegentlich auch mit Var.n von AaTh 332 und AaTh 330 als Ausgangsepisode kontaminiert, fängt der vom Tod Gesuchte diesen in einer Flasche. Frz. Var.n von AaTh 332 kombinieren die P. des Todes als Mann mit der Darstellung des Lebens als Gegenstand: Der Tod zeigt dem Arzt die Lebenslichter - Kerzen, die für jedes einzelne menschliche Leben brennen (cf. auch External soul). Der Tod weist ihm sein eigenes Lebenslicht, das am Verlöschen ist, widersteht seinen Bitten und läßt ihn sterben (cf. AaTh 1187: ^ Meleager). In dem u. a. in der jüd. und arab. Überlieferung belegten Erzähl typ AaTh 945: -> Glück und Verstand sind zwei abstrakte Begriffe durch zwei Streitende personifiziert, die beide von sich behaupten, der Stärkere zu sein. Der Verstand verleiht einem Bauern die nötige Klugheit, um eine stumme Prinzessin zum Sprechen zu bringen. Obwohl der König seine Tochter demjenigen versprochen hat, der dies zustandebringt, verurteilt er den Bauern zum Tode. Das Glück rettet ihn im letzten Augenblick. In all diesen Erzählungen trägt die Person den Namen des von ihr verkörperten Begriffs, so daß die P. klar aus der Erzählung hervorgeht. Eine andere Ebene stellt die Deutung von Erzählungen dar. So ist die alte Spinnerin in AaTh 410: Schlafende Schönheit, durch die sich die Prophezeiung der bösen Fee verwirklicht, oft mit Bezug auf die Moiren der griech. Mythologie (-> Schicksalsfrauen) als Bild des Schicksals gedeutet worden. In gleicher Weise wurden die Feen, die die Heldin bei

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Peru

ihrer Geburt mit Gaben ausstatten, mit Gestalten des Volksglaubens in Zusammenhang gebracht, deren Gunst man sich durch verschiedene Aufmerksamkeiten sichern mußte. Da aber in diesem Märchen der Name der Feen durch nichts an das Wort Schicksal erinnert, ist dies dem Bereich der ->• Symbolik zuzurechnen, die mehr als die P. im eigentlichen Sinne immer einer Interpretation unterworfen ist. I cf. Lindow, J.: Personification and Narrative Structure in Scandinavian Plague Legends. In: Arv 2 9 - 3 0 (1973-74) 8 3 - 9 2 . - 2 Polivka, G.: Pen von Tag und Nacht im Volksmärchen. In: ZfVk. 26 (1916) 313 — 322; id.: Nachträge zu den Pen von Tag und Nacht, ibid. 27 (1917) 68 sq.; id.: Noch ein Nachtrag zu den Pen von Tag und Nacht im Volksmärchen, ibid. 29 (1919) 44sq. - 3 id. 1916 (wie not. 2) 316; Leskien, A./Brugman, K.: Litau. Volkslieder und Märchen. Aus dem preuss. und dem russ. Litauen. Straßburg 1882, 459 sq. - 4 Polivka 1916 (wie not. 2) 315; Afanas'ev, num. 104. - 5 Polivka 1916 (wie not. 2) 314. - 6 ibid. - 7 ibid., 313. - 8 Waldau, Α.: Böhm. Märchenbuch. Prag 1860, 574; cf. Polivka 1916 (wie not. 2) 318 sq.; Marzolph 301 III. - 9 Polivka 1916 (wie not. 2) 316; Lang, Α.: Myth, Ritual and Religion. L. 1887, 116 sq. - '"Fischer, H.: Studien zur Märendichtung. Tübingen 2 1983, 76. — II Loukatos, D.: Le Conte des „Douze Mois" et ses particularites ecologiques en Grece. In: Laographia 38 (1995-97) 7 2 - 8 4 . - 12 Kretzenbacher, L.: Sveta Nedelja — Santa Domenica — Die hl. Frau Sonntag. Südslav. Bild- und Wortüberlieferungen zur Allegorie-P. der Sonntagsheiligung mit Arbeitstabu. In: Die Welt der Slaven 27 (1982) 106-130. - 13 Berg, M. van den: De dood en de doden in het vlaamse sprookje. In: Vk. 91 (1990) 166-188. - 14 Schwarzbaum, H.: The Overcrowded Earth. In: Numen 4 (1957) 5 9 - 7 4 , hier 61. - 15 BP 2, 185. - 16 BP 2, 186. - 17 Hanika, J.: Die Tödin. In: Bayer. Jb. für Vk. (1954) 171-184. - 18 Sachs, H.: Sämtliche Fabeln und Schwänke 4. ed. E. Goetze/C. Drescher. Halle 1903, num. 448.

Kopenhagen

Michele Simonsen

Peru (1995: ca 24 Millionen Einwohner; Amtssprachen: Spanisch, Ketschua, Aymarä). In der Mehrzahl leben in P. Mestizen, darüber hinaus verschiedene indigene Gruppen, unter denen die Ketschua aufgrund der hist. Bedeutung ihrer Kultur und Sprache hervorzuheben sind 1 , sowie afroamerik., asiat. und europ. Minderheiten. Der ethnischen Zusammensetzung P.s entsprechend läßt sich in der Erzählüberlieferung

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eine Strömung vorspan. indigenen Ursprungs von einer solchen europ. Herkunft unterscheiden, die beide Ausdruck in Tiererzählungen, formelhaften Erzählungen, Zaubermärchen, Schelmengeschichten, Legendenmärchen, kurzen satirisch-witzigen Erzählungen sowie in Sagen finden, von denen einige sich durch die starke Präsenz mythischer Wesen auszeichnen 2 . Frühe Aufzeichnungen aus christl. Perspektive sind durch span. Chronisten überliefert ( ^ Inka) 3 . Die vorspan. einheimische Tradition zeichnet sich durch die Leichtigkeit, mit der die Erzählungen entwickelt werden, und die Tiefe der Beschreibungen aus. Charakteristisch, wie für die gesamte südamerik. Erzählüberlieferung insgesamt, ist das Auftreten zauberkundiger Wesen in Gestalt von Tieren. Ein typisches Ketschua-Thema ist die Verführung bzw. der Raub einer jungen Frau durch einen Kondor, der oft als Halbgott oder tierische Gottheit erscheint 4 . In einer Kondor-Erzählung, in der die Geliebte eines Kondors zur Heirat mit einem Menschen gezwungen wird, stirbt sie in der Hochzeitsnacht, doch wird sie später an bestimmten Tagen auf den Gipfeln der Berge in leuchtend bunten Kleidern gesehen 5 . Bes. bezeichnend für die peruan. Erzähltradition sind Geschichten über Condenados (Verdammte) 6 , in denen nach J. M. Arguedas die peruan. Ketschua-Erzählkunst ihren vielschichtigsten und tiefsten Ausdruck findet7. Der Condenado ist ein Verschlingerwesen, das Menschen, Tiere, vom Menschen gemachte Gegenstände und Teile der materiellen Welt frißt; er ist von außergewöhnlicher Stärke und Schnelligkeit und besitzt die Fähigkeit, sich zu verwandeln. Nach Arguedas' Ansicht ist er kein Toter, sondern ein büßend Umgehender (-• Wiedergänger) 8 . Condenado-Erzählungen haben sich in P. sowohl in ursprünglichen Formen erhalten als auch integriert in zwei Erzählkreise offensichtlich europ. Ursprungs, die - Bärensohn-Thema 10 . Eine solche Verknüpfung peruan. Traditionen mit der Magischen Flucht veranschaulicht eine von Arguedas aus dem Ketschua aufgezeichnete Condenado-Erzählung". Hier verwandelt sich eine Leiche, die ein junger Mann mit Fußtritten behandelt

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Peru

hat, in der folgenden Nacht in eine junge Frau, eine Condenada. Diese zwingt ihn, sie zu begleiten, bis sie erlöst werde, gestattet dem Mann jedoch den Besuch der Kirche zur hl. Jungfrau. Von der Mutter Gottes erhält er Besen, Seife und Horn, die ihm schließlich zur Flucht und zum Ertränken der Condenada verhelfen. Die Sammlung, Veröffentlichung und wiss. Unters, von Volkserzählungen begann in P. strenggenommen erst zu Anfang des 20. Jh.s12. Bahnbrechend war dabei der Mediziner A. Vienrich (1867-1908) mit seinen Sammlungen von Volkserzählungen13. Unter seinen Nachfolgern ist zunächst der Arzt und Ethnologe A. Jimenez Borja (geb. 1908) zu nennen, der u. a. zeitgenössische Sagen sammelte und in ihnen Elemente nachwies, die sich bereits in alten Chronikberichten finden14. Der Geistliche, Ethnologe und Philologe J. A. Lira (1908-84), auch Herausgeber eines Ketschuaspan. Wb.s, sammelte vor allem in der Gegend um Cusco 15 . Mit traditionellen Festen, aber auch mit Volkserzählungen beschäftigte sich V. Navarro del Äguila (1909-48), der erste Lehrstuhlinhaber für Folklore an der Univ. Cusco 16 . Der Schriftsteller, Anthropologe und Folklorist Arguedas (1911-69) trat sowohl durch seine Slgen von Liedern, Märchen und Lokalsagen als auch durch seine Analysen hervor und publizierte Volkserzählungen zusammen mit dem Schriftsteller F. Izquierdo Rios (1910-81) 1 7 . Der Navarro del Äguila auf dem Lehrstuhl nachfolgende E. Morote Best (1921-89) beschäftigte sich vor allem mit Erzählüberlieferungen der Andenregion 18 . Der wiederum Morote Best auf dem Lehrstuhl folgende D. Roca Wallparimachi (geb. 1923) widmete sich u. a. Erzählungen, die mit Volksglaubensvorstellungen verbunden sind 19 . Für die neuere Zeit sind M. Merino de Zela (geb. 1922)20 und J. J. Garcia Miranda (geb. 1950)21 zu nennen. 1942 wurde an der Univ. von Cusco der Lehrstuhl für Folklore eingerichtet. Seit 1953 besteht mit Sitz in Cusco die Sociedad Peruana de Folklore mit ihren Publ.sorganen Boletln 1 sqq. (1952 sqq.) und Archivos peruanos de folklore 1 sqq. (1955 sqq.). Morote Best, Präsident dieser Ges., war auch als Herausgeber der Zs. Tradition. Revista peruana de cultura 1 sqq. (1950 sqq.) tätig. In Lima hat das

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Comite Interamericano de Folklore seinen Sitz, dessen Organ Folklore Americano 1 sqq. (1953 sqq.) auch peruan. Folklore berücksichtigt. 1 cf. die Anthologie von Bendezü Aybar, E.: Literature quechua. Caracas 1980; Farfan, J. Μ. B.: Coleccion de textos quechuas del Perü. In: Revista de Museo Nacional 16 (1947) 8 5 - 1 2 2 , 17 (1948) 120-150, 18 (1949) 121-166, 1 9 - 2 0 (1950-51) 191-269. 2 Palma, R.: Tradiciones peruanas 1 - 6 . Madrid 1958/52/53/53/53/54; Cuento popular andina 1. Quito 1983, 323-430, num. 1 - 2 5 (peruan.); Florian, M.: La narrativa oral popular de Cajamarca y su ordenacion por clases. Lima 1988; Merino de Zela, M.: La investigation de la literatura oral en America latina. In: Folklore americano 50 (Juli-Dez. 1990) 3 9 - 4 6 ; Krickeberg, W.: Märchen der Azteken und Inkaperuaner. MdW 1968, bes. 273, 277 sq.; cf. auch Carvallo de Nunez, C.: P. In: LKJ 3 (1984) 15-17. - 3 Sarmiento de Gamboa, P.: Geschichte des Inkareiches, ed. R. Pietschmann. B. 1906; cf. auch Lit. bei Krickeberg (wie not. 2) 340-343; Avila, F. de: A Narrative of the Errors, False Gods, and Other Superstitions and Diabolical Rites in which the Indians of the Provinces of Huarochiri, Mama and Chaclla Lived in Ancient Times [...] [1608?]. In: Narratives of the Rites and Laws of the Yncas. ed. C. R. Markham. Ν. Y. 1873, 121-147; Trimborn, H./Kelm, Α.: Francisco von Avila. Β. 1967; cf. auch Niles, S. Α.: South American Indian Narrative. An Annotated Bibliogr. N. Y./L. 1981, 206, 288a und b, 412, 421, 455, 492, 525. 4 cf. ζ. B. Karlinger, F./Zacherl, E.: Südamerik. Indianermärchen. MdW 1976, num. 87. - 5 Arguedas, J. M.: Cuentos religioso-mägicos quechuas de Lucanamarca. In: Folklore americano 8 - 9 (1960-61) 142-216, hier 213 sq. - 6 id.: Cuentos mägico-realistas y canciones de fiestas tradicionales: Folklore del valle de Mantaro, provincias de Jauja y Conception, ibid. 1,1 (1953) 101-293, hier 125-236. - 'Arguedas (wie not. 5) 196-211. - 8 ibid., 199. - 9 ibid, 200. - 10 ibid, 196. " i b i d , 169-172 (Ketschua-Orig.), 173-175 (span. Übers.). - 12 Arguedas, J. M.: Bibliografia del folklore perunao. Mexico/Lima 1960; Niles (wie not. 3); Giese, W.: Märchenforschung in Süd- und Mittelamerika (1940-1953). In: Romanistisches Jb. 6 (1953-54) 369-377, bes. 372 sq.; Angeles Caballero, C.: Folklore peruano 1 - 2 . Lima 1988/90. - 1 3 Unos Parias (i. e. Vienrich, Α.): Azucenas quechuas. Tarma 1905 (21959; Huancayo 3 [1970]); id.: Fäbulas quechuas. Tarmap Pachahuarainin. Apölogos quechuas por Unos Parias. Tarma 1906 ( 2 1961); id.: Azucenas quechuas. Fabulas Quechuas. ed. P. Diaz Ortiz. Lima 31999. - 14 Jimenez Borja, Α.: Imagen del mundo aborigen a traves de los relatos populäres. In: Tradition 2 (1951) H. 7 - 1 0 , 3 - 2 7 ; id.: Cuentos y leyendas del Peril. Lima 1940; id.: Cuentos peruanos. Lima 1937; Leyendas del Peru. In: „3"

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Pervonto — Pessimismus

( M ä r z - J u n i 1941) Η. 8, Suppl. - 15 Lira, J. Α.: Diccionario kkechuwa-espanol. Bogota (1945) 2 1982; id.: Carito de amor. Cuzco 1956; id.: Tutupaka llakta ο el mancebo que vencia al diablo. Anonimo quechua. Lima 1974; id.: Cuentos del Alto Urubamba. ed. bilingüe quechua y castellano 1. Cusco 1990. 16 Navarro del Aguila, V.: Cuentos populäres del Peru. El zorro y el ratön. In: Revista de la Seccion Arqueologica de la Univ. Nacional del Cuzco (1946) H. 2, 118-143. - 17 Arguedas, J. M./Izquierdo Rios, F.: Mitos, leyendas y cuentos peruanos 1 —4. Lima 1947; Arguedas, J. M.: Cancionero y cuentos del pueblo quechua. Lima 1949. - 1 8 Morote Best, E.: Dios, la Virgen y los Santos [...]. In: Tradicion 3 (1953) H. 12-14, 76-104; cf. weitere Lit. in Arguedas (wie not. 12) num. 429-439. - 1 9 Roca Wallparimachi, D.: El sapo, la culebra y la rana en el folklore actual de la pampa de Anta. In: Folklore. Revista de cultura tradicional 1,1 (1966) 41—66; id.: San Jeronimo y su participation en el Corpus Christi del Cusco. ibid., 3 - 4 0 ; id.: El hacendado y el condenado. In: Critica andina (1979). - 20 Merino de Zela (wie not. 2); ead.: Hacia una teoria del folklore peruano. In: ead. (ed.): Acerca del folklore. Lima 1991, 67 — 119; ead.: Vida y obra de Jose Maria Arguedas. In: Revista peruana de cultura (1971). 21 Garcia Miranda, J. J.: Lo holistico, histörico y proyectivo en las tradiciones populäres andinas. In: Folklore. Bases teoricas y metodologicas. Lima 1991, 218-228; id.: Mito y violencia en el Perü. In: Peni contemporäneo. El espejo de las identidades. ed. R. M. Bao/M. T. Bosque. Mexico 1993, 147-158.

Santiago de Chile

Manuel Dannemann

Pervonto -> Junge: Der faule J.

Pessimismus (von lat. pessimus: am schlechtesten, am schlimmsten) ist im Gegensatz zum -> Optimismus von einer negativen Weltsicht (->· Weltanschauung, Weltbild) getragen. P. bedeutet insbesondere eine Lebenseinstellung, die alle Dinge von der schlechtesten Seite nimmt, von allem das Schlimmste befürchtet. Die Psychologie sieht ein Hauptkriterium zur Unterscheidung von Pessimisten und Optimisten in der unterschiedlichen Art und Weise der Bewältigung von Problemen 1 . Pessimistische Tendenzen durchziehen die Volkserzählungen aller Kulturen und Religionen in unterschiedlich starker Ausprägung. Dabei unterscheiden sich die verschiedenen Gattungen nach dem Grad ihrer optimistischen bzw. pessimistischen Welthaltung. Diese

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zeigt sich ihrerseits hauptsächlich im guten oder schlechten Ausgang der Erzählungen, einem Umstand, der als Gattungskriterium gilt 2 . - Wunschdichtung, in denen sich „Böses zum Guten bekehrt" 3 , aber auch manche -» Legenden mit ihren Heilsversprechungen sind eher von Optimismus getragen; eine pessimistische Lebenseinstellung liegt hingegen den durch das Numinose und die Angst gekennzeichneten -> Sagen 4 sowie oft den -» Balladen wie auch dem -» Mythos s zugrunde. Die pessimistische Grundhaltung von Sagen wie Grimm DS 93: Blümelisalp6 oder Grimm DS 224: Die Wiesenjungfrau7 kann man darin sehen, daß die Erlösung, welche im Märchen gelingt, in diesen Geschichten eben gerade nicht stattfindet; andererseits vertrauen Sagenerzähler — gewissermaßen o p t i mistisch' — auf die Bestrafung der Normübertretung (ζ. B. Nahrungsfrevel, verweigerte Hilfe, Teufelsbündnis, Machtmißbrauch). Wenn Märchen schlecht ausgehen, handelt es sich vielfach um zersagte und verstümmelte Trümmerformen (-> Zersägen, zersingen) oder Übergangsformen zur Gattung Sage 8 . Der gute Ausgang ist für das eigentliche Märchen so formbestimmend, daß man nach L. Röhrich eigentlich von tragischen Märchen nicht sprechen kann 9 . K H M 19, AaTh 555: ^ Fischer und seine Frau ist daher weniger ein Märchen als vielmehr moralische Erzählung und Warnung vor den Folgen der -» Hybris. In einem Schwankmärchen wie AaTh 1415: -» Hans im Glück überwiegt der humoristische Anteil, wobei das äußerlich als schlecht zu verstehende Ende dadurch relativiert wird, daß Hans den objektiven Wertverlust seiner Tauschgeschäfte als Glücksfall versteht. Und die pessimistische Grundhaltung der wenigen Märchen, die mit dem Tod des Helden oder der Heldin enden bzw. keine Wiederbelebung des Getöteten aufweisen (AaTh 332: -> Gevatter Tod), läßt sich letztlich aus ihrem sagenartigen Charakter erklären 10 . Je mehr eine Erzählung mit moralischer oder belehrender Tendenz auftritt, desto schlechter steht es um das ,happy end' 11 . Didaktische Legendenmärchen, so heiter sie auch angelegt sein mögen, weisen deshalb keineswegs nur optimistische Züge auf. Ein schlechtes Ende nehmen ferner alle Erzählungen, welche schildern, wie die Wahrheit über

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Pessimismus

ein Verbrechen aufgedeckt wird (ζ. B. AaTh 780: -» Singender Knochen). Auch die sog. Warnerzählungen bzw. Schreckmärchen sind mit ihrer pädagogischen Zielrichtung häufig durch ein negatives Ende charakterisiert; allerdings erscheint es möglich, daß der pessimistische Schluß in vielen Fällen erst sekundär an die Märchen angehängt wurde 12 . Ein schlechtes Ende nehmen oft auch Kettenmärchen und eine Reihe von ätiologischen Erzählungen mit Sagencharakter, wie ζ. Β. K H M 172, AaTh 250 A: Flunder. Als pessimistisch von ihrer Grundstimmung her kann man auch manche Erzählungen schriftloser Völker finden. Hier spielen u. a. Jenseitsvorstellungen eine Rolle, die pessimistische Züge tragen. Wenn im Diesseits das Böse den Sieg davonträgt 1 3 oder das -» Jenseits als eine gerechtere Welt gesehen wird, die im Gegensatz steht zur ,verlogenen trügerischen Welt des Diesseits', so drückt sich darin ebenfalls eine pessimistische Grundhaltung aus 14 . Der glückliche Schluß des Zaubermärchens könnte daher auch als Resultat einer längeren kulturgeschichtlichen Entwicklung gesehen werden 15 , zumal auch die spätere Gattungsunterscheidung zwischen Sage und Märchen nicht von vornherein besteht und von den Uberlieferungsträgern selbst nur selten getroffen wird 16 . In Schöpfungsmythen, etwa in Geschichten (und auch in Liedern) um die Entstehung der verschiedenen Menschenrassen, kommt nach Auffassung von F. Karlinger auch der R der Unterprivilegierten zum Ausdruck, wenn der Erzähler ζ. B. Gott den Weißen, der -> Teufel aber den Schwarzen erschaffen läßt, und ein Affe, der dabei zusieht, aus den beiden übriggelassenen Teilen den Indianer oder den Mestizen formt 1 7 ; je nachdem, welche Erzähler sich dieses Stoffes annehmen, kann jedoch auch das Überlegenheitsgefühl bestimmter ethnischer Gruppen darin zum Ausdruck kommen. Zahlreiche Witze über Optimisten und Pessimisten basieren darauf, daß der gleiche Sachverhalt unterschiedlich empfunden bzw. interpretiert wird. So ist das Glas Wasser für den Optimisten halbvoll und für den Pessimisten halbleer. Oftmals mokieren sich Witze dieser Art über extremen Optimismus oder P., wenn nämlich beide Haltungen nur noch wenig mit der Realität zu tun haben. Auch die

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Fabel warnt - manchmal in komischer Form - vor dem P.: „Zwei Frösche waren zusammen in einen Sahnetopf gefallen - der eine ein Optimist, der andere ein Pessimist. Der Pessimist sagte: ,Dem Schicksal, das mich betroffen hat, kann ich doch nicht entgehen. Jede Rettung ist vergeblich!' Mit diesen Worten sank er unter und ertrank. Der Optimist dagegen sagte: ,Ich will kämpfen und strampeln, solange noch Kraft in mir ist; vielleicht geht alles gut.' U n d er strampelte und strampelte, eine Viertelstunde, eine halbe Stunde, eine Stunde. Nach Eindreiviertelstunden saß er auf der Butter." 18

R. Schenda beschreibt mit sozialhist. Ansatz auch semiliterar. Formen der Volksliteratur nach Kriterien von Optimismus bzw. P. und stellt fest, daß in allen populären Lesestoffen des 19. Jh.s der P. als Grundstimmung vorherrscht 19 . In vielen dieser Geschichten werde der Leser mit Schilderungen von - alltäglichen Erzählen, bei autobiogr. Berichten (-> Autobiographie) 21 und bei Lebensgeschichten 22 . Ebenso kann die Funktion über den pessimistischen bzw. optimistischen Grundton einer Erzählung entscheiden. Wenn die Erzählung etwa in Initiations- oder Jagdrituale eingebettet ist, soll sie ermutigen 23 , wenn sie Beerdigungen begleitet, soll sie trösten etc. Hist, wie funktionsgebundene Aspekte spielen auch in der Erzähltradition des Exempels (cf. auch -> Predigtexempel) eine Rolle. Diese schöpft in ihren Stoffen vielfach aus der ma. Überlieferung, einer Zeit, in der sich in vielen Gattungen ein P. zeigt, der teils religiös gefärbt, teils durch mystische Weltentsagung verklärt (-» Mystik), teils als Weltverachtung von Jenseits- und Dämonenfurcht gekennzeichnet ist 24 . Auch die Geschichten des ausgehenden MA.s und der Frühen Neuzeit tragen noch vielfach dieselben Züge der Verzweiflung, der Bußfertigkeit und der Angst 25 . So be-

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steht in der populären Lit. jener Zeit kein Verständnis für das Leichte der (späteren) Märchen, für ihre U n g e b u n d e n h e i t u n d ihre heitere Lebensstimmung 2 6 . Themen n o c h des 15. Jh.s sind Elend, Sünde und Verdammnis. J. Huizinga etwa sieht im späten M A . Niedergeschlagenheit und P. herrschen, „eine düstere, ernste, gespannte G r u n d s t i m m u n g " 2 7 . N o c h in den Fabeln -> Luthers zeigt sich „eine sehr pessimistische Einstellung zur Welt und vor allem zu den Menschen", indem v o n der Herrschaft des B ö s e n und der Schlechtigkeit in der Welt ausgegangen wird ( A a T h 155: Undank ist der Welt Lohn)2*. Eine dergestalt pessimistische G r u n d s t i m m u n g hat sich bis heute in m a n c h e n Volkserzählungen behaupten können. I cf. Scheier, M. F./Carver, C. S.: On the Power of Positive Thinking. The Benefits of Being Optimistic. In: Current Directions in Psychological Science 2 (1993) 2 6 - 3 0 . - 2 Ranke, Κ.: Betrachtungen zum Wesen und zur Funktion des Märchens. In: Studium Generale 11 (1958) 647 - 664, hier 654; cf. auch Eliade, M.: Wiss. und Märchen [1956], In: Karlinger, 311-319, hier 316; cf. auch Isler, G.: Die Sennenpuppe. Basel 1971, 233-236. - 3 Lüthi, M.: So leben sie noch heute. Göttingen 2 1976, 68. - 4 U t h e r , H.J.: Zauberhafte Landschaften. Zur Bedeutung von Natur und Landschaft in Volkserzählungen. In: Heindrichs, U. und H.-A. (edd.): Zauber Märchen. Mü. 1998, 6 9 - 1 0 7 , bes. 82 sq.; Lüthi, M.: Es war einmal. Vom Wesen des Volksmärchens. Göttingen 8 1996, 103-114, bes. 110 sq.; Lüthi, Märchen (81990), 7 sq. - 5 Bettelheim, B.: Kinder brauchen Märchen. B. 9 1986, 4 4 - 5 1 , hier 46 sq. - 6 Aschner, S.: Die dt. Sagen der Brüder Grimm. Diss. Β. 1909, 100; Lüthi, Μ.: Aspekte der Blümlisalpsage. In: SAVk. 76 (1980) 229-243; Kindermann-Bieri, B.: Heterogene Qu.n - homogene Sagen. Philol. Studien zu den Grimmschen Prinzipien der Qu.nbearb. [...]. Basel 1989, 284-294. - 7 M o t . D 791.1.3; Müller/Röhrich J 51. - 8 cf. Röhrich, L.: Märchen mit schlechtem Ausgang. In: HessBllfVk. 4 9 - 5 0 (1958) 236-248. - 9 ibid., 237. - 10 Solms, W.: Die Moral von Grimms Märchen. Darmstadt 1999, 144 sq. II Röhrich (wie not. 8) 239. - 12 cf. Petsch, R.: Formelhafte Schlüsse. B. 1900, 29 sq.; Rumpf, M.: Ursprung und Entstehung von Warn- und Schreckmärchen (FFC 160). Hels. 1955, 3 - 1 3 . - 1 3 cf. Finnegan, R.: Oral Literature in Africa. Ox. 1970, 378 sq. (Hausa). — 14 cf. Mode, H.: Zigeunermärchen aus aller Welt 3. Wiesbaden 1983, num. 169 (aus dem Kosovo). - 15 Röhrich (wie not. 8) 246. - 16 Ranke, F.: Sage und Märchen [1935]. In: id.: Kl.re Sehr. Bern/Mü. 1971, 189-203, hier 202. - 17 Karlinger, F.: Brasilian. Märchen. MdW 1973, num. 1 sq. — 18 Röhrich, L.: Der Witz. Stg. 1977, 105; Schneider,

I.: Traditionelle Erzählstoffe und Erzählmotive in Contemporary Legends. In: Homo narrans. Festschr. S. Neumann. Münster 1999, 165-179, hier 167. - 19 Schenda, R.: Volk ohne Buch. Ffm. 1970, 439. — 2 0 cf. Uffer, L.: Das Menschenbild im rätorom. Märchen. In: Vom Menschenbild im Märchen, ed. J. Janning u. a. Kassel 1980, 106-116. 21 Lehmann, Α.: Autobiogr. Erzählen in den sozialen Unterschichten. In: ZfVk. 73 (1977) 161-180. 22 cf. Stahl, S. K. D.: The Oral Personal Narrative in Its Generic Context. In: Fabula 18 (1977) 18-39; JFI 14,1-2 (1977) (Themenheft Stories of Personal Experiences). - 2 3 Propp, V.: Die hist. Wurzeln des Zaubermärchens. Mü./Wien 1987, bes. 454-462. 24 cf. Closs, Α.: Weltlohn, Teufelsbeichte, Waldbruder. Heidelberg 1934, bes. 2. - 25 cf. Gurevic, A. J.: Ma. Volkskultur. Mü. 1987, 2 5 - 2 7 , 201. - 2 6 Samson, H.: Beitr.e zum dt. Märchen im ausgehenden MA. (Diss. Köln 1931) Düren 1931, 92. - " H u i zinga, J.: Herbst des MA.s. Mü. 1924, 35, cf. auch 3 53. - 28 Rehermann, E. H./Köhler-Zülch, I.: Aspekte der Ges.s- und Kirchenkritik in den Fabeln von Martin Luther, Nathanael Chytraeus und Burkhard Waldis, In: Hasubek, P. (ed.): Die Fabel. B. 1982, 2 7 - 4 2 , bes. 3 0 - 3 2 , hier 30. Augsburg

Sabine Wienker-Piepho

Pest 1. Zur Geschichte der P. - 2. Die P. in der erzählenden Lit. - 2.1. Anzeichen des P.sterbens - 2.2. Erscheinungsformen der P. - 2.3. Der P.tod - 2.4. Schutzmaßnahmen gegen die P. 1. Z u r G e s c h i c h t e d e r P. D i e P. trat in Westeuropa zwischen d e m 6. und 8. Jh. sowie v o m 14. bis z u m 18. Jh. (letzte große P e p i d e mie: Südfrankreich 1 7 2 0 - 2 2 ) in ihren drei unterschiedlichen Erscheinungsformen (Beulenpest, Lungenpest, septikämische P.) auf. In Südosteuropa und Rußland blieb sie bis z u m 19. Jh. endemisch 1 . Während die frühma. P. sich im wesentlichen auf das Byzant. Reich und den Mittelmeerraum beschränkte, überz o g die P p a n d e m i e des Schwarzen Todes, die aus Mittelasien durch die Tataren auf die Krim eingeschleppt worden war 2 , seit 1347 in den folgenden fünf Jahren ganz Europa, w o bei nur wenige Gebiete aufgrund ihrer relativen Abgeschlossenheit unberührt blieben. D i e Verluste im Frühmittelalter k ö n n e n demographisch nicht quantifiziert werden, d o c h kann m a n d a v o n ausgehen, daß d e m Schwarzen Tod etwa ein Drittel der abendländ. Bevölkerung z u m Opfer fiel3.

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Über fast vier Jh.e blieb die P. endemisch präsent und brach in unregelmäßigen Abständen immer wieder aus; in manchen Orten konnten mehr als 50 P.epidemien vom 14. bis zum 18. Jh. nachgewiesen werden 4 . Hierdurch prägte und beschäftigte die P. wie nichts anderes das Bewußtsein und die Phantasie der Zeitgenossen. Zwar wurden alle Arten von Abwehrmaßnahmen (Quarantäne, Absonderung von P.kranken und der Krankheit Verdächtigten, Einrichtung von P.häusern zur Unterbringung P.kranker, Desinfektionen, Zerstörung der Häuser von P.toten und Vernichtung ihres Besitzes, bes. Vorkehrungen zur Beseitigung der P.toten, Gesundheitspässe und Hygienemaßnahmen etc.) 5 ergriffen, doch blieben sie weitgehend wirkungslos: Zum einen wußte man nicht wirklich, wovor man sich schützen sollte, zum anderen wurden die meisten dieser Maßnahmen nicht konsequent umgesetzt. Somit war die gesamte Vormoderne im eigentlichen Sinne schutzlos der P. ausgeliefert. Gleichwohl zeigte die Erfahrung, daß von kranken Personen ebenso wie von ihren Kleidern und den Räumen eine Gefahr ausging 6 . Eine Immunität bildete sich nicht heraus, jedoch hatten Personen, die schon eine oder mehrere P.epidemien überlebt hatten, größere Überlebenschancen als die mit ihr zum ersten Mal konfrontierten. Erst im 18. Jh. gelang es anläßlich der großen P.epidemie in Marseille (1720), die Stadt durch einen ,cordon sanitaire' abzuriegeln und damit die Ausbreitung der P. weitgehend erfolgreich zu verhindern 7 . Noch konsequenter waren die an der östl. Grenze des Habsburgischen Reichs eingeführten Schutzmaßnahmen, die im 18. Jh. bewirkten, daß die im russ. Reich und anderen benachbarten Gebieten weiterhin endemisch präsente P. sich nicht mehr nach Westen ausbreitete 8 . Der P.tod bedrohte alle Menschen ohne Rücksicht auf ihren sozialen Stand, ihr Alter oder ihr Geschlecht. Trotz dieser gleichmachenden Bedrohung waren die gesellschaftlich besser Situierten eher in der Lage, das einzige wirksame Gegenmittel gegen die P. zu realisieren, nämlich die Flucht (cf. die -» Rahmenerzählung von -» Boccaccios Decameronef. Der infolge des Massensterbens nach 1348 eingetretene Mangel an Arbeitskräften führte zwar kurzfristig zu verbesserten Verdienstmöglich-

774 keiten und offerierte freigewordene Arbeitsplätze, doch reagierten die Obrigkeiten hierauf schnell mit Lohnfestschreibungen, Abwerbeund Abzugsverboten 10 . Das Mißtrauen gegenüber mobilen Unterschichten dürfte sich infolge der ma. und frühneuzeitlichen P.epidemien zweifellos noch verstärkt haben, so daß zumindest auf der normativen Ebene die Abwehrmaßnahmen immer rigider festgeschrieben wurden. Der literar. Reflex dieser Abwehrhaltung ist weit gestreut. Auch ein anderes pestbedingtes Phänomen, der Anstieg von Heiraten, worunter häufig Wiederverheiratungen fallen, ist eine sozialgeschichtliche Folge, die in der Lit. thematisiert wird". 2. D i e P. in d e r e r z ä h l e n d e n L i t . Die mit der P. verbundenen Erzählmotive sind teils spezifischer, teils eher allg. Natur. Überschneidungen zu anderen -» Krankheiten (so etwa der Cholera) 12 gibt es bes. im Bereich der irrationalen Deutungen unverstandener Phänomene. 2.1. A n z e i c h e n d e s P . s t e r b e n s . Wie für viele Katastrophen (-• Katastrophenmotive) galten auch für die P. Naturphänomene (-• Prodigien) wie Konstellationen von Gestirnen, Kometen, Sonnenfinsternis, Erdbeben, Blitzschlag, Hagelschauer, Überschwemmungen oder Stürme als Anzeichen oder gar als Ursachen der P. und zwar sowohl in den von Medizinern verfaßten P.traktaten 13 als auch im Erzählgut. Der P.traktat des Wiener Predigers -> Abraham a Sancta Clara ist ein beredter Ausdruck dieser unterschiedlichen Vorstellungen 14 . Schneller als die Menschen sollen Tiere die drohende P.gefahr erkennen, so daß ihr ungewöhnliches Verhalten - Hähne, die nicht krähen; Hunde, die nicht bellen - als Anzeichen der P. galt 15 . Beim Menschen konnte Niesen als Beginn der P.erkrankung gedeutet werden, die durch fromme Wünsche (Helf Gott) noch abgewendet werden sollte 16 . Auch ein artfremdes Verhalten, ζ. B. von Vogelschwärmen 17 (vielleicht zu verstehen als Flucht vor der P.), wurde als Nahen der P. interpretiert. 2.2. E r s c h e i n u n g s f o r m e n d e r P. Gemeinhin findet sich im populären Erzählgut die Vorstellung von der P. als zoomorpher oder anthropomorpher Gestalt (-+ Personifi-

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kation), die durch das Land zieht 1 8 . Häufig benannte Tiere sind etwa ein roter -• Hahn, ein umherstreunender Hund oder landestypische Tiere, wie etwa ein Elch in Skandinavien oder die P.ziege in Estland 1 9 , wobei es sich in jedem Fall um ein von außen kommendes und nicht dem eigenen Tierbestand zugehöriges Tier handelt 2 0 . Hinzu kommen negativ besetzte Kleintiere wie Spinnen 2 1 oder Fliegen 2 2 , die entweder selbst als Träger der P. angesehen werden oder als deren Vorboten, wie etwa auch die -> Heuschrecken 2 3 . Unter den anthropomorphen Vorstellungen ist die der P. als fremder Frau weitverbreitet 2 4 . Auch hier sind es die abseits Stehenden, die Fremden 2 5 , -» alte Leute oder durch irgendwelche Auffälligkeiten (ζ. B. Kleinwüchsigkeit oder G r ö ß e ) aus der Norm fallende Menschen 2 6 , die als Verbreiter der P. gelten. Die von der P. ausgehende, alle in gleicher Weise betreffende tödliche G e f a h r wird in Deutschland in die Figur der -» blinden P.gestalt gekleidet 2 7 . Zu den anthropomorphen Verkörperungen der P. gehören schließlich Vorstellungen v o m P.geist, v o n der P. als gelbem Gespenst, v o m P d ä m o n oder v o m Tod und der Tödin, die als Pbringer auftreten können 2 8 . Eine dritte Vorstellung, die sich in der gesamten europ. Überlieferung findet, ist abgeleitet v o n der antiken Theorie des Miasma, der vergifteten krankmachenden Luft, die bis weit in die frühe Neuzeit hinein in der Diskussion über die Natur der P. Gültigkeit behielt 2 9 ; danach wird die P. vorgestellt als (gelbe) Wolke, Nebel, (blauer) Dunst oder Rauch 3 0 . A b e r auch mit den anderen Elementen, der ->• Erde, aus der P.rauch aufsteigt, oder mit dem -» Feuer, das in Gestalt kleiner Flammen die P. verbreitet, wird sie assoziiert 3 1 . Darüber hinaus gibt es ein weites Spektrum von Objekten, die als Verursacher der P. angesehen werden, sei es ein weißes Laken oder eine blaue Schürze, die über das Land schweben (erklärbar durch Assoziationen mit Leichentüchern oder den als Sperren gegen den P.hauch über die Straße gespannten Tüchern), oder eine Nuß, die ein Vogel fallen läßt, ein Fadenknäuel, ein Ei, ein Geldstück etc. 3 2 2.3. D e r P . t o d . Das durch die P. verursachte Massensterben wird nicht nur in ma.

776 und frühneuzeitlichen chronikalischen A u f zeichnungen unter dem Eindruck des schrecklichen Geschehens in völlig realitätsfernen Zahlen quantifiziert 3 3 . Angeblich sind in Lübeck im Jahr 1 3 5 0 zwischen Pfingsten und St. Michaelis 9 0 0 0 0 Menschen gestorben - eine Zahl, die die Lübecker Gesamtbevölkerung zu dieser Zeit um ein Vielfaches übersteigt; an einem einzigen Tag sollen es sogar 2 5 0 0 Menschen gewesen sein 3 4 . In ganz Europa ist das populäre Erzählgut voll v o n Berichten über die Entvölkerung ganzer Landstriche 3 5 . In ihrer Monogr. zum Thema der P.Überlieferungen hat die estn. Erzählforscherin R. Hiiemäe etwa 1 3 0 0 im Zeitraum 1 8 3 6 - 1 9 9 0 aufgezeichnete estn. Texte untersucht 3 6 . Die Greuel des Massensterbens spiegeln sich auch in Sagen über lebendig begrabene Personen bzw. über Schutzmaßnahmen gegen das Lebendigbegrabenwerden (cf. -» Scheintot) wider, was nicht zuletzt auch im Lied v o m lieben -• Augustin seinen Niederschlag fand. Bestimmte Beerdigungsbräuche, wie das Geleit des Leichenwagens durch acht Halloren (Mitglieder der Salzwirker-Brüderschaft in Halle), gehen auf Pepidemien zurück 3 7 . Viele Qu.η heben bes. die hohe Kindersterblichkeit bei einzelnen Epidemien hervor. Das Motiv des Verschwindens der K i n d e r v o n Hameln in der Rattenfängersage mag ein Reflex dieses Sachverhalts sein 3 8 . Auch der sog. plötzliche Tod, der die Menschen ohne v o r h e r wahrnehmbare Krankheitssymptome tot umfallen ließ 3 9 , hat seinen Niederschlag in der mündl. und literar. Verarbeitung der P e r f a h rung gefunden 4 0 .

2.4. S c h u t z m a ß n a h m e n g e g e n d i e P. Die Erfahrung zeigte, daß bei dem durch die P. verursachten Massensterben v o n Seiten der Ärzte keine wirkliche Hilfe zu erwarten war. Die in unzähligen P t r a k t a t e n empfohlenen Rezepte 4 1 unterschieden sich k a u m v o n den außergewöhnlichen Hilfen, die einzelnen Personen oder ganzen Landstrichen Rettung v o r der P. gebracht haben sollen, etwa eine goldene Wunderblume oder eine A n w e n d u n g mit lebenden Fröschen oder K r ö t e n 4 2 . Ähnlich wie bei der astrologischen Ursachendeutung lauten die Ratschläge zur Rettung v o r dem P.tod auch in den P.traktaten und im populären Erzählgut: Biberneil (Pimpinelle), Knoblauch,

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Baldrian, Korallenbeeren etc. wurden als Schutz gegen die P. empfohlen 43 . Auch ein anderes häufig gegen das Böse und übernatürliche Kräfte wirkendes Mittel soll gegen die P. geholfen haben, die Bannung durch Nennung ihres Namens 4 4 . Als Abwehrzauber galt ferner frisch gebackenes Brot, in das die P. hineinfahrt, während sie die Menschen verschont 45 . Um zu erklären, wie eine P.epidemie aufhört, stellte man sich die P. bisweilen beinlos und deshalb hilfsbedürftig vor: Wenn ζ. B. das Rad ihres Wagens brach, kam sie nicht weiter 46 . Stehendes oder fließendes ->• Wasser konnte sie allein nicht überwinden 47 . Deshalb war sie auf Helfer angewiesen, die sie über das Wasser setzten und die sie im Gegenzug verschonte oder weniger grausam tötete 48 . In diesem Zusammenhang findet sich auch eine positive Besetzung der P.49, wenn sie ihr tödliches Werk gegen das Böse richtet und einen Zauberer, der gegen alles, nur nicht gegen die P , gefeit ist, tötet 50 oder wenn sie Waisenkinder verschont 51 . Gemeinhin jedoch überwog das Gefühl der Schutzlosigkeit vor der P., das die Menschen auch an der Hilfe Gottes verzweifeln ließ. Auf die Nutzlosigkeit des Fastens in diesem Zusammenhang wies der spätma. engl. Prosatraktat Dives and Pauper (1405-10) hin: Gott lasse sich nicht zwingen 52 . Mit derselben Begründung wies William Langland (ca 1370) auf die Vergeblichkeit von P.gebeten hin 53 . D a ß Krankheit und P. als Strafe Gottes für sündhaftes Leben zu verstehen seien 54 , war aus vielen Beispielen im Α. T. vorgegeben und wurde für das gesamte MA. und die frühe Neuzeit zum gängigen Interpretationsmodell der P.55 Die von der Kirche und den weltlichen Obrigkeiten ergriffenen Maßnahmen, um dieses Strafgericht abzuwehren, zielten zum einen auf Fürbitte (Gebete, Messen, Wallfahrten, Gelübde, Stiftungen, Prozessionen) und zum anderen auf die Bekämpfung von Mißständen, die unter dem Gesichtspunkt einer sittlich-moralischen Lebensführung als verwerflich angesehen wurden (bes. Luxus, Spiel, Prostitution). Die Vorstellung des göttlichen Strafgerichts ist auch als Rationalisierung und Sinngebung des P.geschehens zu verstehen. Dadurch erfolgt das Handeln der personifizierten P. in höherem Auftrag 5 6 . Hier lassen sich Vorstellungen

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aus dem Baltikum anführen, wo man der P. auch menschliche Gefühle, ζ. B. Mitleid mit ihren Opfern, verlieh; töten, wenn auch widerwillig, mußte sie allerdings auch in diesen Fällen, da den Opfern ihr Tod unabänderlich vorbestimmt war 57 . Zu den gegen das Wirken der P. angerufenen Schutzheiligen zählen in erster Linie Maria (die P. in Basel 1439 hört auf, als das Konzil die Verkündigung ihrer unbefleckten Empfängnis zum Dogma erklärt 58 ), und zwar bes. in ihrer spezifischen Funktion als Schutzmantelmadonna (-• Mantel), ferner Sebastian, Rochus, -> Christopherus (AaTh 768), -> Antonius Eremita, Rosalie und Borromäus 5 9 . Diesen wichtigsten, im ganzen Abendland verehrten P. heiligen sind lokal zahlreiche weitere Heilige hinzuzurechnen, deren wunderbare Hilfe viele Erzählungen rühmen 6 0 . Helfen sollen nicht nur Gebete, sondern auch Devotionalien verschiedener Art, die mit den Heiligen in Verbindung gebracht wurden, wie die 1773 in der Steiermark vertriebenen Sebastianskügelchen oder ein Schluck Wein aus seiner Hirnschale 61 . Die bereits aus der Antike bekannte Vorstellung der Krankheitsprojektile wurde auch vom Christentum adaptiert 62 . Dabei wurde der P.tod bildlich durch P.pfeile, die vom Himmel regnen, dargestellt 63 und entsprechend in Erzählungen wiedergegeben: Maria fangt mit ihrem Mantel einen Teil dieser Pfeile auf und rettet so diejenigen, die sich ihrem Schutz anvertrauen; Sebastian wirkt als mächtiger Interzessor, da er den ihm zugedachten Tod durch Pfeile überlebte 64 . Zu den erfolgreichen Abwehrmaßnahmen zählt das Einschließen der P., was eng an ihr Auftreten als Kleintier, Luftkonstellation oder Flamme geknüpft ist. So kann sie bisweilen überlistet und in einen Baum, einen Türpfosten oder eine Flasche eingeschlossen oder eingemauert werden (cf. AaTh 331: -> Geist im Glas)65. Dauerhaft ist dieser Sieg über die P. allerdings nicht, da sie im allg. durch Unvorsicht oder Übermut wieder freikommt, so daß ihr Wüten von neuem einsetzen kann. Dies entsprach im übrigen der tatsächlichen Erfahrung, da die P. in unregelmäßigen Abständen auftrat und weder ihr Auftreten noch ihr Verschwinden sich erklären ließen. Zwar erzählen die Sagen auch von Siegen über die P , doch sind diese Siege teuer erkauft. Aus Kärnten

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Pest

wird von einem Menschenopfer berichtet, und zwar sollte derjenige sterben, der die Kirche noch vor dem Abendmahl verließ: Das unschuldige Opfer wurde ein junges Mädchen, das aus Sorge um die kranke Mutter vorzeitig nach Hause ging 66 . Häufiger ist es allerdings ein einzelner, der sich mutig der P. entgegenstellt und ihrem Wüten Einhalt gebieten kann, zumeist aber selbst als letztes Opfer der P. noch erliegt67. Die Freude über das Verschwinden der P. hat sich ebenso in Ursprungssagen niedergeschlagen wie das Massensterben. So werden sowohl der Münchener Metzgersprung in den Fischbrunnen als auch der Schäfflertanz auf eine überstandene Pepidemie zurückgeführt68. 1 cf. Biraben, J.-N.: Les Hommes et la peste en France et dans les pays europeens et mediterraneens 1. P. 1975, 375-449. - 2 L e Roy Ladurie, E.: Un Concept: L'unification microbienne du monde (XIV e -XVII e siecles). In: Schweiz. Zs. für Geschichte 23 (1973) 627-696; Dols, M. W.: The Black Death in the Middle East. Princeton, Ν. J. 1977. 3 cf. Russell, J. C.: That Earlier Plague. In: Demography 5 (1968) 174-184; id.: Effects of Pestilence and Plague, 1315-1385. In: Comparative Studies in Society and History 8 (1966) 464-473; Biraben (wie not.l) 154-184; Graus, F.: P. - Geißler - Judenmorde. Das 14. Jh. als Krisenzeit. Göttingen 2 1988. - 4 Bulst, N.: Vier Jh.e P. in niedersächs. Städten. Vom Schwarzen Tod (1349—1351) bis in die erste Hälfte des 18. Jh.s. In: Meckseper, C. (ed.): Stadt im Wandel. Kunst und Kultur des Bürgertums in Norddeutschland 1150-1650 t. 4. Braunschweig 1985, 251-270, hier 258. - 5 Bulst, N.: Krankheit und Gesellschaft in der Vormoderne. Das Beispiel der P. In: id./Delort, R. (edd.): Maladies et societe ( X I I e - X V I I I c siecles). P. 1989, 17-47, hier 30 sq. 6 Biraben (wie not. 1) t. 2, 21 sq.; Bulst (wie not. 4) 261 sq. — 7 Hildesheimer, F.: Le Bureau de la sante de Marseille sous l'Ancien Regime. Le renfermement de la contagion. Marseillle 1980. — 8 Lesky, E.: Die österr. P.front an der k. k. Militärgrenze. In: Saeculum 8 (1957) 82-106; Bratescu, G.: Seuchenschutz und Staatsinteresse im Donauraum (1750-1850). In: Sudhoffs Archiv 63 (1979) 2 5 - 4 4 . - 9 Dormeier, H.: Die Flucht vor der P. als religiöses Problem. In: Schreiner, K. (ed.): Laienfrömmigkeit im späten MA. Mü. 1992, 331-397, hier 331-340. - 10 Bulst, N.: Main d'ceuvre et coercition. Les Mesures economiques et demographiques adoptees par les gouvernements ä la suite de la Peste noire en Europe. In: Compte rendu des seances de la Soc. d'etude du feodalisme 5 (1981-82) 14-26, hier 14-17. " Zender, M.: Sagen und Geschichten aus der Westeifel. Bonn 1966, 46; cf. Wenzel, S.: Pestilence and Middle English Literature. Friar John Grime-

780 stone's Poems on Death. In: Williman, D. (ed.): The Black Death. The Impact of the Fourteenth-Century Plague. Binghamton, Ν. Y. 1982, 131-159, hier 133. - 1 2 cf. ζ. B. Marks, L.: Das zeitgenössische Erzählen in Zagreb. In: Fabula 41 (2000) 244-256, hier 250 sq.; Honko, L.: Krankheitsprojektile (FFC 178). Hels. 1959, 155. - 13 Schwalb, Α.: Das Pariser P.gutachten von 1348. Diss. Tübingen 1990, 5 6 - 6 1 ; cf. Klebs, A. C./Sudhoff, K : Die ersten gedr. P.schriften. Mü. 1926; Sudhoff, K : P.schriften aus den ersten 150 Jahren nach der Epidemie des „schwarzen Todes" 1348. In: Archiv für Geschichte der Medizin 4 (1910-11) 191-222; 5 (1911) 6 - 8 7 , 332-396; 6 (1913) 313-379; 7 (1913) 57-114; 8 (1914-15) 175-215, 236-289; 9 (1914-15) 5 3 - 7 8 , 117-167; 11 (1918-19) 4 4 - 9 2 , 121-176; 14 (1922-23) 79-105; 16 (1924) 1 - 1 8 8 ; 17 (1925) 12-139, 241-291. - 14 Sartori, P.: P. In: H D A 6 (1934-35) 1497-1522, hier 1501 sq.; Abraham a Sancta Clara: Mercks Wienn [1680], ed. W. Welzig. Tübingen 1983, 3 0 - 3 9 . - 15 Woycicki, K. W.: Poln. Volksagen und Märchen. B. 1839, 5 8 - 6 2 , hier 58; H D A 6, 1501 sq. - 1 6 Petzoldt, L.: Dt. Volkssagen. Mü 1970, num. 485. - 17 H D A 6, 1502. - 18 Lindow, J.: Personification and Narrative Structure in Scandinavian Plague Legends. In: Arv 2 9 - 3 0 (1973-74) 8 3 - 9 2 . 19 Hiiemäe, R.: Eesti katkupärimus (Die estn. P.Überlieferung). Tartu 1997, 462. - 2 0 Honko (wie not. 12) 152 sq., 236 sq. 21 H D A 6, 1505 sq.; Gotthelf, J.: Die schwarze Spinne [1842], ed. W. Mieder. Stg. 1983; cf. Rieken, B.: Die Spinne als Symbol in Volksdichtung und Lit. In: Fabula 36 (1995) 187-204, hier 200 sq. - 2 2 Tubach, num. 2084. - 2 3 Schenda, R.: Die dt. Prodigienslgen des 16. und 17. Jh.s. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 4 (1963) 638-710, hier 694. - 2 4 Panzer, F.: Bayer. Sagen und Bräuche 1 - 2 . (Mü. 1848/55) Neudruck ed. W.-E. Peuckert. Göttingen 1954/56, num. 36; Soupault, R.: Bret. Märchen. MdW 1959, 34; Honko (wie not. 12) 154, 184; Woycicki (wie not. 15) 5 8 - 6 2 ; BFP 315 A, *327 B**, *332 A. - 25 H D A 6, 1508; Zender (wie not. 11) 51. - 2 6 Petzoldt (wie not. 16) num. 484; Woycicki (wie not. 15 ) 58. - 27 Grimm, Mythologie 2, 991. 28 Grimm, DS 168; Hiiemäe (wie not. 19) 462; H D A 6, 1505 sq.; Petzoldt (wie not. 16) num. 105, 485; cf. bes. Hanika, J.: Die Tödin. Eine Sagengestalt der Kremnitz-Deutschprobener Sprachinsel. In: Bayer. Jb. für Vk. (1954) 171-184, bes. 179. - 29 Schwarz, K : Der Bremer Stadtarzt Johann von Ewich als Verf. von P.schriften. In: Brem. Jb. 72 (1993) 98-117, hier 107. - 3 0 Grimm, Mythologie 3, 347 sq.; Agricola, C.: Schott. Sagen. B. 1967, 305 sq. 31 Grimm, Mythologie 2, 990; Honko (wie not. 12) 155; Zender (wie not. 11) 51 sq.; Agricola (wie not. 30) 306; Bügener, H.: Heidegold. Münsterländ. Sagen [...]. Münster 1929, 23. - 32 Agricola (wie not. 30) 305 sq.; H D A 6, 1505 sq.; Petzoldt (wie not. 16) num. 487; Hiiemäe (wie not. 19) 464. - 33 Bulst, N.: Der Schwarze Tod. Demographische, wirtschafts-

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Peter Pan

und kulturgeschichtliche Aspekte der P.katastrophe von 1347-1352. In: Saeculum 30 (1979) 4 5 - 6 7 , hier 51 sq. - 3 4 Deecke, E.: Lübecker Geschichten und Sagen. Lübeck 1878 ( 7 1956), 83. - 3 5 Soupault, R.: Frz. Märchen. MdW 1963, 169; Zender (wie not. 11) 47 sq. - 36 Hiiemäe (wie not. 19). - 3 7 Petzoldt (wie not. 16) num. 492. - 38 cf. Rumpf, M.: Die Hamelner Rattenfängersage medizinhist. gedeutet. In: Humburg, N. (ed.): Geschichten und Geschichte. Hildesheim 1985, 2 9 - 3 7 ; Ueffing, W.: Die Hamelner Rattenfängersage und ihr hist. Hintergrund, ibid. 185-191, hier 188. - 39 Ziegler, P.: The Black Death. L. 1969, 81. - 4 0 cf. Defoe, D.: A J. of the Plague Year. ed. A. Burgess. L. 1966, 75, 99 sq. 41 Sudhoff (wie not. 13). - 4 2 Soupault (wie not. 35) 169; Zender (wie not. 11) 50. - 4 3 Petzoldt (wie not. 16) num. 105, 487 sq.; H D A 6, 1513. - " G r i m m , Mythologie 2, 991. - 45 Zender (wie not. 11) 54, not. 126; Petzoldt (wie not. 16) num. 488. - 4 6 Hiiemäe (wie not. 19) 464 sq. - 47 cf. Bulst (wie not. 4) 261. - 48 Honko (wie not. 12) 184; Hiiemäe (wie not. 19) 464. - 49 Grimm, Mythologie 2, 989. - 50 Soupault (wie not. 35) 169. 51 Hiiemäe (wie not. 19) 465. — 52 Wenzel (wie not. 11) 134. - " i b i d . , 133. - 5 4 Bulst, N.: Heiligenverehrung in P.zeiten. Soziale und religiöse Reaktionen auf die spätma. P.epidemien. In: Mundus in imagine. Bildersprache und Lebenswelten im MA. Festschr. K.Schreiner. Mü. 1996, 6 3 - 9 7 , hier 6 5 - 6 7 . 55 Wenzel (wie not. 11) 132 sq.; cf. Tubach, num. 3817; Moser-Rath, E.: Dem Kirchenvolk die Leviten gelesen ... Stg. 1991, bes. 320-325. - 5 6 H o n k o (wie not. 12) 183-189, 191. - " H i i e m ä e (wie not. 19) 465. - 58 Pauli/Bolte, num. 553; Tubach, num. 3713. - 59 Leskoschek, F.: Sebastianspiel und Sebastianminne. Vergessene Wallfahrtskultformen aus der P.zeit. In: Kultur und Volk. Festschr. G. Gugitz. Wien 1954, 229-236; Welker, K.: Rochus (Roch) von Montpellier. In: LCI 8 (1976) 275-278; Schmitz-Eichhoff, M.-T.: St. Rochus. Köln 1977; Dormeier, H.: St. Rochus, die P. und die Imhoffs in Nürnberg vor und während der Reformation. In: Anzeiger des Germ. Nationalmuseums (1985) 7 - 7 2 ; Honko (wie not. 12) 183-186; Zender (wie not. 11) 52; H D A 6, 1512; Bulst (wie not. 54) 7 2 - 8 5 ; Günter 1949, 133 sq., 273; Dormeier, H.: „Eine geystliche ertzeney fur die grausam erschrecklich pestilentz". Schutzpatrone und frommer Abwehrzauber gegen die P. In: Das große Sterben. Seuchen machen Geschichte. ed. H. Wilderotter. B. 1995, 5 4 - 9 3 ; P., P.bilder. In: LCI 3 (1971) 407-409; Tschochner, F.: P.heilige. In: LCI 8 (1976) 156 sq. - 60 Zender (wie not. 11) 52; Panzer (wie not. 24) num. 29, 87; t. 2, num. 472. — 61 Leskoschek (wie not. 59) 229, 233. - " H o n k o (wie not. 12). - 6 3 Hagemann, E.: Der göttliche Pfeilschütze. Zur Genealogie eines P.bildtypus. St. Michael 1982; Dinzelbacher, P : Die tötende Gottheit. P.bild und Todesikonographie als Ausdruck der Mentalität des SpätMA.s und der Renaissance. In: Analecta Cartusiana 117 (1986) 5 - 1 3 8 , hier 13-20.

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- 6 4 Bulst (wie not. 54) 72 sq. - 65 Grimm, Mythologie 2, 990; Bügener (wie not. 31) 24; Brückner, 136, 460; cf. Uther, H.-J.: Zur Bedeutung und Funktion dienstbarer Geister in Märchen und Sagen. In: Fabula 28 (1987) 227-244; Petzoldt (wie not. 16) num. 492; Agricola (wie not. 30) num. 368; Gotthelf (wie not. 21). - 66 Petzoldt (wie not. 16) num. 491. 67 Woycicki (wie not. 15) 58 - 62. - 68 Panzer (wie not. 24) num. 257 sq.; cf. Kapfhammer, G./Lachner, C. J./Derra de Moroda, F.: Der Münchner Schäflflertanz. Mü. 1976

Bielefeld

Neithard Bulst

Peter Pan, Hauptfigur eines Theaterstücks und zweier Erzählungen des schott. Schriftstellers James Matthew Barrie (1860-1937). Das Märchenspiel P. P., or The Boy Who Would Not Grow Up wurde 1904 in London uraufgeführt; 1911 erschien ebenda die Erzählfassung P. P. and Wendy (später üblicher Titel: P P . ) , die inhaltlich nur geringfügig von der (erst 1928 veröff.) Schauspielversion abweicht 1 ; die skurrile, weit weniger erfolgreiche Erzählung P. P. in Kensington Gardens (1906) behandelt P. P.s Vorgeschichte 2 . Die Kinder Wendy, John und Michael Darling leben mit ihren Eltern und dem als Kindermädchen fungierenden Hund Nana in London. Eines Nachts besucht ein geheimnisvoller Junge namens P. P. die Kinder. Er trägt ein Gewand aus Blättern und Spinnweben, kann fliegen und tritt in Begleitung einer handtellergroßen Fee namens Tinker Bell auf. Wendy näht ihm seinen Schatten wieder an, den er bei einem früheren Besuch verloren hatte. Mit Hilfe von P.s .Feenstaub' fliegen die Kinder mit ihm auf die Insel,Niemalsland', wo P. P. mit einer Schar kleiner ,verlorener Jungen' in einer unterirdischen Wohnung haust. Wendy fungiert für alle als Ersatzmutter, während die Jungen mit P. als Anführer auf Abenteuer ziehen. Auf der Insel und den umliegenden Gewässern gibt es auch wilde Tiere, Indianer, Meerjungfrauen und Piraten. Deren Anführer, der einhändige Captain Hook, ist P.s Erzfeind. Hook wird aber auch von einem Krokodil verfolgt, dessen Beute er schließlich nach einem dramatischen Zweikampf mit P. wird. Nach diesem Höhepunkt kehren die drei DarlingKinder nach Hause zurück und nehmen auch die verlorenen Jungen mit; nur P , der sich weigert, erwachsen zu werden, bleibt in seinem Niemalsland, besucht aber Wendy später noch gelegentlich.

Zu den zentralen märchenhaften Elementen zählt das Motiv der ->• Entrückung in Verbindung mit einer -> Luftreise; unter den agierenden Figuren sind Tinker Bell und die Meer-

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Peter Pan

jungfrauen direkt der Märchenwelt entnommen (cf. Fairy; -> Fee, Feenland; Wassergeister). Weitere populäre Motive sind Mot. F 1038: Person without shadow (-> Schatten), Mot. D 1531: Magic object gives power of flying, am Rande auch Mot. Β 421: Helpful dog. Entscheidend für den bes. Charakter der Geschichte ist jedoch nicht das Auftreten, sondern die eigentümliche Gestaltung dieser Motive: Sie erhalten mehrfache Symbolbedeutungen, welche durch eine durchgängig ironische Grundhaltung sogleich wieder relativiert werden. Trotz seines Namens ist P. P. nicht als Naturgottheit konzipiert; auch Bezüge zum Mythos des göttlichen Kindes sind wenig ausgeprägt. P. P. ist in erster Linie eine Verkörperung des Kindlichen an sich. Zentrale Themen sind das Wesen des Kindes, sein Verhältnis zu den Eltern und die Notwendigkeit des Erwachsenwerdens. Als wichtigstes Merkmal des Kindes wird seine lebhafte Phantasie hervorgehoben. Das Niemalsland steht symbolisch für die kindliche Phantasiewelt, die sich aus Realitätspartikeln sowie Elementen der engl. Märchenund Sagenwelt und der Kinderliteratur zusammensetzt. Der Flug bzw. die Entrückung dorthin sind auf dieser Ebene deutbar als Metaphern für die Phantasietätigkeit bzw. das Aufgehen des Kindes im Spiel. P. P. fungiert als Psychagoge, dem Märchenerzähler oder Autor vergleichbar, welcher die Kinder in sein (Phantasie-)Reich entführt. Mit wachsendem Alter fallt das Fliegen immer schwerer; Feen sterben, wenn niemand an sie glaubt. Zugleich wird das Wegfliegen aber auch als ein Symbol für das ,Flüggewerden' behandelt: die Eltern nehmen das Verschwinden ihrer Kinder mit Betrübnis wahr und halten ihnen für ihre Rückkehr stets ein Fenster offen. Als ,archetypisches' Kind verkörpert P. P. das Kindheitsbild der Jh.wende. Er ist ohne Zeitgefühl, extrem vergeßlich und unfähig, zwischen Phantasie und Wirklichkeit zu unterscheiden. Mehrfach wird er vom Erzähler als „froh und unschuldig und herzlos" 3 bezeichnet; er ist vollkommen egozentrisch, ja narzißtisch und bar jeden Verantwortungsgefühls. Für die erotischen Annäherungsversuche seiner weiblichen Umgebung (das Mädchen Wendy, die Fee Tinker Bell und die Häupt-

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lingstochter Tiger Lily buhlen um seine Gunst) hat er keinerlei Gespür. Den Jungen gegenüber beansprucht er wie selbstverständlich die Führungsposition; der Streit mit Captain Hook ist ein Machtkampf, dessen ödipale Deutung (cf. AaTh 931: -» Ödipus) sich dem modernen Leser geradezu aufdrängt. Vor allem aber ist P. P. ,der Junge, der nicht erwachsen werden wollte'. Hier klingt ein Todesmotiv an, das jedoch metaphorisch verschleiert bleibt. (Wie P. P. erklärt, ist er von zu Hause ,weggelaufen' und lebte lange ,bei den Feen'; seine Spielgefährten waren als Kleinkinder aus dem Kinderwagen gefallen und nicht mehr abgeholt worden 4 .) Vor allem aber ist diese Weigerung Ausdruck eines Wunschtraums des Autors, der ausgekostet, aber letztlich doch zurückgewiesen wird. P. P.s Gegenpol ist Wendy, die in ihrem mütterlichen Rollenspiel ihre vorbestimmte Entwicklung anund vorwegnimmt und am Ende selbst als Mutter gezeigt wird; aber auch alle anderen Kinder kehren in die Wirklichkeit zurück und werden groß. In Großbritannien wird das Stück jedes Jahr in der Weihnachtszeit aufgeführt; der Titelfigur P. P. hat man in den Londoner Kensington Gardens ein Denkmal gesetzt. Weit über die Grenzen Englands hinaus ist P. P. zum Inbegriff des Ewig-Kindlichen geworden, wozu sicherlich auch die Verfilmungen durch Walt - Disney (P. P., 1952) und Steven Spielberg (Hook, 1992) beigetragen haben. Der außerordentliche Erfolg kann als Indiz dafür gewertet werden, daß P. P. nicht nur den persönlichen, individualpsychol. deutbaren Obsessionen seines Autors Gestalt verliehen hat, sondern Wunschträume konkretisiert, welche das Denken und Fühlen der westl. Gesellschaft nicht nur der Jh.wende, sondern des ganzen 20. Jh.s kennzeichnen — mit anderen Worten, daß der Stoff zu einem modernen Mythos geworden ist 5 . 1 Ausg.n: Barry, J. M.: P. P., or The Boy Who Would Not Grow Up. L. 1928; P. P. in Kensington Gardens/ P. and Wendy, ed. P. Hollindale. Ox. 1991. - 2 D t . Übers.en: P. P. oder das Märchen vom Jungen, der nicht groß werden wollte. Ein Stück in 5 Akten von J. M. Barrie. In: Kästner, E.: Gesammelte Sehr. 4. Köln 1959, 4 8 7 - 5 6 1 (Schauspiel, Uraufführung 1952); Barrie, J. Μ.: P. P. Übers. B. Wilms. Hbg 1988 (Erzählfassung). - 3 Barrie/Wilms (wie not. 2) 211,

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Peter von Provence - Peter: Schlauer P.

216. - 4 ibid., 38, 40. - 5 Green, R. L.: Fifty Years of „P. P." L. 1954; Petzold, D.: Der Traum vom verlorenen Paradies [...]. In: Anglistik & Engl.unterricht 2 (1977) 9 - 2 6 ; Green, M.: The Charm of P. P. In: Children's Literature 9 (1981) 19-27; Egan, M.: The Neverland of Id. Barrie, P. P. and Freud. In: Children's Literature 10 (1982) 3 7 - 5 5 ; Müller, Η.: P. P. In: LKJ 3 (1982) 23 sq. - Rose, J.: The Case of P. P. Basingstoke 1984.

Erlangen

Dieter Petzold

Peter von Provence ->· Magelone

Peter: Schlauer P. (bulg. Chitür Petür; mazedon. Itar Pejo), die populärste bulg. und mazedon. Schwankgestalt (-• Narr, Schelmentypen) 1 . Sie ist eng mit -> Hodscha Nasreddin, einer unter osman. Einfluß auch in der bulg. und mazedon. Überlieferung beliebt gewordenen Figur, verbunden und zeigt Parallelen zu Schwankfiguren anderer Balkanvölker 2 . Schelmenfiguren namens P. sind auch aus der Lit. und mündl. Überlieferung anderer Länder bekannt 3 . Aufgrund fehlender Aufzeichnungen mündl. Traditionen aus der Zeit der osman. Herrschaft (-• Bulgarien, -> Mazedonier) sind Alter und Genese der Figur des Schlauen P.s nicht geklärt. Die frühesten schriftl. Belege datieren aus der 2. Hälfte des 19. Jh.s. Einzelne mit dem Schlauen P. verbundene Schwänke und Sprichwörter finden sich in den Slgen der Schriftsteller Penco R. Slavejkov, der ihn 1859 als ,bulg. Hodscha Nasreddin' vorstellte 4 , und Ljuben -> Karavelov 5 sowie der Sammler Κ. A. -» Sapkarev 6 und Μ. K. Cepenkov 7 . Sapkarevs Hinweis auf die Popularität des Schlauen P.s8 oder die Ankündigung eines Buches mit ,vielen Sprichwörtern und Märchen über den Schlauen P.' von 18709 lassen auf eine weitere Verbreitung von Geschichten über ihn schließen, als es die schriftl. Belege erkennen lassen. Bereits in der 2. Hälfte des 19. Jh.s wurde die Figur in Lit. und Presse ohne den narrativen Schwankkontext synonym für Gewitzheit verwendet 10 . Eine ausschließlich dem Schlauen P. gewidmete Schwanksammlung publizierte 1873 der bulg. Lehrer, Übersetzer, populäre Autor und Verleger I. R. Blüskov 11 mit aufklärerischen und patriotischen Inten-

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tionen zur Erhaltung und Pflege der Tradition des bulg. Schwankhelden. Nach Blüskov handelte es sich um Aufzeichnungen aus der mündl. Überlieferung, die Texte sind dem Stil und den Normen der Popularliteratur angeglichen 12 . Zahlreiche Schwankbücher 13 popularisierten die Figur des Schlauen P. und beeinflußten die bis in die Gegenwart reichende lebendige Erzähltradition 14 . Manchmal sind die Erzählungen in verschiedenen Orten lokalisiert 15 . Die Figur des Schwankhelden wurde in der Kunst rezipiert 16 und findet sich u. a. in heutigen Schullesebüchern, in der Kinderliteratur und im Kindertheater, in Comics und auf Postkarten. Die Figur des Schlauen P.s ist ->• Kristallisationsgestalt verschiedenster Schwankstoffe. Am einflußreichsten zeigten sich Hodscha Nasreddin-Geschichten, aber auch Erzählungen über anonyme Schwankgestalten sowie Äsop-Stoffe (-> Äsopika)' 7 wurden auf ihn übertragen. Außerdem finden sich Adaptionen (west-)europ. humoristischer Kurzerzählungen oder Anekdoten 1 8 . Die Vermittlungswege sind wegen der großen Fluktuation von Stoffen aus verschiedensten mündl. und schriftl. Quellen unter den komplizierten sprachlichen und ethnischen Bedingungen in den Balkanländern bes. schwierig zu verfolgen (-» Interethnische Beziehungen). Inhaltlich lassen sich die Schwänke grob folgendermaßen gruppieren 19 : in Erzählungen, in denen (1) der Schlaue P. als Einfältiger und Dummkopf auftritt, (2) er andere überlistet und betrügt, (3) er und Hodscha Nasreddin als Rivalen auftreten, wobei sie versuchen, einander im Überlisten, Lügen und Stehlen zu übertrumpfen, und (4) beide zusammen durch die Welt ziehen, um andere hereinzulegen. Ob der slav. (christl.) Schlaue P. dem türk. (muslim.) Hodscha Nasreddin überlegen ist oder umgekehrt, ist abhängig von der Zeit und der Quelle, der ethnischen Zugehörigkeit der Erzähler und des Zuhörerkreises 20 . Nach den unter türk.- und mazedon.sprachigen Bevölkerungsgruppen in Mazedonien durchgeführten Feldforschungen S. Pilickovas kann der Wettstreit beider Figuren durchaus den Charakter einer religiösen und ethnischen Rivalität tragen 21 . V. Vülcev stellte anhand des rezenten bulg. Erzählguts fest, daß oft beide Figuren als ebenbürtige Rivalen agieren 22 .

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Peter: Schlauer P.

D i e Figur des Schlauen P.s ist ein Beispiel intensiver interkultureller Wechselbeziehungen und einer engen Verflechtung mündl. und schriftl. Kommunikationssysteme, wobei populäre Lesestoffe eine wichtige Rolle spielten 2 3 . War vor der Befreiung v o n der osman. Herrschaft im 19. bzw. 20. Jh. diese Schwankfigur von ethnischer, kultureller und sozialpsychol. Relevanz, so sind auch in der Gegenwart patriotische und kulturpflegerische Intentionen mit diesem nationalen Helden verbunden. 1 Vülcev, V.: Chitür Petür i Nastradin Chodza. Iz istorijata na bülgarskija naroden anekdot (Schlauer P. und Hodscha Nasreddin. Aus der Geschichte des bulg.Volksschwanks). Sofia 1975; Pilickova, S.: Nasradin Odza i Itar Pejo - duchovni bliznaci (Hodscha Nasreddin und Schlauer P. - geistige Zwillinge). Skopje 1996; Dobreva, D.: Bülgarskite folklorni anekdoti. Opit za funkcionalna Charakteristika (Die bulg. Volksschwänke. Versuch einer funktionalen Charakteristik). Diss, (masch.) Sofia 1987, 92-121. - 2 cf. Stroescu, num. 3000-3085 (Päcalä); Pesic, R./ Milosevic-Djordjevic, N.: Narodna knjizevnost (Volkslit.). Belgrad 1984, 245 sq. (Ero, Tschosso); Eschker, W.: Der Zigeuner im Paradies. Balkanslaw. Schwänke und lustige Streiche. Kassel 1986, 175-178; Marinescu, M.: Der komische Held in rumän. und bulg. Volksbüchern. In: Roth, K. (ed.): Südosteurop. Popularlit. im 19. und 20. Jh. Mü. 1993, 299-316; Angelova, R.: Ljubimi geroi na chumosristicnite prikazki i anekdotite u njakoj slavjanski i neslavjanski narodi (Beliebte Helden der komischen Märchen und Schwänke bei einigen slav. und nichtslav.Völkern). In: Ezik i literatura 28, 3 (1973) 7 - 2 1 . - 3 Permjakov, G. L.: Prodelki chitrecov (Die Streiche der Schelme). M. 1972, 402-406 (bulg., ung., frz., brasilian.); cf. Obras completas de M. de Cervantes Saavedra 3. ed. R. Schevill/A. Bonilla. Madrid 1918, 117-229 (span. Pedro Urdemalas); Ferrarin, A. R.: Pedro de Urdemalas. In: PortoBompiani, G. (ed.): Diccionario literario de obras y personajes de todos los tiempos y todos los paises 8. Barcelona 1959, 6 sq.; Richard, R.: Pedro de Urdemalas. ibid. 9 (1959), 727 sq.; Laval, R. Α.: Cuentos de Pedro Urdemales. In: Revista de folklore chileno 6 (1925) 147-203; cf. Pesic, R./ Milosevic-Djordjevic (wie not. 2) (slov. Peter Klepec); Eschker (wie not. 2); EM 2, 679 (brasilian.); EM 8, 1106 (mexikan.). - 4 Bülgarski knizici 2,18 (1859) 592; Slavejkov, P. R.: Bülgarski pritci ili poslovici i characterni dumi 1 - 2 . Plovdiv/Sofia 1889-97, hier t. 1, 17, 68 und t. 2, 49, 195. - 'Karavelov, L.: Pamjatniki narodnogo byta bolgar. M. 1861, 144 (= Colakov, V. D.: Bülgarskij naroden sbornik. Bolgrad 1872, 238). — 6 Sapkarev, Κ. Α.: Sbornik ot narodni starini 3. Plovdiv 1885, num. 61; id.: Sbornik ot bülgarski narodni umotvorenija 8 - 9 . Sofia 1892-94, num. 148. - 'Cepenkov, Μ. K : Makedonski narodni umo-

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tvorbi 6. ed. K. Penusliski. Skopje 1972, num. 509, 521sq., 524 sq.; id.: Folklorno nasledstvo 3. ed. D. Dobreva. Sofia (im Druck), num. 222-224, 226-229. - 8 Sapkarev 1885 (wie not. 6) 111; id. 1892 (wie not. 6) t. 8, 271. - ' A n o n y m in: Makedonija 4, 39 (1870) 3. - 10 cf. Vülcev (wie not. 1) 104; Ognjanova, E.: Chitür Petür - geroj na bülgarskata folklorna proza (Schlauer P. - ein Held der bulg. Volksprosa). In: Literaturna misül 21,4 (1977) 15-37, hier 35 sq. 11 Blüskov, I. R.: Chitür Petür 1. Ruscuk 1873 (Varna 21881; Russe 31884; Sumen 41895). 12 Roth, J.: Der verschriftlichte Schwankheld. Zur Bedeutung des Buchdrucks für die bulg. Volkskultur. In: Roth (wie not. 2) 255-269 (bearb. Fassung Roth, J. und K : „Chitür Petür" na Ilija Blüskov. Bülgarskijat komicen geroj mezdu ustnost i pismenost [Ilija Blüskovs „Schlauer P.": der bulg. komische Held zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit]. In: Vüzrozdenskijat tekst. ed. R. Damjanova/L. Michova/ Ch. Manolakev. Sofia 1998, 254-267). - 13 Bozinov, I.: Chitür Petür ili smechorii i chitrini. Tvürde smesna kniga za procit. Sofia 1896 (Nachdr. 1899, 1904, 1905, 1907, 1909); Kocev, P.: Chitür Petür. Otbor smechurii, chitrini i razni smesni prikazki. Ruse 1899; Danailov, J. I.: Chitür Petür. Veseli prikljucenija. Sofia 1940; Chitür Petür. Razni mnogo smesni prikazki. Plovdiv 1940; Popov, S.: Chitür Petür. Sofia 1958 (21965, 41982, 51991); cf. auch Vülcev, V.: Chitür Petür. Sofia 1987. - , 4 cf. Dinekov, P.: Bülgarsko narodno tvorcestvo (Bulg. Volksschaffen) 10. Sofia 1963, 37-41; Stajnova, M.: Les Personnages de Hitär Petär (Pierre le finaud) et de Nasreddine Hodja dans la litterature populaire bulgare. In: Etudes balkaniques 4 (1966) 199-206; Sazdov, T.: Makedonskata narodna knizevnost (Mazedon. Volkslit.). Skopje 1981 (21988), 196-204; Dobreva, D.: Hitär Petär (der Schlaue P.) in der bulg. Volksüberlieferung. In: Artes Populäres 16-17 (1995) 245-251. - ''Radanovic, V. S.: Marijovci u pesmi, prici i sali. Skopje 1932, num. 92—110, num. 92 (Dorf Gradesnica [Mariovo] als Heimatort des Schlauen P.s); Cepenkov (wie not. 7); Dobreva (wie not. 14) 245. - 16 Z. B. Stefanovski, G.: Narodniot chumor vo „Evangelie po Itar Pejo" od Slavko Janevski (Der Volkshumor im „Evangelium nach Itar Pejo" von Slavko Janevski). In: Makedonski folklor 11 (1978) 253-259; Markovski, G.: Chitür Petür. Roman. Plovdiv 31985; eine Plastik von Georgi Capkünov wurde 1981 vor dem Haus des Humors und der Satire in Gabrovo aufgestellt. — 17 Vülcev (wie not. 1) num. 84, 112-117; Köhler-Zülch, I.: Bulg. Märchen im balkan. Kontext und ihre Stellung in der internat. Erzählüberlieferung. In: Lauer, R./ Schreiner, P. (edd.): Kulturelle Traditionen in Bulgarien. Göttingen 1989, 185-201, hier 195. - 18 cf. Vülcev (wie not. 1) 46, 106, 118, 294; Marzolph, Arabia ridens 1, 63 sq.; Aretov, N.: Prevodnata beletristika ot pürvata polovina na 19 v. (Die belletristische Übers, aus der 1. Hälfte des 19. Jh.s). Sofia 1990, 80. - 19 cf. BFP (bulg. Orig.), Reg. 712-714 (Hodscha

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Peter von Staufenberg

Nasreddin), 7 9 6 - 7 9 8 (S.r P.). - 2 0 c f . Vülcev (wie not. 1) 8 4 - 8 6 , 183; Ognjanova (wie not. 10) 24, 32; Sazdov, T.: Zaednickoto i specificnoto vo anegdotite za Nasradin Odza i Iter Pejo (Gemeinsames und Spezifisches in den Schwänken über Hodscha Nasreddin und den Schlauen P.). In: Makedonski folklor 19 (1986) 3 9 - 4 4 , hier 42; Pilickova, S.: Osnovni tipovi anekdoti kaj turcite od Republika Makedonija (Hauptschwanktypen unter den Türken aus der Republik Mazedonien). Diss, (masch.) Skopje 1991, 381 sq.; ead. (wie not. 1) 4 7 - 5 0 . 21 ibid., 57. - 2 2 Vülcev (wie not. 1) 182 sq.; cf. auch Pilickova (wie not. 1) 58, 60, 84. - 2 3 cf. Dobreva (wie not. 1); Roth (wie not. 12).

Sofia

Doroteja Dobreva

Peter von Staufenberg um 1300 am Oberrhein entstandenes Märe (Reimpaardichtung, rund 1200 V.e)1, das durch eine (1870 verbrannte) ill. Hs., Fragmente einer weiteren Hs. und vier bebilderte Straßburger Frühdrucke überliefert ist 2 . Als Autor gilt der in V. 1156 genannte Eckenolt 3 ; er läßt sich mit dem zwischen 1273 und 1320 belegten, vor 1324 gestorbenen Egenolf, Mitbesitzer der Burg S. in der Ortenau, verbinden 4 . I n h a l t 5 : Der Ritter Peterman vom Temringer (P. Diemeringer in den Drucken [V. 50]) trifft auf dem Kirchgang eine Dame, die ihm bei der Verbindung mit ihr Wohlstand, Liebes- und Kampfglück verspricht; sie macht zur Bedingung, daß die Ehe (nicht aber die Liaison) mit einer anderen Frau ausgeschlossen sein muß. Peterman sagt zu, gibt aber später dem Druck seiner Umgebung nach, weil die Geistlichkeit seine Geliebte zum Succubus (-• Incubus und Succubus) erklärt. Bei der Hochzeit mit der vom Kaiser vorgeschlagenen Braut erscheint der Fuß der Geliebten an der Decke und zeigt ihm an, daß er wegen des gebrochenen Versprechens drei Tage später sterben werde. Versehen mit den Sakramenten stirbt er, die junge Witwe tritt ins Kloster ein.

Das Motiv von der gestörten Mahrtenehe (im folgenden die Strukturelemente nach F. ->• Panzer 6 ) liegt hier in seltener Ausprägung vor: Die Jugendgeschichte des Helden fehlt bzw. erscheint erst in der Bearb. von Johann -> Fischart 7 ; statt auf der Fahrt ins Elbenland erscheint die Fee dem Helden beim Gang zum Pfingstgottesdienst am Wegesrand; die feenhaften oder dämonischen Züge fehlen weitgehend (bes. körperlichen Merkmale, Unsichtbarkeit für Dritte) oder sind literar. stilisiert (das Sitzen auf dem Stein; das ,walkürenhafte'

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Schützen des Geliebten in Kämpfen als kaum noch magische, aber ideell stimulierende Präsenz einer höfischen Dame) und ästhetisch überhöht (der exotische Kleiderluxus, die Schönheit des Beins an der Decke). Die Diabolisierung durch die Geistlichen bleibt ohne bekräftigende Stellungnahme durch den Erzähler 8 , das Erlösungsmotiv fehlt. Das Tabu besteht im Verbot, außerhalb der Liebesbeziehung eine Ehe einzugehen, ein Schweigegebot ergeht nicht; der Tabubruch führt ohne Rehabilitationsmöglichkeit zum Tod des Helden. Eine unmittelbare Qu. ist nicht bekannt und wird im Werk nur unbestimmt geltend gemacht. Sprachlich und stilistisch sind Einflüsse -» Konrads von Würzburg vorhanden 9 ; so läßt sich — bei klarem Unterschied zum dort glücklichen Ende — auch eine Anregung durch dessen motiventsprechenden Partonopier und Meliur (1277) vermuten. Die Struktur der Erzählung setzt den doppelten Handlungszyklus des klassischen Artusromans (-> Artustradition) eigenständig um 1 0 . Der Text gibt sich im Prolog als Lebenslehre für adlige junge M ä n n e r " ; dem entspricht der Weg des Helden nur bedingt. Die lediglich in den Druckfassungen auftretende Schlußdidaxe unterstreicht allerdings die Vorbildlichkeit des Helden von seinem guten Sterben her 12 . Die Problematik der Lebenslehre ergibt sich ebenfalls, wenn man jenseits expliziter Aussagen des Werkes seine Funktion als ,hausund sippengebundene Literatur' vermutet, denn P. scheitert trotz vorübergehenden Erfolgs im Irdischen letztlich, zudem hat das Paar keine Nachkommen. Auch die Annahme, es werde versucht, „zwischen der überlieferten Sage (mit ihren vorzeitlich-mythischen Elementen) und dem christlichen Weltverständnis" zu vermitteln 13 , bleibt bestreitbar 14 . B. Lundt sieht den Konflikt zwischen hedonistischer Adelsethik und kirchlicher Moralforderung 15 . Die Rezeption des P. von S. läßt sich bis ins 19. Jh. in produktiver Weiterbildung verfolgen 16 . -> Paracelsus 17 diskutiert den SuccubusVorwurf, lehnt ihn unter Berufung auf die Schrift ab 18 und deutet P.s Tod als gerechte, mit göttlicher Zulassung von der Fee selbst vollzogene Strafe für den Ehebruch an ihr. Die -> Zimmerische Chronik19 referiert das Märe aus Kenntnis eines Frühdruckes ausführlich;

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Petronius

wegen eines ä h n l i c h e n Falles im H a u s e Z i m m e r n ist sie v o r a b a n d e r F a k t i z i t ä t interessiert u n d n i m m t sie f ü r g e g e b e n . J o h a n n Fischart bringt 1588 (in Z u s a m m e n a r b e i t mit Bernh a r d S c h m i d t u n d B e r n h a r d J o b i n ) eine erweit e r n d e N e u b e a r b e i t u n g 2 0 des P. von S. (mit P r o s a v o r r e d e u n d V e r s p r o l o g ) h e r a u s 2 1 ; zug r u n d e lag ein A u f t r a g M e l c h i o r W i d e r g r ü n s , des H e r r n a u f S. 2 2 D i e V e r s p a r t i e n v e r s t ä r k e n die im O r i g i n a l a n g e l e g t e m o r a l i s i e r e n d e G r u n d t e n d e n z ; P. e r s c h e i n t als letztlich d u r c h a u s v o r b i l d h a f t e s R e s u l t a t m ä n n l i c h e r Erzieh u n g , u n d die Fee r ü c k t g a n z ins Zwielicht einer dämonischen Verführerin. Die Prosavorrede v e r k n ü p f t ü b e r d i e s die alte G e s c h i c h t e m i t d e m a k t u e l l e n H e x e r e i d i s k u r s . H e i n r i c h -> K o r n m a n n schreibt in Möns Veneris (1614) P a r a c e l s u s teilweise a u s 2 3 u n d k e h r t so z u r d ä monologiekritischen Position zurück. G r i m m e l s h a u s e n n i m m t d e n S t o f f in Der seltsame Springinsfeld (1670), m ö g l i c h weise a u s K o r n m a n n s c h ö p f e n d , a u f u n d k o m b i n i e r t ihn m i t Z ü g e n a u s d e r -> M e l u s i n e n - T r a d i t i o n ; seine Fee M i n o l a n d a ist freilich eine B e t r ü g e rin, welche die ü b e r n a t ü r l i c h e H e r k u n f t n u r v o r g i b t 2 4 . D i e S c h w a r z w a l d s a g e Melusine im Stollenwald bietet eine n o c h im 18. J h . a u f g e z e i c h n e t e subliterar. F a s s u n g 2 5 . Sie m a c h t e b e n f a l l s A n l e i h e n bei d e r M e l u s i n e n - T r a d i t i o n u n d e r w ä h n t einen b ü r g e r l i c h e n H e l d e n , d e r bei d e r E r l ö s u n g d e r d r e i m a l in i m m e r schrecklicherer Tiergestalt a u f t r e t e n d e n Fee scheitert, d a n n wegen d e r s p ä t e r e i n g e g a n g e n e n E h e m i t einer i r d i s c h e n F r a u stirbt. I m 19. u n d 20. J h . lebt d e r Stoff in literar. B e a r b . e n als Sage, r o m a n t i s c h e Liebesgeschichte, B ü h nenstück und Märchen fort26. 1 Lit. bis etwa 1980 bei Schirmer, K.-H.: Egenolf von S. In: Verflex. 2 ( 2 1980) 365-368; neuere Lit.: Walker, R. Ε.: P. von S. Its Origin, Development and Later Adaptation. Göppingen 1980; Grunewald, E.: „Der tüfel in der helle ist üwer schlaf geselle". Heidnischer Elbenglaube und christl. Weltverständnis im „Ritter von S." In: Dinzelbacher, P. (ed.): Volksreligion im Hohen und Späten MA. Paderborn 1990, 129-143; Kranemann, N.: Der gottesfürchtige Haudegen. Ritterliche Tugenden und Erzählabsicht in „P. von S." In: Die Ortenau 67 (1987) 97-123; id.: Ritter, Fee und Teufelsheer. Die Verserzählung vom Ritter von S. im Umbruch der spätma. Geistesgeschichte. ibid. 68 (1988) 430-454; Lundt, B.: Melusine und Merlin im MA. Mü. 1991, 125-140; Schnyder, Α.: Johann Fischart als Bearbeiter eines ma.

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Märes. In: Wirkendes Wort 39 (1989) 15-43; id.: P. von S. auf dem Artusweg. ibid. 44 (1994) 2 5 - 3 3 ; Spreitzer, B.: „Wie bist du vom Himmel gefallen ..." Einschlagstellen des Diabolischen in der Lit. des späteren MA.s. Wien 1995, 99-113; Isler, G.: Die Erzählung von P. von S. und seiner Geliebten. In: Jungiana A 7 (1997) 9 - 5 2 ; Waver, Α.: Tabuisierte Liebe. Mythische Erzählschemata in Konrad von Würzburgs „Partonopier und Meliur" und im „Friedrich von Schwaben". (Diss. Göttingen 1999) Köln 2000. - 2 P. von S. Abb.en zur Text- und Ill.sgeschichte. ed. E. Grunewald. Göppingen 1978. — 3 Die Erwähnung fehlt in der hs. Fassung; die Drucke nennen Eckenolt, ohne ihn ausdrücklich als Autor zu bezeichnen. - 4 cf. Der Ritter von S. ed. E. Grunewald. Tübingen 1979, 5 sq. - 5 Nach Grunewald (wie not. 4). - 6 Albrecht von Scharfenberg: Merlin und Seifrid de Ardemont. ed. F. Panzer. Tübingen 1902, L X X I I - L X X X I X . - ' J o h a n n Fischarts Werke 1. ed. A. Hauffen. Stg. [1895], 263-352. - 8 Grunewald (wie not. 4) V. 955-989; Schnyder 1994 (wie not. 1) 30 und not. 35. - 9 c f . Jäckel, P.: Egenolf von S., ein Nachahmer Konrads von Würzburg. Marburg 1898. - , 0 cf. Schnyder 1994 (wie not. 1): Beim Doppelweg-Schema erweist sich der Held auf einer glückhaft gewonnenen Position (Herrschaft, Frau) als unvollkommen; nach einer Krise muß er sie verlassen und sie erneut, diesmal mühevoll auf einem sinnträchtigen Stationenweg, erkämpfen. " K r a n e m a n n 1987 und 1988 (wie not. 1). - 12 cf. Grunewald (wie not. 4) V. 1143-1153. - 1 3 id. (wie not. 1) 143. - 14 Spreitzer (wie not. 1) 102-110. 15 Lundt (wie not. 1) 131-136. - 16 cf. Röhrich, Erzählungen 1, 2 7 - 6 1 , 243-253. - 1 7 Theophrastus von Hohenheim: Liber de nymphis, sylphis, pygmseis et salamandris et de caeteris spiritibus. ed. R. Blaser. Bern 1960, 30 sq. - 1 8 Zu ibid., 3 1 , 1 - 4 cf. 1. Thess. 5,21; zu 31,8 cf. Ps. 67,36 und 138,14; dazu Ruh, K.: Die Melusine des Thüring von Ringoltingen. Mü. 1985, 20 sq. - 19 Zimmerische Chronik 1. ed. Κ. A. Barack. Fbg 2 1881, 2 7 - 3 2 ; Röhrich, Erzählungen 1, 42 - 4 4 (gekürzt). - 2 0 Fischart (wie not. 7); zur Prosavorrede Jobins cf. Schnyder 1989 (wie not. 1) 36, not. 1. - 21 ibid. - 22 cf. ibid., not. 74. - 23 cf. Röhrich, Erzählungen 1, 44 sq. - 24 Bubenhofer, G.: Melusina travestita. Die Geschichte des Ritters Peter Diemringer von Staufenberg in Sage und Dichtung unter bes. Berücksichtigung des Kap.s XXVI von Grimmelshausens Roman „Der seltsame Springinsfeld". In: Die Ortenau 73 (1993) 543-567. - 25 Röhrich, Erzählungen 1, 45 sq., 247 sq. - 2 6 cf. ibid., 46-61. M u r i bei Bern

Andre Schnyder

Petronius ( G a i u s P. A r b i t e r ; eigentlicher N a m e m ö g l i c h e r w e i s e T i t u s P. Niger), f C u m a e 66 p . C h r . n., r ö m . Schriftsteller. P., ein in

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Petronius

erster Linie mit der Kultivierung eines verfeinerten Lebensstils beschäftigter Lebemann, war auch eine Zeitlang Prokonsul von Bithynien, später (vermutlich 62 oder 63) röm. Konsul; danach wurde er als arbiter elegantiae (Schiedsrichter des guten Geschmacks) des Kaisers Nero zu einer der wichtigsten Persönlichkeiten bei Hofe. Von dem Gardepräfekten Tigellinus aus Neid der Teilnahme an einer Verschwörung gegen den Kaiser bezichtigt, inszenierte der vermutlich unschuldige P. angesichts drohender Verurteilung seinen Selbstmord, bei dem er seine Freunde bis zum Schluß mit Scherzreden unterhielt. Die vollständigste Beschreibung von P.' Leben findet sich bei Tacitus 1 . Das Bild des Menschen P. spiegelt sich im Satyricon wider, als dessen Autor er gilt 2 . Das Werk ist nur in Bruchstücken (vermutlich Teilen von Buch 15 und 16) erhalten; die Handlung ist daher nur noch teilweise zu rekonstruieren. Im Mittelpunkt stehen die sexuellen Abenteuer und Gaunereien des vagabundierenden Schülers Encolpius, von ihm selbst als Ich-Erzähler berichtet; ein Leitmotiv bildet die Ungnade des Gottes Priapus, von der Encolpius verfolgt wird und die sich in immer wieder auftretender Impotenz äußert. Vielfach separat ediert wurde die im Satyricon enthaltene Schilderung eines von dem reichen Emporkömmling Trimalchio gegebenen Gastmahls, die Cena Trimalchionis. Tabuthemen (Bisexualität, Aphrodisie, Inzest, -> Homophilie, Pädophilie) durchziehen die Handlung des Satyricon und werden wirkungsvoll, ζ. T. mit Hilfe halluzinatorischer Effekte - Labyrinthe, Scheidewege, Hexen, Gespenster, verwickelte Liebesgeschichten, Streitigkeiten, Rollentausch, Verwechslungen — in Szene gesetzt 3 ; widergespiegelt werden Falschheit, Zweideutigkeit und moralische Verlogenheit der röm. Hofgesellschaft zur Zeit des Niedergangs der antiken Welt, d. h. hier der Nero- oder Trajanzeit (1. oder 1 . - 2 . Jh. p. Chr. n.). Als Gattungsvorbild des Satyricon wird weniger das formale Muster der Mischung aus Poesie und Prosa angesehen, wie sie bei dem griech. Dichter und Philosophen Menippos (4.—3. Jh. a. Chr. n.) vorgeprägt ist, als der Prototyp der antiken Reiseliteratur, Homers Odyssee. Es ist daher kein Zufall, daß die ho-

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mosexuellen Liebesabenteuer des Encolpius und seines Freundes Giton in einer Schiffsreise gipfeln. Der Roman des P. ist sowohl als Persiflage auf die Irrfahrten des Odysseus wie auch den griech. Liebesroman zu verstehen; eingebaut sind Satiren auf zeitgenössische Dichtungen Lukans und Neros 4 . Das Satyricon enthält verschiedene Binnenerzählungen, deren Überlieferung ζ. T. bis in die Moderne reicht. Die erste dieser Erzählungen ist die Geschichte vom unzerbrechlichen Glas (50,1 — 52,6): Trimalchio prahlt mit dem Besitz von Gefäßen aus echter korinth. Bronze, wie sie sich beim Brand Korinths (146 a. Chr. n.) aus einer Mischung verschiedener edler Metalle gebildet habe, und erzählt dann, daß der Hersteller einer verformbaren, unzerbrechlichen Sorte Glas vom Kaiser enthauptet wurde, um einer möglichen Entwertung des Goldes vorzubeugen. An dieser Stelle fällt einem zerstreuten Knaben der Kelch aus der Hand und zerbricht; doch Trimalchio vergibt ihm in heiterer Laune und bestraft ihn in der gelösten Atmosphäre des Gastmahl nicht. Die beiden zentralen Erzählungen, eine Werwolfs(-• Wolfsmenschen) und eine Hexengeschichte, werden von dem Witzbold Niceros und dem Gastgeber selbst zum besten gegeben 5 . Die erste, von Ε. B. Tylor 6 den Erzählungen über - La Fontaine, die im Rahmen der ,Querelle des anciens et des modernes' nicht zufällig Anhänger der Antike waren)". Schließlich finden komisch-satirische Züge auch Textentsprechungen in einem Vaudeville von Madame Angot (Ende 18. Jh.) 12 . Nicht übersehen werden darf in einer entfernteren und losgelösteren Projektion Federico Fellinis Film Satyricon (1970), der die Handlung des antiken lat. Romans unter Respektierung der fragmentarischen Texttradition und Wahrung der Idee opfert, die dieser als Symbol und Zeichen einer Dekadenz und Endzeit repräsentiert 13 . 1 Tacitus, Annales 16, 18 sq. - 2 c f . Materiali e contributi per la storia della narrativa greco-latina. Atti del convegno internazionale „Letterature classiche e narratologia". Perugia 1981 (zahlreiche Beitr.e zu P.); Conte, G. B.: The Hidden Author. An Interpretation of P., Satyricon. Berk. u. a. 1996 (ital.: 1997);

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Petrus Alfonsus

Schmeling, G.: The Literary Use of Names in P.' Satyricon. In: Rivista di studi classici 17 (1969) 5 - 1 0 . — 3 Marzullo, Α.: Elementi satirici e popolareschi nella Cena Trimalchionis. In: Atti e memorie dell'Accademia Nazionale di Scienze, Lettere e Arti di Modena 15 (1957) 175-214; Gagliardi, D.: II comico in Petronio. Palermo [1985]; Canali, L.: L'erotico e il grottesco nel Satyricon. Rom/Bari 1986; Fedeli, P.: II viaggio, il labirinto. In: Materiali e discussioni per l'analisi dei testi classici 6 (1980) 91-117; cf. auch Hartmann, Ε.: Volkskundliches bei P. In: ZfVk. 45 (1937) 45 sq. - 4 Lefevre, E.: Studien zur Struktur der „Milesischen" Novelle bei Petron und Arbiter. Stg. 1997; Canfora, L.: Problemi della narrativa di etä classica. Novella e romanzo. In: Atti e relazioni dell'Accademia Pugliese delle Scienze 45 (1990) 3 9 - 4 6 ; Fedeli, P.: Le novelle del Satyricon di Petronio. ibid., 89-104; Colton, R. E.: Martial 3.82 and P.' Cena Trimalchionis [1982]. In: id.: Studies of Imitation in Some Latin Authors. Amst. 1995, 240-255. - 5 Fedeli, P./Dimundo, R.: Petronio Arbitro. I racconti del Satyricon. Rom 1988. - 6 Tylor, Ε. B.: Researches into the Development of Mythology, Philosophy, Religion, Language 1. L. 1871 (21873), 312 sq. — 7 Bronzini, G. B.: La dimensione carnevalesca del Satyricon. In: Studi e materiali di storia delle religioni 62 (1996) 6 5 - 7 4 . - 8 Martin, J.: Uses of Tradition. Gellius, P. and John of Salisbury. In: Viator 10 (1979) 5 7 - 7 6 ; Weinreich, Ο.: Fabel, Aretalogie, Novelle. Beitr.e zu Phädrus, Petron, Martial und Apuleius. Heidelberg 1931. - 'Schuster, M.: Der Werwolf und die Hexen. Zwei Schauermärchen bei P. In: Wiener Studien 48 (1930) 149-178; Bronzini, G. B.: II lupo mannaro e le streghe di Petronio. In: Lares 54 (1988) 147-207. - 10 Huber, G.: Das Motiv der „Witwe von Ephesus" in lat. Texten der Antike und des MA.s. Tübingen 1990. " C o l t o n , R. E.: Studies of Classical Influence on Boileau and La Fontaine. Hildesheim/Zürich/N. Y. 1996. - 12 Gier, Α.: Fischweiber-Latein. Petron-Zitate im Vaudeville von Madame Angot. In: Arbor amoena comis. Festschr. zum 25jährigen Bestehen des Mittellat. Seminars der Univ. Bonn. Stg. 1990, 305-309. - 13 Sütterlin, Α.: P. Arbiter und Fedrico Fellini. Ein strukturanalytischer Vergleich. Ffm. u. a. 1996. A u s g . n : Petronio: Satyricon. ed. V. Ciaffi. Nachdr. Turin 1983. - Petronio Arbito. Satyricon. ed. C. Pellegrino. Rom 1986. — Petron: Satyricon. ed. H. C. Schnur. Stg. 1999. - P.: Satyricon. ed. P. G. Walsh. Ox u. a. 1999. - P.: Cena Trimalchionis. ed. J. Oberg. Sth. 1999.

Bari

Giovanni Battista Bronzini

Petrus Alfonsus, * ca 1065, f nach 1121. Der konvertierte Jude Moseh Sefardi nannte sich P. A. seit seiner Taufe am Tag der Apostel Pe-

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trus und Paulus (29. Juni) 1106 in der Kathedrale von Huesca zu Ehren des einen Festtagsheiligen sowie seines Paten, des aragones. Königs Alfons I. (1073-1134). Die Anwesenheit des Königs bei der Zeremonie legt nahe, daß es sich bei Ρ. Α. um eine bedeutende Persönlichkeit, vielleicht einen Rabbiner, handelte; vermutlich war er auch Arzt Alfons' I. sowie Heinrichs I. von England (1100-35). Als Magister der artes liberales, bes. der Astronomie, reiste er über Frankreich nach England, wo er den Abt des Klosters Malvern, Walcher, unterrichtete. Unter P. A.' erhaltenen Werken 1 befinden sich der apologetische Dialogus contra Judaeos2, das didaktische Traktat Disciplina clericalis3, eine Version der astronomischen Tafeln des arab. Geographen und Astronomen al-Hwärizml (ca 1. Hälfte 9. Jh.) 4 und ein Sendschreiben an die frz. Logiker, die Epistola ad peripateticos5. Obwohl er auch in den Dialogus6 und die Epistola7 die eine oder andere Erzählung einfügte, ist sein für die Verbreitung oriental. Erzählguts im Westen bedeutendstes Werk die Disciplina clericalis. Im Prolog erklärt der Autor, er habe sein Buch teils aus Sprichwörtern der Philosophen und ihren Lehren, teils aus arab. Sprichwörtern, Lehren, Fabeln und Versen, teils aus Gleichnissen zusammengestellt. P. A. arbeitet also mit den in didaktischen Werken üblichen Formen der Weisheitsvermittlung (Sentenzen, Fabeln, gnomische Verse, Gleichnisse). Zur Strukturierung des Ganzen greift er auf verschiedene Hilfsmittel zurück. So verknüpft eine Verschachtelungstechnik, bei der eine Erzählfigur zum Erzähler der nächsten Geschichte wird, das erste mit dem zweiten und das dritte mit dem vierten Exemplum. Häufiger ist der Gebrauch des ->• Dialogs zwischen Vater und Sohn, Lehrer und Schüler, der als einleitender Rahmen und Bindeglied von Exempel 9 - 1 8 , 18, 19 - 20, 29 sowie 31 - 32 dient. Die thematische Verbindung schließlich erklärt die Anordnung der verschiedenen Weisheitsformen 8 . Die Ausg. von A. Hilka und W. Söderhjelm (1911) zählt 34 Exempla. Diese Numerierung ist allerdings anfechtbar, denn die erzählerische Struktur von num. 32, 33 und 34 ist schwach, während andere Passagen, die nicht mitgezählt sind, kurze Erzählungen bilden 9 ; ei-

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Petrus Alfonsus

nige E x e m p l a (num. 3, 18) k ö n n t e n auch unterteilt werden 1 0 . Motivgeschichtlich ist die Disciplina clericalis bes. v o n V. -> C h a u v i n " , H. -> S c h w a r z b a u m 1 2 u n d O. -> Spies 1 3 untersucht worden. Eine Reihe v o n Geschichten besitzt eindeutig oriental. Parallelen, es kann aber nicht ausgeschlossen werden, d a ß sie in vielen Fällen über mündl. Q u . η z u m Autor gelangt sind. Kaiila und Dimna bildet die Qu. für num. 24, die arab. Fassung der Sieben weisen Meister für num. 11, 13 und 14 14 . D i e außerordentlich weite Verbreitung der Disciplina clericalis spiegelt sich s o w o h l in der k o m p l e x e n Hss.Überlieferung (ca 76 Hss.) als auch in den zahlreichen Übers.en wider. Für das Französische sind zwei Prosaübertragungen (pikard., gaskogn.) s o w i e eine Versübersetzung bekannt. Erhalten sind auch drei unvollständige isl. Versionen (14. Jh.), je eine engl, und eine ital. Übers, (beide 15. Jh.), ferner eine hebr. (16. Jh.) 1 5 . D a sie lat. abgefaßt waren, wurden die Erzählungen der Disciplina clericalis v o n zahlreichen Predigern als Exempla benutzt u n d in die eigenen E x e m p e l s a m m lungen a u f g e n o m m e n . Einer der ersten, der zur Predigt auf das Werk des P. A. zurückgriff, war -» Jacques de Vitry 1 6 . Ausführlich benutzt wird die Disciplina clericalis im Alphabetum narrationum (num. 58, 60, 191, 520, 5 4 4 - 5 4 7 , 666, 738) sowie dessen engl. ( A l p h a b e t of Tales) und katalan. Fassung (Recull de exemplis). Erzählungen aus der Disciplina clericalis enthalten auch viele andere ma. S a m m l u n g e n , s o das Speculum laicorum (num. 42, 49, 391, 489, 532, 533), die Gesta Romanorum (num. 28, 31, 106, 118, 122, 123, 129, 157, 167, 171, 174, 246) oder die Scala coeli des -> Johannes G o b i Junior (num. 32, 68, 69, 101, 136, 431, 456, 509, 510, 515, 520, 733 D , 794); v o n einer direkten Abhängigkeit ist hier j e d o c h nicht immer auszugehen. Eine enge Verbindung besteht auch z u m -» Libro de los e(n)xemplos des d e m e n t e Sänchez und z u m Esopus des Heinrich Steinhöwel 1 7 . E r z ä h l t y p e n u n d - m o t i v e : Kap. 1, 2 = AaTh 893: ->• Freundesprobe18. - 3 = Belohnung für geistreiche Antwort (Goldberg *Q 85.1). - 4 = AaTh 47 E: Esels Urkunde™. - 5 = AaTh 155: -» Undank ist der Welt Lohn. - 6 = AaTh 1661: Die dreifache -» Steuer. - 7 = Mann, der sich in schlechte Gesellschaft begibt, soll mit den anderen hingerichtet werden (Mot. J 451 + Mot. Ν 347.1). - 8 = Ruf des Käuzchens bedeutet Tod eines Menschen (Tubach,

800

num. 3556; - Eule). - 9, 10 = AaTh 1419 C: Der einäugige -> Ehemann20. — 11 = AaTh 1419 D: cf. Ehebruchschwänke und -witze 21 . - 12 = AaTh 2300: -> Endlose Erzählung 22 . - 13 = AaTh 1515: Die weinende -> Hündin23. - 14 = AaTh 1377: -» Puteus. - 15 = AaTh 1617: -» Kredit erschwindelt. — 16 = Diebstahl von Öl durch Messen des Bodensatzes herausgefunden (Mot. J 1176.2). - 17 = Eigentümer des Geldbeutels beschuldigt ehrlichen Finder, daß er seinen Lohn schon genommen habe; darauf entscheidet der Richter, daß es sich um eine andere Börse handeln müsse (Mot. J 1172.1). - 18 = cf. AaTh 910 B: cf. Die klugen Ratschläge. - 19 = AaTh 1626: - Traumbrot24. - 20 = AaTh 1567 E: cf. -» Hungrigenschwänke. - 21 = Gieriger hat angeblich Knochen mit dem Fleisch zusammen verzehrt (Mot. J 1289.12)25. - 22 = AaTh 150: Die drei -» Lehren des Vogels26. — 23 = AaTh 154: Fuchs und Glieder + AaTh 34: cf. Spiegelbild im Wasser + AaTh 32: -» Rettung aus dem Brunnen. — 24 = Räuber auf dem Dach will sich am Mondstrahl herunterlassen (Mot. Κ 1054)27. - 25 = Weiser prophezeit Untergang des Tyrannen (Mot. Μ 342.1). - 26 = Kluger Mann lehnt Staatsamt ab, da die Ausgaben den Gewinn übersteigen würden (Mot. J 342.2). 27 = Der faule Diener Maimundus läßt die Tür nachts offen (Mot. W 111.2.2), fühlt am Fell der Katze, ob es draußen regnet (Mot. W i l l .2.4) oder ob das Feuer schon angefacht ist (Mot. W 111.2.5) + AaTh 2040: ->• Häufung des Schreckens. - 28 = -> Sokrates in der Tonne (Mot. J 152.1; cf. Diogenes). - 29 = Belohnung für barmherzigen Almosengeber (Mot. Q 44). - 30 = Einbrecher wird gefaßt, da er unschlüssig ist, was er stehlen soll (Mot. J 2136.5.1). - 31 = AaTh 1543: Keinen - Pfennig weniger. - 32 = Ernüchternde Bewertung des irdischen Daseins auf Grabinschrift (Tubach, num. 3743). — 33 = Weise Sprüche am Grab von Alexander d. Gr. (cf. Mot. L 413). - 34 = Einsiedler bereitet Seele auf den Tod vor (Tubach, num. 4520). 1 Reinhardt, K./Santiago-Otero, H.: Pedro Alfonso. Obras y bibliografia. In: Lacarra, M. J. (ed.): Estudios sobre Pedro Alfonso de Huesca. Huesca 1996, 19-44; Burnett, C.: Las obras de Pedro Alfonso. Problemas de autenticidad. ibid., 313-348; Tolan, J.: P. A. and His Medieval Readers. Gainesville 1993. — 2 El „Dialogus contra iudaeos" de Pedro Alfonso. Übers. A. Ballestin. Diss. Zaragoza 1993, 112-267; Dialogo contra los judios. ed. K.P. Mieth. Huesca 1996; Tolan, J.: Los Diälogos contra los judios. In: Lacarra (wie not. 1) 181-230. 3 Disciplina clericalis. 1: Lat. Text. ed. A. Hilka/ W. Söderhjelm. Hels. 1911; Pedro Alfonso: Disciplina clericalis. ed. A. Gonzalez Palencia. Madrid/ Granada 1948; Pedro Alfonso: Disciplina clericalis. ed. M. J. Lacarra. Zaragoza 1980; P. Alfonsi: Die Kunst, vernünftig zu leben, ed. E. Hermes. Zürich/ Stg. 1970; Jones, J. R./Keller, J. E.: The Scholar's Guide. Α Translation of the Twelfth-Century Disciplina clericalis of Pedro Alfonso. Toronto 1969;

801

Petrus, Hl.

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802

Alphonse. In: Paredes, J./Gracia, P. (edd.): Tipologia de las formas narrativas breves romanicas medievales. Coloquio internacional (Granada, 18.-20.4. 1996). Granada 1998, 311-381. - 1 9 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 523. - 2 0 Rodriguez Adrados, F.: Documentation suplementaria de la fäbula greco-latina. In: Evphrosyne 18 (1990) 213-226. 21 Noomen, W.: Le Lai de l'Epervier. In: Melanges de linguistique, de litterature et de philologie medievales. Festschr. J. R. Smeets. Leiden 1982, 207-225; Chevalier, M.: Cuentos folkloricos espanoles del Siglo de Oro. Barcelona 1983, num. 143. - 22 cf. Molho, M.: Cervantes. Raices folkloricas. Madrid 1976, 218-231. - 2 3 Chatillon, F.: A propos de la Chienne qui pleure. In: Revue du Moyen Age latin 36 (1980) 3 9 - 4 1 ; Groult, P.: Pedro Alfonso y La Celestina. In: Les Lettres romanes 22 (1968) 207-277. - 24 Da Costa Fontes, Μ.: A Portuguese Folk Story and Its Early Congeners. In: Hispanic Review 58 (1990) 7 3 - 8 8 . - 2 5 Marzolph, Arabia ridens 1, 64. - 2 6 C a c h o Blecua, J. M.: Del „exemplum" a la „estoria" ficticia. In: Paredes/Gracia (wie not. 18) 209-236. - 2 7 Tubach und Dvorak, num. 4778; Marzolph, U.: Nasreddin Hodscha. Mii. 1996, num. 371. Zaragoza

Maria Jesus Lacarra D u c a y

Petrus, Hl., -» Apostel, -> Märtyrer (Feste: 29. Juni: H a u p t f e s t z u s a m m e n mit Paulus; 22. Febr.: Stuhlfeier; 1. Aug.: Kettenfeier, 1960 aufgehoben). P. selbst hat keine schriftl. Zeugnisse hinterlassen. D i e zwei P.briefe des N . T.s tragen lediglich seinen N a m e n . Als älteste literar. Quellen zu P. gelten die Paulusbriefe und das Markusevangelium1. P. stammte aus Bethsaida in Galiläa und erhielt v o n Jesus ( - • Christus) den Beinamen P. ( = Kephas, aram. Kefa: Edelstein, später Fels), sein eigentlicher N a m e war S i m o n (Mk. 3,16; Joh. 1,42). Er lebte zur Zeit seiner Berufung wie sein Bruder Andreas als Fischer in K a p h a r n a u m am See Genezareth und war verheiratet (Heilung seiner Schwiegermutter durch Jesus: Mt. 8,14; Mk. 1 , 2 9 - 3 4 ; Lk. 4 , 3 8 - 4 1 ) . P. gehörte mit - Johannes Evangelista und dessen Bruder -» Jac o b u s zu den bevorzugten Jüngern. Er war stets an der Seite Jesu, s o bei der Erweckung der Jairus-Tochter (Mk. 5,35-43; Lk. 8 , 4 9 - 5 6 ) , bei der Verklärung (Mt. 1 7 , 1 - 8 ; M k . 9 , 2 - 1 3 ; Lk. 9 , 2 8 - 3 6 ) und am Ölberg (Mt. 2 6 , 3 6 - 4 6 ; Mk. 1 4 , 3 2 - 4 2 ) . Er gehörte zu den ersten v o n Jesus berufenen Jüngern und war — neben Maria M a g d a l e n a (Mk. 16,9) — der erste, d e m der Auferstandene erschien

803

Petrus, Hl.

( L k . 2 4 , 3 4 ; 1. Kor. 15,5). Zusammen mit Johannes und J a c o b u s stand er an der Spitze der Jerusalemer Urgemeinde, ehe er nach Anti-

804

nen Engel aus dem Kerker der Herodes (Apg. 12,3-19; Mot. V 232.8). Vermehrt durch weitere -» Wunderheilun-

ochien ging (Gal. 2 , 1 1 - 1 4 ) . Seine führende Stellung in der Urgemeinde spiegelt seine Nennung an erster Stelle in den neutestament-

gen, Totenerweckungen (-> Wiederbelebung) und andere Wundergeschichten sind die apokryphen P a k t e n (-• Apokryphen, Kap.

lichen Apostellisten (Mt. 10,2; Mk. 3,16; Lk. 6,14; Apg. 1,13). In der Auseinandersetzung

3.4.1) 3 :

zwischen der radikal-judenchristl. und der heidenchristl. Position nahm er zuletzt eine vermittelnde Haltung ein (Apg. 15,1—33; Gal. 2 , 1 1 - 1 4 ) 2 . Nach der Überlieferung erlitt er unter Nero um 6 5 in R o m den Märtyrertod. N a c h kathol. Lehre erhielt P. von Jesus selbst den Primat (Mt. 16,18 sq.); er gilt als erster Bischof in R o m und begründete damit die Stellung des -»• Papstes als Inhaber der obersten Kirchengewalt. N a c h Protestant. Lehre ist P. als erster Repräsentant der Apostel anzusehen (Mt. 18,18). P. ist P a t r o n der Fischer, Schlosser, Schmiede, Soldaten und Steinbrucharbeiter; sein Hauptattribut ist der Schlüssel (meist zwei, seltener drei). Die Evangelien zeichnen den zwischen begeistertem Bekenntnis und mutloser Verleugnung schwankenden Charakter des P. bes. in folgenden Ereignissen und Berichten: Berufung am See Genezareth (Mt. 4,18—22; Mk. 1,16-18; Joh. 1,38-42); reicher Fischfang - ,Menschenfischer' (Lk. 5 , 3 - 1 0 ; Joh. 2 1 , 1 - 1 4 ) ; Sturm und Wandel auf dem See (Mt. 14,27—31); Zinsgroschen im Maul des Fisches (Mt. 17,24—27); Bekenntnis von Cäsarea, danach Verheißung der Binde- und Lösegewalt — ,Schlüssel des Himmelreiches' (Mt. 16,17-19; Mk. 8 , 2 7 - 3 0 ) ; Fußwaschung (Joh. 13,5-10); Malchus-Episode bei Jesu Gefangennahme (Joh. 18,10 sq. und 18,26); dreimalige Verleugnung, ,ehe der Hahn kräht' (Mt. 2 6 , 6 9 - 7 5 ; Mk. 14,66-72; Lk. 2 2 , 5 4 - 6 2 ; Joh. 18,15-27); Lauf zusammen mit Johannes zum Grab Jesu (Joh. 20,2—4). Die Apostelgeschichte stellt P. in den ersten zwölf Kapiteln in den Mittelpunkt. U n t e r narrativem Aspekt ist daraus hervorzuheben: Heilung eines Gelähmten durch P. und Johannes (Apg. 3,1—8); P. und Johannes im Gefängnis (Apg. 4,3—22); Tod des Ananias und der Saphira, nachdem sie einen Teil des Verkaufserlöses für einen Akker unterschlagen hatten (Apg. 5 , 1 - 1 0 ) ; Heilung von Kranken durch den Schatten des P. (Apg. 5,14-16); -» Simon Magus in Samaria (Apg. 8 , 9 - 2 4 ) ; Heilung des gichtbrüchigen Aeneas in Lydda (Apg. 9,33 sq.); Erweckung der Tabitha in Joppe (Apg. 9,36-41); Traum von den reinen und unreinen Tieren (Apg. 10,9-16); Befreiung durch ei-

Petronilla, die ,Tochter des P.', wird von einer Lähmung geheilt, dann aber wieder in ihre Krankheit zurückversetzt, um dem Werben des Ptolemäus zu entgehen (Tubach, num. 3718). Ein von P. aus einem jungen Mann vertriebener Dämon zertrümmert eine Kaiserstatue; Marcellus macht sie im Vertrauen auf P. wieder heil. Ein von P. in einen Teich geworfener geräucherter Fisch wird wieder lebendig (-» Bratenwunder). P. heilt eine blinde Witwe; andere alte Witwen, gleichfalls blind, sehen den Herrn in verschiedener Gestalt. Bei der Auseinandersetzung mit Simon Magus, der aus Judäa nach Rom geflüchtet war (Mot. V 351.3.1), trägt P. einem Hund mit menschlicher Stimme eine Botschaft an Simon Magus auf; ein sieben Monate alter Säugling spricht mit männlicher Stimme zu Simon Magus; P. erweckt einen von Simon Magus getöteten Jüngling, den dieser nicht mehr ins Leben zurückrufen konnte, und auch den jungen Nicostratus auf Bitten von dessen Mutter; auf das Gebet des P. hin stürzt Simon Magus bei seinem Flugversuch schließlich tödlich ab. P. fordert die Frauen auf, sich des Geschlechtsverkehrs zu enthalten (-» Keuschheit), was seine Verfolgung durch die Ehemänner auslöst. P. schickt sich auf Bitten der Glaubensbrüder an, Rom zu verlassen, um den Schergen Neros zu entgehen, da erscheint ihm am Stadttor Christus („Quo vadis, domine"). P.' -» Kreuzigung erfolgt auf eigenen Wunsch mit dem Haupt nach unten. Unter den apokryphen P.schriften 4

findet

sich u. a. ein Evangelium Petri. N a c h ->• Isidor von Sevilla soll P. dem Markus das Evangelium diktiert haben 5 . Eine apokryphe P a p o k a lypse überliefert Vorstellungen des Orients über Himmel und Hölle, die noch bei Dante nachwirken (-> Vision, Visionsliteratur). Die obskure Orakel-Behauptung, daß P. einen m a gischen Ritus vollzogen habe, bei dem ein einjähriger Knabe getötet worden sei, wird von Augustinus {De civitate Dei 17, K a p . 53 sq.) als haltlos erwiesen 6 . Die m a . Legendenliteratur nimmt ältere Traditionen auf, variiert, erweitert und vermehrt sie 7 . Die Legenda aurea bietet den umfassendsten Bestand an Erzählmotiven und Episoden unter Berufung a u f Papst L e o , Marcellus, Dionysius, -> Gregor von Tours, Hegesippus und Linus 8 .

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Petrus, Hl.

P. bestärkt seine Frau, als sie zum Martyrium geführt wird. Durch die Berührung mit P.' Stab wird einer seiner Jünger, der 40 Tage tot gelegen hatte, wieder lebendig 9 . P. erweckt einen jungen Mann von den Toten, nachdem dies Simon Magus nicht gelungen war. Er vertreibt mit einem geweihten Brot die von Simon Magus herbeigerufenen Hunde, die ihn zerfleischen sollen. Mit dem Kreuzzeichen besänftigt er einen großen Hund, der ihn zuerst am Eintritt hindern soll und der danach den Simon Magus erwürgen will. Nach dem Todessturz des Simon Magus läßt Nero P. und Paulus einkerkern. Die Wächter Processus und Mamertinianus bekehrt P. zum Christentum 10 . Diese lassen die beiden Apostel aus dem Gefängnis entweichen. Als P. aus Rom fliehen will, begegnet ihm am Stadttor Christus. Nach ihrer Verurteilung zur Kreuzigung bzw. Enthauptung verabschieden sich P. und Paulus voneinander (Tubach, num. 3717). Beide sollen den Märtyrertod am selben Tag im selben Jahr erlitten haben. Bei der Kreuzigung des P. sehen die Umstehenden beim Kreuz Engel mit Kränzen, Rosen und Lilien sowie Christus, der P. ein Buch reicht. Dionysius sieht P. und Paulus nach ihrem Tod Hand in Hand wieder zum Stadttor eingehen. Die Reliquien der beiden Apostel werden nach einem Raubversuch durch die Griechen vermengt und können auf eine Offenbarung hin wieder geschieden werden: „Die größeren Gebeine sind des Predigers, die kleineren des Fischers"". Wunder nach dem Tod: Ein lahmes Mädchen wird auf Weisung von P. im Petersdom in Rom vom Mesner Agontius geheilt. Der Witwe Galla wächst ein Bart, da sie sich nicht wieder verheiraten will (cf. Hl. -» Kümmernis). Sie sieht P. drei Tage vor ihrem Tod; er bestätigt ihr Vergebung der Sünden und kündigt ihr den Tod einer Mitschwester an. P. und Paulus erscheinen einem Priester am Sterbebett (Tubach, num. 3715) 12 . Zum Fest Petri Stuhlfeier 13 erzählt die Legenda aurea von der Erweckung des Sohnes des Statthalters Theophilus von Antiochien, der 14 Jahre tot gelegen hat, und von der Heilung der Siechen und vom Teufel Besessenen, die man P. entgegenführt. Die priesterliche Tonsur wird darauf zurückgeführt, daß P., bevor er in Antiochien ins Gefängnis geworfen wurde, aus dem ihn die Fürbitte des Paulus wieder befreite, zur Schmach das Haupthaar (-> Haar) abgeschnitten wurde. Zum Fest der Kettenfeier 14 wird berichtet: Balbina, die Tochter des Tribunen Quirinus, gesundet durch Küssen der - Martin von Tours. In Exempelsammlungen wird über die herausgehobene Stellung des P. im -• Himmel 20 berichtet sowie über seine Befugnis, darüber zu bestimmen, wer in den Himmel (Tubach, num. 3724)21 und wer in die Hölle 22 kommt. Weitere Exempel erzählen von der Armut des P. im Unterschied zum luxuriösen Leben kirchlicher Würdenträger (Tubach, num. 37 1 6) 23 , von P.' Vision über fünf Narren, die die fünf Torheiten der Menschheit repräsentieren (Tubach und Dvorak, num. 2134), von der Wichtigkeit, das ewige Leben zu erlangen (Tubach, num. 3722), sowie von Heilungs- (Tubach, num. 3719) und Wiederbelebungswundern (Tubach, num. 3723) des P. Als Protagonist findet sich P. auch in Var.n der Legendenmärchen AaTh 759: -> Engel und Eremit und AaTh 827: -» Heiligkeit geht über Wasser. Da viele seit dem späten MA. umlaufende Erzählungen den Heiligen oft zu einer komischen Figur werden lassen, berichten von Klerikern propagierte Exempel über die Bestrafung seiner Spötter und Verächter24: Einem Bauernjungen, der sein Bild geohrfeigt hat, erscheint P. in der folgenden Nacht und erschlägt ihn25. Zahlreiche Petrusschwänke wie auch legendenartige Erzählungen über P. gehören zum Erzählkomplex der Erdenwanderung der Götter. Während es in den Schwänken oft um die unvollkommene Nachahmung der Taten Jesu geht und P. die Rolle des Unterlegenen innehat, erscheinen Jesus und P. in den legendenartigen Erzählungen als gemeinsam Handelnde: So werden eine Brot verweigernde Bäuerin (AaTh 751 A: -> Bäuerin als Specht) oder eine Wasser verweigernde alte Frau bestraft26. P. wird auf der Wanderschaft von Jesus befähigt, den gelähmten Sohn eines Schusters als Lohn für die Reparatur seiner durchgelaufenen Sandalen zu heilen27. Die äsopische Lehre, daß nur dem, der sich selbst helfe,

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Petrus, Hl.

auch Gott hilft, wird ebenfalls mit der Erdenwanderung Jesu und Petri verknüpft 2 8 . Auch in AaTh 750 A—D: Die drei -» Wünsche finden sich als Handlungsträger Jesus und P. auf Erdenwanderung 29 . Zaubermärchen mit christl. Zügen kennen P. als handelnde Person, ζ. B. Var.n zu AaTh 514: cf. Frau in Männerkleidung, AaTh 402: -> Maus als Braut, AaTh 465: Mann wird wegen seiner schönen Frau verfolgt oder AaTh 665: -» Mann, der wie ein Vogel flog und wie ein Fisch schwamm. In Var.n zu AaTh 710: Marienkind ist der verbotene Bereich ein Raum, in dem Christus, P. und Maria ungestört die Messe feiern wollen. Regional unterschiedlich ist die Rolle, die P. in Schöpfungsmythen und ätiologischen Erzählungen spielt. In einer ukr. mythol. Erzählung helfen P. und Paulus Gott bei der Weltschöpfung durch die Gestaltung von Bergen, in einem ukr. Lied hingegen versagen sie bei dem Auftrag Gottes, aus Meeressand die Welt zu erschaffen 30 . In einer weiteren ukr. Erzählung läßt Gott P. den Teufeln das Feuer stehlen, um es den Menschen zu bringen (-» Feuerraub) 31 . In K H M 175: Der Mond holt P. den -> Mond aus der Unterwelt zurück und hängt ihn wieder am Himmel auf. In rumän. Sagen wird P. für die Entstehung von Insekten, in einer ung. Erzählung für die der Wölfe in Anspruch genommen 32 . Nach dt. Ätiologien wurde die Ameise nicht vom Teufel, sondern von P. geschaffen 33 . Der schwarze Fleck hinter dem Kopf des Schellfischs soll vom Zugriff des P. beim großen Fischzug herrühren (ndl., norddt.; Mot. A 2217.3.1) 34 . Mit P. wird die Entstehung der Schlüsselblumen (dt., ndl.; Mot. A 2622) 35 , der Ausläuferwurzeln des Stachelbeerstrauchs (südslav.; Mot. G 303.16.1) 36 und der Pilze (dt., poln., ung.; AaTh 774 L: Mushrooms from St. Peter's Spittle, cf. ->• Brotlegenden, Kap. 3) in Zusammenhang gebracht. Der Freitag als Fasttag sei eingeführt worden, als P. den Einwohnern von Rom gebot, an einem Tag der Woche kein Fleisch zu essen, damit seine Fische, die er so reichlich fing, gekauft würden (fläm.) 37 . Die Herkunft der zwölf Apostel, bes. die Geschichte des P , wird in der Kinderlegende num. 2 der K H M erklärt (cf. AaTh 766: -> Siebenschläfer). P. als Himmelspförtner erscheint u. a. im geistlichen Lied 38 : Er kann einer sündigen

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Seele auch den Eintritt in den Himmel verwehren 39 . In weihnachtlichen Einkehrspielen kommt P. als Begleiter oder Herold des Christkinds, auch als Ankläger der Kinder vor 40 . Häufig wird P. in Segenssprüchen zitiert 41 . Bildhafte Redensarten bei Regen, Schnee, Blitz und Donner zeigen ihn als Regenten des - Wetters (Mot. A 287.2) 42 . Außerdem gibt es zahlreiche Wetterregeln zu den Lostagen Peter und Paul und Petri Stuhlfeier sowie Sprichwörter und Redensarten, die mit P. verbunden sind 43 . Aufgrund seiner Bedeutung erscheint P. seit der Antike in Hymnen, im MA. in Chroniken, aber vor allem in Passions- und Osterspielen und bis in die Gegenwart in literar. Werken und Oratorien 44 . Handfest-volkstümliche und gemütvolle Vorstellungen von P. als Himmelspförtner zeigt im 19. Jh. Franz von Kobell in seiner G'schicht' von' Brandner-Kasper*5. 1 cf. u. a. Reau, L.: Iconographie de l'art chretien 3,3. P. 1959, 1076-1100; Bibliotheca Sanctorum 10. Rom 1968, 588-639; Braunfels, W.: P. In: LCI 8 (1976) 158-174; Bocian, M.: Lex. der bibl. Personen. Stg. 1989, 415-425; Hödl, L./Engemann, J./Saxer, V.: P. 1. P., Apostel. In: Lex. des MA.s 6. Stg./ Weimar 1999, 1954-1958; Wehr, L./Berger, K./Angenendt, A./Koch, L./Frank, K. S.: P., Apostel. In: LThK 8 ( 3 1999) 9 0 - 1 0 1 ; Böcher, O./Froehlich, K.: P., Apostel. In: T R E 26 (1996) 263-278; P.briefe, ibid., 308-319. - 2 Z u m Verhältnis des P. zum Judentum cf. spätere jüd. Erzählungen: Greenstone, J. H.: Jewish Legends about Simon-Peter. In: Historia Judaica 12 (1950) 89-104. - 3 Hennecke, Ε./ Schneemelcher, W.: Neutestamentliche Apokryphen in dt. Übers. 2. Tübingen 51989, 243-289. - 4 LThK 8, 98 sq. - 5 cf. EM 7, 306. - 6 M P L 41, 616-620; cf. Hubeaux, J.: L'Enfant d'un an. In: Collection Latomus 2. Festschr. J. Bidez/F. Cumont. Brüssel 1949, 143-158. - 7 cf. ζ. B. Das Alte Passional, ed. Κ. A. Hahn. Ffm. 1845, 155-180; Der Heiligen Leben und Leiden 1 - 2 . Lpz. 1912, hier t. 1, 383-386 (Stuhlfeier), t. 2, 167-174 (Peter und Paul); Das Heiligenleben von Hermann von Fritslar. In: Dt. Mystiker des vierzehnten Jh.s 1. ed. F. Pfeiffer. Lpz. 1845, 3 - 2 5 7 , hier 9 1 - 9 5 (Stuhlfeier), 147-151 (Peter und Paul), 170-172 (Kettenfeier); Wolpers, T.: Die engl. Heiligenlegende des MA.s. Tübingen 1964, 108, 131, 276, 300, 388. - 8 Hug, W.: Qu.ngeschichtliche Studie zur P.- und Pauluslegende der Legenda aurea. In: Hist. Jb. der Görres-Ges. 49 (1929) 604-624. - 9 cf. Günter 1949, 241. - '"Nach Ps.-Linus, einer jüngeren Rezension der Pakten, tauft P. sie mit dem Wasser, das er aus der Felsmauer seines mamertinischen Gefängnisses schlug (Quellwunder): Acta apostolorum apocrypha 1. ed. R. A. Lipsius/M. Bonnet. Lpz. 1891, 1 - 2 2 , hier 6 sq. -

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12 " L e g e n d a aurea/Benz, 426-439. ibid., 13 437-439, 441. ibid., 207-213. - 14 ibid., 525-532. - 1 5 cf. Günter 1949, 310 sq. - 1 6 cf. Reau (wie not. 1) 1085-1099; Stuhlfauth, G.: Die apokryphen P.geschichten in der altchristl. Kunst. B./Lpz. 1925; Brinkmann, H.: Die Darstellung des Apostels P. Ikonographische Studien zur dt. Malerei und Graphik vom ausgehenden MA. bis zur Renaissance. (Diss. Erlangen) Düsseldorf 1936; LCI 8, 165-174; Bocian (wie not. 1) 423-425. - " L e g e n d a aurea/ Benz, Reg. s.v. P. - 1 8 Günter 1949, 104; cf. EM 6, 1042, 1287. - "Fischer, E.: Die ,Disquisitionum magicarum libri sex' von Martin Delrio als gegenreformatorische Exempel-Qu. Diss. Ffm. 1975, num. 51, cf. auch num. 14 (Hund spricht mit menschlicher Stimme zu Simon Magus), num. 59 (Korrektur eines am Grab des P. niedergelegten Briefes). - 2 0 Klapper, MA., num. 96; cf. Günter 1949, 259. 21 Fischer (wie not. 19) num. 70. - 22 Klapper, MA., num. 14. - 2 3 Pauli/Bolte 2, num. 820; cf. EM 6, 1232. - 2 4 cf. Schwänke aus mündl. Überlieferung, ed. J. Künzig/W. Werner. Kommentare: H. Lixfeld. Textheft zu drei Langspielplatten. Fbg 1973, 75. " B r ü c k n e r , 321, num. 245. - 2 6 Banneux, L.: Legendaire ardennais. Brüssel 1982, 169-176. - 27 Ondis, L. Α.: Peter's Sandals. In: New York Folklore Quart. 17 (1961) 226-228. - 28 Köhler/Bolte 2, 102-104. - 29 ζ. B. Brückner, 743; Karlinger, F./Mykytiuk, B.: Legendenmärchen aus Europa. MdW 1967, num. 42; Banneux (wie not. 26) 218-225. 30

Dh. 1, 55, 59 sq. Dh. 1, 142. - 32 Dh. 2, 192 sq. - 3 3 H D A 1, 361. - 3 4 D h . 2, 182. - 35 Dh. 2, 190 sq., cf. auch 200. 36 Dh. 1, 170. - 37 Dh. 2, 183. - 38 Moser, D.-R.: Verkündigung durch Volksgesang. B. 1981, Reg. 39 Erk/Böhme 3, num. 218; Brednich, R. W./Suppan, W.: Gottscheer Volkslieder 2. Mainz 1982, num. 128. - 4 0 Sartori, P.: P., hl. In: H D A 6 (1934-35) 1536-1540, hier 1537. 41 Ohrt, F.: P. in den Segen, ibid., 1540-1543; Franz, Α.: Die kirchlichen Benediktionen im MA 2. Graz 1960, Reg. - 4 2 H D A 6, 1537 sq.; Röhrich, Redensarten 2, 717 sq.; Liebl, E.: Redensarten bei Donner. In: Atlas der Schweiz. Vk. Kommentar 2,2. Basel 1979, 591-596. - 4 3 Sartori, P.: Peter und Paul. In: H D A 6 (1934-35) 1522-1526; id.: Petersfeuer, ibid., 1526; id.: Petri Kettenfeier, ibid., 1530 sq.; id.: Petri Stuhlfeier, ibid., 1531-1535; Wander 3, 1215-1223. - 4 4 Cullmann, F.: Der Apostel P. in der älteren dt. Lit., mit bes. Berücksichtigung seiner Darstellung im Drama. Gießen 1928; Tapper, H.: Die Gestalt des P. in der Lit. des ausgehenden MA.s und des 16. Jh.s. Diss. Ffm. 1935; Oberfeuer, L.: Das P.bild der geistlichen Dichtung der Karolingerzeit. Diss, (masch.) Fbg 1949; Bocian (wie not. 1) 419-421; Lomnitzer, H.: Plied. In. Verflex. 7 ( 2 1989) 521-525; cf. Zwölfer, T.: St. P. Apostelfürst und Himmelspförtner. Seine Verehrung bei den Angelsachsen und Franken. Stg. 1929, 154-157; Dt. Kaiserchronik, ed. E. Schröder. Hannover 1895, V. 2058-2590. - 4 5 Kobell, F. von: Die G'schicht' von' 31

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Petrus Damianus, Hl. - Petrus' Mutter

Brandner-Kasper. In: Bayer. Bibl. 4. ed. H. Pörnbacher/B. Hubensteiner. Mü. 1980, 620-625; danach das erfolgreiche Theaterstück „Der Brandner Kaspar und das ewig' Leben" von K. Wilhelm.

Würzburg

Erich Wimmer

Petrus Damianus, Hl. siehe Nachtrag

Petrus' Mutter (AaTh 804), Legendenerzählung mit zahlreichen Var.n aus ganz Europa, aus Lateinamerika sowie Asien1. Sie weist folgendes Grundmuster auf: Eine Sünderin (Sünder) soll durch eine heilige Person aus der Hölle oder dem Fegefeuer befreit werden. Als sie an einem Strick hinaufgezogen wird (cf. AaTh 804 A: Der himmelhohe -> Baum), klammern sich andere Höllenbewohner an sie, um ebenfalls befreit zu werden. Sie mißgönnt ihnen die Rettung und schüttelt sie ab. Dabei reißt der Strick, und sie fallt in die Hölle zurück (-» Sünde).

Der Strick besteht in der Regel aus dem einzigen, das die Sünderin im Leben als Almosen gegeben hat (cf. SUS 760 B*: Milostynja skrjagi [Das Almosen des Geizhalses]; AaTh 809*: Rich Man Allowed to Stay in Heaven): Zwiebelstengel oder Strohhalm (slav.)2, Schnittlauchhalme (slav.)3, Salat- oder Porreeblatt (ital.)4. Daneben begegnen jedoch auch die Blätter des Gebetbuchs der fürbittenden Tochter5, die Hand des -• Petrus (ung.)6, ein Rosenkranz (ung.)7 und das Netz einer Spinne, deren Leben die Verdammte geschont hatte (jap.)8. Auch die Protagonisten der Erzählung variieren. Die sündige Person ist oft die Mutter des Petrus, gelegentlich aber auch die Mutter eines anderen Heiligen (-* Thomas 9 , ->• Martin 10 ) und in Einzelfällen ein Mann: Petrus' Vater", ein Holzhauer 12 , Pfarrer 13 oder Dieb (jap.)14. Als ,Retter' bzw. Fürsprecher treten neben Petrus und anderen Heiligen auch der Empfänger des spärlichen Almosens oder -» Buddha 15 , König David 16 , Maria, ein Engel17 und Gott selbst auf. In AaTh 804 verbinden sich zwei Traditionen: Zum einen bildet die Erzählung einen Sonderfall des Motivs von der sündigen Mutter eines tugendhaften Sohnes, das schon bei Eustache Deschamps (gest. 1406) begegnet18. Im Hintergrund steht dabei allg. die in der bibl. Sündenfallgeschichte gründende Asso-

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Petrus de Natalibus

ziierung der Frau mit dem Bösen 19 und speziell die Vorstellung von der alten Frau als Abbild des Todes oder als Hexe, der bes. Geiz und Neid zugeschrieben werden 20 . Zum anderen bringen J. -> Bolte und J. -• Polivka, im Anschluß an R. Köhler, AaTh 804 mit einem dt. Gedicht in Zusammenhang, in dem Petrus einen Holzhauer an dessen Schlägel in den Himmel zu ziehen versucht 21 . Diese Erzählung gründet letztlich in der Funktion des Himmelspförtners, die Petrus aufgrund von Mt. 16,19 („Und ich will dir des Himmelreichs Schlüssel geben") in der Legende seit dem Frühmittelalter beigelegt wird (Mot. A 661.0.1.2): Er schließt das Himmelstor für die Guten auf 2 2 bzw. schlägt mit dem Schlüssel aufdringliche Bösewichter 23 . In den Evangelien ist nur von der Schwiegermutter des Petrus die Rede (Mt. 8,14 sq.; Mk. 1,29-31; Lk. 4,38 sq.). Die altkirchliche Hagiographie kennt auch die Gestalt seiner Tochter Petronilla 24 . Die Figur der Mutter taucht hingegen erst in der frühen Neuzeit auf. Dort begegnet sie in Erzählungen und Redensarten als mißgünstiges, geiziges und keifendes Weib 25 . Meist dient AaTh 804 als Exempel für die Folgen von Geiz, Neid und -• Hartherzigkeit sowie für Kraft und Grenzen von Fürbitten. Gelegentlich nimmt die Erzählung auch schwankhafte Züge an, ζ. B. wenn Petrus einen Pfarrer an den Haaren in den Himmel ziehen will, jedoch nur dessen Perücke in der Hand behält (-• Petrusschwänke) 26 . Mehrere Schriftsteller haben das Erzählmotiv literar. verarbeitet 27 , unter ihnen Fedor Michajlovic Dostoevskij (in Die Brüder Karamasow [1879/80])28, Selma - Lagerlöf (in Kristuslegender [1900])29 und der bulg. Autor Petko Jurdanov Todorov (in Idilii [Idyllen])30. 1 Ergänzend zu AaTh: Aräjs/Medne; SUS; Cirese/Serafini; Pujol; M N K ; BFP; Jason, Types; Lörincz; Ting; Ikeda; Robe. - 2 cf. BFP; BP 3, 538-542; SUS. - 3 BP 3, 540 sq. - 4 L o Nigro. - 5 cf. BP 3, 540. - 6 Berze Nagy, num. 779 (1. Var.). - 7 ibid. (3. Var.). - 8 Ikeda. - 9 BP 3, 539 (slov.). - 10 cf. Bolte, J.: Dt. Märchen aus dem Nachlasse der Brüder Grimm. In: ZfVk. 27 (1917) 5 3 - 5 5 , hier 53, num.

6.

-

" i b i d . , 54 (istr.). - 1 2 Köhler, R.: St. Petrus, der Himmelspförtner. In: id.: Aufsätze über Märchen und Volkslieder, ed. J. Bolte/E. Schmidt. B. 1894, 48 sq. - " S c h a m b a c h , G./Müller, W.: Niedersächs. Sagen und Märchen. Göttingen 1855 (Nachdr. Han-

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nover-Döhren 1979), 322 (num. 33). - 14 Ikeda. 15 ibid. - 16 BP 3, 540 (tschech.). - 17 BFP. - 18 cf. Deschamps, E.: (Euvres completes 10. P. 1901, 96—98; zur Erzählung von der sündigen Mutter eines Mönches in der Slg „Magnum speculum exemplorum" cf. Sumcov, N. F.: Legenda ο gresnoj mated (Legende über die sündige Mutter). In: Kievskaja starina 61 (1893) 195-208; Alsheimer, R.: Das Magnum Speculum Exemplorum als Ausgangs punkt populärer Erzähltraditionen. Studien zu seiner Wirkungsgeschichte in Polen und Rußland. Ffm. 1971, 173 (VZ 211). - 19 cf. Schüngel-Straumann, H.: Die Frau am Anfang. Eva und die Folgen. Fbg 1989; Leisch-Kiesl, M.: Eva als andere. Köln 1992. - 2 0 cf. Delumeau, J.: Angst im Abendland. Hbg 1985, 507-509. 21 BP 3, 538; cf. Köhler (wie not. 12). - 2 2 cf. ζ. B. Beda Venerabiiis: Historia ecclesiastica gentis Anglorum 1. ed. G. Spitzbart. Darmstadt 1982, 294 (3,25). - 2 3 So erstmals belegt in der Visio Baronti 12, cf. M G H Scriptores rerum Merovingicarum 5, 386 sq. - 2 4 cf. Danglefort, P.: Ste Petronille. Avignon 1911; Bibliotheca Sanctorum 10 (1968) 514-521; zur Verarbeitung dieser Figur (und ihrer Mutter Perpetua oder Petrona) in frühneuzeitlichen Volkserzählungen cf. BP 3, 542. - 25 Zu den Redensarten cf. Kryzanowski, J.: Stownik folkloru polskiego (Hwb. der poln. Folklore). W. 1965, 222 (für Polen); Robe (für Mexiko). - 26 cf. Schambach/Müller (wie not. 13). 27 cf. Bern, A. L.: Legenda ο lukovke (Die Legende vom Zwiebelchen). In: Ksigga referatow II Migdzynarodowego Zjazdu Slawistöw. W. 1934, 6 - 1 0 ; Fullenwider, H. F.: The Onion and the Spiderweb: Paul Carus' „Karma" and Other Literary Variants of Grimms' „St. Peters Mutter" (Bolte/Polivka, num. 221). In: Fabula 28 (1987) 320-326. - 2 8 Dostoevskij, F. M.: Die Brüder Karamasow. B./ Weimar 1981, Teil 3, Buch 7, Kap. 3 (Die Zwiebel). —29 Lagerlöf, S.: Var Herre och Sankte Per. In: Skrifter av Selma Lagerlöf 11. Sth. 1933, 119-127. —30 Todorov, P. J.: Sübrani sücinenija 1. ed. L. Georgiev. Sofia 1979, 5 3 - 5 8 .

Mainz

Andreas Merkt

Petrus de Natalibus, *Venedig 1. Hälfte 14. Jh., tJcsolo um 1400, venezian. Hagiograph 1 , nicht zu verwechseln mit einem anderen venezian. Hagiographen des Spätmittelalters, dem Dominikaner Petrus Calo 2 ; seit 1370 Bischof von Equilium-Jesolo. P. de N. wird ein kurzes Epos in ital. Sprache über den Frieden von Venedig (1177) zugeschrieben, das die Sagen über den Krieg der Kommunen gegen Barbarossa aufgreift 3 . Sein Hauptwerk stellt jedoch der Catalogus sanctorum et gestorum eorum dar (verfaßt zwischen 1369 und

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Petrusschwänke

1372). Der Codex Vaticanus Ottobonianus lat. 225 bietet die älteste, 1408 aufgrund des Autographs von Basilio Giordano angefertigte Hs. 4 Die zahlreichen Drucke des 15. —17. Jh.s stützen sich auf die editio princeps, die Antonio Verlio 1473 in Vicenza drucken ließ5. Dort fehlen einige Ergänzungen, die P. selbst seiner Sammlung anfügte 6 . Der Catalogus umfaßt in den ersten zehn Büchern kurze Einträge zu den Heiligen in der Reihenfolge ihrer Feste im Kirchenjahr. Das 11. Buch bietet, wiederum in liturgischer Ordnung, Angaben zu Heiligen, die vorher aus verschiedenen Gründen (fehlendes Festdatum, ausstehende Kanonisierung) nicht erwähnt worden waren, sowie eine Liste von Heiligen, zu denen P. kein Material finden konnte. Das 12. Buch enthält einen detaillierten analytischen Index sowie einen Kalender mit den in der Sammlung genannten Heiligen. Für seinen Catalogus stützte sich P. auf eine breite hagiographische Tradition (-• Hagiographie), die von Eusebius von Caesarea über Gregor von Tours, -> Gregor d. Gr., Beda Venerabiiis und Paulus Diaconus bis zu den Legendaren des -» Jacobus de Voragine (-> Legenda aurea) und des Petrus Calo reicht. Er wurde selbst eine wichtige Quelle, etwa für C. Baronius' Überarbeitung des Martyrologium Romanum (1583/84). Der Catalogus wurde bislang nicht systematisch erforscht. Bes. eine typol. Analyse der etwa 1500 Einträge steht aus. 1 Die ausführlichsten biogr. Hinweise gibt Zeno, Α.: Dissertazioni Vossiane 2. Venedig 1753, 31—43. — 2 Poncelet, Α.: Le Legendier de Pierre Calo. In: Analecta Bollandiana 29 (1910) 5 - 1 1 6 ; Tramontin, S.: Breve storia dell'agiografia veneziana. In: Tramontin, S./Niero, A./Musolino, G./Candiani, C. (edd.): Culto dei santi a Venezia. Venedig 1965, 1 9 - 4 0 , bes. 1 9 - 2 1 ; Marangon, P.: Gli „Studia" degli ordini mendicanti. In: Storia e cultura a Padova nell'etä di sant'Antonio. Padua 1985, 3 4 3 - 3 8 0 , bes. 364 sq., 3 7 8 - 3 8 0 (Lit.). - 3 c f . Zenatti, Ο.: II poemetto di Pietro de'Natali sulla pace di Venezia. In: Bullettino dell'Istituto Storico Italiano 26 (1905) 1 0 7 - 1 2 6 . 4 Zur Hs. cf. AS Febr. I, XIII; Poncelet (wie not. 2) 35; Catalogus codicum hagiographicorum Latinorum Bibliothecae Vaticanae. Brüssel 1910, 421 sq.; Chiesa, P.: Recuperi agiografici veneziani. In: Hagiographica 5 (1998) 2 1 9 - 2 7 1 , bes. 2 6 3 - 2 7 1 . - 5 Für eine Liste der frühen Editionen cf. Bibliotheca Hagiographica Latina antiquae et mediae aetatis. Brüssel 1898, X X X ; eine frz. Teilübers. bietet: Le premier

Volume du cathalogue des saincts et sainctes [...]. P. 1524 (Bibliotheque Nationale, Paris, Res. Η 365). 6 ζ. Β. die Liste der venezian. Reliquien in Bibliotheca Vaticana, Vatikanstadt, Cod. Vat. Ottob. lat. 225, fol. 322A r -322B r , cf. Chiesa (wie not. 4) 223 (not. 13), 2 6 3 - 2 7 1 .

Mainz

Andreas Merkt

Petrusschwänke (AaTh 774 A - P ) 1. Allgemeines - 2. Petrus und Christus auf Wanderschaft - 3. Petrus als Himmelspförtner - 4. Petrus im Himmel — 5. Zusammenfassung

1. A l l g e m e i n e s . Im legendarischen Bereich der christl. Erzählstoffe bilden die Erzählungen um den -> Apostel Petrus eine Sondergruppe. Sie umfaßt neben den unter AaTh 774 A - P ausgewiesenen Jests about Christ and Peter eine Reihe weiterer Erzähltypen (AaTh 330, 750 A, 752 A, 752 B, 753, 785, 785 A, 791, 800, 801, 802, 805, 822, 1656), die Petrus als zentralen Handlungsträger wie als Nebenfigur in mehr oder minder komischen Situationen vorführen; damit handelt es sich um Erzählungen, die zwischen Legende und Schwank stehen. Bei den Heiligengestalten der Legende wird in der Regel ihre moralische Leistung, ihre Tat oder ihr Leiden, betont. Diese Vertiefung ins Menschliche steht jedoch in ständiger Spannung mit der Triumphgewißheit, die dem Legendenhaften eignet 1 , so daß schon eine geringfügig von der Norm des Sakralen abweichende Darstellung einen komischen Effekt erzielt. So hat bes. der Schwank die Legende überlagert. Legendenschwänke, die relativ frei mit Motiven legendarischen Geschehens oder mit einer Heiligengestalt verfahren, haben sich vor allem um die Gestalt des Apostels Petrus gruppiert, dem schon in der Bibel fragwürdige Verhaltensweisen nachgesagt werden (nach Joh. 18, 10—27; Mt. 26, 6 9 - 7 5 ; Mk. 14, 6 6 - 7 2 ; Lk. 22, 54— 62). Er wird in den vor allem seit dem 16. Jh. (in Deutschland teilweise im Zusammenhang mit der ->• Reformation) fixierten und kursierenden P. η in die verschiedensten fiktiven Situationen hineingestellt, wandert als Reisegenosse -«• Christi über Land, versieht den Dienst an der Himmelspforte oder sieht im Himmel selbst nach dem Rechten. Dabei

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offenbart er gewöhnlich einen charakterlichen Defekt, wird das Opfer eines Mißgeschicks, von Christus bloßgestellt oder getadelt und von seinen menschlichen Gegenspielern brüskiert oder überlistet. Auf solche Erzählungen mit mehr oder minder komischem Einschlag konzentriert sich die folgende Übersicht. 2. P e t r u s u n d C h r i s t u s a u f W a n d e r s c h a f t . Das irdische Geschehen in den P.n steht zumeist im Zusammenhang mit der Erdenwanderung Christi, dem Petrus als Begleiter hinzugesellt wird (-• Erdenwanderung der Götter). Dabei erscheint Christus als die dominierende Gestalt, dessen göttliches Wirken Petrus ζ. T. nur als Zuschauer miterlebt (AaTh 750 A: Die drei Wünsche), das ihn ζ. T. aber auch zum Nach- oder Bessermachen reizt (Fatale und närrische Imitation). So beobachtet er aufmerksam, wie Christus einen alten Mann im Feuer wieder jungglüht und der Schmied es ihm vergeblich nachzumachen sucht (AaTh 753: -> Christus und der Schmied), unternimmt jedoch den gleichen Versuch, der ebenfalls damit endet, daß menschliche Mißgestalten, Affen etc. entstehen, ζ. T. selbst dann, wenn der Herr helfend eingreift, um das Schlimmste zu verhüten 2 . Ein andermal trägt Christus seinem Jünger auf, den Streit zwischen einer Frau und dem Teufel zu schlichten. Da schlägt dieser unbedacht beiden die Köpfe ab und setzt sie anschließend, aber verwechselt, wieder auf, so daß die Frauen angeblich seither den Teufel im Leib haben (AaTh 774 A, 1169: Köpfe vertauscht). In allen diesen Fällen handelt es sich um weitverbreitete Warnerzählungen mit zumindest komischem Ausgang. In anderen Erzählungen zweifelt Petrus die Logik der -» Schöpfung an, ζ. B. weil die großen Kürbisse an dünnen Ranken wachsen, während die kräftigen Eichen nur kleine Früchte tragen. Doch als Christus daraufhin große Früchte an Bäumen wachsen läßt und eine davon dem Apostel auf den Kopf fällt, ändert er seine Meinung (AaTh 774 P: -> Kürbis und Eichel), meint aber trotzdem, manches besser machen zu können. Als Petrus allerdings der Wunsch erfüllt wird, Gott vertreten zu dürfen, vergißt er beim Wetter den Wind, so daß die Ähren des Getreides taub bleiben (AaTh 752 B: Der vergessene Wind)3, oder muß so strapaziöse Aufgaben (Ziegen,

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Schweine, Gänse hüten etc.) wahrnehmen, daß er froh ist, das Regiment wieder loszuwerden (AaTh 774 D: Peter Acts as God for a Day). Dieser Erzähltyp AaTh 774 D, der den Apostel in bes. lächerlichen Situationen schildert und sein anmaßendes Besserwissen ad absurdum führt, begegnet zuerst im 16. Jh. bei Hans -> Sachs und ist in weiten Teilen Europas bekannt 4 . In zahlreichen weiteren Belegen, die sich auf die gemeinsame Wanderung beziehen, erteilt Christus seinem Jünger überzeugende Lehren, ζ. T. rein verbal, etwa indem er erklärt, daß ein fleißiges Mädchen, das sie treffen, einen faulen Mann heiraten müsse, damit der besser durchs Leben komme (AaTh 822: Christus als Ehestifter). In einem anderen exempelhaften Schwank, der vor allem in Mittel- und Südeuropa tradiert wird, entrüstet sich Petrus, weil Christus wegen eines einzigen Sünders die Ernte aller Bauern vernichtet, ertränkt dann aber selbst wegen eines Bienenstichs den ganzen Schwärm, so daß er kleinlaut wird, als der Herr ihn auf die Parallele hinweist (AaTh 774 K: Peter Stung by Bees)5. Vielfach muß Petrus die Lehre aber auch drastisch am eigenen Leibe erfahren. So ist er, wie europaweit erzählt wird, nicht gewillt, ein altes Hufeisen aufzuheben, das deshalb Christus an sich nimmt. Von dessen Verkaufserlös ersteht dieser eine Tüte Kirschen, die er auf dem weiteren Weg einzeln fallen läßt, so daß der durstige Petrus sich nicht einmal, sondern vielmals bücken muß, um sie zu erlangen (AaTh 774 C: -> Hufeisenlegende). Wird er hier für seine Faulheit bestraft, so in anderen Erzählungen für seine Eßlust, die ihn zum Schwindler werden läßt. So ißt er heimlich von dem zur Mahlzeit vorbereiteten Geflügel ein Bein und behauptet, das Tier sei von Natur aus einbeinig gewesen, wird aber natürlich der Täuschung überführt (cf. Var.n zu AaTh 785 A: Einbeiniges Geflügel, v. auch Var.n zu AaTh 785: -> Lammherz). Häufiger wird berichtet, daß er einige der empfangenen kleinen Kuchen unterschlägt, indem er sie heimlich ißt, aber immer wieder auch unbemerkt ausspucken muß, um dem Herrn auf Fragen antworten zu können (AaTh 774 N: St Peter's Gluttony)6, wobei das Ausgespuckte sich ζ. T. in Pilze verwandelt (AaTh 774 L: Mushrooms from St. Peter's Spittle)1. Nach anderer Ver-

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sion versteckt Petrus die heißen Kuchen auf dem Kopf unter seiner Mütze, wo sie ihm die Haare wegbrennen, so daß er kahlköpfig wird (AaTh 774 J: Why Peter Became Baldf. Gelegentlich heißt es auch, er sei bei einer Prügelei im Gasthaus derart zerrauft worden, daß er kein Haar auf dem Kopf behielt9. Beide in Mittel- und Südeuropa belegte Versionen knüpfen daran an, daß Petrus angeblich eine Glatze hatte ( - Kahlkopf) 10 . Häufig wird erzählt, daß Petrus — entgegen dem Rat des Herrn - darauf erpicht ist, ein Wirtshaus aufzusuchen, in dem Zimmerleute, Soldaten, Zigeuner etc. fröhlich feiern. Als Petrus die Schenke betritt, zaubert ihm Christus eine Geige auf den Rücken, und als der nun als Spielmann Angesehene erklärt, das Instrument nicht spielen zu können, wird ihm nicht geglaubt, und er bezieht eine Tracht Prügel (AaTh 774 F: Peter with the Fiddle). Die erstmals im 17. Jh. bezeugte, vor allem in Mittelund Südeuropa bekannte Erzählung endet in der Regel damit, daß Petrus beschämt und verlacht zu Christus zurückkehrt 11 . Im gleichen Überlieferungsraum findet sich jedoch auch die an dieses Geschehen unmittelbar anschließende Schilderung, wie Petrus nun Rache übt. So überredet er Christus, harte Knorren im Holz wachsen zu lassen, um die Zimmerleute zu bestrafen (AaTh 774 H: Christ Puts Knots in Wood)12, oder läßt es — als Herr über das Wetter — immer regnen, wenn sich die Soldaten auf dem Marsch befinden 13 . Während einer Übernachtung zusammen mit Christus im Gasthaus, meist aber bei einem Bauern, wird Petrus, der vorn im Bett (in der Scheune etc.) liegt, unsanft durch Prügel geweckt. Damit dies nicht noch einmal geschieht, schlägt er einen -» Bettplatztausch vor, dem Christus nachkommt. Aber nun wird der Gerechtigkeit halber der hintere verprügelt, so daß es Petrus noch einmal trifft — als gerechte Strafe für sein hinterlistiges Tauschbegehren. Als die beiden Wanderer anschließend aufgefordert werden, beim Dreschen zu helfen, drischt Christus das Korn mit Feuer aus; der gewalttätige Bauer versucht dies nachzuahmen, brennt aber die Scheune ab (AaTh 791, 752 A: Christus und Petrus im Nachtquartier). Hier handelt es sich um denjenigen Petrusschwank, in dem sowohl die Bestrafung des Apostels am handgreiflichsten

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ausfällt als auch der Gegenspieler am empfindlichsten bestraft wird. In dieser teilweise burlesken Geschichte wird trotz der Tatsache, daß zum Schluß Christus dominant in Aktion tritt, wie in manchen anderen P.n vom erzählerischen Gewicht her im Grunde nicht Christus von Petrus, sondern umgekehrt Petrus, der im Mittelpunkt steht, von Christus begleitet. Wird Petrus allein auf der Erdenwanderung vorgeführt, erscheinen auch die Gegenspieler in merkwürdigem Licht, etwa wenn sie das Herz des geschlachteten Tieres essen und behaupten, es habe keins gehabt, oder versuchen, den Jünger als wundertätigen Heiler nachzuahmen und dabei in Verlegenheit geraten (cf. Var.n zu AaTh 785). Hier wie in der humorvoll ausfabulierten Geschichte von dem Schmied, der sich von Petrus drei absonderliche Wünsche erfüllen läßt, die ihn in die Lage versetzen, Tod und Teufel zu trotzen (AaTh 330, 330 A-B: Schmied und Teufel), bleibt der Apostel eine weitgehend von seinen Kontrahenten dominierte, zumindest in einigen Passagen komische Nebenfigur. Das reicht bis zu den abschließenden Szenen, in denen er in seiner Eigenschaft als Himmelspförtner überlistet wird. 3. P e t r u s als H i m m e l s p f ö r t n e r . Sowohl der dummdreiste Landsknecht in AaTh 785 als auch der pfiffige Schmied in AaTh 330 gelangen an Petrus vorbei in den Himmel, indem sie ihr Zauberränzel durch das Tor werfen und sich dort selbst hineinwünschen14. Beide Erzähltypen gehören zu der Gruppe AaTh 800-809: The Man in Heaven, in der geschildert wird, wie sich Menschen Eingang in den Himmel verschaffen. In der nur literar. überlieferten Erzählung AaTh 801: Meister Pfriem gelingt das lediglich im Traum, und Petrus wird in seiner Würde als himmlische Respektsperson nicht angetastet. Auch der Umstand, daß man von Armen kein Aufhebens macht, wenn sie in den Himmel kommen, während Reiche mit Jubel empfangen werden, weil sie so selten Aufnahme finden, wie Petrus dem nachfragenden Bauern erläutert, trägt eher einen sozialkritischen Akzent (AaTh 802: -> Bauer im Himmel). Angehörige verschiedener Konfessionen läßt Petrus erst herein, als sie, einzeln abgewiesen, im Gesang bekunden, alle an ein und denselben Gott zu glauben15. Daß der Himmelspförtner allerdings einen

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Schneider aufnimmt, der im Leben manches Unrecht getan hat, erweist sich als Fehler, denn der Meister der Nadel schleudert in richterlicher Anmaßung das Mobiliar des Himmels auf die Erde, und Petrus muß um Schadensbegrenzung bemüht sein (AaTh 800: Schneider im Himmel), wiewohl ihm gelegentlich das gleiche Vergehen nachgesagt wird 16 . Andere erzählte Begebenheiten an der Himmelspforte, etwa daß Petrus eine Frau, die ihre eheliche Treue betont, hereinläßt, aber zur dummen Gans erklärt 17 , oder daß er eine Schneiderin und eine Friseuse wegen ihres sündigen handwerklichen Tuns auf der Erde an der Himmelstür zurückweist, aber ein leichtes Mädchen sofort für ein Stelldichein hinter die Wolke bestellt 18 , liegen nur in singulären Belegen vor, zeigen aber bes. deutlich, daß es auch bei der Darstellung des Apostels als Himmelspförtner darum ging, ihm am Zeug zu flicken und der Situation komische Aspekte abzugewinnen. Petrus obliegt zwar die Entscheidung darüber, wer in den Himmel kommt und wer nicht, aber zum einen verfahrt er dabei recht willkürlich, und zum andern können ihn gewiefte Ankömmlinge selbst auf einfache Art leicht übertölpeln, so daß er gelegentlich nicht nur in recht verfänglichen Situationen erscheint 19 , sondern geradezu zur lächerlichen Figur wird 20 . 4. P e t r u s im H i m m e l . Ein komischer Akzent zeigt sich auch bei einem Erzähltyp, in dem der hl. Joseph als eine Art Konkurrent zu Petrus auftritt, der seinerseits Unberechtigte in den Himmel hereinläßt und — von Petrus zur Rede gestellt - droht, wenn er seinen Sohn aus der Dreieinigkeit herausnehme, dann könne man den ganzen Himmel schließen (AaTh 805: Joseph und Maria drohen, den Himmel zu verlassen). Wird die Zahl der Neuankömmlinge im Himmel zu groß, weiß mancher von ihnen oder auch Petrus selbst wieder Platz zu schaffen, indem er mit dem Ausrufen einer irdischen Attraktion einen Massenexodus auslöst - wie man vor allem in Nordeuropa erzählt, wobei sich der Spott sowohl gegen den Apostel als auch gegen eine Menschengruppe (meist Angehörige anderer Ethnien oder Einwohner bestimmter Regionen; cf. ethnische -> Stereotypen, Ortsnek-

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kerei) richtet, der der Ruf gilt (AaTh 1656: -> Juden aus dem Himmel gelockt). Auch Petrus wird unterstellt, daß es ihn immer wieder zur Erde hinabziehe, und zwar, um an den Freuden der Weinlese teilzunehmen. Das sei eine Zeit, in der die Menschen nicht an Gott dächten, wie er bei später Rückkehr berichtet. Da schickt Gott eine Teuerung, und als Petrus diesmal sehr schnell in den Himmel zurückkehrt, berichtet er, daß nun alle beteten und inbrünstig Gott um Hilfe anflehten. Diese Erzählung (AaTh 774 E: Peter Gets Permission to Go Grape-gathering), die trotz ausgesprochen schwankhafter Züge durchaus auch einen ernsten Hintergrund hat, ist aus Skandinavien, Mitteleuropa, Italien und vom Balkan überliefert 21 . In einer anderen, nur aus Ungarn belegten exempelhaften Geschichte soll Petrus als Bote des Himmels den Menschen verkünden, sie bräuchten nur von fünf bis sieben Uhr zu arbeiten. Er betrinkt sich aber derart, daß er die Zahlen umdreht und so den allg. üblichen, langen Arbeitstag provoziert (AaTh 774 M: Peter as Bad Messenger)22. 5. Z u s a m m e n f a s s u n g . Das Überlieferungsgebiet der P. umfaßt vor allem Mitteleuropa, mit Streubelegen aus Skandinavien, Osteuropa, dem Balkan, Italien, Frankreich und Spanien, wobei sich die einzelnen Erzähltypen geogr. sehr differenziert verteilen. Nach Maßgabe der ermittelten Belegdichte heben sich vor allem der dt. und ung. Sprachraum heraus, wiewohl die P. sicher auch in der Erzähltradition anderer Gebiete, ζ. B. der Abruzzen (cf. -> Italien, Kap. 4.3.1), eine große Rolle spielten, so daß allg. die regional unterschiedliche Sammelintensität in Rechnung zu stellen ist. Anscheinend haben die konfessionellen Vorgaben und die Ausprägung der Volksreligiosität sowohl im Bereich der kathol., orthodoxen und evangel. Kirche 23 an der Entstehung und Verbreitung des Petrusbildes und der P. wesentlichen Anteil gehabt. Dabei handelt es sich ζ. T. sicherlich um Erzählungen — wie etwa die um den Himmelspförtner - , die direkt als Petrusschwank entstanden sind. In den Belegen für manche Erzähltypen taucht Petrus jedoch keineswegs durchgängig auf, sondern ist offenbar als beliebte Kristallisationsgestalt teilweise an die Stelle anderer Gestalten getreten (cf. AaTh 750 A), so daß es

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schließlich zur Bildung ganzer Erzählzyklen um den Apostel gekommen ist. Das zeigt bes. die Tatsache, daß Erzähler in verschiedenen Ländern die P. zu verschiedenen festen Schwankketten verbunden haben 24 . In der Regel herrscht in den P.n zwischen Christus und Petrus ein eigenartiges Spannungsverhältnis, da Neugierde, Spitzbüberei und Fehlbarkeit des Jüngers immer wieder von seinem Herrn aufgedeckt oder korrigiert werden. Dennoch geht es gewöhnlich nicht um die Vermittlung ethischer Normen und Werte. Das veranschaulicht bes. die lang ausgesponnene Erzählung von Bruder Lustigs Erden- und Himmelsreise, in der mehrere Legendenmotive (gewöhnlich AaTh 785 + 330 B) miteinander gekoppelt sind und Petrus als positive Gestalt auftritt 2 5 . Doch Petrus erscheint weithin als bloße Kontrastfigur, und die Wunder, die er tut, muten fast schon etwas handwerklich an. Zum Schluß wird, obwohl der Gegenspieler eine charakterlich bedenkliche Ambivalenz zeigt, trotz moralischer Vorbehalte die Ethik des Erfolgs akzeptiert. Das schließlich geglückte Passieren der Himmelpforte läßt alle früheren Verfehlungen verblassen. In einem Teil der Erzählungen von der Erdenwanderung, in denen Christus und Petrus wohl ζ. T. an die Stelle -> Gottes und des ->• Teufels getreten sind 26 , geht es dagegen weniger um die Schilderung vollbrachter Wunder oder deren Scheitern, als darum, daß Erklärungen daraus abgeleitet werden. Eine Reihe von P.n hat ausgesprochen ätiologischen Charakter; bestimmte Eigenheiten von Menschen, Tieren oder Pflanzen werden — ζ. T. nicht ganz ernst gemeint - auf Episoden im Leben Christi und des Apostels zurückgeführt. Trotz der Respektlosigkeit, mit der Petrus selbst als Dummkopf, etwa beim Verkauf eines Esels (AaTh 774 B: Peter Cannot Sell his Ass)27, geschildert wird, war er zweifellos eine Lieblingsgestalt der Volkslegende, und bei aller Vermischung des Heiligen mit zuweilen Derb-Profanem klingen in den P.n Äußerungen der Sympathie an. So mögen die P. unter verschiedenen Aspekten, mit erzieherischer Absicht, zur Erklärung von fiktiven Sachverhalten, zur eigenen Rechtfertigung oder aus anderen persönlichen Gründen sowie einfach zur heiteren Illustration der christl. Glaubenswelt erzählt worden sein. Je mehr jedoch die

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Sujets mit ernster Thematik aus der Legendenüberlieferung verschwinden, dürften auch vermehrt P. zum besten gegeben werden, um die Lacher auf seiner Seite zu haben 28 . Das setzt sich fort im modernen Witz. Soweit Petrus darin auftritt, geht es allerdings in der Regel weniger um ihn als um seine Gegenspieler. Das sind vielfach (teils noch lebende) Politiker, die sich an der Himmelspforte die Blöße geben, daß es mit ihren Geistesgaben nicht allzu weit her ist, oder Geistliche, die sich über die Verhältnisse im Himmel wundern 29 . Teils wird allerdings auch festgestellt, daß bislang noch kein Pfarrer in den Himmel gelangt ist 30 . Und als sich eine fromme Ordensschwester als Braut Christi ausgibt, fragt Petrus nach, ob der Juniorchef wirklich heiraten wolle 31 . 'Bausinger (1968), 195. - 2 D h . 2, 155 sq. - 3 cf. ζ. Β. Bll. für Pommersche Vk. 1 (1893) 165, num. 2. — 4 Ergänzend zu AaTh 774 D: Delarue/Teneze; Cirese/Serafini; M N K ; Gasparikovä, num. 546; cf. ζ. B. Sachs, H.: Sämtliche Fabeln und Schwänke. ed. E. Goetze/C. Drescher 4. Halle 1903, num. 322; Merkens, H.: Was sich das Volk erzählt 1 - 3 . Jena 1892/95/1900, hier t. 2, num. 29; Benzel, U.: Sudetendt. Volkserzählungen. Marburg 1962, num. 184; Mailly, Α.: Niederösterr. Sagen. Lpz. 1926, num. 164; Ortutay, G.: Ung. Volksmärchen. B. 1957, num. 55; Jech, J.: Tschech. Volksmärchen. B. 1961, num. 33; Sirovätka, O.: Tschech. Volksmärchen. MdW 1969, num. 29; Uffer, L.: Rätorom. Märchen und ihre Erzähler. Basel 1945, num. 17. - 5 Ergänzend zu AaTh 774 K: 0 Süilleabhain/Christiansen; SUS; M N K ; Delarue/Teneze; Cirese/Serafini, app.; Pujol; Merkens (wie not. 4) t. 3, num. 68; Zender, M.: Volksmärchen und Schwänke aus der Westeifel. Bonn 1935, num. 22; Ortutay (wie not. 4) num. 56. - 6 Ergänzend zu AaTh 774 N: Delarue/Teneze; Cirese/Serafini; Gonzalez Sanz; ähnlich Zingerle, I. V. und J.: Kinder-und Hausmärchen [aus Tirol]. Innsbruck 1852, num. 19; Merkens (wie not. 4) t. 1, num. 76. - 7 Ergänzend zu AaTh 774 L (kontaminiert mit AaTh 774 N): SUS; cf. Krzyzanowski, num. 2636; Gasparikovä, num. 138; M N K ; Cirese/Serafini; Kubitschek, R.: Böhmerwäldler Bauernschwänke. Wien/Prag/Lpz. 1920, 80; Peuckert, W.-E.: Schlesiens dt. Märchen. Breslau 1932, num. 168; Merkelbach-Pinck, Α.: Lothringer Märchen. MdW 1961, num. 17; Benzel (wie not. 4) num. 211; Bukowska, E./Koschmieder, E.: Poln. Volksmärchen. MdW 1967, num. 49; Jech (wie not. 4) num. 33 V. - 8 Ergänzend zu AaTh 774 J: de Meyer, Conte; M N K ; Cirese/Serafini, app.; Pujol; Gonzalez Sanz; Kubitschek (wie not. 7) 81; Zender (wie not. 5) num. 21; Henßen, G.: Überlieferung und Persönlichkeit. Münster 1951, num. 27; Benzel, U.: Volkserzählungen aus dem nördl. Böhmerwald. Marburg 1957,

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Petzoldt, Leander

num. 215; id.: Volkserzählungen aus dem oberpfälz.böhm. Grenzgebiet. Münster 1965, num. 99; Zaunert, P.: Märchen aus dem Donaulande. MdW 1926, 199. - 9 D h . 2, 172 sq. - 10 Braunfels, W.: Petrus Apostel, Bischof von Rom. In: LCI 8 (1976) 158-174, hier 161 sq. 11 Ergänzend zu AaTh 774 F: M N K ; György, num. 93; BFP; Cirese/Serafini; Dh. 2, 178-180; Dittmaier, H.: Sagen, Märchen und Schwänke von der unteren Sieg. Bonn 1950, num. 388; Neumann, S. Α.: Plattdt. Legenden und Legendenschwänke. B. 1973, num. 47; Skattegraveren (1884) 205, num. 795; Tillhagen, C. H.: Taikon erzählt. Zürich 1948, 5 5 - 5 8 (Rommärchen aus Schweden); Haiding, K.: Märchen und Schwänke aus Oberösterreich. B. 1969, num. 157. 12 Ergänzend zu AaTh 774 Η (kontaminiert mit AaTh 774 F): van der Kooi; MNK; Pujol; Dh. 2, 174-176; Bartsch, K.: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1. Wien 1879, 521, num. 32; Merkens (wie not. 4) t. 1, num. 82; Henßen, G.: Volk erzählt. Münster 1935, num. 102; id.: Volkserzählungen aus dem westl. Niedersachsen. Münster 1963, num. 31; Dittmaier (wie not. 11) num. 386; Neumann, S.: Plattdt. Schwänke. Rostock 1968, num. 90; Kapfhammer, G.: Bayer. Schwänke. Düsseldorf/ Köln 1974, 124 sq.; Jech (wie not. 4) num. 33 III; Erdesz, S./Futaki, R.: Zigeunermärchen aus Ungarn. MdW 1996, num. 19; Mailly (wie not. 4) num. 163; Zaunert (wie not. 8) 198; Depiny, Α.: Oberösterr. Sagenbuch. Linz 1932, num. 206; Uffer (wie not. 4) num. 16. - 13 Dh. 2, 176-178; Neumann (wie not. 11) num. 47; Mailly (wie not. 4) num. 280; Archiv für siebenbürg. Landeskunde 33 (1905-06) 410 sq., num. 10. — 14 Köhler, R.: Sanct Peter, der Himmelspförtner. In: id.: Aufsätze über Märchen und Volkslieder. ed. J. Bolte/E. Schmidt. B. 1894, 4 8 - 7 8 , hier 5 8 - 6 3 . - 15 ibid., 7 3 - 7 5 ; Neumann (wie not. 11) num. 72. - 16 cf. ζ. B. Köhler (wie not. 14) 67; Henßen, G.: Sagen, Märchen und Schwänke des Jülicher Landes. Bonn 1955, num. 277. - 17 Neumann, S.: Ein mecklenburg. Volkserzähler. B: 1970, num. 169. - 1 8 id. (wie not. 12) num. 344. - 1 9 cf. etwa Dittmaier (wie not. 11) num. 393. - 2 0 Nagy, I.: Gattungsfragen der Sankt-Peter-Geschichten auf Grund funktioneller Unters.en. In: Minderheiten und Regionalkultur. ed. O. Bockhorn/K. Gaäl/I. Zucker. Wien 1981, 141-156, hier 143. 21 Ergänzend zu AaTh 774 E: Delarue/Teneze; Cirese/Serafini; M N K ; cf. Grundtvig, S.: Gamle danske minder i folkemunde. Kop. 1861, 127 (num. [85]); Karlinger, F./Mykytiuk, B.: Legendenmärchen aus Europa. MdW 1967, num. 43 (ung.). — ^ E r g ä n zend zu AaTh 774 M: M N K ; Rona-Sklarek, E.: Ung. Volksmärchen. Lpz. 1909, num. 32. - 2 3 cf. Neumann, S.: Volksfrömmigkeit in Mecklenburg im Spiegel der Legendenüberlieferung des 19. und 20. Jh.s. In: Menschen in der Kirche. 450 Jahre seit Einführung der Reformation in Mecklenburg, ed. H. bei der Wieden. Rostock 2000, 291-313. - 2 4 cf. ζ. B. Degh, L.: Folktales from Hungary. L. 1965, num. 22; Gaäl, Κ.: Die Volksmärchen der Magyaren

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im südl. Burgenland. B. 1970, num. 37, 38; id./Neweklowsky, G.: Erzählgut der Kroaten aus Stinatz im südl. Burgenland. Wien 1983, num. 34; Uffer, L.: Die Märchen des Barba Plasch. Zürich 1955, 6 5 - 7 0 ; Karlinger/Mykytiuk (wie not. 21) num. 25. - 25 cf. etwa Köhler (wie not. 14) 6 1 - 6 3 ; Montanus/Bolte, num. 6; Neumann, S.: Mecklenburg. Volksmärchen. B. 1971, num. 135. - 26 Lixfeld, H.: Gott und Teufel als Weltschöpfer. Mü. 1971, 98, 144-146; Nagy (wie not. 20) 144. - 27 Ergänzend zu AaTh 774 B: M N K ; Delarue/Teneze; Cirese/Serafini. - 28 Neumann (wie not. 11) 146-149. - 29 cf. Röhrich, L.: Der Witz. Stg. 1977, 207-210, 196. - 3 0 Bemmann, H.: Der klerikale Witz. Düsseldorf 8 1981, 298, 304. 31 ibid., 294. Rostock

Siegfried N e u m a n n

Petzoldt, Leander, * R e n n e r o d ( W e s t e r w a l d ) 28. 8. 1934, d t . V o l k s k u n d l e r u n d E r z ä h l f o r scher. R s t u d i e r t e G e r m a n i s t i k , Anglistik, G e o g r a p h i e u n d Vk. in F r a n k f u r t a m M a i n , Berlin (Freie U n i v . ) u n d M a i n z u n d p r o m o vierte 1964 in M a i n z bei L. - Freunde in Leben und Tod a b g r e n z t e 3 . In m e h r e r e n S t u d i e n b e s c h ä f t i g t e sich P. m i t d e m hist. -> B ä n k e l s a n g 4 . I m Z e n t r u m v o n P.s Interessen steht die Sag e n f o r s c h u n g 5 . P. v e r f a ß t e eine R e i h e f o r s c h u n g s g e s c h i c h t l i c h e r D a r s t e l l u n g e n z u r Sag e n - u n d M ä r c h e n f o r s c h u n g 6 . Seine k o m m e n t i e r t e n A u s g . n Dt. Volkssagen ( M ü . 1970 u. ö.) u n d Hist. Sagen ( 1 - 2 . M ü . 1975/77 u. ö.) biet e n einen r e p r ä s e n t a t i v e n Ü b e r b l i c k ü b e r d e n

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Petzoldt, Leander

Typen- u n d Motivbestand der dt.sprachigen Sagenüberlieferung 7 . P.s H b . zur Sagenforschung 8 stellt in komprimierter Form die Forschungsgeschichte seit der 2. Hälfte des 18. Jh.s, die Probleme der G a t t u n g s t y p o l o g i e und alle wesentlichen m e t h o d i s c h e n und theoretischen Ansätze dar. Ausführlich behandelt P. die Motivik der Sage. Dabei legt er bes. G e wicht auf das Modell einer traditionspsychol. orientierten Systematik, die v o n der D o m i nanz eines bestimmten Milieus, d. h. v o n ein e m vorherrschenden Referenzrahmen, ausgeht 9 . Ausgehend v o n R. Barthes' K o n z e p t i o n des -«• M y t h o s als einer Weise des Bedeutens, die geschichtlich intentional bestimmt ist, zeigte P. a m Beispiel populärer Überlieferungen über Herrschergestalten auf, wie bestimmte mythische Traditionen über große Zeiträume immer wieder aktualisiert und dabei konkreten Ideologien angepaßt werden k ö n n e n 1 0 . D a ß dies nur eine mögliche Funktion des M y t h o s ist, verdeutlichte er anhand einer Studie, in der er einen B o g e n v o n der k o s m o g o n i s c h e n u n d religiösen Bedeutung der Mythen in frühen Kulturen bis zu ihrer Rolle in der Gegenwart spannte u n d dabei deren heutige Faszination als eine Folge der seit der Aufklärung zunehm e n d e n Rationalisierung des gesamten Lebens erkannte 1 1 . Im Z u s a m m e n h a n g mit den Forschungen zur Sage steht eine Reihe v o n Arbeiten über -» Magie12 und D ä m o n o l o g i e 1 3 , so auch P.s Kleines Lex. der Dämonen und Elementargeister ( M ü . 1990, 2 1995) 1 4 . Mehrfach widmete sich P. einzelnen Erzählgestalten und -motiv e n 1 5 und verfolgte, meist v o n der Sage ausgehend, Interdependenzen zwischen Volkserzählung und Lit. 1 6 Als Herausgeber zahlreicher regionaler S a g e n s a m m l u n g e n hat P. die Volkserzählungen vieler Landschaften einem breiten Publikum zugänglich gemacht 1 7 . Darüber hinaus gab er u. a. Das Volksbuch von Dr. Faust 1587 (Stg. 1981; ->• Faust) und eine repräsentative Ausg. Dt. Schwänke (Stg. 1979, H o h e n gehren 3 2001) heraus. N e b e n Beitr.en für die E M verfaßte P. zahlreiche Art. für andere Enz.en und Nachschlagewerke 1 8 . 1 In Innsbruck hat P. die Publ.sreihe Beitr.e zur Europ. Ethnologie und Folklore (Reihe A: Texte und Unters.en. 1987 sqq.; Reihe B: Tagungsber.e. 1987

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sqq.) begründet. - 2 Bibliogr. [...]. In: L. P. zum 60. Geburtstag. Innsbruck 1994, 3 5 - 5 2 ; P., L.: Märchen, Mythos, Sage. Marburg 1989. - 3 id.: AT 470: Friends in Life and Death. Zur Psychologie und Geschichte einer Wundererzählung. In: Rhein. Jb. für Vk. 19 (1969) 101-161. - 4 id.: Bänkelsang. Vom hist. Bänkelsang zum literar. Chanson. Stg. 1974; id.: Die freudlose Muse. Qu.n und Materialien zum hist. Bänkelsang. Stg. 1978; id.: Bänkellieder und Moritaten aus drei Jh.en. Ffm. 1982; id.: Bänkelsang. In: Brednich, R. W./Röhrich, L./Suppan, W. (edd.): Hb. des Volksliedes 1. Mü. 1973, 235-291; id.: Der Niedergang eines fahrenden Gewerbes. In: SAVk. 6 8 - 6 9 (1972-73) 521-533; id.: Soziale Bedingungen des Bänkelsangs im 17. bis zum 19. Jh. In: Lechzend nach Tyrannenblut. Ballade, Bänkelsang und Song. ed. H. D. Zimmermann. B. 1972, 13-24; id.: Forschungen zum Bänkelsang im europ. Rahmen. In: Laforte, C. (ed.): Ballades et chansons folkloriques. Quebec 1989, 115-124; Grause Thaten sind geschehen. 31 Moritaten [...]. Faks. ed. L. P. Mü. 1968. - 5 id. (ed.): Vergleichende Sagenforschung. Darmstadt 1969. - 6 id.: Tendenzen und Perspektiven der Volksprosaforschung. Die Sagenforschung nach 1945. In: Rhein. Jb. für Vk. 26 (1985-86) 6 9 - 9 1 ; id.: Die Märchenforschung in Österreich. In: Roth, D./Kahn, W. (edd.): Märchen und Märchenforschung in Europa. Ffm. 1993, 170-179; id.: Zur Geschichte der Erzählforschung in Österreich. In: Homo narrans. Festschr. S. Neumann. Münster 1999, 109-136. - 7 c f . a u c h i d . : Sammlung, Klassifizierung und Dokumentation von Volksprosa. In: Innovation und Wandel. Festschr. O. Moser. Graz 1994, 279-295. - 8 id.: Einführung in die Sagenforschung. Konstanz 1999. - 9 cf. id.: Zur Phänomenologie und Funktion der Sage. In: Lares 3 (1987) 455-472. - 10 id.: Sage als aktualisierter Mythos. In: Wirkendes Wort 27 (1977) 1 - 9 . " id.: Die Geburt des Mythos aus dem Geist des Irrationalismus. In: Siegmund, W. (ed.): Antiker Mythos in unseren Märchen. Kassel 1983, 148-159. 12 id.: Märchen und Magie. Zur Phänomenologie und Funktion magischer Elemente im Märchen. In: Jb. für Volksliedforschung 2 7 - 2 8 (1982-83) 2 8 - 3 9 . — 1 3 z . B . id.: The Universe of Demons and the World of the Middle Ages. In: Petzoldt, R./Neubauer, P. (edd.): Demons. Mediators between this World and the Other. Ffm./B./N. Y. 1998, 13-26. 14 ital. Ausg. u. d. T. Piccolo dizionario di demoni e spiriti elementari. Neapel 1995. - 15 id.: Tradition und Rezeption. Überlegungen zum Wandel des Eulenspiegelbildes in der literar. und volkstümlichen Tradition. In: SAVk. 75 (1979) 203-211; id.: Zur Interdependenz von Lit. und Volksdichtung. In: ÖZfVk. 85 (1982) 266-276; id.: Virgilius Magus. Der Zauberer Vergil in der literar. Tradition des MA.s. In: Hören, Sagen, Lesen, Lernen. Festschr. R. Schenda. Ffm. 1995, 549-568; id.: Albertus Mag(n)us. Albert d. Gr. und die magische Tradition des MA.s. In: Müller, U./Wunderlich, W. (edd.): Verführer, Schurken, Magier (MA. Mythen 3). St. Gallen

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Peuckert, Will-Erich

2001, 2 7 - 4 6 ; id.: Die unschuldig verstoßene Ehefrau. Zur Stoff- und Überlieferungsgeschichte des Volksbuchs von „Griseldis" in der mündl. Tradition. In: Festschr. H. Engels. Göppingen 1991, 6 4 - 8 2 . 16 id.: Probleme und Dimensionen des Erzählerischen in der Lit. und Volksdichtung. In: Röhrich, L./ Lindig, E. (edd.): Volksdichtung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Tübingen 1989, 6 7 - 8 1 . 17 cf. ζ. B. id.: Sagen aus Tirol. Mü. 1992; id.: Sagen aus Wien. Mü. 1993; id.: Sagen aus der Steiermark. Mü. 1993; id.: Sagen aus dem alten Österreich 1 - 2 . Mü 1994; Mai, W.: Sagen, Märchen und Schwänke aus Südtirol 1 - 2 . ed. L. P. Innsbruck/Wien 2000/01. - 18 Lit.lex.; Reallex. der germ. Altertumskunde; Medieval Folklore.

Innsbruck

Ingo Schneider

Peuckert, Will-Erich, *Töppendorf (Niederschlesien) 11.5.1895, t Darmstadt-Mühltal 25. 10. 1969, dt. Volkskundler und Schriftsteller. P., Sohn eines Briefträgers und Nebenerwerbsbauern, unterrichtete nach einer Ausbildung zum Volksschullehrer (Präparandenanstalt in Schmiedeberg, Lehrerseminar in Bunzlau) 1914-21 in Groß-Iser (Isergebirge), danach ein Jahr in Breslau, studierte an der dortigen Friedrich-Wilhelms-Univ. 1922-27 Geschichte, Germanistik sowie Vk. und wurde 1927 mit einer Arbeit zum Thema Die Entwicklung Abrahams von Franckenberg bis zum Jahre 1641 promoviert. 1928—30 hatte er eine Stelle als wiss. Mitarbeiter am Dt. Inst, der Univ. Breslau und gleichzeitig eine Dozentur für Vk. an der neugegründeten Pädagogischen Akad. (bis 1932) inne. 1932 habilierte sich P. mit einer Arbeit zur Rezeptionsgeschichte des Volksbuchs von der Sibylle Weiss (-• Sibyllen) für das Fach Vk. 1 , das er bis 1935 unterrichtete (Entziehung der Venia legendi am 13. 5. 1935 wegen angeblicher politischer Unzuverlässigkeit). Von 1935 bis zu seiner Flucht in die Oberpfalz (Jan. 1945) lebte er mit seiner Familie in Haasel im Katzbachgebirge als Privatgelehrter und Schriftsteller. 1946 erhielt er an der Göttinger Georg-August-Univ. den Lehrstuhl für Vk., den er bis zu seiner Emeritierung 1959 innehatte 2 . Über sein lebenslanges Interesse an Religions- und Geheimwissenschaften hinaus war P. stets bes. an den Problemen der Erzählforschung interessiert. Dies ist außer in seinen wiss. Veröff.en auch deutlich in seinen Roma-

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nen, Kurzgeschichten und journalistischen Beitr.en zu erkennen, die bis 1945 einen beträchtlichen Anteil an seinem (Euvre hatten 3 . In fast allen seinen literar. Texten sind seine volkskundlichen Sammelergebnisse, vor allem von Glaubensvorstellungen und Erzählstoffen des Alltags, verarbeitet 4 . P. war 1920, noch als Volksschullehrer, in die Schles. Ges. für Vk. eingetreten und hatte neben frühen literar. Texten Slgen mündl. Überlieferungen veröffentlicht 5 . Bis 1945 lag das Hauptinteresse P.s vor allem auf schles. Volksüberlieferungen und den für ihn damit eng verknüpften hist. Unters.en zum Aberglauben 6 , zu Volksbüchern und Geheimwissenschaften 7 . In den 1930/40er Jahren schrieb er eine Reihe von Beitr.en für das H D M und das H D A und veröffentlichte Slgen und Abhdlgen zur Volksüberlieferung, ζ. B. Dt. Volkstum in Märchen und Sage, Schwank und Rätseß. Nach seiner Berufung nach Göttingen konzentrierte sich P.s Interesse immer stärker auf Probleme der ->• Sage und große Editionsunternehmen zu dieser Gattung 9 , vor allem das Projekt eines umfassenden Hwb.s der Sage, das allerdings nicht über die ersten drei Lieferungen hinaus gediehen ist 10 . Sein größtes Editionsprojekt, das er bereits in den 1930er Jahren mit dem Titel Monumenta Germaniae folcloristica geplant hatte, stellte die 1947/48 begonnene Reihe Denkmäler dt. Volksdichtung dar. Hierin brachte er bereits bestehende Sagensammlungen, mit umfangreichen Kommentaren versehen, wieder neu heraus (F. -> Panzer, H. -> Pröhle) 11 . Später folgten eigenständige Editionen, darunter eine Sammlung dt.sprachigen Erzählguts aus dem Karpatendorf Hochwies (Hochwies. Sagen, Schwänke und Märchen. Göttingen 1959) und Bremer Sagen (Göttingen 1961, 2 1988). Wesentlich umfangreicher geriet das auf neun Bände angelegte Großprojekt der Niedersächs. Sagen (Göttingen 1964-93), das das Erzählgut einer Region nach Themen geordnet und hauptsächlich unter Verwendung schriftl. Qu.η dokumentieren sollte. Die ersten vier Bände konnte P. noch selbst veröffentlichen 12 . P.s Sagenbegriff basierte auf zwei Annahmen, die aus heutiger Sicht gegensätzlich erscheinen. Zum einen ging er von der Annahme aus, daß es möglich sei, hist., schriftl. überlieferte Erzählstoffe auf einen überzeugenden

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Peuckert, Will-Erich

Kern zurückzuführen 1 3 , womit er eine Wiss.sposition der Romantik übernahm; zum anderen vertrat er die Auffassung, daß die v o n Historikern vertretene Definition der Geschichte eine durch Kameralistik und Aufklärung entwickelte Perspektive und damit nur eine v o n mehreren denkbaren Weltdeutungen darstelle 14 . D i e Sage und damit das lokal begrenzte Erklären und D e u t e n der Welt einfacher Leute stellte für ihn eine weitere solcher Möglichkeiten dar. Dies m a g Ursache dafür gewesen sein, daß er schriftl. Qu.n mitunter sehr eigenwillig bearbeitet hat 1 5 . Seine Argumentation und Darstellung von Problemen der Erzählforschung sind immer dann bes. eindrucksvoll, wenn er sich auf selbst erhobene Qu.n und selbst Erfahrenes bezieht, worauf ein Großteil seiner theoretischen Gedanken fußt 1 6 . Für das Fach Vk. ist P. vor allem durch seine Rolle als Initiator neuer Forschungsrichtungen und damit einer inhaltlichen Öffnung des Faches wichtig geworden. Seine Vk. des Proletariats (Ffm. 1931) gilt als Beginn einer volkskundlichen Forschungsrichtung, die sich mehr und mehr v o m dörflichen Bereich loslöste und zu einer umfassenden Gesellschaftsanalyse wurde; in seinem wichtigsten Buch Die große Wende ( H b g 1948), das den Übergang v o n der ma. zur neuzeitlichen Gesellschaft in Form einer Geistesgeschichte unterer und mittlerer Schichten beschreibt, entwarf P. ein Programm für eine Vk., die sich als Kulturund Geistesgeschichte begreift 1 7 . Mit seinem in Göttingen begründeten Jb. Die Nachbarn 1 - 3 (1948/54/62) etablierte er die grundlegende analytische Kategorie des Kulturvergleichs und führte damit die dt. Vk. aus der Isolierung nationalsozialistischer Wiss.sauffassungen heraus. Seine Entgegnung auf die Kritik von H. Maus an den Verstrickungen der Vk. im Nationalsozialismus ist wichtiger Teil der Fachgeschichtsschreibung geworden 1 8 . Aufgrund seiner Beschäftigung mit dem Okkultismus ist P. durch seine Aura als ,Hexenprofessor' über seine wiss. Bedeutung hinaus bekannt geworden. Sein von ihm in einem Art. beiläufig erwähnter Selbstversuch mit einer Flugsalbe (-> Salbe, salben) und weitere kleine Beitr.e zu diesem Thema 1 9 haben ihm Popularität innerhalb des medialen Geschichtenerzählens beschert.

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1 Orig.-Ms. in der Hss.abt. der Niedersächs. Staatsund Univ.sbibl. in Göttingen; Bilgenroth, H./Röber, M.: W.-E. P. und seine Habilitationsschrift „Sibylle Weiss". In: Bönisch-Brednich, B./Brednich, R. W. (edd.): „Vk. ist Nachricht von jedem Teil des Volkes". W.-E. P. zum 100. Geburtstag. Göttingen 1996, 45-70; Alsheimer, R.: W.-E. P. und die Orakel. Annäherungen. ibid., 71-81. - 2 Milch, W.: W.-E. P. In: Schles. Monatsh.e 5 (1928) 251-255; Jacobeit, W.: P. 70 Jahre. In: DJbfVk. 11 (1965) 314-316; Bausinger, H.: W.-E. P. (1895-1969). In: Zs. für dt. Philologie 89 (1970) 2 sq.; Zimmermann, R. C.: „Ich gebe die Fackel weiter." Zum Werk von W.-E. P. In: P., W.-E.: Das Rosenkreuz. B. 21973, V I I - L I ; Brake, K.: Evolutionistische Kulturtheorie in der Vk. Das Beispiel W.-E. P. Magisterarbeit Hbg 1987; Bönisch-Brednich, B.: Volkskundliche Forschung in Schlesien. Diss. Marburg 1994; Gerstmann, G.: W.E. P. In: Ostdt. Gedenktage. Bonn 1994, 174-177. - 3 cf. Bibliogr. in Bönisch-Brednich/Brednich (wie 4 not. 1). Bönisch-Brednich, B.: W.-E. P. (1895-1969). Versuch einer Biogr. ibid., 15-32, bes. 17-28. - 5 P., W.-E.: Niederschles. Sagen. In: Mittigen der Schles. Ges. für Vk. 21 (1919) 129-154; id.: Zu Dähnhardts Natursagen, ibid. 22 (1920) 43-47. - 6 Bes. für das HDA hat P. zentrale Art. beigesteuert; Auflistung in Bönisch-Brednich/Brednich (wie not. 1) 187 sq. - 7 cf. dazu P.s Systematik, in der diese Verbindung deutlich wird: id.: Niedersächs. Sagen 1. Göttingen 1964, XIV sq. - 8 id.: Dt. Volkstum in Märchen und Sage, Schwank und Rätsel. B. 1938; id.: Dt. Volksglaube des SpätMA.s. Stg. 1942; id.: Erdichtete Sage. In: Ndd. Zs. für Vk. 21 (1943) 1 - 1 5 . - 9 id.: Sage. In: Dt. Philologie im Aufriß. ed. W.Stammler. B. 21962, 2641-2676; id.: Märchen, ibid., 2677-2726. - 10 id.: Hwb. der Volkssage. In: Fabula 1 (1958) 164 sq.; das Sagenarchiv P.s befindet sich im Inst, für ostdt. Vk., Freiburg (Breisgau); Kopie (mit bis 1962 verzettelten Belegen) im Seminar für Vk., Göttingen. " Panzer, F.: Bayer. Sagen und Bräuche. Beitr.e zur dt. Mythologie 1 - 2 . ed. W.-E. Peuckert. Göttingen 1954/56; Pröhle, H.: Harzsagen, ed. W.-E. Peuckert. Göttingen 1957. - 12 cf. Duncker, Α.: W.-E. P.s „Niedersächs. Sagen". In: Bönisch-Brednich/Brednich (wie not. 1) 93 — 123; Tomkowiak, I./Ude-Kodier, S.: Auf den Spuren P.s. Zur Arbeitsweise eines Sagenforschers. In: Medien populärer Kultur. Festschr. R . W . Brednich. Ffm./N. Y. 1995, 131-144; Tomkowiak, I./Ude-Koeller, S.: „... weil niemand die alten Chroniken und Kompendien mehr aufschlagen will." W.-E. P. und die niedersächs. Sagen. In: Bönisch-Brednich/Brednich (wie not. 1) 125-140. - 13 cf. Köhler-Zülch, I.: Der Diskurs über den Ton. Zur Präsentation von Märchen und Sagen in Slgen des 19. Jh.s. In: Homo narrans. Festschr. S.Neumann. Münster 1999, 25-50. - 14 P., W.-E.: Sagen. Geburt und Antwort der mythischen Welt. B. 1965, 21-30. - 15 Alsheimer, R.: P.s Bremer Sagen. In: P , W.-E.: Bremer Sagen. Göttingen 21988, 297-303; Brückner, 14-18; Tomkowiak/Ude-Koel-

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Pfaffe vom Ka(h)lenberg

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ler (wie not. 12). - 16 ζ. Β. P. (wie not. 8); id., Sage (wie not. 9). - 1 7 Jacobeit, W.: W.-E. P. „Die große Wende". Ein Beitr. zur Wiss.sgeschichte der dt. Vk. nach 1945. In: Bönisch-Brednich/Brednich (wie not. 1) 141-161. - 18 Maus, H.: Zur Situation der dt. Vk. In: Die Umschau 1 (1946) 349-353; P., W.-E.: Zur Situation der Vk. In: Die Nachbarn 1 (1948) 130-135. - 1 9 P , W.-E.: Hexensalben. In: Medizinischer Monatsspiegel 8 (1960) 169-174; id.: Ergänzendes Kap. über das dt. Hexenwesen. In: Caro Baroja, J.: Die Hexen und ihre Welt. Stg. 1967, 285-321.

gelöhner oder gleich gegen das ganze Dorf durchzusetzen. Dabei ist diesen Erzählungen gemeinsam, daß der Student und spätere Pfarrer eine bes. Disposition zu modernen Formen des Wirtschaftens, wie ζ. B. die Kunst der Investition, Erzielung materiellen Gewinns durch Verlust, die Kalkulation der Arbeitszeit oder die Suggestivkraft der Werbung, an den Tag legt, die ihn seinen an traditionellen Denk- und Verhaltensmustern orientierten Gegnern immer wieder neu überlegen macht 4 .

Göttingen

So gewinnt der Student seine Pfarre durch kalkulierten Verlust (32-210): Er kauft einen großen Fisch, um ihn Herzog Otto zu schenken, erregt dessen Aufmerksamkeit aber vor allem durch eine noch weitergehende Bereitschaft zum eigenen Nachteil. Denn weil der Türhüter des Herzogsaals für sich die Hälfte von Herzog Ottos Gegengeschenk verlangt, erbittet sich der Student eine Tracht Prügel, die dementsprechend auch dem Türhüter verabreicht wird, dem Studenten aber die K.er Pfarre einbringt (AaTh 1610: -» Teilung von Geschenken und Schlägen). In einer anderen Erzählung wollen die Bauern des K.erdorfs ihren Pfarrer beim gemeinsamen Bau des Kirchendachs dadurch übervorteilen, daß sie den kleineren Chor decken, ihm aber das Langhaus überlassen, doch müssen sie letztlich die ganze Kirche decken, wenn sie nicht im Regen sitzen wollen (211—296); die vom Pfarrer bezahlten Tagelöhner hingegen wollen durch eine List ihre Arbeitszeit verkürzen, sehen sich schließlich aber gezwungen, bis tief in die Nacht zu arbeiten (297-398); oder der Pfarrer verkündet das Wunder, daß er vom Kirchturm fliegen wolle, inszeniert den Auflauf aber nur, um seinen alten Wein loszuschlagen und somit seinen wirtschaftlichen Vorteil zu sichern (423-486) 5 .

Brigitte Bönisch-Brednich

Pfaffe vom Ka(h)lenberg, Schwankroman (2180 V.e)1, 1473 in Augsburg erstmals gedruckt (fragmentarisch; erste vollständige Ausg.: Heidelberg 1490), der in der Frühdruckzeit zu einem beachtlichen literar. Erfolg wurde: Die Geschieht des pfarrers vom Kalenberg (K.) ist bis zum Beginn des 17. Jh.s immer wieder nachgedruckt 2 und ins Niederdeutsche (Lübeck 1497), Niederländische (Antw. 1510: Prosa, verschollen; Amst. 1613) und Englische (Antw. 1520; Prosa) übersetzt worden. Die frz. Bezeichnung ->• Calembour(g) für Wortspiele und platte Scherze (->• Kalauer) könnte aus der Überlieferung des K.er Pfarrers abgeleitet sein, doch ist eine frühe frz. Übers, der Geschieht nicht bekannt. Noch im 16. Jh. sind Erzählungen aus der Geschieht weit verbreitet, vielleicht sogar sprichwörtlich gewesen 3 . Erst im 17. Jh. wurde sie vom -> Eulenspiegel-Buch verdrängt; in die Volksbücher des 19. Jh.s ist sie nicht mehr aufgenommen worden. Die Geschieht erzählt von einem Pfarrer des am Fuß des Kahlenberges (seit dem 17. Jh. Leopoldsberg) gelegenen und zu Wien gehörigen Kahlenbergdorfs, der sich zunächst in seiner Pfarre selbst, dann auch am Passauer Bischofshof und am Wiener Hof Herzog Ottos des Fröhlichen (1330—39) und dessen Frau Elisabeth von Bayern durch die unterschiedlichsten Schwänke, Übervorteilungen und Streiche hervorgetan hat. Der Text ist dreigeteilt: Die Schwänke des ersten Teils umfassen den höchst raffiniert eingefädelten Erwerb der K.er-Pfarre durch den namenlosen Wiener Studenten sowie seine erfolgreichen Versuche, seinen persönlichen Vorteil gegen die Bauern seiner Gemeinde, gegen von ihm gemietete Ta-

Der zweite Teil ist im kirchlichen Milieu angesiedelt, zeigt aber auch eine andere Intention als die Schwänke aus dem K.erdorf. Kernpunkt der Kirchenschwänke sind Verfehlungen und Laster von Pfarrern und Bischöfen, die listig offenbart werden. Hierbei wird das Lachen durch die satirische Absicht legitimiert, die verkehrte Welt zu demonstrieren, in der vor allem die Kleriker den Sünden des Fleisches und der Habgier verfallen, um auf diese Weise vor ihnen warnen zu können. So kommt der K.er Pfaffe an den Passauer Bischofshof,geritten und gegangen' (713; cf. AaTh 921 B: Der beste -> Freund, der schlimmste Feind; cf. AaTh 870: Die kluge -» Bauerntochter) und findet dort die bes. Gnade des Bischofs, setzt diesen aber gerade dadurch dem Gelächter aus: Gegen dessen Sehschwäche empfiehlt der K.er dem Bischof eine Liebesnacht mit einer schönen Frau, doch ist dieser deren Belastungen nicht gewachsen: allerdings

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Pfaffe vom Ka(h)lenberg

glaubt er sich geheilt (701-774). Ähnliches gilt für die Folgegeschichten, wenn der K.er Pfarrer einen Weihbischof dazu bringt, die .Capelle' - eine Bezeichnung für das weibliche Geschlechtsteil - seiner Beischläferin zu weihen, was der K.er seinerseits unter dem Lustbett mit lautem Weihgesang begleitet (806-939) 6 . Eine parodistische Inszenierung des feierlichen Umzugs am Kirchweihtag (1909—1974)7 sowie eine ironische Replik auf das Evangelium vom ,guten Hirten' (1975-2120) gehören ebenfalls zur Klerussatire der Geschieht8.

Der dritte Teil zeigt den K.er Pfarrer als beliebten Unterhalter am Wiener Herzoghof. Auch dabei aber setzt er sich über Ansehen und Wohlergehen seiner bäuerlichen Pfarrkinder hinweg, die er nackt vor die höfische Gesellschaft treten läßt (1270-1357). Die Aufmerksamkeit der Herzogin erweckt er, indem er sich ihr halbnackt und bei einer unziemlichen Beschäftigung wie dem Waschen seiner Wäsche zeigt (940-996) 9 . Vollends als .wunderliches thier' (953) aber präsentiert er sich, als er seinem hohen Gast zur musikalischen Abendunterhaltung statt auf dem ,hackbrett' (1218), einem zitherähnlichen Saiteninstrument, ein Ständchen auf dem ,krautpret' schlägt 10 , und dann aber - um die Stube zu wärmen — die hölzernen Statuen der zwölf Apostel aus der nahen Kirche als Heizmaterial verwendet. Hier nun geht es auch dem hl. Jakobus mit der sprichwörtlich gewordenen Aufforderung an den Kragen: „Nun bück dich, Jeckel, du must in offen/werst babst ob allen bisschoffen,/ die Stuben die muß werden warm" (1173-1175) 1 1 . Heiliges und Alltägliches werden ebenso miteinander verbunden wie höfische Etikette und die obszöne Demonstration des eigenen Körpers. In beiden Fällen resultiert die Komik aus der Infragestellung des Höfischen und Heiligen, die ausschließlich unter dem Gesichtspunkt ihres praktischen Nutzens von Interesse ist. Gleichwohl ist der K.er Pfarrer kein Bilderstürmer und kein Kritiker der kirchlichen Bilderverehrung am Vorabend der Reformation. Er zeigt lediglich neue Deutungsmöglichkeiten des Höfischen und Sakralen auf, die bislang nicht gesehen worden sind und zweifellos komisch gewirkt haben. Das gilt auch für die abschließenden Erzählungen: so ζ. B. die in das Eulenspiegel-Buch modifiziert übernommene Erzählung von den vergoldeten Schuhen (1358-1474) 1 2 , vom Gewinn des herzoglichen Pferdes (1532—1633)

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oder von dem übergroßen Sack Hafer (1634-1678) und schließlich auch die Schlußerzählung von den vier Höflingen, die nicht nur ihre guten Pferde, sondern auch ihre Ehre verlieren (1767-1908). Ebenso uneinheitlich wie der Aufbau des Texts sind auch die Verhaltensmuster und Interessen seines Helden. Er schafft Komik, indem er „im offiziell Geltenden das Nichtige und im offiziell Nichtigen das Geltende sichtbar werden" läßt 13 , verweist aber in dieser Mehrdeutigkeit und Verkehrung der vertrauten Standards auf einen Umbruch gesellschaftlicher, habitueller und ideologischer Orientierungen, die ihre bislang selbstverständliche Gültigkeit verloren haben. Bislang ungeklärt ist die Frage, ob der K.er Pfarrer als hist. Figur anzusehen ist. In der österr. Historiographie des 15./16. Jh.s finden sich zahlreiche Hinweise darauf, daß der ,abentewrist pfaff, genannt vom Kallenberg', ein gewisser Gundaker von Thernberg gewesen sei, der zunächst Pfarrer in Kirchberg (am Wechsel) und dann im K.erdorf gewesen sein soll 14 . Genannt wird auch ein Wigandus a Teben 15 , doch ist dieser Name wohl als nachträgliche Erfindung anzusehen 16 . Gesichert ist nur, daß vom Hofe Ottos des Fröhlichen von zwei närrischen Unterhaltern - keinen Hofnarren — berichtet wird: dem Pfarrer des K.erdorfes und von -> Neithart Fuchs, deren hist. Identität allerdings ungeklärt bleibt. Als Verf. der Geschickt nennt sich ein .Villip Franckfurter/ zu Wien in der loblichen stat/ der das zu reim gemachet hat' (2178—2180), doch ist über ihn nichts Gesichertes bekannt. Mit ihm könnte ein zwischen 1486 und 1511 nachgewiesener Wiener Bürger dieses Namens identisch sein 17 . Die Rezeptionsgeschichte der Geschieht des Pfarrers vom K. bleibt auf das 15. —17. Jh. beschränkt; sie gilt in dieser Zeit als bedauernswerter Ausdruck grobianischer Verirrungen (-• Brant in seinem Narrenschiff den ,Grobianus' als neuen Heiligen begrüßt, dem vor allem der Pfarrer vom K. ,die suwglock luten kann' (num. 72) 18 , so nennt dann auch Kaspar Scheidt zu Beginn seines Grohianus unter den ,groben Heiligen' neben dem Gott Bacchus ,den Pfaffen auch vom Kalenbergk/ Der trib sein tag vil narrenwerck' 19 . Nicht zuletzt aber

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Pfaffe Amis - Pfaffenköchin

w o h l a u f g r u n d des g r o ß e n E r f o l g s d e r Geschickt h a t sich G e o r g W i d m a n n a u s S c h w ä bisch H a l l d a r u m b e m ü h t , m i t seiner Histori Peter Lewen des andern K.ers (1558) 2 0 a n A u f b a u u n d I n t e n t i o n d e r Geschieht anzuschließ e n , d a b e i aber i h r e n r a f f i n i e r t e n W i t z u n d ihre aggressive S a t i r e a b g e s c h w ä c h t u n d ins Albern-Possenhafte verkehrt. 1 Die geschieht des pfarrers vom K. In: Narrenbuch, ed. F. Bobertag. B./Stg. 1884 (Nachdr. Darmstadt 1964) (hiernach im folgenden zitiert); cf. auch die Ausg. von Dollmayr, V. (ed.): Die Geschichte des Pfarrers vom K. Halle 1907. - 2 Nürnberg um 1490; Heidelberg 1490; Straßburg vor 1515; Augsburg um 1540; Ffm. 1550, 1556; Frankfurt (Oder) 1596; Magdeburg um 1600; Augsburg 1602. - 3 Wackernagel, W. H.: „Buck dich, Jäcklin! du must in Ofen." In: Beitr.e zur vaterländischen Geschichte 3 (1846) 375-379. - 4 Ausführlicher dazu Röcke, W.: Die Freude am Bösen. Studien zu einer Poetik des dt. Schwankromans im SpätMA. München 1987, 163-177. - 5 Zur Fluggeschichte cf. die Cronica (1233) des Franziskaners Salimbene de Adam (t.l. ed. G. Scalia. Bari 1966, 109-111) und Poggio, num. 50. - 6 Zum Motivfeld cf. Köhler/Bolte 1, 594, bes. Bartholomäus Krüger, Hans Ciawert (Kap. 5); cf. dazu auch die Sprichwortslgen des 16. Jh.s, so ζ. B. Agricola, J.: Sybenhundert vnd Fünfftzig Teütscher Sprichwörter Hagenau 1534, num. 342. — 7 Wallner, N.: Zachäus im Tiroler Kirchweihlied. In: Volkskundliche Studien. Festschr. K. Ilg. Innsbruck 1964, 157-174; Köhler/Bolte 3, 507. - 8 Im Anschluß an Joh. 10, 11-18. - 9 H D A 4 (1931-32) 407 sq. (wahrscheinlich eine Anspielung auf den Rechtsbrauch der cessio bonorum, daß ein zahlungsunfähiger Schuldner auf offenem Markt die Hose herunterläßt, den nackten Hintern zeigt und damit seine Zahlungsunfähigkeit unter Beweis stellt). - 10 Zur Bezeichnung des Geschlechtsverkehrs durch den Ausdruck ,auff dem hackbrett schlagen' cf. Lindener, M.: Rastbüchlein, ed. F. Lichtenstein. Tübingen 1883, num. 1. -

" Wackernagel (wie not. 2); zu den sprichwörtlichen Belegen Wander 2, 975; Murner, T.: Narrenbeschwörung. Straßburg 1512, num. 5. - 12 Tyl Ulenspiegel in Abb. des Drucks von 1515 (S 1515). ed. W. Wunderlich. Göppingen 1982, num. 23. - 1 3 Marquard, O.: Exile der Heiterkeit. In: Preisendanz, W./ Warning, R. (edd.): Das Komische. Mü. 1976, 142. 14 Ladislaus Sunthaim von Ravensberg: Donauthal (1498-1505), zitiert nach Müller, R.: Wiens höfisches und bürgerliches Leben im ausgehenden MA. Wien 1907, 675; cf. auch Maschek, H.: Die Geschichte des Pfarrers vom Kahlenberg. Hist. Grundlagen, Verf., Entstehungszeit. In: ZfdA 73 (1936) 3 3 - 4 6 , hier 35 sq. - 1 5 Lazius, W.: Commentatoria in genealogiam Austriacam, zitiert nach Lechner, K.: .Chalwenperg' - ,K.' - ,Leopoldsberg'. In: Unsere

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Heimat 30 (1959) H. 3 - 4 , 65 sq. - 1 6 Müller (wie not. 13) 677. - "Perger, R.: Philipp Frankfurter. Ein Wiener Volksdichter des ausgehenden MA.s. In: Wiener Geschichtsbücher 24,3 (1969) 455-460. ,s B r a n t , S.: Das Narrenschiff, ed. M. Lemmer. Tübingen 1968, V. 2 1 - 2 6 . - 1 9 Grobianus/ Von groben sitten/vnd vnhöflichen geberden [...] verteutschet durch Casparum Scheidt von Wormbs. Faks. Darmstadt 1979, fol. Av. - 20 Bobertag (wie not. 1) 91-140. Berlin

P f a f f e Amis

Werner Röcke

Stricker

Pfaffenköchin. D i e E r z ä h l ü b e r l i e f e r u n g e n von der Bestrafung von Pfarrerskonkubinen u n d i h r e r R ü c k k e h r als Wiedergängerinnen sind v o r w i e g e n d in d e n A l p e n l ä n d e r n u n d im westl. E u r o p a v e r b r e i t e t . Sie g e h e n a u f einen ma. Volksglauben zurück, demzufolge Frevler 1 u n d bes. die m i t A n g e h ö r i g e n des -» K l e r u s im K o n k u b i n a t l e b e n d e n P f a f f e n m ä g d e v o m -» Teufel g e h o l t u n d als -> P f e r d g e r i t t e n w e r d e n ( M o t . Q 243.1: Prostitution punished·, cf. A a T h 761: —• Reicher Mann als des Teufels Roß}2. Diese G l a u b e n s v o r s t e l l u n g erhielt in d e n A l p e n l ä n d e r n u. a. d u r c h f r ü h h i s t . H u f e i s e n f u n d e N a h r u n g ; die ä t i o l o g i s c h e D e u t u n g dieser v e r m u t l i c h v o n S a u m t i e r e n s t a m m e n d e n sog. P f a f f e n e i s e n b r a c h t e sie m i t P.nen in V e r b i n d u n g , die v o m Teufel g e h o l t w o r d e n seien (cf. M o t . G 241.2.1: Witch transforms man to horse and rides him)3. Bei d e n E r z ä h l s t o f f e n 4 sind drei verschied e n e A u s g e s t a l t u n g e n zu u n t e r s c h e i d e n . (1) In d e r e i n f a c h s t e n F o r m w i r d lediglich b e r i c h t e t , d a ß die P. v o m Teufel e n t f ü h r t w i r d . Diese A u s f o r m u n g d e r E r z ä h l u n g b e g e g n e t u m 1550 a u f e i n e m ill. F l u g b l a t t d e r Z ü r c h e r Slg J. J. W i e k 5 u n d ist m i t f a s t i d e n t i s c h e m Text als E x e m p e l im Promptuarium exemplorum (1568) des P r o t e s t a n t . P f a r r e r s A . -»• H o n d o r f f v e r t r e ten 6 : Eine Bauerntochter aus Gent sei der Werbung eines Pfaffen erlegen und seine Köchin und zugleich seine Konkubine geworden. „Da sie nun ein zeitlang bey jm in wollust gelebt [...] kompt der Teuffei leibhafftig / stößt die Thür auff / ergriff die Pfaffenköchin und spricht: Du bist mein / komm mit mir [...]. Zum Pfaffen [der zur Abwehr einen -» Exorzismus versucht]: Du bist auch mein. Ich will dich bald auch holen."

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Pfaffenköchin

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Für diese narrativ eher sparsam gestaltete Ausprägung der P.-Erzählung bietet auch die mündl. Überlieferung Beispiele. So heißt es ζ. B. in einer Schweiz. Volkssage des 19. Jh.s, eine Köchin, die zehn Jahre lang als Ledige bei einem Geistlichen gedient habe, werde Eigentum des Bösen und müsse als sog. P. ruhelos umgehen (Mot. Ε 411.2.1) 7 . Eine andere Schweiz. Sage berichtet, eine P. habe sich einmal durch einen kühnen Sprung über ein Tal vor der Hölle retten können und dabei einen tiefen Fußabdruck hinterlassen (-» Jungfernsprung) 8 . (2) In einer narrativ detaillierter ausgestalteten Version wird die P. nach ihrem Tod von der Wilden Jagd gehetzt, die vielfach vom Teufel angeführt wird (Mot. Ε 501.2.4). Zu dieser Erzählform liegt bereits im Dialogus miraculorum (12,20) des Caesarius von Heisterbach ein Beleg des 13. Jh.s vor:

Schmied kommt widerstrebend diesem Wunsch nach; als er beim Befestigen des Eisens einen zu langen Nagel benutzt, gibt sich das Tier als seine eigene Tochter zu erkennen, eine P., die der Teufel zur Strafe für ihre Sünden als Reittier benutzt.

Die Konkubine eines Priesters bittet vor ihrem Tod darum, mit neuen, gut besohlten Schuhen begraben zu werden. Nach ihrer Beerdigung hört ein Ritter nachts die flehentlichen Hilferufe einer Frau, springt vom Pferd und zieht mit dem Schwert einen -» Zauberkreis um die nur mit Schuhen und Hemd bekleidete Frau. Sie wird unter der Anführung des höllischen Jägers von der Wilden Jagd verfolgt und vom Teufel aus dem Kreis herausgezerrt, obwohl der Helfer versucht, die Frau an ihren Zöpfen zurückzuhalten. Ihm bleiben als Beweis für das nächtliche Geschehen nur die Zöpfe der Sünderin. Als man das Grab öffnet, findet man darin die Frau ohne Haare.

Ein Mädchen begegnet beim Rosenpflücken einem .verwunschenen Knaben', dem Teufel. Er beschuldigt sie, auf drei Pfaffen zu warten, hebt sie auf sein Roß und reitet mit ihr zum Himmelstor, w o sie abgewiesen, darauf zum Höllentor, wo sie eingelassen, auf den Höllenstuhl gesetzt und in ein Roß verwandelt wird. Er bringt sie zum Schmied, der beim dritten Schlag auf den Pferdehuf seine eigene Tochter erkennt; sie warnt ihre Schwestern, keine P.nen zu werden: in der Hölle stehe ein feuriger Wagen, der mit lauter P.nen beladen sei. Der Vater wirft seinen Hammer ins Meer und will nie wieder Schmied sein.

Der Novize, dem ein Mönch dieses Exemplum erzählt, bemängelt, daß von einer Bestrafung des sündigen Klerikers nicht die Rede sei. H. -> Bebel erinnert in seinen Fazetien (1, num. 36) zwar noch an die furchtbare -» Strafe, die Priesterkonkubinen vor Zeiten ereilt hätte, indem sie von der Wilden Jagd in der Luft zerrissen worden seien, jetzt allerdings führen die Priester mit ihren Konkubinen öffentlich zur Fastnachtszeit im Schlitten spazieren 9 . Dagegen bewahrt die ältere alpenländ. Volkssage noch manche Erinnerungen an die von der Wilden Jagd gehetzte 10 oder mit ihr als Schreckgestalt einherziehende 11 Wiedergängerin. (3) Die größte Verbreitung hat folgende Form der Sage von der P. gefunden: Bei einem Schmied erscheint während der Nacht ein gespenstischer Reiter und verlangt gegen bes. Lohn einen Hufbeschlag für sein Roß. Der

Die älteste lat. Aufzeichnung zu dieser Form hat T. Wright aus einer engl. Quelle des 13. Jh.s abgedruckt (hier erkennt der Schmied im Pferd seine eigene Mutter) 12 ; aus dem gleichen Zeitraum stammt ein frz. Fabliau 13 . Weitere Zeugnisse liefern Protestant. Exempelsammlungen des 17. Jh.s 14 und in reichem Maße die jüngere mitteleurop. Volkssage 15 . Die Prosaüberlieferung ist in diesem Falle z. T. auch vom Inhalt einer verbreiteten Volksballade beeinflußt, die D.-R. Moser aufgrund ihrer „ausgeprägten katechetischen Züge" der Entstehung nach in die Gegenreformation setzen möchte 16 . Sie erzählt folgendes 17 :

Das Lied ist nach Moser nicht gegen die Kapitalsünde des Zölibatsbruches gerichtet, sondern gegen die Absicht der Frau, eine gottgeweihte Person, die das Gelübde der Enthaltsamkeit (-> Keuschheit) abgelegt hat, zu verführen (-> Verführung) 18 . Nur die Sünderin wird bestraft, und zwar mit der denkbar schwersten Strafe, der Höllenpein, während die Priester verschont bleiben. Somit könne es sich bei dem Liedinhalt nicht ursprünglich um eine Volkssage handeln, sondern um ein exegetisch begründetes Exempel. Das Lied könnte bereits dem 16. Jh. angehören, da um 1509—12 aus Zürich ein Verbot eines P.nenLieds überliefert ist 19 . Das Erzähllied ist noch im 19. Jh. in der Schweiz 20 und bis ins 20. Jh. in mehreren anderen mitteleurop. Landschaften 21 aufgezeichnet worden. Das Motiv vom Hufbeschlag der P. hat auch auf andere Frevelsagen übergegriffen. Ein Ostermärlein des Karmeliters Archangelus a

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Pfand der dummen Frau

S a n c t a G e o r g i o e r z ä h l t ζ. B. v o n einer alten F r a u , die bei einer W a l l f a h r t s k i r c h e ein -> W i r t s h a u s e r r i c h t e t e , u m d e n Pilgern d u r c h B e t r ü g e r e i e n d a s G e l d a u s d e r T a s c h e ziehen z u k ö n n e n . E i n e s T a g e s r ä c h t e sich dies, d a d e r Teufel bei i h r erschien, sie in ein P f e r d v e r w a n delte u n d m i t ihr z u m B e s c h l a g e n ritt. D e r S c h m i e d e r k a n n t e i m T e u f e l s r o ß seine G e v a t t e r i n 2 2 . E i n e Yar. d a z u h a b e n die B r ü d e r G r i m m f ü r i h r e Dt. Sagen ( n u m . 208) a u s J. P r a e t o r i u s ' Anthropodemus plutonicus 2 (1677) g e w o n n e n . E s ist die Sage v o n einer b e t r ü g e r i schen Bierwirtin; sie h a t in O s t p r e u ß e n in d e r Erzählung von der Wirtin von Eichmedien weitergelebt 2 3 . D a s M o t i v v o m Vater, d e r seine eigene T o c h t e r als P r o s t i t u i e r t e (-» P r o s t i t u t i o n ) trifft, ist in d e r m o d e r n e n Sage als P o i n t e h ä u f i g a n zutreffen24. ' Müller/Röhrich Η 59. - 2 Wesselski, Α.: Mönchslatein. Lpz. 1909, 243 sq. - 3 Ranke, F.: Pfaffeneisen. In: H D A 6 (1934-35) 1543 sq.; Fink, H.: Geräte in Sagen. In: Rachewiltz, S. de (ed.): Volkskundliche Wanderungen durch Südtirol. Dorf Tirol 1989, 4 5 - 4 8 , hier 46. - 4 Müller/Röhrich Η 60. - 5 F e h r , H.: Massenkunst im 16. Jh. B. 1924, 98 sq. und Abb. 39. — 6 Schade, H.: Das Promptuarium exemplorum des Andreas Hondorff. Diss. Ffm. 1966, 64. - 7 Peuckert, W.-E.: Westalpensagen. B. 1965, num. 272. - 8 ibid. - 9 c f . Bebel/Wesselski, num. 36. 10 Ranke, F.: Pfaffenkellerin. In: H D A 6 (1934-35) 1544-1547, hier 1544 sq.; Plischke, H.: Die Sage vom wilden Heere im dt. Volke. Diss. Lpz. 1914, 65; Geramb, V. von: Die verwunschene P. Eine sagenkundliche Unters. In: Bll. für Heimatkunde 22,1 (1948) 2 0 - 2 9 ; id.: Zum Sagenmotiv vom Hufbeschlag. In: Beitr.e zur sprachlichen Volksüberlieferung. Festschr. A. Spamer. B. 1953, 7 8 - 8 8 , hier 80. 11

Lütolf, Α.: Schötzer-Schmieds Anneli. In: SAVk. 8 (1918) 3 - 7 , hier 3 - 5 . - 12 Wright, Τ.: Selection of Latin Stories. L. 1842, num. 35. - 13 Raynaud, G.: Des Avocas de la jument au deable [...]. In: Romania 12 (1883) 209-229, hier 221-223. - 1 4 Rehermann, 157, num. 38. - 15 von Geramb 1953 (wie not. 10) 7 8 - 8 1 ; Müller/Röhrich Η 60; Petzoldt, L.: Dt. Volkssagen. Mü. 1970, num. 151; Haas, Α.: Die pommersche Sage vom Teufelsroß. In: Monatsbll. der Ges. für pommersche Geschichte und Altertumskunde 1 (1927) 6 - 1 0 . - 16 Moser, D.-R.: Verkündigung durch Volksgesang. B. 1981, 550-554, hier 550. - 17 Die Inhaltsangabe bezieht sich auf eine bes. vollständige Var., cf. Künzig, J.: Drei Märchen und eine Ballade der blinden Schwestern aus Gant. Schallplatte des Inst.s für ostdt. Vk. Fbg 1958. 18 Moser (wie not. 16) 551. - 19 Fretz, D.: Zum Lied

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von der Pfaffenkellerin. In: Schweizer Vk. 9 (1919) 36. - 2 0 Tobler, L.: Schweiz. Volkslieder 1. (Frauenfeld 1882) Nachdr. Hildesheim/N. Y. 1975, num. 25; cf. die Nachweise bei Köhler/Bolte 3 (1900) 265-269; Lütolf (wie not. 11) 5 - 7 ; Erk/Böhme 1, num. 11c; Röhrich, L./Brednich, R . W . (edd.): Dt. Volkslieder 1. Düsseldorf 1965, num. 4 b - c . 21 Erk/Böhme 1, num. 11, 219; Röhrich, L.: Die Ballade vom Teufelsroß. In: Der Dt. Unterricht 15,2 (1963) 7 3 - 8 9 . - 22 Archangelus a S. Georgio: Hundertfache Lob-Stimm. Augsburg 1714, 254 sq.; Moser-Rath, Predigtmärlein, 5 1 - 5 3 . - 2 3 Schottmüller, Α.: Die Krügerin von Eichmedien. In: Ber. über das Kgl. Gymnasium zu Bartenstein. Bartenstein 1875, 18. - 2 4 Brown, Y./Flynn, M.: The Best Book of Urban Myths Ever. L. 1999, 280; Craughwell, T. J.: Alligators in the Sewers and 222 Other Urban Legends. Ν. Y. 1999, 100 sq.; Pollock, R.: Good Luck Mr. Gorsky. Exploring Urban Myths. Auckland 1999, 69 sq. Göttingen

Rolf Wilhelm Brednich

Pfand der dummen Frau ( A a T h 1385), S c h w a n k ü b e r eine einfältige E h e f r a u , die einen unsinnigen H a n d e l tätigt. D e r Erzähltyp g e h ö r t zu d e r u m f a n g r e i c h e n G r u p p e v o n S c h w ä n k e n , die die a u ß e r g e w ö h n l i c h e -> D u m m h e i t v o r allem v o n -> F r a u e n b l o ß s t e l len 1 . E r d i e n t m e i s t als E i n g a r i g s m o t i v f ü r weitere D u m m e n s c h w ä n k e . Eine Bäuerin soll im Auftrag ihres Mannes auf dem Markt mehrere Kühe (Hühner, Getreide) verkaufen. Der Käufer überredet die Frau, ihm einen Teil der Ware kostenlos mitzugeben und den Rest als P. zu behalten oder sie zum Tagespreis (die eine Hälfte bekommt der Käufer auf Kredit, die andere bleibt er schuldig) zu verkaufen. Als e i g e n s t ä n d i g e r S c h w a n k ist d a s M o t i v vereinzelt seit d e m f r ü h e n 16. J h . ü b e r l i e f e r t : E u l e n s p i e g e l n i m m t einer B ä u e r i n H ü h n e r u n d G e l d a b u n d l ä ß t ihr d e n H a h n als P f a n d ( H i s t o r i e 36) 2 . I n dieser F o r m e r s c h e i n t d a s M o t i v a u c h bei H a n s S a c h s 3 u n d in d e r lat. K o m ö d i e Aluta v o n M a c r o p e d i u s (1535) 4 . Wie i m S c h w a n k v o m t ö r i c h t e n -» K u h h a n d e l ( A a T h 1382) schließen sich als h ä u f i g s t e K o n t a m i n a t i o n s e l e m e n t e A a T h 1384: Narrensuche o d e r A a T h 1540: -» Student aus dem Paradies a n , bei d e n e n d e r M a n n n o c h d ü m m e r e F r a u e n f i n d e t u n d v o n d e r B e s t r a f u n g seiner E h e f r a u a b s i e h t 5 . In dieser F o r m w u r d e die E r z ä h l u n g 1853 in die Kleine Ausg. ( n u m . 39), 1857 in die Große Ausg. d e r - Salzsaat, AaTh 1242 A: - Entlastung des Esels, AaTh 1288: Beinverschränkung, AaTh 1383: cf. -+ Teeren und federn und AaTh 1387: cf. Kluge Else. Der Verbreitungsschwerpunkt des vor allem mündl. überlieferten Schwanks liegt nach jetzigem Kenntnisstand geogr. sehr begrenzt in Nord- und Osteuropa; die norddt. und ndl. Var.n von AaTh 1385 haben oft mit K H M 104 die Motive gemeinsam 7 . Zahlreiche Var.n sind aus Skandinavien überliefert 8 . Vereinzelte Belege stammen aus dem Baltikum 9 , aus Ostpreußen 10 , Irland 11 , dem slav. Sprachraum 1 2 , aus Böhmen 13 , Ungarn 1 4 und Griechenland 15 . Darüber hinaus liegen mexikan. 16 und jüd. 1 7 Var.n vor . In Schweden ist mehrfach die Verbindung mit AaTh 1245: -> Sonnenlicht im Sack, AaTh 1285: ->• Hemd anziehen und AaTh 1286: Sprung in die Hose bekannt. In einer Reihe von finnlandschwed. Var.n ist eine andere Version verbreitet 18 : Hier nimmt die Frau nicht ein (wertloses) P., sondern gibt unnötig ein (wertvolles) Kleidungsstück zusätzlich ab. Daß ein Mann in der Rolle des Verkäufers begegnet und der Betrüger ihm einen Teil seines Eigentums als vermeintliches R des Käufers hinterläßt 19 , gar selbst ein wertvolles R aufdrängt 2 0 , scheint seltener vorzukommen. 1 Ergänzend zu AaTh: Rausmaa; Aräjs/Medne; Ο Süilleabhäin/Christiansen; van der Kooi; M N K ; Jason; Jason, Iraq. - 2 BP 2, 440; Christensen, Α.: Dumme folk. Kop. 1941, 45. - 3 Sachs, H.: Sämtliche Fabeln und Schwänke 4. ed. E. Goetze/K. Drescher. Halle 1904, num. 349. - 4 M a c r o p e d i u s , G.: Rebelles und Aluta. ed. J. Bolte. B. 1897, 73-103. —5 cf. Aarne, Α.: Der Mann aus dem Paradiese ( F F C 22). Hamina 1915. - 6 B P 2, 440; KHM/Uther 4, 199 (Kommentar). - 7 B P 2, 440; Bröring, J.: Das Saterland 2. Oldenburg 1901, 300-304; Meyer, G. F.: Plattdt. Volksmärchen und Schwänke. Neumünster 1925, num. 48; Wossidlo, R.: Volksschwänke aus Mecklenburg, ed. S. Neumann. B. 1963, num. 5; van der Kooi; Kooi, J. van der/Meerburg, B. A. G.: Fries. Märchen. MdW 1990, num. 85; Kooi, J. van der/Schuster, T.: Der Großherzog und die Marktfrau. Leer 1994, num. 141 (oldenburg.). - 8 cf. Aarne (wie not. 5) bes. 62 sq.; Christensen (wie not. 2) num. 2; Kristensen, Ε. T.: Fra Bindestue og Kolle 1. Kop. 1896, num. 10; id.: Bindestuens Saga. Kop. 1897, num. 2; Kuhre, J. P.: Bor-

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rinjholmska sansäger. Kop. 1938, num. 9; Liungman 1, 455-463; Quigstad, J.: Lappiske eventyr og sagn 1. Oslo 1927, num. 43; Simonsuuri, L./Rausmaa, P.L.: Finn. Volkserzählungen. B. 1968, num. 88. 9 Aräjs/Medne. - 10 cf. Plenzat. 11 cf. 0 Süilleabhäin/Christiansen. - 12 cf. BP 2, 440; Lintur, P. V.: Ukr. Volksmärchen. B. 1972, num. 116; Cendej, I.: Skazki Verchoviny. Zakarpatskie ukrainskie narodnye skazki. Uzgorod 1959, num.l. - 13 cf. BP 2, 440. - 14 M N K ; Koväcs, Ä.: König Matyas und die Rätoter. Lpz. 1988, 9 8 - 1 0 1 . 15 Megas, G. Α.: Griech. Volksmärchen. MdW1965, num.71. - 16 Wheeler, Η. Τ.: Tales from Jalisco, Mexico. Phil. 1943, num. 162. - , 7 c f . Jason; Jason, Iraq. - 1 8 H a c k m a n , O.: Finlands svenska folkdiktning I A 2. Hels. 1920, num. 262 (1,2,3), 163 (1). 19 Eschker, W.: Serb. Märchen. MdW 1992, num. 98 (der Betrogene ist ein Bosnier). - 2 0 Christensen, Α.: Pers. Märchen. MdW 1958, num. 24.

Warendorf

Anja Schöne

Pfand des Liebhabers (AaTh 1420 A - F ) bezeichnet eine Gruppe von -> Ehebruchschwänken, die in der monogr. Studie von J. W. Spargo u. d. T. The Lover's Gift Regained (AaTh 1420) zusammengefaßt werden 1 . Es lassen sich mehrere Subtypen unterscheiden. Am besten trifft die Bezeichnung des Erzähltyps auf AaTh 1420 A: The Broken (Removed) Article zu. Die frühesten bekannten Belege für diesen Subtyp stammen aus der ma. arab. Lit. 2 : Ein Mann verführt eine Frau mit einem Geschenk. Als er sie verläßt, zerbricht er auf der Schwelle des Hauses ein Wasserglas (Trinkgefäß). Dem zurückkehrenden Ehemann gegenüber behauptet er, die Frau habe sein Geschenk als Ausgleich für den Schaden beschlagnahmt, und erhält es zurück.

Der Erstbeleg steht in der Sprichwörtersammlung Nuzhat al-anfus (Unterhaltung der Gemüter; 12. Jh.), die als Protagonisten Guhä, das arab. Pendant zu - Brahmane, -> Rabbi, -> Schamanismus). Der kathol. Priester wird durch einen sakralen Akt in den -> Klerus aufgenommen und unterscheidet sich dadurch grundsätzlich von Laien. Er wird vom Bischof ernannt und versieht sein Amt unter dessen Autorität. Nach evangel. Kirchenrecht ist der P. der selbständige Inhaber des Amtes der Verkündigung; die Anstellung erfolgt auf G r u n d einer Pfarrwahl durch die Gemeinde, auf Vorschlag der obersten kirchlichen Behörde oder des Kirchpatronats und bedarf der Bestätigung durch die oberste Kirchenbehörde. Die Einführung in das Amt geschieht innerhalb der Gemeinde, ebenso die einmalige feierliche Verpflichtung auf das Amt. Der P. ist zuständig f ü r die Verwaltung der -> Sakramente, die Unterweisung (-• Katechese, Katechismus; Predigt) und die Seelsorge in einer Kirchengemeinde und/ oder im Dienst der Kirche. Im Gegensatz zum zölibatären kathol. P. sollte der Protestant. P. verheiratet sein und der Gemeinde das vorbildhafte Muster einer christl. Ehe und Familie vorleben. Das geistliche Amt gab dem P. eine herausgehobene und respektfordernde Stellung in der Gemeinde, die in kathol. Gegenden noch heute in der ehrfurchtsvollen Anrede Hochwürden zum Ausdruck kommt. Die Abgaben der Gemeinde bildeten jahrhundertelang die materielle Existenzgrundlage der P , wobei gut dotierte Pfarreien die Ausnahme bildeten. Bezogen die kathol. P. noch andere Einnahmen, etwa aus Meßstiftungen, so waren die Protestant. P. in der Regel auf die ihnen verbürgten Naturalien angewiesen. Anstoß erregten P , die ihr Amt mehr schlecht als recht versahen, an ihre Gemeinde zu hohe oder unbillige Forderungen stellten bzw. durch ihren Lebenswandel unangenehm auffielen. Galten die P. so einerseits als Inbegriff der Verbindung von frommer Haltung und gottgefälligem Wirken in der weltlichen Gesellschaft, so konnten sie andererseits den von ihnen postulierten moralischen Ansprüchen in ihrer menschlichen Anfälligkeit selbst nicht immer genügen. Sie wurden dann

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zwangsläufig auch in ihrer Amtsführung unglaubwürdig und Gegenstand der Kritik. Keinem anderen Stand n a h m man Verfehlungen im Beruf und Vergehen gegen die Standespflichten so übel wie dem P., und über keinen anderen wurde (und wird) so leicht der Stab gebrochen und so hart geurteilt. Die folgende Darstellung basiert weitgehend auf Texten aus Mitteleuropa und beleuchtet exemplarisch die Rolle und Funktionen der kathol. und evangel. P. in den verschiedenen Erzählungsgattungen. 2. D e r P. in d e r E r z ä h l t r a d i t i o n . Die Stellung der P. und die Beziehungen zu ihren Gemeinden haben einen sehr differenzierten literar. Niederschlag gefunden, der ζ. T. auch Rückschlüsse auf die jeweilige zeitgenössische Wirklichkeit ermöglicht. In den mitteleurop. Predigt- und Exempelsammlungen des MA.s erscheint der Geistliche als Parallelgestalt zu -•Heiligen und -»Helden (v. Kap. 2.1). Im 13. Jh., mit dem Einsetzen der Fabliaux- und Märendichtung, wandelt sich jedoch die bis zu dieser Zeit weithin kirchenkonforme Darstellung des P.s. So tritt bereits der Pfaffe Amis des -> Stricker, der aufgrund seiner prudentia schließlich als Abt selig gesprochen wird, in einer Reihe von Mären nicht als Seelenhirte, sondern als eine Art geistlicher Schlaukopf auf, der unter skrupelloser Ausnutzung des herrschenden -> Wunder- und Reliquienglaubens D u m m e und Leichtgläubige prellt 2 . Dieser Zug kehrt später in Philipp Frankfurters Geschichte des -> Pfaffen vom K a h l e n berg wieder, der sich bei seinen Streichen, die er an Hoch und Niedrig verübt, ebenfalls stets als wenig kirchenkonform erweist. Mit dem Stricker begann eine Serie von Einzelmären, in denen ein P. in seinem Amt nicht ernstgenommen wird 3 , mehr oder minder erfolgreich um die Gunst von Frauen in seiner Gemeinde buhlt 4 , für sein Wildern in fremden Betten büßen m u ß 5 oder von Fehltritten der Frauen in der eigenen Familie erfahrt 6 . Hier k a m das weithin zeitgleiche Vorbild der frz. Fabliaux zum Tragen 7 . Auch ->• Chaucer ging es bei der Darstellung von Geistlichen in seinen Canterbury Tales ζ. B. um die Demaskierung von dubiosen Wanderpredigern 8 . Parallel dazu entwickelte sich die ital. Novellistik des 14. Jh.s, die in -> Boccaccios Decamerone

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ren H ö h e p u n k t fand. Seine vergnügliche, aber wenig schmeichelhafte Schilderung der menschlichen Verfehlungen von Geistlichen 9 war weithin typisch für die kritisch-spöttische Einstellung jener Zeit (cf. Franco Sacchetti, Arlotto Mainardi). Diese manifestiert sich auch innerhalb des Klerus selbst, wie der um 1450 entstandene Liber facetiarium des Florentiners -> Poggio zeigt, der in seinen sprachlich geschliffenen Kurzgeschichten gleichsam die innerkirchliche Sicht auf die Schwächen von -» Mönchen und P.n reflektierte, die hier teils gerügt, teils aber auch eher verstehend belacht werden. In Deutschland wurde in den Kreisen der Humanisten vor der - Mönch und Vöglein handelt es sich um einen wenig eifrigen, sündigen P., der für 300 Jahre entrückt wird 104 . In der Regel wird der P. jedoch im Zaubermärchen

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nicht und im Novellenmärchen nur sporadisch negativ gezeichnet 105 .

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2 . 5 . S c h w a n k u n d W i t z . Den mit Abstand größten Raum nimmt die Darstellung des P.s im Schwank ein. So ist ihm nicht zufällig bei AaTh unter den Schwänken ein eigener 2 . 4 . S p r i c h w o r t . Das Sprichwort war ofgroßer Abschnitt eingeräumt (AaTh 1725— fenbar dazu angetan, die unterschiedlichen 1849*: Jokes about Parsons and Religious OrMeinungen über den P.stand zu artikulieren. ders)·, und zudem taucht er häufig in anderen Aus den 48 verschiedenen Sprichwörtern über Erzähltypen auf (ζ. B. AaTh 921 D, 1341 B, P., die K. F. W. ->• Wander in seinem großen 1360 C, 1361, 1383, 1424, 1525, 1855 A, 1860 Sprichwörterlexikon aus verschiedenen europ. B). Einen wirklichen Eindruck von Umfang Sprachen anführt, spricht sowohl Realitätsund Vielfalt der Überlieferung von P.schwänsinn („Man wird P. um des Brotes, nicht um ken liefert jedoch erst der Befund in Regionen, des Himmels willen") und Anerkennung („Ein in denen bes. intensiv gesammelt worden ist. guter P. lernt zeitlebens") als auch Toleranz So füllen ζ. B. die antiklerikalen Schwänke aus („Der P. ist auch ein Mensch") und VerständEstland einen ganzen Katalog, der zahlreiche nis („P. sind Scheuerpfähle, an denen sich alles bei AaTh nicht verzeichnete Sujets auflistet 114 ; Vieh, dem die Haut juckt, reibt") 106 . Doch die und ebenso läßt sich ein Teil der P.schwänke Sprichwortliste Wanders unter dem Lemma 115 oder Mecklenburg" 6 nicht P f a f f e umfaßt 322 europ. Sprichwörter 107 , von aus Finnland nach AaTh klassifizieren. denen neutrale Beispiele wie „De Pape seggt et nich mehr as enmal" die Ausnahme bilden. Viele Schwänke schildern den P. beim AusHier haben vielmehr alle aus Aversion gegen üben seiner Amtstätigkeit, in erster Linie beim P. beider Konfessionen entstandenen KliAbhalten von Gottesdiensten, namentlich schees sprachliche Gestalt gewonnen und sind beim Predigen (-> Predigtschwänke). Hier entζ. T. über Jh.e tradiert worden, ζ. B.: „Ein faltet er seine geistliche Bildung, die nicht wePfafT tut nichts umsonst", „Die Pfaffen haben sentlich über die mangelhafte Kenntnis von weite Ärmel" (sind habsüchtig), „Die Pfaffen Bibelzitaten hinausgeht, so daß er ζ. T. drastisind voll Schelmerei", „Pfaffe und Schalk stesche Erwiderungen zu hören bekommt (cf. hen auf einem Balg", „Es tut nicht eher gut, ζ. B. AaTh 1832: The Sermon about the Rich man schlag denn alle Pfaffen tot". Relativ Man, AaTh 1833 A: „ What Says David?", häufig erscheint der P. auch im Sagwort, speziAaTh 1833 Η: The Large Loaves)ni, und führt 108 ell in Belegen aus dem Norden und aus von der Kanzel herab mit seinem Küster Deutschland 109 , und das ζ. T. bis in die unmitrecht weltliche Wechselgespräche (AaTh 1831: telbare Gegenwart. Hier wird - wie bes. das -> P. und Küster beim Messelesen). Hier pranreiche Material aus Mecklenburg illustriert 110 gert der P. die Verfehlungen und Versäumnisse - zum einen der P. in entlarvender Selbstdarder Pfarrkinder an 118 , die sich ihrerseits mit stellung vorgeführt 111 : „,Sterben ist mein Gemanchem Schabernack rächen (cf. AaTh 1785 winn', seggt de Preister un steckt dat DodenΒ: Nadel in der Kanzel, AaTh 1825 C: Die geld in", „,Nicht aus sinnlichem Triebe, nein, angesägte -> Kanzel·, AaTh 1836*: Rascals aus christlicher Liebe!' säd' de Paster, as hei Spread Butter over the Altar-bread); aber auch bie de Diern sleep". Zum andern werden den er selbst benimmt sich wenig priesterlich (cf. Pfarrkindern Urteile über den P. in den Mund AaTh 1825 B: „I Preach God's Word", AaTh gelegt, die teils unverbindlich witzig, teils recht 1827: „ You shall See me a Little While Lon112 bissig sind : „,Dor heww wi Gott's Wuurt ger", AaTh 1827 A: Cards [Liquor Bottle] Fall swart up witt', säd' de Buuer, as hei den' Pafrom the Sleeve of the Preacher, AaTh 1828*: stur up ,n Schimmel rieden sehg'", „,Dat Best Weinen und Lachen bei der Predigt, AaTh in de Midd', säd' de Buuer, dor güng de Düü1835 A*: Schuß von der Kanzel, AaTh 1839 wel [Teufel] twischen twei Papen". Insofern A: Parson Calls out Cards); und hier versucht sind Sprichwörter und die in nuce eine Kurzer auch, Kirchgänger mit dem Trick der Taube geschichte enthaltenden Sagwörter 113 weithin als Heiligem Geist anzulocken (AaTh 1837: Indikatoren der Volksmeinung über GeistliHeiliger Geist in der Kirche). che, wobei großenteils Klischees tradiert wurZu den weiteren Handlungen des P.s in der den. Kirche, die in Schwänken illustriert werden,

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gehören etwa die Taufe (AaTh 1823 u. a.: Taufschwänke), die religiöse Unterweisung (-• Katechismusschwänke) sowie bes. im kathol. Bereich das Abnehmen der Beichte (-> Beichtschwänke) und die Kontrolle des Fastens (-> Fastenschwänke). Doch auch außerhalb der Kirche kommt der P. in seiner Eigenschaft als Geistlicher mit seinen Gemeindemitgliedern in vielfache Berührung: Er erkundigt sich bei ihnen, wie seine Predigten gefallen haben, und erhält wenig schmeichelhafte Antworten (cf. AaTh 1834: P. mit der feinen Stimme), oder er besucht sie am Kranken- oder Sterbebett und wird dort ob seiner Tröstungen brüskiert (cf. AaTh 1860 B: Sterben wie Christus·, AaTh 1738: Alle Priester in der Hölle). Manchmal nutzt er seine Amtsbefugnisse dazu aus, sich zu bereichern, verlangt viel Geld für seine Amtshandlungen, das ihm dann freilich nicht gezahlt wird (cf. AaTh 1743*: The Promised Gift)U9, und sieht selbst über Eingriffe in seine Amtsbefugnis hinweg, als er erfährt, daß ein heimlich auf dem Kirchhof begrabener Hund die Pfarrei in seinem Testament bedacht habe (AaTh 1842: -» Testament des Hundes), oder als er von einem Bauern, der sein Kind selbst getauft hat, als Sühneleistung ein Kalb bekommt 1 2 0 . Die Ankündigung in der Kirche, daß Gott alles zehnfach vergelte, realisiert sich zu seinen Ungunsten: Die ihm geschenkte Kuh eines Bauern führt alle Kühe des P.s nicht in dessen Stall, sondern in den des Bauern (AaTh 1735: Die zehnfache Vergeltung). Dagegen gereicht ihm der Rat an eine besitzlose alte Frau, mit einer von ihm nicht ernstgemeinten Besprechungsformel Kranke zu heilen, zum Segen. Denn als er an einer verschluckten Fischgräte zu ersticken droht und die herbeigeholte Frau diese Formel herbetet, muß er so lachen, daß die Gräte herauskommt (AaTh 1845: The Student as Healer [cf. - Amulett], AaTh 1641 B: cf. - Scharlatan). Mit dem ihm untergebenen Küster verbinden den Ρ. ζ. T. kirchliche Pflichten, speziell beim Gottesdienst, bei dem im Dialog der beiden manches für den Seelenhirten Blamable zur Kenntnis der Gemeinde gelangt (cf. u. a. AaTh 1735 A: Der falsche -> Gesang). Hinzu kommen Kontrollen in der Kirche und auf dem Friedhof, wo dem Geistlichen das eine oder andere Mißgeschick passiert (cf. AaTh

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1838: -» Priester auf der Sau, AaTh 1791: Küster trägt den P., AaTh 1525 A: cf. Meisterdieb). Gelegentlich geraten auch gemeinsame private Aktionen für den P. zur Zitterpartie (cf. AaTh 1790: -» P. und Küster stehlen eine Kuh, AaTh 1775: Der hungrige ->• P.), sofern der Küster ihn nicht überhaupt hereinlegt oder prellt (cf. AaTh 1792: Der geizige P. und sein Schwein, AaTh 1789*: The Sexton Steals the Parson's Money). Selbst die Dienstboten zeigen sich dem P. überlegen; sie täuschen ihm vor, sie hätten auftragsgemäß die Wiese gemäht (AaTh 1736: Die auferstandene -» Wiese), ein Gast habe den Braten gestohlen (AaTh 1741: Priesters Gäste), oder sie reden ihm ein, er sei schwanger (AaTh 1739: -* Priester soll Kalb gebären) bzw. Küken oder ein Hund könnten zur Schule gehen, plaudern hinterher aber sittliche Verfehlungen des P.s oder seiner Frau aus (cf. AaTh 1750, 1750 A: Tiere lernen sprechen)121. In all diesen Schwänken geht es nicht darum, den P. bei seiner normalen Amtstätigkeit innerhalb und außerhalb der Kirche zu schildern, sondern es reizte die Darstellung aus dem Rahmen fallender tatsächlicher oder fiktiver Geschehnisse, die ihn meist in keinem guten Licht erscheinen lassen und zum Lachen über ihn anregen. Einige P. erwiesen sich als -> Kristallisationsgestalten für komische Alltagsgeschichten oder für Schwankgut, das auf sie übertragbar erschien 122 . Das Intimverhalten des P.s ist auch im Schwank negativ gezeichnet und erscheint im Grunde nur als eine Anhäufung sittlicher Fehltritte (-• Erotik, Sexualität). Obwohl der ,buhlerische Pfaffe' nach Aufhebung des Zölibats im evangel. Gebiet keine alltägliche Erscheinung mehr war, gab er auch hier nach wie vor der Phantasie reichlich Nahrung 1 2 3 , wobei in der Regel geschildert wird, wie schlecht ihm seine Liebeswerbungen bekommen: Er wird bloßgestellt, verprügelt oder sogar im Ofen verbrannt (AaTh 1725: cf. Ehebruch belauscht, AaTh 1730: cf. Liebhaber bloßgestellt; cf. auch AaTh 1360 C: Der alte - Hildebrand, AaTh 1535: - Unibos, AaTh 1537: Die mehrmals getötete -> Leiche). Im modernen Witz werden ζ. T. die alten Inhalte aufgegriffen, aber auf die Gegenwart hin aktualisiert und mit Blick auf die Pointe mehr oder minder gestrafft. So geht es auch hier

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h ä u f i g d a r u m , d a ß die P. nicht s o n d e r l i c h eifrig u n d w e l t l i c h e n G e n ü s s e n z u g e n e i g t seien, die K i r c h g ä n g e r bei der l a n g w e i l i g e n Predigt e i n s c h l i e f e n o d e r i m H i m m e l kein einziger P. a n z u t r e f f e n sei 1 2 4 . M a n c h e P.witze e n t h a l t e n scharfe Spitzen, ζ. B.: A l s e i n e m J u n g e n , u m seine k ü n f t i g e B e r u f s e i g n u n g z u e r k u n d e n , G e l d , ein B u c h u n d eine F l a s c h e W e i n hingestellt w e r d e n , w ä h l t er nicht ein Teil a u s , s o n dern n i m m t alles; dies wird als H i n w e i s d a r a u f gewertet, d a ß er w o h l k a t h o l . Pater w e r d e n w i r d 1 2 5 . A b e r allg. ist ein v e r s ö h n l i c h e r e r T o n spürbar als in d e n alten S c h w ä n k e n , u n d ζ. T. entspricht der W i t z i n h a l t sicherlich s o g a r d e m S e l b s t v e r s t ä n d n i s der G e i s t l i c h k e i t , v o n deren Seite unter d e m G e s i c h t s p u n k t d e s s c h o n ang e s p r o c h e n e n H u m o r s in der K i r c h e a u c h gegenwärtig n o c h entsprechende Anthologien initiiert w e r d e n 1 2 6 . I cf. zusammenfassend Paarhammer, H./Winkler, E.: P. In: T R E 26 (1996) 3 5 1 - 3 6 0 , 3 6 1 - 3 7 4 ; Holtz, G.: P., geschichtlich. In: R G G 5 ( 3 1961) 2 7 3 - 2 8 0 ; Paus,. Α.: Priester, Priestertum. In: LThK 8 ( 3 1999)' 5 5 7 - 7 6 0 ; Pfister, F.: Kultus. 5: Heilige Personen. In: Pauly/Wissowa 11,2 (1922) 2 1 2 5 - 2 1 3 0 ; Galling, Κ./ Dietrich, E. L.: Judentum 1 - 2 . In: R G G 3 ( 3 1959) 9 7 8 - 1 0 0 0 ; Koch, K : Priestertum in Israel, ibid. 5, 5 7 4 - 5 7 8 ; Schoeps, J. H.: Neues Lex. des Judentums. Mü./Gütersloh 1992, 374. - 2 Brall, H.: „Wahrlich, die Pfaffen sind schlimmer als der Teufel!" Z u r Entstehung der dt. Schwankdichtung im 13. Jh. In: Euphorion 94 (2000) 3 1 9 - 3 3 4 , hier 3 2 7 - 3 3 4 . - 3 c f . Fischer, H.: Studien zur dt. Märendichtung. Tübingen 2 1983, num. 30 b, 30 n, 94. - 4 ibid., num. 4 d, 4 e, 67 c, 75, 89, 95, 96, 105 i, 138. - 5 ibid., num. 56, 62, 67 a, 67 k, 67 η, 92, 105 b, 105 d, 105 1, 127 k. — 6 ibid., num. 19. — 7 Frosch-Freiburg, F.: Schwankmären und Fabliaux. Ein Stoff- und Motivvergleich. Göppingen 1971. - 8 Geoffrey Chaucer's Werke 1—3. Ubers. A. von Düring. Straßburg 1883-86, h i e r t . 2, 3 9 0 - 4 0 9 ; t. 3, 1 5 8 - 1 7 9 . - ' B o c caccio, Decamerone 1,4; 1,6; 3,8; 4,2; 8,2; 8,4; 9,2; 9,10. - 10 Brant, S.: D a s Narrenschiff, ed. H.J. Mähl. Stg. 1978, 266. II Drews, P.: Der evangel. Geistliche in der dt. Vergangenheit. Jena 1905, 7 - 3 0 . - 1 2 Wickram/Bolte, num. 3, 13, 20, 21, 26, 34, 38, 41, 46, 47, 51, 56, 63, 67. - 13 Schumann, V.: Nachtbüchlein, ed. J. Bolte. Tübingen 1893, num. 3, 19, 34, 40, 47. 14 cf. Roth, K : Ehebruchschwänke in Liedform. Mü. 1977, num. D 6, 11, 2 6 - 2 8 , 38, 40, 46, 47. - 15 Neumann, S.: Schwanklit. und Volksschwank im 17. Jh. In: Jb. f ü r Vk. und Kulturgeschichte 24 (1981) 116-151. - 16 Moser-Rath, E.: Dem Kirchenvolk die Leviten gelesen ... Stg. 1991, 189. 17 Moser-Rath, Schwank, 1 5 6 - 1 7 1 . - 18 Krausse,

H.: Z u r Darstellung des Geistlichen im Schwankbuch des 17. Jh.s. In: Dialectology, Linguistics, Literature. Festschr. C. Ε. Reed. Göppingen 1984, 115-132. - 1 9 cf. auch Tubach, num. 3935; Neumann, S.: Den Spott zum Schaden. Rostock 1976, num. 3 0 0 - 3 0 6 , 3 2 7 - 3 3 7 , hier 3 37. - 2 0 Roth (wie not. 14) num. Ε 2, 35, 3 7 - 3 9 , 47; Wehse, R.: Schwanklied und Flugblatt in Großbritannien. Ffm./Bern/Las Vegas 1979, 1 7 7 - 1 8 9 . 21 ζ. B. Eder Matt, K : Bauernschwänke in dt.Schweiz. Volkskalendern des 19. Jh.s. In: SAVk. 85 (1989) 8 5 - 1 0 2 , hier 94 sq. - 2 2 z . B. Anekdoten über und für Geistliche 1 - 2 . Quedlinburg/Lpz. 18 3 3/39. - 2 3 Rausmaa, 3 8 - 5 0 . - 2 4 R a u d s e p , 100 - 225. - 2 5 Aräjs/Medne, 2 2 0 - 2 3 2 . - 2 6 H o d n e , 2 9 8 - 3 1 4 . - 2 7 Henßen, G.: Volk erzählt. Münster 1935, num. 2 6 1 - 2 8 6 . - 2 8 Wossidlo, R.: Volksschwänke aus Mecklenburg, ed. S. Neumann. B. 3 1965, num. 2 1 7 - 3 0 9 . - 2 9 ζ. Β. Afanasjew, A . N . : Erotische Märchen aus Rußland. ed. A. Baar [i. e. A. Kashin], Ffm. 1977; Lintur, P. V.: Ukr. Volksmärchen. B. 1972, num. 105-114; Barag, L. G.: Beloruss. Volksmärchen. B. 1966, num. 6 9 - 7 7 ; Eschker, W.: Der Zigeuner im Paradies. Balkanslaw. Schwänke und lustige Streiche. Kassel 1986, num. 9 0 - 9 4 ; BFP, 3 6 6 - 3 7 9 ; Penusliski, K.: Tipovi i varijanti na makedonskite antiklerikalni anegdoti' (Typen und Var.n mazedon. antiklerikaler Schwänke). In: Makedonski folklor 19 (1986) 9 - 1 4 , bes. 10, 1 2 . - 3 0 v. auch Tubach, Reg. s. v. preacher (s), prelate(s), priest(s). 31

ibid., num. 4813. - " B r ü c k n e r , 160. - 3 3 ibid., 236. - 3 4 Tubach, num. 2447. - 35 Klapper, MA., num. 191. - 3 6 Tubach, num. 3230, 3231. - 3 7 ibid., num. 3214. - 38 ibid., num. 4744. - 3 9 ibid., num. 4162. - 4 0 Klapper, M A . , num. 22. 41 Tubach, num. 1259. - 4 2 ibid., num. 4939. 43 ibid., num. 3210. - 4 4 ibid., num. 32 24. - 4 5 ibid., num. 3229, cf. 3211. - 4 6 ibid., num. 1203. - 4 7 ibid., num. 3677. - 4 8 ibid., num. 1184. - 4 9 ibid., num. 2228. - 5 0 Wesselski, Α.: Mönchslatein. Lpz. 1909, num. 32, 31. 51 Tubach, num. 3950. - 52 ibid., num. 4999. 53 Wesselski (wie not. 50) num. 5. — 5 4 Tubach, num. 2925, cf. 2455. - 55 Wesselski (wie not. 50) num. 53. - 5 6 ibid., num. 52. - 5 7 cf. ibid., num. 33, 60, 99, 129. - 58 Alsheimer, R.: Katalog Protestant. Teufelserzählungen des 16. Jh.s. In: Brückner, 4 1 7 - 5 1 9 . 59 cf. H D A 3, 5 6 1 - 5 6 6 ; Jungwirth, E.: P. In: H D A 6 ( 1 9 3 4 - 3 5 ) 1565-1568; id.: Priester. In: H D A 7 ( 1 9 3 5 - 3 6 ) 3 0 7 - 3 2 9 ; die Vielfalt und Fülle der Sagen um P. ist bes. eindrucksvoll dokumentiert bei Büchli, Α.: Mythol. Landeskunde von G r a u b ü n d e n 1 - 4 . ed. U. Brunold-Bigler. Disentis 2 1989/ 3 89/90/92, hier t. 4, Reg. 81, 9 2 - 9 4 . - 6 0 Lütolf, Α.: Sagen, Bräuche und Legenden aus den fünf Orten Lucern, Uri, Schwyz, Unterwaiden und Zug. Luzern 1865, num. 68. 61

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Schönwerth, F.: Aus der Oberpfalz 3. Augsburg 1859, 183 sq. - 6 2 Rochholtz, E. L.: Schweizersagen aus dem Aargau 2. Aarau 1856, num. 3 72. - 6 3 Endt,

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Pfarrer

J.: Sagen und Schwänke aus dem Erzgebirge. Prag 1909, num. 4 - 7 . - 6 4 Büchli (wie not. 59) t. 1, 531 sq., 870 sq.; t. 2, 506-512; t. 3, 61, 173, 358; Neumann, S.: Sagen aus Mecklenburg. Mü. 1993, num. 247. - 65 Schell, O.: Berg. Sagen. Elberfeld 1897, 293, num. 1 c; Büchli (wie not. 59) t. 2, 576 sq. - 6 6 Büchli (wie not. 59) t. 1, 836; t. 2, 174, 474, 643 sq., 927 sq.; t. 3, 132 sq., 284 sq., 346 sq. 67 Schönwerth (wie not. 61) 113, 116, 119, 128; Eisel, R.: Sagenbuch des Voigtlandes. Gera 1871, num. 116, 217; Müllenhoff, K.: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Kiel 1845, num. 266, 349; Böck, E.: Sagen aus Niederbayern. Regensburg 2 1983, num. 47, 74, 208, 232, 364, 389; Agricola, C.: Engl, und walis. Sagen. B. 1976, num. 101, 102, 104 IV, 107, 110, 113. - 68 Müllenhoff (wie not. 67) num. 348; Zingerle, I.V.: Sagen aus Tirol. Innsbruck 2 1891, num. 677; Büchli (wie not. 59) t. 2, 291 sq., 473, 755 sq.; t. 3, 49, 56, 72, 522. - 69 Böck (wie not. 67) num. 395, 397. - 70 Büchli (wie not. 59) t. 1, 29, 176, 445 sq., 574, 630 sq.; t. 2, 238, 809 sq. 71 H D A 7, 313 sq. - 72 Brückner, 485, num. 544 (aus dem Jahr 1562). - 7 3 Temme, J. D. H.: Die Volkssagen von Pommern und Rügen. B. 1840, num. 87 (aus dem Jahr 1563). - 74 Alsheimer (wie not. 58) 308, num. 113 (19. Jh.). - 7 5 ZfVk. 3 (1893) 385. 76 Büchli (wie not. 59) t. 1, 571 sq., 594, 862; t. 2, 115, 159, 204, 434 sq., 525 sq., 611. - 77 ibid. 2, 270, 560-563. - 78 ibid. 3, 693. - 79 ibid. 1, 349, 704. 80 ibid. 3, 867 sq. 81 ibid. 2, 244. - 82 ibid. 3, 926. - 83 ibid. 2, 252. 84 ibid. 2, 58 sq., 120. - 85 Alsheimer (wie not. 58) 440, num. 87; 457, num. 285, 513, num. 790. 86 Köhler, J. Α. Ε.: Volksbrauch, Aberglauben, Sagen und andre alte Ueberlieferungen im Voigtlande. Lpz. 1867, num. 106; Witzschel, Α.: Sagen, Sitten und Gebräuche aus Thüringen. Wien 1878, num. 56; Reiser, K.: Sagen, Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus 1. Kempten 1894, num. 47. - 87 Herold, K.: Geistlicher. In: H D M 2 (1934-40) 453-464, hier 454. — 88 Jahn, U.: Volksmärchen aus Pommern und Rügen, ed. S. Neumann/K.-E. Tietz. Bremen/Rostock 1998, num. 19; Naumann, H. und I.: Isl. Märchen. MdW 1923, 72; Tegethoff, E.: Frz. Volksmärchen 1 - 2 . MdW 1923, hier t. 2, 133. - 8 9 Zaunert, P.: Dt. Märchen seit Grimm 1 - 2 . MdW 1922, hier t. 1, 265; id.: Dt. Märchen aus dem Donaulande. MdW 1926, 102, 213; Naumann (wie not. 88) 196; ZfVk. 17 (1907) 112. - 9 0 Tegethoff (wie not. 88) t. 1, 149; t. 2, 219; Stroebe, K.: Nord. Volksmärchen 1 - 2 . MdW 1923, hier t. 2, 14, 23, 154-156 (norw.). — 91 Zaunert 1926 (wie not. 89) 308. - 92 Keller, W.: Ital. Märchen. MdW 1929, 156; Zaunert 1926 (wie not. 89) 61. - 9 3 Zaunert 1922 (wie not. 89) t. 2, 95; Tegethoff (wie not. 88) t. 2, 219 sq. - 9 4 Zaunert 1926 (wie not. 89) 307-309; Tegethoff (wie not. 88) t. 2, num. 4. - 95 Zaunert 1926 (wie not. 89) 315-322. - 96 ibid., 2 4 - 2 6 ; Tegethoff (wie not. 88) t. 2, num. 29. - 97 Neumann, S.: Mecklenburg.

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Volksmärchen. B. 1971, num. 146; id.: Friedrich d. Gr. in der pommerschen Erzähltradition. Rostock 1998, num. 11-13. - 98 Tegethoff (wie not. 88) t. 2, num. 5 a. - " S t r o e b e (wie not. 90) t. 1, num. 23, 39 (dän.); t. 2, num. 6, 13 (norw.); Naumann (wie not. 88) num. 15, 39, 40, 46, 54, 62, 67. 100 Klintberg, B. af: Die Frau, die keine Kinder wollte. Moralvorstellungen in einem nord. Volksmärchen (AaTh 755). In: Fabula 27 (1986) 237-264; id.: The Parson's Wife. An Analysis of a Tale Recorded by Evald Tang Kristensen. In: Telling Reality, ed. M. Chesnutt. Kop./Turku 1993, 75-87. 101 Jahn (wie not. 88) num. 61; Zaunert 1922 (wie not. 89) 234-237; id. 1926 (wie not. 89) 3 - 6 . 102 Stroebe (wie not. 90) t. 2, num. 2 (norw.). — 103 Müller-Lisowski, Κ.: Ir. Volksmärchen. MdW 1923, num. 5. — 104 Andrejanoff, V. von: Lett. Märchen. Lpz. [1896], 67 sq. - 105 H D M 2, 453-456. 106 Wander 3 (1873) 1250 sq. - 107 ibid., 1224-1238. - 108 Järvio-Nieminen, I.: Suomalaiset sanomukset. Finnish Wellerisms. Hels. 1959; Ström, F.: Svenska ordstäv. Sth. 1939; Seim, Ε.: Ordtokje og herme 1 - 2 . Oslo 1960/62; Kja:r, I./Holbek, B.: Ordsprog in Danmark. Kop. 1969, 249-261. - 109 cf. Hoefer, E.: Wie das Volk spricht. Stg. 101898; Hofmann, W.: Das rhein. Sagwort. Siegburg 1959, 128-132; Büld, Η.: Ndd. Schwanksprüche zwischen Ems und Issel. Münster 1981; Simon, I.: Sagwörter. Plattdt. Sprichwörter aus Westfalen. Münster 1988, 202 (Reg.). " " N e u m a n n , S.: Sprichwörtliches aus Mecklenburg. Göttingen 1996. 111 ibid., 154-157. - 1 , 2 ibid., 38 sq. - 113 id.: Sagwörter im Schwank, Schwankstoffe im Sagwort. In: Volksüberlieferung. Festschr. K. Ranke. Göttingen 1968, 249-262. - 1 1 4 Raudsep. - 1 1 5 Rausmaa, 3 8 - 5 0 (davon 39 sq., 4 6 - 5 0 nicht klassifizierbar). 116 Wossidlo (wie not. 28) num. 217-309; Neumann, S.: Plattdt. Schwänke. Rostock 1968, num. 196-220; id.: Ein mecklenburg. Volkserzähler. B. 2 1970, num. 7 8 - 8 6 (davon etwa die Hälfte nicht klassifizierbar). - 117 Wossidlo (wie not. 28) num. 243-248, 254, 256, 260; Kooi, J. van der/Schuster, T.: Der Großherzog und die Marktfrau. Leer 1994, num. 216, 217 (Oldenburg.). - 118 Wossidlo (wie not. 28) num. 263, 264; van der Kooi/Schuster (wie not. 117) num. 182. - 119 Wossidlo (wie not. 28) num. 230, 232, 234-236. - 120 ibid., num. 233; Kooi, J. van der/Schuster, T.: Märchen und Schwänke aus Ostfriesland. Leer 1993, num. 171. 121 H D M 2, 456-461. - 1 2 2 Endt (wie not. 64) 3 9 - 1 0 5 (über einen Pater Hahn); Boskovic-Stulli, M.: Kroat. Schwänke vom P. Kujis. In: Fabula 32 (1991) 10-18; van der Kooi/Schuster (wie not. 117) num. 181 a— j (über einen P. von Markhausen) — 123 Wossidlo (wie not. 28) num. 276-282; Neumann 1968 (wie not. 116) num. 212-215. - 1 2 4 Bemmann, H.: Der klerikale Witz. Düsseldorf 8 1981, 4 0 - 5 8 , 6 6 - 7 7 , 298, 304; Röhrich, L.: Der Witz. Stg. 1977, 204-206; Holloway, G.: Saints, Demons, and Asses. Southern Preacher Anecdotes. Bloom./Indianapolis

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Pfarrer: Der geizige P. und sein Schwein

1989. - 125 Bemmann (wie not. 124)40. - 126 Heim, W.: Des P.s Knallzigarren. Heitere Anekdoten rund ums Pfarrhaus. Fribourg 1989.

Rostock

Siegfried Neumann

Pfarrer: Der geizige P. und sein Schwein (AaTh 1792), ein seit dem späten MA. vor allem in Europa überlieferter Schwank: Ein P. (Bürger, Bauer), der reihum an den Schlachtfesten seiner Pfarrkinder (Bauern, Nachbarn) teilnimmt, möchte von seinem eigenen geschlachteten Schwein niemandem etwas abgeben. Sein -> Küster (Nachbar) rät ihm daher, das Schwein über Nacht draußen aufzuhängen, um es früh heimlich hereinzuholen und dann zu behaupten, es sei ihm gestohlen worden. Der P. geht darauf ein und läßt es tatsächlich draußen hängen. In der Nacht nutzt jedoch der Ratgeber die Gelegenheit, um das Schwein zu stehlen. Des Morgens kommt der Bestohlene zu ihm und beklagt sich über den Diebstahl. Der Dieb stellt sich ungläubig und bestätigt dem Bestohlenen, wenn er so echt jammere, werde ihm jeder glauben, daß das Schwein gestohlen sei, und er brauche es mit keinem zu teilen.

In diesem kunstvoll aufgebauten kleinen Schwank wird ein geschickt arrangierter ->• Diebstahl geschildert. Während der -> Geizhals in die ihm gestellte Falle tappt, einen Diebstahl vorzutäuschen, um zum Schluß als der betrogene ->• Betrüger dazustehen, geht der gewitzte Dieb nicht nur frei aus, sondern kann das Jammern des Bestohlenen auch noch als glaubwürdig loben. Ein früher Beleg für AaTh 1792, der zur Kenntnis eines größeren Leserkreises gelangte, findet sich bei -> Boccaccio (Decamerone 8,6)'. Vermutlicher Ausgangspunkt der späteren Überlieferung ist jedoch die Fassung bei -* Poggio (num. 148), die leicht variiert in Johannes Paulis Schimpf und Ernst2 wiederkehrt und — ζ. T. auf die Kontrahenten P. und Küster gemünzt — wiederholt in der dt., ndl., frz. und ital. Schwankliteratur des 16. —18. Jh.s 3 begegnet sowie im 19./20. Jh. nach mündl. Erzählung aufgezeichnet wurde. Vielfach bildet der Erzähltyp eine Einleitung zu AaTh 1735 A: Der falsche -> Gesang, AaTh 1536 A: Die -> Alte in der Kiste oder AaTh 1537: Die mehrmals getötete -* Leiche, und gelegentlich erscheint er mit weiteren Schwanktypen zu einer ganzen Schwankkette verbunden 4 . Uberwiegend wurde AaTh 1792 jedoch

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als Einzelschwank überliefert. Belege aus dem 19./20. Jh. liegen aus ganz Europa sowie Kanada, den USA, Mexiko und Südafrika vor 5 , wobei die Belege aus Ubersee auf Auswanderer aus Europa zurückgehen. Die Wiedergabe der Erzählung ist erstaunlich gleichförmig. Variationen betreffen vor allem die Kennzeichnung der Handlungsträger, die nur teilweise sozial fixiert sind, wobei P. und Küster vor allem in Mitteleuropa anzutreffen sind. Hier dürfte der Erzähltyp nach Maßgabe der Überlieferung auch im späten MA. entstanden sein. Die Geschichte des hereingelegten Geizkragens fordert zur Schadenfreude heraus: Man gönnt es dem scheinheiligen Besitzer des Schweins, daß sein Täuschungsmanöver so ganz anders als gedacht gegen ihn ausschlägt. Zugleich hat das Geschehen in einem Teil der Belege jedoch einen moralischen Hintergrund: Der Geizige muß von seiner Untugend drastisch geheilt werden, so daß der Diebstahl fast wie eine Erziehungsmaßnahme erscheint. Soweit P. und Küster als Gegenspieler auftreten, erhält das Dargestellte zudem eine mehr oder weniger deutliche antiklerikale Spitze. Von der ganzen Anlage her zielt die Erzählung auf die Sympathie von Erzählern und Hörern (oder Lesern) mit dem gewitzten Dieb. Der Küster wird nicht als Krimineller gesehen, sondern als Vertreter der eigenen sozialen Gruppe, der nicht nur den P. als Vertreter der geistlichen Obrigkeit hereinlegt, sondern der - was vielfach eigens betont wird — auch und vor allem deshalb so handelt, weil bittere eigene Not dahinter steht. 1

cf. Lee, A . C . : The Decameron. Its Sources and Analogues. L. 1909, 257 sq. - 2 Pauli/Bolte, num. 790. - 3 Kirchhof, Wendunmuth 1, num. 181; Texte im EM- Archiv: Gerlach, Eutrapeliarium 1 (1656) num. 821; Scheer-Geiger 1 (1673) 178, num. 74; Jan Tambaur (ca 1660) 222 sq.; Vademecum 1 (1765) num. 114; Overbeke, A. van: Anecdota sive historiae jocosae. ed. R. Dekker/H. Roodenburg. Amst. 1991, num. 358, 927; Poggio, num. 148. - 4 cf. ζ. B. Henßen, G.: Volkserzählungen aus dem westl. Niedersachsen. Münster 1963, num. 74 (AaTh 1792 + AaTh 1572 A* + AaTh 1691 + AaTh 1775 + AaTh 1838). - 5 Ergänzend zu AaTh: Ο Süilleabhäin/Christiansen; Hodne; Rausmaa; SUS; de Meyer, Conte; van der Kooi; Archiv J. van der Kooi, Groningen; Gonzalez Sanz; Cirese/Serafini; M N K ; BFP; Baughman; Hoffmann; Robe; Coetzee; cf. auch Blade, J.-

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Pfarrer: Der hungrige P.

F.: Contes populaires de la Gascogne 3. P. 1886, 344-346, num. 14; Camarena Laucirica, J.: Cuentos tradicionales de Leon 2. Madrid 1991, num. 261, 268 ( + AaTh 1829); Narodna umjetnost 1 1 - 1 2 (1975) 76 sq., num. 36; Karadzic, V. S.: Srpske narodne pripovjetke. Belgrad 4 1937, 248 sq., num. 24; Lemieux, G.: Les Vieux m'ont conte 18. Montreal/P. 1982, num. 25 ( + AaTh 1791); Merkens, H.: Was sich das Volk erzählt 2. Jena 1895, num. 138; Fox, N.: Saarländ. Vk. Bonn 1927, 162 sq.; Zender, M.: Volksmärchen und Schwänke aus der Westeifel. Bonn 1935, num. 72; Warker, N.: Was unser Volk hüben und drüben erzählt. Luxemburg 1933, num. 67; Grannas, G.: Plattdt. Volkserzählungen aus Ostpreußen. Marburg 1957, num. 52; Cammann, Α.: Turmberg-Geschichten. Marburg 1980, 186; Kooi, J. van der/ Schuster, T.: Märchen und Schwänke aus Ostfriesland. Leer 1993, num. 166. Rostock

Siegfried N e u m a n n

Pfarrer: Der hungrige P. ( A a T h 1691, 1775). Bei A a T h 1775: The Hungry Parson h a n d e l t es sich u m e i n e n d e r b e n S c h w a n k , dessen H a u p t z u g n a c h K . -> R a n k e d a r i n b e s t e h t , „ n a c h t s die v e r k e h r t e P e r s o n s t a t t a m M u n d a m Arsch zu speisen" (-• Skatologie)1: Zwei Reisende (Bauern, Studenten, Handwerksburschen, -» Herr und Knecht, -> P. und -» Küster) finden Nachtquartier bei einem Bauern. Einer der beiden traut sich nicht, beim Abendessen tüchtig zuzulangen (ist zu müde zum Essen; es gibt nur ein kärgliches Mahl), und kann dann vor -» Hunger nicht schlafen. Sein Gefährte weiß, wo ein Topf Brei (Brotteig, Erbsen) steht, und will etwas davon holen (der Hungrige geht selbst, ißt sich satt und will dem anderen eine Kelle voll mitbringen). Im Dunkeln verirrt er sich und gelangt ans Bett der Gastgeber; das entblößte Hinterteil der Hausfrau hält er für das Gesicht seines Gefährten. Als sie einen Wind fahren läßt (-> Furz), versichert er, man brauche nicht zu pusten, es sei nicht mehr heiß. Argerlich, weil der andere nicht essen will, klatscht er ihm schließlich den Brei ins ,Gesicht'. Als die Frau aufwacht, glaubt sie, sie habe ins Bett geschissen. D i e G e s c h i c h t e b e g e g n e t e r s t m a l s in e i n e m a l t f r z . F a b l i a u v o n G a u t i e r L e L e u (2. H ä l f t e 13. Jh.), d a s die D e m ü t i g u n g d e r F r a u d u r c h ihren E h e m a n n nachdrücklich betont2. In dt. S c h w ä n k e n des 1 6 . - 1 8 . J h . s 3 w i r d ihr M i ß g e schick h ä u f i g als S t r a f e f ü r -» G e i z g e d e u t e t : Sie h a b e (so i h r M a n n ) die N a h r u n g u n v e r d a u t wieder a u s g e s c h i e d e n , weil sie d e n F r e m d e n n u r so w e n i g z u essen g e g e b e n h a b e . Var.n a u s m ü n d l . Ü b e r l i e f e r u n g sind f ü r g a n z E u r o p a (bes. h ä u f i g f ü r N o r d - u n d O s t -

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e u r o p a ) sowie N o r d - u n d L a t e i n a m e r i k a n a c h gewiesen 4 . P r o t a g o n i s t e n sind o f t P. u n d K ü ster ( P o p e u n d K n e c h t ) , in d e r R o m a n i a h a n delt es sich e h e r u m ein B r ü d e r p a a r ( K l u g e r und Dummkopf)· D i e k ü r z e s t e n F a s s u n g e n des S c h w a n k s s c h i l d e r n n u r die V e r w e c h s l u n g v o n G e s i c h t u n d H i n t e r n u n d schließen m i t d e r P o i n t e : „ D u b r a u c h s t n i c h t z u p u s t e n , es ist n i c h t m e h r h e i ß . " 5 D i e s e M i n i m a l f o r m k a n n in zwei R i c h t u n g e n e r w e i t e r t w e r d e n : Einerseits w i r d begründet, w a r u m der Protagonist hungrig zu Bett g e h e n m u ß . A n d e r e r s e i t s l ä ß t in n o r d u n d o s t e u r o p . V e r s i o n e n d e r K n e c h t seinen H e r r n d a r b e n , u m sich f ü r schlechte B e h a n d lung zu rächen6, u m ihn von seinem Geiz zu k u r i e r e n 7 o d e r weil d e r (dt.) G u t s h e r r n i c h t weiß, w a s H u n g e r ist (bzw. w a s d a s e s t n . W o r t für Hunger bedeutet)8: Beide gehen auf die Jagd (in den Wald), der Knecht nimmt Essen mit, der Herr nicht; als sie nach langer Wanderung hungrig sind, verzehrt der Knecht heimlich seinen Proviant und erklärt seinem Herrn, er äße Heu (Pferdeäpfel). Am Abend erreichen sie völlig erschöpft einen Bauernhof; der Knecht ermahnt seinen Herrn, sich nicht gleich auf die erste Einladung hin zu Tisch zu setzen, andererseits warnt er die Bauern, man dürfe seinen Herrn nicht mehr als einmal zum Essen auffordern, sonst werde er böse. Der Herr lehnt die erste Einladung ab, ein zweites Mal wird er nicht gebeten. Als der Hungrige nachts auf die Suche nach Essen geht, gibt ihm der Knecht einen Strick (ein Garnknäuel) mit (cf. AaTh 874*: -> Ariadne-Faden); das Ende des Stricks befestigt er dann am Bett der Wirtsleute und provoziert so die nachfolgende Verwechslung 9 . E i n e dt. Var. 1 0 k o m b i n i e r t A a T h 1775 m i t A a T h 1572 A * : cf. Der naschhafte -> Heilige: U m die H e i l i g e n b i l d e r f ü r e i n e n F l e i s c h d i e b stahl z u b e s t r a f e n , v e r b r e n n e n P. u n d K ü s t e r die g r ö ß t e F i g u r ; s p ä t e r k o m m e n d e m P. Bed e n k e n , z u r B u ß e f a s t e n sie drei T a g e . Bes. h ä u f i g ist die V e r b i n d u n g m i t 1691: „Don't Eat too Greedily"π:

AaTh

P. und Küster (Ehepaar, zwei Brüder) sind zum Essen geladen. Der P. (Ehemann, dummer Bruder) wird ermähnt, nicht so viel zu essen wie gewöhnlich: Wenn der Küster (Ehefrau, kluger Bruder) ihm auf den Fuß tritt, soll er aufhören. Unter dem Tisch liegt ein Hund (Katze), der ihn nach wenigen Bissen anstößt; er glaubt, das wäre das Zeichen, und ißt nicht weiter (- Sünden gegenüber dem Geistlichen im Vollzug des christl. Bußsakraments förderte Blößen der Beichtenden zutage, die sie trotz des Beichtgeheimnisses verwundbar machte (-» Beichte). So schildern die Beichtschwänke originelle Versuche, diese Blößen zu vertuschen oder nicht zu offenbaren. Dabei erscheint in AaTh 1777 A* der Geistliche selbst in einer für ihn unangenehmen Beichtsituation: Der P. versucht seinem beichtenden -> Küster das Geständnis zu entlocken, daß er den Weinkeller (das Feld) der Pfarre geplündert habe, als er, der P., nicht zu Hause war. Doch der Küster gibt vor, auf seiner Seite des Beichtstuhls (an seinem Platz in der Kirche) nichts zu verstehen. Darauf wechseln sie auf Verlangen des P.s die Plätze. Der Küster hat ebenfalls einen begründeten Verdacht und fragt, wer immer zu seiner Frau gehe (mit ihr schlafe), wenn er nicht da sei. Da erklärt der P. rasch, daß er auch nichts höre.

Der Schwank liegt erst in Aufzeichnungen des 19. und 20. Jh.s vor, und zwar aus kathol. Gegenden des dt.sprachigen Gebiets 1 , aus Frankreich 2 , Italien 3 , Ungarn 4 , Kroatien 5 , Bulgarien 6 , Rumänien 7 , der Ukraine 8 , Lettland 9 , Estland 10 sowie - offenbar als europ. Import — aus Mexiko 11 . Da als Kontrahenten stets P. und Küster genannt werden und der P. ein Vergehen (meist Ehebruch) zu vertuschen hat, dessen Aufdeckung ihn moralisch deklassieren würde, ist die Erzählung durch den Bezug auf das Klischee des buhlerischen Geistlichen schon vom Sujet her deutlich antiklerikal bestimmt. Die inhaltlich und formal kaum variierenden Belege zeigen, daß der Schwank sich in der einmal gewonnenen Textgestalt und mit dieser sozialen Tendenz über alle Sprachgrenzen hinweg verbreitete. Der Umfang des Verbrei-

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tungsgebiets dürfte sich weithin daraus erklären, daß die Ohrenbeichte nur im Bereich der kathol. Kirche eine Rolle spielte und verständlich war, obwohl sich manche Beichtschwänke nicht nur im kathol., sondern auch im Protestant. und orthodoxen Raum finden12. 1 Kubitschek, R.: Böhmerwäldler Bauernschwänke. Wien/Prag/Lpz. 1920, 34; Henßen, G.: Volk erzählt. Münster 1935, num. 265; Bodens, W.: Sage, Märchen und Schwank am Niederrhein. Bonn 1937, num. 1139. - 2 Perbosc, Α.: Contes licencieux de l'Aquitaine. Carcassonne 1984, num. 1. - 3 Cirese/ Serafini. - 4 M N K ; Koväcs, Α.: König Mätyäs und die Rätoter. Ung. Schildbürgerschwänke und Anekdoten. Lpz.AVeimar 1988, 109 sq. - 5 BoskovicStulli, M.: Narodne pripovijetke. Zagreb 1963, num. 97; Narodna umjetnost 9 (1972) 122, num. 57. 6 BFP. - 7 Stroescu, num. 4383. - 8 Cendej, I.: Skazki Verchoviny. Zakarpatskie ukrainskie narodnye skazki. Uzgorod 1959, 377 sq. - 9 Aräjs/Medne. - 1 0 Raudsep, num. 341. "Paredes, Α.: Folktales of Mexico. Chic./L. 1970, num. 68. - 12 cf. etwa Neumann, S.: Plattdt. Schwänke. Rostock 1968, num. 273.

Rostock

Siegfried Neumann

Pfarrer und Küster stehlen eine Kuh (AaTh 1790) ist einer der Schwänke, in denen P. und -> Küster sich nicht als Repräsentanten eines kirchlichen Amtes in ihrem unterschiedlichen Dienstverhältnis gegenüberstehen, sondern bei einem Delikt gemeinsame Sache machen: P. und Küster stehlen eine Kuh (anderes Haustier), geraten in Verdacht und drohen als -> Diebe bloßgestellt zu werden. Der Küster meint, er werde es schon richten (sagt, ihn plage das Gewissen; er werde sich öffentlich offenbaren; droht dem P. mit einem Geständnis und läßt sich Schweigegeld bezahlen). Vor Gericht (bzw. in einer größeren Gesellschaft) erzählt der Küster zum Entsetzen des P.s bis in Details die Geschichte des Diebstahls und der Teilung der Beute und schließt, dann sei er aufgewacht (vor Schreck aus dem Bett gefallen). Nun wird das Erzählte vom Gericht (von den Zuhörern) als -» Traum verstanden, so daß P. und Küster nicht mehr verdächtigt werden.

In dieser Form ist AaTh 1790 vor allem in Nord-, Ost- und Südosteuropa, in Sibirien, bei den Mongolen und singular in Ägypten (jüd. Var.) belegt 1 . In Südosteuropa erscheint statt des Küsters meist ein Zigeuner, so daß es sich nur noch bedingt um Erzählungen aus dem kirchlichen Milieu handelt. In einer Var. aus

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Pfarrer und Küster beim Messelesen

der Slovakei ist der Erzähltyp dergestalt variiert, daß P. und Organist behaupten, zum Stehlen gezwungen gewesen zu sein, weil sie von der Gemeinde die fälligen Abgaben nicht erhielten und hungern müßten; daraufhin werden die Abgaben pünktlich geliefert. Hier fehlt daher die entschuldigende Angabe, daß es sich um einen Traum handle 2 . Konstitutiv ist für AaTh 1790 das Motiv des angeblichen Traums (Mot. J 1155). Es findet sich nicht nur in dieser antiklerikalen christl. Diebstahlsgeschichte und in einer ind. Version von AaTh 1790, in der eine Schwangere den Lieblingspfau des Königs stiehlt und schlachtet 3 , sondern ist auch in AaTh 1364: Blutsbruders Frau, einer aus dem arab. Bereich belegten Ehebruchgeschichte 4 , das zentrale Motiv. Der unterschiedliche Überlieferungsbefund macht es problematisch, einen Zusammenhang zwischen den beiden Erzähltypen anzunehmen, und schließt auch Aussagen zur Geschichte von AaTh 1790 weitgehend aus. 1 Ergänzend zu AaTh: de Meyer, Conte; Rausmaa; Raudsep, num. 338; Aräjs/Medne; SUS; Krzyzanowski; Gasparikovä, num. 506; M N K ; Stroescu, num. 5370; Soboleva; Lörincz; Jason; cf. auch Wossidlo, R.: Volksschwänke aus Mecklenburg, ed. S. Neumann. B. 3 1965, num. 286; Narodna umjetnost 9 (1972) 106 sq., num. 24; Djordjevic, D. M.: Srpske narodne pripovetke i predanja iz Leskovacke oblasti. Belgrad 1988, num. 290. - 2 Gasparikova, num. 506. - 3 Die MaräthT-Übers. der Sukasaptati. ed. R. Schmidt. Lpz. 1897, num. 21. - 4 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 308; Littmann, E.: Arab. Märchen. Lpz. 1935, 440 sq.; Jason.

Rostock

Siegfried Neumann

Pfarrer und Küster beim Messelesen (AaTh 1831). Der kurze, überwiegend in Europa bekannte Predigtschwank 1 gehört zu einem weitverbreiteten Zyklus von Stoffen über Pfarrer bzw. Priester und andere Angehörige religiöser Gemeinschaften (AaTh 1725—1849): Der P. schickt den -» Küster (K.) aus, um ein Lamm (anderes Stück Vieh) zu stehlen (beide begeben sich [abwechselnd] auf Diebestour). Während des - Kirche schwanktypisch und begegnen in einer Reihe weiterer Schwänke, was dann auch in Typenkatalogen und Schwanksammlungen zu beträchtlichen Unterschieden in der Klassifizierung geführt hat (ζ. B. AaTh 1825 C: Die angesägte -> Kanzel, AaTh 1777 A*: -» P. und K. beichten einander, AaTh 1825 A: The Parson Drunk). Schon bei AaTh 1831 wird vergleichsweise der Typ AaTh 1792: Der geizige ->• P. und sein Schwein genannt, in anderen Katalogen erfolgt ein Hinweis auf AaTh 1831 B: The Parson's Share and the Sexton's; verwandt ist ferner AaTh 1832 Μ*: cf. - Brille des K.s, wo der P. und der K. sich während der Messe singend über die beschmutzte Brille des K.s austauschen. Aus diesem Grund ordnete W. -> Liungman 2 alle schwed. Schwänke dieser Art dem Typ AaTh 1833**: Other Anecdotes of Sermons zu. Dort ließen sich auch solche über Geschehnisse beim Gottesdienst (AaTh 1831 B; cf. ferner AaTh 1839: The Card-playing Parson), AaTh 1785 B: -• Nadel in der Kanzel) oder beim Gebet (AaTh 1841: - Tischgebet) anführen. Die Hauptkriterien für die folgende Beschreibung von AaTh 1831 und der Subtypen sind: der ausgeführte Diebstahl, wobei die Protagonisten P. und K. oder andere kirchliche Amtsträger/Helfer sind, die Kirche (hier vor dem Altar) als Handlungsort und der Gesang während des Gottesdienstes als zeitliche Zuordnung. Der klassische Wechselgesang zwischen P. und K. ist der folgende: ,Hast du das La-aamm gestohlen?' — ,Ich habe es nicht bekommen, dafür aber eine Tra-a-a-acht Prügel eingesteckt.' In Schwänken, die in Gebieten mit kathol. Bevölkerung verbreitet sind, wird die Unterhaltung zwischen P. und K. oft in der betr. Landessprache geführt, mit den Endungen -us, -um, -ibus, damit sie lat. klingt (cf. auch AaTh 1641 C: -> Bauernlatein). In bestimmten russ. Var.n ist der Gesang der orthodoxen Liturgie angepaßt, mit der Aoristendung -sa, wie in ukradosa (sie haben gestohlen), krasa ubezasa (der Hammel ist davongelaufen) oder sogar etwa ukrasa basa (wir ha-

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ben einen Hammel gestohlen), also mit unrichtigen Endungen und Wörtern etc. 3 Typisch für viele Var.n ist, daß während des Gottesdienstes in der Verständigung zwischen P. und K. Worte gewählt werden, welche die für die dargestellten Erscheinungen kennzeichnenden Laute enthalten (Onomatopöie), u. a. die Stimmen des Schafs, Hammels, Esels, Pferdes, z.: ,Habt ihr oder habt ihr nicht den Hehe-he (Hammel, Schaf) gebracht?' — ,Wir haben den He-he-he nicht gebracht, sondern das O-hi-hi (Pferd) verloren.' 4 .Kantor Pascal, hast du das Be-he-he (Lamm) genommen?' ,ΗοΓ dich der Teufel, man hat mir meinen Han-han-han (Pferd) genommen und mich geschlagen.' 5 Einige estn., rumän., aber auch mexikan. Var.n weiten die Lautmalerei aus und bringen nicht nur das Wiehern des Pferdes oder Blöken des Schafes im Lied zum Ausdruck, sondern auch die Prügel, die der K. bei dem Diebstahl abbekommen hat: ,Hast du Mäh-mäh bekommen?' - ,Pits-pats (Schläge) bekommen, ich auch genommen.' 6 Die Auseinandersetzung drückt sich außerdem in der Melodie aus, wie ζ. B. in dt., österr. und tschech. Var.n, gewöhnlich Melodien, die aus der Antiphonie oder einem anderen Teil der Messe übernommen worden sind 7 . Eine eher weltliche Weise bietet eine frz. Var., in der es nicht um Viehdiebstahl geht, sondern um den von Honig; bei der Messe verständigen sich P. und K. mit einer Mischung aus Französisch und Latein 8 . In einer anderen Gruppe von Aufzeichnungen geht es nicht mehr um Viehdiebstahl, sondern um Essen, über dessen Zubereitung sich P. und Ministrant (Köchin) während der Messe unterhalten 9 . So heißt es ζ. B. in einer mecklenburg. Var.: ,Hast du das Essen gekriegt? Halleluja!' — ,Der Schlächter sagt, er wird dir etwas scheißen! Halleluja!' 10 In ndl. Fassungen findet der Gesang zwischen P. und K. bzw. der Köchin in einer ndl.-lat. Mischsprache statt 11 , ähnlich in den Versionen aus Katalonien, Mexiko etc. 12 Der Schluß des Wechselgesangs folgt dann wieder der Liturgie. Im Unterschied zu AaTh 1831 ist der Subtyp AaTh 1831 A: The Parson as Shopkeeper nur durch eine kleine Gruppe finn. Var.n und eine singuläre ital. Var. vertreten 13 und kennt

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nicht die Komplizenschaft zwischen P. und K. Der Geistliche, zugleich ein Kaufmann, läßt die Gemeinde durch den Gesang während der Messe wissen, daß der Zuckerpreis gestiegen ist. Der Subtyp AaTh 1831 B: The Parson's Share and the Sexton's ist ebenfalls wenig verbreitet (Schweden, Estland, Rußland, Weißrußland, Ukraine, Italien) 14 . Der P. und sein Kantor registrieren während der Messe, wer was in die Kirche hereinbringt (P. sieht durch das Kirchenfenster, wer mit welchen Geschenken kommt). Beide teilen sich die Gaben im Gesang auf: ,Eine alte Frau kommt mit Butter.' — ,Gott gibt sie mir.'— ,Ein Bauer kommt und trägt einen Knüppel.' — ,Den gebe Gott dir." 5 Aus der Überlieferung der Ostslaven gibt es darüber hinaus weitere Aufzeichnungen, in denen sich ein Herr (P.) und ein K. während des Gesangs an den Haaren ziehen und dabei die Glocken am Karfreitag nachahmen 1 6 . Oder es handelt sich um -> Mißverständnisse während der Messe, wenn die Gemeinde den P. nicht versteht und etwas anderes singt, wofür sie nachher gescholten wird 17 . Oder der P. und sein Diakon verständigen sich singend über die Stelle in der Kirche, wo Tabak zu finden ist: ,Dasa, Dasa, wo ist meine Schnuptascha?' — ,Hinter der Ikone, hinter St. Nikolaus, laßt uns beten!' 18 Der Subtyp Krzyzanowski 1831 C ist vor allem unter Westslaven verbreitet, aber auch teilweise in Deutschland, Frankreich sowie Ungarn 1 9 ; er handelt von zwei Nachbarn, etwa mit den Namen Sekula und Mikula. Sekula rühmt sich, daß der P. während der Messe immer vom ,saecula saeculorum' singt. Deshalb besticht der reiche Mikula den P. mit Schafen, damit er das nächste Mal ,in micula micolorum' singe. In dieser einfachen Form ist der Schwank aus dem Glatzer Gebirgskessel bekannt 2 0 . In weiteren poln. und tschech. Fassungen ist die Pointe etwas abgewandelt. Statt des P.s singt der Kantor ,micula micolorum', dieser verrät aber, daß Mikula den P. mit neun Schafen bestochen habe, er selbst habe aber nur eines, und zwar das räudige, bekommen 2 1 . In der slovak. Var. sowie auch in einigen poln. Fassungen vermutet der Organist, daß dem P. ein Irrtum unterlaufen sei; daher antwortet er nicht einmal bei der Wiederholung des Ge-

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sangs. Er reagiert erst, als der P. singt, daß sie halbe-halbe machen würden 22 . Für ursprünglicher hielt J. -» Krzyzanowski eine von ihm gehörte Fassung (1925): ,In matula matulorum.' - ,Νοη ita, domine.' — ,Taceas, asine.' — , Matula mihi dedit centum oves, et ego tibi dabo decern.' — ,Deo gratias.' 23 So groß ist die Vitalität dieses Stoffes, bes. bei Polen, daß noch rezente Fassungen kursieren, ζ. B.: Ein Vertreter der Firma Mercedes soll dem Papst den Vorschlag unterbreitet haben, er werde der Kirche zehn Millionen Dollar unter der Bedingung stiften, daß der Papst in der Kirche statt ,fiat voluntas tua' — ,mercedes voluntas tua' sänge24. Für eine weitere Gruppe von witzigen Geschehnissen während der Messe hat Krzyzanowski den Subtyp 1831 D vorgeschlagen. Der P. beklagt sein verfehltes Rendezvous mit einem Mädchen (Köchin, fromme Frau etc.) beim Gottesdienst in lat. Kunstwörtern. In der Slovak. Var. fragt der Priester die Angebetete singend, wo sie denn gestern abend gewesen sei. Sie antwortet, sie habe vor dem Hund Angst gehabt und sei deshalb nicht gekommen. Der P. versichert ihr, daß er den Hund doch in eine Truhe gesperrt habe, worauf sie bedauert, nicht gekommen zu sein25. Ein wenig verschieden davon ist eine oberösterr. Var., in welcher der P. und seine Köchin die gemeinsam verbrachte Nacht im Gesang preisen und der Ersatzküster mit seiner Antwort zu verstehen gibt, daß er alle Einzelheiten des sexuellen Verkehrs mitgehört hat. Der Schwank war in diesem Gebiet zwar sehr verbreitet, aber seines obszönen Charakters wegen zunächst nicht veröffentlicht worden 26 . Schließlich hat Krzyzanowski eine weitere Gruppe von Schwänken unter dem Subtyp 1831 Ε eingeordnet, der Geschehnisse während der Kollekte umfaßt. Während des Gottesdienstes empfiehlt der P. dem K., der mit der Tasse Geld einsammelt, einer Frau den Beutel mit dem Geld abzuschneiden und sie auf ein Gläschen einzuladen. In einer anderen Fassung will eine fromme Frau von selbst ihr Geld in der Kirche anlegen, der P. und der Kantor geben ein Wunder vor und verständigen sich dann in Pseudo-Latein: ,0, domine rectoratum, was ist mit dem peniazatum [Geld]?' - ,Mestekatum [der Beutel] odreza-

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tum [ist abgeschnitten], habemus na pimprlatum [für ein Stamperl].'27 Andere humoristische Episoden über unzulässige Tätigkeiten während der Messe sind unter AaTh 1831 A*: Inappropriate Actions in Church: various zusammengefaßt. Zu den dort genannten 48 finn. Var.n könnten noch jene gestellt werden, in denen sich ein Priester während des Singens der Messe oder des Ostergottesdienstes im Zusammenhang mit der Auferstehung des Herrn irrt 28 , sowie solche, in deren Mittelpunkt ein junger Mann steht, den man um Spiritus dorthin schickt, wo die meisten Leute hingehen. Als es vom Altar tönt: ,Et cum spiritu sancto', ruft der Bursche: ,Mir auch zwei Liter Spiritus.' 29 Manchmal fahren der P. und der K. während der Messe in ihrem Dame- 30 oder Dominospiel fort 31 . AaTh 1831 sowie den Subtypen könnte vergleichsweise eine weitere Gruppe von unterschiedlich verbreiteten Schwänken zugeordnet werden. Sie erinnern zwar an Episoden während des Messegesangs, finden aber nicht in der Kirche vor dem Altar statt, sondern ζ. B. beim Taufbecken oder im Beichtstuhl32, bes. aber auf der Kanzel oder in der Sakristei33. Andere Handlungsorte befinden sich außerhalb der Kirche, ζ. B. bei Prozessionen oder Begräbnissen34. Auch fehlt als entscheidendes Kriterium der Wechselgesang, das Ganze spielt sich in Dialogform ab. Schwänke über P. und K. gibt es also bei verschiedenen Völkern und zu verschiedenen Zeiten in außergewöhnlicher Fülle. Trotz heterogener inhaltlicher Ausprägungen haben die Schwänke eine gemeinsame Grundlage: Es geht um die Darstellung der Kluft zwischen dem gewöhnlichen Ablauf ritueller Handlungen und seinem Überbau, manchmal sogar um groteske Deformation. Trotz ihrer negativen Züge und sittlichen Mängel gehört den Handlungsträgern P. und K. die Sympathie der Leser und Zuhörer. 1 Ergänzend zu AaTh: Rausmaa; Kecskemeti/Paunonen; Aräjs/Medne; Raudsep, num. 339, 340; van der Kooi; de Meyer, Conte; Pujol; Gonzalez Sanz; Cirese/Serafini; Stroescu, num. 5436; Krzyzanowski; Gasparikovä, num. 506; BFP; SUS; Soboleva; Robe; Schwarzbaum 30, 445. - 2 Liungman, Volksmärchen, 339. - 3 z.B. Zelenin, D. K.: Velikorusskie skazki Vjatskoi Gubernii. Petrograd 1915, num. 59; Propp, V. Ja. (ed.): Severnorusskie skazki ν zapis-

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Pfarrer im Sack

jach Α. I. Nikiforova. M./Len. 1961, num. 67. 4 Krzyzanowski. - 5 Stroescu, num. 5436 (elf Var.n); Cirese/Serafini; Aräjs/Medne; Zender, M.: Volksmärchen und Schwänke aus der Westeifel. B. 1935, num. 79; Asmus, P./Knoop, O.: Kolberger Volkshumor. Köslin 1927, num. 78; Simonsuuri, L./Rausmaa, P.-L.: Finn. Volkserzählungen. B. 1968, num. 143; Wossidlo, R.: Volksschwänke aus Mecklenburg, ed. S. Neumann. B. 1963, num. 285; Espinosa, Α. M.: Cuentos populäres de Castilla y Leon 2. Madrid 1988, num. 416, 417; Berträn i Bros, P.: El rondallari catalä. ed. J. M. Pujol. Barcelona 1989, num. 140; ZfVk. 2 (1890) 421 (alban.); Mousaios-Mpougioukos, K.: Paramythia tou Libisiou kai tes Makres. Athen 1976, num. 41. - 6 Raudsep, num. 339, 340; Kubitschek, R.: Böhmerwäldler Bauernschwänke. Wien/Prag/Lpz. 1920, 45 sq.; Wisser, W.: Plattdt. Volksmärchen 1. MdW 1927, 67 sq.; Espinosa, Α. M., hijo: Cuentos populäres de Castilla. Buenos Aires 1946, num. 18; Llano Roza de Ampudia, A. de: Cuentos asturianos recogidos de la tradicion oral. Madrid 1925, num. 154; Wheeler, Η. Τ.: Tales from Jalisco, Mexico. Phil. 1943, num. 12; Moser-Rath, Schwank, 289; Soboleva; cf. weiter die wenig verschiedenen dän. Var.n, ζ. Β. Skattegraveren 10 (1888) 238, num. 561; Kamp, J.: Danske Folkeminder. Odense 1877, num. 897. — 7 Haiding, K.: Märchen und Schwänke aus dem Burgenlande. Graz 1977, num. 7; Satke, Α.; Hlucinsky pohädkär Josef Smolka. Ostrava 1958, 140, num. 15; Bll. für Pommersche Vk. 7 (1899) 41 sq., num. 2; cf. auch Rossi, Μ. L.: L'aneddoto di tradizione orale nel comune di Subbiano. Firenze 1987, num. 20. - H o i sten, C.: Contes populaires du Dauphine 2. Grenoble 1971, num. 236; Lagercrantz, Ε.: Lapp. Volksdichtung 3. Hels. 1959, num. 60; Rossi (wie not. 7) num. 116. - 'Karadzic, V. S.: Srbske lidove pohädky. Praha 1959, num. 216. - 10 Wossidlo (wie not. 5) num. 284. " K o o i , J. van der/Schuster, T.: Märchen und Schwänke aus Ostfriesland. Leer 1993, num. 175. 12 cf. Gonzalez Sanz (Parodien des gregorian. Gesangs); de Meyer, Conte; Robe; Berträn i Bros (wie not. 5) num. 99; Amades, J.: Folklore de Catalunya. Barcelona 1950, num. 1334; Couriere, F.: Recits et traditions de la Montagne Noire. Carcassonne 1988, 4 3 - 5 2 , 53 sq.; Zender, M.: Volksmärchen und Schwänke aus Eifel und Ardennen. Bonn 1984, num. 90; Neumann, S.: Plattdt. Schwänke. Rostock 1968, 123 sq.; Vrcevic, V.: Srpske narodne pripovijetke ponajvise kratke i saljive. Belgrad 1968, 121, num. 260; Milosevic-Djordjevic, N. (ed.): Srpske narodne pripovetke i predanja iz leskovacke oblasti. Belgrad 1988, num. 291; Parpulova, L./Dobreva, D.: Narodni prikazki. Sofia 1982, 441 sq. (Episode innerhalb eines Zyklus). - 13 Ergänzend zu AaTh: Rausmaa; Cirese/Serafini. - 14 Ergänzend zu AaTh: Rausmaa; Raudsep; Cirese/Serafini; SUS. - l 5 SUS; Moldavskij, D. M.: Russkaja satiriceskaja skazka. M./Len. 1955, 77 sq.; Knejcer, V. N.: S togo sveta. Antireligioznye skazki narodov SSSR. Char'kov

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1959, 149; Ramanau, E. R.: Belaruskija narodnyja kazki. Minsk 1962, num. 12. - 16 SUS 1831 B*. 17 SUS 1831 A**. - 18 SUS 1831 A*. - 1 9 Zender (wie not. 12) num. 112; Dietz, J.: Lachende Heimat. Schwänke und Schnurren aus dem Bonner Land. Bonn 1951, num. 116; M N K 1831 A*; Blade, J.-F.: Contes populaires de la Gascogne 3. P. 1886, 337 sq., num. 11. - 20 Kubin, J. S.: Kladske povidky. Praha 1958, num. 122; cf. auch Jech, J.: Tschech. Volksmärchen. B. 2 1984, num. 79. 21 Kubin, J. S.: Lidove povidky ζ Podkrkonosi 2. Prag 1971, num. 115. - 22 Gasparikovä, V.: Ostrovtipne pribehy i velike cigänstva a zarty. Bratislava 1980, 187 (aufgezeichnet ca 1890). - 23 Krzyzanowski 1831 C; cf. auch Skarb w garneu. ed. V. Gasparikovä/J. Jech/P. Nedo/D. Simonides. Opole 2 1988, num. 235-237. - 2 4 ibid., 10. - 2 5 Polivka 5, 110 sq. — 26 Haiding, K.: Märchen und Schwänke aus Oberösterreich. B. 1969, num. 29; weitere Versionen mit sexueller Thematik bei Joisten (wie not. 8) num. 233 (1), 233 (2); Henßen, G.: Volk erzählt. Münster 1935, num. 273; EM-Archiv: Bienenkorb 1 (1768) 19, num. 29. - 2 7 Gasparikovä (wie not. 22) 187 (Fassung von 1959); Polivka 5, 59. - 28 Gasparikovä (wie not. 22) num. 288 (Fassung von 1942). - 29 ibid., num. 291 (Fassung von 1965). - 3 0 Cepenkov, Μ. K.: Makedonski narodni prikazni 4. ed. K. Penusliski. Skopje 1989, 200 sq., num. 469. 31 Baker, R. L.: Jokelore. Humorous Folktales from Indiana. Bloom./Indianapolis 1986, num. 265. 32 Birlea, Ο.: Antologie de prozä popularä epicä 3. Buk. 1966, 96 sq.; Perbosc, Α.: Contes licencieux de Γ Aquitaine 1. (P. 1907) Nachdr. Carcassonne 1984, num. 6, 7; Narodna umjetnost 9 (1972) 120 sq., num. 54 (kroat.); Berze Nagy, J.: Regi magyar nepmesek. Pees 1960, 113-115 (Teil von AaTh 1730); Baker (wie not. 31) num. 130 (eher vergleichbar AaTh 18 32). - 33 cf. ζ. B. Gasparikovä (wie not. 22) num. 293; D B F A 2, 6 (Affinität zu AaTh 1832); Blade (wie not. 19) 331 sq., num. 8; Dorson, R. M.: Negro Folktales in Michigan. Cambr., Mass. 1956, num. 129; Benzel, U.: Volkserzählungen aus dem oberpfälz.-böhm. Grenzgebiet. Münster 1965, num. 166; Perbosc, Α.: L'Anneau magique. ed. J. Bru. Carcassonne 1987, num. 84. - 3 4 Rossi (wie not. 7) num. 116.

Bratislava

Viera Gasparikovä

Pfarrer im Sack (AaTh 1737), Schwank, in dem die Dummheit und Leichtgläubigkeit von dörflichen Würdenträgern zur Groteske gesteigert wird. AaTh 1737 begegnet in folgender Grundform: Ein Mann (Meisterdieb) erhält den Auftrag, den P. in einem S. herbeizuschaffen. Verkleidet als Engel (Gabriel, -» Michael, Todesengel) oder als Heiliger (-» Petrus), verkündet er nachts bei der Kirche (Pfar-

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Pfarrer im Sack

rei, Friedhof, Kanzel), er sei gekommen, um den Geistlichen lebendigen Leibes in den Himmel zu führen. So kann er den Leichtgläubigen in einen S. (Kiste, Truhe) locken, den er in einen Gänsestall schleppt (Glockenturm, Schornstein, am Tor aufhängt). Am nächsten Tag wird der P. von seiner Hausmagd (Glöckner) beim Gänsefüttern (Glockenläuten) gefunden und aus dem S. befreit.

AaTh 1737 wird selten als eigenständige Erzählung 1 tradiert. Schon der arab. Historiker Mas'üdT (gest. 956 n. u. Z.) überliefert den Schwank als Abschluß von AaTh 1525 A: cf. Meisterdieb und erzählt von einer Wette und dem anschließenden Diebstahl eines Bagdader Arztes mit einem Trick, der AaTh 1737 nahesteht 2 . In den frühesten schriftl. Zeugnissen aus der europ. Renaissanceliteratur — bei Marabottino Manetti 3 sowie bei -» Straparola (1,2) - ist der vom Dieb Düpierte erstmals ein Geistlicher. In K H M 192: Der Meisterdieb und vergleichbaren Schwänken agieren P. und ->• Küster, die in Schwänken des 19. Jh.s ein beliebtes Figurenpaar sind 4 . Diese Personenkonstellation wird in der rezenten Überlieferung gelegentlich noch um Schulmeister 5 und/oder Notar ergänzt 6 . Als dritte Episode einer Diebstahlskette wurde AaTh 1737 in Nord-, Ostund Mitteleuropa aufgezeichnet 7 . Der Meisterdieb zeigt seine List und Geschicklichkeit, indem er P. und Küster in seinen S. lockt 8 . Die Würdenträger verhalten sich wie andere Dumme, Einfaltige und Leichtgläubige, die sich in schwankhaften Erzählungen in einen S. einsperren lassen und nicht aus eigener Kraft oder List daraus befreien können (ζ. B. AaTh 1535: -* Unibos). Im Zusammenhang mit dem S.motiv ist auch auf die seit dem MA. gängige Zweikampfpraxis hingewiesen worden, bei der der Besiegte vom Sieger in einen S. gestoßen oder gesteckt wurde (cf. die Redewendung ,einen in den S. stecken') 9 . Seine geistige Überlegenheit führt der Meisterdieb auf verschiedene Weise vor, indem er die Predigt parodiert, den naiven Glauben an die Endzeit (cf. Eschatologie) skrupellos zum eigenen Vorteil ausnutzt und ein Täuschungsmanöver mit sich bewegenden Lichtern als wandelnden Seelen (AaTh 1740: -> Lichterkrebse) inszeniert. Es fallt dem .asketischen' P. schwer, sich von seinen irdischen Besitztümern und von seiner Köchin zu verabschieden 10 . Manchmal hat der P. durch seine Predigten ge-

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gen die Diebe den Zorn des Meisterdiebs auf sich geladen". Schwanktypisch erscheint die von M. Lüthi betonte „Paradoxie des Geschehens" 12 , d. h. die Inszenierung schelmischer Handlungen an einem sakralen Ort: Wenn der Dieb sich als Himmelsbote ausgibt, der beauftragt sei, etwas abzuholen etc., dann wird dieses listige Verhalten nicht als Blasphemie gewertet, obwohl kirchliche Würdenträger oder Institutionen lächerlich gemacht werden. In AaTh 1737 geschieht dies mit Vorliebe anhand von Alltagsattributen: Der Meisterdieb wird zu einem Engel, wenn er sich ein weißes Gewand oder Laken umlegt 13 , sich Federn und zwei Flügel anklebt 14 oder ein Gewand aus Fischhäuten anzieht 15 . Tote Seelen sind im Grunde nur krabbelnde Tiere mit brennenden Kerzen auf dem Rücken (AaTh 1740). Den Himmel erreicht man, indem man auf Treppen steigt (in die Höhe) und den S. durch Regenpfützen zieht (Wolken) 16 . Wenn der P. beim Verschlepptwerden statt der verheißenen Seligkeit nur Stöße gewinnt, wird lakonisch auf den bibl. engen und rauhen Weg gen Himmel angespielt 17 . Eine Klimax der Entmythisierung wird erreicht, wenn der Gänse-, Hühner- oder Schweinestall als Paradies und das Schnattern der Gänse als Engelsgesang vorgestellt werden 18 . In einer Reihe von Var.n wird AaTh 1737 öfters an AaTh 950: -«• Rhampsinit angehängt: Ein übermütiger König, der seinen Nachbarn wegen dessen Mißgeschick mit dem Dieb in der kgl. Schatzkammer zunächst ausgelacht hat, wird von demselben Dieb, der jetzt im Auftrag des gekränkten Königs handelt, mit dem Versprechen der himmlischen Seligkeit in einen S. gelockt und öffentlich bloßgestellt 19 . In dieser Kombination sowie auch im katalan. Ökotyp AaTh 940: Das hochmütige ->· Mädchen + AaTh 1737 dominieren Gefühle der Rache 20 . ' Vernaleken, T.: Österr. Kinder- und Hausmärchen. Wien 1864, num. 57; Sebillot, P.: Lesjoyeuses Histoires de Bretagne. P. 1910, num. 73; Nieri, J.: Cento racconti popolari lucchesi. Livorno 1906, num. 65; Groome, F. H.: Gypsy Folk Tales. L. 1899, num. 12. - 2 Wesselski, Theorie, 17 sq. - 3 ibid., 18. 4 KHM/Uther 4, 352-355; Simrock, K.: Dt. Märchen. Stg. 1864, num. 54; Grundtvig, S.: Gamle danske Minder i Folkemunde 3. Kop. 1861, 68; Findeisen, H.: Sagen, Märchen und Schwanke von

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Pfarrer mit der feinen Stimme

der Insel Hiddensee. Stettin 1925, num. 31. - 5 Vernaleken, T.: Mythen und Bräuche des Volkes in Österreich. Wien 1859, num. 9; Györgypal-Eckert, I.: Die dt. Volkserzählung in Hajos. B. 1940, 9 1 - 9 3 ; Guterman, N.: Russian Fairy Tales. Ν. Υ. 1945, 590-593. - 6 Zenker-Starzacher, Ε.: Es war einmal. Wien 1956, 359-368. - 'Ergänzend zu AaTh: Aräjs/Medne; Kecskemeti/Paunonen; Raudsep; Nyman; Ο Siiilleabhäin/Christiansen; de Meyer, Conte; Cirese/Serafini; SUS; BFP; Soboleva; M N K ; Stroescu, num. 5307, 5727; Eberhard/Boratav, num. 342, 360, 346; Jason; Baughman; Pinies, J.-P.: Litterature orale du Languedoc. In: FL 38 (1985) 41 - 4 3 ; Cosquin, num. 70; Schwarzbaum, 298; Fokos-Fuchs, D. R.: Volksdichtung der Komi (Syrjänen). Bud. 1952, num. 49. - 8 cf. BP 3, 379-406; KHM/Uther 4, 352-355. - 9 Röhrich, Redensarten 4, 1269 sq. - 10 Cornelissen, P. J./Vervliet, J. B.: Vlaamsche Volksvertelsels en Wondersprookjes. Lier 1900, num. 48; Mont, P. de/Cock, Α. de: Vlaamsche Volksvertelsels. Zutphen 1927, num. 13; Range, J. D.: Litau. Volksmärchen. M D W 1981, num. 62; BoskovicStulli, M.: Kroat. Volksmärchen. MdW 1975, num. 51; Jech, J.: Tschech. Volksmärchen. B. 1961, num. 48. 11 Wisser, W.: Wat Grotmoder verteilt 2. Jena 1905, 81; Boskovic-Stulli (wie not. 10). - 1 2 Lüthi, M.: Von der Freiheit der Erzähler. In: Neue Zürcher Ztg 256 (6.6.1971) 51 sq.; cf. KHM/Uther 4, 352-355. - 13 Bll. für Pommersche Vk. 10 (1902) num. 15; Stroebe, K.: Nord. Volksmärchen 2. MdW 1915, num. 15 (norw.); Dowojna-Sylwestrowicz, M.: Podania zmujdzkie 2. W. 1894, 11 sq. - 14 Cornelissen/ Vervliet (wie not. 10); Kretschmer, P.: Neugriech. Märchen. MdW 1917, num. 16; Stroebe (wie not. 13). - 15 Campbell, J. F.: Popular Tales of the West Highlands 2. L. 21890, num. 40. - 16 Fokos-Fuchs (wie not. 7); Györgypal-Eckert (wie not. 5); Viidalepp, R.: Estn. Volksmärchen. Β. 1980, num. 128. 17 Cornelissen/Vervliet (wie not. 10); de Mont/de Cock (wie not. 10); Stroebe (wie not. 13). - 1 8 Cornelissen/Vervliet (wie not. 10); Cappeller, C.: Litau. Märchen und Geschichten. Β. 1924, num. 43; Györgypal-Eckert (wie not. 5); Boskovic-Stulli (wie not. 10); Zenker-Starzacher (wie not. 6); Stroebe (wie not. 13). - 19 Haralampiefif, K. [recte: Frolec, V.]: Bulg. Volksmärchen. MdW 1971, num. 60; Kretschmer (wie not. 14); Noy, D.: Contes populaires racontes par des Juifs de Tunisie. Jerusalem 1968, num. 5; Dawkins, R. M.: Modern Greek Folktales. Ox. 1953, num. 56; Chalilov, Ch.: Skazki narodov Dagestana. M. 1965, num. 77; Makeev, L.: Kazachskie i ujgurskie skazki. Alma-Ata 1952, 125-133. - 2 0 Bertran i Bros, P.: El rondallari catalä. ed. J. Μ. Pujol. Barcelona 1989, num. 27.

Mariakerke

Harlinda Lox

Pfarrer mit der feinen Stimme (AaTh 1834), Predigtschwank, in dem die Eitelkeit des Predigers entlarvt wird:

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Ein Prediger wundert (freut) sich, daß während seiner Predigt eine alte Frau (Mann) beständig weint, und führt dies auf die Intensität seiner Predigt zurück. Als er sich später nach dem Grund erkundigt, erfahrt er, daß sein Gesang (Aussehen, Bart) die Frau an ihren kürzlich vom Wolf gefressenen (verendeten, gestohlenen) Esel (Ziege, Kalb) erinnert habe.

Der meist recht knapp erzählte Schwank steht zuerst in den Sermones vulgares des Jacques de Vitry 1 . Von hier ist er zunächst in zahlreiche ma. Sammlungen übernommen worden 2 , etwa das -» Alphabetum narrationum (num. 120), Ulrich -» Boners Edelstein (num. 82), die Scala coeli des -» Johannes Gobi Junior (num. 165), das katalan. Recull d'exemplis (Neugaard X 426) oder Gottschalk Hollens Sermonum opus (1,7 E; 2,4 H). Durch die Facetiae Poggios (num. 230) aus dem didaktischen in einen mehr humoristischen Kontext eingeführt, ist AaTh 1834 in der Folgezeit u. a. in Johannes -> Paulis Schimpf und Ernst3, bei Hans -» Sachs 4 oder in Georg Wickrams Rollwagenbüchlein5 vertreten und danach in volkssprachlichen europ. Schwankbüchern des 16.-18. Jh.s reich belegt (u.a. engl. 6 , ndl. 7 , dt. 8 ). In der mündl. Überlieferung des 18.-20. Jh.s findet sich der Schwank in ganz Europa, in der jüd. Uberlieferung 9 sowie in Mittelamerika 10 . Drei Indizien sprechen dafür, daß AaTh 1834 möglicherweise auf arab. Quellen zurückgeht: Erstens hat Jacques de Vitry, der 1216—27 Bischof von Akka (Palästina) war, nachweislich Material aus der Überlieferung seiner arab. Umgebung übernommen 11 ; zweitens findet sich der Schwank im 17. Jh. in dem populären Nuzhat al-udabä'n-, und drittens ist er bereits im 14. Jh. in der Schwanksammlung des pers. Satirikers Obeid-e Zäkäni (gest. 772/1371) vertreten, der ausgiebig aus arab. Material schöpft 13 . Die von H. -» Schwarzbaum postulierte Herkunft aus dem Bereich der Äsopika 14 — möglicherweise assoziiert aufgrund einer bei C. -> Casalicchio vertretenen Zwischenform von AaTh 1834 mit einem ,Musicus' als Protagonisten 15 - basiert hingegen nur auf einer vagen Analogie. Wahrscheinlich direkt aus der Schwanksammlung des Obeid-e Zäkäni ist der Schwank in eine populäre pers.sprachige Chrestomathie der ind. Kolonialzeit übernommen, über die sich die

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Pfarrer mit der feinen Stimme

pers. Ausprägung von AaTh 1834 weiter verbreiten konnte 16 . Die westl. und die oriental. Redaktion von AaTh 1834 unterscheiden sich hinsichtlich des Geschlechts der trauernden Person, des die Erinnerung auslösenden Moments sowie des verlorenen Tieres. Während sich in der auf Jacques de Vitry basierenden Überlieferung eine Frau durch die schlechte Stimme des Predigers an ihren vom Wolf zerrissenen Esel erinnert fühlt, muß in den oriental. Texten ein Mann wegen des Bartes des Predigers an seine verstorbene Ziege denken. Allerdings gibt es in den Texten aus mündl. Überlieferung des 19./ 20. Jh.s Mischformen, so etwa die Erinnerung an die vom Wolf gerissene Ziege 17 oder die alte Frau, die an ihre verendete Ziege denkt 18 . Nur selten wird als verlorenes Tier ein Kalb erwähnt 19 . Abgesehen von diesen grundsätzlichen Konkretisierungen ist AaTh 1834 offenbar so universal verständlich, daß selbst -> Lokalisierungen oder andere Ausschmückungen mit Lokalkolorit von den Erzählern nur selten realisiert wurden: Einzig bei Hans Sachs (und hiernach Wickram)20 sowie in einer schwäb. Var.21 ist die Erzählung lokalisiert; als Prediger werden gelegentlich ein Kapuziner (Oberwallis)22 oder ein griech. Bischof (mazedon.) 23 angeführt. In einer zuerst in F. Nicolais Vademecum (1792) erschienenen Sonderform von AaTh 1834 weint die Frau nicht wegen der Erinnerung an ein verlorenes Haustier, sondern deshalb, weil ihr Sohn auch Priester werden will und sie befürchtet, daß er dereinst ebenso schlecht predigen werde24; diese Fassung ist auch aus mündl. Überlieferung der Westeifel und Mecklenburgs belegt25. In den Exempelsammlungen dient der Schwank gelegentlich zur Illustration der dargelegten Grundsätze: Johannes Gobi (Scala coeli, num. 165) führt ihn an, um zu demonstrieren, daß ein schlechter Gesang eine irreführende Wirkung auf die Zuhörer habe; Johannes Pauli benutzt ihn, um die Eitelkeit von Predigern anzuprangern26. Populärer ist die Erzählung aber in den rein auf die satirische Pointe konzentrierten Fassungen geworden, in denen durch Schilderung der bäuerlichen Nöte eine (milde) Kri-

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tik an den oft wohl auch als realitätsfern empfundenen moralischen Ermahnungen der Prediger zum Tragen kommt. 1

Jacques de Vitry/Crane, num. 56; Tubach, num. 3495. - 2 Zahlreiche Belege bei Pauli/Bolte, num. 576; Wickram/Bolte, num. 63; Wesselski, Α.: Mönchslatein. Lpz. 1909, num. 2; Hodscha Nas3 reddin, num. 539; György, num. 249. Pauli/ Bolte, num. 576. - 4 Sämtliche Fabeln und Schwänke von Hans Sachs 3. ed. E. Goetze/C. Drescher. Halle 1900, num. 13. - 5 Wickram/Bolte, num. 63. — 6 Shakespeare Jest-books 1. ed. W. C. Hazlitt. L. 1881, hier Mery Tales and Quicke Answers, num. 31; Stiefel, A. L.: Die Qu.n der engl. Schwankbücher des 16. Jh.s. In: Anglia 31 (1908) 453-520, num. 31. - 7 Overbeke, A. van: Anecdota sive historiae jocosae. ed. R. Dekker/H. Roodenburg (unter Mitwirkung von H. J. van Rees). Amst. 1991, num. 850. - 8 Moser-Rath, Schwank, 285, 287 sq., 291. - ' I F A , num. 1834, 2312, 4030, 6872, 9754, 13287, 13732, 13735, 13789; Richman, J.: Jewish Wit and Wisdom. Ν. Υ. 1952, 5; Landmann, S.: Der jüd. Witz. Fbg 3 1960, 189. - "'Ergänzend zu AaTh: SUS; Rausmaa; Hodne; van der Kooi; Archiv van der Kooi, Groningen; de Meyer, Conte; Cirese/Serafini; M N K ; BFP; Stroescu, num. 3865; Jason; Jason, Types; Flowers; Robe; Texte (Ausw.): Anthropophyteia 2 (1905) num. 438 (bulg.); Wossidlo, R.: Volksschwänke aus Mecklenburg. ed. S. Neumann. B. 1963, num. 250; Joisten, C.: Contes populaires du Dauphine 2. Grenoble 1971, num. 246. " M a r z o l p h , Arabia ridens 1, 183-196. - 12 Basset 1, 308 sq., num. 43. - 13 Marzolph, Arabia ridens 1, 112 sq.; EM 7, 252. - 14 Schwarzbaum, 454. 15 EM-Archiv: Casalicchio, Utile cum dulci 1 (1702) Kap. 34. - 16 Marzolph, U.: „Pleasant Stories in an Easy Style". Gladwin's Persian Grammar as an Intermediary between Classical and Popular Literature. In: Proc. of the Second European Conference of Iranian Studies, ed. B. G. Fragner u. a. Rom 1995, 445-475, num. 33; cf. Swynnerton, C.: Romantic Tales from the Punjab. L. 1908, 157, num. 15; Dechoti, Α.: Tadzikskij narodnyj jumor. Stalinabad 1958, 14. - 1 7 Kvideland, R./Eiriksson, H. Ö.: Norw. und isl. Volksmärchen. Β. 1988, num. 64 18 (norw.). Sound Archive, School of Scottish Studies, Edinburgh (SA 1960/106/B 4). - 1 9 Merkens, H.: Was sich das Volk erzählt 2. Jena 1895, num. 219 (Südschleswig); Kooi, J. van der/Schuster, T.: Der Großherzog und die Marktfrau. Leer 1994, num. 220 (oldenburg.). - 20 Sachs (wie not. 4); Wickram/Bolte, num. 63. 21

Merkens (wie not. 19) num. 132. - 22 Jegerlehner, J.: Sagen und Märchen aus dem Oberwallis. Basel 1913, num. 161. - 2 3 Cepenkov, Μ. K.: Makedonski narodni prikazni. ed. K. Penusliski. Skopje 1989, num. 473. — 2 4 cf. Neumann, N.: Vom Schwank zum Witz. Zum Wandel der Pointe seit dem 16. Jh. Ffm./

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Pfarrer als Teufel

Ν. Y. 1986, 2 2 - 3 9 . - 2 5 Zender, M.: Volksmärchen und Schwänke aus Eifel und Ardennen. Bonn 1984, num. 94; Wossidlo (wie not. 10) num. 220. 26 Pauli/Bolte, num. 576. -

Göttingen

Ulrich Marzolph

Pfarrer als Teufel (AaTh 750 G*, 831), Legendenmärchen mit Übergängen zur Sage. Thematisiert wird unchristl. Verhalten der Reichen gegenüber den Armen (-> Arm und reich). Die verbreitetste Ausprägung bietet AaTh 831: The Dishonest Priest1: Ein Armer (Arme), der in Not geraten ist (allg. Hungersnot; kann Beerdigung, Totenmesse, Pacht nicht bezahlen), findet (-• Weisung durch - Pfarrer, -» Pope; seltener Gutsherr, reicher Nachbar) beim Bezahlen davon. Dieser bringt den gesamten Schatz an sich, indem er sich mit Hilfe einer Tierhaut (oft mit Hörnern) als Teufel verkleidet und den Armen erschreckt. Doch nach dem Diebstahl läßt sich die Tierhaut nicht (erst nach Rückgabe des unrechtmäßig erworbenen Schatzes) ablegen.

Mit anderen Protagonisten und einem abweichenden 2. Teil ist dieser Stoff auch unter AaTh 750 G*: The Butcher as Devil erfaßt: Der als Teufel verkleidete Reiche (Müller, Fleischer, Bäcker etc.) bekommt den Schatz nicht, da sich der Teufel selbst in Gestalt eines Wanderers (schwarzer Reiter, Soldat, Jägerbursche) als Schlafgast bei dem Armen einquartiert hat (sich unterwegs zu ihm gesellt) und den Reichen tötet (entführt).

Beide Erzähltypen sollten nach J. ->• Jech 2 als Redaktionen eines einzigen Erzähltyps zusammengefaßt werden. Konstitutiv ist das Motiv vom Geldgierigen (-> Geiz, Geizhals), der den Schatz des Armen durch die List der Verkleidung als Teufel rauben will. Zu unterscheiden sind die Redaktionen hinsichtlich der Gegenspieler und deren Bestrafung (-• Strafe) sowie des Verbreitungsgebiets der Erzählung. AaTh 831 ist vorwiegend in ost- und südosteurop. Var.n belegt 3 , während AaTh 750 G* in Mitteleuropa dominiert 4 . Beide Redaktionen sind bei Finnen, Litauern und Polen verbreitet 5 . In AaTh 831 erscheint als Gegenspieler des Armen überwiegend ein Geistlicher, der den Schatz an sich bringt und durch das Anwachsen der zur Verkleidung benutzten Tierhaut bestraft wird. In AaTh 750 G* hingegen

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handelt es sich um Vertreter profaner Berufe, die den Schatz erst gar nicht erlangen, da der Teufel sie vorher tötet oder entführt. Die Erzählung ist selten kontaminiert 6 . Für andere Erzähltypen oder Sagen charakteristische Motive erscheinen vor allem in der Schilderung, wie der Arme zum Schatz kommt 7 ; in einigen Var.n findet sich das Motiv des Geldmessens mit dem -> Scheffelmaß 8 . In einzelnen Var.n erfährt der Stoff eine realistischschwankhafte Gestaltung: Der verkleidete Gemeindevorsteher (Pfarrer) wird als Mensch erkannt (festgenommen, getötet, bloßgestellt; cf. AaTh 1740 B: Thieves as Ghosts)9. Zu erwähnen ist auch die verwandte Erzählung vom reichen Bauern (Popenfrau), der die Hühner einer armen Witwe stiehlt und dem daraufhin im Gesicht und am Körper Hühnerfedern wachsen 10 . Vor allem nach der Ansicht ukr. Forscher ist AaTh 831 im 18. Jh. in der Ukraine entstanden und durch wandernde Gaukler und Sänger verbreitet worden; von ihnen stammen die ältesten Aufzeichnungen (ca Mitte 19. Jh.) in Balladenform". Es ist jedoch aus Memoiren, Briefen und Zeitungen belegt, daß schon im 1. Drittel des 19. Jh.s Geschichten von Popen im Ziegenfell oder von gehörnten Popen in Rußland, außerhalb der Ukraine, als tatsächliche Begebenheiten tradiert wurden: Menschen verschiedener sozialer Schichten hätten sich, u. a. in St. Petersburg, vor Kirchen versammelt, um einen Popen zu sehen, der wegen eines Verbrechens mit dem Wachsen einer Tierhaut bzw. Hörnern bestraft worden sei12. Durch die Erzählung wird allg. die Verletzung ethischer -» Normen verurteilt ( Ethik), doch sind oft auch sozialkritische und bes. gegen den Klerus gerichtete Aussagen enthalten. So war AaTh 831 von den Unierten zur Kritik an der Orthodoxie benutzt worden 13 . Im Sinne marxistischer Lit.Wissenschaft und Folkloristik wurde die Erzählung als scharfe Sozialsatire gedeutet, die antireligiös und antikirchlich zugleich die feindliche Einstellung des Volkes gegenüber den Popen widerspiegele 14 . 1 Ergänzend zu AaTh 831: Aräjs/Medne; SUS; Soboleva; M N K ; BFP; Archiv G. A. Megas, Athen; Cirese/Serafini; Ting; cf. auch Ikeda (Frau will Schwiegertochter von häufigen Tempelbesuchen abhalten, angelegte Maske läßt sich erst durch gemeinsames

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Pfeffel, Gottlieb Konrad

Gebet ablösen) . - 2 Jech, J.: Tschech. Volksmärchen. B. 21984, 505. - 3 z. B. Archiv für siebenbürg. Landeskunde (1905/06) 409 sq., num. 9; Penusliski, K./Vrazinovski, T.: Bogovi i popovi (Götter und Popen). Skopje 1987, 219 (mazedon.); Viidalepp, R.: Estn. Volksmärchen. B. 1980, num. 107; Afanas'ev, num. 258; Pomeranzewa, E.: Russ. Märchen. B. 1980, num. 74; Mykytiuk, B.: Ukr. Märchen. MdW 1979, num. 38; Eschker, W.: Mazedon. Volksmärchen. MdW 1972, num. 53; Hallgarten, P.: Rhodos. Die Märchen und Schwanke der Insel. Ffm. 1929, 201 sq.; Cammann, Α.: Dt. Volksmärchen aus Rußland und Rumänien. Göttingen 1967, num. 146 (Bessarabien). - 4 Polivka 4, 126 (A); Watzlik, H.: Böhmerwald-Sagen. Budweis 1921, 46; Depiny, Α.: Oberösterr. Sagenbuch. Linz 1932, num. 363; Schiller, Α.: Schles. Volksmärchen. Breslau 1907, num. 10; Peuckert, W.-E.: Schlesiens dt. Märchen. Breslau 1932, num. 195; Jahn, U.: Volkssagen aus Pommern und Rügen. B. 21889, num. 385; Bll. für Pommersche Vk. 9 (1901) 48 sq.; Schulenburg, W. von: Wend. Volkssagen und Gebräuche aus dem Spreewald. Lpz. 1880, 190; Jech (wie not. 2) num. 54. - 5 Rausmaa, P.-L.: Suomalaiset kansansadut 2. Hels. 1982, num. 71; Kerbelyte, B.: Litau. Volksmärchen. B. 21982, num. 94; Krzyzanowski 831; Vildomec, V.: Poln. Sagen. B. 1979, num. 203. - 6 cf. jedoch Laographia 21 (1963 - 64) 498, 504 (AaTh 831 + AaTh 460 B); Krzyzanowski 831 (mit Motiven aus AaTh 910); Cirese/Serafini 831 (mit AaTh 1730); Archiv für siebenbürg. Landeskunde (wie not. 3) (AaTh 831 + AaTh 1590). - 7 Soboleva (mit Motiven aus AaTh 834, 834 A); Mykytiuk (wie not. 3) (mit Motiven aus AaTh 1643); von Schulenburg (wie not. 4) (Kohle wird zu Geld); Peuckert (wie not. 4) (Feuer wird zu Gold). - 8 Tille, Soupis 1, 165 sq.; Schiller und Jahn (wie not. 4). - 9 Polivka 5, 67 (F); Peuckert (wie not. 4) num. 196; Rausmaa (wie not. 5). - 1 0 BFP 831*; Cepenkov, Μ. K.: Makedonski narodni prikazni 2. ed. K. Penusliski. Skopje 1989, num. 122 sq.; Lintur, P. V.: Ukr. Volksmärchen. B. 21981, num. 106. " B a r a g 831 (mit Lit.); Mykytiuk (wie not. 3) 245 sq.; Vavilova, Μ. Α.: Istorija razvitija sjuzeta skazki ο pope ν kozlinoj skure (Die Entwicklungsgeschichte des Sujets im Märchen vom Popen im Ziegenfell). In: Voprosy zanra i stil'ja. 31 (1967) 182-206; Drahomanov, M. P.: Rozvidky pro ukra'ins'ku narodnju slovesnist' i pys'menstvo (Abhdlgen zu ukr. Volkslit. und -Schrifttum) 2. L'viv 1900, 66-94. - 12 Afanas'ev, 481-485; Azadovskij, Μ. K.: Narodnye skazki ο böge, svjatych i popach. Russkie, belorusskie i ukrainskie (Volksmärchen über Gott, Heilige und Popen. Russ., weißruss. und ukr.). M. 1963, 185-187. - 13 Levcenko, Μ. Z.: Virsa pro Kyryka jak antypravoslavnyj unijatskyj vytvir (Das Gedicht über Kirik als ein gegen die Orthodoxie gerichtetes literar. Produkt der Unierten). In: Etnohraficnyj visnyk (1927) H. 5, 72-93. 14 Azadovskij (wie not. 12) 5 - 1 8 (Einl. L. N. Puskarev); Mordvinec, Α. Α.: Slavjanskaja antireligioznaja skazka (Das slav. antireligiöse Märchen). Kiev 1970,

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76 sq.; Penusliski, K.: Tipovi i varijanti na makedonskite antiklerikalni anegdoti (Typen und Var.n der mazedon. antiklerikalen Schwänke). In: Makedonski folklor 19 (1986) 9 - 1 4 , bes. 11. Sofia

Doroteja Dobreva

Pfeffel, Gottlieb Konrad, » C o l m a r 2 8 . 6 . 1736, t e b e n d a 1. 5. 1809, dt. Schriftsteller u n d P ä d a g o g e , Mittler zwischen dt. u n d frz. Lit. P. e n t s t a m m t e einer u r s p r ü n g l i c h in A u g s b u r g u n d B a d e n ansässigen Patrizierfamilie, die sich im f r ü h e n 18. Jh. in C o l m a r niederließ. Wie sein Vater u n d sein B r u d e r C h r i s t i a n Friedrich, ein angesehener Staatsrechtler, sollte er d u r c h ein juristisches S t u d i u m Z u g a n g z u m dip l o m a t i s c h e n Dienst finden. P. studierte ab 1751 in H a l l e Geschichte u n d öffentliches Recht u n d h ö r t e n o c h die letzten Vorlesungen des P h i l o s o p h e n C. v o n Wolff. D o c h die Ber u f s e r w a r t u n g e n zerschlugen sich. P. w u r d e d u r c h eine A u g e n k r a n k h e i t gezwungen, sein S t u d i u m a b z u b r e c h e n , u n d k e h r t e 1754 n a c h Colmar zurück. Nach mehreren Operationen erblindete er u m 1758 völlig. W ä h r e n d d e r Rückreise v o n Halle lernte P. in Leipzig ->• Geliert k e n n e n , v o n d e m er A n stöße z u r D i c h t u n g v o n Fabeln u n d D r a m e n erhielt u n d dessen a u f g e k l ä r t e r E t h i k er verpflichtet blieb. 1760 w a r er einer d e r M i t b e g r ü n d e r d e r C o l m a r e r Lesegesellschaft 1 u n d übersetzte erfolgreiche dt. u n d frz. Schriften (Ubers, v o n M . G . Lichtwers Vier Bücher Aesopischer Fabeln ins F r a n z ö s i s c h e [Fables nouvelles. S t r a ß b u r g 1763]; Theatralische Belustigungen nach frz. Mustern 1 — 5. F f m . / L p z . 1765-74])2. Eine e n t s c h e i d e n d e W e n d e e r f u h r P.s Leben d a d u r c h , d a ß er 1773 d a s Privileg erhielt, in C o l m a r eine K a d e t t e n a n s t a l t zu g r ü n d e n , die f ü r j u n g e D e u t s c h e , F r a n z o s e n u n d Schweizer Protestant. Konfession bestimmt war3. Über P.s Schule (ab 1782 A c a d e m i e militaire) erhielten S ö h n e aus Adels- u n d Patrizierfamilien Z u g a n g zu einer o f t g l ä n z e n d e n Offizierskarriere. P. selbst unterrichtete Religionslehre in einem a n R o u s s e a u u n d d e r P h i l a n t r o p i e orientierten L e h r p r o g r a m m . Die n e u e n Pflichten v e r ä n d e r t e n d e n Gesichtskreis P.s. Z u d e n nächtlich konzipierten Versen, die er f r ü h m o r gens seinen Schreibern zu diktieren pflegte,

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Pfeffel, Gottlieb Konrad

traten nun Lehrwerke für seine Zöglinge wie ein Abriß des Naturrechts (Principes du droit naturel. Colmar 1781) und eine Anleitung zum ersten Religionsunterricht (Briefe über Religion an Bettina. Basel 1824 [posthum]). Eine Notsituation leitete um 1795 die literar. produktivste Lebensphase P.s ein. Er hatte lebhaft die politischen Veränderungen in Frankreich in der ersten Phase der Revolution begrüßt 4 . Doch unter der jakobinischen Gewaltherrschaft wurde seine Position als Leiter einer von Adligen besuchten Schule, als Bruder eines bekannten Emigranten und als Freund elsäss. Landadliger unhaltbar. Im März 1793 mußte P. seine Schule schließen. Hinzu kam der Verlust des größten Teils seines Vermögens durch die Entwertung der Assignaten. Doch hatte er sich inzwischen als Beiträger der bekanntesten dt. Zss. und Almanache einen Namen gemacht. J. G. Jacobi in Freiburg, Herausgeber der Zs. Neue Iris, J. Cotta in Tübingen, Verleger der Zs. Flora, norddt. Zss.redakteure wie J. H. Voß baten immer wieder um Beiträge. P. bediente die Nachfrage zunächst mit freien Bearb.en von Fabeln, Epigrammen und Anekdoten frz. Erfolgsautoren wie JeanPierre Claris de Florian 5 , dann auch mit Übers.en der in Mode gekommenen contes morales und Briefromane von Jean-Francois Marmontel 6 und Stephanie-Felicite de Genlis. Sie greifen Themen bürgerlichen Lebens wie den Standesunterschied von Liebespaaren oder das Schicksal von Klosterfrauen auf, geben aber auch realistische Einblicke in die Erfahrungen einzelner im Revolutionsverlauf. In den folgenden Jahren erschienen wieder eigene Fabeln, Episteln und Verserzählungen, nun aber auch Romanzen nach dem Muster Moncrifs und Gleims. Das Andenken P.s blieb bis in die Mitte des 19. Jh.s lebendig. Elsäss. Autoren, vor allem A. ->• Stöber, bemühten sich um seinen Nachlaß 7 . Vor allem seine Fabeln wurden neu aufgelegt (Fables et poesies choisies de Theophile Conrad P. ed. P. Lehr. Straßburg 1840; Fabeln und poetische Erzählungen von G. Κ. P. ed. A. Hauff. Stg./Tübingen 1861). Dann war es das Lesebuch, das seinen Namen als Fabeldichter in Erinnerung hielt. Einzelne seiner Gedichte, vor allem Die Tobakspfeife, waren noch nach dem 2. Weltkrieg im Schulgedächtnis der älteren Generation 8 .

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In den ca 50 Jahren seiner literar. Produktivität hat P. einen eigenen Fabeltyp hervorgebracht, der sich von der Fabelliteratur der Epoche abhebt 9 . Der gesellige Kreis in Straßburg, in dem P. seine Ehefrau Margaretha Cleopha Divoux kennenlernte, inspirierte P. um 1760 zu ersten lyrischen Versuchen, Gelegenheitsgedichten und galanten Adressen in anakreontischer Manier. Daneben entstanden auch schon satirische Epigramme, Verssatiren und Übers.en von Satiren Boileaus, von Fabeln und Verserzählungen La Fontaines und Fenelons in Versen. Sie gingen in die Ausg. Poetische Versuche in drey Büchern (Ffm. 1761) ein. Es dominieren die mehr privaten Themen der Frühaufklärung, Entlarvung von Anmaßung und Vorurteilen, Eitelkeit, Dummheit, Aberglauben. P.s Kritik erwächst aus aufgeklärter Ethik und lutherischer Glaubenslehre wie bei seinem Vorbild Geliert. Aufhorchen läßt nur gelegentlich sein Abweichen von der bürgerlichen Arbeitsmoral, etwa, indem er -» Asops Ameise und Grille10, die noch La Fontaine mit dem Nachdruck auf die Notwendigkeit der Vorsorge durch Fleiß und Arbeit behandelt hatte, zugunsten der heiteren Sorglosigkeit der Grille umdichtete. Sie singt das Lob Gottes, der für ihresgleichen sorgt. Ein völlig anderes Gepräge zeigt schon die Ausg. Fabeln, der helvet. Gesellschaft gewidmet (Basel 1783). Die Themen wurden spezieller und eigenwilliger. P. benutzte auf der Bildebene seiner Fabeln ungewöhnliche exotische Tierfiguren wie Rhinozeros oder Giraffe, die er in naturkundlichen Lehrwerken aufspürte, und Fabelwesen wie Greif oder Basilisk. Gewichtiger ist, ab etwa 1775, die Akzentverschiebung der Themen von der bürgerlich-geselligen Lebenssphäre zum öffentlich-politischen Raum und von der spätaufklärerischen Moral tugendhafter Lebensführung zur republikanischen Gesinnung eines ,Patrioten' (-> Patriotismus). P. zeigt sich - im Gegensatz zu der Mehrzahl dt. bürgerlicher Schriftsteller — als entschiedener Gegner auch des aufgeklärten Absolutismus und kritisiert mit ungewohnter Schärfe Gesinnungen und Verhaltensweisen der ,Tyrannei', der Hofkamarilla und aller Subalternen. Dabei übernimmt er auch traditionelle Fabelstoffe, gibt ihnen aber eine neue, aggressivere Pointe. Selbst in solchen traditionsgebundenen Fabeln macht sich P.s spezi-

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eile Technik bemerkbar, Tiere und ihre Handlungen in einen anthropomorphen sozialen Raum zu versetzen und in Begriffen und Wendungen das politische Bezugsfeld oder gar den konkreten politischen Vorgang durchscheinen zu lassen, auf den er zielt. Der Akzent verschiebt sich von der didaktischen zur pragmatisch-politischen Funktion der Fabel. Die späten Fabeln P.s sind Satiren. Die umfangreichste Ausg. mit 1100 Texten, Poetische Versuche (1 — 10. Tübingen 4 180210; t. 11 posthum 1820), an die P. noch letzte Hand anlegen konnte, ist sorgfaltig komponiert. Längere Episteln und Verserzählungen rahmen Fabeln und Epigramme ein. Gedichte aus der anakreontischen Frühzeit wurden nicht mehr aufgenommen. Obgleich fast alle Gedichte schon zuvor in Zss. und Almanachen veröffentlicht worden waren, wurde die Ausg. zu einem großen Erfolg des Verlegers Cotta, der nach P.s Tod die Ausg. Prosaische Versuche (1-10. Tübingen 1810-12) folgen ließ11. E r z ä h l t y p e n u n d - m o t i v e (Ausw.): Fabeln, der helvet. Ges. gewidmet (1783): 72 = AaTh 6: cf. -> Überreden zum Sprechen (Singen etc.). - 193 = Hahn und Perle (Dicke/Grubmüller, num. 249). Neueste Gedichte von G. Κ. P. (Arnheim 1802): 79 = Schnecke und Frösche (Dicke/Grubmüller, num. 518). - Igel und Schlange (Dicke/Grubmüller, num. 321). - Affe und Nuß (Dicke/Grubmüller, num. 22). Poetische Versuche ( 4 1802-10) 1 2 : 1, 57 = -> Eginhard und Emma. - 2, 64 sq. = AaTh 50: Der kranke - Löwen. - 2, 121 = AaTh 201: Der freie -> Wolf (Hund). - 3, 148 = AaTh 101: Der alte Hund. 4, 88 sq. = AaTh 32: cf. -> Rettung aus dem Brunnen. - 7, 28 = Hund im Heu (Dicke/Grubmüller, num. 301). - 7, 78 = AaTh 51: -> Löwenanteil. - 1, 370 = AaTh 280 A: Grille und Ameise. 1

Pfeffel, G. K.: Ansprache an die Lesegesellschaft in Kolmar. In: Einladung ins 18. Jh. Ein Almanach aus dem Verlag C. H. Beck. ed. E.-P. Wieckenberg. Mü. 1988, 250-252. - 2 Ellinger, G.: Über Lichtwers Fabeln. Mit einer vergleichenden Betrachtung der Fabeln Gleims und P.s. In: Zs. für dt. Philologie 17 (1885) 314-340. - 3 Schultz, F.: G . K . P. und die Militärakad. in Colmar. Colmar 1907; Braeuner, G.: Die Militärakad. in Colmar. In: G. Κ. P. - Satiriker und Philantrop. Ausstellungskatalog Karlsruhe 1986, 154-171. - "Fink, G.-L.: P. und die Frz. Revolution. ibid., 173-195; Rölleke, H.: Die dt. Fabeldichtung im Umkreis der Frz. Revolution. In: Hasubek, P. (ed.): Die Fabel. B. 1982, 146-162. 'Schwenke, W.: Florians Beziehungen zur dt. Lit. Weida 1908; Bopp, M.-J.: G. Κ. P. als Prosaschriftsteller. Straßburg 1917. - 6 Schmid, G. O.: Marmontel. Seine moralischen Erzählungen und die dt. Lit.

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Diss. Fribourg 1935. - 7 Zur Rezeptionsgeschichte cf. Guhde, E.: G . K . P. Ein Beitr. zur Kulturgeschichte des Elsaß. Winterthur 1964; id.: P.-Rezeption in Deutschland seit 1945. In: Ausstellungskatalog (wie not. 3) 205-219. - 8 Anderson, W.: P.s Tobackspfeife als russ. Soldatenlied. In: Zs. für slav. Philologie 22 (1953) 5 4 - 5 7 ; Kühlmann, W.: Zwischen Empfindsamkeit und Patriotismus. In: Ausstellungskatalog (wie not. 3) 5 9 - 7 6 . - 'Emmerich, K.: G. Κ. P. als Fabeldichter. In: Weimarer Beitr.e 3,1 (1957) 1 - 4 6 ; Siegrist, C.: Fabel und Lehrgedicht. Gemeinsamkeiten und Differenzen. In: Hasubek (wie not. 4) 106-118, hier 110; Lauterwasser, W.: „Gevatter Fabler am Scheideweg". In: Ausstellungskatalog (wie not. 3) 3 7 - 5 7 . - 1 0 Ott, Κ. Α.: La Fontaine als Vorbild. In: Hasubek (wie not. 4) 76-105, hier 90; Anger, Α.: Herders Fabeltheorien, ibid., 134-145, hier 145 (not. 35). " Z u r Rezeption cf. Dolle, B.: P., G. K. In: LKJ 3 (1984) 32 sq. - 12 cf. auch Tomkowiak, I.: Lesebuchgeschichten. Erzählstoffe in Schullesebüchern 1770-1920. B./N. Y. 1993, 332. - 1 3 Mauser, W.: Von der Hofkritik zur Fürstenschelte. G. K. P.s Fabel „Der kranke Löwe". In: Kühlmann, W. (ed.): Lit. und Kultur im dt. Südwesten zwischen Renaissance und Aufklärung. Amst. 1995, 417-444.

Baden-Baden

Walter E. Schäfer

Pfeil und Bogen (B.) sind seit der Steinzeit als Gebrauchsgegenstände des Menschen belegt1. Der magisch-religiöse Stellenwert des P.s, nach M. -» Eliade bes. durch die ,Beherrschung der Distanz' 2 begründet, ist in unterschiedlich (als Jagdzauber, Todessymbole, Liebespfeile etc.) gedeuteten Höhlen- und Felsmalereien belegt3. Während P. und B. in religiösen Riten, Mythen, Märchen und Sagen überhöht wurden, verloren sie als Jagd- und Kampfgerät allmählich an Bedeutung. Im germ. Bereich begegnen P. und B. als Waffe überragender Helden relativ selten, hingegen stellen sie in der Realität und Lit. weiter Teile Asiens wie auch bei den indigenen Völkern Nord- und Südamerikas die (Helden-)Waffe par excellence dar. Technisch gesehen können P. und B. als Handwaffen mit großer Reichweite nur dort eine Rolle spielen, wo keine anderen vergleichbaren Waffen zur Verfügung stehen: Mit der Erfindung und Verbreitung der Handfeuerwaffen waren sie nicht nur technisch unterlegen, sondern mußten zunehmend auch in der narrativen Überlieferung als hist. Relikt einer früheren Entwicklungsstufe angesehen werden.

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Das ureigene Charakteristikum des P.s, das scheinbar schwerelose Fliegen in horizontaler Richtung, hat den P. im Erzählgut gelegentlich zum magischen -> Fluggerät werden lassen, wobei allerdings das räumliche Universum des Menschen nicht überschritten wird 4 . Im griech. Mythos fliegt Abaris auf dem goldenen P. des Apollo weissagend und Unheil abwehrend durch die Welt 5 ; Batradz, ein Held der osset. Nartensagen, läßt sich an einen P. gebunden in die belagerte Festung schießen 6 . Demgegenüber ermöglicht die Kette aus P e n (Mot. F 53) Reisen in vertikaler Richtung, meist den Aufstieg in den ->• Himmel. Dieses Motiv erscheint häufig in Erzählungen nordamerik. Indianer, kommt aber auch bei südamerik. Stämmen vor 7 . Zuweilen werden zwei parallele P.ketten am Himmel befestigt, die dann als Leiter benutzt werden können 8 . Kulturheroen schießen P.ketten ins Himmelsgewölbe, um die heiße Sonne abzukühlen 9 , um Rache an den Himmelsbewohnern zu nehmen 10 oder um sich nach vollendeter Aufgabe in den Himmel zurückzuziehen 11 . Eine P.kette kann dazu dienen, vor Inzest in den Himmel zu flüchten 12 oder dorthin entführte (geflüchtete) Familienangehörige zu befreien 13 . Das Phänomen der P.kette ist unterschiedlich interpretiert worden: Nach Ansicht von Anhängern der Schule C. G. Jungs wie H. von -» Beit vermitteln P.ketten (wie einzelne P.e auch) dem Helden auf seiner Suchwanderung zur Anima „die Verbindung zu dem bisher nur als flüchtige Ahnung auftauchenden Selbst" 14 ; Eliade sah darin den Versuch, eine Kommunikation zwischen Erde und Himmel zu erreichen, wobei symbolisch ein Zugang zum Sakralen eröffnet werde 15 ; C. -» Levi-Strauss bezeichnete diese Art von Himmelsleiter als „Konjunktor auf der vertikalen Achse" 16 , die jedoch im Gegensatz zu anderen Möglichkeiten, in den Himmel zu gelangen (himmelhoher ->· Baum, - Freischütz). Auch aus dem nichtchristl. Fernen Osten sind Erzählungen bekannt, in denen Frevler für ihre P.schüsse streng bestraft werden, so ein hochmütiger Großgrundbesitzer, der auf geweihten Reiskuchen geschossen hat (jap.) 20 , oder ein Prinz, der die Pupillen eines Mönchsbildes als Zielscheibe benutzt hat 2 1 . P.e (P.spitzen) werden von Kulturheroen als Geschenke, durch Tricks, Diebstahl 22 oder Kampf 2 3 von übermächtigen Wesen erlangt (cf. AaTh 518: -» Streit um Zaubergegenstände)24. Mit diesen Waffen schaffen sie eine Lebensgrundlage für die Menschen, indem sie eine Quelle öffnen (Neuguinea) 25 , wasserreiches Land erwerben (Südsee) 26 oder Gerstenkörner als Pflanzgut erbeuten (Korea) 27 . Gelegentlich werden P.e zur Überwältigung von Dämonen, Monstern oder Zauberern eingesetzt (Mot. G 500) 28 . Oft erhalten die erfolgreichen Schützen reiche Belohnung (Königreich, Braut, Land etc.) 29 . In zahlreichen Märchen finden sich P.e als -»• wegweisende Gegenstände (cf. AaTh 400: -> Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau, AaTh 402: -> Maus als Braut, AaTh 465: Mann wird wegen seiner schönen Frau verfolgt, AaTh 550: Vogel, Pferd und Königstochter). G. A. Megas nimmt für dieses Motiv Herkunft aus Asien an, da dort P. und B. die wichtigsten Waffen des Adels waren 30 . P.e können auch als Mittel zur Überlistung den falschen Weg weisen: Der Held verschießt P.e, und während die Gegenspieler diese suchen, rettet er sich aus deren Gewalt 31 oder stiehlt Wunderdinge (cf. AaTh 518: —• Streit um Zaubergegenstände)i2. Manchmal hat ein P. die doppelte Funktion eines wegweisenden Objekts mit tödlichem Potential: Ein König verwundet mit seinem P. eine flüchtende Antilope und wirft zornig mit dem B.ende eine tote Schlange um den Hals eines Mönchs, der ihm keine Auskunft gibt, da er meditiert; im weiteren Verlauf findet der König durch den Sohn des Mönchs, der die Beleidigung seines Vaters rächen will, den Tod (ind.) 33 . Ein P.schuß (und die resultierenden

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Blutstropfen) zeigt den Narten-Helden Achsar und Achsartag zwar den Weg zur Braut, indirekt aber auch in den Tod, weil beide sterben, da sie sich gegenseitig (irrtümlich) des Betrugs an der Braut verdächtigen 34 . Im jap. Taiheki (14. Jh.) sagt ein Krieger in einem aussichtslosem Kampf, daß er den letzten P. nicht abschieße, da dieser ihm auf seiner Reise in die Unterwelt den Weg weisen werde 35 . Gelegentlich besitzen weisende P.e einen explizit religiösen Bezug: Eine Feder, die ein Einsiedler durch einen Schuß auf Kraniche erbeutet, verhilft ihm dazu, das Gesetz der ewigen Wiedergeburt zu erkennen (korean.) 36 ; ein Jäger entdeckt bei der Verfolgung eines verwundeten Rehs die sagenumwobenen -> Fußspuren Buddhas (thailänd.) 37 . Weisende P.e als Gottesurteil zeigen im Α. T. (Ez. 21,26 sq.) als Lospfeile die bevorstehende Zerstörung Jerusalems an. Markierungspfeile werden abgeschossen, um geogr. Lokalitäten bzw. Grenzen (Grimm DS 318) abzustecken. In der korean. Legende von den drei Gott-Menschen von Cheju werden P.e abgeschossen, die die Herrschaftsbereiche der drei festlegen 38 . Magische P.e (Mot. D 1080) sind zur Überwindung von Dämonen oder Monstren nötig. Zuweilen muß mit bes. Materialien geschossen werden, über deren Art die Schützen oft Auskunft von überirdischen Wesen (Zauberern) erhalten: 13gliedrige Federn des Kupferfasans (jap.) 39 , magische Stein-P.e 40 , kleine Zauberpfeile aus Oryx-Antilopenhorn (südl. Afrika) 41 . Jeder der vier magischen Medizinpfeile der Cheyenne repräsentiert eine spezielle Kraft 4 2 . Im Α. T. (2. Kön. 13-19) soll Joas magische P.e durch ein Fenster schießen und dann mit P e n auf die Erde schlagen, damit die Aramäer besiegt werden können. Magische P.e in mongol. Erzählungen zerschmettern riesige Steine, ein einziger dieser P.e vernichtet ein ganzes Heer 43 . P.e werden sowohl mit Ursachen von Krankheiten als auch mit Heilen in Verbindung gebracht. Nach L. - Stereotypen das Figurenpaar, wenn der Trickster ζ. Β. als -> Zigeuner 1 2 und der Düpierte als reicher -> Jude 1 3 oder poln. Adliger 1 4 charakterisiert wird. A n der Stelle des namenlosen Armen treten auch bekannte Schelmentypen auf, wie ζ. B. -> Hodscha Nasreddin 1 5 oder der kaukas. Puschkin 1 6 . In der engl. Überlieferung wird der Schwank dem Hofnarren von Heinrich VIII. und Elisabeth I., Scogin (Scoggan), zugeschrieben 1 7 . D a s Geld wird oft in der passenden Währungseinheit erbeten 1 8 . 'Top, S.: Volksverhalen uit Vlaams Brabant. Utrecht/ Antw. 1982, num. 30; Meyere, V. de: De Vlaamsche Vertelselschat 2. Antw. 1927, num. 142. - 2 Ergänzend zu AaTh 1543: Rausmaa; Gasparikovä, num. 269; BFP; Stroescu, num. 4564, 4565;

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M N K ; György, num. 227; Haboucha; Jason; Jason, Iraq. - 3 Krzyzanowski, num. 1618; Berze Nagy; Haiding, K.: Märchen und Schwanke aus dem Burgenlande. Graz 1977, num. 25; Koväcs, Α.: Kalotaszegi nepmesek 2. Bud. 1943, num. 55. - 4 cf. Hodscha Nasreddin 1, 220-222. - 5 Toldo, P.: Das vom lieben Gott geschenkte Geld und der geliehene Mantel. In: ZfVk. 13 (1903) 420-426. - 6 BP 1, 6 5 - 6 7 ; Orso, E. G.: Modern Greek Humor. Bloom./L. 1979, num. 123; Haiding (wie not. 3); Kovacs (wie not. 3); Orbeliani, S.-S.: Die Weisheit der Lüge. B.-Wilmersdorf 1933, num. 112; Ilg, B.: Maltes. Märchen und Schwanke 2. Lpz. 1906, num. 113; Wossidlo, R.: Volksschwänke aus Mecklenburg, ed. S. Neumann. B. 1963, num. 210; Stumme, H.: Märchen und Gedichte aus der Stadt Tripolis. Lpz. 1898, num. 10 a. - 7 Noy, D.: Jefet Schwill erzählt. B. 1963, num. 130 (jüd.-jemenit.). - 8 Kohl-Larsen, L.: Der Perlenbaum. Kassel 1966, 192-194. - 9 Haiding, K.: Märchen und Schwanke aus Oberösterreich. B. 1969, num. 7. — 10 Wossidlo (wie not. 6). — 11 Haiding (wie not. 3). - 12 Stroescu, num. 4565; BP 1, 6 5 - 6 7 . - 13 Hodscha Nasreddin 1, num. 54; BP 1, 6 5 - 6 7 . - 1 4 SUS. - 1 5 BFP; Stroescu; Hodscha Nasreddin, num. 54; Pilickova, S.: Narodnite prikazni na iselenicite od Republika Makedonija vo Republika Turcija. Skopje 1992, num. 41; Orso (wie not. 6). - l 6 Benzel, U.: Kaukas. Märchen. Regensburg 1963, 120-122. - 17 cf. Hodscha Nasreddin 1, 221 sq. - 18 cf. ζ. B. Aräjs/Medne; Olsvanger, I.: Rosinkess mit Mandlen. Basel 2 1931, num. 118 (ostjüd.); Kabasnikaü, K. P.: Kazki i legendy rodnaga kraju. Minsk 1960, 174sq.; Espinosa, A . M . , hijo: Cuentos populäres de Castilla y Leon 2. Madrid 1988, num. 320; Rossi, Μ. L.: L'anedotto di tradizione orale nel comune di Subbiano. Firenze 1987, num. 50.

Mariakerke

Harlinda Lox

Pferd 1. Definition und Abgrenzungen — 2. P.e und ihre Beziehungen zu Göttern - 3. Schöpfungsmythen und Ätiologien — 4. P.e und ihre Beziehungen zu Menschen - 5. Auftreten, Verhalten und Eigenschaften der P.e - 6. Zauberpferde - 7. Teuflische und dämonische P.e - 8. Zusammenfassung

1. D e f i n i t i o n u n d A b g r e n z u n g e n . Das P. wurde zuerst vermutlich zwischen 4000 und 3000 v.u. Z. in Vorderasien domestiziert 1 , fand im 3. Jahrtausend schon als Zug- und Reittier Verwendung, hat sich bis heute in gut 200 Rassen über Ostasien, Nordafrika und Europa verbreitet und war von vielfältiger militärischer und ziviler Bedeutung 2 . Im alten Ägyp-

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ten war sein Besitz der Aristokratie vorbehalten 3 ; im ma. Europa war es Statusmerkmal des -» Ritters. Im Krieg war es von unschätzbarem Wert, wichtiger als die Waffen des Reiters 4 . P.e beherrschten das Verkehrs- und Transportwesen und waren unentbehrlich für die Nachrichtenübermittlung. In der Landwirtschaft diente das R als Zugtier. 2. P.e u n d i h r e B e z i e h u n g e n zu G ö t t e r n . In den mythol. Dichtungen der Antike verkörperten sich viele Götter gelegentlich in P.en oder hatten intime Beziehungen zu ihnen 5 . Bekannt sind u. a. die aus einer Stute geborene kelt. Göttin Epona 6 und die griech. Fruchtbarkeitsgöttin -» Demeter, die manchmal mit P.ekopf dargestellt wurde 7 . In der ind. Mythologie ist ein Schimmel die Inkarnation Visnus; Indra erscheint bald als P., bald als Reiter 8 . Poseidon nahm mehrfach die Gestalt eines Res an. Als Schutzgott der P.ezucht soll er die Libyer gelehrt haben, die P.e anzuschirren. Athene galt als die Erfinderin der Dressur, des Zügels und des Viergespanns 9 . Aus dem Blut der -> Gorgone Medusa und von Poseidon gezeugt, wurde das geflügelte Roß -> Pegasus geboren. Götter und Göttinnen bedienten sich gelegentlich auch anderer geflügelter P.e10. In Homers Ilias spricht die Göttin Hera zu ->• Achilleus durch den Mund seines Res X a n t h o s " . Viele andere Götter und Halbgötter sowie Heilige 12 hatten P.e als Attribut und wurden reitend oder in einem P.ewagen fahrend gedacht 13 . Eos, die griech. Göttin der Morgendämmerung, ihr Bruder Helios und der Hindugott Surya, die die Sonne personifizieren, fahren in einem P.egespann über den Himmel 14 . Neben der solaren und kosmischen Bedeutung 15 wurde das P. auch mit -> Donner, Blitz 16 , Wind und Sturm 1 7 assoziiert. Heilige P.e wurden Göttern geweiht und geopfert 18 , u. a. in Indien (Indra). An einen P.ekult könnten Bräuche und Sagen erinnern, in denen ein P.ekopf eine Rolle spielt 19 . Das P. hat einen symbolischen Wert als chthonisches Tier und wird oft mit dem -> Tod, der -> Unterwelt und der -> Hölle assoziiert 20 . Ind., griech. und germ. Götter und Göttinnen des Todes wie die schreckliche Kali, Poseidon, Odin, die Walküren und Heia reiten auf P.en 21 . Helas Diener, der Tod, holt auf einem Rappen die Seelen der Verstorbenen 22 .

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3. S c h ö p f u n g s m y t h e n u n d Ä t i o l o gien. Mythen beschäftigen sich mit der Erschaffung des P.es. Der ind. Gott Visnu ζ. B. schuf das P. als Flügeltier aus einer Riesenschildkröte, bis es auf Bitten Indras seiner Flügel beraubt wurde 23 . Eine andere ind. Erzählung läßt das P. als Geschenk einer Gottheit erscheinen, hervorgegangen aus der Vereinigung dieser Gottheit mit einem Tiger24. Die Faszination an der Größe des P.ephallus führte in Indien zu zwei weiteren Ätiologien: Daß der Hengst ein so langes Glied hat, komme dadurch, daß eine Stute den Penis eines Mannes oder den Stumpf eines mißgestalteten Mädchens gefressen hat 25 . Der griech. Meergott Poseidon erschuf das P. in einem Wettstreit um die dem Menschen nützlichste Erfindung aus Erde 26 . Tältos, das mythische P. der Ungarn, brach aus einem Ei hervor 27 . Die Tatsache, daß P.e den ganzen Tag grasen28 und unersättlich erscheinen, wird in verschiedenen Geschichten als Strafe ausgelegt, entweder weil das P. das Stroh des Jesuskindes in der Krippe gefressen hatte oder das Weiden nicht lassen wollte, statt der Hl. Familie bei ihrer Flucht nach Ägypten zu helfen (cf. Kindheitslegenden Jesu)29. Eine Geschichte, die in ganz Europa verbreitet ist, erzählt, wie das P. domestiziert wurde: Es hatte sich neidisch an den Menschen gewandt, um ein Wildschwein (Hirsch) von einer Wiese zu vertreiben, ließ sich dazu satteln und aufzäumen, wurde aber nicht mehr freigelassen30. Das P. habe keine Galle mehr, weil bei einem Streit mit dem Stier jener den Hengst mit seinen Hörnern in die Seite gestoßen habe31. Nach einer populären chin. Ätiologie ist die Seidenraupe aus der getrockneten Haut eines P.es entstanden, die sich um ein Mädchen gewikkelt hatte 32 . 4. P.e u n d ihre B e z i e h u n g e n zu Menschen. Das P. nimmt eine Sonderstellung unter allen Haustieren ein. Doch sind die Beziehungen des Menschen zum P. ambivalent. Kein anderes Tier erregt stärkere Zuneigung und Bewunderung, aber jahrtausendelang wurde es auch in Kriegen33 und als Lasttier 34 versklavt und mißbraucht, in der Landwirtschaft nach einem arbeitsamen Leben zum Schlachthof gebracht 35 . In Märchen spielt vor allem das bäuerliche Zugpferd eine Rolle. In

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einer schwed. Erzählung klagt ein altes P., es sei das Unglücklichste unter den Tieren, weil es so viel zu leiden habe 36 . Ein ind. Mythos erzählt, daß das P. das erste Menschenpaar aus Kleie zertrampelte, weil es voraussah, welches Leid der Mensch ihm antun würde 37 . Ein vom König verstoßenes altes P. beklagt sich, wird aber noch mehrmals grausam behandelt 38 . Ein anderes P. läutet die Rügeglocke und beschwert sich über ungerechte Behandlung: Dem Tier wird das Gnadenbrot zugesprochen (AaTh 207 C: ->• Glocke der Gerechtigkeit)39. In einer fläm. Var. wird Kaiser Karl V., der sein altes P. verjagt hat, von einem Diener mit dem Hinweis auf die Pensionierung seiner Kollegen zurechtgewiesen40. Die Fabel vom ausgedienten P., das einen Löwen (Wolf) nach Hause bringen soll, ist eine Parallele zum Tiermärchen AaTh 101: Der alte -> Hund*1. Ein P., das meint, der -> Ochse arbeite zu hart, wird von Salomo, der den Dialog belauscht hat, vor den Pflug gespannt 42 . In rumän. Witzen versuchen Zigeuner, schlecht behandelte und gefütterte P.e zu verkaufen 43 . Ein Dummkopf bedauert, daß sein P. stirbt, jetzt wo er es fasten gelehrt habe (AaTh 1682: P. fasten lehren)44. Ein weiser Mann zeigt seinem Neffen, der ein schwangeres P. geschunden hat, den Fötus 45 . In einer rezenten Sage wird ein Mann, der ein krankes P. in den Fluß getrieben hat, sogar mit dem Tod bestraft 46 . Vor allem Reitervölker gehen liebevoll mit ihren P.en um. Im Milieu der nomadischen Viehzüchter war das P. der zuverlässigste Gefährte. Es nimmt eine gleichwertige Stellung ein wie der Held; nicht selten ist es sogar der eigentliche Held. In mündl. Überlieferungen werden die vielen positiven Eigenschaften der P.e beschrieben47. Es besteht eine innige Freundschaft zwischen dem Helden und seinem P. Die Tiere haben im Leben hist, und legendärer Personen eine wichtige Rolle gespielt48, die Namen der P.e zahlreicher Helden sind bekannt 49 : ζ. B. hieß Alexanders P. Bukephalos, Renauts P. Bayard (-> Haimonskinder)50. Zwischen der Leistung eines P.es und der gesellschaftlichen Stellung seines Reiters besteht gewöhnlich eine Parallelität: Dem Helden wird ein edles Tier zugeordnet, dem Bösen oder Versager eine Mähre (cf. aber Kap. 6)51. In Heldendichtung und Märchen wachsen Held und P. miteinander auf, im Verhalten

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sind sie ähnlich 52 . So hinkt in einer buddhist. Geschichte ein P., weil sein Herr hinkt 53 . Von der hohen Wertschätzung des P.es zeugen auch Bräuche des Verbrennens oder die Beigabe des Tieres bei Bestattungen 54 , das Mitführen des aufgeputzten P.es des Toten bei den Exequien 55 oder sogar die Errichtung von Denkmälern für das P. 56 Die Beziehung zwischen P. und Mensch kann so weit gehen, daß sie zu einem sexuellen Verhältnis führt (-» Sodomie) 57 .

Tier ist in der Erzählliteratur verwischt: Dem P. werden menschliche Gefühle wie Liebe und Trauer zugesprochen. Als Sigurd getötet worden ist, ist sein P. Grani das erste Wesen, das ihn beweint, und als -> Manas stirbt, ist sein P. ebenfalls untröstlich 73 . Auch Achilleus' P.e weinen über den Tod ihres Helden 74 , und der Schimmel des hl. Kolumkille trauert ebenso beim Anblick seines sterbenden Herrn 7 5 . Das P. des Königs Nikodemes wollte seinen Herrn nicht überleben 76 . Ein anderes P. rächt den Tod seines Herrn, bevor es stirbt 77 .

5. A u f t r e t e n , V e r h a l t e n u n d E i g e n s c h a f t e n d e r P.e. In populären Überlieferungen hat das P. eine komplexe Bedeutung. Oft wird ein Unterschied gemacht zwischen weiblichen und männlichen und zwischen weißen und schwarzen Pen. Die antike Welt assoziierte den Rappen mit der Unterwelt; weißen Ren galt die Vorliebe der Götter 5 8 . In der ma. Exegese und der christl. Ikonographie steht das schwarze P. für das böse Prinzip, für Teufel und Ketzer 59 , der Schimmel dagegen für Christentum, Reinheit und Glück 60 . Weiße P.e sind auch im Märchen hochgeschätzt 61 . Dem P. werden oft menschenähnliche Merkmale und Eigenschaften zugedacht, ausführlich und rühmend seine körperliche Schönheit und die außergewöhnlichen physischen Fähigkeiten beschrieben 62 . In einem griech. Rätselmärchen (AaTh 875: Die kluge -> Bauerntochter) wird auf die Frage ,Was ist das Schnellste auf der Welt?' u. a. das P. genannt 63 , und in einem fläm. Märchen heißt es ,rapper-dan-dewind' 64 . Weil P.e sich so schnell wie der Wind fortbewegen, liegt der Gedanke nahe, daß sie aus dem Wind geboren oder vom Wind geschwängert werden 65 . Vom schnellen zum fliegenden P. ist nur ein Schritt. Das geflügelte Roß Pegasus wurde zum Symbol des Ruhms oder der schnell fliegenden Zeit 66 .

P.e sind oft anderen Tieren überlegen. Im Tiermärchen überlistet ein P. sogar einen Fuchs (Löwe, Wolf, Bär, Hyäne), indem es sich tot stellt und das wilde Tier an seinem Schweif fortschleift (AaTh 47 A: -> Fuchs [Bär] am P.eschwanz). Ein P. gibt vor zu hinken (behauptet, daß der Preis seines Fohlens [sein Stammbaum] auf seinem Huf stehe) und tötet den Wolf (Löwen), der seinen Fuß betrachtet, mit einem Hufschlag (AaTh 47 B: -» Wolf und P.). P e n werden übermenschliche Fähigkeiten zugeschrieben. Sie sollen mit der Jenseitswelt in Verbindung stehen und in die Zukunft sehen können. Das P. des hl. Columba spürt, daß sein Meister bald sterben wird, und weint bitterlich 78 . P.e verweigern gestohlenes Futter und wollen ein gestohlenes Marienbild nicht fortziehen 79 . In der europ. ma. Heldendichtung kennt das P. den Ausgang der Schlacht und warnt den Helden vor Gefahren 8 0 . Im 8. Jh. soll ein weißes P. wiehernd bei dem, der König von Böhmen werden sollte, stehengeblieben sein 81 . Bekannt ist auch die Vorstellung, daß P.e den Tod voraussehen und sich in bestimmten Nächten wie der Christnacht weissagend mit anderen Tieren unterhalten und dem heimlichen Lauscher Unglück und Tod ankünden (Mot. Β 251.1.2) 82 .

Das P. wurde als Metapher für die Charaktereigenschaft des Mutes 67 oder für Freiheitsliebe gebraucht 68 . Wer einmal ein P. für sich gewonnen hat, dem ist es anhänglich und treu ergeben. Es läßt sich freiwillig nur von seinem Herrn einfangen und reiten 69 . Alexanders P. konnte nur von ihm bestiegen werden 70 . Der sterbende Held wird von seinem treuen P. bewacht 71 . In einem ir. Märchen leckt und wäscht das P. seinen tagelang schlafenden Herrn 7 2 . Die Grenze zwischen Mensch und

P.e erkennen das Heilige. Der Schimmel Wilhelms IX. von Aquitanien ζ. B. kniet vor dem hl. Bernhard 83 . In einem Exempellied beugt sich das sonst stolze P. vor dem von Räubern geschändeten Allerheiligsten und bedeutet den Gläubigen damit, dem Sakrament Ehrfurcht entgegenzubringen 84 . Das P. des frz. Königs sank 1290 an der Stelle, an der Juden eine Hostie begraben haben, in die Knie 85 . Das P. eines Edelmannes, das einmal vom Papst bestiegen wurde, wollte keinen anderen Reiter

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mehr tragen 86 . In der Vita des hl. Gallus ist zu lesen, daß ein P. sich vor der Kirche des Heiligen postierte, bis ein gewisser Willimar sein Gelübde erfüllte, der Kirche ein P. zu schenken 87 . P.e sind ebenso wie Ochsen weisende Tiere in Bauplatzlegenden von Kirchen, ζ. B. in der Legende der hl. Walpurgis (cf. -» Wegweisende Gegenstände und Tiere) 88 . Bei Biberach zeigten kniende P.e, wo ein Kreuz errichtet werden sollte 89 . Nach ind. und dt. Traditionen bestimmten weiße P.e die Lage einer Stadt 90 oder die letzte Ruhestätte eines Heiligen 91 . P.e haben manchmal das zweite Gesicht 92 , sind hellsehend und hellhörig, spuk- und geistersichtig 93 . Ein anderes P. wittert den Einsturz einer Brücke 94 . Das P. bedient sich seines Hufs, um Wasser hervorquellen zu lassen (-• Quellwunder) 95 , ζ. B. das P. -> Karls d. Gr. Ein drittes findet Wasser bei einer Belagerung 96 . Sagen erzählen von P.en, die riechen, wenn ein Toter im Hause liegt 97 , die einen Sarg nicht ziehen 98 , an bestimmten Stellen nicht vorbei wollen oder sich aufbäumen 9 9 . P.e scheuen das Grab; so waren sie nicht in den Stall hineinzubringen, in dem die erdrosselte hl. Cunera begraben war 100 . Sie kommen kaum weiter, wenn sie besessene oder verhexte Personen, einen Geisterbanner oder einen gebannten Geist transportieren müssen 101 . Stolz kann leicht als Hochmut interpretiert werden oder in Übermütigkeit umschlagen. Das P. wird daher öfter auch wegen seiner Verwegenheit kritisiert. Nach einer äsopischen Fabel sind die Menschen in den (jungen) Lebensjahren, die ihnen das P. abgetreten hat, eingebildet (AaTh 173, 828: -> Lebenszeiten des Menschen). Die Geschichten, in denen sich ein junges P. gegenüber einem Ochsen oder Esel arrogant benimmt, aber im hohen Alter erniedrigt wird, illustrieren das Sprichwort, daß Hochmut vor dem Fall kommt 1 0 2 . Das passiert auch einem P., das sich weigert, einen Teil der Lasten eines Esels zu übernehmen und später die ganze Last tragen muß, nachdem der Esel zusammengebrochen ist (AaTh 207 B: cf. Aufstand der Arbeitstiere). Das P. tritt in der christl. Verkündigung als Sinnbild des menschlichen Hochmuts und seiner Eitelkeit auf 103 . P.e sind in der religiösen Kunst oft Symbol der Lust und zügellosen Leidenschaft 104 , wo-

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bei vor allem an Hengste oder an Wildpferde gedacht wird. Auch einige sprichwörtliche Redensarten (,1hm gehen die P.e durch'; ,Man soll sein P. an einen Baum anbinden') 105 deuten auf die Zügellosigkeit. In der religiösen Tierallegorese und der emblematischen Lit. werden P. und Reiter mit Körper und Geist gleichgesetzt 106 . P.e können Menschen und Tiere verletzen oder gar tödlich treffen 107 : Der Meergott Glaukos wurde von seinen eigenen P.en (den Wogen) zerrissen 108 . In einigen Tiermärchen trampeln P.e andere Tiere zu Tode (AaTh 47 D: -» Hund imitiert den Wolf, AaTh 47*: Horse Kicks Wolf and Fox). Durch die Funken aus seinem Hufschlag erschreckt das P. sogar den Löwen (AaTh 118: -> P. erschreckt den Löwen). 6. Z a u b e r p f e r d e . Ist das P. im idealisierenden Epos das vollkommenste Tier, so ist es im Märchen ein phantastisches Wesen, das aus der Jenseitswelt kommt. Sein Erwerb ist eine wichtige Episode bei der -• Propps Belegmaterial der einzige unter den magischen Helfern, der in der Lage ist, alle fünf Grundfunktionen des -> Helfers (Transport, Beseitigung des Unglücks oder Mangels, Rettung vor Verfolgung, Lösung der schwierigen Aufgabe, Verwandlung des Helden) zu vollbringen 109 . Es erscheint als Belohnung für eine gute Tat (-• Dankbare [hilfreiche] Tiere): Weil allein der jüngste Sohn den Wunsch seines Vaters am Grab erfüllt, gibt ihm dessen Geist ein P., das auf Verlangen erscheint (AaTh 530: Prinzessin auf dem Glasberg). In zahlreichen Var.n von AaTh 303: Die zwei -> Brüder ist das Motiv der gleichzeitigen Geburt von zwei Kindern, P e n und Hunden konstitutiv (Wunderbare -> Empfängnis) 110 . Das Fangen und Zähmen eines wilden Pes gehört in verschiedenen Erzähltypen zu den -> Kraftproben bzw. unlösbar scheinenden -> Aufgaben des Helden (ζ. B. AaTh 530; AaTh 328: - Corvetto)"1. Die Aufgabe kann etwa darin bestehen, sich des Pes eines Drakos (Ungeheuers) 112 zu bemächtigen oder ein fliegendes P. in der Wüste zu holen 113 . Bisweilen gewinnt der Held es durch das Hüten oder Wiederfinden eines flüchtigen P.s (mehrerer P.e) eines Dämons (Hexe) 114 oder bekommt es von einem geheimnisvollen Unbekannten geschenkt 115 . Bei der Suche nach dem

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goldenen Vogel (AaTh 550: -> Vogel, Ρ und Königstochter) muß der berittene Held öfter auch ein goldenes P. suchen 116 . Zauberpferde übertreffen die irdischen an Schönheit, Größe, Geschwindigkeit und Stärke. Der Held darf ein P.chen nur besteigen, wenn es nach dreijährigem Säugen gewaltig stark geworden ist" 7 . In einem russ. Märchen zieht das angebundene P. einen Baum mit den Wurzeln heraus" 8 . Eine südslav. Erzählung erzählt von einem Mann, der alle Gefahren auf dem Rücken einer gewaltigen Sturmstute überwindet 119 . Ein magisches Feuerpferd kann nur vom Besitzer ohne Lebensgefahr berührt werden 120 . Helfende P.e reiten oder springen mit unglaublicher Geschwindigkeit über große Wälder, Berge und Flüsse und unterstützen den Helden (AaTh 314: ->• Goldener)121. Bei diesen Verfolgungen (-• Magische Flucht) verwandelt sich das P. in einen Garten oder andere umfassende Räume 1 2 2 , um in dieser Metamorphose Reiter und P. aus einer heiklen Situation zu retten 123 . Auch unberitten bewahren P.e ihre Herren vor Unglück und Tod. P.e verstecken den Helden unter dem Huf (Schweif, Mähne, im Zahn) 1 2 4 , retten ihn aus dem Verlies und erwecken den Erschlagenen oder Verstümmelten durch das -> Lebenswasser wieder 125 . Das P. in -> Chaucers The Squire's Tale, das der König von Arabien dem König von ,Tartarye' schenkt, kann ihn wie der Blitz dahin bringen, wohin er will 126 . Eine der wichtigsten magischen Eigenschaften ist das Fliegenkönnen (AaTh 560 A*: Magic Ring and Flying Horseni, AaTh 575: -> Flügel des Königssohnes). In vielen Märchen kann der Held nur mit Hilfe eines Zauberpferdes seine Aufgabe erfüllen oder die Tochter des Königs erlangen 128 . Magische P.e stehen ihrem eher passiven Besitzer bei seinen Abenteuern als -» Ratgeber bei. -» Gervasius von Tilbury erzählt 1210 von einem katalan. Troubadour, dessen P. ihm in einer Art Zeichensprache guten Rat erteilte 129 . Zauberpferde verstehen nicht nur die menschliche Sprache, sondern antworten auch mit menschlicher Stimme 130 . Bei dem Martyrium des hl. Charalampius machen P.e dem Richter Vorwürfe 131 . Sprechende P.e erscheinen auch in kirgis. und türk. Heldenepen 132 . Selbst das tote P. oder ein P.ekopf spricht noch. Das über das Tor genagelte Haupt des treuen Falada

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führt Zwiegespräche mit der klagenden Gänsemagd und bringt so die Wahrheit ans Licht ( K H M 89, AaTh 533: Der sprechende - Pferdekopf)ni. P.e, die sich in der Gewalt eines Ungeheuers befinden, überbringen ihm Nachrichten über die Handlungen des Helden 134 . Oft sind sprechende P.e verzauberte Menschen, die am Ende ihre anthropomorphe Gestalt erhalten, indem ihnen der Kopf abgeschlagen wird 135 . Es mag erstaunen, daß nicht selten P.e mit schweren körperlichen Mängeln begegnen, nur sie darf der Held wählen: Sie sind ζ. B. blind, lahm, bucklig (ζ. B. das russ. P. Konekgorbunok) 1 3 6 oder laufen auf drei Beinen 137 . Ein wichtiges Strukturelement vieler Märchen ist die Verwandlung des Helden in einen unansehnlichen Burschen und dessen P. in ein räudiges Fohlen 138 . So bleiben beide nicht nur unerkannt, sondern dieses Detail hängt auch mit dem emanzipatorischen Motiv des unscheinbaren Helden (Mot. L 1 0 0 - L 199) zusammen, der am Anfang des Märchens dumm und faul erscheint und dessen P. unter seiner scheinbaren Minderwertigkeit Zauberkraft verbirgt 139 . Auch in vedischen Erzählungen ist das P. anfangs oft ein häßliches oder wertloses Tier 140 . Körperteile lassen sich zusammenfügen 141 , mit ihrem Reiter versteinerte P.e wiederbeleben 142 . Ein von einem Bauern schlecht behandelter Knecht kann sich mit Hilfe eines Zauberpferdes und durch das Baden in Stutenmilch — ein seit Hippokrates wichtiges Arzneimittel — verjüngen, während der Bauer in der heißen Milch umkommt (AaTh 531: -> Ferdinand der treue und F. der ungetreue). In Lügenmärchen treten halbierte P.e auf, die später wieder zusammengefügt werden 143 : Dem P. des Freiherrn von ->• Münchhausen wird im Kampf das Hinterteil abgeschnitten; während das Vorderteil weiterrennt und umsonst Wasser trinkt, begattet das Hinterteil Stuten, die später kopflose Fohlen werfen (AaTh 1889 P: Horse Repaired·, cf. Münchhausiaden). In einer anderen Episode frißt sich ein Bär in ein P. hinein, bis er selbst im Geschirr steckt (AaTh 166 B4*: Wolf and Horses)144. Nicht alle Zauberpferde sind helfende Tiere. In europ. Märchen flieht der Held bisweilen selbst in Gestalt eines Res. In Var.n von AaTh 325: Zauberer und Schüler verwandelt sich

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ein Zauberlehrling in ein P. und läßt sich von seinem Vater verkaufen mit der Absicht, Geld zu gewinnen und heimzukehren. Beim letztenmal wird das P. an den Zauberer selbst verkauft. Da dabei der magische Zaum (Strick, Halfter) miterworben wird, kann das Tier nicht mehr zurückverwandelt werden 145 . Auch kommt es vor, daß der Zauberer selbst den Lehrling in ein P. verwandelt 146 . Feinde des Helden wie Riesen, Drachen und Zauberer besitzen oft noch schnellere und stärkere P.e (cf. Mot. G 241.3, G 303.7.1). Das böse P. wird dann zum eigentlichen Gegner, den es mit List und anderer magischer Hilfe zu überwinden, zu zähmen oder zu töten gilt. 7. T e u f l i s c h e u n d d ä m o n i s c h e P.e. -» Dämonen in P.egestalt sind eine der ältesten mythischen Vorstellungen 147 . Dämonische P.e entführen den Reiter in die Luft, Menschen werden von Teufel oder Hexen in P.e verwandelt, beritten und beschlagen. Die Vorstellung vom Erscheinen höherer Wesen in Tiergestalt (-> Theriomorphisierung) scheint im Spätmittelalter noch lebendig gewesen zu sein 148 . Nach dem -» Hund, der mit dem P. verwandte Wesenszüge aufweist, ist das (zumeist schwarze) P. die häufigste theriomorphe Sagengestalt (cf. auch AaTh 761: ->• Reicher Mann als des Teufels Roß)149. Auf Geschichten vom Teufelsroß beruht die allg. Vorstellung des Teufels mit dem P.efuß 150 . Die weitverbreitete Ballade von der PfafTenköchin (bezeugt seit dem 13. Jh. 151 ) erzählt, daß eine junge Frau, die sich mit einem (mehreren) Geistlichen eingelassen hat, vom Teufel in ein P. verwandelt, beritten und von ihrem Vater beschlagen wird, während der Geistliche straffrei bleibt. Das Motiv des durch den Teufel (Zauberer) in ein P. verwandelten Mädchens findet sich auch in Predigtexempeln, dt.sprachigen Volksliedern, Sagen 152 und in Märchen (ζ. B. AaTh 449: -> Sidi Numan)153. Oft sind es auch Hexen oder Zauberer, die in Tiergestalt beschlagen und an den Hufeisen erkannt werden 154 , ζ. B. nachdem ein Stallknecht ihnen selbst den Zaum umgeworfen hat 155 . In einem Schwank bringt ein Teufelspferd eine Frau, die ihr Mann zum Teufel gewünscht hat, zurück, nachdem sie ihm während des Ritts die Ohren aufgeschlitzt hat 156 .

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Unheimliche P.e können Geister 157 oder (seltener) Wiedergänger sein 158 . In Sagen begegnet man Toten in P.egestalt oder auf P.en 159 . Es sind u. a. Männer, die zu Lebzeiten ihre P.e vernachlässigt haben 160 . Man sieht hinkende P.e oder P.e mit drei Beinen, was auf ihre sündhafte Natur hinweisen mag 161 . Es fällt auf, wie oft P.e ohne Kopf erscheinen, u. a. in Deutschland, England, den Niederlanden und Flandern 162 . Häufig ist auch die Vorstellung von Wassergeistern in P.egestalt, etwa die von den schott. Kelpies 163 . Glühende P.e ziehen eine Geisterkutsche 164 , der Nachtjäger (-• Wilde Jagd) erscheint als P. oder in Begleitung von P.en 165 . Oft begegnen gespenstische P.e als Schimmel, eine Vorstellung, zu der Nebel und Mondschein beigetragen haben mögen 166 . 8. Z u s a m m e n f a s s u n g . Das P. hat wegen seiner hohen Wahrnehmungsfähigkeit, Intelligenz und Individualität den Menschen überall fasziniert. Die enge Beziehung zwischen P. und Mensch ist von großer sozialer, ökonomischer und kultureller Bedeutung. Dies erklärt die Wertschätzung, die ihm entgegengebracht wird. Das P. hat eine überragende Position in Kult, Mythos und in Märchen. Ihm werden menschliche Charakterzüge zugeschrieben, aber seine tierischen Eigenschaften kommen dabei ebenso zur Geltung. Obwohl das P. als Nutztier in technisierten Ges.en eine untergeordnete Rolle spielt, findet sich eine reiche Unterhaltungsliteratur über zärtliche P.e 167 . 1 Simpson, G. G.: P.e. Die Geschichte der P.efamilie in der heutigen Zeit und in 60 Millionen Jahren ihrer Entwicklung. B./Hbg 1977; Cassart, C./Moirant, R.: Diet, du cheval et du cavalier. P. 1979, 144. - 2 Keller, Ο.: Die antike Tierwelt 1. Lpz. 1909, 218-259; Brückner, W.: Roß und Reiter im Leichenzeremoniell. Deutungsversuch eines hist. Rechtsbrauches. In: Rhein. Jb. für Vk. 1 5 - 1 6 (1964-65) 144-209; Ackermann-Arlt, B.: Das P. und seine epische Funktion im mhd. „Prosa-Lancelot". B. 1990, 1 - 2 0 . 3 Lex. der Ägyptologie 4. Wiesbaden 1982, 1009-1013, hier 1009. - 4 Bowra, C. H.: Heldendichtung. Stg. 1964, 170; cf. auch Gamber, Ο.: P. In: Lex. des MA.s 6. Mü./Zürich 1993, 2029 sq. - 5 Oldfield Howey, M.: The Horse in Magic and Myth. Ν. Υ. 1958. - 6 Keller (wie not. 2) 251; Rowland, Β.: Animals with Human Faces. L. 1974, 103. - 7 Hunger, H.: Lex. der griech. und röm. Mythologie. Hbg 1979, 101-104. - 8 De Gubernatis, Α.: Die Thiere in der idg. Mythologie. Lpz. 1874, 256. - 'Keller (wie not. 2) 246. - 10 ibid., 251. -

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Bowra (wie not. 4) 184 sq.; Günter 1949, 47. 01dfield Howey (wie not. 5) 180 sq.; Rowland (wie not. 6) 111; H D A 6, 1647; H D A 9, 167. - 1 3 StandDict. 1, 504; Keller (wie not. 2) 246 sq.; H D A 8, 572. - 1 4 Cotterel, Α.: The Macmillan Enc. of Myths and Legends. L./N. Υ. 1989, 87, 163; Oldfield Howey (wie not. 5) 114 sq.; Lurker, M.: Wb. bibl. Bilder und Symbole. Mü. 2 1978, 235 sq. - 15 von Beit 2, 601 sq. - 16 H D A 6, 1631; H D A 9, 169; Elwin, V.: Myths of Middle India. Delhi/Bombay/Calcutta/ Madras 1991, 90. - 17 Keller (wie not. 2) 247 sq.; H D A 6, 1611, 1630. - 18 Grimm, Mythologie 2, 622; Newall, V.: Discovering the Folklore of Birds and Beasts. Tring 1971, 4; Oldfield Howey (wie not. 5) 185 sq.; Keller (wie not. 2) 246, 252 sq. - 1 9 Grimm, Mythologie 2, 626 sq.; Keller (wie not. 2) 254; H D A 6, 1664 sq. - 20 Oldfield Howey (wie not. 5) 199 sq. 21 Somville, P.: Le Cheval et la mort. In: Cahiers internationaux du symbolisme 4 0 - 4 1 (1981) 131-137; Oldfield Howey (wie not. 5) 199-207. - 22 Keller (wie not. 2) 248. - 23 Oldfield Howey (wie not. 5) 213. - 2 4 Elwin (wie not. 16) 221 sq. - 2 5 ibid„ 262, 405; über das P. als phallisches Symbol cf. Rowland (wie not. 6) 103 sq. - 26 Rowland (wie not. 6) 133; Henkel, A./Schöne, Α.: Emblemata. Hb. zur Sinnbildkunst des 16. und 17. Jh.s. Stg. 1967, 213. 27 De Gubernatis (wie not. 8) 221; Koväcs, Α.: tältos, fiü, a. In: Magyar neprajzi lex. 5. Bud. 1982, 169. 28 cf. Morris, D.: Paardenboek. Houten 1998, 51. 29 z . B . Dh. 2, 13 sq.; Cock, Α. de: Natuurverklarende sprookjes. Gent 1911, num. 4, 5 a - b ; Meyere, V. de: De Vlaamsche vertelselschat 4. Antw.1933, num. 3 3 3. - 3 0 Irmscher, J.: Antike Fabeln. B. 1999, 203, 324, 450; Tubach, num. 2619; Schwarzbaum, Fox Fables, VIII, XLIII, 325. 31 Ergis, num. 69; cf. Irmscher (wie not. 30) 109, 457. - 32 Eberhard, Typen, num. 45. - 33 cf. AckermannArlt (wie not. 2) 231 sq. - 3 4 Geißler, F. (ed.): Beispiele der alten Weisen des Johann von Capua. B. 1960, 102. - 35 Morris (wie not. 28) 7 - 1 4 . - 3 6 Sahlgren, G. und J.: Zweedse volkssagen. Antw. 1946, 123; cf. Irmscher (wie not. 30) 257; De Gubernatis (wie not. 8) 244. - 37 Oldfield Howey (wie not. 5) 213. - 38 Henot, H.: Sprookjes. Tienen 1911, 2 2 - 2 9 ; Schwarzbaum, Fox Fables, 517. - 3 9 Schenda, R.: Das ABC der Tiere. Mü. 1995, 266. - 4 0 L o x , H.: Van stropdragers en de pot van Olen. Löwen 1999, 83, 198 sq.; Joos, Α.: Vertelsels van het Vlaamsche volk 3. Gent 1891, num. 14. 41 Sinninghe, J. R. W.: Sprookjes uit alle provincien. Amst. 1944, 10; BP 3, 74 sq.; umgekehrt erzählt man ab und zu von einem faulen, geizigen oder herzlosen P., cf. Irmscher (wie not. 30) 396. - 4 2 Robe, num. 207. - 4 3 Stroescu, num. 3968, 4005, 4331-4336, 5718. - 4 4 Moser-Rath, Schwank, 174. - 4 5 Al Shahi, A./Moore, F.: Wisdom from the Nile. Ox. 1978, num. 53. - 4 6 Fischer, Η.: Erzählgut der Gegenwart. Köln 1978, num. 1411. - 4 7 Chadwick, N./ Zhirmunsky, V.: Oral Epics of Central Asia. Cambr. 1969. - 4 8 Jean Lemaire des Beiges: Les Epitres de 12

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l'amant vert. ed. J. Frappier. Lille/Genf 1948, V. 1 4 9 - 1 6 8 , 4 9 2 - 5 0 0 . - 4 9 H D A 6, 1606. - 5 0 Grimm, Mythologie 2, 621. 51 Ackermann-Arlt (wie not. 2) 315. - 52 Heissig, W.: Geschichte der mongol. Lit. Wiesbaden 1972, 371-373; Hahn, num. 6 (griech.); De Gubernatis (wie not. 8) 227. - 53 Cowell, Ε. B. (ed.): The Jätaka oder Stories of the Buddha's Former Births. Nachdr. L. 1969, num. 184. - 5 4 Sloet, L.: De dieren in het Germaansche volksgeloof en volksgebruik. 's-Gravenhage 1888, 154 sq.; Keller (wie not. 2) 252 sq.; Schenda (wie not. 39) 266. - 55 Daxelmüller, C.: Disputationes curiosae. Würzburg 1979, 338. 56 Henkel/Schöne (wie not. 26) 507 sq., 1220. 57 Marx, Α.: Griech. Märchen von dankbaren Tieren und Verwandtes. Stg. 1889, 90. - 58 H D A 9, 165 sq. (Schimmel). — 59 Moser, D.-R.:Verkündigung durch Volksgesang. B. 1981, 550. - 60 Traeger, J.: P. In: LCI 3 (1971)411-415. 61 Keller (wie not. 2) 236; Siuts, H.: Jenseitsmotive im dt. Volksmärchen. Lpz. 1911, 110; Grimm, Mythologie 2, 623. - 62 Keller (wie not. 2) 253. - 63 Megas, G. Α.: Griech. Volksmärchen. MdW 1965, num. 36. — 6 4 Leroy, J.: Zeisels en Vertellingen 8. Tielt 1940-41, 91 sq. - 65 H D A 6, 1606; H D A 8, 574; Ackermann-Arlt (wie not. 2) Vorw.; Oldfield Howey (wie not. 5) 129 sq.; De Gubernatis (wie not. 8) 270 sq.; Rowland (wie not. 6) 108. - 6 6 Tervarent, G. de: Attributs et symboles dans l'art profane. Genf 1958, 92 sq. - 67 Oldfield Howey (wie not. 5). 68 Henkel/Schöne (wie not. 26) 498, 499, 501, 502; Schmidtke, D.: Geistliche Tierinterpretation in der dt.sprachigen Lit. des MA.s (1100-1500). B. 1968, num. 1, 5, 6. - 6 9 Heissig (wie not. 52) 396. 70 Pauli/Bolte, num. 343. 71 cf. zum folgenden Brückner (wie not. 2); Ackermann-Arlt (wie not. 2) 43. - 72 O'Sullivan, S.: Folktales of Ireland. L. 1966, num. 17. - 73 Bowra (wie not. 4) 176, 183. - 74 De Gubernatis (wie not. 8) 272; cf. H D A 9, 318 sq. - 75 Ackermann-Arlt (wie not. 2) 10; andere Beispiele bei Marx (wie not. 57) 97; H D A 6, 1606, 1607. - 76 Marx (wie not. 57) 90. - 77 ibid., 88. - 78 Newall (wie not. 18) 4. - 79 H D A 6, 1623. - 80 Bowra (wie not. 4) 180 sq.; Cotterel (wie not. 14) 155. 81 Sloet (wie not. 54) 152. - 82 H D A 6, 1623; Berg, M. Van den: De volkssage in de provincie Antwerpen in de 19de en 20ste eeuw 1 - 3 . Gent 1993, num. 2 1 62. - 8 3 LCI 3, 414. - 84 Moser (wie not. 59) 555. - 85 Brückner, 235; Pauli/Bolte, num. 556. 86 Pauli/Bolte, num. 343. - 87 De Gubernatis (wie not. 8) 276 sq. - 88 Sloet (wie not. 54) 154; Kretzenbacher, L.: Heimkehr von der Pilgerfahrt. In: Fabula 1 (1958) 214-227, hier 223. - 89 Panzer, F.: Bayer. Sagen und Bräuche 1 - 2 . ed. W.-E. Peuckert. Göttingen 1954/56, hier t. 1, num. 291; H D A 6, 1623. 90 Cowell (wie not. 53) num. 422; H D A 6, 1623. 91 H D A 6, 1624, 1674 (hl. Stephanus). - 9 2 Newall (wie not. 18) 4 sq. - 93 ζ. B. Schmidt, num. 2015. 94 Büchli, Α.: Mythol. Landeskunde von Graubünden 2. ed. U. Brunold-Bigler. Disentis 1989, 455. -

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Pferd geht nicht über Bäume

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De Gubernatis (wie not. 8) 274. - 9 6 Panzer (wie not. 89) t. 1, num. 49, 50, 186, 207; H D A 6, 1633. - 97 Fischer (wie not. 46) num. 768. - 98 Müller/ Röhrich C 2 3 - C 25. - 99 Fischer (wie not. 46) num. 800, 841; Röhrich, L.: Hund, P., Kröte und Schlange als symbolische Leitgestalten in Volksglaube und Sage. In: Zs. für Religions- und Geistesgeschichte 3 (1951) 6 9 - 7 6 , hier 72; 0 hOgäin, D.: An Capall i mBealoideas na hEireann (Das P. in der ir. Volksüberlieferung). In: Bealoideas 4 5 - 4 7 (1977-79) 199-243, hier 237. - " » G ü n t e r 1949, 51. 10 ' Zender, M.: Sagen und Geschichten aus der Westeifel. Bonn 1966, num. 564, 565, 693, 695, 697, 1362,1363. - 102 Schenda (wie not. 39) 266. - 103 Moser (wie not. 59) 55 5. - 1 0 4 Tervarent(wienot. 66)418. - 105 Röhrich, Redensarten 2, 1154-1169. 106 Ackermann-Arlt (wie not. 2) 42 sq.; Schmidtke (wie not. 68) 373 sq.; Rowland (wie not. 6) 107. ""Schmidt, num. 1010,1016. - 108 Keller (wie not. 2) 249. - 1 0 9 Propp, V.: Morphologie des Märchens, ed. K. Eimermacher. Ffm. 1975, 7 9 - 8 3 ; cf. auch Matveeva, R. P.: Russkie narodnye skazki Sibiri ο cudesnom kone (Russ. Volksmärchen Sibiriens über das Zauberpferd). Novosibirsk 1984. - 110 Ranke, K.: Die zwei Brüder (FFC 114). Hels. 1934, 152. 111

Scherf, 731, 1107; Schirmunski, V.: Vergleichende Epenforschung. B. 1961, 22, 26. - " 2 z . B. Hahn, num. 3 (griech.). - 113 Al Shahi/Moore (wie not. 45) num. 29. " 4 S c h e r f , 853. - n 5 i b i d . , 297. 116 Dekker/van der Kooi/Meder, 149 sq.; Noy, D.: Folktales of Israel. Chic./L. 1963, num. 56. 117 Scherf, 530 sq.; KHM/Uther 2, num. 92. - 1 , 8 De Gubernatis (wie not. 8) 260. - 1 , 9 von Beit 2, 599 sq. - 120 de Meyer, Conte, 575. 121 ζ. B. Meier, H./Karlinger, F.: Span. Märchen. MdW 1961, num. 50. - 122 von Beit 1, 569 sq. und t. 2, 639. - 123 H D A 6, 1628. - 124 Scherf, 533, 638. - 125 Hahn, num. 65, 70 (griech.); cf. auch Schirmunski (wie not. 111) 25. - 126 Chaucer, G.: The Complete Works. L./N. Y./Toronto 1951, 628-636 (The Squire's Tale). — 127 Ergänzend zu de Meyer, Conte: Leroy (wie not. 64) 19. - 128 Siuts (wie not. 61) 270; Hartmann, I.: „Das Meerhäschen". Eine vergleichende Märchenuntersuchung. Diss, (masch.) Göttingen 1953, 122 sq. - 129 Schenda (wie not. 39) 263. - l 3 0 z. B. Hahn, num. 6 (griech.); Heissig (wie not. 52) 361 sq. 131 Günter 1949, 47, 186. - 132 Ackermann-Arlt (wie not. 2); Chadwick/Zhirmunsky (wie not. 47) 313 sq. - 133 Scherf, 384 sq.; Dekker/van der Kooi/Meder, 230 sq. - 134 De Gubernatis (wie not. 8) 264. 135 cf. Oldfield Howey (wie not. 5) 211; Scherf, 299. - 136 EM 4, 279; zum häßlichen und gebrechlichen P. des Helden cf. allg. Sorlin, E.: „Pere, pourquoi tu pleures d'un oeil et ris de l'autre?" In: Fabula 28 (1987) 245-268, hier 247 sq., 253 sq. - 137 Siuts (wie not. 61) 270; cf. Scherf, 8 84. - 138 ζ. B. Heissig, W.: Mongol. Volksmärchen. MdW 1963, num. 38; Schirmunski (wie not. 111) 25. - 139 Schirmunski (wie not. 111) 91. - 140 Scherf, 255, 606, 638, 731, 853. -

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Megas (wie not. 63) num. 42. - 142 Al Shahi/ Moore (wie not. 45) num. 4. - 143 Robe 1889 P; andere Lügengeschichten mit P.en cf. O' Sullivan (wie not. 72) num. 53. - 144 Bürger, G. (ed.): Zwei dt. Volksbücher. Lpz. 1940, 169 sq., 154 sq.; Dekker/ van der Kooi/Meder, 255 sq. - 145 ζ. B. Noy (wie not. 116) num. 55; Megas (wie not. 63) num. 42; Dekker/van der Kooi/Meder, 368 sq. - 146 Robe 325; Ο Sullivan (wie not. 72) num. 18.; cf. Marzolph, U. (ed.): Das Buch der wundersamen Geschichten. Mü. 1999, 645. - 147 Röhrich (wie not. 99) 71; Oldfield Howey (wie not. 5) 35 sq. - 148 Schmidtke (wie not. 68) 151. - 149 Panzer (wie not. 89) t.l, num. 160, 164.- 1 5 0 Brückner, 322; Moser (wie not. 59) 554; Van den Berg (wie not. 82) 1870. 151 H D A 6, 1544-1547; Tubach, num. 1619. 152 Moser (wie not. 59); H D A 6, 1639. - 153 Scherf, 429 sq., 717, 1416. - 154 Van den Berg (wie not. 82) 1724. - 155 H D A 3, 1884. - 156 Wehse, R.: Schwanklied und Flugblatt in Großbritannien. Ffm./Bern/Las Vegas 1979, 449. - 157 Van den Berg (wie not. 150) 1623-1625. - 158 Oldfield Howey (wie not. 5) 1 sq.; Zender (wie not. 101) num. 1618. - 159 Sloet (wie not. 54) 169, 173; H D A 6, 1614. - 160 H D A 6, 1639. 161 cf. Cassart (wie not. 1) 83; cf. H D A 1, 1424; H D A 6, 1636 (Teufel). - 162 Sloet (wie not. 54) 171; Oldfield Howey (wie not. 5) 6 2 - 6 5 . - 163 Oldfield Howey (wie not. 5) 144; H D A 9, 131 sq.; H D A 6, 1634 sq. - 1 6 4 Müller/Röhrich C 2 3 - C 25. 165 H D A 6, 798 sq. - 166 Röhrich (wie not. 99) 71. - 167 Schenda (wie not. 39) 264. 's-Gravenwezel

M a r c e l Van d e n Berg

Pferd geht nicht über Bäume ( A a T h 1631), dem Komplex Wörtlichnehmen zuzuordn e n d e r , selten n a c h g e w i e s e n e r S c h w a n k ü b e r einen listigen P.ehandel: Beim Verkauf eines P.es weist der Händler darauf hin, daß das P. viel fresse und nicht über Bäume gehe. Der Käufer muß nach dem Kauf feststellen, daß das Tier die Vorübergehenden beißt und sich weigert, eine hölzerne Brücke zu betreten. D i e ältesten Belege f ü r A a T h 1631 finden sich in lat. K o m p i l a t i o n e n des s p ä t e n M A . s wie - u n t e r B e r u f u n g a u f J a c q u e s d e Vitry - d e r Scala coeli des -> J o h a n n e s G o b i J u n i o r ( n u m . 697), d e r Mensa philosophica (4,12) o d e r bei -> P e l b ä r t v o n T e m e s v ä r 1 . S p ä t e r erscheint die E r z ä h l u n g bei J o h a n n e s -» P a u l i ( n u m . 112) u n d H e i n r i c h Bebel (1,33) u n d ist a u c h als Teil d e r -» E u l e n s p i e g e l - Ü b e r l i e f e r u n g belegt, w o b e i Eulenspiegel die R o l l e des P . e h ä n d l e r s ü b e r n i m m t 2 . In Einzelbelegen find e t sich A a T h 1631 n o c h in S a m m l u n g e n des

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Pferd fasten lehren

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17. Jh.s 3 . Die geogr. Verbreitung des Erzähltyps ist auf Europa beschränkt 4 . Mehrfach belegt ist er auf dem Balkan, im Baltikum und in Finnland. Nur einzelne Nachweise gibt es für Irland, Italien, Friesland, England und Spanien, wobei die beiden letzten aus frühneuzeitlichen Sammlungen stammen 5 . Die mißverständliche Angabe des Verkäufers bezieht sich meist darauf, daß das P. das Überqueren von Bäumen verweigere 6 . Darüber hinaus sind Var.n belegt, in denen der Verkäufer behauptet, das P. fresse kein Eisen bzw. Hanf (es verweigert das Zaumzeug) 7 oder es schaue nicht in einen Brunnen 8 bzw. könne seine eigenen Fehler nicht sehen 9 (es ist blind). Als Verkäufer werden gelegentlich bekannte -> Trickster wie Eulenspiegel genannt oder Angehörige ethnischer Minderheiten wie ein Zigeuner in Rumänien. In einigen Fällen wird der Verkäufer von vornherein als Roßtäuscher bezeichnet 10 . AaTh 1631 endet meist damit, daß der Käufer die verschlüsselte Ausdrucksweise des Verkäufers als zutreffend anerkennt. Nur in wenigen Fällen wird der Verkäufer zur Verantwortung gezogen. Nachdem bei Pauli der Händler verurteilt wird, den Kauf rückgängig zu machen, handelt die moralische Schlußsequenz von der Pflicht eines Verkäufers, ehrlich zu sein. Die Erzählung erinnert an den ma. Rechtsbrauch, daß ein Verkäufer auf verborgene Mängel seiner Ware hinweisen m u ß t e " . Beim Viehverkauf allerdings konnten Mängel auch noch nach dem Kauf geltend gemacht werden 12 . Ähnlich galt in der arab. Welt, daß sich der Händler durch Angabe der Mängel seiner Ware vor späteren Reklamationen schützen konnte 1 3 . Ob AaTh 1631 damit zunächst als Warnerzählung vor betrügerischen Verkaufsmethoden diente und erst danach das Schwankelement des Wörtlichnehmens in den Vordergrund rückte, muß offen bleiben.

68; EM-Archiv: Zincgref/Weidner, Teutsche Apophthegmata 1 (1653) 3, 261; cf. auch Wander 3 (1867) 1316, num. 830. — 4 Ergänzend zu AaTh: Rausmaa; Aräjs/Medne; Ο Süilleabhäin/Christiansen; Baughman; van der Kooi; BFP; Stroescu, num. 4923; M N K . - 5 Hazlitt, W. C.: Shakespeare Jest-books 3. L. 1864, hier Certayne Conceyts and Jeasts, num. 19; Chevalier, M.: Cuentos folkloricos en la Espana del Siglo de Oro. Barcelona 1983, num. 190. 6 Lappenberg (wie not. 2); Pauli/Bolte, num. 112; Hazlitt (wie not. 5). - 7 M N K ; Stroescu, num. 4932; Rausmaa. - 8 Berze Nagy, num. 1625*. - ' R a u s maa. - 10 Bebel/Wesselski 1, num. 33; Lappenberg (wie not. 2). 11 Kroeschell, K: Dt. Rechtsgeschichte 2 (1250-1650). Opladen 2 1989, 88. - 1 2 Köbler, G.: Bilder aus der dt. Rechtsgeschichte. Mü. 1988, 212. - 13 Marzolph, Arabia ridens 1, 209-211.

1

In der arab. Lit. ist die Erzählung möglicherweise schon früh rezipiert worden, wie eine an islam.-arab. Verhältnisse adaptierte Var. zeigt: Der Dummkopf füttert sein P. nur mit dem Koranvers, der den strengen islam. Monotheismus begründet (Sure 118,1). Als das P. stirbt, meint er, daß dieser Koranvers für die Menschen womöglich noch weit tödlicher sein müsse 4 . Offenbar aufgrund ihres blasphe-

György, num. 125 (als Sprichwort). - 2 Lappenberg, J. M. (ed.): Dr. Thomas Murners Ulenspiegel. Lpz. 1854, num. 88; Benzel, U.: Volkserzählungen aus dem nördl. Böhmerwald. Marburg 1957, num. 229; Kadlec, Ε.: Unters.en zum Volksbuch von Ulenspiegel. Prag 1916, 234-237; Debus, Ο.: Till Eulenspiegel in der dt. Volksüberlieferung. Diss, (masch.) Marburg 1951, 222. — 3 Wesselski, Α.: Johann Sommers Emplastrum Cornelianum und seine Qu.n. In: Euphorion 15 (1908) 1 - 1 9 , hier 15, num.

Göttingen

Sigrid Fährmann

Pferd fasten lehren (AaTh 1682), schwankhafte Erzählung über das fatale Resultat absurd übertriebener Sparsamkeit (->• Fastenschwänke, -» Geiz): Ein dummer (geiziger) Gelehrter (Bauer, Zigeuner, Jude) will (auf Rat eines anderen) seinem P. (Esel, Kuh, Ziege) das Fressen abgewöhnen und gibt ihm immer weniger (nichts) zu fressen. Als das Tier nach einigen Tagen stirbt, beklagt er dessen Tod, so kurz bevor es gelernt habe, ganz ohne Fressen auszukommen.

Der älteste Textbeleg für AaTh 1682 ist in der spätantiken griech. Witzsammlung Philogelos (5. Jh.) enthalten 1 . Dort handelt es sich um einen dummen Gelehrten, der seinem Esel das Fressen abgewöhnen will; die Pointe entsprach der Erwartungshaltung des antiken Publikums, denn sowohl die Dummheit der Gelehrten als auch die der Eselhalter war sprichwörtlich 2 . Als eine frühe Vorstufe von AaTh 1682 wird eine Erzählung der Äsopika betrachtet, in der ein Dummkopf das Geld für das Futter des Pes vertrinkt und das P. statt dessen den ganzen Tag striegelt und kämmt 3 .

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mischen Charakters hat sich diese Var. in der islam.-arab. Überlieferung nicht gehalten 5 . In die europ. Lit.en fand AaTh 1682 Eingang durch die editio princeps des Philogelos (1605) 6 , deren Texte bereits wenige Jahre später in J. W. Zincgrefs Facetiae pennalium (1618) aufgegriffen wurden; hiernach wird der Schwank in zahlreichen dt. Slgen des 17./18. Jh.s angeführt 7 . Dabei wird er bereits in Versionen mit unterschiedlichen Protagonisten — einem fahrenden Schüler bzw. einem armen Edelmann — ausdifferenziert; ein Text zeigt auch Ansätze zu einer (fiktiven) Konkretisierung (Hans Sparheu) 8 . Im 17. Jh. ist AaTh 1682 in einem ndl. Schwankbuch belegt 9 ; hier findet sich zum ersten Mal der zusätzliche Zug, daß eine andere Person den Rat erteilt, das P. fasten zu lehren. Im 19./20. Jh. ist der Schwank ohne erkennbare Schwerpunkte in ganz Europa verbreitet 10 und auch in der jüd., bes. der jüd.-oriental. Überlieferung" sowie — möglicherweise über europ. Auswanderer — in Nordamerika 1 2 , Südafrika 1 3 und auf den Philippinen 14 bekannt.

wandtschaft des Erzähltyps etwa zu AaTh 217: Katze und Kerze her, weist allerdings nicht dieselbe existenzphil. Tiefe auf. Nur selten ist die offenkundige Absurdität von AaTh 1682 noch weiter gesteigert: Der Besitzer nagelt die Zunge der Stute an, um sie am weiteren Fressen zu hindern (kroat.) 28 ; der Geizige denkt, sein hungriger Esel saufe Sonne oder Mond aus dem Teich (cf. AaTh 1335, 1336: cf. Spiegelbild im Wasser)29; die -» Schildbürger lassen ihre Sau so lange darben, bis sie von einem Windstoß in ein Spinnennetz geweht wird 30 . Wenngleich ursprünglich einem städtischintellektuellen Umfeld entstammend, findet sich AaTh 1682 im 18./19. Jh. sowohl in ländlichem als auch in städtischem Umfeld. Die vergleichsweise seltenen Belege sprechen allerdings für die Annahme, daß die spezielle Ausprägung der Erzählung sie schon früh als seltener ausgedrückte Absurdität qualifizierte. Im 20. Jh. ist AaTh 1682 zumindest noch einmal in literar. Kontext verwendet, so in Malcolm Bradburys Rates of Exchange (1983; Kap. 3) 31 .

Bei den angeführten Texten lassen sich die charakteristischen Auswirkungen traditioneller Überlieferungsprozesse nachweisen: Fixierung auf Stereotypen (-> Zigeuner 15 , 16 Schneider ), auf regionale Personifizierungen bestimmter Charakterzüge (Old Lady Mumbauer 17 , Geiziger Grateloup 1 8 ) bzw. auf Kristallisationsgestalten (-» Eulenspiegel 19 , -> Hodscha Nasreddin/Guhä 2 0 , Schlauer -> Peter 21 ); ->· Lokalisierung (Knauser Sepp im Marschfeld 22 , Dorf Coin in der Gemeinde Fontgillarde 23 ). Ausschließlich litau. Texte führen als Protagonisten einen Juden an, der dem Tier auch noch das Saufen abgewöhnen will 24 . Am meisten um Glaubwürdigkeit bemüht wirkt die detaillierte Ausdifferenzierung eines ostpreuß. Textes, der als Protagonisten einen Droschkenkutscher auf dem KaiserWilhelm-Platz in Königsberg anführt 2 5 .

'Philogelos. ed. A. Thierfelder. Mü. 1968, num. 9; Clouston, W. Α.: The Book of Noddles. L. 1937, 2. — 2 The Philogelos or Laughter-Lover. Ubers. Β. Baldwin. Amst. 1983, 55. - 3 Aisopeiön mythön synagöge. ed. C. Halm. Lpz. 1863, num. 176; Babrios/Perry, num. 83. - 4 Marzolph, U.: Philogelos arabikos. In: Der Islam 64 (1987) 185-230, hier 198 sq.; cf. id.: The Qoran and Jocular Literature. In: Arabica 47 (2000) 478-487. - 5 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 674. - 6 cf. Thierfelder (wie not. 1) 146 sq. - 7 Moser-Rath, Schwank, 174, 333; EMArchiv: Freudenberg, Etwas für Alle (1731) 126, num. 205. - 8 EM-Archiv: Wohlgemut, Haupt-Pillen 4 (1669) 174, num. 33. - Overbeke, A. van: Anecdota sive historiae jocosae. ed. R. Dekker/H. Roodenburg (unter Mitwirkung von H. J. van Rees). Amst. 1991, num. 906. — '"Ergänzend zu AaTh: Aräjs/Medne; SUS; Hodne; DBF A 2, 327 = Baughman; van der Kooi; Archiv van der Kooi, Groningen; MNK; Stroescu, num. 3827; BFP; Cirese/Serafini. —

Gelegentlich ist AaTh 1682 durch implizite Anspielung auf eine zwischen zwei Dörfern bestehende Rivalität und Anführung der Tatsache, daß der Dumme seinen Versuch auf Rat eines anderen durchführt 2 6 , als Ortsneckerei ausgeprägt. Das manchmal explizit erwähnte Experiment, die als pure Gewohnheit empfundene Notwendigkeit der Nahrungsaufnahme zu durchbrechen 27 , stellt eine gedankliche Ver-

" Haboucha; Jason, Types = Jason, Iraq; IFA, num. 9621, 14979. - 12 Brendle, T. R./Troxell, W. S.: Pennsylvania German Folk Tales. Norristown 1944, 197; Parsons, Ε. C.: Folk-Lore of the Sea Islands, South Carolina. Cambr., Mass./N. Y. 1923, num. 137; Rael, J. B.: Cuentos espanoles de Colorado y de Nuevo Mejico 2. Stanford [1957], num. 417 (7). - 13 Coetzee. - 14 Ramos, Μ.: Tales of Long Ago in the Philippines. Manila 1953, 9 6 - 9 8 . - 15 MNK; SUS (weißruss.); Karadzic, V. S.: Srpske narodne pripovetke. Belgrad 4 1937, 260, num. 41. - 16 Kooi,

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Pferd: Fliegendes P. - Pferd wird getragen

J. van der/Schuster, T.: Der Großherzog und die Marktfrau. Märchen und Schwanke aus dem Oldenburger Land. Leer 1994, num. 105. - 17 Brendle/Troxell (wie not. 12). - 1 8 Dulac, E.: Histoires gasconnes. P. 1925, 168 sq. - 19 Brendle/Troxell (wie not. 12); Coetzee. - 2 0 Shah, I.: The Exploits of the Incomparable Mulla Nasrudin. L. 1966, 116; Marzolph, U.: Nasreddin Hodscha. Mü. 1996, num. 491; BFP; Haboucha; cf. Hodscha Nasreddin 2, num. 552. 21 BFP. - 22 Lang-Reitstätter, Μ.: Lachendes Österreich. Salzburg 2 1948, 24 ( = Ranke, K.: European Anecdotes and Jests. Kop. 1972, num. 40). - 2 3 Joisten, C.: Contes populaires du Dauphine 2. Grenoble 1971, num. 179. - 2 4 Jurkschat, C.: Litau. Märchen und Erzählungen 1. Heidelberg 1898, 27; Carpenter, I. G.: A Latvian Storyteller. Ν. Υ. 1980, 204 sq. - 25 Humor aus Ostpreußen. Mü. 1952, 34 sq. - 26 Benzel, U.: Volkserzählungen aus dem oberpfalz.-böhm. Grenzgebiet. Münster 1965, num. 204; Stroescu, num. 3827. - 2 7 Dulac (wie not. 18); Lang-Reitstätter (wie not. 22); Joisten (wie not. 23) num. 178. - 2 8 N a r o d n a umjetnost 9 (1972) 127, num. 74. - 29 Joisten (wie not. 23). - 30 Häuften, Α.: Die dt. Sprachinsel Gottschee. Graz 1895, num. 21. 31 West, S.: More Very Old Chestnuts. In: Omnibus 20 (1990) 13 sq., hier 13.

Göttingen

Ulrich Marzolph

Pferd: Fliegendes P. ->• Pegasus

Pferd wird getragen (AaTh 1082, 1201), zwei schwankhafte Erzählungen, die weder genetisch noch typol. miteinander verwandt sind. AaTh 1082: Carrying the Horse gehört thematisch zu den Märchen vom geprellten -» Teufel. Ein Mann (jüngster von drei Brüdern) droht, mit einem Seil die Teufel zu binden oder den See, in dem die Teufel wohnen (den Eingang zur Hölle), zusammenzuziehen (AaTh 1045: cf. Das große Seil). U m dies zu verhindern oder um den Sack mit Gold, den er sich damit erpreßt hat, zurückzugewinnen, fordert ihn ein (junger) Teufel auf Geheiß des Oberteufels (-» Teufelsmutter, Teufelsgroßmutter [-großvater]) zu einem Wettstreit heraus: Er soll ein P. (dreimal, um den See herum) tragen. Der Mann gewinnt, indem er das Tier zwischen die Beine nimmt.

AaTh 1082 kommt fast nie selbständig vor, sondern ist meist konstituierende Episode eines Märchens vom Typ -> Wettstreit mit dem Unhold, im Kern gewöhnlich einer Kombination von AaTh 1045, AaTh 1063: Throwing

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Contest with Golden Club, AaTh 1071: Wrestling Contest with Old Grandfather (i. e. Bär), AaTh 1072: Race with Little Son (i. e. Hase) und AaTh 1082. Je nach Region ist oft noch eine ganze Reihe ähnlicher Motive und Typen enthalten, wie AaTh 1060: Squeezing the (Supposed) Stone, AaTh 1073: -> Wettklettern, -schwimmen (mit einem Eichhörnchen 1 ), AaTh 1084: Contest in Shrieking or Whistling, oder AaTh 330, 330 Α - B : Schmied und Teufel (ung.)2. Am Schluß läßt der Mann oft die Teufel Gold in einen Hut ohne Boden schütten (AaTh 1130: -> Grabhügel)3. Bei den finn.-ugr. Völkern wird diese Kontamination öfter von AaTh 1650: Die drei glücklichen -* Brüder eingeleitet4. AaTh 1082 ist bei den finn.-ugr. Völkern, den Finnlandschweden, im Baltikum, bei Ostund Westslaven, in Rumänien und den östl. Teilen des ehemals dt. Sprachgebiets (in Böhmen, Rumänien, Rußland) sowie bei mittelasiat. Turkvölkern und in Sibirien aufgezeichnet worden5. Der Erzähltyp scheint bes. mündl. verbreitet und nicht sehr alt zu sein; es liegen nur Var.n aus dem 19. und 20. Jh. vor. AaTh 1201: The Plowing ist eine Schildbürger-Geschichte6: Um ein Nutztier (P., Kuh, Stier, Schwein) oder einen Vogel (Storch, Kuckuck) aus einem Feld (Wiese) zu vertreiben, tragen vier (zwei) dumme Männer den Hirten (Feldwächter, Schultheiß) auf einer Tragbahre (Scheunentor, Karren, P.) hinein; oder sie befördern das P., wenn das Feld gepflügt werden soll, zu viert hinein, damit das Korn nicht zertrampelt werde.

Dieser Schwank ist in Nord- und Mitteleuropa und im Baltikum verbreitet7; darüber hinaus gibt es vereinzelt Belege aus Mittelund Vorderasien8. Der früheste europ. Beleg findet sich bei Heinrich Bebel (1508)9. Danach setzt eine breite, u. a. auch von Jacob -» Frey10 und Hans Wilhelm Kirchhof 11 gespeiste, bis ins 19. Jh. gehende literar. Überlieferung ein, die die spätere mündl. deutlich beeinflußt hat. In der mündl. Überlieferung wird der Schwank als -» Ortsneckerei zahlreichen Schildbürgerorten des Verbreitungsgebietes zugeschrieben, im dt. Sprachgebiet ζ. B. Bopfingen 12 , Finsing13, Fockbeck 14 , Ganslosen 15 , Mossenberg16, Schwarzenborn 17 , Reuth 18 , Teterau 19 und Tuschkau 20 . Seit dem -> Lalebuch (1598)21 wird AaTh 1201 auch mit AaTh 1200: Salzsaat ver-

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Pferd: Das hilfreiche P.

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21

k n ü p f t : A u f d e m Feld, a u f d e m die Schildbürger Salz gesät h a b e n , w a c h s e n Brennesseln. U m die ,Salzpflanzen' bei einer I n s p e k t i o n nicht zu zertreten (weil die Brennesseln stechen; u m ein s t r e u n e n d e s Tier zu vertreiben), läßt einer sich h i n e i n t r a g e n 2 2 . A u c h a n d e r e K o n t a m i n a t i o n e n f i n d e n sich gelegentlich, wie ζ. B. mit A a T h 1287: Sich nicht - Ochse2) in Freundschaft verbunden (manchmal sind beide am selben Tag geboren). Als die -» Stiefmutter plant, den Helden zu töten (vergiften), warnt das P. ihn vor der Gefahr und berät ihn, wie er dem Tod entgehen kann (-» Dankbare [hilfreiche] Tiere). Die Stiefmutter täuscht eine Krankheit vor und läßt den Arzt behaupten, sie könne nur geheilt werden, wenn sie ein inneres Organ (Herz, Leber, Lunge) des P.es als Heilmittel zu essen bekomme (Mot. Β 335.2; cf. AaTh 590: Die treulose Mutter). Junge und P. fliehen (durch die Luft; cf. - Askeladden). Oft verbirgt er seine Schönheit unter einer häßlichen, abstoßenden Haut (wie in AaTh 510 B). Bei der Verfolgung durch seine Stiefmutter wird ihm übernatürliche Hilfe zuteil. Die Königstochter erblickt ihn in seiner wahren Gestalt (gelegentlich dreimal) und verliebt sich in ihn; dann

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Pferd erschreckt den Löwen

f ü h r t er u n e r k a n n t weitere T a t e n a u s ( a u c h dies o f t d r e i m a l ) , u n d a m E n d e beweist ein E r kennungszeichen (Wunde, Ring), d a ß der a r m e G ä r t n e r u n d d e r g l ä n z e n d e R i t t e r ein u n d dieselbe P e r s o n sind. D i e g e b r a n d m a r k t e n S c h w ä g e r e n t s p r e c h e n A s c h e n p u t t e l s Stiefschwestern. 1

Ergänzend zu AaTh: Aräjs/Medne; Camarena/Chevalier; BFP; Texte (Ausw.): Dawkins, R. M.: Modern Greek Folktales. Ox. 1953, num. 39; Diller, I.: Zypriot. Märchen. Athen 1982, 116-124; Lajpanov, Ch.: Karacaevskie i balkarskie narodnye skazki. Frunze 1957, 3 6 - 4 0 ; Laude-Cirtautas, I.: Märchen der Usbeken. MdW 1985, num. 20; Peuckert, W.E.: Schlesiens dt. Märchen. Breslau 1932, 263-268; Spies, Ο.: Türk. Märchen. MdW 1967, num. 51. 2 B F P *511 A**; Savory, P.: Bechuana Fireside Tales. Kapstadt 1965, num. 13. - 3 Eberhard/Boratav, num. 301; Jarmuchametov, Ch. Ch.: Tatarskie narodnye skazki. Kasan 1957, 3 - 9 ; Tumilevic, F. V.: Russkie narodnye skazki. Rostov 1958, num. 16; Zelenin, D. K.: Velikorusskie skazki Vjatskoj gubernii. Petrograd 1915, num. 108, cf. num. 75. - 4 Bjazyrov, A. C.: Osetinskie narodnye skazki. Stalinir 1960, num. 4, 10; Eberhard/Boratav, num. 257; Hansen; Karlinger, F./Greciano, G.: Prov. Märchen. MdW 1974, num. 9; Maugard, G.: Contes des Pyrenees. P. 1955, num. 5; Spies (wie not. 1). - 5 Thompson, S.: The Folktale. Ν. Y. 1946, 59, 61. - 6 cf. ζ. B. Fansler, D. S.: Filipino Popular Tales. Lancaster, Pa/N. Y. 1921, num. 46; Redei, K.: Zyrian Folklore Texts. Bud. 1978, num. 31; Rey-Henningsen, M.: The Tales of the Ploughwoman (FFC 259). Hels. 1996, num. 64; Stephani, C.: Märchen der Rumäniendeutschen. MdW 1991, num. 42 sq. - 7 cf. Solymossy, S.: Nepmese-tanulmäny. In: Ethnographia 29 (1918) 277-286; BP 3, 102-104; Barag; Boskovic-Stulli, M.: Istarske narodnye price. Zagreb 1959, num. 15; Gullakjan; Jason; Nevermann, H.: Die Stadt der tausend Drachen. Eisenach/Kassel 1956, 79 sq. (kambodschan.); Kecskemeti/Paunonen; Kurdovanidze; M N K ; Sabitov; Seki, num. 216; SUS; Thompson/Roberts. — 8 Degh, L.: Hungarian Folktales. The Art of Zsuzsanna Palko. Ν. Y./L. 1995, num. 1. - 9 Afanas'ev, num. 571; Zelenin, D. K.: Velikorusskie skazki Permskoj gubernii. Petrograd 1914, num. 2. - 1 0 Propp, V. Ja.: Les Racines historiques du conte merveilleux. P. 1983, 220-236; O'Flaherty, W. D.: Horses. In: Eliade, M. (ed.): Enc. of Religion 6. N. Y./L. 1987, 462-468; Degh, L.: Folktales of Hungary. Chic. 1965, 311; Koväcs, Α.: tältos fiü, a. In: Magyar neprajzi lex. 5. Bud. 1982, 169. "Novikov, Ν. V.: Obrazy vostocnoslavjanskoj volsebnoj skazki. Len. 1974, 79-104; BP 3, 102-104; Afanas'ev, num. 295 sq.; Bazanov, V. G./Alekseev, Ο. B. (edd.): Velikorusskie skazki ν zapisjach I. A. Chudjakova. M./Len. 1964, num. 90; Camarena/ Chevalier; Loorits, O.: Der hl. Georg in der russ. Volksüberlieferung Estlands. Β. 1955, 106-109;

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Mode, Η.: Zigeunermärchen aus aller Welt 1. Wiesbaden 1983, num. 33 (aus Ungarn); Tille, 36 sq.; Parsons, Ε. C.: Folk-Lore from the Cape Verde Islands. Cambr., Mass./N. Y. 1923, 157-164, 167-170. 12 Argenti, P./Rose, H. J.: The Folk-Lore of Chios 1. Cambr. 1949, 500-508; Degh (wie not. 8); Henssen, G.: Dt. Volkserzählungen aus dem Osten. Münster 2 1963, 8 4 - 9 7 ; Jech, J.: Tschech. Volksmärchen. B. 1961, num. 22; Simonsuuri, L./Rausmaa, P.-L.: Finn. Volkserzählungen. B. 1968, num. 52; Die Sonnenrose. Ukr. Märchen. B. 2 1970, 218-231; ZenkerStarzacher, E.: Eine dt. Märchenerzählerin aus Ungarn. Mü. 1941, 107-127. - 13 BP 3, 102 sq.; Zenker-Starzacher (wie not. 12) 107-127; Haiding, K.: Österreichs Märchenschatz. Wien 1980, num. 63. 14 Loorits (wie not. 11) 109-113; Eberhard/Boratav, num. 158 III 1, cf. num. 258. - 15 Degh, L.: Folktales and Society. Bloom. 1968, 290 sq.; Solymossy (wie not. 7). Los Angeles

Christine Goldberg

Pferd erschreckt den Löwen ( A a T h 118), T i e r m ä r c h e n ü b e r e i n e n W e t t s t r e i t z w i s c h e n einem schwächeren und einem kräftemäßig ü b e r l e g e n e n Tier 1 . Ein altes P. und ein -> Löwe messen sich darin, wer stärker auf einen Stein (Felsen) schlagen kann. Während das P. mit seinen Hufen Feuer schlagen kann, gelingt dies dem Löwen (Bären, Tiger) nicht (oder er preßt statt dessen Wasser heraus). Der sich unterlegen fühlende Löwe sucht daraufhin (meist verängstigt) das Weite und berichtet einem -» Wolf von den ungewöhnlichen Kräften des P.es. Dieser zeigt sich jedoch unbeeindruckt davon bzw. prahlt damit, schon viele solcher Tiere gefressen zu haben. Der Wolf wird von dem Löwen aus Versehen zu Tode gedrückt, als dieser ihm das ungewöhnliche P. zeigen will und ihn dorthin trägt (hochhebt); der Löwe glaubt aber, der Wolf sei vor Schreck beim bloßen Anblick des P.es gestorben 2 . A a T h 118 ist v o r allem in N o r d e u r o p a (finn., litau., russ., lett. Var.n) v e r b r e i t e t u n d g e h ö r t z u einer G r u p p e v o n E r z ä h l u n g e n , in d e n e n ein altes Arbeitstier (P., Esel) a u f ein wildes Tier t r i f f t u n d z u e i n e m W e t t s t r e i t h e r a u s g e f o r d e r t w i r d (selbst d a z u a u f f o r d e r t ) , u m festzustellen, w e r s t ä r k e r ( m ä c h t i g e r ) ist; d a s s t ä r k e r e Tier u n t e r l i e g t (cf. A a T h 103 C*: Old Ass Turned out by Master Meets Bear or Lion3, A a T h 125 Β*: Ass Overawes Lion4 u n d bes. A a T h 1074: cf. - Wettlauf der Tiere). I n litau. u n d w e i ß r u s s . E r z ä h l u n g e n tritt A a T h 118 in V e r b i n d u n g m i t A a T h 1074 a u f . H i e r bestreitet d e r L ö w e n a c h d e m T o d des W o l f s n o c h einen

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Pferdekopf: Der sprechende P.

Wettlauf mit dem Igel, den er verliert; daraufhin verläßt er das Land 5 . Dieser Umstand dient als Begründung dafür, warum es Löwen in der Gegend nicht mehr gibt. 'Ergänzend zu AaTh 118: Rausmaa; Aräjs/Medne; Kerbelyte; Kippar; SUS; Ο Süilleabhäin/Christiansen; Cirese/Serafini; M N K 118 A*; Robe. - 2 z . B. Cappeller, C.: Litau. Märchen und Geschichten. B. 1924, num. 6; Sväbe, Α.: Latvju tautas pasakas 2. Riga 1923, num. 42; Sejn, P. V.: Materialy dlja izucenija byta i jazyka russkago naselenija severo-zapadnogo kraja 2. SPb. 1893, num. 12; Barag, L. G.: Beloruss. Volksmärchen. B. 1966, num. 98; Reicht, K.: Märchen aus Sinkiang. MdW 1986, num. 2; Simonides, D. und J.: Märchen aus der Tatra. MdW 1994, num. 37. - 3 Ergänzend zu AaTh 103 C*: SUS; M N K ; Pujol; Camarena/Chevalier; Delarue/Teneze; STF, num. 157; Marzolph; Robe. - 4 Ergänzend zu AaTh 125 B*: Aräjs/Medne; Cirese/Serafini; Berze Nagy, num. 133*; STF, num. 157; Ting; Schwarzbaum, Fox Fables, 198, 200 (not. 18), 335. - 5 Cappeller (wie not. 2); Barag (wie not. 2).

Göttingen

Martina Lüdicke

Pferdekopf: Der sprechende P. (AaTh 533), Zaubermärchen aus dem Themenbereich der unschuldig verfolgten -» Frau (Kap. 3.1.2), dessen bekannteste Fassung K H M 89: Die Gänsemagd ist. Eine verwitwete Königin schickt ihre Tochter zu deren Verlobtem, einem Königssohn in einem fremden Reich. Als Begleitung gibt sie ihr eine Kammerjungfer mit; magischen Schutz sollen ein Läppchen mit drei Tropfen vom -» Blut der Mutter und ein sprechendes Pferd namens Falada bieten. Die Zofe weigert sich, ihre Herrin zu bedienen, die dann beim Trinken aus dem Fluß das Zauberläppchen verliert. Dies ermöglicht es der Zofe, sie zu einem -> Kleidertausch zu zwingen; die Königstochter muß schwören, keinem Menschen etwas davon zu erzählen und ihr Schicksal mit -• Schweigen zu ertragen (-• Geduld). Der Prinz heiratet die falsche Braut, und die echte Prinzessin verdingt sich als Gänsemagd. Als die falsche Ehefrau das Pferd vom Schinder töten läßt, bringt die Prinzessin dessen Knecht dazu, den P. an einem Tor festzunageln, durch das sie täglich mit der Herde zieht. Tag für Tag grüßt die Gänsehirtin den P. mit einer formelhaften Wendung, und der P. bedauert das ihr wiederfahrende Unrecht. Weil sie dem Gänsejungen Kürdchen mit einer Zauberformel den Hut vom Wind wegblasen läßt, beschwert sich dieser beim König. Daraufhin beobachtet der alte König die Gänsemagd und bringt sie dazu, einem Eisenofen ihr Leid zu klagen (-» Eideslist; cf. AaTh 894: - Geduldsteiri). Die Wahrheit

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kommt ans Licht, und die wahre Braut heiratet den Königssohn. Die hinterhältige Zofe spricht sich unwissentlich ihr eigenes - Nagelfaß zu Tode geschleift 1 .

K H M 89 stammt von der Erzählerin Dorothea Viehmann aus dem hess. Zwehren (bei Kassel) und erscheint seit der Erstausgabe im 2. Band der K H M (1815, num. 3) mit nur geringfügigen Veränderungen am Wortlaut des Textes. Die Ausstrahlungskraft der GrimmVersion zeigt sich an den zahlreichen Var.n aus mündl. Überlieferung, die aus Ost-, Nord- und Mitteleuropa, Asien, Afrika und Nord- sowie Mittelamerika vorliegen 2 . Zentral für AaTh 533 ist das retardierende Motiv der unterschobenen Braut (Kap. 6). Das ->· Amulett der Mutter entspricht wie der sprechende P. einer archaisch-magischen Wirklichkeitsauffassung (-> Archaische Züge im Märchen; -> Magisches Weltbild) 3 , die hier vor dem Hintergrund einer bäuerlichen Realität erscheint. Falada als Name des Pferdes erinnert an Pferdenamen in der ma. Lit., etwa Rolands Pferd Veillantif (Valentich, Velentin, Valentin) und Willehalms Pferd Volatin (Valatin, Valantin) 4 . Das Motiv des sprechenden P.s steht möglicherweise in Zusammenhang mit einem Glauben an sprechende Tiere, auf den bereits bei Tacitus (Germania 10) angespielt wird. - Schadenzauber einsetzten (cf. Köpfe auf Pfählen) 5 . Phänomenologisch ist auch der Bereich magischer -> Pars pro toto-Vorstellungen zu erwähnen. Der Erzähltyp ist relativ stabil, jedoch werden einzelne Elemente häufig abgewandelt. Ein sprechender P. findet sich bes. in dt.sprachigen Märchen sowie in einer fläm. Var.6; in einem frz. Märchen wird ein Eselskopf über das Tor gehängt, der jedoch nicht spricht 7 . In einer russ. und einer finn. Var. warnt ein Hund die Heldin und wird von der Magd verstümmelt 8 ; in einer nordafrik. Fassung warnen Schneckenhäuser, und Kamele enthüllen das Geheimnis ihrer Hüterin, da sie aus Mitleid mit ihrer Herrin nicht fressen 9 ; in einer jakut. Var. enthüllt ein sprechendes Pferd den wahren Rang der Heldin 10 ; in einer nordamerik. Var. wird das Gespräch der Prinzessin mit ihrem Hund belauscht 11 ; in einem Märchen aus

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Pferdekopf: Der sprechende P.

Madagaskar muß das Mädchen Vögel verscheuchen, denen sie ihr Leid klagt, die Echtheitsprobe wird mit einem Stier gemacht 12 ; in einem mordwin. Märchen ruft das Mädchen Vögel mit einem Lied zur Hilfe 13 ; in einer ung. Var. läßt die falsche Königin dem Zauberpferd den Kopf abschlagen, als es seine Trauer ausdrückt 14 . Auch in Var.n aus Madagaskar ist der sprechende P. oft durch Allomotive (Vogel, Ziege, Geist der Mutter, Stier) ersetzt 15 . Die Eingangspassage erscheint gelegentlich variiert: Manchmal ist die Heldin eine Braut auf dem Weg zum Bräutigam 16 , manchmal eine Schwester, die ihren Bruder (Brüder) (be)suchen will 17 , ein Mädchen auf dem Weg zu seinem Onkel (weil der Vater Familie und Besitz von einer Schlange fressen ließ) 18 oder eine Prinzessin, die mit ihrer Gesellschaftsdame ausreitet — diese zwingt sie zum Kleidertausch und nimmt ihr die Brosche der Mutter ab 19 . Der magische Schutz kann gewährleistet werden durch ein Tuch 20 oder eine Brosche 21 mit Blutstropfen der Mutter, zwei Tränen der Mutter auf der Brust, die weggespült werden (mordwin.) 22 ; einen mitgegebenen Goldapfel (frz.) 23 oder ein von der Mutter gefertigtes Armband aus Goldfäden und ihren eigenen Haaren 2 4 . Meist wird die Heldin von ihrer Dienerin zum Kleidertausch gezwungen 25 . In einer jakut. Var. reißt die Tochter eines Ungeheuers der Heldin die Haut vom Gesicht und legt sie sich selbst auf 26 ; in einem Berbermärchen schlägt die Sklavin das Mädchen mit einem schwarzen Wollknäuel und sich mit einem weißen 27 . Es kann auch vorkommen, daß die Tante ihre eigene Tochter als Schwester des Königs 28 oder die Stiefmutter ihre häßliche Tochter als Braut 29 ausgibt. An bes. Fähigkeiten der Heldin wird häufig das Beschwören des Windes genannt. Daneben heißt es einmal, daß ihr beim Sprechen rote Glasperlen herabprasseln, beim Gehen schwarze Zobel hinter ihr herlaufen 30 , oder sie hat Macht über die Tiere 31 . K H M 89, von Heinrich Heine als Ausdruck einer geheimen Befreiungsutopie des um seine Rechte betrogenen Volkes gedeutet 32 , war eines der am frühesten illustrierten Grimm-Märchen. Das Motiv des sprechenden P.s wurde erstmals von Ludwig Emil Grimm für die erste Kleine Ausg. (1825) und dann

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1826 von George Cruikshank für die Übers, der K H M ins Englische illustriert. Es blieb zusammen mit der Szene, in der die Gänsemagd den Wind beschwört, die beliebteste bildliche Darstellung des Märchens. In Ausg.n, die nur eine einzige Illustration pro Märchen enthalten, zeigt die Wahl des sprechenden P.s, daß die Künstler Märchenheldinnen gern als schwach darstellen 33 . In jap. Ausg.n bevorzugen männliche Illustratoren, bes. des 20. Jh.s, den sprechenden P., während jap. Illustratorinnen die Gänsemagd gern bei der Beschwörung des Windes darstellen 34 . 1

Lüthi, M.: So leben sie noch heute. Göttingen 1969, 120 sq. - 2 Ergänzend zu AaTh: Aräjs/Medne; Kecskemeti/Paunonen; SUS; Ο Suilleabhäin/Christiansen; van der Kooi; de Meyer, Conte; Tomkowiak; Cirese/Serafini; M N K ; BFP; Eberhard/Boratav, num. 75; Jason, Types; Gullakjan; Kurdovanidze; Ergis, num. I l l , 228; Sabitov; Ting; Haring; Arewa; Schmidt, num. 972; Flowers; Baughman; Delarue/Teneze, app.; allg. cf. Rausmaa, P.-L.: Syöjätär ja yhdeksan veljen sisar (Die Unholdin und die Schwester mit 9 Brüdern). Hels. 1967. - 3 K H M / Uther 4, 170. - 4 BP 2, 274. - 5 cf. BP 2, 275. 6 KHM/Uther, num. 89; Neumann, S.: Mecklenburg. Volksmärchen. B. 1971, num. 99; Jb. der Dobrudschadeutschen 13 (1968) 141-143. - 7 Cosquin 2, num 61. - 8 Bazanov, V. G./Alekseeva, Ο. B.: Velikorusskie skazki ν zapisjach I. A. Chudjakova. M./ Len. 1964, num. 109; Rausmaa, P.-L.: Suomalaiset kansansadut 1. Hels. 1988, num. 82. - 9 Laoust, E.: Contes berberes du Maroc 1. P. 1949, num. 98 (Übers. Topper, U.: Märchen der Berber. MdW 1986, num. 13). - 10 Versinin, Α.: Skazki narodov nasej rodiny. Gor'kij 1962, 4 9 - 5 4 . "Campbell, M.: Tales from the Cloud Walking Country. Bloom., Ind. 1958, 4 5 - 4 7 . - 1 2 Razafindramiandra, Μ. N.: Märchen aus Madagaskar. MdW 1988, num. 24. - 13 Versinin (wie not. 10) 9 4 - 1 0 0 . - 14 Berze Nagy. - 15 Haring. - 16 K H M / Uther, num. 89; Neumann (wie not. 6). - 1 7 Bazanov/Alekseeva (wie not. 8); Rausmaa (wie not. 8); Versinin (wie not. 10) 94-100; Cosquin 2, num. 61; Laoust (wie not. 9). - 18 Razafindramiandra (wie not. 12). - 1 9 Dietz, J.: Aus der Sagenwelt des Bonner Landes. Bonn 1965, num. 840. - 20 K H M / Uther, num. 89; Neumann (wie not. 6); Jb. der Dobrudschadeutschen (wie not. 6). 21 Dietz (wie not. 19). - 22 Versinin (wie not. 10) 9 4 - 1 0 0 . - 23 Cosquin 2, num. 61. - 2 4 Campbell (wie not. 11). - 25 KHM/Uther, num. 89; Dietz (wie not. 19); Neumann (wie not. 6); Bazanov/Alekseeva (wie not. 8); Razafindramiandra (wie not. 12); Laoust (wie not. 9). - 26 Versinin (wie not. 10). 27 Laoust (wie not. 9). - 28 Cosquin 2, num. 61. 29 Campbell (wie not. 11). - 30 Versinin (wie not. 10). -

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Pflanzen

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Razafindramiandra (wie not. 12); Versinin (wie not. 10) 9 4 - 1 0 0 . - 3 2 Heine, H.: Hist.-kritische Gesamtausgabe der Werke 4. ed. M. Windfuhr. Hbg 1985, 1 1 9 - 1 2 3 , 1127-1133. - 3 3 Thym-Hochrein, N.: The Illustrations of Grimms' Fairy Tales. Illustrations of „The Goose-Girl" and Their Relation to the Style and Structure of the Tale. In: Papers 4. The 8th Congress for the I S F N R [...] 1984. ed. R. Kvideland/T. Selberg. Bergen 1985, 2 9 9 - 3 2 4 ; Bottigheimer, R. B.: Iconographic Continuity in Illustrations of „The Goosegirl". In: Children's Literature 13 (1985) 4 9 - 7 1 . - 3 4 ead.: Illustration and Imagination. In: Fellowship Program Researchers' Report. Osaka 1999, 7 1 - 1 0 6 (engl.), 4 7 - 7 0 (jap.).

Stony Brook, Ν. Y.

Ruth B. Bottigheimer

Pflanzen bieten als standortverhaftete organische Lebensform die Lebensvoraussetzungen für die meisten Tiere sowie für den Menschen (-> Baum; -> Blume; ->• Frucht, Früchte) 1 . Nach dem bibl. Bericht von der Schöpfung wurden die P. vor den Tieren und der Menschheit am dritten Tag erschaffen (Gen. 11). Gott erscheint als der erste Gärtner: Er ,pflanzte' einen Garten und setzte den Menschen hinein (Gen. 2,8). Im Ν. T. werden P. als Metapher für Menschen benutzt:,Gottes Ackerfeld' bezeichnet die Menschen allg. (1. Kor. 3,9), der ,gute Same' steht für die Kinder Gottes und das ,Unkraut' für die Kinder des Bösen (Mt. 13,38). In der griech. Antike waren P. Attribute bestimmter Gottheiten: Die Ähre war der Vegetationsgöttin Demeter, die Weinrebe dem Gott der Ekstase (und Fruchtbarkeit) Dionysos, die Myrte (cf. AaTh 652 A: -> Myrte) der Liebesgöttin Aphrodite zugeordnet 2 . Heute sind P. allg. zu beliebten Symbolen geworden: Sie stehen für Werden und Vergehen, für Jugend und Schönheit, für Anmut und Bescheidenheit, für Trost und Unsterblichkeit, für Leben und Tod, für Hoffnung und Wiedergeburt etc. 3 Nach populärer Vorstellung sind P. mit allen Lebewesen wesensverwandt (cf. auch Magisches Weltbild). Menschen können aus P. entstehen (VQlospä 17,18) oder im Tod in P. weiterleben (-»· Grabpflanzen; Ovid, Metamorphosen 8,621 - 6 2 3 ) . Nach der Überlieferung der Edda bildeten die Götter das erste Menschenpaar, indem sie aus der Esche einen Mann, aus der Ulme eine Frau formten 4 . Von der Entstehung der ersten Menschen aus Bäumen (Mot.

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A 1251) berichten auch andere Erzählungen. Andererseits werden Philemon und Baucis nach ihrem Tod als Eiche und Linde zu Hütern des Tempels, den sie im Leben betreuten. In Erzählungen spiegelt sich die Breite der menschlichen Einstellung zu den P.5, die sich von ihrer praktischen Einschätzung als unterster Stufe der Hierarchie des Lebendigen bis zur Einsicht in ihre Unabdingbarkeit als unersetzliche Partner des Menschen im ökologischen Kreislauf erstreckt. P. werden vor allem wegen ihrer vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten sowie wegen ihrer Regenerierbarkeit geschätzt. P. bieten Schutz, sie erzeugen Wärme, und sie stehen als Nahrung und Heilmittel (-> Heilen, Heiler, Heilmittel) zur Verfügung. In Mitteleuropa thematisieren zahlreiche Erzählungen den zentralen Stellenwert des Getreides als Grundnahrungsmittel (-» Ährenfrevel, -> Kornlegende; AaTh 1030: -» Ernteteilung., AaTh 1446: Laßt sie -> Kuchen essen!). Obwohl etwa die Hälfte der K H M und darüber hinaus viele andere Erzählungen P. erwähnen, kann man selten von ausgesprochenen Pmärchen reden. Treten P. als Protagonisten auf, werden sie mit menschlichen Eigenschaften versehen, so daß sie entsprechend handeln können (-> Anthropomorphisierung). Analog zur Rolle des Tieres in Tiermärchen erscheinen gelegentlich helfende oder dankbare P ; dem Tierbräutigam entspricht die ,P.braut' (AaTh 407: Blumenmädchen; AaTh 408: Die drei - Orangen)6. In K H M 123, AaTh 442: The Old Man in the Forest findet der in einen Baum verwandelte Königssohn Erlösung zur früheren Menschengestalt. In Märchen können P. lachen und weinen, sprechen, singen, sich aktiv verhalten und sogar fortbewegen. In AaTh 480: Das gute und das schlechte Mädchen erscheint häufig ein sprechender Apfelbaum, dem das Mädchen die schweren Früchte abschüttelt und der sie dann vor der Hexe verbirgt 7 . In einem siebenbürg. Zigeunermärchen erscheint dem Helden die ->• Seele seiner Mutter als blaue Blume, die ihm den rechten Weg weist 8 ; ähnlich zeigt sich bes. in oriental. Var.n von AaTh 510 B: cf. -> Cinderella (Kap. 1.3) die verstorbene Mutter der Heldin in einem Baum; derartige Motive sind möglicherweise als Konkretisierungen des Konzeptes der -> Wiedergeburt (cf. -> Seelen-

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Pflanzen

Wanderung) zu verstehen. Kinder, die sich ein Ehepaar lange vergeblich wünschte, wachsen in P. (Heidelbeerzweig, Basilikumtopf 9 , Myrtenzweig, Ginsengpflanze; Mot. Τ 543: Birth from plant) heran 10 . Parallel dazu erscheint häufig das Motiv der wunderbaren -· Nuß) enthalten überraschende Gaben" oder verhüllen menschliche Gestalten (cf. K H M 88, AaTh 425: Amor und Psyche)12. Oft dienen P. als Requisit, das der regionaltypisch prägenden Vegetation (-» Natur) entnommen ist. In Erzählungen bilden sie somit sowohl für die Protagonisten als auch für die Zuhörer ein vertrautes Element. In K H M 47, AaTh 720: -> Totenvogel steht den Hörern oder Lesern die norddt. Heidelandschaft, die durch den angeführten Wacholder geprägt wird, vor Augen. Die in K H M 12, AaTh 310: -> Jungfrau im Turm genannten Rapunzeln sind typisch für Deutschland und dienen als begehrte Speise nach der wenig abwechslungsreichen Winterernährung; rom. (frz., ital.) Var.n führen die Petersilie an. Die riesige Speisepflanze in K H M 146, AaTh 1960 D: cf. Die ungewöhnliche -» Größe wird regionaltypisch als Rübe (Kohlkopf etc.) vorgestellt. Der vor allem im Mittelmeerraum belegte Erzähltyp AaTh 879: -> Basilikummädchen reflektiert offenbar den südeurop. Brauch der Blumensprache: Hält ein Mädchen Basilikum am Fenster, so bedeutet dies, daß es frei und heiratswillig ist 13 .

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ter suchen (-• Wintergarten; cf. auch Grimm DS 463). Bei P. mit kräftigen Wirkstoffen sind Funktion, Heilkraft oder auch -> Giftstoffe häufig im Namen verdeutlicht, ζ. B. in den dt. Bezeichnungen Gottesgnadenkraut, Ehrenpreis, Beinwell, Beifuß, Lungenkraut, Gichtrose, Tausendgüldenkraut, Augentrost, Rosmarin, Pestwurz, Brennessel, Teufelsabbiß, Tollkirsche, Bilsenkraut oder Stechapfel. Zahlreiche P. werden aufgrund ihrer unerklärbaren Wirksamkeit als zauberkräftig angesehen 14 . Heilpflanzen (cf. Mot. D 1518.4.1, D 1503.10) wie das -> Lebenskraut oder die Lilie können Tote wiederbeleben ( K H M 16, AaTh 612: Die drei - Schlangenblätter; K H M 44, AaTh 332: -» Gevatter Tod). Die Heilkraft des Johanniskrauts soll auf -» Johannes Baptista zurückgehen: Johannisöl wird mit seinem Blut bzw. seiner Enthauptung in Verbindung gebracht 15 . In AaTh 566: -> Fortunatus wie auch in Wilhelm

Hauffs Kunstmärchen Der kleine Muck werden zauberkräftige P. (Salat, Äpfel, Birnen) erwähnt, deren Genuß in einen Esel verwandelt bzw. die Menschengestalt zurückgibt (die - Farn werden als Zauberpflanzen angesehen. In ind. und chin. Märchen spielt der Kürbis (Mot. D 981.11), der magische Geschenke (etwa den -> Schlüssel zur Schatzhöhle) bergen kann, eine Rolle 16 . Auch eine unbekannte schöne Blume kann sich als Schlüssel zum Schatz erweisen (cf. Grimm DS 304): Als der Habgierige die Blume in der Schatzhöhle zurückläßt, wird er vergeblich ermahnt: ,Vergiß das Beste nicht'; danach kann er den Schatz nicht mehr finden. Eine wichtige Funktion haben P. ferner in folgenden Märchen: In AaTh 313 sqq.: MaWeitverbreitet sind P.ätiologien, die in allen gische Flucht werden nach hinten geworfene Erzählgattungen erscheinen. Darauf deuten Gegenstände zu schwer überwindbaren Hinschon die sprechenden Namen von Blumen dernissen (Dornenhecke, Wald etc.). Auch in und Kräutern hin. Die Namen geben zum Teil K H M 50, AaTh 410: - Schlafende Schönheit Rätsel auf oder fordern zu Erklärungen herist die Dornenhecke ein zentrales Requisit. In aus, die zu Mythen, Legenden, Märchen, SaK H M 3, AaTh 710: —• Marienkind wie auch in gen und Liedern gestaltet wurden. Aussehen, K H M 11, AaTh 450: - Brüderchen und Farbe, Duft und Standort von P. gaben häufig Schwesterchen werden die Helden in der WildAnlaß für die Bezeichnung: ζ. B. Frauenmannis ausgesetzt (-• Aussetzung), P. bieten ihnen tel, Löwenzahn, Tränendes Herz, Kaiserkrone, Schutz; Nahrung erhalten sie durch Wurzeln, Rittersporn. In der Antike wurden in ätiologiBeeren und Nüsse. In K H M 13, AaTh 403: cf. schen Erzählungen Blumen mit Lieblingen der Die schwarze und die weiße ->• Braut soll die Götter in Zusammenhang gebracht. -• Ovids Stieftochter im Papierkleid Erdbeeren im WinMetamorphosen enthalten zahlreiche derartige

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Pflanzen

Erzählungen, so zu Adonisröschen (10,710— 739), Hyazinthe (10,162-205), Lorbeer (1,452-567), Narzisse ( - Narziß; 3,341-510) oder Zypresse (10,106-142). Auch in zahlreichen Marienlegenden finden sich Beispiele von P.ätiologien: In KHM, Kinderlegende num. 7: Muttergottesgläschen werden die roten Streifen in der Winde als Reste der Weintropfen erklärt, die Maria aus der Blüte trank (Mot. A 2655 + A 2711.4.3); in KHM, Kinderlegende num. 10: Die Haselrute vertreibt Maria mit der Rute eine Schlange von ihrem Kind, seither gilt die Haselstaude als Schutz gegen Schlangen (Mot. A 2711.4.1). Bes. häufig erscheint in Märchen, Sagen, Zaubersprüchen und Volksliedern die Wegwarte, die in Volksglauben, Brauch, Volksmedizin und Liebeszauber eine Rolle spielt (cf. Grimm DS 120)17. Als Anaphrodisiakum soll sie Begierden hemmen und wird so zum Symbol der Keuschheit und Treue. So berichtet die ätiologische Prosaüberlieferung seit der Antike vom Entstehen dieser Pflanze aus der sehnsüchtig nach ihrem Geliebten, dem Sonnengott, Ausschau haltenden Clythia, der sie nach einer rasenden Tat ihrer Eifersucht verschmäht (Ovid, Metamorphosen 5,256-270).

Gründe für die Entstehung von Rglauben und Rsagen sind vielfaltig. Zum einen spielt ein auffälliges Außeres der Blüten in Form und Farbe eine Rolle, zum anderen sind es aber auch auffallend gestaltete Rteile unter der Erde, wie die handförmig geformte Wurzel des Knabenkrautes oder die Wurzelstöcke des Teufelsabbisses, die die Phantasie der Menschen anregten (-» Mandragora) 18 . Auch stark aromatische oder unangenehm riechende P. forderten ebenso wie stachelige und dornige P. zur Sagenbildung heraus19: -» Hexen benutzen Kräuter mit narkotischer und halluzinogener Wirkung für ihre Hexensalbe (-• Salbe, salben), um zum Hexensabbat zu fliegen; dabei werden bes. giftige Nachtschattengewächse (Bilsenkraut, Stechapfel, Alraune, Tollkirsche), außerdem Eisenhut und Fliegenpilz erwähnt 20 . Ein weiterer Anlaß des Erscheinens von P. in Sagen liegt in einer außergewöhnlichen Blüte- und Vegetationszeit, wie etwa bei der Herbstzeitlose21. Übernatürliche Wesen (-> Kulturheros) lehren die Menschen die apotropäische Wirkung von Pflanzen (cf. Grimm DS 61). Die geweihten Kräuter Hobrat (arabratum), Widertot und Speik vertreiben den Teufel - ein Re-

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zept, das dieser leichtsinnigerweise selbst preisgibt22. Knoblauch dient zur Abwehr von Vampiren. P. werden benutzt als Springwurzel (cf. Grimm DS 9) und als Wünschelrute, um Schätze aufzuspüren. 1

cf. allg. Krampen, M. (ed.): P.lesebuch. Hildesheim u. a. 1994. - 2 Lurker, M.: Wb. der Symbolik. Stg. 1991, 569. - 3 Danckert, W.: Symbol, Metapher, Allegorie im Lied der Völker. 3: P. Bonn-Bad Godesberg 1978; Lurker (wie not. 2) pass. - 4 Leyen, F. von der: Das Märchen in den Göttersagen der Edda. B. 1899, 11-13. - 5 Allg. Lit. cf. Bendel, J.: P.märchen und P.legenden. Den Haag s. a.; Bornhorst, J./ Reling, H.: Unsere P. nach ihren dt. Volksnamen [...]. Gotha 1889; Erb, J.: Blumenlegenden. Kassel 1954; Graffunder, P.: Die Rose in Sage und Dichtung. Prag 1896; Kronfeld, Ε. M.: Sagenpflanzen und P.sagen. Lpz. 1919; Leibrock-Plehn, L.: Hexenkräuter und Arznei. Stg. 1992; Marzeil, H.: Pflanze. In: H D A 6 (1934/35) 1704-1716; Mercatante, Α.: Der magische Garten. Zürich 1980; Murr, J.: Die P.welt der griech. Mythologie. Innsbruck 1890 (Groningen 1969); Perger, A. Ritter von: Dt. P.sagen. Stg. u . a . 1864 (Nachdr. Wiesbaden 1988); Rätsch, C.: Lex. der Zauberpflanzen aus ethnol. Sicht. Graz 1988; Schöpf, H.: Zauberkräuter. Wiesbaden 1992; Seligmann, S.: Die magischen Heil- und Schutzmittel aus der belebten Natur. Mü. 1996; Stamm, C.: Kräuter der Vergangenheit. Thayngen 1992; Strantz, M. von: Die Blume in Sage und Geschichte. B. 1875. - 6 Horn, K.: Das Große im Kleinen. Eine märchenspezifische Übertreibung. In: Fabula 22 (1981) 250-271, hier 258 sq. - 7 Briggs, K./Michaelis, R.: Engl. Volksmärchen. MdW 1978, num. 5. - 8 Aichele, W./ Block, M.: Zigeunermärchen. MdW 1980, num. 27. - 'Meier, K./Karlinger, F.: Span. Märchen. MdW 1961, num. 6. - 10 Bäcker, J.: Märchen aus der Mandschurei. MdW 1988, num. 58. " H o r n (wie not. 6) 252-257. - 1 2 Megas, G. Α.: Griech. Volksmärchen. MdW 1982, num. 42. 13 Karlinger, F.: Inselmärchen des Mittelmeeres. MdW 1960, 306. - 14 cf. Bandini, D. und G.: Kleines Lex. des Hexenswesens. Mü. 1999; Engel, F. M.: Zauberpflanzen — P.zauber. Hannover 1978; Habrich, C.: Hexenkraut und Heilpflanzen. Ingolstadt 1988; Marzeil, H.: Zauberpflanzen, Hexentränke. Stg. 1963; id.: Geschichte und Vk. der dt. Heilpflanzen. (Stg. 1938) Darmstadt 1967. - i s c f . Marzeil, H.: Johanniskräuter. In: H D A 4 (1931-32) 743-745. - 16 Eberhard, W. und Α.: Südchin. Märchen. MdW 1976, num. 107; Eberhard, Typen, 58, 221. - 17 Marzeil, H.: Wb. der dt. P.namen 1. Lpz. 1943, 990-992. - 18 Rehling, H./Brohmer, P : Unsere P. in Sage, Geschichte und Dichtung. Dresden 1922, 101. - 19 ibid., 31. - 2 0 Peuckert, W.-E.: Hexensalben. In: Medizinischer Monatsspiegel 8 (1960)

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Pflegesohn des Waldgeistes - Pflichtenzettel

169-174; Beckmann, B. und D.: Das geheime Wissen der Kräuterhexen. Mü. 1999. 21 Dh. 2, 270. - 22 Petzoldt, L.: Dt. Volkssagen. Mü. 1970, num. 467.

Freiburg/Br.

Gertraud Meinel

Pflegesohn des Waldgeistes (AaTh 667), Zaubermärchen mit folgender Grundform: Ein Junge, der von seinem Vater in einer Notlage dem -> Waldgeist (Troll, Drakos) versprochen worden ist (-» Kind dem Teufel verkauft oder versprochen), erhält von ihm die Fähigkeit zur -> Tierverwandlung. Er befreit eine von dem Dämon gefangengehaltene Prinzessin und wird von einem betrügerischen Adligen, der sich selbst als Retter der Prinzessin ausgibt, ins Meer geworfen. Der Betrug wird aufgedeckt, der Junge heiratet die Prinzessin.

AaTh 667 ist hauptsächlich in dän., schwed., finnlandschwed., russ. und weißruss. Var.n bekannt 1 , die teils unvollständig sind, teils auch unter AaTh 302: Herz des Unholds im Ei2 eingeordnet worden sind. G. A. Megas hat griech. Var.n behandelt, die gewisse Gemeinsamkeiten mit AaTh 667 aufweisen, ζ. B. zu Beginn den Drakos 3 als Ziehvater des Jungen, der ihm übernatürliche Fähigkeiten verleiht 4 . Die Geschehnisse am Ende sind jedoch recht weit entfernt von AaTh 667 (Megas' Klassifikationsvorschlag: *667 A). Verwandt damit sind auch die von Megas vorgestellten türk. und rumän. Var.n. Kennzeichnend für diese und weitere balkan. Märchen ist eine enge Verbindung zu AaTh 302 B, 318: cf. Das ägypt. -> Brüdermärchen und AaTh 506 B: The Princess Rescued from Robbers. AaTh 667 ist nur schwer als eigener Typ einzuordnen. Die Erzählung enthält zahlreiche Elemente, die auch in vielen anderen Erzähltypen enthalten sind. In verschiedenen Typenkatalogen und anderen Quellen wird daher unter AaTh 667 und den ihm zugeordneten Märchen auch auf weitere AaTh-Typen verwiesen. Bes. zeigt AaTh 667 Verwandschaft zu AaTh 316: -> Nixe im Teich, AaTh 325: ->• Zauberer und Schüler, AaTh 505, 506: cf. Dankbarer Toter, AaTh 552: ->• Tierschwäger, AaTh 553: -> Rabe als Helfer, AaTh 554: cf. -> Dankbare (hilfreiche) Tiere, AaTh 665: -» Mann, der wie ein Vogel flog und wie ein Fisch schwamm.

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1 Ergänzend zu AaTh: Archiv G. A. Megas, Athen; SUS; Ergis, num. 110; Levinsen, N.: Folkeeventyr fra Vendsyssel. ed. L. Badker. Kop. 1958, num. 4; Christensen, N.: Folkeeventyr fra K Ehe- bzw. -> Herr und KnechtSchwänke zugehöriger und bes. in Mitteleuropa verbreiteter Erzähltyp, der in der spätma. Überlieferung folgende Normalform hat: Eine in allem untadlige Frau bittet ihren stets besserwisserischen Ehemann schließlich, ihr doch einen P. zu schreiben, aus dem sie ersähe, was an Arbeit zu tun sei. Auf dem Rückweg von einer Kirchweih fällt der betrunkene Mann in einen Bach und bittet seine Frau um Hilfe. Sie antwortet, erst müsse sie zu Hause im P. nachsehen, ob das Herausholen auch zu ihren Pflichten gehöre. Der Mann hilft sich mit letzter Anstrengung selbst wieder heraus. Er zerreißt den P., seine Nörgeleien hören künftig auf.

Der älteste Beleg findet sich im 14. Jh. in der Exempelsammlung Summa predicantium (H 1,16) des Dominikaners John Bromyard innerhalb von Beispielgeschichten über das Eheleben und daraus entstehende Konflikte. Demonstriert wird, in welche Notlage ein Ehemann unvermittelt geraten kann, wenn er seiner eigentlich friedfertigen Ehefrau kein verantwortungsvolles eigenes Handeln zugesteht. Abgesehen von vereinzelten Übernahmen setzt eine nennenswerte Nachwirkung erst im 16. Jh. mit Johannes Pauli 1 und Hans -» 2 Sachs und weiteren dt. (auch als Meistergesang), dän., ndl., ital., span, und frz. Fassungen in Schwank-, Novellen- und Exempelsammlungen ein und erreicht im 17./18. Jh. ihren Höhepunkt 3 : AaTh 1562 Β ist in den meisten - vor allem dt. - Schwank- und Anekdotenbüchlein vertreten 4 und gelegentlich noch im 19. Jh., etwa bei August Friedrich Ernst Langbein (in Versform) und bei Achim von -> Arnim, zu finden5.

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Pflug, Pflügen

Allerdings variieren seit dem 17./18. Jh. die Handlungsträger. Aus der Konstellation Ehemann/Ehefrau wird das Figurenpaar Herr/ Diener. Die Handlungsabfolge ist auf den sozialen -» Konflikt zugespitzt, der sich aus dem fehlerhaften Verhalten des Herrn ergibt 6 . Der zeittypisch nicht selten mit gleichem Wortlaut tradierte Schwank stellt je nach Funktion drei unterschiedliche Konfliktsituationen vor. Zum einen ist der ,wunderliche' Dienstherr (Lehrherr, Adliger, Student) allein Zielscheibe des deftigen Spotts (er fallt in den Straßendreck), zum andern der einfältige Diener, wenn es von ihm heißt, er wolle sich nur an die schriftl. getroffene Vereinbarung halten und habe jegliche Hilfe verweigert. Daneben ist aber auch — häufiger — eine Fassung verbreitet, die einen listigen und sich durch einen Arbeitskontrakt mit P. absichernden oder sich scheinbar einfältig gebenden Diener (Jungen) zeigt, der gewissermaßen in Umkehrung tatsächlicher sozialer Verhältnisse als Vertreter des diskriminierten -> Gesindes den Herrn ,vorführt' 7 . Im Verlauf der Überlieferung erhalten die ursprünglich längeren Texte fast durchwegs anekdotischen Charakter. Trunkenheit zur Charakterisierung des hilflosen Herrn wird seltener bemüht. Im Unterschied zu den älteren Fassungen spielt der Ausgang (Selbsthilfe und Geloben von Besserung) keine Rolle mehr. Statt eines Harmonieeffekts tritt der soziale Konflikt offen zutage. Einige wenige mündl. überlieferte und ζ. T. detailreiche Fassungen liegen seit Mitte des 19. Jh.s in Aufzeichnungen aus Finnland 8 , Dänemark 9 , Norddeutschland 1 0 , Friesland 11 , Rußland 1 2 und Ungarn 1 3 vor. Die Handlungsträger sind Meister und Geselle, zwei Kaufleute, Groß- und Kleinbauer oder Eheleute: In allen Fassungen zieht der sozial Höherstehende den kürzeren. Daß der seine Frau bevormundende Ehemann zur Vernunft kommt, scheint in der neueren Überlieferung singulär zu sein 14 . Die relativ große geogr. Ausdehnung des Verbreitungsgebiets läßt darauf schließen, daß der Stoff nichts von seiner Aktualität eingebüßt zu haben scheint, während die geringe Zahl der aufgezeichneten Schwänke auf Desinteresse der Sammler und Herausgeber zurückzuführen sein mag. 1 Pauli/Bolte, num. 139. - 2 ζ. Β. Sachs, Η.: Sämtliche Fabeln und Schwänke 3. ed. E. Goetze/K. Drescher. Halle 1900, num. 60. - 3 Nachweise cf. Zs. für

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vergleichende Litteraturgeschichte 1 (1888) 54; BP 3, 151; Pauli/Bolte 1, 294 sq. (zu num. 139); Chevalier, M.: Cuentos folklöricos en la Espana del Siglo de Oro. Barcelona 1983, num. 180. - 4 EM-Archiv: Exilium melancholiae (1643) num. 39; Gerlach, Eutrapeliae 1 (1647) num. 775; Zincgref-Weidner 3 (1653) 327; de Memel (1656) num. 302; Talitz, Kurtzweiliger Reysgespan (1663) 105 sq.; Wohlgemuth, Haupt-Pillen 2 (1669) num. 15; Sommer-Klee (1670) num. 128; Lyrum larum (1700) num. 52; HanßWurst (1712) 332; Hanß-Wurst (1718) 100; Historien-Schreiber 2 (1729) num. 66; Helmhack, FabelHannß (1729) num. I l l ; Polyhistor 2 (1729) num. 91; Freudenberg, Etwas für alle (1731) num. 52; Schreger, Studiosus jovialis (1752) 669; Schreger, Zeit-Vertreiber (1754) 468 sq.; Bienenkorb 1 (1768) num. 112; cf. auch Moser-Rath, Schwank, 152, 285, 287 sq. - 5 Pauli/Bolte 1, 294 sq. - 6 cf. zum folgenden die in not. 3 und 4 genannten Belege. — 7 ζ. B. Ketzel (1607) 160. - 8 Simonsuuri, L./Rausmaa, P.L.: Finn. Volkserzählungen. B. 1968, num. 110. 9 Christensen, Α.: Molboernes vise Gerninger. Kop. 1939, num. 92. - 1 0 Kooi, J. van der/Schuster, T.: Der Großherzog und die Marktfrau. Leer 1994, num. 118 (Oldenburg.). 11 Dykstra, W.: Uit Friesland's volksleven van froeger en later 2. Nachdr. Leeuwarden 1966, 114-116. - 12 Archiv für slav. Philologie 13 (1890) 399. 13 Kovacs, Α.: König Mätyas und die Rätoter. Lpz./ Weimar 1988, 65. - 14 van der Kooi/Schuster (wie not. 10).

Göttingen

Hans-Jörg Uther

Pflug, Pflügen. Der Pflug (P.) ist eine Weiterentwicklung des ältesten Bodenbearbeitungsgeräts Grabstock oder Haken. P.e wurden zunächst aus Holz, später aus Bronze oder Eisen hergestellt 1 und besitzen als Werkzeug der kultivierenden Tätigkeit (cf. Erde) des -> Bauern in der Menschheitsgeschichte fundamentale Bedeutung 2 . Die ersten pflugähnlichen Geräte entstanden im Vorderen Orient und sind seit etwa 2000 a. Chr. n. auch in Europa nachzuweisen. Wurde der sog. Hakenpflug zunächst von Hand gezogen, belegen archäologische Funde das Auftreten des Pes mit Rädern und Zugtieren für die Bronzezeit 3 . Klassisches Anspannvieh waren der -» Ochse bzw. das Rind; dies ist ikonographisch seit dem 11. Jh. belegt 4 . Als kultischer Gegenstand steht der P. als Symbol für Fruchtbarkeit 5 , so beim rituellen Pflügen in Verbindung mit der Frühjahrsbestellung des Landes 6 . Mit dem P. verbunden ist der Rechtsbrauch, daß so viel Land als Lehen erlangt werden konnte, wie an

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Pflug, Pflügen

einem Tag gepflügt wurde (cf. -> Gründungssage) 7 . P.e wurden auch als Opfergabe für eine gute Ernte dargebracht 8 . Im Volksglauben wird dem P. oft eine magische Wirksamkeit zugeschrieben, ζ. B. gegen Viehverhexen 9 oder zur Heilung von Krankheiten 10 . Die Zauberkraft kann durch Feuer noch verstärkt werden, wie etwa in einer kanad. Erzählung, in der ein Mensch durch ein im Ofen erhitztes P.eisen von einem Fluch erlöst wird (Mot. Μ 429.4). Als Probe für ein Gottesurteil wird das Laufen über glühende P.scharen verlangt, wie ζ. B. in der Sage von Kaiser Heinrich und seiner Frau -• Kunigunde (Grimm DS 483). Die magische Funktion des P.es zeigt sich auch in der Vorstellung, daß durch Pflügen -> Regen erzeugt werden könne (Mot. D 2143.1.5; ind.). Ein goldener P. verleiht außergewöhnliche Fähigkeiten, wie in einer ind. Erzählung, in der ein goldener P. und ein goldenes Joch den Helden befähigen, mit zwei Ochsen an einem Tag alles Land innerhalb der Ortsgrenzen zu pflügen (Mot. D 1620.2.7). Steht das Pflügen im allg. als Synonym für männliche Tätigkeiten, dient der P. auch der bildlichen Umschreibung für Unterjochung und Unterwerfung, wie ζ. B. in Heiligenlegenden, in denen ein Wolf (Bär), der eines der Zugtiere gefressen hat, zu dem anderen (Hirsch, Ochsen) vor den P. gespannt wird (AaTh 1910: -> Bär [Wolf] im Gespann). Gleiches geschieht mit dem besiegten Drachen in AaTh 300 A: Drachenkampf auf der Brücke oder dem Menschenfresser (bret.; Mot. G 675). Entsprechend seiner zentralen Bedeutung in ländlich-bäuerlichen Gesellschaften findet der P. im Erzählgut häufig Verwendung als Requisit. Er tritt in solchen Gattungen auf, die stärker den gesellschaftlichen Alltag reflektieren, wie in Sagen, die den Ursprung des P.s behandeln (Mot. A 1441.1). In vor allem osteurop. Var.n der Erzählung von -> Adam beim Pflügen begegnet das Pflügen als Motiv im Wettstreit zwischen Gott und dem -> Teufel um die Herrschaft über Lebende und Tote, Himmel und Erde (-> Dualismus, Kap. 5)11. In einem solchen Wettstreit wird der Teufel durch eine List besiegt: Gott tauscht den von ihm vorgespannten Hasen gegen das Pferd des Teufels aus, während dieser schläft (Mot. Κ 41.1; lett.). Mit mythischen Vorstellungen verbun-

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den scheinen Sagen, in denen ein Schatz herausgepflügt wird: So findet in finn., litau. und estn. Var.n einer Sage ein Mann einen Schatz, als er statt mit herkömmlichem Zugvieh mit einem Hahn pflügt und mit einer Henne eggt (Mot. Ν 543.2). Eine Sage aus dem alpinen Raum greift die Vorstellung auf, beim Pflügen auf unergiebiger Ackerfläche einen Schatz heben zu können 12 . Pflügen an Feiertagen gilt wie jede andere Arbeit auch als Frevel 13 . In ma. Exempelsammlungen finden sich Belege für die Bestrafung von Verstößen gegen die Sonntagsheiligung, wenn an einem kirchlichen Feiertag gepflügt wird oder ein Bauer seinen P. an einem Sonntag repariert 14 . In einer westfäl. Sage zieht der Teufel in Gestalt eines schwarzen Pferdes einen Bauern, der nach dem Abendläuten noch pflügt, in einen in Meeresnähe gelegenen Pfuhl 15 . Ein Tabu stellt das Pflügen mit einem Esel und einem Ochsen im Gespann dar (Mot. C 886; jüd.). Die Beschwerlichkeit des Pflügens greifen Erzählungen auf, in denen die Protagonisten bestimmten Prüfungen unterzogen werden und dabei unlösbar erscheinende -» Aufgaben erfüllen müssen, wie ζ. B. eine große Menge Land an einem Tag zu pflügen (Mot. Η 1103.2; südosteurop.). Für eine solche Leistung bedarf es übernatürlicher Kräfte, wie sie etwa der Teufel besitzt, der für einen Bauern an einem Tag das Land pflügt und Korn sät (Mot. G 303.9.2.3; hess.) 16 . Riesen sind erforderlich, um einen großen P. zu bewegen, mit dem ein Fluß umgeleitet werden soll (Region um Aschaffenburg) 17 . Ein Bauer, der einen Zwerg in seine Gewalt bringt, verspricht ihm die Freiheit, wenn er ihm einen P. anfertigt, „der so leicht ist, daß ihn schon [sein] kleinstes Füllen ziehen kann" (Rügen) 18 . Außergewöhnliche Leistungen erbringen P.e, die von Schlangen hergestellt und von Tigern gezogen werden (Mot. F 887.1; ind.). Die Bedeutung des P.s in bäuerlichen Gesellschaften thematisieren Sagen um die Saligen aus Südtirol, in denen Dienstmägde nach ihrem Tod auf die Erde zurückkehren müssen, um die zu Lebzeiten nur ungenügend verrichteten Arbeiten nachzuholen. Gingen sie eine Ehe ein, war die Voraussetzung für ihren Verbleib unter den Menschen, daß ihr Gatte sie weder mit ihrem Namen anreden oder das Wort Sonne aussprechen noch ihnen mit dem Handrücken über

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Pflug, Pflügen

Stirn und Wange fahren durfte. Andernfalls verschwanden sie wieder und kehrten nur noch bei Nacht kurz zurück, um ihre Kinder zu versorgen und im Frühjahr dem Mann den P. vor dem Haus herzurichten, zur Erinnerung daran, daß die Felder bestellt werden mußten (Die gestörte ->· Mahrtenehe) 19 . Auf die ökonomische Bedeutung des Pflügens verweisen auch ind. Erzählungen, in denen Umsicht und Geschicklichkeit als Voraussetzung für die ordnungsgemäße Bedienung eines P.s in den Mittelpunkt gerückt werden. Zeichnet sich der Kluge dadurch aus, daß er eine angemessene Zahl an Zugtieren vor den P. spannt (Mot. J 1179.11), befiehlt der Dumme dem P., die Wurzeln, auf die er stößt, zu durchpflügen, was zur Folge hat, daß dieser die Beine der Ochsen zerschneidet (Mot. J 2465.8; cf. ferner Mot. J 2465.12). Durch Dummheit gekennzeichnet sind auch Handlungen, in denen die Funktion des Pflügens mißverstanden wird, wie etwa in einer Erzählung der nordamerik. Indianer, in der Kartoffeln aus der Erde gepflügt werden (Mot. J 2465.13). An Schildbürgergeschichten erinnern schwankhafte Var.n von AaTh 1201: - Essen, so die Arbeit). In Märchen pflügen Wesen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, wie ζ. B. der Däumling (AaTh 700), der im Ohr eines Pferdes (Ochsen) sitzt und den P. lenkt. In K H M 90, AaTh 650 A: - Starker Hans (ζ. B. K H M 90: Der junge Riese) tritt der P. als Motiv im Zusammenhang mit außergewöhnlicher -»

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Stärke auf. Der Sohn eines Bauern, vom Däumling zum Riesen geworden, pflügt das Feld, indem er sich selbst vor den P. spannt. Ein P., der ohne Zugvieh und Räder pflügt, findet Erwähnung in K H M 158, AaTh 1930: -> Schlaraffenland. Magische Funktion hingegen kommt dem P. in K H M 127, AaTh 425 A: cf. -» Amor und Psyche) zu: Der jungen Königstochter, die sich auf die Suche nach ihrem Bräutigam begibt, wird ein P.rad als Zaubergabe mitgegeben, mit dessen Hilfe sie ein unüberwindbar erscheinendes Hindernis bewältigt. In sprichwörtlichen Redensarten dient der P. vor allem der Veranschaulichung von Arbeit, wie ζ. B. bei der Redewendung ,Hand an den P. legen', um eine Arbeit zu beginnen, oder mit jemandem ,an einem P. ziehen', also gemeinsame Sache machen 22 . In unterschiedlichen Bedeutungszusammenhängen findet P. bzw. Pflügen in Sprichwörtern vielfaltige Verwendung. Meist dienen sie zur metaphorischen Umschreibung von ambivalenten Eigenschaften wie Fleiß oder Faulheit bei der Arbeit (ζ. B. g e b r a u c h t e r P. blinkt, stehendes Wasser stinkt'; ,Gebrauchter P. rostet nicht'). Mühe gilt als Voraussetzung für Lohn (,Wer den P. führt hin und her, dessen Speicher wird nicht leer'). Nicht zur Sache kommen findet einen bildlichen Ausdruck in dem Sprichwort ,Er wird so lange pflügen, bis er nicht mehr wird eggen können'. 1 Kothe, H.: Zur Verbreitung und Geschichte des P.es. Diss, (masch.) Göttingen 1947; Koren, Η.: P. und Arl. Ein Beitr. Zur Vk. der Ackergeräte. Salzburg 1950; Narr, K. J.: Frühe P.e. In: Mittigen der Anthropol. Ges. in Wien 92 (1962) 228-238; Hansen, W. (ed.): Arbeit und Gerät in volkskundlicher Dokumentation. Münster 1969; Steensberg, Α.: Agrartechnik der Eisenzeit und des frühen MA.s. In: Unters.en zur eisenzeitlichen und frühma. Flur in Mitteleuropa und ihrer Nutzung 2. ed. H. Beck/ D. Denecke/H. Jankuhn. Göttingen 1980, 5 5 - 7 6 ; Feest, C. F.: Technologie und Ergologie in der Völkerkunde. B. 1980; Sperber, H.: P.e, Eggen, Ackerwalzen. Ausstellungskatalog Großweil 1980; Löbert, H. W.: Aus der Geschichte des P.es. Hösseringen 1985, 1 - 4 . - 2 Gellner, E.: P., Schwert und Buch. Grundlinien der Menschheitsgeschichte. Mü. 1993, 14-23; Steensberg (wie not. 1) 56. - 3 Löbert (wie not. 1) 1. - 4 Hägermann, D.: P. In: Lex. des MA.s 6. Mü./Zürich 1993, 2048 sq. - 5 Heckscher, K.: P. In: H D A 6 (1934-35) 1718-1726, hier 1719; Narr (wie not. 1) 234. - 6 Narr (wie not. 1) 234; Moser,

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Pforr, Anton von

D.-R.: Fastnacht - Fasching - Karneval. Das Fest der „Verkehrten Welt". Graz u. a. 1986, 264-266. 7 H D A 6, 1722 sq. - 8 H D A 6, 1724. - 9 Zender, M.: Sagen und Geschichten aus der Westeifel. Bonn 1937, num. 1023. - 10 HDA 6, 1724. " Dh. 1, 236, 239. - 12 Brunold-Bigler, U.: Hungerschlaf und Schlangensuppe. Hist. Alltag in alpinen Sagen. Bern/Stg./Wien 1997, num. 13. - 13 HDA 6, 1725; Heckscher, K.: Pflügen. In: HDA 7 (1935-36) 1 sq. - 14 Tubach, num. 3823, 4135 c. - 15 Kuhn, Α.: Sagen, Gebräuche und Märchen aus Westfalen und einigen anderen [...] Gegenden Norddeutschlands 1. Lpz. 1859, num. 381. - ,6 Wünsche, Α.: Der Sagenkreis vom geprellten Teufel. Lpz. 1905, 50 sq. — 17Ebermann, O.: Sagen der Technik. Lpz. s.a., num. 52. - 18 ibid., num. 54. - 19 Fink, H.: Geräte in Sagen. In: Volkskundliche Wanderungen durch Südtirol, ed. S. de Rachewiltz. Dorf Tirol 1989, hier 45. - 20 Crane, Τ. F.: Italian Popular Tales. L. 1885, num. 37. 21 Moser-Rath, Schwank, 140. - 22 Röhrich, Redensarten 2, 1175.

Göttingen

Martina Lüdicke

Pforr, Anton von, * Breisach um 1410—15, f 20. 03. 1483, Verf. der dt. Übers, des Directorium humanae vitae des -» Johannes von Capua 1 . Α. von P. stammte aus einer Breisacher Patrizierfamilie, deren Ursprünge im Burgundischen oder in Pfohren bei Donaueschingen vermutet werden 2 . Er ist in geistlichen Funktionen seit 1436 in mehreren Orten des Breisgaus belegt (1436 accolitus in Jechtingen [Abtretung 1470]; 1437 cappelanus in Breisach; 1455 decanus in Endingen; 1463 rector in Müllheim; 1472 rector in Rottenburg-Sülchen) 3 . Seine geistlichen Ämter übte er aber nicht ständig aus, vielmehr wurden ihm als Rat und Gesandter von Württemberg., bad. und pfälz. Fürsten sowie vom Konstanzer Bischof Hermann von Breitenlandenberg ( 1 4 7 0 - 7 2 ) oft juristische und diplomatische Missionen anvertraut. Seit ca 1455 war er in der Umgebung der Pfalzgräfin Mechthild ( 1 4 1 9 - 8 2 ) tätig. 1455 wurde er von deren zweitem Gatten, Erzherzog Albrecht VI. von Österreich, in einem Rechtsstreit als „ain gemainer commissari und gesatzter richter" eingesetzt, 1458 nennen ihn von Mechthild ausgestellte Schlichtungsurkunden; 1460 wurde er (wohl ehrenhalber) in die Matrikel der von Albrecht und Mechthild gestifteten Univ. Freiburg eingetragen, 1468 von Mechthild zum

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Exekutor ihres (vorletzten) Testaments bestimmt; spätestens seit 1472 war er Kirchherr in Rottenburg, Mechthilds Witwensitz; 1477 wurde er als dritter in die Matrikel der von Mechthilds Sohn Eberhard (V., ,im Barte', 1 4 4 5 - 9 6 ) gegründeten Univ. Tübingen aufgenommen. Offenbar nur ein einziges Mal und dies bereits im hohen Alter betätigte sich A. von P. literar. U m 1470 entstand seine Übers, des Directorium humanae vitae als Buch der Beispiele der alten Weisen, um dessen Erforschung sich bes. F. Geißler verdient gemacht hat. Mit ihm gelangte erstmals ein Fundus oriental. Erzählstoffe (-> Kaiila und Dimna; Sieben weise Meister) in die dt. Lit. Den Anstoß zu A. von P.s Übers, gab Eberhard im Barte 4 . Dessen Interesse dürfte der ursprünglich primär auf Fürstenerziehung zugeschnittenen Weisheitsethik gegolten haben, die in den dialogischen Rahmenhandlungen der 17 Kap. des Buchs und den darin als je selbständige Einheiten eingefügten Fabeln, Schwänken und Beispielen vermittelt wird. In Bestand und Anordnung unterscheidet sich A. von P.s Übers, nicht vom Directorium des Johannes von Capua 5 , geringe Abweichungen von der l a t . , N o r malversion' gehen wohl auf Spezifika der unbekannten unmittelbaren hs. Vorlage zurück (so auch als Ergänzung gegenüber Johannes von Capua die Fabel von den dankbaren Turteltauben [Kap. 15,1; Dicke/Grubmüller, num. 561; cf. Mot. Β 562.1.3]: Als D a n k für ihre Freilassung verraten zwei Turteltauben ihrem Wohltäter das Versteck eines Schatzes in einer Baumwurzel). A. von P.s Sprache ist ambitionslos, doch sehr gewandt und leicht verständlich, er greift in seiner Einl. weder in die zeitgenössische Diskussion um Übers.sstile ein, noch sucht er den Vergleich mit anderen, ins Deutsche übernommenen Fabelsammlungen seiner Zeit (bes. Heinrich -> Steinhöwels Esopus\ Ulrich von Pottensteins Buch der natürlichen Weisheit). Behielt das Buch der Beispiele nicht zuletzt durch die enge Verbindung zu Eberhard von Württemberg 6 zunächst noch den Charakter eines Fürstenspiegels, so trug die Übernahme in reich ill. Drucke 7 dazu bei, es schnell zu popularisieren. Die Holzschnitte der noch zu Lebzeiten A. von P.s entstandenen Frühdrucke (Urach 1480/81, Nachdr. 1481/ 82 8 ; Ulm 1483, Nachdr.e 1483, 1484) prägten

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Pforr, Anton von

die Bildausstattung der dt. Drucke des 15. und 16. Jh.s, bis an ihre Stelle 1565 eine Holzschnittserie aus der Werkstatt Virgil Solis' in Frankfurt trat. A. von P.s Übers, bildete die Grundlage für Übertragungen in nordwesteurop. Volkssprachen9. Dan. nach einem der beiden Straßburger Drucke J. Frölichs (1539 oder 1545) von Christen Nielssen: De Gamle Vijses Exempier oc Hoffsprock [...]. Kop. 1618 (Nachdr. ca 1680-87)'°; ndl. nach einer jüngeren dt. Druckausg.: Voorbeelsels der oude wyse, handelende van trouw, ontrouw, list, haet, geswindicheyt, ende alle andere menschelijcke gheneghentheden uut d'Indisch spräche [...] ende nu in de Duytsche vertaelt, verciert met vele rijmspreucken vnde figueren door Zacharias Heyns. Zwolle 1623 (Nachdr.e Amst. 1634, 1724); isl. nach dem Frankfurter Druck von N. Bassee 1578: vollständige, jedoch jüngste Fassung geschrieben von Olaf Jonsson, 1777, älteste Fassung (fragmentarisch) vor 1711, ferner zwei Hss. des 18. Jh.s 11 .

Als Stoffquelle wurde A. von P.s Buch der Beispiele von den dt. Exempel-, Schwank-, Meisterlied- und Sprichwortautoren des 16. Jh.s rege benutzt (Johann Geiler von Kaysersberg; Hans Sachs; Valentin -> Schumann; Johannes -> Pauli; Hans Wilhelm -» Kirchhof; Johannes Agricola)12. Zu einem gewissen Eigenleben in der Nachfolge A. von P.s gelangte das 10. Kap. des Buchs der Beispiele: die Erzählung von König Sedras, der seinem Ratgeber Billero befiehlt, die Königin Helebat wegen eines Vergehens zu töten — was Billero jedoch vortäuscht (Mot. Κ 512), um den König, der seinen unbedachten Befehl bald bereut, über seine Herrscherpflicht zu bedachtsamen Handlungen belehren zu können. Hans Sachs bearbeitete den Stoff als Ein comedi, mit XXIII personen zu agieren: König Sedras mit der Königin Helebat und Pillero, dem fürsten13; mehrere isl. Hss. des 18. Jh.s liefern Bearb.en (ζ. T. in Reimen)14. In Deutschland geriet A. von P.s Buch der Beispiele schon im 17. Jh. in Vergessenheit, um - nach der Wiederentdekkung unter den Fabelautoren der Aufklärung 15 - erst im 19. Jh. eine neue Popularität (ζ. B. durch Märchenbücher von A. L. -> Grimm und L. Bechstein16) wie auch das Interesse von Gelehrten (T. -> Benfey17) zu gewinnen. 1 Gerdes, U.: Antonius von P. In: Verflex. 1 ( 2 1978) 402-406; id.: A[nton] v[on] Pforr. In: Lex. des MA.s 1. Mü. 1980, 733 sq.; Kienig, C.: Antonius von P. In:

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Lit.-Lex. Autoren und Werke dt. Sprache 1. ed. W. Killy. Gütersloh 1988, 190-192. - 2 Geißler, F.: A. von P., der Übers, des „Buches der Beispiele". Urkundliche Belege zum Lebensweg des Humanisten am Hof der Erzherzogin Mechthild zu Rottenburg. In: Zs. für Württemberg. Landesgeschichte 23,1 (1964) 141-156, hier 143; Wappennachweise der Familie von P. ibid., 144 sq. - 3 Urkundliche Belege ibid.; cf. auch Bärmann, M.: „Wann er hieby vnd mit vnd ein vrrtaedinger diser Ding gewesen ist". Ein neuer urkundlicher Beleg zu Antonius von P. In: Daphnis 26 (1997) 179-185. - 4 cf. Gedächtnisrede des Tübinger Theologen Konrad Summenhart auf Eberhard im Barte (Tübingen 1498); cf. Mertens, D.: Eberhard im Bart und der Humanismus. In: Eberhard und Mechthild. Unters.en zu Politik und Kultur im ausgehenden MA. ed. H.M. Maurer. Stg. 1994, 3 5 - 8 1 ; Piontek, F.: Ein Fürst und sein Buch. Beitr.e zur Interpretation des „Buchs der Beispiele". Göppingen 1997. - 5 Ford, A. J.: The Art of Translation. A Comparison of John of Capua's Directorium vitae humanae and A. v. P.'s Das Buch der Beispiele der alten Weisen. Diss. New Orleans 1977; zu charakteristischen Erzählstoffen bei Johannes von Capua cf. EM 7, 581 sq. - 6 Die Hs. Chantilly, Musee Conde, Ms. 680, dürfte als Widmungshs. aufzufassen sein; zur Bildausstattung der Hss. und Drucke v. Katalog der dt.sprachigen ill. Hss. des MA.s 2. ed. H. Frühmorgen-Voss/N. H. Ott. Mü. 1996, 360-392; Bodemann, U.: Bildprogramm und Überlieferungsgeschichte. Die ill. Hss. und Frühdrucke des „Buchs der Beispiele der alten Weisen" A.s v. P. In: Beitr.e zur Geschichte der dt. Sprache und Lit. 119 (1997) 67-129. - ' B e k a n n t sind 17 Drucke des 15. und 16. Jh.s, cf. Geißler, F.: Die Drucke des Buches der Beispiele der alten Weisen (Copinger 1360, Hain 4028-4033 und spätere Drucke). In: Beitr.e zur Inkunabelkunde 3 (1967) 18-46. - 8 Diese wurden sowohl in den Erstdruck des lat. „Directorium" (Straßburg ca 1486) wie auch in dessen span. Übers, übernommen (Exemplario contra los enganos y peligros del mundo. Zaragoza 1493; Nachdr.e: Zaragoza 1494, Burgos 1498, Zaragoza 1509, 1521, 1531). - 9 cf. Geißler, F.: Hss. und Drucke des „Directorium vitae humanae" und des „Buches der Beispiele". In: Mittigen des Inst.s für Orientforschung 9 (1963) 433-461; id.: Das „Pancatantra" und seine mitteleurop. Fassungen. In: Laographia 22 (1965) 117-125. - 10 Nielssen, C.: De Gamle Vijses Exempier oc Hoffsprock (1618) 1 - 2 . ed. L. Bodker. Kop. 1951/53. 11 cf. Geißler, F.: Die isl. Hss. des „Buches der Beispiele der alten Weisen". In: Fabula 5 (1962) 15-47, bes. 2 0 - 2 7 . - 1 2 cf. Dicke/Grubmüller, Reg. s. v. A. von Pforr, Johann von Capua; Eischenbroich, Α.: Die dt. und lat. Fabel in der Frühen Neuzeit 1 - 2 . Tübingen 1990, bes. t. 2, 2 6 - 3 4 und 156-161. 13 Hans Sachs 16. ed. A. von Keller/E. Goetze. Tübingen/Stg. 1886 (Nachdr. Hildesheim 1964), 144-191. - 14 cf. Geißler (wie not. 11). 7 ^ K ä s t ner, A. G.: Nachricht von einer alten dt. Übers, des

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Phäaken — Phädrus

Buches Kelila und Dimne. In: id.: Vermischte Sehr. 1. Altenburg 1755, 219-232. - 16 Grimm, A. L.: Kindermährchen. (Heidelberg 1809) Nachdr. Darmstadt 1992, VIII; Bechstein, L.: Neues dt. Märchenbuch. ed. H.-J. Uther. MdW 1997, 339 sq. (10 Nummern). - 17 Benfey, T.: Ueber die alte dt., auf Befehl des Grafen Eberhardt von Würtenberg abgefasste Uebersetzung des Kalilah und Dimnah, insbesondere deren ältesten Druck und dessen Verhältniss zu der span. Uebersetzung. In: Orient und Occident 1 (1862) 138-187. A u s g . η : Das Buch der Beispiele des alten Weisen. Nach Hss. und Drucken, ed. W. L. Holland. Stg. 1860 (Nachdr. Amst. 1969). - Faks.: Das Buch der Weisheit. Gedruckt und vollendet durch Lienhart Hollen zu Ulm nach Christo Geburt MCCCCLXXXIII iar auff den XXVIII tag des mayenß. ed. R. Payer von Thum. Wien 1925. — Bidpai. Das Buch der Beispiele alter Weisen. Eine altind. Fabel· und Novellensammlung nach der dt. Übers, einer Hs. des XV. Jh.s. ed. H. Wegener. Β. 1926. - P., Α. von: Das Buch der Beispiele der alten Weisen. 1: Text; 2: Einl., Beschreibung der Hss. und der Drucke, Lesartenapparat, Typen-, Motiv-, Namenund Sachverz.se. ed. F. Geißler. B. 1964/74. - Buch der Beispiele der alten Weisen, ed. W. Uhl. Unterschneidheim 1970 (Faks.).

München

Phäaken

Ulrike Bodemann

Homer

Phädrus, Dichter lat. Fabeln in Versform (Liber fabularum). Die verläßlichen biogr. Informationen sind dürftig 1 : Nach eigenem Bekunden wurde P. in Pierien (in der röm. Provinz Macedonia) geboren (Buch 3, Prolog, 17-19); ob man Buch 3, Prolog, 20 entnehmen darf, seine Mutter sei Ehefrau oder Dienerin eines Lehrers gewesen 2 , ist zu bezweifeln 3 . Die Annahme einer Lebensspanne von ca 15 a. Chr. n. bis ca 50 p. Chr. n. 4 gründet sich auf die Datierung der Bücher 1, 2 und vielleicht auch 3 in die Zeit vor dem Tod des Lucius Aelius Seianus (31 p. Chr. n.) 5 und die Tatsache, daß der Dichter am Ende des 5. Buches von seiner nachlassenden Lebenskraft spricht (Fabel vom altersschwachen Jagdhund; eindeutiger Selbstbezug: 5,10,10) 6 . Daß P. Sklave war und von Augustus (gest. 14 p. Chr. n.) freigelassen wurde, ist nicht abwegig, aber nur durch die Hss. des 9. Jh.s belegt. Über die Gönner, denen die Bücher 3, 4 und

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5 gewidmet sind (3, Prolog, 2: Eutychus; 4, Prolog, 10 und 4, Epilog, 5: Particulo; 5,10,10: Philetus), ist nichts weiter bekannt. Die Publ. der ersten beiden Bücher brachte P. in Schwierigkeiten: Seianus, der einflußreiche Kommandant der Leibgarde des Tiberius, fühlte sich durch Äußerungen des Dichters angegriffen und scheint ihn in einen Prozeß verwickelt zu haben (3, Prolog, 38—50). Informationen, die über diese Fakten hinausgehen, sind in bisweilen problematischer Weise aus dem Werk gewonnen und durch keine anderen Zeugnisse gesichert 7 . Die in der einzigen umfangreicheren erhaltenen Hs. (Codex Pithoeanus, 9. Jh.) 8 überlieferten 94 Fabeln repräsentieren nicht den vollen Bestand der von P. veröff. Bücher 9 , sondern gehen vermutlich auf eine spätantike Anthologie zurück 10 . Der Codex Pithoeanus bewahrt eine wohl authentische Einteilung in fünf Bücher mit Pro- und Epilogen 11 und enthält Indizien einer bewußten Komposition des Einzelbuches nach Art der Dichtung augusteischer Zeit 12 . Eine andere Anthologie lag der von Niccolö Perotti (1430-80) angefertigten Epitome zugrunde, die erst 1809 ediert wurde 13 . Sie enthält neben zahlreichen Fabeln der Bücher 2—5 weitere 32 Stücke, die als sog. Appendix Perottina das Corpus auf 126 Fabeln erweitern, sich allerdings nicht mehr einzelnen Büchern zuordnen lassen. In welchem Umfang die Prosa-Paraphrasen des -> Romulus, des Romulus Nilantinus und des Codex Wissemburgensis auf verlorene Fabeln des Ρ zurückgehen, ist umstritten 14 . Charakteristisch für die Sprache des P. sind der Verzicht auf rhetorischen Prunk sowie das Streben nach Knappheit; Versmaß ist der iambische Senar in einer der Bühnendichtung, bes. dem Mimus, nahestehenden Form 1 5 , wobei die Möglichkeiten des Metrums zur Realisierung des poetischen Anliegens genutzt werden 16 . P. selbst bezeichnet seine Dichtungen als Fabeln ,nach Art des Äsop' (fabellae Aesopiae; 4, Prolog, 10 sq.). Er beruft sich auf Äsop (1, Prolog, 1 sq.) als den Erfinder der Gattung bzw. des Stoffes, den er aufgreift 17 , ohne damit einen Verzicht auf inhaltliche Variation und Innovation auszusprechen 18 . Gleichwohl kann (mit der durch die Uberlieferungslage gebotenen Vorsicht) eine Entwicklung konstatiert werden: Bei etwa der Hälfte des Bestandes

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Phädrus

könnte es sich um originäre Schöpfungen des P. handeln, weitere Fabeln stellen Variationen traditionellen Erzählguts dar; der Anteil innovativer Elemente ist in den Büchern 3—5 deutlich größer als in den Büchern 1 und 219. Das Corpus ist von thematischer und formaler Vielfalt. Als Fabeln im engeren Sinne sind nur knapp zwei Drittel der Stücke zu bezeichnen20; daneben finden sich zahlreiche andere Genres. Äsop tritt als Protagonist von Anekdoten auf (2,3; 3,3; 3,5; 3,14; 3,19; 4,5; app. 9,13, 17, 20)21, die bisweilen als Rahmenerzählungen dienen (1,2; app. 12; cf. 1,6; 4,18). Weitere Anekdoten handeln vom Lyriker Simonides (4,23; 4,26)22, von Sokrates (3,9; app. 27), Menander und Demetrios von Phaleron (5,1), Tiberius (2,5). Novellencharakter haben 1,14 (Schuster als falscher Arzt), app. 10 (Pompeius und die Heldentat des homosexuellen Soldaten), app. 15 (AaTh 1510: - Witwe von Ephesus)23, app. 16 (Der reiche und der arme Freier). Zu dieser Gruppe zählt auch 3,10 - mit 60 Versen das längste Stück - , eine angeblich auf einem authentischen Fall aus der Zeit des Augustus beruhende Erzählung über einen mißtrauischen Ehemann, die das Motiv der irrtümlichen Tötung des eigenen Sohnes im Affekt (AaTh 910 B: Die klugen Ratschläge) mit einer Szene aus dem röm. Gerichtswesen und einem an rhetorische Schulübungen erinnernden Rechtsproblem verknüpft. Zwei im Bühnenmilieu angesiedelte Erzählungen sind ganz auf ihre überraschenden und lehrreichen Pointen hin angelegt: 5,5 (Tierstimmen-Imitator und schlauer Landmann) sowie 5,7 (Flötist namens Princeps), in denen das verbreitete Motiv des Dummen, der sich überschätzt und lächerlich macht (Mot. J 953), in einer lebendig gestalteten Szene aus der Welt des röm. Theaters erscheint. Eigene Gruppen innerhalb der erzählenden Stücke bilden Ätiologien (4,11: Rede der personifizierten Religio; 4,16: Erschaffung der Homosexuellen durch den betrunkenen Prometheus; 4,19: AaTh 200 B: Warum -> Hunde einander beriechen) und Göttergespräche (3,17: Lieblingsbäume der Götter; app. 11: Juno, Venus und die Henne). Ferner finden sich ekphrastisch-allegorische Stücke (5,8: Kairos; app. 7: Unterweltsstrafen), ein Rätsel (3,1: Alte Frau und Amphore) sowie Anlehnungen an Sprichwörter und Redensarten (4,20:

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Schlange am Busen; 4,24: Kreißender Berg [Mot. U 114], nach Horaz, Ars poetica 139; 5,6: Kahlkopf und Kamm; app. 14: Esel als Lautenspieler)24. Das Streben nach Originalität wird auch im Umgang mit Stoffen und Motiven deutlich: 4,6 (Anführer des Mäuseheeres) scheint von 1,12 (Hirsch bewundert sein Geweih: AaTh 77: Die eitlen Tiere) beeinflußt 25 ; in 4,21 erscheint ein sagenhaftes Motiv (Schlange hütet Schatz [Mot. Β 11.6.2, Ν 582]) als Parabel über den Geiz; app. 4 verbindet eine Theoxenie mit dem Motiv des kurzsichtigen Wunsches (cf. AaTh 750 A: cf. Die drei -> Wünsche). Thematisch sind einige Schwerpunkte erkennbar; dies betrifft sowohl die der Tradition entstammenden als auch die mutmaßlich neuen Stücke: P. richtet sein bes. Interesse auf den Gegensatz zwischen -• Starken und Schwachen, wobei Resignation und Kompromißbereitschaft überwiegen26 (ζ. B. 1,5; 1,15; 1,24; 1,27; 1,30; 2,6; 4,1; 4,4; app. 20 und 26); nur gelegentlich kann sich der Schwache behaupten (1,28) oder genießt Vorteile (4,6). Ebenfalls im Vordergrund steht das Thema Besitz: Habgier wird gegeißelt (1,4; 1,20; 1,27; 3,5; 4,21; app. 1), Bescheidenheit gelobt (2,1), Besitz ist eine Last (2,7), Wohlstand nicht mit Freiheit vereinbar (3,7), wahrer Reichtum von geistiger Art (4,23). Etliche Fabeln behandeln den Gegensatz zwischen Schein und Sein (1,7; 1,11; 1,12; 2,5; 3,4; 4,2; 4,17; app. 2, 5, 23); verschiedene Erzählungen deuten auf eine gewisse Vorliebe für Gerichtsszenen und juristische Themen hin (1,10; 1,16; 3,10; 3,13 und 4,5). Dichter und Dichtung sind Gegenstand nicht nur der Pro- und Epiloge, sondern auch zweier Stücke, die sich an hochnäsige Kritiker wenden (4,7: Tragödien-Parodie; 4,22: Bekräftigung des Originalitäts-Anspruchs, cf. app. 2); auch die Fabeln 3,12 (Perle auf dem Mist) und 4,2 (Wiesel tarnt sich und wird entdeckt) stellen einen expliziten Bezug zum Werk des Dichters her. P. zeigt ein ausgeprägtes dichterisches Selbstbewußtsein, das sich auf die Überzeugung gründet, mit seinen Versfabel-Büchern Innovationen und formal ausgefeilte literar. Produkte vorzulegen; seine Selbstdarstellung ist an der Programmatik der augusteischen Dichter, bes. des Horaz, orientiert. Dieser kann auch hinsichtlich der Wirkabsicht als

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Phädrus

Vorbild des P. gelten, der nach Art der Horazischen Satire das delectare mit dem prodesse verbinden und dabei auf persönliche Angriffe verzichten will 27 . Der erhoffte Ruhm (2, Epilog; 4, Epilog) scheint P. in der Antike verwehrt geblieben zu sein28. Das MA. rezipierte ihn nur indirekt über Prosa-Paraphrasen29; wirkungsmächtig war die P.-Rezeption erst durch - Grimm über den originellsten Fabeldichter der Antike 31 gefällt haben. W e i t e r e E r z ä h l t y p e n u n d - m o t i v e (Ausw.): 1,1 = AaTh 111 A: — Wolf und Lamm. - 1,2 = AaTh 277: Frösche bitten um einen König. — 1,3 = AaTh 244: cf. Tiere borgen voneinander. — 1,4 = AaTh 34 A: Hund verliert das Fleisch. — 1,5 = AaTh 51: -> Löwenanteil. — 1,6 = Frösche und Sonne (Mot. J 613.1). - 1,7 = Fuchs und hohler Gegenstand (cf. Mot. J 262.1). - 1,8 = AaTh 76: - Wolf und Kranich. - 1,10 = Tierprozeß (Mot. Β 270). - 1,11 = Furchterregender Schrei des Esels (Mot. Κ 2324.1). - 1,13 = AaTh 57: -» Rabe und Käse. - 1,21 = Esel mißhandelt sterbenden Löwen (Mot. W 121.2.1). 1,23 = Unbestechlicher Wachhund (Mot. Κ 2062 ). - 1,24 = AaTh 277 Α: cf. Der aufgeblasene -> Frosch. - 1,26 = AaTh 60: -> Fuchs und Kranich. 1,28 = Adler raubt Fuchswelpen (Mot. L 315.3). 2,6 = AaTh 225 A: cf. -» Fliegen lernen. - 2,8 = AaTh 162: Herr sieht mehr als der Knecht. — 3,7 = Wolf und Hund (Mot. L 451.3). - 3,12 = Hahn und Perle (Mot. J 1061.1). - 3,14 = Parabel: dauernd gespannter Bogen bricht (Mot. J 553.1). - 3,16 = Opfer durch freundliche Worte angelockt (cf. Mot. Κ 815). - 3,19 = Lampe am hellen Tag (Mot. J 1303). - 4,3 = AaTh 59: - Fuchs und saure Trauben. - 4,4 = Pferd muß seinem menschlichen Helfer dienen (Mot. Κ 192). - 4,9 = AaTh 31: cf. ^ Rettung aus dem Brunnen. - 4,25 = AaTh 280 A: ->• Grille und Ameise. — 5,4 = Esel verschmäht Futter des Opfertieres (Mot. J 12). - 5,10 = Alter Jagdhund (Mot. W 154.4). - app. 1 = Fuchs will seine Rute nicht teilen (Mot. J 341.1). - app. 19 = Wolf als Hebamme (Mot. Κ 2061.6). - app. 28 = cf. AaTh 161: -> Augenwinken. 1 Önnerfors, Α.: Textkritisches und Sprachliches zu Phaedrus. In: Hermes 115 (1987) 429-453, hier 429-431; Baldwin, Β.: The Non-Fabulous Side of Phaedrus. Some Thoughts on His Date, Content, and Style. In: Prudentia 18 (1996) 8 1 - 8 4 . - 2 So Currie, Η. M.: Phaedrus the Fabulist. In: Haase, W.I Temporini, H. (edd.): Aufstieg und Niedergang der Rom. Welt 2,32,1. B./N. Y. 1984, 497-513, hier 501. - 3 cf. Luzzatto 1976 (v. Ausg.n); Baldwin (wie not. 1) 82. - 4 Hausrath, Α.: Phaedrus. In: Pauly/Wis-

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sowa 19,2 (1938) 1475-1505, hier 1477; Önnerfors (wie not. 1) 430 sq. - 5 Hausrath (wie not. 4) 1476; Holzberg, N.: Phaedrus in der Lit.kritik seit Lessing. In: Die Anregung 37 (1991) 226-242; id.: Die antike Fabel. Darmstadt 1993, 233 sq. (setzt Buch 3 nach 31 an); Baldwin (wie not. 1) 82 (erwägt spätere Datierung: Schon Buch 2 sei möglicherweise erst kurz vor dem Tod des Tiberius [gest. 37] publiziert worden). - 6 Ob man dagegen bereits Buch 3, Epilog, 1 0 - 1 2 als Aussage über beginnende Altersschwäche verstehen darf, ist fraglich; cf. Baldwin (wie not. 1) 82. - 7 Bes. weit geht Lorenz), A. de: Fedro. Florenz 1955. - 8 Benannt nach P. Pithou, dem Erstherausgeber (Troyes 1596). - ' E r k e n n b a r bereits am unterschiedlichen Umfang der Bücher (31, 8, 19, 26 und 10 Fabeln bei Guaglianone 1969 [v. Ausg.n]); die in Buch 1, Prolog, 6 angekündigten sprechenden Bäume kommen im überlieferten Text nicht vor. '"Önnerfors (wie not. 1) 431-446. " P r o l o g in allen Büchern, Epilog nur in den Büchern 2 - 4 ; 5,10 vielleicht mit Epilogfunktion. 12 Holzberg 1993 (wie not. 5) 44 sq. (weist auf Anklänge an die Komposition des 1. Horazischen Odenbuches hin). - 13 Boldrini, S.: Fedro e Perotti. Ricerche di storia della tradizione. Urbino 1988. 14 cf. Holzberg 1991 (wie not. 5) 227 sq. (Lit.).; Henderson, J.: Phaedrus' Fables. The Original Corpus. In: Mnemosyne 52 (1999) 308-329; in den ProsaParaphrasen findet sich u. a. die Fabel „Feldmaus und Stadtmaus" (AaTh 112), cf. dazu Holzberg, N.: Die Fabel von Stadtmaus und Landmaus bei Phaedrus und Horaz. In: Würzburger Jbb. für die Altertumswiss. N. F. 17 (1991) 229-239. - 15 Currie (wie not. 2) 504-507. - 16 Korzeniewski, D.: Zur Verstechnik des Phaedrus. Aufgelöste Hebungen und Senkungen in seinen Senaren. In: Hermes 98 (1970) 430-458. - "Vorlage war vermutlich ein griech. Fabelrepertorium in Prosa, cf. Holzberg 1991 (wie not. 5) 2 3 1 - 2 3 3 (unter Berufung auf die Arbeiten von Β. E. Perry). - 18 cf. 4, Prolog, 11-14; 4,22; zu schematisch Hausrath (wie not. 4) 1478 (P. kündige im Prolog von Buch 1 an, nur äsopische Fabeln zu versifizieren, im Prolog von Buch 2 dagegen, auch eigene Stücke einzuschieben); Pisi, G.: Fedro traduttore di Esopo. Florenz 1977. - 1 9 Adrados, F. R.: Historia de la fäbula greco-latina 1 - 3 . Madrid 1979/ 85/87, hier t. 2, 151 - 1 7 1 ; cf. Holzberg 1993 (wie not. 5) 49 - 55. - 2 0 Currie (wie not. 2) 499; Nojgaard, M.: La Fable antique 1 - 2 . Kop. 1964/67, hier t. 2, 120 (instruktive Übersicht). 21 Mit 3,3 cf. die ähnliche Anekdote über Thaies bei Plutarch, Moralia 149 C - E , mit 3,19 cf. die Passage über den Kyniker Diogenes bei Diogenes Laertios 6,41; die 3,14 dem Äsop in den Mund gelegte BogenParabel schon bei Herodot 2,173. - 2 2 Mit 4,23 cf. Cicero, Paradoxa Stoicorum 8 (über Bias von Priene). - 23 Huber, G.: Das Motiv der „Witwe von Ephesus" in lat. Texten der Antike und des MA.s. Tübingen 1990; Müller, C. W.: Die Witwe von Ephesus. Petrons Novelle und die „Milesiaka" des Aristeides. In: Antike und Abendland 26 (1980) 103-121.

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Phänomenologie

- 24 Thiel, Η. van: Sprichwörter in Fabeln [1971]. In: Carnes, P. (ed.): Proverbia in Fabula. Essays on the Relationship of the Proverb and the Fable. Bern u.a. 1988, 209-232. - 25 cf. die Fassung Babrios/ Perry, num. 31 (Mäuseanführer dort ohne Hörner). - 26 Nojgaard (wie not. 20) t. 2, 171-188; Schmidt, P. L.: Politisches Argument und moralischer Appell. Zur Historizität der antiken Fabel im friihkaiserzeitlichen Rom. In: Der Deutschunterricht 31,6 (1976) 74-88, bes. 80-84; Christes, J.: Reflexe erlebter Unfreiheit in den Sentenzen des Publilius Syrus und den Fabeln des Phaedrus. In: Hermes 107 (1979) 199-220; Holzberg 1991 (wie not. 5) 235 sq.; id. 1993 (wie not. 5) 51-55 (spricht von ,Anpassungsideologie'). - 27 Dams, P.: Dichtungskritik bei nachaugusteischen Dichtern. Diss. Marburg 1970, 96-113; Galli, R.: Fedro e Orazio. In: Paideia 38 (1983) 195-199; Holzberg 1991 (wie not. 5) 234 sq.; Hamm, U.: Illitteratum plausum nec desidero. Phaedrus über sich als Dichter. In: Classica Cracoviensia (im Druck). - 28 Namentliche Erwähnung nur bei Martial und Avian (cf. Guaglianone 1969 [v. Ausg.n] 117 sq.); Önnerfors (wie not. 1) 431-434. — 29 cf. Grubmüller, K.: Meister Esopus. Zürich/Mü. 1977, 52-66. - 30 cf. Nejgaard (wie not. 20) t. 2, 17-21; Riedel, V.: Lessing und die röm. Lit. Weimar 1976, 153-179; Holzberg 1991 (wie not. 5). 31 Zu diesem positiven Urteil gelangt Adrados (wie not. 19) t. 2, 166. Bibliogr.: Lamb, R. W.: Annales Phaedriani 1596-1996. Α Bibliogr. of Phaedrus. Lowestoft 1998. A u s g . n : Babrius and Phaedrus. ed. Β. E. Perry. L./ Cambr., Mass. 1965. - Phaedri Augusti liberti Liber fabularum. ed. A. Guaglianone. Turin 1969. - Fedro. Un poeta tra favola e realtä. ed. M. J. Luzzatto. Turin 1976. - Phaedrus: Fabeln. Lat.-dt. ed. E. Oberg. Zürich 1996. - Oberg, E.: Phaedrus-Kommentar. Stg. 2000.

Bochum

Phallus

Hartwig Heckel

Genitalien

Phänomenologie (griech. phainomenon: das Erscheinende) ist die Lehre von Form und Wesen der Erscheinungen; diese werden phil. als Manifestationen aufgefaßt, die eng mit dem Bewußtsein des Rezipienten verbunden sind. In einem weitverbreiteten Sprachgebrauch bedeutet P. allerdings nur möglichst vorurteilsfreies Sehen und Beschreiben und verweist auf eine deskriptive wiss. Arbeitsweise. Der Begriff wurde 1764 geprägt: In J. H. Lamberts Theorie der Erscheinungen (als

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Grundlage der Erfahrungserkenntnis) wird jener Teil als P. bezeichnet, der das Scheinbare, Irrtümliche, Falsche innerhalb eines Phänomens aufdecken soll, um so zum Wesen vorzudringen1. Kant übernimmt den Terminus P. für die Lehre von den sinnlich erfahrenen Naturerscheinungen unter dem Aspekt der bloßen Vorstellung (die allein — im Gegensatz zum Ding an sich — erkennbar ist)2, und Hegel betitelt sein bedeutendes Werk über die „Wiss. der Erfahrung des Bewußtseins" Die P. des Geistes (Bamberg/Würzburg 1807). Speziell meint P. eine um 1900 von Husserl (1859-1938) begründete phil. Richtung, die mittels einer spezifischen Einstellung und Methode die Philosophie als strenge Wiss. radikal neu begründen will3. Die phänomenologische Einstellung enthält sich jeglichen Urteils über Sein oder Nichtsein der Gegenstände; die entsprechende Methode, die oft allein als P. bezeichnet und als grundlegend für alle Wiss.en verstanden wird, zielt auf die Klärung dessen, wie sich Gegenständlichkeit, und damit Welt, im Bewußtsein konstituiert. Phänomenologisch arbeiten verlangt, alle vorschnelle Weltdeutung zu vermeiden und sich vorurteilsfrei der Analyse dessen zu widmen, was dem Bewußtsein erscheint. Husserl wandte sich in Logische Unters.en (Halle 1900/ 01) gegen die damals verbreitete Auffassung, die Regeln der Logik nur als Ausdruck ihnen zugrundeliegender psychischer Gesetzlichkeiten zu begreifen und auf diese zurückzuführen. Alle Aussagen der phänomenologischen Bewußtseinsanalyse sollen vielmehr auf einer intuitiv erfaßten, anschaulichen Selbstgegebenheit der Phänomene des Bewußtseins gründen. Die phänomenologische Methode will jede theoretische Konstruktion vermeiden, sich vielmehr ,den Sachen selbst' zuwenden, d. h. sich allein auf das je Gegebene konzentrieren. Alles Subjektive (Gefühle, Wünsche), alles Hypothetische, Schlußfolgernde (Zwecke, Wertungen) und alle Tradition (Wissen, Deutungen) bleibt ausgeschaltet. Am Phänomen selbst interessiert das Wesentliche und nicht das Zufällige, nur was es ist, und nicht etwa, ob es existiert. Die Phänomene müssen nicht sinnlich beobachtbar, sondern können durchaus bloß vorgestellt sein. Untersucht werden in erster Linie Strukturen, weniger Prozesse.

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Phänomenologie

Phänomenologische Wesensschau wird von Husserl bewußt dem diskursiven Erkennen und der Abstraktion entgegengestellt. Er meinte mit seiner Methode eine Position jenseits von Idealismus einerseits und Materialismus andererseits zu gewinnen. P. ist für ihn eine geistige Schau durch unmittelbare Intuition, eine Wiss., welche Erkenntnis nicht aus Erfahrung, sondern aus den Ursachen erstrebt. Gegenüber dem Positivismus, der sich nur auf das tatsächlich Beobachtbare stützt, und dem Empirismus, der allein auf äußerer und innerer Erfahrung gründet, spielt bei der phänomenologischen Bewußtseinsanalyse die Art der Wahrnehmung eine wichtige Rolle. D i e P. erlangte durch Husserls Schüler und Anhänger im 20. Jh. eine große Breitenwirkung. Sie wurde als phil.-methodische Grundlage zum Aufbau eigener phil. Lehren benutzt sowie in Teildisziplinen (Ethik, L o g i k ) und Einzelwissenschaften (Religionswissenschaft, Soziologie) angewendet. N . Hartmann entwikkelte ζ. B. eine ,neue Ontologie': Die Objekte werden nicht, wie in subjektivistischer Tradition, im Erkennen erschaffen, sondern weisen über sich hinaus auf einen Erkenntnisgegenstand4. Für M . Scheler ist das Erlebte nur im erlebenden A k t selbst, in seinem Vollzug, gegeben; es erscheint in ihm und nur in ihm. Methodisch will er — gegenüber Husserls A u s klammern' der äußeren Gegebenheiten - von innen her, d. h. v o m Seelischen aus, an dem je Gegebenen überzeitliche Werte aufweisen und verbindet so die Wesensschau mit emotionalen Momenten 5 . Während W . Schapp erkennt, daß P. stets nur bis zu den Geschichten vordringen kann (.narrative P.'), und sich von Husserls Weg zum transzendentalen Idealismus löst 6 , kritisiert Heidegger die phänomenologischen Begriffe Bewußtsein und reine Wahrnehmung radikal: Interpretation stellt für ihn die ursprüngliche Struktur des In-derWelt-Seins und nicht eine zusätzliche Prozedur der Erkenntnis dar 7 . Was für Husserl Beschreibung, ist für Heidegger Auslegung; P. wird so von ihm zu einer hermeneutischen P. umgeformt ( - • Hermeneutik). Allg. ist es für die Phänomenologen charakteristisch, daß sie mit ganzheitlichem Zugriff von der Lebenswelt, an der sie durch ihre Alltagserfahrungen selbst teilhaben, von der Situationsgebundenheit und ,Horizonthaftig-

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keit' des menschlichen Lebens ausgehen. M . Merleau-Ponty greift ζ. B. auf die Lebenswelt als Wahrnehmungswelt zurück: Der Mensch erfährt sein ursprüngliches Sein in der Welt im Vollzug seiner Leiblichkeit 8 . Für H.G . Gadamer sind die Lebenswelt und die Sachen selbst (und nicht etwa Wiss.) auch das Ziel der Erkenntnis. Seine phänomenologische Hermeneutik erstrebt eine Kunstinterpretation, die nach bleibenden Wahrheiten sucht, dabei ζ. B. die Untrennbarkeit des Guten und Schönen voraussetzt, und durch die Befreiung des Ästhetischen von allem bloß Historischen die erlebbare Erfahrung transzendiert 9 . Kulturwissenschaftlich ist die phänomenologische Betrachtung vor allem im Bereich der Religions-, der Brauch- und der Erzählforschung wirksam geworden, dort, w o man sich in bes. Maße um das in den kulturellen Ausdrucksformen verborgene Selbst- und Weltverständnis des Menschen bemüht hat ( - • Weltanschauung, Weltbild). Die Religions-P. versteht sich als systematische Ergänzung der Religionsgeschichte 10 und will mit ihrer Methode zum Kern religiöser Erfahrung vordringen; sie muß dabei nach F. Heiler drei ,Ringe' durchstoßen: (1) die sinnliche Erscheinungswelt (das institutionelle Element der Religion), (2) die geistige Vorstellungswelt (das rationale Element) und (3) die psychische Erlebniswelt (das mystische Element) 11 . Entscheidend ist, daß die P. die Transparenz der Phänomene berücksichtigt und ein Verstehen von innen, v o m Leben her ermöglicht, ein „Erkennen der inneren Notwendigkeit der äußeren Erscheinungen" 12 . Zudem könne nur die phänomenologische Betrachtung, meint R . Kriß, ζ. B. beim Votivbrauch einseitige Schlußfolgerungen vermeiden, weil der Mensch verhältnismäßig arm in der Erfindung und Ausgestaltung tragfahiger Kultformen sei, „aber unendlich reich an Erlebnisgestalten, die sich an ihnen entzünden" 1 3 . Andererseits erscheinen aber ζ. B. manche Aussagen einer phänomenologischen Brauchdeutung, die etwa die Gemeinschaftsarbeit des Brunnenreinigens als stete Urverbundenheit mit dem Element des Wassers verstehen14, nicht unproblematisch. Denn Wahrnehmungen werden nicht voraussetzungslos gemacht, sind immer ausgerichtet durch den Denkstil des ,Denkkollektivs' ( - • Kollektiv!-

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Phänomenologie

tät, Kollektivbewußtsein), der bestimmt, „was nicht anders gedacht werden kann" 15 . G. Dumezil, M. Ninck 16 und J. de -> Vries haben durch phänomenologische Betrachtung ζ. B. die Struktur der germ. Göttermythen besser zu begreifen versucht, doch wird solche Wesensschau, wie Ε. A. Philippson kritisiert, oft überzogen 17 . Die Urbilderforschung M. ->• Eliades18 mag zwar, meint er, konkrete Ergebnisse für die germ. Mythologie abwerfen, aber kaum im Sinne der Erbgutthese, sondern eher für ein tieferes Verständnis der mythenschaffenden menschlichen Phantasie19. In der Erzählforschung wird die phänomenologische Betrachtung vor allem durch die literaturwiss. ausgerichteten Studien M. Lüthis repräsentiert. Nach H. Kuhn bedeutet eine P. mündl. Sprachdenkmäler „nichts anderes als ihre Beschreibung nach Sprachgestalt und Sprachbewußtsein, als Sprache oder Dichtung oder Schriftliteratur in allen Nuancen und Übergängen" 20 . Lüthi analysiert das Märchen ausdrücklich nach ,Form und Wesen' 21 , er erschließt das ,Volksmärchen als Dichtung' auf phänomenologischem Wege hinsichtlich ,Ästhetik und Anthropologie' 22 . Als grundlegenden Stil des europ. Volksmärchens hat er Eindimensionalität, Flächenhaftigkeit, Abstraktheit, Isolation und Allverbundenheit, Sublimation und Welthaltigkeit herausgearbeitet 23 . An charakteristischen Besonderheiten untersucht er im Märchen ζ. B. Wiederholung und Variation, Kontraste und Polaritäten, künstlerische Ökonomie, Regie und Manipulation, mißglückende Nachahmung sowie auch subtile Formen in der Tiefenstruktur wie ζ. B. das Verhältnis von reihendem und unterordnendem Vorgehen (realistische Elemente inmitten des Irrealen, ,Imperfektion in der Perfektion',,Polarität innerhalb von Dreiheiten') 24 . Lüthi arbeitet stets sehr textnah und auf der Grundlage europ. Buchmärchen, betrachtet jedoch seine Beschreibung der Wesenszüge des europ. Volksmärchens - die Tendenz zu einem bestimmten Personal- und Requisitenbestand, zu charakteristischer Handlungsführung und Darstellungsart — ausdrücklich als idealtypisch25. Sie trifft also für jeden empirisch erhobenen Märchentext nur annäherungsweise und kaum je in allen Facetten zu

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und ist auf außereurop. Märchen in der Regel nicht übertragbar. Noch stärker gilt das für Lüthis Wesensbestimmung der Volkssage, die zum guten Teil als Kontrastfolie seiner Märchenanalyse gedient hat bzw. ihm im dialektischen Deutungsprozeß dazu geworden ist26. In ähnlicher Weise ist solche Art reziproker Wesensschau, wenn auch stärker mythol. als literaturwiss. intendiert, bereits von den Brüdern -• Kreativität) ihr Material aus den Tiefen des Bewußtseins. Der Eindruck des Neuen entsteht vor allem aus der Kombination, aus der ungewohnten Zusammenstellung und Verknüpfung von Elementen. Im weiteren Sinn ist P. — die Fähigkeit zur Entdeckung vorher unbekannter Zusammenhänge — in der Wiss. ebenso gefordert wie in vielen Formen der Praxis, ζ. B. in Politik, Wirtschaft, Technik. Im allg. aber wird das Denken in Bildern2 der künstlerischen Produktion zugeordnet; -»• Goethe vertrat die Meinung, daß ohne eine exakte sinnliche P. im Grunde keine Kunst denkbar sei3. Nicht nur aus der Perspektive der Wiss., sondern auch innerhalb der Künste wird P. tendenziell in den Bereich des Irrealen abgedrängt. P. wird seltener als Weg zu Wahrheit und Wirklichkeit (->· Realitätsbezüge), häufiger als unverbindliches Spiel betrachtet: P. gebiert Phantastik (Pk.), eine eigene Ordnung oder auch Unordnung der Dinge und der Verhältnisse. Die Bewertung solcher P.tätigkeit schwankt; sie ist abhängig vom vorherrschenden Wirklichkeitsverständnis einer Epoche. In einem festgefügten, geschlossenen Weltbild hat die P. wenig Chancen. J. LeGoff vertritt die Ansicht, „daß das Christentum, zumindest das mittelalterliche Christentum, gegen das Wunderbare allergisch ist"4; das glaubenskonforme ->

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Wunder ist damit nicht in Frage gestellt, wohl aber Wunderbares als Erzeugnis freier P. Auch strikter Rationalismus verweigert P.gebilden ihr Recht, da sie die Verstandesprinzipien durchbrechen. In Gegenbewegungen zu einem platten Rationalismus wird das schöpferische Vermögen der Einbildungskraft betont, so im Sturm und Drang (G. A. Bürger: „daß meine phantasei voll kraft/vernichtet weiten, weiten schafft" 5 ) und in der Romantik (A. von -» Arnim: „Alle phantasie muß jetzt zum leben werden" 6 ). Hier wird die Macht der P. beschworen, das Bild der Wirklichkeit zu korrigieren und zu vervollständigen. Andererseits behält die engere und strengere Auffassung der Realität ihre Gültigkeit, so daß Erzeugnisse der P. als Chimäre und Gaukelei abgetan werden können. Im Don Quijote des Cervantes wird der Zusammenstoß einer überhöhten P.welt mit der banalen Realität und ihren unveränderlichen Gesetzen zum Thema gemacht. Die P. kann Wünsche zur Geltung bringen, deren Verwirklichung in der Realität nicht zugelassen ist. Sie hat, wie der -> Traum, eine kompensatorische Funktion (cf. -> Mangelsituation); der Wachtraum ist neben der künstlerischen Produktion das wichtigste Medium der P. In der Alltagssprache kommt die kritische Auffassung von P. deutlich zum Ausdruck. Die Feststellung, jemand habe eine lebhafte P , besagt im allg., daß es die betr. Person mit der -* Wahrheit nicht sehr genau nimmt; und als phantasieren' wird das sinnlose Reden im Delirium (Fieber, Trunkenheit) bezeichnet. So verständlich diese skeptische Distanz gegenüber der P. ist, so bleibt doch festzuhalten, daß sie die P. einseitig festlegt. P. bezieht sich nicht grundsätzlich auf Unmögliches, sondern auch auf Mögliches, Wahrscheinliches und Reales; und sie braucht, wo sie die gegebene Realität überschreitet, trotzdem nicht realitätsfremd zu sein — sie kann auch ein Spielfeld schaffen, das auf reale Aufgaben vorbereitet7. Selbst die Öffnung zum Phantastischen trennt Pgebilde nicht vollständig von der Realität; -» Science Fiction beispielsweise nimmt nur eine „partielle Veränderung der Realität" vor 8 und erlaubt zumindest analoge Rückschlüsse auf reale Gegebenheiten. 2. P. u n d Pk. in der V o l k s e r z ä h l u n g . In Volkserzählungen ist die P. in verschiedenen

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Phantasie, Phantastik

Dimensionen wirksam: in der Genese, der Ausgestaltung und auch der -> Rezeption. Da sich die Erzählungen — abgesehen von manchen Formen des -• alltäglichen Erzählens größtenteils nicht auf faktische Vorgänge und Erfahrungen beziehen, spielt die P. bei ihrer Entstehung eine wesentliche Rolle. So wird etwa in ätiologischen Erzählungen (-» Ätiologie), die nach dem Grund für auffallende Naturerscheinungen fragen, die P. in Bewegung gesetzt — möglicherweise mit dem Ziel, eine realitätsgerechte, quasi wiss. Antwort zu finden; aber die Begründungen landen dann eben doch oft bei empirisch nicht gesicherten Vorstellungen und damit im Bereich der Pk. Dies gilt etwa, wenn verstreute Felsbrocken als die Wurfgeschosse von Riesen betrachtet (-• Kegel, Kegelspiel), aber auch, wenn unerklärliche Geländeformationen auf die Landung außerirdischer Flugkörper zurückgeführt werden (-«· UFO-Erzählung). P. war auch im Spiel bei der Entstehung anderer sagenhafter Geschichten, was aber nicht heißt, daß sie völlig frei erfunden wurden: Herrschende Glaubensvorstellungen stellten gewissermaßen das Material bereit, aus dem bei bestimmten Anlässen die passenden Zusammenhänge konstruiert wurden. Von den ersten Anfangen einer Überlieferungskette beschränken sich -• Erzähler und Erzählerinnen nicht auf das stoffliche Gerüst, sondern schildern die Vorgänge und Episoden auf ihre persönliche Weise - auch hier wird P. wirksam. Dies führt in die zweite Dimension erzählerischer P: die Ausgestaltung von Geschichten, deren entscheidende Handlungsstränge festliegen, die aber im Detail farbiger ausgemalt werden können und die außerdem oft die Ergänzung durch zusätzliche Handlungselemente (-» Dekorative Züge, Requisit) erlauben und provozieren. Verschiedentlich sind Typologien von Erzählern und Erzählerinnen aufgestellt worden, in denen Neigung und Begabung zur P. eine wichtige Rolle spielen. So unterscheidet E. Lang 9 vom bei der Tradition beharrenden und rationalisierenden Sänger oder Erzähler den ,intergrativen', der traditionelle Vorgaben ausbaut, und den frei fabulierenden, der seine Geschichten ohne bes. Rücksicht auf die Tradition variiert. Die P. führt aber nicht grundsätzlich in einen Bereich der Pk.; viele Erzähler nähern mit ihren Ausgestal-

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tungen die Geschichten dem Milieu (cf. -> Milieutheorie) und dem Verständnishorizont ihres aktuellen oder potentiellen Hörerkreises an. Allerdings wirkt sich die Ausgestaltung nicht in allen Fällen positiv aus. Wenn ζ. B. Sagen mit Detailschilderungen ausgeschmückt werden, wie es in den romantisierenden Sagenbüchern des späteren 19. Jh.s üblich war 10 , verstößt dies gegen die innere Form derartiger Erzählungen, die ja nicht üppige Bilder ausbreiten, sondern den „tastenden Vorstoß in eine andere Welt"11 vermitteln wollen und bei denen gerade skizzenhafte Darstellung und stilistische Kargheit 12 diesen Sinn am deutlichsten hervortreten lassen. P. ist schließlich auch von den -» Zuhörern oder Lesern gefordert. Da die meisten Volkserzählungen mit ihrem Inhalt die Erfahrungen der Alltagswirklichkeit übersteigen, sind sie nur zugänglich und verständlich, wenn die Imagination nachvollzogen werden kann. Dies wird durch Vorwissen erleichtert, also etwa durch die Vertrautheit mit entsprechenden Traditionen; Zwergensagen sind zum Beispiel leichter verständlich, wenn beim Stichwort Zwerg nicht nur die freundlichen Gartenzwerge assoziiert werden. Immer aber muß P. die angemessenen Vorstellungen schaffen. Das P.vermögen ist keineswegs bei allen Menschen gleich stark ausgebildet. Es gibt nüchterne, an der greifbaren Wirklichkeit haftende Gemüter, denen P.gebilde und Felder der Pk. fremd bleiben; und es gibt am anderen Pol Menschen, die ein so intensives eidetisches Gefühl (-> Eidetik) entwickeln, daß auch imaginierte Gestalten für sie präsent sind13. In der Kindheit ist diese Fähigkeit zur Eidese bei vielen ausgeprägt; unter den Erwachsenen konzentriert sie sich auf wenige, die oft als bes. überzeugte Traditionsträger in Erscheinung treten, weil sie das Erzählte oder zu Erzählende nicht nur vor Augen haben, sondern mit allen Sinnen erfassen. Die Freude am freien Spiel der P. kommt vor allem in Erzählungen und Versen zum Ausdruck, die Tatbestände assoziativ aneinander reihen (->• Assoziation), ohne auf den Sinn zu achten — genauer: die sorgfaltig darauf achten, daß kein sinnvoller Zusammenhang entsteht. Derartige Formeln finden sich zum Beispiel im Kinderreim und in Auszählversen (-• Kinderfolklore), und auch die prinzipiell

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Phantasie, Phantastik

endlosen Kettenmärchen und die -+ Lügengeschichten leben von dieser assoziativen P., wobei die Pk. der Lügengeschichte dadurch zustande kommt, daß reale Momente in extremer Übersteigerung vorgeführt werden. Sieht man von diesen Pformen und P.formeln14 ab, so sind die Möglichkeiten der P. in der Volkserzählung durch die Rahmenvorgaben der jeweiligen Gattung (-• Einfache Formen) definiert. Sagenhafte Geschichten weisen die P. ins Reich des Unheimlichen (-» Numinoses); der gleiche Sachverhalt kann freilich auch aus der umgekehrten Perspektive formuliert werden: Angstphantasien (-» Angst), in denen Unheimliches konkretisiert wird, führen leicht zu sagenhaften Geschichten. Wo es um die Demonstration des Heiligen geht, also im Umkreis der -» Legende, ist die P. an die tradierten religiösen Bilder gebunden. Bei der Erfindung und Tradierung von Schwank und -> Witz schließlich ist es die Aufgabe der P., komische Diskrepanzen zu entdecken. P.tätigkeit ist grundsätzlich kein beliebiges Assoziieren; Rahmen und Richtung sind vielmehr in aller Regel vorgegeben, und da die P.produkte in den Erzählungen meist in geronnener, fester Form enthalten sind, darf der Anteil der P. an der Tradition nicht überschätzt werden (-» Fiktion, Fiktionsmärchen). 3. M ä r c h e n p h a n t a s i e . In seiner Deutung des Märchens unterscheidet K. J. Obenauer zwischen der „Phantasie der ältesten Märchendichter" und der des jüngeren Märchens. Er sieht die P. früher Märchendichtung „gebundener" 15 , gebunden an feste Glaubensvorstellungen. So richtig der Hinweis ist, daß auch bei der Wiedergabe geglaubter Vorgänge P. im Spiel ist, so problematisch ist die Ausdehnung des Märchenbegriffs auf jene „verlorene Glaubenswelt" 16 ; Obenauer selbst betont, „primitive Mythengeschichten" könne „man nur uneigentlich schon Märchen nennen" 17 . Das Märchen setzt eine freiere P. voraus, die zwar alte Bilder und Sinnbilder aufgreift, ihnen aber jegliche dogmatische Schwere nimmt und sie mit Elementen der Alltagswirklichkeit vermischt. Schon Wieland hat das Märchen in diesem Sinn definiert als „eine Begebenheit aus dem Reich der Fantasie, der Traumwelt, dem Feenland mit Menschen und Ereignissen aus der wirklichen verwebt" 18 . Die Erwäh-

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nung von Traumwelt und Feenland zeigt den Einfluß der frz. Contes des fees (-• Aufklärung), aber auch Definitionen, die sich auf die spätere Entwicklung des Märchens beziehen, unterstreichen die zentrale Bedeutung der P. für das Märchen. Viele schließen an die Formulierung J. Boltes an: „Unter einem Märchen verstehen wir seit Herder und den Brüdern Grimm eine mit dichterischer Phantasie entworfene Erzählung besonders aus der Zauberwelt, eine nicht an die Bedingungen des wirklichen Lebens geknüpfte wunderbare Geschichte, die hoch und niedrig mit Vergnügen anhören, auch wenn sie diese unglaublich finden." 19 L. -> Röhrich hat das Verhältnis von Märchen und Wirklichkeit detailliert untersucht und dabei hervorgehoben, daß „das Märchen in seiner abendländisch-neuzeitlichen Erscheinung wesentlich eine Sache der Phantasie" ist20 — im Gegensatz etwa zur Sage. An ihrer Entstehung ist zwar die P. beteiligt, aber dieses Wirken der P. verschwindet hinter dem Anspruch auf die Realität des Erzählten. Während die .dichterische P.' mit den irrealen Elementen der Geschichte spielt, verhält sich die rezeptive P. in diesem Punkt nicht einheitlich. In der naiven Aufnahme werden auch die phantastischen Elemente des Märchens in die Realität einbezogen (-> Glaubwürdigkeit); dies ist vor allem bei jüngeren Kindern der Fall. C. -»• Bühler bezeichnet diese Rezeptionsphase als Märchenalter. Ihre entwicklungspsychol. Stufentheorie wurde in wichtigen Punkten widerlegt; aber ihre Beobachtungen zur Affinität kindlicher P. zu Eigenheiten des Märchens wie Typisierung, Polarisation, Wiederholung etc. sind nach wie vor diskutabel (-> Kind, Kinder). Diese Affinität äußert sich auch in der Aktivierung kindlicher P. durch Alltagsdinge. J. Piaget berichtet, wie seine Tochter einen auf der Tapete abgebildeten Vogel in der Hand zu halten glaubte 21 , und Elias Canetti erinnert sich, daß ihm in der frühen Kindheit die dunklen Kreise im Tapetenmuster als Leute erschienen, mit denen er sich stundenlang unterhielt 22 . Sieht man von der kindlichen Märchenrezeption ab, so verhindert zwar der Stil des Märchens (-> Eindimensionalität) die ständige Trennung zwischen realen und irrealen Elementen; aber es bleibt den Aufnehmenden be-

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Phantasie, Phantastik

wußt, daß P.welt und Wirklichkeit ineinander verwoben sind. In der Ausgestaltung von Märchen wendet sich die P. von Erzählerinnen und Erzählern weniger den irrealen als den realen Elementen zu. Dies hängt einerseits damit zusammen, daß sie sich hier auskennen, während sich die alltagsfremden Märchengestalten und -Vorgänge in ehrfurchtgebietender Distanz befinden, die detaillierte Ausmalung nicht ohne weiteres erlaubt. Die Einfügung vertrauter Alltagsbilder - ζ. B. aus der bäuerlichen und handwerklichen Arbeit — schafft aber auch einen Kontrast, der den Reiz der Märchenhandlung erhöht. Das Märchen kennt keine von der Wirklichkeit völlig gelöste P.welt; es lebt von der spielerischen Aufhebung der Wirklichkeit in der P.23 Die Brüder Grimm erlaubten sich die Aus- und Umgestaltung der realen Handlungszüge nur selten; am ehesten bringen sie die zentralen Figuren schwankhaft angelegter Märchen in eine phantastisch ausgemalte Wirklichkeitsszenerie. Der Daumerling (KHM 45, AaTh 700: -> Däumling) ζ. B. gerät in den Bauch einer Kuh und springt bei der Schlachtung „so behend zwischen den Hackmessern durch, daß ihn keins anrührte". Die meisten der KHM sind auf ein wenig ausgeschmücktes Handlungsgerüst und auf einfache Typen reduziert 24 . Die Figuren dieser Märchen brauchen kaum P.; sie gehen selbstsicher und fraglos ihren Weg und malen sich weder die ihnen bevorstehenden Gefahren noch ihre Glücksmöglichkeiten aus. Die meisten Kunstmärchen sind anders angelegt. Sie mobilisieren die P. bei der ausführlichen Darstellung der Zauberwelt, zu der im Grunde ja auch die sozial abgehobenen Szenerien gehören. So beschreibt ->· Andersen im Märchen Die kleine Seejungfrau farbig alle Einzelheiten der Architektur und Einrichtung des Palastes, in dem der von der Seejungfrau geliebte Prinz lebt. Die stärkere Psychologisierung verlangt aber auch P. bei der Schilderung der handelnden Personen und ihrer Motive. Und schließlich können fast alle Gegenstände belebt werden, wodurch allerdings oft ein Maß an willkürlicher Pk. erzeugt wird, das dem europ. Volksmärchen fremd ist. Die Grimms als die einflußreichsten Gestalter des Volksmärchens haben nach G. Oesterle „das Wunderbare aus der Zerstörung durch das Phantasti-

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sche" gerettet25; sie haben die Produkte der P. — in ihrer Theorie, aber auch in ihrer Bearb.spraxis — rückgebunden an Glaubensinhalte, die sie allerdings in einer nicht genau bestimmten Vorzeit lokalisierten. Die Märchenforschung und -kritik hat dementsprechend immer wieder Stellung gegen grenzenlose P. und gegen die Ausweitung der Pk. im Märchen genommen. In den Noten zum West-östl. Divan (1819, erw. 1827) charakterisiert Goethe die arab. Märchen als „Spiele einer leichtfertigen Einbildungskraft, die vom Wirklichen bis zum Unmöglichen hin- und widerschwebt und das Unwahrscheinliche als ein Wahrhaftes und Zweifelloses vorträgt". Er bezeichnet sie als „Luftgebilde", deren „eigentlicher Charakter ist, daß sie keinen sittlichen Zweck haben und daher den Menschen nicht auf sich selbst zurück, sondern außer sich hinaus ins unbedingte Freie führen und tragen" 26 . Obenauer zitiert diese Charakteristik und bezeichnet sie als „herbes Urteil" 27 . Dies ist ein verräterisches Mißverständnis: Goethe wies mit diesen Worten auf Besonderheiten der oriental. Märchen hin, ohne daß er die „leichtfertige Einbildungskraft" negativ aufgefaßt hätte. In unberechtigter Verallgemeinerung schreibt er allerdings, jene Märchen seien „der orientalischen Sinnlichkeit, einer weichen Ruhe und bequemem Müßiggang höchst angemessen" 28 . Dies erinnert an die Kritik, die seit den 70er Jahren des 20. Jh.s auch an dt. Märchen geübt wurde: statt eingreifender P., die zur Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit ermutigt, dienten sie nur „phantastischer Kompensation" 29 . Gegen die gewissermaßen einschläfernde anpassungsbereite P. wurde die emanzipatorische Qualität der P. aufgerufen 30 . Schon -• Herder hatte auf die Tendenz zur Verwöhnung durch P. hingewiesen und die Einbildungskraft als „die beweglichste und zugleich die gefährlichste aller menschlichen Gemütsgaben" bezeichnet31. Andererseits sprach er auch von den ernsten Winken aus dem „Traumreich" und nannte die Einbildungskraft ein „wunderbares Vermögen im Menschen". Damit sind die Pole abgesteckt, zwischen denen sich die Beurteilung der Märchenphantasie bewegt. 4. F a n t a s y . In der Kritik an modernen Formen der Vermittlung von Märchen

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Phantasie, Phantastik

spielt das Argument eine wesentliche Rolle, daß die P. immer mehr eingeengt wird. Schon das gedr. Märchen macht die handelnden Personen „unverrückbar, weil nachlesbar", und das „visualisierte Märchen" legt Heldinnen und Helden noch detaillierter fest32: „Medienbedingt wird immer stärker fixiert, d. h. dem Rezipienten bleibt immer weniger Raum für Eigenaktivität." 33 Die Annahme eines unaufhaltsamen Abstiegs der P.tätigkeit ist aber problematisch. Die früheren Märchenillustrationen (-» Illustration) prägten, gerade weil sie für die Rezipienten oft das einzige bildliche Angebot blieben, die Vorstellung bes. stark. W. Faulstich hat außerdem darauf aufmerksam gemacht, daß sich mit den Computermärchen die Tendenz umkehrt, weil hier der Rezipient zum interaktiven Mitspieler wird34. Die P. sucht sich also andere, jeweils neue Ausdrucksformen. Ein wichtiger Bereich für die Aktivierung der P. - mit einigen Einschränkungen kann man sagen: der Märchenphantasie — ist die unter der Bezeichnung Fantasy angebotene Lit. Als Prototyp gilt bis heute das Romanwerk von John R. R. -» Tolkien, bes. die Trilogie The Lord of the Rings (1954/55), deren Handlungsstruktur schon in seinem Kinderbuch The Hobbit (1937) angelegt war. Die Bezeichnung setzte sich nach 1960 für eine Sparte des Unterhaltungsangebots durch; Fantasy etablierte sich neben Science Fiction und älteren Genres (zum Beispiel Westernerzählungen, Detektivgeschichten etc.) in zahlreichen Heft- und Taschenbuchreihen und bald auch in Spielen und Filmen35. Die Nähe von Fantasy zum Märchen ist unverkennbar: Die Handlung durchbricht von Anfang an die Schranken der Wirklichkeit; eine eigene Welt wird entworfen, in der einfache und feste Gesetzlichkeiten gelten36: Gut und Böse sind strikt getrennt und eindeutig kodiert; Moral verspricht Erfolg; der Grundton ist optimistisch; die aneinandergereihten Abenteuer führen in aller Regel zu einer glücklichen Lösung. Vergleichbar mit dem Märchen ist auch, daß die Fantasy-Welt — im Gegensatz zu Science Fiction — nicht den Anspruch erhebt, mit der Alltagswirklichkeit vereinbar zu sein. Genauer: Während Science Fiction mögliche oder vermeintlich mögliche, vor allem technische Veränderungen der Wirklich-

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keit fiktiv vorwegnimmt, zielt Fantasy auf eine neue, hintersinnige Erfahrung der Wirklichkeit. Der Hinweis auf die Verwandtschaft mit dem Märchen darf aber nicht überstrapaziert werden. Fantasy greift nicht nur Märchenmotive auf, sondern auch Elemente des Mythos, der Sage und Legende, der religiösen Rituale37. Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, daß Fantasy zwar wie das Märchen in einer imaginären Zeit und an einem imaginären Ort spielt, daß Ort und Zeit hier aber bis ins letzte Detail konkretisiert werden: Tolkien und auch viele spätere Fantasy-Autoren arbeiten mit Landkarten und geben den Handlungsorten jeweils ein eigentümliches Gepräge 38 . Was T. Todorov als ,Pansignifikation' bezeichnet39, die Überformung aller Elemente mit Bedeutung, kann bis zu einem gewissen Grad auch für das Märchen in Anspruch genommen werden; in der geschlossenen Welt des Phantastischen, die in Fantasy ausgebreitet wird, ist dieser Zug aber sehr viel ausgeprägter; und er ist auffallender, weil die Bedeutungszuweisungen über die langen Strecken einer oft recht komplizierten Handlung durchgehalten werden. Die Konjunktur der Fantasy-Lit. (in Deutschland etwa der Erfolg der Bücher von Michael Ende, ζ. B. Momo [421999]) kann ähnlich wie die Konjunktur des Märchens während der letzten Jahrzehnte mit einer Rehabilitation der P. in Zusammenhang gebracht werden. Lit.geschichtlich hat man dem Märchen die Funktion zugewiesen, „Poesie und Phantasie" zu retten „in einem Umfeld, das der Poetik der Wahrscheinlichkeit verpflichtet ist" 40 . Dies ist aber nicht nur ein innerliterar. Prozeß. Wo in der Realität und im Realitätsverständnis technoide Strukturen und verstandesmäßige Erklärungen immer mehr dominieren, entsteht - in den Worten H. Glasers — ein „Farbigkeitsbedarf", und die P. wendet sich „gegen den ,Terror der Vernunft'" 41 . So legitim, ja notwendig es ist, der P. ihr Recht einzuräumen, so muß doch auch gefragt werden, ob die Übersteigerung ins Phantastische nicht als Droge wirken kann, die eine Rückkoppelung der P.tätigkeit an die Wirklichkeit nicht mehr ohne weiteres erlaubt 42 . 1 Überzeugende empirische Nachweise bereits bei Stern, W. (ed.): Beitr.e zur Psychologie der Aussage 1 - 2 . Lpz. 1903/04. - 2 cf. Müller, E.: Psychologie

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des dt. Volksmärchens. Mü. 1928. - 3 cf. EM 5, 1344-1347. - 4 L e G o f f , J.: P. und Realität des MA.s. Stg 1990, 60. - 5 Zitiert nach DWb. 7, 1822. - 6 ibid., 1823. - 7 cf. Richter, D./Merkel, J.: Märchen, P. und soziales Lernen. 1974, pass. 8 Nagl, M.: Science Fiction. In: Tagungsber. der internat. Jugendbuchtagung in Gwatt 1982. Bern 1982, 2 5 - 3 7 , bes. 28. - ' L a n g , E.: Bailad Singers, Ballad Makers, and Ballad Etiology. In: W F 32 (1973) 225-236. - 10 Sagenerzähler und Sagensammler der Schweiz, ed. R. Schenda (unter Mitarbeit von H. ten Doornkaat). Bern/Stg. 1988, 268, 411. " L ü t h i , M.: Volkslit. und Hochlit. Bern/Mü. 1970, 34. - 12 Bausinger, 189, 192. - 1 3 Hellpach, W.: Sozialpsychologie. Stg. 3 1951, 73. - 14 Bausinger, 8 9 - 9 1 . - 1 5 Obenauer, K . J . : Das Märchen. Dichtung und Deutung. Ffm. 1959, 17. - 16 ibid., 16. 17 ibid., 17. - 18 C. M. Wielands Sämmtliche Werke. 38: Das Hexameron von Rosenhain. Lpz. 1905, 169. - 19 BP 4, 4. - 2 0 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 9. 21 Merkel, J.: Spielen, Erzählen, Phantasieren. Die Sprache der inneren Welt. Mü. 2000, 23. 22 Schenda, R.: Von Mund zu Ohr. Göttingen 1993, 194. - 23 E M 9, 262. - 24 Lüthi, M.: Das Volksmärchen als Dichtung. Düsseldorf/Köln 1975, 25. 25 Oesterle, G.: Der Streit um das Wunderbare und Phantastische in der Romantik. In: Le Blanc, Τ./ Solms, W. (edd.): Phantastische Welten. Regensburg 1994, 115-130, hier 116. - 2 6 Goethes Sämmtliche Werke 1. Einl. K. Goedeke. Stg. 1885, 557; cf. EM 5, 1344 sq. - 2 7 Obenauer (wie not. 15) 38. - ^ G o e the (wie not. 26). - 2 9 Richter/Merkel (wie not. 7) 6. - 3 0 ibid.; cf. Schenda, R.: Märchen erzählen, Märchen verbreiten. In: Doderer, K. (ed.): Über Märchen für Kinder von heute. Weinheim/Basel 1983, 2 5 - 4 3 , bes. 41. 31 Herder, J. G.: Sämmtliche Werke 16. ed. B. Suphan. B. 1887, 584 (Palmblätter, Vorrede). 32 Faulstich, W.: Von Trollen, Zauberern, der Macht und anderen wundersamen Abenteuern. Kleine Einführung in interaktive Computer-Märchen. In: Zs. für Lit.wiss. und Linguistik 23 (1993) 9 6 - 1 2 5 , hier 98. - 33 ibid., 100. - 34 ibid. 35 Becker, S./Hallenberger, G.: Konjunkturen des Phantastischen, ibid., 141-155, bes. 142 sq. 36 Zgorzelski, Α.: A Fairy Tale Modified. Time and Space as Syncretic Factors in J. R. R. Tolkien's Trilogy, ibid., 126-140, bes.127. - 37 ibid. 38 ibid., 138. - 3 9 Todorov, T.: Einführung in die fantastische Lit. Mü. 1972; cf. Bausinger, Η.: Märchen, P. und Wirklichkeit. Ffm. 1987, 170. 40 Zeller, R.: Das Kunstmärchen des 17. und 18. Jh.s zwischen Wirklichkeit und Wunderbarem. In: Zs. für Lit.wiss. und Linguistik 23 (1993) 5 6 - 7 4 , hier 73. 41 Becker/Hallenberger (wie not. 35) 154. - 4 2 Bausinger (wie not. 39) 175-183; Pesch, H. W.: Nach Phantasien und zurück. In: Gaisbauer, R. G. (ed.): Der Zweite Kongreß der P. Passau 1989, 157-167.

Tübingen

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Philemon und Baucis

Hermann Bausinger

Phantom ->• Sinnestäuschung Pharao

Herrschaft, Herrscher

Philemon und Baucis, erstmals bei Ovid {Metamorphosen 8,616-726) überlieferte literar. Ausprägung der weltweit verbreiteten Sage von der ->• Erdenwanderung und gastlichen Aufnahme der Götter oder Gottes und der Heiligen (Engel) bei den Menschen, der ->• Belohnung der -» Gastfreundschaft und der Bestrafung der Ungastlichen (AaTh 750 A: cf. Die drei -> Wünsche): Auf ihrer Erdenwanderung durch Phrygien finden Jupiter und Merkur, überall abgewiesen, nur bei dem in äußerster Armut, doch in voller Harmonie lebenden alten Ehepaar P. und B.1 gastliche Aufnahme. Während des von den beiden Alten in rührender Sorgfalt ausgerichteten Gastmahls offenbaren sich die Götter durch ein Weinwunder (-»Wasser wird Wein); später begeben sie sich mit P. und B. aus deren Behausung und lassen während einer Wanderung zum Gipfel des nahegelegenen Berges die ungastliche Umgebung zur Strafe in einem See versinken. Einzig die Hütte von P. und B. wird gerettet und vor den Augen der überraschten Alten in einen Tempel verwandelt. Ihrem Wunsch entsprechend dürfen P. und B. dort bis zu ihrem Lebensende Priesterdienste verrichten. Ferner wird ihnen gewährt, zum selben Zeitpunkt zu sterben: Im Moment ihres Todes werden sie in zwei ineinander verschlungene Bäume (Eiche und Linde; -» Grabpflanzen) verwandelt, die noch in späteren Zeiten zu sehen sind und kultische Verehrung genießen (Metamorphosen 8,724).

Die literar. Qu. der P. und B.-Sage ist unbekannt 2 . Die kunstvolle Verknüpfung und Ausgestaltung der den Stoff konstituierenden Motive (Erdenbesuch der Götter, Sintflut, Tempel- und Baumverwandlung als Ätiologie einer phryg. Baumkultstätte) ist als eigene schöpferische Leistung Ovids anzusehen. Im Gesamtverlauf der Darstellung spielen die Metamorphosenthematik und das Motiv der Bestrafung durch Überschwemmung (-• Sintflut) jedoch nur eine sekundäre Rolle3. Im Mittelpunkt steht die in der Antike weitverbreitete Vorstellung von der Heiligkeit des Gastes und der Verletzung des Gastrechts als eines schweren Frevels, wie an der ausführlichen Wiedergabe der Bewirtungsszene deutlich wird4. In der literar. Rezeption des P. und B.-Stoffes, die schon in der Antike einsetzte, im MA.

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Philemon und Baucis

vor allem in den Ovid-Kommentaren und in der rhetorischen Tradition ihre Forts, fand und in der Neuzeit zu vielen, oft stark von der Vorlage abweichenden Neubearbeitungen führte, ist zunächst bes. das Motiv der Gastfreundschaft aufgegriffen worden. Das MA. interpretierte die Gastfreundlichkeit der Alten als Exemplum christl. Gottesfurcht. P. und B. galten als rechtschaffen und von christl. Nächstenliebe geprägt, während die beiden Götter zu pauperes Dei umfunktioniert wurden oder auch als Verkörperungen -» Christi und der -• Engel galten5. Mit Beginn der Neuzeit traten im Zuge einer Säkularisierung des Stoffes neue Aspekte in den Vordergrund. La Fontaine propagierte in seinem Gedicht Philemon et B. (1685) das Glück eines unschuldig-einfachen Lebensideals. Diese moralistisch-aufklärerische Interpretation des Stoffes fand ihre Forts, im 18. Jh. bei Voltaire (Ce qui plait aux dames, 1738; Diet, philosophique, 1764) und Johann Heinrich Voß (P. und Β., 1785, 1795, 1802). Satirisch bzw. parodistisch verfremdet wurde die P. und B.-Sage bei Jonathan Swift (Story of B. and P., 1706, 1708), Friedrich Hagedorn (P. und B., 1738) oder Johann Georg Schultheß (P. und B., 1756). Ludwig Höltys Ballade Töffel und Käthe (1773) gestaltete den Ovid-Stoff zu einer scherzhaft-ländlichen Wundergeschichte. Seit dem 18. Jh. gibt es Bearb.en der P. und B.-Sage auch als Singspiel (Michel Paul Guy de Chabanon, Philemon et B., 1775), Ballett (Pierre Charles Roy, Le Ballett de la paix, 1738), Oper (Nicolas de Malzieu, Philemon et B., 1703) und Schauspiel (Gottlieb Konrad - Pfeffel, 1761), mit zunehmend burlesken Tendenzen. -* Goethe variierte die Ovid-Sage in dramatischer Form im Faust (t. 2,5), wo das fromme alte Ehepaar P. und B. ein retardierendes Element gegenüber dem innovativen Elan Fausts verkörpert und zuletzt gemeinsam einen gewaltsamen Tod findet. Nachklänge und moderne Gestaltungen, ζ. T. gänzlich verfremdet, finden sich im 20. Jh. ζ. B. bei Hermann Kasack (Die Stadt hinter dem Strom, 1947), Tibor Dery (P. und B., 1961) oder Max Frisch (Mein Name sei Gantenbein, 1964). In Leopold Ahlsens Drama P. und Baukis (1956), das vom griech. Partisanenkrieg gegen dt. Truppen handelt, wird das Hauptmotiv der Gastfreundschaft zu einer Frage von Leben und Tod 6 .

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Aufgrund von Motivparallelen ist anzunehmen, daß die P. und B.-Sage (eventuell in Verbindung mit den alttestamentlichen Erzählungen vom Besuch Gottes und der Engel bei -» Abraham sowie der beiden Engel bei Lot vor dem Untergang Sodoms und Gomorrhas, Gen. 18 sq.) den Ursprung europ. populärer Überlieferungen bildete, in denen von einem Besuch Christi oder Heiliger und anderer heiligmäßer Gestalten auf Erden berichtet wird7. Die Übereinstimmung zwischen volkstümlicher und literar. Überlieferung zeigt sich vor allem in den Hauptmotiven (Götterwanderung, gastliche Aufnahme, Bestrafung/Belohnung bzw. Freistellen von Wünschen), während die von Ovid benutzten weiteren Motive und Details (ζ. B. die Baumverwandlung, Namen der Protagonisten, soziale Situation) keine Rolle spielen bzw. völlig umgestaltet werden. 1 Zur Namensetymologie cf. Beller, Μ.: P. und B. in der europ. Lit. Heidelberg 1967, 17. - 2 ibid., 13-18; Börner, F.: P. Ovidius Naso: Metamorphosen. Kommentar Buch VIII-IX. Heidelberg 1977, 190-196; fest steht nur die Herkunft der Sage aus Kleinasien, wo Sintflut- (cf. Beller [wie not. 1] 15 sq.), Erdenwanderungs- (cf. ζ. B. Apg. 14,11 — 13, wo Paulus und Barnabas für Zeus und Hermes gehalten werden) und Baumverwandlungsmotiv in lokalen Überlieferungen mehrfach belegt sind; zu Ovids Benutzung einer armen. Lokaltradition cf. Calder, W.: New Light on Ovid's Story of P. and Β. In: The Flood Myth. ed. A. Dundes. Berk./L. A./ L. 1988, 101-111; cf. ferner Malten, L.: Motivgeschichtliche Unters.en zur Sagenforschung. 1: P. und Β. In: Hermes 74 (1939) 176-206; 75 (1940) 168-175. - 3 Zur Sintflut cf. Ovid, Metamorphosen 1, 253-313 (Bestrafung des Frevlers Lykaon). 4 Beller (wie not. 1) 39 sq. - 5 Giovanni del Virgilio, Allegoriae librorum Ovidii Metamorphoseos (14. Jh.); Petrus Berchorius, Reductorium morale 15 (14. Jh.); Ovide moralise (14. Jh.); Otho van Veen, Emblemata Horatiana (1607). - 6 Zur literar. Rezeption cf. Beller (wie not. 1) 37—159; Zindema, W.: Zu P. und B. im Drama. In: Zs. für vergleichende Litteraturgeschichte N. F. 14 (1901) 474 sq. - 7 cf. Schmarsel, F.: Die Sage von der untergegangenen Stadt. (Diss. Kiel 1912) B. 1913; Landau, M.: Die Erdenwanderungen der Himmlischen und die Wünsche der Menschen. In: Zs. für vergleichende Litteraturgeschichte N. F. 14 (1901) 1-41; Reuschel, K.: Nachträge zu Landau's „Erdenwanderungen der Himmlischen" 1. ibid., 472 sq.; BP 2, 210 sq., 227; Dh. 2, 133-140; Benfey 1, 497; Grimm, Mythologie 1, XXIX-XXXIII; Frenzel, Motive, 285-297.

Berlin

Angelika Lozar

987 Philinion

Philippe le Picard

Lenore

Philippe de Beaumanoir Hände

Mädchen ohne

Philippe le Picard, * Lyons-la-Foret 1530/ 31, f Abtei Mortemer 11.2.1581, frz. Verf. von Lügenerzählungen, der sich hinter Anagrammen wie Philippe d'Alcripe oder Sieur de Neri en Verbos (= Rien en Bourse) versteckt; wahrscheinlich ein belesener Mönch des Zisterzienserklosters von Mortemer nahe Lyons-la-Foret (Normandie). Sein einziges erhaltenes Werk, die Nouvelle Fabrique des excellents traicts de verite (P. 1579?), ist nur in einer Zweitauflage vom Ende des 16. Jh.s1 und einer weiteren Edition vom Beginn des 17. Jh.s 2 erhalten. Um 1612 veröffentlichte ein gewisser Sieur du Moulinet 44 daraus entlehnte Erzählungen (ohne moralische Anhängsel)3. Die P.-Ausg. des Arztes A. Larchevesque (1732)4 enthält elf zusätzliche Lügengeschichten5. Die beiden letztgenannten Editionen nutzte der Bibliophile G. A. GratetDuplessis für seine 1853 erschienene Neuausgabe6, die außerdem noch, wegen seiner Wunderberichte, den sog. Brief des Priesters Johannes enthält 7 . R. Schenda hat P.s Sammlung 1958 erstmals hist.-kritisch analysiert8; eine von G. Thomas besorgte gründliche Analyse aus der Sicht der Folkloristik samt engl. Übers, erschien 19779; F. Joukovsky legte 1983 eine moderne Textausgabe mit ausführlichem Kommentar vor 10 . Die sprachanalytische Studie von V. Mecking (1993)11 erläutert ergänzend den gesamten Wortschatz des Werkes. P.s Sammlung enthält 99 Erzählungen der Gattung ->• Lügengeschichte (cf. auch Aufschneider, Nonsens). Diese schöpfen aus zeitgenössischen (vor allem H. -» Bebel, wohl auch Olaus Magnus 12 ) und antiken (->· Lukian, -+ Plinius Secundus d. Ä.) Qu.η und haben teilweise bis in die Moderne — bes. in R. E. Raspes bzw. G. A. Bürgers Münchhausen — (cf. Münchhausiaden) nachgewirkt 13 : num.l = AaTh 654: Die hebenden -» Brüder. — 2 = Mann baut eine Windorgel aus abgesägten und ausgebohrten Baumstämmen 1 4 . — 3 = In der Kirch-

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gasse zu Rouen werden zwei Dirnen vom Wind hochgehoben und halbnackt am oberen Kirchenportal aufgehängt 15 . - 4 = Zwei Kanonenkugeln, aus feindlichen Lagern abgefeuert, stoßen in der Luft aufeinander und fallen auf einen Pionier (cf. num. 61). - 5 = Mäher durchschneidet mit seiner Sense einen Stein; dabei hervorsprühende Funken setzen die Wiese in Brand. - 6 = Apotheker will die Verstopfung einer Frau mit einem Klistier beheben; vor Angst furzt sie so stark, daß der Heiler zu Boden stürzt 16 . - 7 = Schuster wirft einem Hasen einen Brocken Pech an den Kopf; der Hase rennt gegen einen zweiten, und beide kleben aneinander (AaTh 1893 A*: Two Hares Run into Each Other). - 8 = Antipoden 17 : Mann findet am Grunde eines Brunnens eine Steinplatte; auf der anderen Seite hört er Frauen reden (cf. num. 33). - 9 = Bei großer Kälte (cf. Mot. X 1620) putzt sich ein Fischweib die Nase, reißt sie dabei ab und wirft sie unachtsam fort; ihre Kinder erschrecken bei ihrem Anblick (cf. num. 18, 24, 28, 94). - 10 = Im Kampf gegen die Hugenotten in Rouen (1562) trennt eine Kanonenkugel einem Schmied die hintere Hälfte seines Pferdes ab; er kämpft drei Stunden weiter hoch zu Roß, dann stürzen Tier und Reiter bei einem Rückzugsmanöver (Mot. X 1864). - 11 = Soldat soll hingerichtet werden; aus Gnade läßt man ihm sein Schwert ,baise mon cul' (Parodie auf die Schwerternamen der alten Epenhelden) 18 und veranstaltet ein Armbrustschießen auf ihn. Er kann mit seinem Schwert alle Pfeile abwehren. - 12 = Wunderbare Reise eines Kaminkehrers mit parodierten Fabelwesen. — 13 = Bullenbeißer trifft auf Fuchs; sie gucken sich so scharf an, daß ihnen die Augen aus den Köpfen fallen. - 14 = Hündin wirft ihre Jungen bei der Verfolgung eines Hasen (Baughman X 1215.13* [c]). - 15, 16 = Spuck- und Eß-Wette gewonnen. - 17 = Tennisball landet im Bart eines Zuschauers und wird nicht mehr gefunden 19 . - 18 = Große Kälte: Mann auf einem Baum holt das zu Boden gefallene Hackmesser am gefrorenen Strahl seines Urins nach oben 20 . - 19 = Mann trägt ausgejätetes Distelbüschel nach Hause; ein Bienenschwarm setzt sich darin fest und vermehrt sich rasch so stark, daß der Mann reich wird. - 20 = Hagelsturm schlägt 392 Ziegen die Hörner ab 21 . - 21 = Ente fällt in Brunnen und taucht eineinhalb Meilen weiter wieder auf (cf. num. 66). - 22 = Trickreiches Würfelspiel. — 23 = Beim Schneiden eines Brotlaibs teilt sich ein Mann selbst in zwei Stücke. - 24 = Große Kälte: Frau klebt beim Wasserlassen am Boden an (Mot. X 1606.2.1)22. - 25 = AaTh 1960 B: cf. Die ungewöhnliche Größe (Fisch). - 26 = Zwei kämpfende Hirsche verfangen sich in ihren Geweihen und reißen sich gegenseitig die Köpfe ab. - 27 = AaTh 1960 A: cf. Größe: Die ungewöhnliche G. (Ochse ). — 28 = Große Kälte: Katze und Ratte frieren beim Sturz aus der Dachtraufe in der Luft an und bleiben dort hängen. - 29 = Lustige Gesellschaft stürzt durch den Fußboden in den Keller, ohne sich zu verletzen 23 . 30 = Versehentliche Kastration eines Markthändlers

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durch Beutelschneider 24 . — 31 = Menschenfressender .Hirschwolf (Luchs) wird von jungem Flößer mit langer Hakenstange durchbohrt und von innen nach außen und wieder zurückgestülpt (AaTh 1889 B: Hunter Turns Animal Inside Out)25. - 32 = Unwetter mit Froschregen. — 33 = Antipoden: Bauer folgt im Winter einem verlaufenen Schwein in eine Höhle; an deren Ausgang findet er Leute bei der Kornernte (cf. num. 8) 26 . - 34 = Bogenschütze will eine Frau von schmerzendem Backenzahn befreien; er bindet diesen an einen Pfeil seiner Armbrust; die Frau wird beim Abschießen eine halbe Meile weit durch die Luft gerissen (cf. num. 36, 37, 47, 59, 62). - 35 = Auf einem frisch besäten Feld wächst der Hafer so schnell, daß er einem durchmarschierenden Landboten beim Hineingehen bis zu den Knöcheln, beim Hinausgehen schon zu den Knien reicht. Man streitet sich um diese neuen Lehen, aber: ,das ist für die Herren; die Armen kriegen nie etwas' 27 . - 36 = Kraniche werden an langer Schnur aufgereiht (AaTh 1876: -» Gänse an der Leine). — 37 = Wildenten tragen ihre Jungen samt den wie Körbe gebauten Nestern aus den Bäumen zum Meer, wo die Küken gleich schwimmen können (cf. num. 34, 36, 47, 59, 62). - 38 = Räuber hält Reiter am Zügel des Pferdes fest. Der Überfallene haut dem Wegelagerer die Hand ab; zu Hause angekommen, findet er die Hand noch am Zügel festgekrallt; sie wird als Zeichen an die Tür genagelt 28 . - 39 = Pfarrer verschluckt mit seiner Suppe eine Schwalbe; sie fliegt zwei Stunden in seinem Magen herum 29 . - 40 = Große Jagdbeute (Wasservögel) (cf. auch num. 43, 46, 65, 71, 72, 77). - 41 = Kuh wirft bekleidetes Kalb 30 . - 42 = Wunderhund frißt tollwütige Hunde und ist für alle Jagdarten zu gebrauchen. - 43 = Große Jagdbeute (AaTh 1895: A Man Wading in Water Catches Many Fish in his Boots)31 . - 44 = Mann rülpst so stark einen Kamin hinauf, daß dieser von Vogelnestern und Ruß gereinigt wird. - 45 = Läufige Hündin läßt sich von drei Rüden besteigen; als Bauern die Tiere vertreiben, springt sie über einen hohen Zaun; die Hunde bleiben darin hängen und werden verprügelt. - 46 = Große Jagdbeute: Eichhörnchen. - 47 = Riesenvogel (-> Phönix) entführt zuerst ein Schaf, dann den Schäfer, um ihn zu verschlingen; der Hirte wird nach dem Tod des Vogels lebend befreit 32 . 48 = Rosenkranz mit Bernsteinkugeln zieht Heuhaufen auf sich. — 49 = Aufzählung von Naturwundern 33 , darunter Wind als (magische) Handelsware in Finnland 3 4 und -» Baumvögel. - 50 = Wunderbare Nonsens-Gegenstände in einem unterirdischen Schatz, ζ. B. „ein Faß voll mit Fledermausfedern" 35 . - 51 = Milan brütet ihm untergelegte Henneneier aus, sorgt sich um die Küken und trägt noch mehr junge Hühner herbei 36 (cf. auch num. 54, 69). - 52 = Frischling führt mit seinem Schwanz einen alten blinden Wildeber. Ein Jäger trennt den Schwanz von dem Jungen ab und führt den Alten an dem Stummel zu sich nach Hause (Mot. X 1124.1). - 53 = Maulwurf bringt eine Terrasse samt prächtigen Treppen zum Einsturz 37 . - 54 = Alte Ratte zieht verwaiste

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Kätzchen auf (cf. num. 51, 69). - 55 = Bader heilt die Maulsperre eines Jagdaufsehers mit einem Faustschlag aufs Ohr; die Zähne schlagen beim Zusammenklappen Funken und setzen den Bart in Brand. - 56 = Läuse ziehen einen verkommenen Soldaten ins Wasser. - 57 = Ehemann durchbohrt seine Frau und ihren Liebhaber, einen Garnisonskapitän, im Bett mit dem Bratspieß (Mot. Q 411.0.2) und trägt sie zum Richter. - 58 = Zwei gewaltige Esser und Trinker (Mot. J 1468). - 59 = AaTh 225: cf. - Fliegen lernen (Elster/Fuchs). - 60 = Starker Mann schleudert einem Wolf einen Stein an den Kopf und durchbohrt ihn damit von vorn bis hinten (Mot. X 940). - 61 = Musketiere können wechselseitig Kugeln in ihre Gewehrläufe schießen (cf. num. 4). - 62 = Unter der Last einer Maikäferplage brechen Bäume zusammen; zwei Hunde fressen so viele Käfer, daß sie in die Luft fliegen (cf. num. 34, 36, 37, 47, 59). - 63 = Eine Herde Kühe verwüstet ein Kornfeld; dessen Besitzer schneidet den Tieren die Schwänze ab. Auf Rat einer Hebamme nähen schamhafte Frauen den Tieren die Schweife wieder an. - 64 = Schlosser rettet sich vor wildem Eber hinter einen Baum; das Tier stößt seinen Hauer durch das Holz; ein Schmied klopft die Spitze des Zahns um und kann so das Tier erlegen (Mot. X 1233.1.2; cf. auch AaTh 1640: Tapferes Schneiderlein)n. - 65 = Große Jagdbeute: Schwimmendes Pferd tötet Fische mit seinen Hufen. - 66 = Vollbesetzte Kutsche versinkt in einem Teich und taucht eine halbe Meile weiter wieder auf (cf. num. 21). — 67 = Hase, von Hunden verfolgt, segelt mit Hilfe seiner Löffel über die Seine 39 . — 68 = Barfüßiger Schnelläufer 40 . - 69 = Hündin nährt drei Häschen (cf. num. 51, 54). - 70 = Tauben picken die Körner eines säenden Landmannes auf, bevor diese zu Boden gefallen sind. - 71 = Große Jagdbeute: genügend Vögel für sieben Federbetten. - 72 = Große Jagdbeute: zahllose Mäuse und 48 Ratten. - 73 = Nach Wortstreit wegen eines nicht fertiggenähten Rocks zieht der Soldat seinen Degen; der Schneider zerschnitzelt diesen mit seiner Schere. - 74 = Hase, von zwei Jagdhunden verfolgt, tötet den einen Hund mit einem Steinwurf aus den Hinterläufen 41 ; der andere schleudert den Hasen an einem Ohr auf den Sattel des reitenden Jägers. - 75 = Einer Wäscherin platzt ein nasses Kissen beim Daraufschlagen; die Federn schwimmen bachab und zerstören eine Mühle; die Fische beginnen zu husten. - 76 = Verbrühter Hund rennt vor Schmerz so heftig gegen einen Nußbaum, daß 59 Scheffel Nüsse zu Boden fallen. - 77 = Große Jagdbeute: Hund fangt Krebse. - 78 = Wolf verfangt sich in den Hörnern einer Ziege; beide Tiere werden von einer Stute davongetragen (cf. AaTh 160 A*: The Pike Caught by the Fox). - 79 = Staubwolke zerschmettert einem Schneiläufer beide Beine. - 80 = Im Geweih eines erlegten Hirsches haben neun Eichhörnchen ihr Nest gebaut. - 81 = Pferd fängt beim Saufen mit Hilfe eines ihm umgehängten Korbes viele Fische. — 82 = Auf dem Kopf eines riesigen Hechts findet sich ein

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Knäuel aus Gras und Moos, in welchem ein Fischotter lebt. - 83 = Ein gejagter Hase stürzt sich von einer Klippe ins Meer, zwei Hunde springen ihm nach. Der Jäger segelt aufs Meer hinaus, und die Hunde treiben den Hasen in sein Boot. - 84 = Kirchturm in der Auvergne mit windgetriebenem mechanischem Uhrwerk. - 85 = Tollwütiger Hund beißt alle Tiere auf einem Hof, darunter einen Hahn, der nach neun Tagen durch Felder und Wälder rennt und u. a. 16 Füchse erwürgt 42 . - 86 = Bei der Hungersnot 1573 läßt ein Edelmann in einem großen Teich mit 63889 Töpfen Butter und riesigen Mengen anderer Zutaten mit Hilfe eines unterirdischen Feuers eine Fischsuppe für die Armen kochen, die den Teich in drei Tagen und Nächten auslöffeln (cf. AaTh 1895 B*: The Fish-Soup in the Sea + AaTh 1960 F: cf. Größe: Die ungewöhnliche G.). - 87 = Goldschmied arbeitet feine Kette für einen Floh und steckt ihn in ein korngroßes Silberkästchen, auf dem die Zerstörung Trojas dargestellt ist 43 . - 88 = König Franz IX. (gest. 1574) auf der Hirschjagd im Wald von Lyons: Jagdhelfer wirft dem Hirsch einen Riemen samt Jagdhorn als Lasso über das Geweih; das Tier entkommt, verrät aber seinen Standort, weil es in das Horn schnaubt 44 . - 89 = Mann gerät beim Übersteigen der Grenzhecken von Thil auf den Rükken eines Wolfes, zügelt diesen mit seinem Hosengürtel und reitet weite Strecken durch die Gegend (mit genauer Beschreibung von Örtlichkeiten und Landschaft). - 90 = Hecht frißt Hund, der am Ufer eines Flüßchens säuft 45 . - 91 = AaTh 1875, 1900: Junge am Bärenf Wolfs)schwänz. — 92 = Fernliebe: Pariser Student erblickt Bild der Sultanstochter und verliebt sich in sie (Mot. Τ 11.2). Eine Schwalbe nimmt seinen Liebesbrief nach Babylon, wo die Prinzessin in einen Turm (Mot. R 41.2) eingesperrt ist, weil sie den König von Persien nicht heiraten will. Sie schreibt umgekehrt einen (frz.) Brief und legt einen Ring hinein, der unsichtbar macht (Mot. D 1361.17). Der Student gelangt mit dessen Hilfe zu der Gefangenen 46 . - 93 = Drei junge Männer begegnen drei Feen vom Hofe des Königs -» Oberon 47 und erweisen ihnen so viele Liebesdienste, daß ihnen die Jenseitigen drei Wünsche gewähren. Nun wünscht der Älteste, sein Kalb möchte ihn von der Flechte heilen. Der zweite Bruder wünscht ihm wegen dieser Dummheit ein Auge aus dem Kopf. Da wünscht der dritte wütend, der zweite möge ganz blind werden (AaTh 750 A: cf. Die drei -> Wünsche)**·. - 94 = Große Kälte: Abgeschnittener Kopf (-• Kopflose) friert wieder am Rumpf an; der Enthauptete läuft nach Hause; dort taut der Kopf endgültig ab 49 . - 95 = Ratte, nur am Schwänze geschnappt, flieht mit der Falle, reißt sich den Schwanz aus, wird von einem Truthahn gefressen, marschiert diesem zum Hintern hinaus und gerät schließlich in die Klauen einer alten Katze. - 96 = Mann findet in einem Eulennest zahlreiche von den Vögeln gestohlene Juwelen 50 . - 97 = Leute brüsten sich mit ihrer zahlreichen Verwandtschaft. - 98 = Riesige Erdbeere wird von einer Schnecke ausgehöhlt; Wolf

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bringt dort 13 Junge zur Welt, welche die Beute von glücklichen Jägern werden (AaTh 1960 D: cf. Größe: Die ungewöhnliche G.). - 99 = Frau findet eine Krätzmilbe ,auf dem Hügel ihres Rehfußes' und zerquetscht sie zwischen ihren Daumennägeln mit einem solchen Lärm, daß alles Küchengeschirr von den Regalen fällt. P. spielt immer wieder auf das karge bäuerliche Alltagsleben seiner Heimat, aber auch auf seine eigene Armut 5 1 an. Von Erzählrunden in diesem Milieu berichtet er mehrfach 5 2 . Adlige spielen in seinen Schwänken keine Rolle, Kleriker nur am Rande; von religiösen Themen, bes. Heiligenwundern, und auch v o m Teufel und der Magie hält er sich fern; er zählt damit zur Gruppe der skeptisch-ungläubigen Autoren im 16. Jh. 5 3 Er liefert, diesseitsbezogen, lebende Bilder aus der Natur: Geschichten v o n garstigem Wetter, v o n Tieren und Menschen (hauptsächlich Männern); dabei scheut er sich nicht vor Sozialkritik. Beim Erzählen benutzt er einen teils rhetorisch-gekünstelten, an -» Rabelais orientierten Stil (Enumeration, Wortketten) 5 4 , teils aber auch populäre U m g a n g s sprache 5 5 mit beliebten (Reim-)Formeln (,ne vous deplaise, Blaise' 56 ; ,vous oyrez merveilles, belies oreilles' 57 ), Ausrufen, Sprichwörtern 5 8 und Redensarten. Jeder seiner Geschichten ist ein teils moralisierender, teils die Moral ironisierender gereimter Zweizeiler angehängt 5 9 . D i e wiederkehrenden Wahrheitsbeteuerungen (,Ce n'est point fable, plusieurs l'ont veu' 6 0 ) unterstreichen seinen ausgeprägten Sinn für das Phantastisch-Fiktionale. P., der Vater der Lügengeschichten-Renaissance in der frühen Neuzeit, hat mit seiner unterhaltsamen Sammlung mehr poetische Energie entwickelt als mancher Novellen-Epigone seiner Zeit; das von ihm angesprochene Publikum ist nicht im Volk, sondern in der Bildungsschicht seiner Zeit zu suchen 6 1 . 1 La Novvelle Fabrique des excellents traicts de verite. Liure pour inciter les reueurs tristes & melancholiques ä viure de plaisir. Par P. d'Alcripe Sieur de Neri, en Verbos. Omnis homo mendax. Estist [sie] der treitz. Rouen s. a. (Bibl. Nationale, Paris). 2 L a Nouvelle Fabrique [...]. Rouen s. a. (British Library, London). - 3 Les Facecieux devis et plaisans contes par le sieur du Moulinet. P. s. a. (Bibl. Nationale, Paris). - 4 Schenda, R.: P. le P. und seine Nouvelle Fabrique. Eine Studie zur frz. Wunderlit. des 16. Jh.s. In: Zs. für frz. Sprache und Lit. 68 (1958) 4 4 - 6 1 , hier 44sq. - 5 Thomas, G.: The Tall Tale

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and P. d'Alcripe. An Analysis of the Tall Tale Genre with Particular Reference to P. d'Alcripe's La Nouvelle Fabrique des Excellents Traits de Verite together with an Annotated Translation of the Work. St. John's 1977, 1 4 8 - 1 5 3 , 2 1 5 - 2 1 9 . - 6 La Nouvelle Fabrique des excellens traits de verite. Livre pour inciter les reveurs tristes et merancoliques [sic] a vivre de plaisir, par P. d'Alcripe [...]. Nouvelle ed. revue avec soin, et augmentee des Nouvelles de la terre de Prestre Jehan. P. 1853. - 7 ibid., 1 8 9 - 2 2 0 ; Thomas (wie not. 5) 1 5 4 - 1 6 7 (in engl. Sprache). 8 Schenda (wie not. 4); id.: Die frz. Prodigienlit. in der 2. Hälfte des 16. Jh.s. Mü. 1961, 9 7 - 1 0 2 ; cf. auch Wetzel, Η. Η.: Märchen in den frz. Novellenslgen der Renaissance. B. 1974, 6 4 - 6 6 , 1 1 5 - 1 1 9 ; Perouse, G. Α.: Nouvelles frangaises du XVI C siecle. Genf 1977, 251—267 (mit Berücksichtigung von Alltagsleben und Sozialbeziehungen). - 9 Thomas (wie not. 5). - 1 0 P. d'Alcripe: La Nouvelle Fabrique des excellents traicts de verite. ed. F. Joukovsky. P./Geneve 1983 (mit erstmaliger Nennung der Lebensdaten P.s). " M e c k i n g , V.: Wortgeschichtliche Unters.en zu P. d'Alcripes „La nouvelle fabrique" (ca. 1580). Tübingen 1993. - 1 2 Zunächst als „Historia de gentibus septentrionalibus" (Rom 1555) erschienen, dann in Antwerpen 1558 (lat.), 1561 (frz.); hier zitiert nach Olaus Magnus: Description of the Northern Peoples (Rom 1555) 1 - 3 . ed. P. Foote. L. 1 9 6 6 - 9 8 . - 1 3 cf. hierzu im einzelnen bes. Schenda (wie not. 4); id. (wie not. 8); Thomas (wie not. 5). - 1 4 Thomas (wie not. 5) 171 (verweist auf Lukian). - 15 Schenda (wie not. 4); bei Lukian tauchen Windläufer auf; Montanus (Wegkürzer [1557], num. 26) läßt eine Augsburgerin mit bloßem Leib zum Tanzhaus heraushängen; Olaus Magnus (wie not. 12) 3 2 - 3 5 berichtet von verschiedenen Winden in Skandinavien und in Benevent, die Steine, Menschen, Tiere, Häuser und Schiffe in die Luft heben. - 16 cf. auch den Furz des Orco in Basile 2,3 und 3,5. - 1 7 cf. Carroll, L.: Alice's Adventures in Wonderland. L. 1865, Kap. 1. 18 Rabelais, F.: (Euvres completes, ed. M. Huchon. P. 1994, 634. - 1 9 cf. Roberts, M. (ed.): The Faber Book o f Comic Verse. L. (1941) 1951, 169 (Limerick von Edward Lear). - 2 0 Wackermann, E. (ed.): [Bürger, G. Α.] Münchhausens wunderbare Reisen (L. 1788). Hbg 1966, 22. 2 1 Olaus Magnus (wie not. 12) 53 berichtet von kopfgroßen Hagelschloßen als Todesvorboten. 2 2 Marco Polo: II milione. ed. L. F. Benedetto. Firenze 1928, 234. - 2 3 Schenda, R.: Lapsus und Kasus. Fälle des Körpers. In: Leitmotive. Kulturgeschichtliche Studien zur Traditionsbildung. Festschr. D.-R. Moser. Kallmünz 1999, 6 4 3 - 6 6 2 . - 2 4 Zu abgeschnittenen Hoden in modernen Sagen cf. Glazer, M.: The Traditionalization o f Contemporary Legend. The Mexican American Example. In: Fabula 26 (1985) 2 8 8 - 2 9 7 . - 2 5 Schenda, R . : Das A B C der Tiere. Mü. 1995, 205 sq.; E M 9, 1012. - 2 6 Gervais de Tilbury: Le Livre des merveilles. Divertissement pour un Empereur (Troisieme partie). ed. A. Du-

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chesne. P. 1992, 60 sq. - 2 7 P. d'Alcripe (wie not. 10) 77. - 2 8 Die Geschichte erinnert an Körperstrafen der frühen Neuzeit (Schenda, R.: Gut bei Leibe. Mü. 1998, 357 sq.), findet sich aber auch wieder als moderne Sage u. d. T. „The Hook": Brunvand, J. H.: The Vanishing Hitchhiker. L. 1983, 4 6 - 4 9 ; Fleming, R. L./Boyd, R . F., Jr.: The Big Book o f Urban Legends. Ν. Y. 1994, 10. - 2 9 cf. Rabelais (wie not. 18) 640 sq. — 3 0 Ätiologische Parodie auf ein prodigiöses Kalbsmonstrum, cf. Schenda 1961 (wie not. 8) 98, 118 (mit Hinweis auf C. Lycosthenes). 31 Venbrux, E./Meder, T.: Anders Bijma's Folktale Repertoire and Its Collectors. In: Fabula 40 (1999) 2 5 8 - 2 7 7 , bes. 270. - " S c h e n d a (wie not. 25) 1 8 - 2 0 . - " T h o m a s (wie not. 5) 194 sq. - 3 4 Olaus Magnus (wie not. 12) 173; cf. Rabelais (wie not. 18). - 3 5 Thomas (wie not. 5) 196 sq. - 3 6 Schenda (wie not. 25) 189 sq. (Übersteigerung des Phänomens, daß das Kuckucksweibchen seine Eier in fremde Nester legt). - 3 7 Plinius, Naturalis historia 8, 29. Zum vergleichbaren Einhornfang (seit dem 14. Jh.) cf. Einhorn, J . W.: Spiritalis unicornis. Das Einhorn als Bedeutungsträger in Lit. und Kunst des MA.s. Mü. 1976, 128 sq.; KHM/Uther 4, 4 3 - 4 6 . 3 9 Olaus Magnus (wie not. 12) 899. "°Krohn, K.: Übersicht über einige Resultate der Märchenforschung ( F F C 96). Hels. 1931, 42. 4 1 Plinius, Naturalis historia 10,1,376 (Vogel Strauß); Schenda (wie not. 25) 360. - 4 2 Zum Problem der Tollwut cf. Ritvo, H.: The Animal Estate. The English and Other Creatures in the Victorian Age. Cambr., Mass. 1987, 1 6 7 - 1 9 0 . - 4 3 Plinius, Naturalis historia 7,21,85 (nach Cicero habe eine Pergamenths. der homerischen „Ilias" ,in nuce' Platz gehabt). - 4 4 Schenda 1961 (wie not. 8) 118 (Hinweis auf G. Bouchet). - 4 5 Kirchhof, Wendunmuth 1, num. 260. - 4 6 Schenda (wie not. 4) 56 sq. - 4 7 P. d'Alcripe (wie not. 10) 180 (mit Hinweis auf den altfrz. Roman „Huon de Bordeaux"). - 4 8 cf. Kasprzyk, K.: Nicolas de Troyes et le genre narratif en France au X V I e siecle. P. 1963, 2 4 0 - 2 4 2 ; Bedier, J.: Les Fabliaux. P. 51925, 212 sq. (mit zahlreichen Verweisen). - 4 9 Schenda (wie not. 28) 7 9 - 9 1 ; cf. auch Kirchhof, Wendunmuth 1, num. 261; Olaus Magnus (wie not. 12) 58 (eingebrochene Eissportler, denen die Köpfe von scharfen Eiskanten abgeschnitten wurden). - 5 0 cf. Schenda (wie not. 25) 62 sq.; cf. auch Sebillot, P.: Le Folklore de France 3. P. 1906, 179 (mit Hinweis auf P.). 51 P. d'Alcripe (wie not. 10) num. 53. - 5 2 ibid., num. 84, 97 (Anfang). - 5 3 Febvre, L.: Le Probleme de l'incroyance au X V I e siecle. La religion de Rabelais. P. 1947. - 5 4 cf. auch die Liste von 39 Vögeln in num. 71 und die von 64 Krankheiten in num. 93 (mit Kommentar bei P. d'Alcripe [wie not. 10] 183). 38

cf. die Flüche des Soldaten ibid., num. 73. ibid., num. 45; cf. Thomas (wie not. 5) 184 sq. 5 7 P. d'Alcripe (wie not. 10) num. 79. 5 8 Thomas (wie not. 5) 195 sq. — 5 9 ζ. Β. P. d'Alcripe (wie not. 55

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Philippe de Vigneulles

10) num. 71: „Le vray ami est toujours prest, / D'ayder, donner, et faire prest." - 6 0 ibid., num. 69. 61 cf. die Würdigung durch Perouse (wie not. 8) 262-264.

Jona

Rudolf Schenda

Philippe de Vigneulles, * Vigneulles 7.6. 1471, f Metz zwischen dem 20. 3. und 12. 4. 1528, frz. Schriftsteller. P. kam aus kleinen Verhältnissen und gelangte als Strumpfwirker und Tuchhändler zu Reichtum; als Autodidakt verfaßte er eine Chronik seiner Heimatstadt 1 , ein Journal, das Autobiographie und Stadtgeschichte verbindet2, eine Prosaauflösung der Chanson de geste Garin le Loherain und eine Slg von 100 Novellen, die im Anschluß an das Vorbild aus dem 15. Jh. als Cent Nouvelles nouvelles bezeichnet wird, obwohl P.s Sprachgebrauch den Titel Les cent Nouvelles nahelegt3. In seiner Jugend hatte sich P, der weder Latein noch Deutsch konnte, längere Zeit in Italien aufgehalten (1486-91) und dort -> Boccaccios Decamerone, den Novellino von -» Masuccio Salernitano u. a. Slgen sowie die Fazetien -> Poggios (in ital. Übers.) kennengelernt; als er (zwischen 1505 und 15154) seine Novellen schrieb, ließ er sich von diesen Vorbildern anregen, obwohl stoffliche Entlehnungen eher selten sind. Von Boccaccio hat P. nur eine einzige Novelle (num. 94; cf. Decamerone 8,8) übernommen, die nicht auf dem ital. Orig., sondern der frz. Ubers, von Laurent de Premierfait basiert5; aus Poggio sind u. a. num. 15, 42, 97, 110 übernommen 6 . C. H. Livingston 7 vermutet, P. habe die meisten Geschichten aus mündl. Überlieferung geschöpft. Häufig lassen sich Parallelen in den altfrz. Fabliaux· und Exempelsammlungen oder Schwankbüchern des 16. Jh.s nachweisen; allerdings lokalisiert P. weitverbreitete Geschichten gern im zeitgenössischen Metz. Daneben hat er auch lokale Überlieferungen aufgenommen. P.s Slg enthält fast ausschließlich Schwankerzählungen8, großenteils mit misogyner und/ oder antiklerikaler Tendenz. Moralisierende Kommentare sind meist ironisch zu verstehen. Als implizite Lehre gibt P. den Lesern die Empfehlung mit, über die Schlechtigkeit und

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Unvollkommenheit der Welt zu lachen9. Protagonisten der Novellen sind Bürger oder Bauern, Adlige treten nur selten auf. Vor allem in den zahlreichen Dialogpassagen ist P. bemüht, Alltagssprache bzw. Dialekt der Bürger von Metz getreu wiederzugeben. Die Verbreitung der Slg blieb offenbar auf das unmittelbare Umfeld des Autors beschränkt. Das einzige überlieferte Ms. (mit hs. Korrekturen des Verf.s) blieb lange im Familienbesitz. Da Blätter fehlen, sind zahlreiche Novellen unvollständig oder gar nicht erhalten. Nachträglich fügte P. zehn weitere Stücke hinzu, die aber bis auf das letzte (num. 110) verloren sind. Im Druck erschienen die Cent Nouvelles nouvelles erstmals in der Ausg. Livingstons (1972)10, der die Hs. in den 20er Jahren erworben hatte. Als Beleg für den kulturellen Austausch zwischen Italien und Frankreich und als Fallbeispiel für das Geschichtenrepertoire eines bürgerlichen Kaufmanns an der Schwelle vom MA. zur Neuzeit verdient die Slg mehr Beachtung, als ihr bisher zuteil wurde. E r z ä h l t y p e n u n d - m o t i v e (Ausw.): num. 2 = Beichte: Sünder soll ,ab morgen' fasten, fängt nie an (Mot. Κ 231.12). - 3 = AaTh 1741: Priesters Gäste. - 4 = Pfarrer, der für Prälaten einen Imbiß .modicum et bonum' richten soll, läßt das Fleisch seines Esels Modicum zubereiten (-> Wörtlich nehmen; cf. AaTh 1685: Der dumme -» Bräutigam). - 5 = Dummer Mönch verwahrt Wein in einer Truhe. - 8 = AaTh 1735: Die zehnfache -> Vergeltung. - 11 = AaTh 1341 B: - Gott ist auferstanden. - 15 = Ehefrau zahlt Mönch den .Zehnten' vom ehelichen Beischlaf (Rotunda J 2342.3). - 17 = AaTh 1359 B: cf. Ehebruchschwänke und -witze. - 19 = Trickster vermehrt schwarze Farbe (scheißt in den Farbtopf)· - 20 = AaTh 1: Fischdiebstahl (mit menschlichem Protagonisten). - 25 = AaTh 1688: Der übertreibende - Küster). - 52 = AaTh 1792: Der geizige -» Pfarrer und sein Schwein. — 56 = AaTh 1563*: Die schreckliche -> Drohung. — 57 = AaTh 1641: - Doktor Allwissend. - 60 = AaTh 1697: cf.

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Philippinen

-> Handel mit dem Teufel. - 65 = cf. AaTh 886: Die geschwätzige -» Braut. — 66 = Frau bezahlt Schuhe, indem sie mit dem Schuster schläft. Ehemann zwingt sie, die Schuhe zurückzubringen; sie läßt sich den .Kaufpreis' erstatten (Mot. Κ 1362). - 69 = AaTh 1362 A*: ^ Dreimonatskind. - 71 = AaTh 1420 E: cf. - Weisheit) im Gegensatz zu den Gelehrten mit bloßem Fachwissen (aus griech. philein: lieben und Sophia: Weisheit). D a s kulturelle Gedächtnis bewahrt das Andenken an die Philosophen ( P e n ) der Antike (bes. Sokrates, Piaton, Aristoteles und - Voltaire, Kant, Hegel, Schopenhauer oder Nietzsche gibt es zahlreiche Anekdoten 2 . Selbst P e n des 20. Jh.s wie Wittgenstein, Heidegger oder Jaspers sind zur Zielscheibe eines liebevoll phil. H u m o r s geworden, der seinen U r s p r u n g teilweise in mündl. kursierenden Geschichten aus dem Univ.sbetrieb hat. Was f ü r die europ. Überlieferung gilt, besitzt mit entsprechenden Modifizierungen wohl auch f ü r diejenige anderer Kulturen Gültigkeit, so d a ß davon ausgegangen werden kann, d a ß über arab. P.en wie Averroes oder Avicenna, über den jüd. Maimonides oder die Chinesen K o n f u z i u s oder Mencius außer einer gelehrten auch eine volksläufige Überlieferung existiert.

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Philosophen

P.en wirken zunächst einmal durch ihre Werke, deren argumentatives Material oft Verbindungen zur mündl. Überlieferung aufweist. So ist etwa der Frühbeleg für AaTh 1804, 1804 A—B: Scheinbuße in der Nikomachischen Ethik (9,1) des Aristoteles internat. bis heute überaus folgenreich3. Eine andere Verbindung zwischen den Schriften der P.en und dem Bereich der populären Überlieferung bieten phil. Romane oder populärwiss. Bestseller, über die ein breites Publikum phil. Gedankengut sowie Faktenwissen über die betr. P.en rezipieren kann 4 . Ikonographisch wurde die Figur des Pen in der Überlieferung des christl. Abendlandes mit der von Christus als einem großen Lehrer und Disputator gleichgesetzt5. Christus, den -» Heiligen, den großen Lehrern der Kirche (-» Vitae patrum) und den antiken P.en wurden die gleichen Attribute beigegeben, so bes. das Buch als Wissensquelle und Autoritätsmerkmal. Im europ. Erzählgut werden P.en meist behandelt als Fremde, Andersartige, als Angehörige einer den Erzählenden unvertrauten, nicht selten einer jenseitigen Welt. In den narrativen Quellen werden sie oft als Zauberer, Nekromanten, Rätsellöser, Gelehrte, Weise (-> Sieben weise Meister) und Weise Narren dargestellt oder auch als Dichter bzw. bloße Schreiber und Schriftbeherrscher6; zu tragenden Gestalten der mündl. Überlieferung mit entsprechend breiten Identifikationsangeboten sind sie nicht geworden7. Für die populäre Überlieferung allg. ist zu bedenken, daß die Bezeichnung als P. oft weniger einen konkreten Beruf meint, sondern eher Ausdruck einer als ,phil.' bezeichneten Lebenseinstellung ist: So sind aus dem Himalaya Geschichten vom klugen (und überheblichen) Pradhan als einem Helden überliefert, der in der dt. Übers, als P. bezeichnet wird8. Gelehrte Schriften des MA.s verdeutlichen, wie die Kirche mit den Pen der Antike verfuhr 9 : In einer Erzählung (num. 57) aus dem Viaticum narrationum des -» Henmannus Bononiensis (Mitte 15. Jh.) findet ein P. die Erfüllung weder als Herrscher noch als Gatte oder Schatzsammler, sondern erst, als er sein Leben nach Christus als der Summe alles Guten ausrichtet10. Zum europ. Bildungsgut gehörten später auch die zehn Bücher des Griechen

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Diogenes Laertios (3. Jh. p. Chr. n.) über das Leben und die Meinungen berühmter Pen, die Anekdoten über die geistige Prominenz des antiken Griechenland enthalten. In den humanistischen Slgen der frühen Neuzeit erscheinen zahlreiche Denker der griech. und röm. Antike. Die Piazza universale (1585) des Tomaso -«• Garzoni etwa enthält eine Hommage an die großen Gelehrten der Antike, so in den Abschnitten über die Redekünstler (num. 32), über die Lehrer (num. 4) und über die Geschichtsschreiber (num. 38)11. Durch solche und ähnliche Texte wurden die populäreren unter den antiken P.en einem größeren Publikum bekannt gemacht: Pythagoras, Diogenes, Piaton, Aristoteles, der Lehrer Alexanders d. Gr., und die Peripatetiker, Zenon und die Stoiker, Epikur und die Epikuräer. Zahlreiche Abschnitte in P. Laurembergs Acerra philologica (1717) beschäftigen sich allg. mit der Figur des P.en und mit einzelnen, schon damals wohl auch in den weniger gebildeten Schichten bekannten Vertretern der antiken Philosophie. In den zitierten Geschichten geht es ζ. B. um die „unterschiedlichen Zünffte der alten Philosophen" (num. 150, 3) oder um sog. ,heydnische Philosophi' (num. 681) 12 . Ferner gibt es hier auch eine Geschichte, in welcher ein P. vier Fragen beantwortet (num. 641; cf. AaTh 922: -> Kaiser und Abt), oder eine andere, in der ein griech. P. zur Bestrafung böser und zur Belohnung guter Taten ein Exempel statuiert (num. 578).

Die Funktion derartiger Schriften wird deutlich, wenn man sie mit theol.-didaktischen Gattungen wie etwa den Elucidarien (-• Lucidarius) mit ihren Dialogen zwischen -» Lehrer und Schüler vergleicht, die schon seit dem hohen MA. beliebt waren 13 . Im Gegensatz zu diesen ganz auf die christl. Lehre ausgerichteten Schriften dienten -> Streitgespäche mit P.en dazu, den Menschen auch über die Zehn Gebote (-» Dekalog) hinaus ethische und moralische Prinzipien zu vermitteln. Zahlreiche Pen sind zu Sagengestalten geworden (-» Paracelsus, -> Albertus Magnus), andere erscheinen als Kristallisationsgestalten humoristischer Geschichten (cf. ->• Hodscha Nasreddin). Auch im Volksbuch14 und im Volksschauspiel bes. der Reformationszeit 15 fanden die P.en Beachtung. Bedingt durch verschiedene, einander überschneidende Traditionsstränge und das jeweils unterschiedliche soziale Milieu der Trägerschicht bzw. den kul-

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turellen Kontext solcher Erzählungen erfährt die Mehrzahl der Gestalten dabei meist eine ambivalente Bewertung. Bewunderung zollen die Erzähler der Souveränität der P.en ζ. B. in ma. arab. Geschichten, in denen phil. argumentierende Protagonisten die Sympathie auf ihrer Seite haben: So ist die Anekdote vom Tonnenbewohner Diogenes, der den Herrscher bittet, aus der Sonne zu gehen (Tubach, num. 1673), auch in der islam. Überlieferung verbreitet; daneben erzählt man respektvoll von P.en, die (ähnlich wie die christl. Heiligen) kraft ihres Geistes ihre leiblichen Gelüste zu beherrschen gelernt haben 16 . Etwa seit Beginn der frühen Neuzeit läßt sich eine allg. Tendenz zur Ironisierung 17 feststellen. Viele Geschichten zielen auf die Überheblichkeit der Gelehrten, der Gelehrtenspott wird zu einem festen Allgemeinplatz des Volkes. Bes. in der barockzeitlichen Kompilationsliteratur begegnet der P. als komische Figur 18 . Auch die Figur des zerstreuten Professors im Witz kann als moderner Reflex dieser Entwicklung gesehen werden 19 . Die komische Ausprägung des P.en weist unterschiedliche Facetten auf. So läßt sich der betagte P. Aristoteles in dem häufig belegten Schwank AaTh 1501: -• Zeichendisput)·. In Johannes Paulis Schimpf und Ernst (num. 31) wird von einer in Rom stattfindenden Disputation zwischen einem griech. P.en und einem Narren berichtet, die nur in Form von Gesten stattfindet. Ähnlich streiten auch die ,P.en' Panurg und Thaumastos im 18. Kap. von Francois -> Rabelais' Pantagruel. Hier sind die Disputanden so übermäßig gebildet, daß sie sich nur noch

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in andeutenden Gebärden zu unterhalten brauchen 22 . Zunehmend wird der P. auf die Ebene des Menschlich-Allzumenschlichen gezogen und in all seinen Schwächen gezeigt. In der Kritik am elitären Verhalten der P.en und bes. an ihrer exklusiven Handhabung des Lateinischen zeichnet sich eine distanziertere Wertung traditioneller Gelehrsamkeit, die mit einer Stärkung bürgerlicher Werte einhergeht23. In den Libri VIII miraculorum des Caesarius von Heisterbach (1180-1240) preist ein P. das Schweigen als höchste Tugend24, eine Wertvorstellung, die auch in der sprichwörtlichen Redensart (.Hättest du geschwiegen, wärest du ein P. geblieben') und im populären Erzählgut (AaTh 1562: „Denk dreimal, bevor du sprichst!")2S verbreitet ist. In der populären Druckgraphik hatte das Thema noch bis ins 19. Jh. hinein Konjunktur. So zeigt ein ital. Flugblatt die drei griech. P.en Sokrates, Piaton und Aristoteles, wie sie zusammen mit Cicero disputieren. Den Textteil bilden 32 ihrer bekannteren moralischen Weisheiten26. 1 Müller, Α.: Über das Unglück, geistreich zu sein, oder: 450 Anekdoten über geistreiche P., Künstler, Könige, Päpste und Politiker. B. 1987, 250. 2 Silva-Tarouca, Α.: Philosophie in Anekdoten, oder Das Kamel in der Wüste. Klagenfurt 1993. - 3 Harkort, F.: Die Schein- und Schattenbußen im Erzählgut. Diss, (masch.) Kiel 1956, 215 sq. und pass. 4 ECO, U.: II pendolo di Foucault. Mailand 1988; Gaarder, J.: Sophies Verden. Oslo 1991; Weischädel, W.: Die phil. Hintertreppe. 34 große P.en in Alltag und Denken. Mü. (1966) 3°2000. - 5 cf. Holl, O.: P., P.en. In: LCI 3 (1971) 426-428, hier 426 sq. - 6 cf. Wienker-Piepho, S.: „Je gelehrter, desto verkehrter"? Volkskundlich-Kulturhistorisches zur Schriftbeherrschung. Münster 2000. - 7 cf. ead.: Frauen als Volkshelden. Geschichtlichkeit, Legendenbildung und Typologie. Ffm. u. a. 1988, bes. 163-204. 8 Pathak, R.: Die Logik der Narren und andere Volksgeschichten aus dem Kumaon-Himalaya. Wiesbaden 1978, 3 sq. - 9 cf. Beckmann, J. P.: Philosophie. A: Westen. In: Lex. des MA.s 6. Stg./Weimar 1999, 2086-2092. - 10 Hilka, A. (ed.): Das Viaticum narrationum des Henmannus Bononiensis. B. 1935, 9, 89. 11 Garzoni, T.: La piazza universale di tutte le professioni del mondo 1 - 2 . ed. G. B. Bronzini. Florenz 1996; cf. Rez. R. Schenda in Fabula 39 (1998) 136-140. - 12 cf. Daxelmüller, C.: Zauberpraktiken. Eine Ideengeschichte der Magie. Zürich 1993, 8 5 - 8 8 . - 13 cf. Gurjewitsch, A. J.: Ma. Volkskultur. Mü. 1987, 229-259. - 14 cf. Görres, J.: Die teutschen Volksbücher. Heidelberg 1807 (Nachdr. Hil-

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Phönix

desheim 1982), num. 22. - 15 ζ. Β. zu den .Sieben Weisen aus Griechenland' cf. Michael, W. F.: Das dt. Drama der Reformationszeit. Bern/N. Y. 1984, 290-292. - 16 cf. Marzolph, Arabia ridens 2, num. 362. - 17 cf. allg. Bausinger, H.: Volkskultur in der technischen Welt. Stg. 1961, 152-164, bes. 162. 18 cf. z.B. Zincgref, J. W.: Facetiae pennalium. ed. D. Mertens/T. Verweyen. Tübingen 1978, 3; cf. auch Moser-Rath, Schwank, bes. 171-182. - 19 cf. Röhrich, L.: Der Witz. Stg. 1977, bes. 182 sq. - 20 cf. Hilka, A. (ed.): Die Wundergeschichten des Caesarius von Heisterbach 1. Bonn 1933, 156. 21 cf. Dvorak, num. 2590**. - 22 cf. Röhrich, L.: Gebärde, Metapher, Parodie. Düsseldorf 1967, 7 sq., 17 sq. - 23 cf. Niefanger, D.: Gelehrtenliteratur, -spräche. In: Ueding, G. (ed.): Hist. Wb. der Rhetorik 3. Tübingen 1996, 668-678, hier 673. - 24 ibid., 122. - 25 cf. Röhrich, Redensarten 2, 1234. - 26 cf. Schenda, R.: Die Slg ital. Flugblätter im Museo Pitre, Palermo. In: ZfVk. 58 (1962) 210-237, hier 229.

Augsburg

Sabine Wienker-Piepho

Phönix 1. Vorbemerkung — 2. Ursprünge und Mythographie - 3. Rezeption - 4. Weitere Wunder- und/oder Riesenvögel - 4.1. (Vogel) Greif - 4.2. Simorg und 'Anqä' - 4.3. (Vogel) Roc - 4.4. Garuda - 5. Fazit und Ausblick

1. V o r b e m e r k u n g . Neben dem P., der im Zentrum des vorliegenden Beitr.s steht, finden sich in der Erzählliteratur zahlreiche Wunderund/oder Riesenvögel, zumeist auch sie oriental. Ursprungs. Da für sie in der EM keine separaten Art. vorgesehen sind, werden sie hier vorgestellt. Aus Platzgründen muß jedoch auf eine detaillierte Erörterung der komplexen erzählhist. Zusammenhänge verzichtet und die hist. Dimension der einzelnen Vögel verkürzt dargestellt werden. 2. U r s p r ü n g e u n d M y t h o g r a p h i e . Der P. ist ein -» Fabelwesen (Mot. Β 32, A 36)1 oriental. Herkunft, ein sagenhafter Vogel, der sich selbst verbrennt und aus der Asche verjüngt (->• Verjüngung) aufsteigt. Benu, der hl. Vogel aus der ägypt. Mythologie 2 , ist eng verwandt mit dem P , darf aber wohl - dies ist freilich umstritten — nicht als sein direkter Vorläufer gesehen werden 3 . Man stellte ihn sich als Bachstelze, später auch als Reiher oder goldenen Falken mit Reiherkopf vor. Der Benu (etymol. aus ägypt. üben: leuchten, auf-

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gehen, glanzvoll erscheinen) stellt eine Erscheinungsform des von selbst entstandenen Urgottes dar, verkörpert den Sonnengott Re (daher auch Osiris), den täglichen Sonnenumlauf und das jährliche Anschwellen des Nils. Als ,Herr der Jubiläen' versinnbildlicht er Langlebigkeit. Das hier bereits angelegte Motiv der stets wiederkehrenden Erneuerung und .Ewigkeit' wurde in der griech. und röm. Mythologie 4 in einer späten Phase kristallisiert im Symbol des Vogels, der sich nach bestimmten Zeitabständen auf seinem Nest selbst verbrennt und erneuert aus der Asche aufsteigt (-> Feuer als lebenspendende und erneuernde Kraft; Asche verknüpft mit der Idee der Läuterung und Erlösung). Naturmythol. wird dies gedeutet als die aus der Morgenröte emporsteigende Sonne oder Frühlingssonne 5 , allegorisch interpretierbar als Sinnbild der ewigen Selbsterneuerung der Natur 6 . Dem bekannteren Motiv der Selbstverbrennung geht das weniger vertraute Motiv des - in verschiedenen Var.n erzählten — gewöhnlichen Ablebens voraus 7 : Bestattung des (zuvor in Myrrhe einbalsamierten) P.-Vaters (Herodot 2,73), Entstehung eines neuen P. aus Würmern, die dem alten P. entweichen. Zu den Motiven der Sage zählen 8 : die Heimat des P. (Indien, Arabien: Topos .Wunder des Ostens'), von der aus er bei nahendem Tod nach unterschiedlich bemessener Lebensdauer, der sog. Pperiode (u. a. alle 500, 1000 oder 1461 Jahre), zu seiner Selbstverbrennung aufbricht; das ägypt. Heliopolis mit dem Sonnentempel als Stätte der Erneuerung; das mit wohlriechenden Kräutern zubereitete Nest des P. (Bestattungsritus, Sakralhandlung); das Sterbelied, das der P. anstimmt, und die Huldigung an die Sonne kurz vor dem Tode; der aus den Flammen zur Sonne emporsteigende P.; die ätherische Speise des P., ζ. B. ambrosischer Tau. Auf röm. Münzen 9 weist der P. auf die Unvergänglichkeit des Kaiserreiches, Unsterblichkeit des Kaisers, das ewige Rom, Wiederherstellung und Erneuerung des -» Zeitalters hin. 3. R e z e p t i o n . Wenn in Buch Hiob 29,18 als in seinem Nest verscheidend und (dennoch) seine Tage mehrend wirklich der P. gemeint ist, handelt es sich um einen alttestamentlichen Beleg für Auferstehung 10 . In der griech. Ba-

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ruch-Apokalypse (6—8)11 fängt der Weltenwächter P. mit seinen Flügeln die feuerähnlichen Strahlen der Sonne auf, damit die Menschen und alle anderen Lebewesen nicht verbrennen. In der jüd. Sage wird die Unsterblichkeit des P. (Milcham oder Chol) vorwiegend naturätiologisch gedeutet: Als einziges Tier widersteht er Evas Verlockung, von der .verbotenen Frucht' zu essen (-• Adam und Eva), und wird mit Unsterblichkeit belohnt 12 . Prominent wird der P. in der christl., nachneutestamentlichen Deutung, vor allem der Kirchenväter, die das Motiv der Selbstverbrennung, die außergewöhnlichen Eigenschaften des P , seine Einmaligkeit und Ferne von allem Irdischen betont 13 ; er, dem -• Keuschheit und Selbstgenügsamkeit zugeschrieben werden, wird zum Symbol eines (mit der Sonne verglichenen) -«• Christus, seines Opfertodes, der (glaubens)erneuernden Beständigkeit, Überwindung des Todes in der (auch leiblichen) Auferstehung 14 der Gerechten, der Unsterblichkeit der Seele, eines neuen christl. ZA.s, der zeugungslosen Geburt, der unbefleckten Empfängnis und Jungfräulichkeit Marias, aber auch der Seligkeit des (Feuer-) Martyriums auf dem Scheiterhaufen und, da es ihn nur einmal gibt, für die Ewigkeit des einen Gottes. In der christl. Ikonographie 15 die die byzant. Kunst beeinflußt 16 - erscheint der P. u. a. als mit einem Strahlenkranz oder Nimbus versehener Paradiesvogel auf Palme oder Palmzweig (im Griechischen ist Ρ homonym zu [Dattel-]Palme: phoinix) und in Traditio-Legis-Bildern17. Im MA. 18 werden christl. Deutungen wegweisend vermittelt und ausgeschmückt durch den spätantiken Physiologus19 - der keine zoologischen Fakten bietet, sondern eine sinnbildliche Deutung der Tiere für die christl. Heilsgeschichte vorträgt — und durch Bestiarien, exegetische und homiletische Schriften, Naturenzyklopädien, Erzählungen20, Exempla21, Fabeln 22 und Allegoresen (Adler und P., P. und Natter): P. als gottgefälliges Vorbild, als König der Vögel, Sinnbild der Beständigkeit, Freigebigkeit, des Großmutes, der Großzügigkeit und Barmherzigkeit sowie der geschlechtslosen Keuschheit, als Emblem der Andacht, darüber hinaus die detaillierte Parallelsetzung mit dem Leben Jesu. In der ma. Lit. läßt sich die Stätte der mittels eines

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feuerhaltigen Steins vollzogenen Erneuerung des P. auch als gralsähnlicher (-• Gral) lebenserhaltender Weltkern deuten 23 . Als Sinnbild der Wiedererneuerung fungiert der P. auch als alchemistisches Symbol, er ist hier dem Feuerdreieck des Schwefels zugeordnet 24 , symbolisiert vollständige Umwandlung, Vernichtung und Neubildung der materia prima auf dem Weg zum Stein der Weisen25 und repräsentiert vielleicht sogar das alchemistische Handwerk schlechthin. Der P. erscheint nicht als mythol. Figur im strikten Sinn und fehlt mithin auch meistens in den mythol. Lexika. Aufgrund seines solitären, sakralen und ätherischen Charakters, seiner tendenziellen Transzendenz und seiner Wundersamkeit, die ζ. B. die von anderen unirdischen Wesen wie Feen und Elfen noch übersteigt, spielt die symbolträchtige Gestalt des Wunder-, Feuer- und Sonnenvogels in der säkularen Fabel keine prominente Rolle, ist auch im Märchen kaum eine eigentliche, profilierte Figur. Eingebunden in die Jenseitsmotivik der Märchen vom ,Hadesfahrttypus' (-» Jenseitswanderungen) 26 , erscheint er - auch in der verballhornten Form Vagel Fenus 27 - in Var.n zu AaTh 461: Drei -> Haare vom Bart des Teufels: Als Freierprobe sollen aus der Hölle drei goldene Haare des Teufels bzw. drei Federn des P. geholt werden. Der P. ist hier als -» Menschenfleisch riechendes, mithin dämonisches Wesen gekennzeichnet 28 , eine Facette, die nur im Märchen begegnet. In Fassungen von AaTh 551: —• Wasser des Lebens und AaTh 707: Die drei goldenen Söhne29 sowie AaTh 550: -*• Vogel, Pferd und Königstochter30 dagegen hat der P. die Funktion eines Tierhelfers übernommen, der es dem Helden ermöglicht, das Lebenswasser und die Wunderblume zu finden, oder durch seinen Gesang (Pfeifen) die Heilung des Königs zustande bringt. AaTh 720: -> Totenvogel knüpft offensichtlich im Motiv der Feuerverwandlung, durch die der Vogel wieder zum Menschen wird, an das Mythologem des P. an 31 . In -> Andersens Märchen Vogel P. beträgt sowohl die P.periode als auch die Probezeit des Prinzen, der bei dem Vorsatz scheitert, der adamitischen Versuchung zu widerstehen und den Sündenfall nicht zu wiederholen, hundert Jahre 32 .

Die vielfältigen Interpretationen des P. waren so attraktiv, daß er in Lit. 33 , Kunst 34 und Emblematik 35 häufig präsent war. -> Shakespeares kryptische, neuplatonisch akzentuierte Versdichtung The Phoenix and the Turtle (1601)36 feiert die keusche Liebe und unio mystica zweier Liebender, spart aber das Motiv

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der Wiedergeburt des P. aus der Asche aus. Mit dem Zusammenbruch der großen ikonographischen, symbolischen und emblematischen Traditionen verlor der P. an Bedeutung in Lit. und Kunst, ohne jedoch jemals gänzlich zu verschwinden (cf. z. B. die P.-Metapher in Christopher Frys Verskomödie Α Phoenix Too Frequent [1946], cf. AaTh 1510: - Witwe von Ephesus)37. Die genuine, auch ,harte' Bildhaftigkeit des P.-Symbols ist Ende des 20. Jh.s weitgehend verblaßt, doch begegnet der P. noch immer als relativ beliebiges esoterisches Symbol für -» Wiedergeburt und Seelenwanderung38, in literaturtherapeutischen Texten als kulturell abgesunkenes, vages Sinnbild gemeisterter Lebenskrisen39 sowie in Tierbilderbüchern für Kinder als Fabelwesen40. Vor allem aber dient die phraseologisch41 noch aktive, gelegentlich auch ironisch gebrochene Wendung ,P. aus der Asche' für das frische Erstehen nach scheinbar völliger Zerstörung als Symbol, häufig auch nur noch als Metapher, im politischen Sprachgebrauch 42 . Der chin. Feng-huang, der mit dem abendländ. P. wenig gemeinsam hat, verkörpert die regulierende schöpferische Lebenskraft 43 ; seine Körperteile stellen die fünf menschlichen Qualitäten dar, er wird mit dem Besonderen und Kostbaren 44 in Verbindung gebracht, zählt zu den vier Wundertieren, ist König der Gefiederten, Zeichen des Glücks, der guten Regierung und himmlischen Gunst, zugleich kaiserliches Symbol. Mehr oder weniger lose symbolische Ähnlichkeiten verbinden den P. mit dem ebenfalls prächtigen, erlesenen, auch erhabenen Pfau (ebenfalls zur Sonne in Beziehung gesetzt und christl. Auferstehungssymbol) sowie mit dem majestätischen, tendenziell solitären, solaren, auch zum Sonnenflug aufbrechenden -» Adler, Symbol Christi (Himmelfahrt), der Auferstehung und der Herrschaft. 4. Weitere W u n d e r - u n d / o d e r Riesenvögel 4.1. (Vogel) G r e i f . Der P. reiht sich ein in eine Reihe von (in verschiedensten Kulturkreisen beheimateten) vogelhaften Wunderwesen, deren einzelnes Profil und mithin auch Nähe bzw. Abstand zum P. aufgrund vielfältiger Motivübertragungen und -assimilationen

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und teilweise arbiträren (Quasi-)Synonymsetzungen nur schwer bestimmbar ist. Hierzu zählt der vielgestaltig überlieferte Greif oder Gryps (Mot. Β 42; cf. auch Mot. Η 1233.4.3, A 2232.4, Ν 575, Β 17.2.2), zu dem auch die weniger beharrlich überlieferten Var.n Löwenund Schlangengreif gehören 45 . Der Greif ist ein großes und starkes, majestätisches Mischwesen altoriental. Herkunft, prototypisch als griech.-archaischer Greif mit adlerähnlichem Kopf und löwenartigem Körper, von ambivalentem — freundlichem, apotropäischem, edlem und göttlichem wie bösartigem und dämonischem, räuberischem sowie gesellschaftsgefahrdendem und ordnungszersetzendem 46 — Charakter, ein Wappentier, das einerseits als solarer, apollinischer Vogel, Symbol Christi (hier seiner Doppelnatur und Vollkommenheit durch die Kombination Königstier Löwe und Göttervogel Adler) und der Auferstehung, andererseits Sinnbild des Teufels und chthonisches — auch menschenfressendes Wesen der Jenseitsmotivik Gemeinsamkeiten mit dem P. hat 47 . Zugleich fungiert der Greif als Tier der Nemesis, (weiser) Hüter des -» Lebensbaumes oder der Quelle des Lebens, des Goldes 48 und der Edelsteine, Emblem der Demut. Prominent im MA. sind das Erzählmotiv vom Greifen als Beförderungsmittel (etwa Alexanders d. Gr. [Kap. 3.1] Flug mit dem Greifen; -> Luftreisen), verbunden auch mit dem Motiv des Einnähens in Tierhäute und des Magnetbergs (cf. Herzog Ernst, AaTh 936*: Hasan von Basra, Sindbad der Seefahrer). Im Märchen, etwa im osteurop. 49 , begegnet der Greif häufig: hier ebenfalls als geheimnisvolle und ambivalente Figur, die das Unbekannte symbolisiert, allwissend, mit der Lösung zahlreicher Rätsel vertraut, zum einen als bedrohlicher Unhold (cf. ζ. B. AaTh 303: Die zwei -> Brüder, Motiv des -» Drachenkampfs: Greif als Variation des prototypischen Drachen 50 ), zum anderen als heilmittelkundiger, in der Not anrufbarer Helfer 51 , der auch den Weg ins Paradies kennt und Menschen dorthin trägt 52 , sowie als Seelenvogel (-• Seelentier) und Gestalt des -> dankbaren Toten (AaTh 505-508) 53 . In Var.n zu AaTh 461 (z.B. KHM 165: Der Vogel Greif) erscheint anstelle des P. der Vogel Greif (Motive: Feder vom Vogel Greif holen, Fährmann, Rätselfragen) 54 . In Var.n zu AaTh 425

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A: cf. Amor und Psyche transportiert der Vogel Greif den Königssohn und seine Frau über das Rote Meer und ruht sich in der Mitte auf einem großen Nußbaum aus 55 . Als Wächter unterirdischer Schätze wird der Greif auch in Bezug zu den Motiven Schatzsuche (-> Schatz) und Stein der Weisen gesetzt56. In Emblematik 57 , Kunst 58 , Lit. und Heraldik begegnet der Greif recht häufig, wenn auch mit nicht so eindeutig symbolischem Potential wie der P., aber durchaus an prominenten Orten: in ->• Dantes Divina commedia59, christologisch gedeutet, aber auch geschichtsphilosophisch als Abbreviatur von „Dante's theology of world-history centered upon Rome" 60 ; in Lewis Carrolls -» Alice im Wunderland als bestimmte, ungeduldige, schulmeisterliche und auch arrogante Figur 61 ; in Gustave Flauberts La Tentation de Saint-Antoine62 als eine Figur der Totenwelt, die gegen das „Tor der Unterwelt gelehnt" das „Geheimnis der Gräber" kennt. Der Hippogryph, ein Fabelwesen ^weiten Grades', geflügeltes Roß (-» Pegasus) mit einem Greifen als Vater und einer Pferdestute als Mutter, begegnet als Trägertier auf dem Weg zum Paradies in Ludovico -» Ariostos Orlando furioso63. 4.2. S i m o r g u n d ' A n q ä ' . Zu weiteren vogelhaften Wunderwesen64 oriental. Herkunft, die Affinitäten zum P. wie zum Vogel Greif aufweisen, zählt der unsterbliche, zumindest sehr alte, in der Selbstverbrennung, dem Status als König der Vögel und seiner Göttlichkeit an den P. erinnernde, auch menschengesichtig geschilderte, silberne iran. Riesenvogel Simorg ([Simurgh]; Mot. Β 31.5). Der Simorg 65 — im dt.sprachigen Sprachraum fast ausschließlich mit männlichem Artikel versehen — wird gelegentlich als weiblicher Vogel angesehen; beide Geschlechtszuweisungen scheinen korrekt zu sein66. Er nistet in den Zweigen des Baumes des Wissens, auf einem ,Allheiler' heißenden Baum, auf dem sich die Samen aller Pflanzen befinden, ist Helfer der Helden 67 mit hilfespendender Feder 68 . In der iran. mystischen Sufi-Dichtung Manteq at-teir des 'Attär (gest. 1201), einer Allegorie der Pilgerfahrt, der Gottessuche sowie des Verhältnisses der Schöpfung zu Gott, machen sich die Vögel (i. e. die Menschen) auf einen weiten, beschwerlichen und gefahrvollen Weg,

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ihren König (i. e. Gott) zu finden; nur dreißig Vögel (si morg) gelangen ans Ziel. Als sie endlich den schwer zugänglichen, unermeßlichen Simorg, der hinter dem Berge Qäf lebt und vor dem hunderttausend Schleier aus Licht und Dunkelheit hängen, erreichen, sehen sie — ein Wortspiel - si morg: Sie selber sind der gesuchte Simorg, d. h. sie erkennen sich selbst69. Alle Vögel (i. e. alle Erscheinungen) sind nur der geheimnisvolle Schatten des Simorg (i. e. eine Emanation Gottes). Als einst eine Feder des Simorg über China fiel, machte sich jeder sein eigenes ,Bild', seine eigene Idee von dieser Feder: So entstand die Verwirrung unter den Menschen70. In Flauberts La Tentation de Saint-Antoine ist der Simorg-anka ein domestizierter, schnell fliegender Liebesbote und Berichterstatter der Königin von ->• Saba71. Der arab. 'Anqä' 72 , ein sagenhafter Riesenvogel, auch als menschengesichtig geschildert, Emblem der Gottheit, wird als arab. Version des Simorg verstanden und mit dem P. und dem Greifen verglichen. Das Motiv der Luftreise, Rückbringung des Märchenhelden aus einer Unterwelt aus Dankbarkeit des Vogels für die Rettung seiner Jungen (AaTh 301: Die drei geraubten Prinzessinnen; AaTh 537: -> Etana, Himmelsflug des Helden mit dem dankbaren Adler) sowie die Stärkung des Vogels mit dem Fleisch des Helden findet sich sowohl im Falle des Greifen 73 , des Simorg74 als auch des ,Anqä' (cf. auch Parallelen zum georg. Vogel Paskundzi) 75 . 4.3. (Vogel) Roc. Der starke, mit dem Simorg synonym gesetzte, auch dem Greifen und dem von Lukian erwähnten Riesenvogel Halcyon (2,40) ähnelnde Riesenvogel Ruhh (Rokh, Roc; Mot. Β 31.1) ist wohl pers. Ursprungs. Er kann Kamele und Elefanten fliegend in seinen Klauen tragen und ist bekannt aus der Erzählung von Sindbad dem Seefahrer, in der sich Sindbad an die Füße des Roc bindet, um eine Insel zu verlassen76 (cf. auch das von A. Galland erfundene Motiv des unschuldig-frevelhaften Wunsches, das riesige Ei des Roc in die Kuppel eines Gemachs zu hängen77). 4.4. G a r u d a . Der ind. Sonnenvogel Garuda (Sanskrit; Pali: Garula; Mot. Β 56) ist der

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Fürst der Vögel (oben Adler, unten Mensch), dessen heller Glanz nach seiner Geburt die Götter in Furcht versetzte. Er fungiert als Reittier des Visnu zum Dank, daß dieser ihm Unsterblichkeit gewährt hat, und stellt auch eine frühere Inkarnation des - Schlangen: Da die Schlangen Steine fraßen, konnten die Garudas sie nicht forttragen, bis sie lernten, die Schlangen an ihren Schwänzen zu heben, damit ihnen die Steine aus dem Magen fielen78. In einer ind. Erzählung wird der Garuda durch die rote Färbeflüssigkeit angezogen, die ein Mann als Ersatz nimmt, als seine schwangere Frau ein Bad in Blut begehrt, der Garuda trägt die Frau fort (Mot. Ν 335.2). In mongol. Dichtung begegnen zahlreiche auf den Garuda bezogene Motive: u. a. die Erlangung seiner Schwanzfedern als Freierprobe 79 ; der mit einer Garudafeder gefiederte Pfeil, der die Lebensseele (-+ External soul) des Dämons -«• Mangus zerschießt80; die vom dreimaligem Rufen eines Garuda angekündigte Geburt eines Knaben, die ein seit Jahren kinderloses altes Paar erfährt 81 ; die Hochzeit der drei Söhne des Garuda mit den himmlischen Feen82. Im malai. Märchen erscheint der Garuda als menschenfressender, vielköpfiger, fast die gesamte Menschheit ausrottender Dämon, der aber ambivalent genug ist, daß es dem Stammvater eines neuen Menschengeschlechts gelingt, mit ihm Freundschaft zu schließen83. Vergleichbar mit dem P. sind unter dem Aspekt des Selbstverbrennungsmotivs auch der türk. Kerkas, der ind. Semendar 84 sowie der iran. Camrös (der Verbrenner; cf. Salamander). Der Camrös ist ein hilfreicher Vogel, der Feinde der iran. Stämme hinwegträgt, Samen sammelt und dafür Sorge trägt, daß diese richtig piaziert werden (Mot. Β 35)85. 5. Fazit u n d A u s b l i c k . Die Deutungsgeschichte der vorgestellten Vögel erweist sich weitgehend als eine Geschichte des mißglückten Fremdverstehens, das die Gemeinsamkeiten der einzelnen Vögel betont, deren Unterschiede hingegen vernachlässigt. Zum einen werden alle Vögel — mit zumeist exponierter Stellung und hohem Status im Vogelreich (cf. Königswahl der Tiere) - einschließlich des P. im Zuge einer orientalisierenden Einvernahme recht differenzlos als Wunder des Ori-

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ents etikettiert, zum anderen im Sinne eines hierzu nicht im Widerspruch stehenden Eurozentrismus oft vorschnell auf die beiden in der klassischen Antike präsenten Vögel P. und Greif bezogen. So glaubte beispielsweise Marco ->• Polo auf seiner Asienreise zunächst, daß der Roc unbedingt mit dem Greifen gleichzusetzen sei, ließ sich dann aber belehren, daß er im Gegensatz zum Greifen ganz und gar Vogel sei86. Erstaunlich, daß mittels einer eher mit Vorsicht anzuwendenden tiefenpsychol. Deutung noch am ehesten gültige Gemeinsamkeiten erarbeitet werden: So sind nahezu alle Wundervögel, freilich auch mit unterschiedlichen Akzentuierungen, Symbole des (idealisierten) Selbst: der P. Verwirklichung des vom Verderblichen gereinigten menschlichen Wesens87, der Greif Bild menschlicher Ganzheit, in der das Dämonische und Dunkle Gegensatz, aber auch Ausgleich zum Lichten und Bewußten bilden88, der Garuda „Symbolum der Kraft des Menschen, die sich aus dem Erdbann befreien und ins Ganze hinauswerden kann", „Aufschwungkraft des denkenden Menschen" 89 ; am deutlichsten mythisch: der Simorg Symbol für das in Gott erkannte Selbst. Zugleich sind sie, auch aufgrund einer mehr oder weniger deutlichen. Affinität zur Sonne und zum Lichten, Symbole des Lebens mit folgerichtig hohem phil. Potential. Für eine noch zu schreibende narratologisch akzentuierte Kulturgeschichte des ,Bestiariums' müßten die Genealogie und die teilweise diffizilen Filiationen dieser Vögel detailliert erforscht, stärker als bislang geschehen ihre Ambivalenzen gedeutet und ihre Differenzen nach einzelnen dominanten und nicht nur gelegentlich auftretenden Kriterien und Kriterienkombinationen betont und hierbei (sich teilweise überschneidende) Gruppen gebildet werden: die dankbaren Tierhelfer, die den Wiederaufstieg des Helden aus der Unterwelt herbeiführen (Greif, 'Anqä\ Simorg); gewaltige furchteinflößende Größe, mächtiges Rauschen riesiger, verdunkelnder Flügel (charakteristisch für den Roc, aber nicht für den P.); die Motive Selbstverbrennung in periodischen Abständen und verjüngter Aufstieg aus der Asche, die dezidiert und untrennbar letztlich nur mit dem P. verknüpft sind. 1 Taylor, Α.: P. In: HDA 7 (1935-36) 18; StandDict. 2 (1950) 868 sq.; Holbek, B./Pio, I.: Fabeldyr og sagnfolk. Kop. 1967, 463-468; Wb. der Symbolik.

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In: Lex. des MA.s 6. Mü./Zürich 1993, 2106 sq. " D e r Physiologus. Übers. O. Seel. Zürich/Stg. 2 1967, 8 sq., 76; Geschichte des Physiologus. ed. F. Lauchert. Straßburg 1889 (Nachdr. Genf 1974), bes. 10-12, 112-116, 173. - 20 Klapper, MA., 220, 409 sq. 21 Tubach, num. 1829, 3755 sq.; Dicke/Grubmüller, num. 5, 466; Schmidtke, D.: Geistliche Tierinterpretation in der dt.sprachigen Lit. des MA.s (1100-1500) 1. (Diss. Β. 1966) Β. 1968, 377-380; The Phoenix, ed. Ν. F. Blake. Manchester 1964 (Nachdr. Exeter 1990). - 22 Grässe, J. G. T.: Die beiden ältesten lat. Fabelbücher des MA.s. Des Bischofs Cyrillus Speculum Sapientiae und des Nicolaus Pergamenus Dialogus Creaturarum. Tübingen 1880 (Nachdr. Hildesheim 1965), 101, 113-115. 23 Wolf, W.: Der Vogel P. und der Gral. In: Studien zur dt. Philologie des MA.s. Festschr. F. Panzer. Heidelberg 1950, 73-95. - 24 Golowin, S.: Alchimistische Symbole. In: Bauer, W./Dümotz, I./Golowin, S.: Lex. der Symbole. Wiesbaden 121991, 321-337, hier 33 3. - 25 Biedermann, H.: Knaurs Lex. der Symbole. Mü. 1989, 341 sq. - 26 Siuts, H.: Jenseitsmotive im dt. Volksmärchen. Lpz. 1911, 7 sq., 15 sq., 113, 133, 273 sq., 304. - 27 Wisser, W.: Plattdt. Volksmärchen. MdW 1914, 90-98, 156-162. 28 BP 1, 276-278, KHM/Uther 4, 64-67. - 29 BP 2, 380-394, 394-401; KHM/Uther 4, 183-186, 186-188. - 3 0 BP 1, 503-515; KHM/Uther 4, 115-117. 31 KHM/Uther 4, 95. - 32 Andersen, H. C.: Märchen und Geschichten 1 - 2 . ed. G. Perlet. MdW 1996, hier t. 2, num. 49. - 33 Hoffmeister, J.: Kaspar von Barths Leben, Werke und sein dt. P. Heidelberg 1931, bes. 78-141. - 34 cf. Tervarent, G. de: Attributs et symboles dans l'art profane, 1450-1600. t. 2. Genf 1959, 304-306. - 35 Henkel, A./Schöne, A. (edd.): Emblemata. Stg. 1967, 794-797. - 36 cf. P o ster], Μ.: The Phoenix and the Turtle. In: KNLL 15 (1991) 358 sq.; Shakespeare-Hb. ed. I. Schabert. Stg. 3 1992, 677 sq.; Underwood, R. Α.: Shakespeare's „The Phoenix and the Turtle"". A Survey of Scholarship. Salzburg 1974. - 37 Dotzenrath, T.: Christopher Fry: „A Phoenix Too Frequent". Versuch einer Deutung des Titels. In: Die neueren Sprachen N. F. 5 (1956) 475-479; Poster], Μ.: Α Phoenix Too Frequent. In: KNLL 5 (1989) 885 sq. - 38 Reincarnation. The Phoenix Fire Mystery. An East-West Dialogue on Death and Rebirth [...]. ed. J. Head/S. L. Cranston. Ν. Y. 1977 (Nachdr. Pasadena 1994). 39 ... fast wie ein P. Literar. Grenzgänge, ed. Η. Η. Koch/N. Kessler. Bonn/Neumünster 1998. - ""Zeff, C./Tücking, C.: Mein großes Tierbuch. Mü./Wien 1982, 38. 41 Röhrich, Redensarten 2, 1180 sq. - 42 Gross, J.: P. in Asche. Kap. zum westdt. Stil. Stg. 1989; Neumann, W. G.: Wie P. aus der Asche. Versuch einer Ontologie der Revolution. Hannover 1998; Siedler, W. J.: Phoenix im Sand. Glanz und Elend der Hauptstadt. B. 1998; Günthart, R.: Der P. Vom Christussymbol zum Firmenlogo. In: Müller, U./

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Phönix

Wunderlich, W. (edd.): Dämonen, Monster, Fabelwesen. St. Gallen 1999, 467-483. - 43 cf. Ferguson, J. C.: Chinese [Mythology]/Anesaki, M.: Japanese [Mythology]. Boston 1928, 21, 98-100; Eberhard, W.: Volksmärchen aus Südost-China (FFC 128). Hels. 1941, 69-73,241 -243; Münke, W.: Die klassische chin. Mythologie. Stg. 1976, 264 -267; Eberhard, W.: Lex. chin. Symbole. Köln 1983, 227-229. - 44 Zur Vorstellung, daß sich der P. nur auf Kostbarkeiten setze, cf. Eberhard, Typen, num. 73 (Die 45 Entdeckung des Salzes). Furtwängler, Α.: Gryps. In: Roscher (wie not. 4) 1,2 (1886-90) 1742-1777; Prinz, H./Ziegler[, K.]: Gryps. In Pauly/ Wissowa 1,7,2 (1912) 1902-1929; Güntert[, H.]: Greif. In: HDA 3 (1930-31) 1129 sq.; BörkerKlähn, J.: Greif. In: Reallex. der Assyriologie und Vorderasiat. Archäologie 3. B./N. Y. 1957-71, 633-639; Hollerbach, E./Jäszai, G.: Greif. In: LCI 2 (1970) 202-204; Kädar (wie not. 16) 517-520; Tekinay, Α.: Materialien zum vergleichenden Studium von Erzählmotiven in der dt. Dichtung des MA.s und den Lit.en des Orients. Ffm./Bern/Cirencester 1980, 73 sq., 138 sq., 153-155; Brandenburg, H.: Greif. In: RAC 12 (1983) 951-995; Lurker (wie not. 1) 264; zu einer in der germ. Mythologie häufigen Form (Raubvogelmerkmale, Pferdekörper) cf. Aufleger, M.: Greifenschnallen. In: Reallex. der germ. Altertumskunde 12. B./N. Y. 21998, 616-619. 46 McConnell, W.: Mythos Greif. In: Müller/Wunderlich (wie not. 42) 267-286, hier 277 sq. - 47 Siuts (wie not. 26) 131, 132, 134 sq., 274. - 48 cf. Mayor, A./Heaney, M.: Griffins and Arimaspeans. In: FL 104 (1993) 40-66. - 49 Koch, C.: Die slav. Bezeichnung des Greifen. In: Wiener Slavistisches Jb. 35 (1989) 99-123. - 50 Ranke, K.: Die zwei Brüder. (FFC 114). Hels. 1934, 201. 51 Lüthi, M.: Das europ. Volksmärchen. Tübingen '1992, 10, 14, 38-40, 43, 46. - "Zaunert, P.: Dt. Märchen seit Grimm. MdW 1919, 382 sq., 388; cf. auch 19 sq., 362. - "Obenauer, K.J.: Das Märchen. Dichtung und Deutung. Ffm. 1959, 139. 54 BP 3, 267-274; KHM/Uther 4, 308-310; Röhrich, L.: Der Vogel Gryf. Ein alemann. Märchen. In: Europ. Ethnologie und Folklore im internat. Kontext. Festschr. L. Petzoldt. Ffm. u. a. 1999, 243-256. - 55 BP 2, 229-273; KHM/Uther 4, 166-169. 56 Wesselski, Α.: Dt. Märchen vor Grimm. Brünn/ Lpz. 1938, 219 sq. - 57 Henkel/Schöne (wie not. 35) 380, 626 sq., 797 sq. - 58 Wegner, I.: Studien zur Ikonographie des Greifen im MA. Diss. Fbg 1928; Flagge, I.: Unters.en zur Bedeutung des Greifen. St. Augustin 1975; Delplace, C.: Le Griffon de l'archa'isme ä l'epoque imperiale. Etude iconographique et essai d'interpretation symbolique. Brüssel 1980. 59 Dante, Purgatorio, 29-32; cf. Borchardt, R.: Dantes Comedia. Stg. 1967, 292-310. - 60 Armour, P.: Dante's Griffin and the History of the World. Ox. 1989, 291. 61 Lewis Carroll: Alice's Adventures in Wonderland and Through the Looking-glass, and What Alice Found There, ed. R. L. Green. Ox. 1982, 83-95,

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261. - 62 Flaubert, G.: Die Versuchung des hl. Antonius. Dt. von F. P. Greve. Zürich 1979, 184. 63 Ariosto, L.: Sämtliche poetischen Werke 1. Übertragen von A. Kissner. B. 1922, 66; cf. auch ibid. 3 (1922) Reg. s.v. Hippogryph. - 6 4 Zu im folgenden vorgestellten Wundervögeln cf. Gräße, J. G. T.: Beitr.e zur Lit. und Sage des MA.s. Dresden 1850, 74, 77 sq., 89 sq.; De Gubernatis (wie not.5) 484, 486 sq., 495; Chauvin 7, 12 sq.; Holbek/Pie (wie not. 1) 469-473; Borges, J. L. (in Zusammenarbeit mit M. Guerrero): Einhorn, Sphinx und Salamander. Mü./Wien 1982; Mode, H.: Fabeltiere und Dämonen in der Kunst. Stg. u. a. 21983, 249-266. - 65 G[all], H. von: Slmurg. In: Wb. der Mythologie 4. ed. H. W. Haussig. Stg. 1986, 161-488, hier 433; Blois, F. C. de: Slmurgh. In: EI2 9 (1997) 615. - 66 Bürgel, J. C.: The Feather of Simurgh. The ,Licit Magic' of the Arts in Medieval Islam. Ν. Y./L. 1988, 23, not. 2. 67 Firdausi: Heldensagen. Übers. A. F. von Schack. B. 1865, 35 sq., 57, 94-98, 422-424. - 6 8 EM 4, 933 sq.; Marzolph *301 E*. - 69 'Attar, Farid oddin: The Conference of the Birds. Harmondsworth 1984, 33, 214-220. - 70 ibid., 34 sq.; Ritter, H.: Das Meer der Seele. Mensch, Welt und Gott in den Geschichten des Farlduddln 'Attär. Leiden 1955 (Nachdr. 1978), 607. 71 Flaubert (wie not. 62) 39 sq. - 72 Pellat, C.: 'Anqa . In: EI 2 1 (1960) 509. - 73 Boehm, M./Specht, F.: Lett.-litau. Volksmärchen. MdW 1924, 13-38, bes. 25-27 (lett.). - 74 Jungbauer, G.: Märchen aus Turkestan und Tibet. MdW 1923, 111-113, 296, 307-309. - 75 Giese, F.: Türk. Märchen. MdW 1925, 84 sq., 303. - 76 1001 Nacht 4, 118 sq., cf. auch 162-164; Marzolph, U.: al-Rukhkh. In: EI2 8 (1995) 595. - 77 1 001 Nacht 2, 786-790; Marzolph, U.: Das Aladdin-Syndrom. Zur Phänomenologie des narrativen Orientalismus. In: Hören, Sagen, Lesen, Lernen. Festschr. R. Schenda. Bern u. a. 1995, 449-462. - 78 The Ocean of Story. Being C. Η. Tawney's Translation of Somadeva's Kathäsaritsägara (or Ocean of Streams of Story) 1. ed. Ν. M. Penzer. Nachdr. Delhi u. a. 1968, 103-105; ibid. 2, 151-156; Moeller, V.: Die Mythologie der vedischen Religion und des Hinduismus. In: Haussig (wie not. 65) t. 5 (1984) 1-204, hier 76 sq.; Grönbold, G.: Die Mythologie des ind. Buddhismus, ibid., 285-508, hier 354; Jayawardhana, B.: Garuda (var: Garula). In: Enc. of Buddhism 5,2. Colombo 1991, 311 sq. 79 Geißler, F.: Brautwerbung in der Weltlit. Halle 1955, 143, 222, not. 21; Heissig, W.: Geser-Studien. Opladen 1983, 496-500. - 8 0 z. B. Heissig, W.: Erzählstoffe rezenter mongol. Heldendichtung 1. Wiesbaden 1988, 60. 81 ibid. 2, 492; cf. auch Reg. - 82 ibid. 1, 200. 83 Hambruch, P: Malai. Märchen aus Madagaskar und Insulinde. MdW 1922, num. 27, 29. - 84 Gräße (wie not. 64) 78. - 85 H[am]p[el], J.: Fisch und Vogel. In: Haussig (wie not. 65) t. 4 (1986) 343-345, hier 345. - 86 Polo, M.: Von Venedig nach China. Die größte Reise des 13. Jh.s. ed. Τ. A. Knust. Stg. 1983, 302. - 87 von Beit 2, 31 sq. - 88 ibid., 83. -

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Physiologus

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Stumpfe, Ο.: Die Symbolsprache der Märchen. Münster 7 1992, 99.

Berlin

Werner Bies

Physiologus, das älteste christl. Tierbuch mit Auslegungen von außerordentlicher Breitenwirkung 1 . Es entstand vermutlich im multikulturellen Milieu des ägypt. Alexandrien, eine erste Fassung wurde wahrscheinlich zwischen dem 2. und 4. Jh. p. Chr. n. zusammengestellt 2 . Der P. ist eine Slg kurzer Erzählungen (manchmal auf wenige Aussagen beschränkt) über reale Tiere und Fabeltiere (-• Fabelwesen; die älteste Redaktion enthält einige Kapitel über -» Pflanzen und Steine), die allegorische (oder typol.) Entschlüsselungen zur Erschließung mystischer oder moralischer Wahrheiten der christl. Religion bieten. In denjenigen Hss., welche die vermutlich ursprüngliche Form beinhalten, wird ausdrücklich (oder aber implizit) die Bibel zitiert 3 , sowohl am Anfang als auch innerhalb der Erzählung selbst. Die Entschlüsselungen zeichnen sich durch Sprünge zwischen den Realitäten aus, deren Zusammenhänge man nur schwer feststellt 4 . So wird ζ. B. über den Fischotter erzählt, daß er seinen Leib mit Lehm bestreicht, in das offene Maul des schlafenden Krokodils springt und dessen Eingeweide frißt. Das -> Krokodil — so die Deutung des P. - gleicht dem Teufel, und der Otter ist ein Abbild Christi, denn Jesus ->• Christus hat den Lehm des Fleisches angezogen und fuhr in die Hölle hinab 5 . Der P. wurde in Westeuropa durch die Bestiarien, die Enz. η und das Buch der Natur (cf. Konrad von Megenberg) bis in die Neuzeit tradiert 6 , in Osteuropa sogar in einer seiner ältesten Formen bis gegen Ende des 18. Jh.s; allg. spielte er eine wichtige Rolle im Unterricht 7 . Im 18./19. Jh. setzten dann Forschungen über den P. ein 8 , doch scheint die Tatsache, daß eine der dt. Übers.en (1960) nach der ältesten griech. Redaktion bis heute mehrere Ausg.n 9 erlebte, auf eine vielfaltige Rezeption bis in die Gegenwart hinzuweisen. Auch die Auseinandersetzung zeitgenössischer Schriftsteller, bildender Künstler und Musiker 10 mit dem P. deutet auf ein wachsendes Interesse an diesem in die Polemiken gelehrter Philologen geratenen und, wie es schien, aus der literar. Aktualität verschwundenen Buch.

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Der Forschungsdiskurs über den P. wird äußerst kontrovers geführt, bes. hinsichtlich der Genese des Buches 11 . Man weiß nicht genau, von wem, wann, wo, aus welchem schon vorhandenen Material, aus welcher Mentalität heraus und zu welchem Zweck die Slg zusammengestellt wurde. Der ursprüngliche Titel blieb unbekannt. Der Name P. ist eigentlich ein Pseudonym des Autors (oder der Autoren), ein Adjektiv mit der Bedeutung: der, der die Physis (die Natur im spätantiken Sinne) der Wesen kennt. Die unterschiedlichen Auffassungen 12 darüber, aus welchen Materialien die Slg kompiliert wurde, reichen von der Vermutung der Existenz einer vorchristl. Zusammenstellung von Tiererzählungen (die dann durch die Hinzufügung von Hinweisen auf die Bibel und die Deutungen einem Prozeß der Verchristlichung unterzogen worden sei) 13 bis zu der Überzeugung, daß einer oder mehrere unbekannte Autoren aus verschiedenen antiken Qu.η Erzählungen gesammelt hätten, die sie dann im Geiste des in den Schriften Philons von Alexandrien, den Werken der Gründer der christl. ,Schule von Alexandrien' oder im Pseudo-Barnabas-Brief 14 vorgestellten allegorischen/typol.-mystischen Denkens verwendet hätten. Einer anderen Vorstellung zufolge hätte(n) der oder die Verf. der Slg nicht bereits vorliegende Erzählungen verwendet, sondern diese selbst verfaßt, um überzeugende similitudines zu den ansonsten für die neu zum Christentum Bekehrten schwer verständlichen geistlichen Wahrheiten zu bieten 15 . Manchmal folgen zwei oder drei Erzählungen über ein und dasselbe Tier aufeinander. In anderen Fällen wird ähnliches über verschiedene Tiere erzählt, jedoch in gegensätzlichem Sinn entschlüsselt. So heißt es ζ. B. einerseits über den Panther, der in Beziehung zu Christus gesetzt wird: Von seiner Stimme geht Wohlgeruch aus, und alle wilden Tiere folgen ihm. Und andererseits wird über den Walfisch gesagt: Wenn er Hunger hat, öffnet er sein Maul. Aus diesem kommt Wohlgeruch, und die kleinen Fische treiben ihm ins Maul. Desgleichen verlockt der Teufel die Unwürdigen und Unfertigen 16 . Manche Erzählungen ändern im Lauf der Überlieferung sowohl die Beschreibung als auch die Ausdeutung. Die Entschlüsselungen können in bonam partem

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Physiologus

als auch in malam partem ausfallen 17 . Sowohl die Erzählungen an sich als auch die Entschlüsselungen sind oft durch Härte, Grausamkeit, ja sogar Häßlichkeit gezeichnet18. In der Forschung wird versucht, zwischen einer vorausgesetzten Mentalität des Autors/der Autoren des P. und den Zeugnissen späterer, zeitlich weit entfernter Rezipienten aus den verschiedensten Kulturräumen zu unterscheiden 19 . Manche Entschlüsselungen bringen gnostische20, andere antidoketische Überzeugungen zum Ausdruck. In manchen Passagen macht sich ein dogmatisch noch nicht hinreichend gefestigter Glaube bemerkbar — eine kaum überraschende Tatsache für die ersten zwei Jh.e p. Ch. n. 21 In der Forschung stellt das Verhältnis des P. zu patristischen Schriften ein gesondertes Kapitel dar. Mögliche Wechselwirkungen stehen zur Diskussion, ob und wann sich die Kirchenväter durch den P. inspirieren ließen, oder aber, ob im Gegenteil der P. im Lauf seiner Tradierung kurze Fragmente aus den Texten der Kirchenväter aufnahm 22 . Sowohl die Kirchenväter als auch der P. greifen auf gemeinsame, in der Epoche bekannte Topoi zurück. In der philol. Forschung hat sich eine Schematisierung der Überlieferungsgeschichte des P. nach dem Kriterium der Sprache durchgesetzt, in der die Texte geschrieben sind. Die verschiedenen, im Laufe eines Jahrtausends verfaßten griech. Formen des P.23 werden in vier Gruppen gegliedert: (1) Die erste, wahrscheinlich in Ägypten im 2./4. Jh. zusammengestellte Redaktion ist in fünf unterschiedliche Hs.-Klassen unterteilt. Außer auf Tiere bezieht sich dieser älteste P. in seinen 48 (oder 49) Kapiteln auch auf einige Pflanzen und Steine. Diese 1. Redaktion liegt den folgenden griech. Redaktionen, den Übers.en in oriental. Sprachen (äthiop., armen., syr., arab., kopt., georg.24) sowie den kirchenslav. und lat. zugrunde. (2) Die mittelbyzant. Redaktion (Pseudo-Epiphanius), über deren Entstehungszeitpunkt unterschiedliche Meinungen bestehen (5./6. Jh. - 11. Jh.), umfaßt 27 Kapitel, enthält keine Kapitel über Pflanzen und Mineralien mehr, führt hingegen einige neue Tiere ein (1587 und 1601 erschien in Rom je eine zweisprachige griech.-lat. Ausg. mit Kürzungen und Änderungen). Diese Redaktion wurde vermutlich sowohl von den Erstellern der 3.

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und 4. griech. Redaktion als auch von einigen Übersetzern in slav. Sprachen verwendet. Ein Großteil der Kapitel der rumän. Übers.en geht ebenfalls auf die 2. griech. Redaktion zurück. (3) Die fälschlich dem Hl. Basileios d. Gr. zugeschriebene Redaktion - mit Bezugnahmen auf ->· Salomo und wahrscheinlich im 11./ 12. Jh. auf dem Athos zusammengestellt enthält 30 Kapitel über Tiere. Sie spiegelt sich in slav. und rumän. Übers.en wider. (4) Im 12. Jh. wurde eine volkssprachliche Redaktion in politischen' Versen zusammengestellt. Übers.en ins Lateinische25 entstanden vermutlich bereits im 4. Jh. nach der 1. griech. Redaktion. Das Verhältnis zwischen den drei lat. Versionen (y: 49 Kapitel, in drei Hss. erhalten; c: 26 Kapitel, in zwei Hss. erhalten; b: 37 Kapitel mit Ergänzungen von Bibelzitaten, in mehreren Hss. erhalten) sowie deren Alter stehen noch zur Diskussion. Es gibt auch Hss. mit kombinierten Formen. Die Version ,b' liegt sowohl frz. und engl. Bestiarien als auch zwei späteren lat. Versionen des P. zugrunde: den Dicta Chrysostomi (27 Kapitel; teilt die Tiere in Landtiere, mit mehreren Untergruppen, und Vögel ein), welche wiederum die Grundlage der Übers.en ins Deutsche darstellten, und die sog. ,b-is'-Version, die sich aus der etwa im 10. Jh. vollzogenen Hinzufügung mehrerer Passagen aus dem 12. Buch der Etymologiae des -> Isidor von Sevilla ergibt. Die ,b-is'-Version wird von manchen Fachleuten für einen P. gehalten, von anderen für ein Bestiarium. Der verbreitetste lat. P. (etwa 70 Hss., mehr als zehn Ausg.n) war jedoch eine um 1100 von einem gewissen Theobaldus in lat. Verse umgearbeitete, nur 13 Tiere in 12 Kapiteln abhandelnde Fassung, die im Schulunterricht verwendet wurde. Der sog. Novus P. (14. Jh.) wird für ein Bestiarium gehalten. Dt. Übers.en 26 des lat. P. wurden schon frühzeitig und an verschiedenen Orten vorgenommen: ein ahd. P. (gekürzte Übers, nach den Dicta Chrysostomi im 11. Jh.) und ein frühmhd. P. (um 1200) in zwei Formen (in Prosa und in Versen), denen ebenfalls die Dicta Chrysostomi zugrunde liegen und die jeweils in einer anderen Sammel-Hs. zwischen der altdt. Genesis und dem altdt. Exodus eingefügt wurden. Sie sind als der Wiener P. und der Millstätter P. bekannt. Dem frühma. P., jedoch nach einer anderen Vorlage, gehört

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auch noch das sog. Schäftlarner Fragment (zwei Kapitel) an. Dem spätma. dt. P. wird einerseits der sog. Melker P. aus den ersten Jahren des 15. Jh.s zugeordnet (bei dem bis jetzt keine literar. Vorlage ausfindig gemacht werden konnte; eventuell lagen ihm bildliche Darstellungen zugrunde, cf. ζ. T. Textübereinstimmungen mit den erhaltenen Steintafeln in der Daniels-Kirche von Celje, Slovenien). Außer dem Melker P. (manchmal für ein Bestiarium gehalten) gehören der Kategorie des spätma. dt. P. auch noch drei unterschiedliche Übertragungsarten des P. Theobaldi an, alle aus dem 15. Jh. und für den Schul- und Univ.sunterricht bestimmt. Es gibt auch zweisprachige Texte (lat.-dt.), die für den Trivium-Unterricht bestimmt waren. In der engl. Kultur 27 fanden bes. Bestiarien eine weite Verbreitung. Von Übers.en des P. hingegen sind nur ein altengl. Fragment (drei Tiere) aus einer Umarbeitung in Versen (wahrscheinlich nach mehreren lat. Vorlagen; im sog. Exeter-Buch, Ende 10. Jh.) und eine mittelengl. Version - ebenfalls in Versform (12 Tiere; ausgehend vom P. Theobaldi) in einer einzigen Sammel-Hs. um das Jahr 1300 erhalten geblieben. Vom isl. P.28 sind zwei unterschiedliche, nur fragmentarisch erhaltene Fassungen (um 1200) bekannt, die in einer einzigen Hs. zusammengefaßt sind. Der Text des P. wurde hier umgearbeitet und mit Angaben über menschliche Fabelwesen kombiniert. Obwohl der P. im MA. nicht ins Ungarische übersetzt wurde 29 , ist seine Präsenz in diesem Kulturraum dennoch durch Vermerke in der (kirchlichen und laizistischen) Lit. wie auch durch den Bestiarien ähnliche Texte (ung. Vadkert) belegt. Auch gibt es moderne ung. Übers.en des lat. und griech. P. In den rom. Sprachen hat der P. seine Existenz als Bestiarium fortgesetzt und ist in Fragmenten oder durch seinen Widerhall in anderen Schriften belegt30. Nur in der rumän. Lit.31 wurde der P. als solcher wahrscheinlich im 17. Jh. übersetzt. Aus dem 16. Jh. haben sich in der rumän. Lit. (in kirchenslav. Sprache) und in der Kirchenmalerei Zeugnisse erhalten, daß der P. und Bestiarien bekannt waren, ohne daß jedoch präzisiert werden konnte, um welche Versionen es sich handelt. Von den drei Hauptformen, die in rumän.

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Sprache im Umlauf waren (von den Kopisten Andonachi Berheceanu, ed. M. Gaster; Costea Dascälul aus dem Kronstädter Schei-Viertel, ed. M. Mociornifä sowie Serafim von Bistritz, ed. C. Velculescu und Ionitä Dascälul, ed. C. Velculescu/V. Guruianu/M. Anton 32 ), sind die beiden ersten nur jeweils in einer einzigen Hs. erhalten geblieben (für die erste auch eine Teilkopie), während die letzte (u. d. T. Cuvänt de smerita infelepciune; der Titel P. ist in den rumän. Hss. unbekannt) in mindestens sieben anderen Hss. (mit ζ. T. bemerkenswerten Textänderungen, in anderen Fällen relativ unverändert) erhalten ist. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt konnten die direkten Qu.n der rumän. Texte nicht bestimmt werden, man kann also nicht genau sagen, auf wen die Vermischung zurückzuführen ist. Weiter ist unsicher, ob die Übers, immer aus dem Kirchenslavischen erfolgte oder in manchen Fällen auch auf griech. Qu.n zurückgegriffen wurde. Als P. wurden rumän. Übers.en eines Werkes von Damaskenos Studites untersucht (kein P., sondern ein aus verschiedenen Qu.n kompiliertes Tierbuch)33, das im 16. Jh. zusammengestellt und im 17./18. Jh. in Venedig gedruckt wurde. Den rumän. Lesern in griech. Sprache schon aus dem 17. Jh. bekannt, wurde dieses Werk wahrscheinlich im 18. Jh. übersetzt und im 19. Jh. noch kopiert. In die slav. Lit.en wurde der P. in einer relativ frühen Periode des slav. Christentums übernommen. Sieben russ. Hss. aus dem 15. —17. Jh. enthalten ein und dieselbe Übers. 34 der ersten griech. Redaktion des P. in die kirchenslav. Sprache, die wahrscheinlich im 12. oder 13. Jh. 35 (nach anderen Meinungen im 10. /11. Jh. 36 ) im südslav. Gebiet oder sogar in Kiew von aus Bulgarien, dem Athos oder anderen Orten 37 eingeladenen Gelehrten angefertigt wurde. Der P. zirkulierte im russ. Gebiet überwiegend in klösterlichem Milieu, wo er — scheinbar unter dem Einfluß des Barock — für tropologische Interpretationen in Predigten verwendet wurde. Die 2. griech. Redaktion, der Pseudo-Epiphanius, ist ebenfalls in die kirchenslav. Sprache übersetzt worden und in einer größeren Anzahl von Hss. erhalten, die in drei Gruppen klassifizierbar sind, die den drei verschiedenen, zwischen dem 14. und 19. Jh. datierbaren Übers.en entsprechen38. Diese Übers.en sind auch unter den

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Südslaven sowie unter den Russen u n d Tschec h e n 3 9 verbreitet. Eine weitere kirchenslav. Übers, basiert auf der d e m Hl. Basileios d. Gr. zugeschriebenen 3. griech. R e d a k t i o n 4 0 . Anderen M e i n u n g e n zufolge handelt es sich u m eine gemischte, mit der 1. griech. R e d a k t i o n k o m binierte Form 4 1 . In der Fachliteratur wird auch eine auf das Tierbuch v o n D a m a s k e n o s Studites zurückgehende, im 17. Jh. entstandene kirchenslav. Ü b e r s e t z u n g erwähnt 4 2 . Von den röm.-kathol. Slaven wurde der R in lat. Sprache gelesen. D i e unterschiedlichen Überlieferungsstufen des R lassen Aufschlüsse s o w o h l über Mentalitäten als a u c h über Aspekte der mündl. und schriftl. Erzähltechnik 4 3 erwarten. D i e Übersetzer als Hersteller der neuen Formen, die Kopisten, Leser, K o m m e n t a t o r e n , die Autoren anderer Schriften, die auch aus d e m R als Qu. schöpften, hinterließen oftmals in ihren Aufzeichnungen, K o m m e n t a r e n oder Schriften Zeugnisse, die j e d o c h nur mit großer Vorsicht u n d innerhalb äußerst enger Grenzen auf ihre Zeitgenossen zu extrapolieren sind 4 4 . Es ist schwer festzustellen, o b es sich bei neuen Form e n in L i t 4 5 u n d bildenden K ü n s t e n 4 6 u m einen Widerhall des R handelt oder u m d e m R n a h e k o m m e n d e , durch andere schriftl. oder mündl. Q u . n tradierte Vorstellungen über Tiere 4 7 . Bildliche Darstellungen finden sich über die III. der Hss. hinaus in der Wandmalerei (oder in anderen F o r m e n der Wanddekorationen), in der Skulptur, der Ornamentik sowie bei Inschriften 4 8 . 1 Alpers, K.: P. In: T R E 26 (1996) 596-602; Henkel, N./Hünemörder, C. u. a.: Bestiarium, -ius, Bestiarien. In: Lex. des MA.s 1. Stg.AVeimar 1999, 2072-2080; Seibt, W. u.a.: P. ibid. 6 (1999) 2117-2122; Perry, Β. Ε.: P i n : PaulyAVissowa 20 (1941) 1074-1129; Schröder, C.: P. In: Verflex. 7 ( 2 1989) 620-634. - 2 Scott, Α.: The Date of the P. In: Vigiliae Christianae 52 (1998) 4 3 0 - 4 4 1 (3. Jh.); Treu, U.: Zur Datierung des P. In: Zs. für die neutestamentliche Wiss. 57 (1966) 101-104 (2. Jh.); Wellmann, M.: Der Physiologos. Eine religionsgeschichtlich-naturwiss. Unters. Lpz. 1930, 11-13, 112 sq. (4. Jh.). - 3 Diekstra, F. Ν. M.: The P., the Bestiaries and Medieval Animal Lore. In: Neophilologus 69 (1985) 142-155; Treu, U.: Amos VII 14, Schenute und der P. In: Novum Testamentum 10 (1968) 234-240. - 4 Dronke, P.: La creazione degli animali. In: L'uomo di fronte al mondo animale nell'alto Medioevo. 7—13 aprile 1983. Spoleto 1985, 809-848; Henkel, Ν.: Studien zum P. im

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Bukarest

Cätälina Velculescu Manuela Anton

Pierre de Provence -» Magelone

Pietismus 1. Allgemeines: Fromme Wortkultur - 2. Die Hauptgattung: Fromme Lebensgeschichten - 3. Inhalte und Motive: Fromme Erfahrungen

1. A l l g e m e i n e s : F r o m m e W o r t k u l t u r . Der P. war eine religiöse Erneuerungsbewegung im Protestantismus des 17. und 18. Jh.s, mit Nachwirkungen bis heute. Im Anschluß an die -> Reformation und als Reaktion auf die Orthodoxie strebte er eine ,wahrhafte' -» Frömmigkeit im persönlichen Leben, in der Kirche und in der Ges. an. Man unterscheidet reformierten, luther. und radikalen (unkirchlichen) P. (-• Konfession, Konfessionen). Der P. ist eng mit dem engl. Puritanismus verwandt und beeinflußte den Labadismus, den Methodismus, das Herrnhutertum, die Erwekkungsbewegungen, die Freikirchen und die evangelikalen und charismatischen Gruppen des 20. Jh.s. Er verbreitete sich in den Niederlanden, Deutschland, Skandinavien, dem Baltikum, der Schweiz, Ungarn und in überseeischen Kolonien, bes. in Nordamerika 1 . In der Entwicklung und Vermittlung der Frömmigkeitsideale des P. spielte die Geistlichkeit (-• Klerus) eine wichtige Rolle. Diese Ideale verbreiteten sich von den Mittelschichten allmählich zu den kleinbürgerlichen und

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kleinbäuerlichen Schichten. In der Ges. und in der Kirche manifestierte sich der P. als eine Subkultur lokaler und regionaler Laiengruppen mit einem innerlichen' Glauben und einer rigiden Moral der religiösen Abgrenzung von der ,Welt'. Mentalität und Verhalten konzentrieren sich auf Gott, seine Helfer und Gegner (-» Engel und Teufel), auf Autoritäten in Geschichte und Gegenwart und auf die Gemeinschaft der Heiligen, hier und im Himmel 2 . Diese soziokulturelle Struktur des P. bestimmt auch seine Kommunikationsformen und Erzähltraditionen. Außer den kirchlichen Medien von -» Predigt und -> Katechese eigneten sich bes. die Privat Versammlungen der Familie und des Freundeskreises wie die Erbauungsstunde oder das Konventikel für fromme mündl. Überlieferung. Als Erzähler traten neben Erziehern, Lehrern und Pastoren viele Laienprediger und einfache Leute hervor, unter diesen gab es auch Reisende wie ,Wanderpropheten', Kaufleute und Kolporteure, Schiffer und Fischer. Bedienten sich gebildete Fromme einer Art von Rhetorik 3 , so entwikkelte sich im Laienpietismus ein spezifischer Wortschatz für den Ausdruck geistlicher Erfahrungen 4 . Infolge der Konzentration auf die Bibel, auf den Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge (historia und fabula) und auf das Jenseits statt das Diesseits kehrte die Frömmigkeitsbewegung sich von traditionellen populären -» Lesestoffen ab. Von Legenden, Märchen und Schwänken wurde abgeraten, weil sie als nichtige Dinge angesehen wurden. Das verhinderte aber nicht, daß die Betbrüder und -schwestern in populären Lesestoffen öfters als Erzählfiguren fungieren. Pietistische Einflüsse lassen sich ζ. B. in den Bibl. Historien von J. Hübner 5 , in den Schriften von J. H. Jung-Stilling 6 und in -> Moralischen Geschichten ausmachen 7 . Zur Tradition der Protestant. Predigtexempel und -» Exempelsammlungen hat der Ρ nicht wesentlich beigetragen 8 . Unter den Ausnahmen ließe sich der engl. Erweckungsprediger C. H. Spurgeon (1834—92) nennen, ein vom Puritanismus und Methodismus geprägter Baptist, der als moderner Meister des Predigtexempels in Europa weit und breit bekannt war 9 . Überaus groß war die Bedeutung des P. für die religiöse Volkslektüre seit der Re-

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formation. Er brachte eine umfangreiche Erbauungsliteratur hervor, die durch ihre zahlreichen Übers.en eine internat. Ausstrahlung hatte. Die Bücher dienten den Lesern und Hörern zur Stärkung des Glaubens und zur frommen Lebensführung, außerdem — wie die -«· Hausväterliteratur — zur Familienpädagogik10. Unterdessen blieb das pietistische Weltbild überwiegend von bibl. Erzählungen durchzogen. Kennzeichnend für diese Protestant. .Bücherfrömmigkeit' sind die Erzählungen von wunderbaren Errettungen von Bibeln und Andachtsbüchern aus Wasser- und Feuersnot. Seit der Mitte des 17. Jh.s gibt es eine Reihe solcher Ber.e über das populäre Paradiesgärtlein von J. Arndt, einem der Väter des luther. P.11 Im 19. Jh. bewirkten die Erweckungsbewegungen und die Tätigkeit der .Inneren Mission', gestützt von der Massenpresse12, eine neue Welle der Produktion erbaulicher Lektüren 13 . Viele Protestant. Traktate, Volkszeitschriften, -» Kalender, Kinderbücher und Kompilationswerke - häufig durch Kolportage vertrieben — entsprangen dem Wiederaufleben des P. Sie bildeten einen Kanon von alten und neuen, schriftl. oder mündl. Überlieferungen 14 . Diese christl. Erzähltradition von ,wahren Geschichten' ist bes. unter Evangelikaien und Ultra-Reformierten in Wort und Druck noch immer lebendig. 2. Die H a u p t g a t t u n g : F r o m m e Leb e n s g e s c h i c h t e n . Zur praxis pietatis gehörte das Lesen von Erbauungsliteratur, das Schreiben von Tagebüchern und Briefen und der Austausch von Geschichten über göttliche Seelenführung einzelner Frommer. So ist es verständlich, daß die religiöse Autobiographie und Biogr., also die Lebensgeschichte und das Selbstzeugnis, als Hauptgattungen der pietistischen Erzählliteratur hervortreten. Als Leitmotiv dient gewöhnlich die -» Bekehrung oder die Wiedergeburt, d. h. die Erweckung des inneren Glaubens und dessen Ausprägung in einer Gestaltung Protestant. Heiligkeit. Sofern gedr. Lebensbilder eine exemplarische Funktion für fromme Leser anstrebten, handelt es sich um eine Art von -»• Hagiographie. Sterbebettgeschichten erinnern an die Lit. der ars moriendi.

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Schriftl. Ber.e eigener oder fremder frommer Erfahrungen gingen manchmal mündl. Kommunikationsformen voraus. Wie das Glaubenszeugnis vor der Gemeinde bei Puritanern Bedingung sein konnte für ihre Aufnahme in den Kreis der .visible saints', wurden viele erbauliche Lebenserinnerungen von Pietisten erst in den Konventikeln erzählt und dann später in modellierter und stilisierter Form niedergeschrieben. Die Biogr. reformierter und luther. Pastoren konnte in die Rhetorik der Leichenpredigt verpackt sein. Die Herrnhuter verfaßten in hohem Alter ihre eigenen Lebensbeschreibungen, damit sie bei ihrer Beerdigung verlesen und später in Mitteilungen der Brüdergemeinde veröffentlicht werden konnten 15 . Die Basler Mission bewahrt hs. Lebensgeschichten, die von jedem Zögling beim Eintritt verlangt wurden. Aus dem radikalen P. stammen einige wichtige Slgen von Biogr.n mit konfessionsübergreifender Ausw. vorbildlicher Frommer. J. H. Reitz schrieb eine siebenteilige Historie der Wiedergebohrnen (1698—1745) anhand der Zeugnisse vieler christl. Männer und Frauen des 17. Jh.s aus verschiedenen Ländern und Ständen 16 . Seinem Vorbild folgten G. Arnold 17 und G. Tersteegen18, die auch Geschichten der Altväter (-» Vitae patrum), der Heiligen und -» Märtyrer der Alten Kirche und des MA.s aufnahmen. Die Sammelbiographien der Frommen der Vergangenheit sollten als ein Spiegel dienen, in dem die Frommen der Gegenwart sich selbst mit ihren Erfahrungen erkennen und so auf ein seliges Ende hoffen konnten 19 . Einen bemerkenswerten Beitr. lieferte der P. zur Kinder- und Jugendliteratur, im Anschluß an den klassischen Puritanismus, doch lange vor der aufklärerischen ,Entdeckung der Jugend' 20 . Bereits 1679 besorgte der ndl. Pastor J. Koelman eine Kompilation von Ber.en über vorbildlich fromme Kinder, die teilweise dem kurz zuvor erschienenen engl. Büchlein von J. Janeway entnommen worden waren 21 . In Deutschland erschien 1709 die erste Übers, dieses Werks, die schließlich von J. J. Rambach zu seinem Erbaulichen Handbüchlein für Kinder (Gießen 1734; Lpz. 1736 u. ö.) bearbeitet und erweitert wurde 22 . Diese Beispielgeschichten über Jugendliche fügten sich alle in die pietistisch-pädagogische Reforminitiative

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ein, die darauf zielte, daß mit der frommen Lebensführung so früh wie möglich begonnen wurde. Die stärkste Erzähltradition des P. war die autobiogr. 23 Sie wurde vertreten von pietistischen Vätern (wie P. J. Spener, Α. H. Francke und N. L. von Zinzendorf) und Müttern (wie Α. M. van Schurman 24 und beim Ehepaar Petersen25), fand aber auch eine breite Nachahmung unter Frommen des Handwerkerstandes26 und des antirationalistischen Bürgertums 27 . Auffallend ist immer die große Anzahl schreibender Frauen 28 . Im ndl.-reformierten P. gibt es seit der Mitte des 18. Jh.s Dutzende von (auto)biogr. Büchlein, die bis heute immer wieder neu aufgelegt werden. Auch erscheinen noch Sammelbände mit neuen Erzählungen ,aus dem Leben des alten Gottesvolkes'. Diese Produktion spiegelt den religiösen Sonderweg, die kirchliche Zerstreuung und die gesellschaftliche Isolierung der ,Stillen im Lande' gegenüber der Modernisierung und Säkularisierung wider. Zugleich machten die Reproduktion von Lebensbildern aus mehreren Ländern und Zeiten die hist. Dauerhaftigkeit der internat. pietistischen Erzähltradition deutlich29. 3. I n h a l t e u n d M o t i v e : F r o m m e Erf a h r u n g e n . Pietistische Erzählungen sind Darstellungen der Vorsehung Gottes, die in der bes. Lebensführung einzelner Menschen deutlich wird. Sie gelten als bemerkenswerte Tatbeweise der Weisheit, Liebe und Gerechtigkeit des Herrn zugunsten seiner Kinder. Die Erzählform ist unwichtig; es geht nur um die religiöse Echtheit und hist. Wahrheit der Geschichten. Meistens sind es persönliche Erfahrungen, aber auch -• Memorate aus zweiter und dritter Hand, die jedoch wieder zum eigenen Erlebnis verinnerlicht werden können. Die Funktion der pietistischen Erzählung für das Invididuum oder die Gruppe gleicht der des -> Exemplums. Eine ganze Lebensgeschichte soll zur Tröstung oder zur Mahnung gehört oder gelesen werden, sei es zur Bekehrung oder zur Nachahmung. Zugleich dient sie der Annäherung der bibl. an die aktuelle Wirklichkeit und der Integrierung des Heiligen in das tägliche Leben. Der enge Zusammenhang von Welt und Überwelt in der pietistischen Konstruktion der Wirklichkeit prägt die

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subkulturelle Erzähltradition. Die analogische Denkart eignet sich zwar für die Allegorie oder die Parabel, bezeichnend ist aber vielmehr die Überhäufung der ,wahren Geschichten' mit Transgressionsepisoden, die in der Bemühung um erbauliche Überhöhung alles menschlichen Tuns irdische Dinge immer zu geistlichen Gedanken führen 30 . Die Erzählungen über gemachte Erfahrungen wurden nach theol. Mustern und (semi-) literar. Konventionen modelliert. Bekehrungsgeschichten folgen gewöhnlich dem Schema Rechtfertigung — Heiligung in ausführlichen Stadien wie: sündige Jugend, Selbstentdekkung, Bußkampf, Wiedergeburt, Gestaltung der Frömmigkeit und Streit gegen die Welt, den Teufel und das eigene Fleisch. Ein seliges Sterben bildet jedoch immer den krönenden Abschluß eines frommen Lebens. In den ndl.-pietistischen Autobiographien läßt sich das calvinist.-scholastische Konzept der .Ordnung des Heils' als eine interessante Form von gesunkenem Kulturgut wiederfinden. Dogmatische und pastorale Unterscheidungen erreichten die frommen Seelen durch die pietistische Predigt, erbauliches Lesen und Hörensagen und die Spirale der inneren Selbsterforschung. Nicht nur die Prädestination, sondern auch die christl. Heilsfakten (bes. das Weihnachts-, Oster- und Pfingstgeschehen) sollten ζ. B. visionär angeeignet werden. Als Vorrecht begnadeter Seelen gibt es zudem die Rechtfertigung im Tribunal des Gewissens'. In einem Gesicht (cf. -»· Vision, Visionsliteratur) erscheint der wiedergeborene Sünder vor Gott als Richter und dem Teufel als Ankläger. Dank der Fürbitte Christi als Anwalt erfolgt schließlich der Freispruch. Die gesamte Breite und Themenvielfalt der Erzähltradition von vier Jh.en läßt sich nur schwer zusammenfassen. Doch zeigen ζ. B. die Geschichten aus ndl. Erweckungszeitschriften des 19. Jh.s31 oder aus norw. Pfingstgemeinden im 20. Jh. 32 ähnliche Motivreihen von Gottesführungen. In vielen Fällen geht es um geistliches Verstehen bes. Ereignisse wie ,Bibliomantie' (Gott spricht durch einen bewußt willkürlich aufgeschlagenen Bibeltext), Gebetserhörungen, Heilungsgeschichten (->· Heilen, Heiler, Heilmittel) und andere ,Wunder' und .Zeichen', die als himmlische Belohnung oder Bestrafung persönlichen Verhaltens auf-

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g e f a ß t w e r d e n ( - • D i v i n a t i o n ) . E h e r in d e n R a n d g e b i e t e n d e s P. findet m a n Parallelen z u v o l k s t ü m l i c h e n Ber.en über s u p r a n o r m a l e G a b e n . E s gibt -> Christus- o d e r Teufelsers c h e i n u n g e n , E r r e t t u n g e n a u s kritischen Situat i o n e n d u r c h S c h u t z e n g e l o d e r Tiere, O f f e n b a r u n g e n in T r ä u m e n , E r f a h r u n g e n v o n Todesnähe, K o m m u n i k a t i o n mit verstorbenen H e i l i g e n etc. Weit verbreitet ist die S a g e v o n der ,Engelw a c h e ' , die vielleicht als ein indirekter H i n w e i s a u f die E h r f u r c h t v o r H e i l i g e n f i g u r e n i m P. sow i e d a s E m p f i n d e n der F r o m m e n , eine g e f ä h r d e t e M i n d e r h e i t z u sein, g e d e u t e t w e r d e n kann: Zwei M ä n n e r wollen einen Pastor (Laienprediger) töten, weil sie ihn als Menschen oder als Überbringer seiner Botschaft hassen. In einer Nacht lauern sie ihm auf. Als er vorbeigeht, tun sie jedoch nichts, denn zwei Fremde begleiten ihn. Später (manchmal auf dem Sterbebett) fragen sie den Geistlichen, wer diese Gestalten gewesen seien, und bekennen ihre bösen Absichten. Der Gottesmann weiß von nichts und glaubt, es seien Schutzengel gewesen (manchmal wird die Hauptperson von einem auch für ihn selbst sichtbaren H u n d oder Pferd begleitet). Var.n dieses E r z ä h l t y p u s gibt e s v o r a l l e m mit Bezug auf charismatische Persönlichkeiten d e s P , d e s M e t h o d i s m u s u n d der E r w e c k u n g s bewegungen. O b w o h l die frühesten Überliefer u n g e n a u s d e m s p ä t e n 19. Jh. s t a m m e n , ist in d e n N i e d e r l a n d e n Vater B e r n a r d u s S m y t e g e l t , P a s t o r i m f r ü h e n 18. Jh., die -» Kristallisat i o n s g e s t a l t der E r z ä h l u n g e n ü b e r die , E n g e l w a c h e ' g e w o r d e n 3 3 . In d e n letzten J a h r z e h n t e n t a u c h t e eine m o d e r n e Version der E r z ä h l u n g auf34: Ein frommes Mädchen k o m m t im Dunkeln an einem M a n n vorbei, der ihr suspekt erscheint. Kurz danach hört oder liest sie einen Polizeibericht, der berichtet, d a ß am selben Ort und a m selben Abend eine Frau vergewaltigt worden ist. Aufgrund der von dem Mädchen gegebenen Personalbeschreibung wird der Täter festgenommen. Gefragt, warum er sich nicht an dem Mädchen vergriffen hätte, antwortet er: „Sie war doch nicht allein!" Ein Engel hatte sie geschützt. D i e E r z ä h l f o r s c h u n g z u m P. h a t e i n e n gew i s s e n R ü c k s t a n d a u f z u h o l e n . W ä h r e n d die K i r c h e n g e s c h i c h t s s c h r e i b u n g stark theol. g e prägt war, richtete die Vk. ihr Interesse l a n g e Zeit a u f d a s S a m m e l n für v o l k s t ü m l i c h g e h a l tener E r z ä h l u n g e n . D i e I n v e n t a r i s i e r u n g u n d

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K a t a l o g i s i e r u n g v o n M o t i v e n a u s verschiedensten schriftl. Q u . n , die erbauliche Beispielges c h i c h t e n e n t h a l t e n , ist ein D e s i d e r a t . E b e n s o sind F e l d f o r s c h u n g e n unter Protestant. G l ä u b i g e n u n d in e v a n g e l . K o m m u n i k a t i o n s m e dien n o t w e n d i g . Weitere F a l l s t u d i e n zur F u n k tion v o n E r z ä h l u n g e n i m A l l t a g s l e b e n einzelner Christen u n d christl. G r u p p e n k ö n n t e n a u c h e i n e n w i c h t i g e n Beitr. z u r a b e n d l ä n d . R e l i g i o n s g e s c h i c h t e erbringen. 1 Brecht, M. u. a. (edd.): Geschichte des P. 1—4. G ö t tingen 1993/95/2000 (t. 4 noch nicht erschienen). 2 Scharfe, M.: Die Religion des Volkes. Kleine Kultur- und Sozialgeschichte des P. Gütersloh 1984. 3 cf. Breymayer, R.: Die Erbauungsstunde als F o r u m pietistischer Rhetorik. In: Rhetorik. Beitr.e zu ihrer Geschichte in Deutschland vom 1 6 . - 2 0 . Jh. ed. H. Schanze. F f m . 1974, 8 7 - 1 0 4 . - 4 c f . Langen, Α.: Der Wortschatz des dt. P. Tübingen 2 1968; Ketterij, C. van de: De weg in woorden. Een systematische beschrijving van het pietist, woordgebruik na 1900. Assen 1972. - 5 Hübner, J.: Zweymahl zwey und funffzig Auserlesene Bibl. Historien. Lpz. 1714 (viele Nachdr.e bis 1902; Nachdr. 1986 der Aufl. 1731. ed. C. Reents/R. Lachmann. Hildesheim 1986), ist mehr orthodox als pietistisch; cf. Brüggemann, T. (ed.): Hb. zur Kinder- und Jugendlit. von 1570 bis 1750. Stg. 1991, 2 3 1 - 2 5 9 . - 6 Hirzel, M.: Lebensgeschichte als Verkündigung: Johann Heinrich JungStilling - Ami Bost - Johann Arnold Kanne. G ö t tingen 1997. - 7 Hacker, J. Β. N.: Der Unsichtbare oder Menschenschicksale und Vorsehung. Ein hist.moralisches Lesebuch zur Belehrung und zum Tröste für Zweifler und Leidende. Lpz. 1810. - 8 Geringer pietistischer Einfluß bei Gerstäcker, J. C.: Amoenitates Anglicanae, das ist Engeländ. Ergötzlichkeiten. Magdeburg/Lpz. 1717; cf. Rehermann, 65 sq., 68 sq. 9 Spurgeon, C. H.: The Art of Illustration. L. 1894; Liebig, H. (ed.): D a s Buch der Bilder und Gleichnisse (2000 der besten Ill.en) aus C. H. Spurgeons bisher in dt. Sprache nicht erschienenen Werken. Kassel 4 1904. - 1 0 cf. auch Groenendijk, L. F./ Sturm, J. C.: D a s Exempel Böhmens in den Niederlanden. Comenius' Bedeutung für die familienpädagogische Offensive der pietistischen Reformation. In: Zs. für Pädagogik 38 (1992) 1 6 3 - 1 8 2 . 11 Messerli, Α.: Die Errettung des „Paradiesgärt leins" aus Feuers- und Wassernot. In: Fabula 38 (1997) 2 5 3 - 2 7 9 . - 12 Für Deutschland cf. Der Evangel. Buchhandel. Eine Übersicht seiner Entwicklung im 19. und 20. Jh. Stg. 1961. - 1 3 z. B. Christian G o t t l o b Barth, cf. Schenda, R.: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770-1910. F f m . 3 1988, 166-169; Raupp, W.: Christian G o t t l o b Barth. Studien zu Leben und Werk. Stg. 1998. - 1 4 cf. Brückner, W.: Die G a t t u n g Protestant. Beispielkatechismen im 19. Jh. In: Jb. für Vk. 22 (1999) 1 4 1 - 1 6 4 . - 15 Hose, S.:

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Pif Paf Poltrie!

„Für die Stunde meines Begräbnisses". Zur kommunikativen Funktion von Lebensgeschichten in der Herrnhuter Brüdergemeine. In: Letopis 47 (2000) 80-94. - 16 Reitz, J. H.: Historie der Wiedergebohrnen 1 - 7 . ed. H.-J. Schräder. Tübingen 1982; Mohr, R.: Über die „Historie der Wiedergebohrnen" von Johann Henrich Reitz. In: Monatsh.e für evangel. Kirchengeschichte des Rheinlandes (1974) H. 23, 56-104; Schräder, H.-J.: Lit.produktion und Büchermarkt des radikalen P. J. H. Reitz' „Historie der Wiedergebohrnen" und ihr geschichtlicher Kontext. Göttingen 1989. - 17 Arnold, G.: Vitae patrum oder das Leben der Altväter und anderer Gottseeligen Personen. Halle 1700; id.: Das Leben der Gläubigen oder Beschreibung solcher Gottseligen Personen, welche in den letzten 200. Jahren sonderlich bekandt worden. Halle 1701; cf. Blaufuss, D./Niewöhner, F. (edd.): Gottfried Arnold. Wiesbaden 1995. - 18 Tersteegen, G.: Auserlesene Lebensbeschreibungen hl. Seelen 1 - 3 . Ffm./Lpz. 1733-43. - , 9 cf. auch Witt, U.: Eine pietistische Biogr.nslg. Erdmann Heinrich Graf Henckels „Letzte Stunden" (1720-1733). In: P. und Neuzeit 20 (1994) 184-217. - 2 0 cf. Frijhoff, W.: Enfants saints, enfants prodiges. L'experience religieuse au passage de l'enfance ä l'äge adulte. In: Paedagogica historica 29 (1993) 53-76. 21 Groenendijk, L. F.: Von zwei frommen Kindern, die von der Pest heimgesucht wurden. Kind und Kinderbuch im ndl. reformierten P. In: Neumann, J. N./Sträter, U. (edd.): Das Kind in P. und Aufklärung. Tübingen 2000, 111-129. - 22 Brüggemann (wie not. 5) 259-279, 1697-1700; Moore, C. N.: „Gottseliges Bezeugen und frommer Lebenswandel". Das Exempelbuch als pietistische Kinderlektüre. In: Neumann/Sträter (wie not. 21) 131-142. 23 cf. Bertolini, I.: Studien zur Autobiogr. des dt. P. Wien 1968; Beyreuther, Ε.: N. L. von Zinzendorf in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Stg. 21975. - 24 Baar, M. de (ed.): Choosing the Better Part. Anna Maria van Schurman (1607-1678). Dordrecht 1996. - 25 Becker-Cantarino, B.: P. und Autobiogr. Das ,Leben' der Johanna Eleonora Petersen (1644-1724). In: ,Der Buchstab tödt - der Geist macht lebendig'. Festschr. H.-G. Roloff 2. Bern u. a. 1992, 917-936. - 26 Nehrlich, H. L.: Erlebnisse eines frommen Handwerkers im späten 17. Jh. ed. R. Lächele. Halle 1997. - 27 Mahrholz, W.: Der dt. P. Eine Ausw. von Zeugnissen, Urkunden und Bekenntnissen aus dem 17., 18. und 19. Jh. B. 1921; Beyer-Fröhlich, Μ.: P. und Rationalismus. Lpz. 193 3. - 28 Witt, U.: Bekehrung, Bildung und Biogr. Frauen im Umkreis des Halleschen P. Tübingen 1996; Faull, Κ. M. (ed.): Moravian Women's Memoirs. Their Related Lives, 1750-1820. Syracuse, Ν. Y. 1997; Jung, Μ. H. (ed.): „Mein Herz brannte richtig in der Liebe Jesu". Autobiogr.n frommer Frauen aus P. und Erweckungsbewegung. Eine Qu.nslg. Aachen 1999. - 29 Zur (auto)biogr. Tradition im ndl. P.: Lieburg, F. A. van: Levens van vromen. Gereformeerd pietisme in de achttiende eeuw. Kampen 1991; id. (ed.): De stille luyden. Bevindelijk

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gereformeerden in de negentiende eeuw. Kampen 1994; Groenendijk, L. F.: De spirituele (auto)biogr. als bron voor onze kennis van de religieuze opvoeding en ontwikkeling van Nederlandse pietisten. In: id. (ed.): Leren geloven in de Lage Landen. Facetten van de geschiedenis van de religieuze opvoeding. Amst. 1993, 57-90; zur norw. pietistischen Autobiogr. cf. Amundsen, Α. Β.: „The Haugean Heritage" - Α Symbol of National History. In: Braarvig, J./Krogh, T. (edd.): In Search of Symbols. An Explorative Study. Oslo 1997, 214-233; id.: „The Living Must Follow the Dead". In Search of „The Religious Person" in the Nineteenth Century. In: Arv 53 (1997) 1 0 7 - 1 3 0 . - 30 Bausinger, 2 1 6 - 2 1 9 . 31 Dekker, T.: Wahre religiöse Geschichten in der ndl. mündl. und schriftl. Tradition. In: Rhein. Jb. für Vk. 26 (1985-86) 93-107. - 32 Kvideland, R. und K.: Christi. Erzählen in norw. Erweckungsbewegungen. In: Eberhart, H. u. a. (edd.): Volksfrömmigkeit. Referate der Österr. Vk.tagung 1989 in Graz. Wien 1990, 219-231. - 33 Lieburg, F. van: De engelenwacht. Geschiedenis van een wonderverhaal. Kampen 2000; id.: Sanctifying Pillars of Pietism: Guardian Angels in Dutch Protestant Story-Telling. In: Beyer, J. u. a. (edd.): Confessional Sanctity. Sanctity in North-Western Europe during the Early Modern Period (c. 1550-c. 1800). Mainz (im 34 Druck). id.: Mädchen, Vergewaltiger und Schutzengel. Die moderne Umwandlung einer evangel. Wundergeschichte. In: Hiiemäe, R./Beyer, J. (edd.): Folklore als Tatsachenbericht. Tartu (im Druck).

Amsterdam

Fred van Lieburg

Pif Paf Poltrie! (AaTh 2019), Kettenmärchen, auch als ,Scherzdialog'1 bezeichnet. A. -» Taylor spricht von Kettenmärchen über eine Hochzeit ohne Beziehungen zwischen den genannten Personen 2 . Ein (mehrere) Freier mit einem merkwürdigen Namen (ζ. Β. K H M 131: Pif Paf Poltrie, wohl von engl, paltry: armselig, karg) bittet den Vater um die Hand seiner Tochter. Dieser verweist ihn an die anderen Familienmitglieder, die nacheinander ihre Zustimmung geben. Der Freier fragt schließlich die Braut nach ihrer Mitgift, die mehr als armselig ist. Die Braut erkundigt sich nach dem Beruf des Freiers, der kein Schneider, Schuster, Bauer, Schreiner, Schmied, sondern ein Besenbinder ist. „Ist das nicht ein schönes Handwerk?"

AaTh 2019 scheint im ndd.-ndl. Raum bes. beliebt gewesen zu sein, ist aber auch aus Böhmen und der dt.sprachigen Schweiz und England belegt3. Es handelt sich bei der Mehrzahl der Var.n (ζ. B. KHM 131)4 um eine reihende

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Pino Saavedra, Yolando

Dichtungsform, die aus Begrüßung, Frage und Antwort besteht, ζ. T. zwischen Prosa- und Versform wechselnd. Die formelhafte Antwort wird stereotyp von einzelnen Familienmitgliedern, die alle lustige Phantasienamen tragen, wiederholt5. Solche Züge sind auch typisch für Kinderreim und Kleinkindpädagogik (-• Fingererzählungen, ->· Kinderfolklore) sowie für das Kettenlied. So könnte AaTh 2019 ursprünglich als Volkslied, speziell als Kinderlied, oder als Teil eines Gesellschaftsspiels in Umlauf gewesen sein, wofür J. Bolte ältere Zeugnisse, ζ. T. aus dem 16. Jh., beibrachte 6 . In L. Uhlands Volksliedersammlung von 1845 ist ζ. B. eine ndd. Var. abgedruckt, bei der es sich um eine anschwellende Kette handelt 7 . Der erste Teil, der als einziger bei der Mehrzahl der Var.n vorhanden ist, besteht aus einer Brautwerbung 8 . Die Kette besteht darin, daß der Werber viele Angehörige um Erlaubnis fragen muß. In einigen Fällen wird sie noch um einen zweiten Teil verlängert, in welchem die Brautmutter verschiedene Personen zur Hochzeit einlädt, und schließlich sogar zu einem dritten, in dem die kümmerliche Aussteuer in grotesker Übertreibung Stück für Stück aufgezählt wird. Gewisse inhaltliche Parallelen zum Thema der Bettelhochzeit, die bes. im Volkslied gestaltet wird, sind unverkennbar 9 . Übereinstimmungen gibt es vor allem in der ironischen Darstellung des minderwertigen bzw. nicht existenten Brautschatzes. Vereinzelt ist der Stoff auch in schwankartigen Erzählungen anzutreffen. Von der ,glücklichen Besenbindersfrau' handelt ζ. B. folgende dialogische Kurzfassung aus dem Märkischen: „Guten Tag, Junferla." — Nich Junferla! Fruu, Fruu! - „Na, hat se denn schon geheirat?" - Ja freilich! - „Nu, wen hat sie denn? En Schuster?" I nich doch! - „En Schneider?" - I nich doch! „Nu, wen hat se denn?" - Nu, ich hab en Besenbinder und habe alle Dage müne drei gute Dinge, Brotsuppe, Mehlpappe, und dann gebratene Pilsche! „Nu, wo wohnt se denn?"- Da drüben auf de Ilsebilse, wo der Klumpsack über de Weide hängt 10 .

Einige Var.n mögen auf das Ideal der Besitzlosigkeit abzielen (cf. AaTh 754: ->• Glückliche Armut)11, die Mehrzahl der Texte verspottet aber letztlich die Ärmsten der Armen, die in einer Welt des Scheins so tun, als könnten sie reiche Hochzeiten feiern. Dieser ,Stände'-

Spott, der die meisten Fassungen trägt, scheint auf eine mögliche Entstehung am Beginn der frühen Neuzeit hinzudeuten. I BP 3, 71-74, bes. 73. - 2 Taylor, Α.: Α Classification of Formula Tales. In: JAFL 46 (1933) 77-88, hier 81 sq.; id.: Formelmärchen. In: HDM 2 (1934 - 4 0 ) 164-191, bes. 176 sq. - 3 BP 3, 71-74. - 4 Mehlem, R.: Ndd. Qu.n der Grimmschen KHM unter bes. Berücksichtigung Niedersachsens. In: Archiv für Landes- und Vk. Niedersachsens (1940) 49-99, hier 70. - 5 KHM/Uther 4, 247 sq. - 6 BP з, 71 - 7 4 . - 7 Uhland, L. (ed.): Alte hoch- und ndd. Volkslieder [...] 1,2. Stg./Tübingen 1845, num. 273; weitere Var.n cf. BP 3, 73 sq. - 8 Zur Aufzählung der ärmlichen Mitgift cf. ZfVk. 13 (1903) 224, num. 14. - 9 Erk/Böhme 2, num. 282; stabil scheint vor allen das Incipit: „Wenn die Bettelleute tanzen"; im Dt. Volksliedarchiv, Freiburg (Breisgau), finden sich 12 Belege in dt. Sprache. - 10 Kuhn, Α.: Märk. Sagen. B. 1843, 267. II Uther, H.-J.: Hans im Glück (KHM 83). Zur Entstehung, Verbreitung und bildlichen Darstellung eines populären Märchens. In: The Telling of Stories. Approaches to a Traditional Craft, ed. M. Nejgaard и. a. Odense 1990, 119 -164, bes. 124 sq.

Freiburg/Br.

Sabine Wienker-Piepho

Pilger, Pilgerfahrt ^ Wallfahrt Pino Saavedra, Yolando, * Parral 17.6. 1901, t Santiago de Chile 5.4. 1992, chilen. Germanist, Volkskundler und Erzählforscher ( - Chile)1. P.S. studierte 1921-24 Spanisch und Deutsch an der Universidad de Chile in Santiago und 1926-30 roman. Philologie sowie allg. und moderne dt. Lit.wiss. an der Univ. Hamburg, an der er 1925-31 als Spanischlektor tätig war. 1931 wurde er in Hamburg mit der Arbeit La poesia de Julio Herrera y Reissig. Sus temas y su estilo promoviert und 1932 als Professor für Deutsch, literar. Ästhetik, Stil und Aufsatz an die Univ. Santiago berufen. 1941 - 4 4 war er Dekan der Fakultät für Philosophie und Unterricht. P. S. hatte eine Reihe bedeutender Ämter inne: Vertreter des Präsidenten der Republik im Obersten Rat der Universidad de Chile, Vizepräsident der chilen. UNESCO-Kommission, ordentliches Mitglied der chilen. Sprachakademie, Mitbegründer und Vizepräsident des chilen.-dt. Kulturinstituts; Vizepräsident der Internat. Soc. for Folk Narrative Research.

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Pinocchio

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In seinen frühen wiss. Arbeiten befaßte P. S. sich vor allem mit Fragen der literar. Ästhetik; eine bedeutende Leistung stellt seine Übers, der Gedichte Rainer Maria Rilkes dar 2 . Aber schon in seinen Hamburger Studienjahren bezeugte R S. Interesse an der chilen. Erzählüberlieferung3. Die Erzählforschung stand für ihn zeitlebens an erster Stelle. Darüber hinaus beschäftigte er sich u. a. mit traditionellen Dialektformen 4 und poetischen Formen der Volksüberlieferung5. 1941 rief er die Folklorekurse an der Sommerschule der Universidad de Chile ins Leben und gründete 1948 das Institute de Investigaciones folkloricas R. A. Laval (1862-1929) zu Ehren dieses großen chilen. Erzählforschers. Die Arbeit des Inst.s wurde durch die Zs. Archivos del folklore chileno einem internat. Leserkreis vorgestellt; publiziert wurden Artikel chilen. und ausländischer Wissenschaftler über theoretische Fragen, Methoden und die verschiedensten Themen aus dem Bereich der Volkskultur. Das Inst, wurde 1970 geschlossen, die letzte Ausgabe (t. 10) der bis 1970 von R S. geleiteten Zs. erschien 1976. In der Zeit bis 1970 gelang es R S., die Vk. an der Universidad de Chile, der ältesten und größten Univ. des Landes, wie auch an den chilen. Univ.en allg., als wiss. Studienfach fest zu etablieren. Mit seinen Arbeiten machte er die chilen. Volksüberlieferung der internat. Folkloristik bekannt. Sein Hauptwerk bilden drei Bände chilen. Volkserzählungen6, das Produkt intensiver und ausgedehnter Feldforschungen und ein Standardwerk der komparatistischen Erzählforschung, bes. was die in Chile adaptierten Märchen europ. Herkunft betrifft. Andere wichtige Puhl.en P. S.s sind ein Aufsatz zu Kontinuität und Reichtum der chilen. Volkserzählung7, Ausg.n chilen. Volksmärchen in dt. 8 und engl. Sprache9, ein Buch mit chilen.-argentin. Erzählungen 10 sowie ein Band mit Erzählungen der Mapuche-Indianer 11 .

Folkloristen R. A. Laval in: Span. Philologie und span. Unterricht. Beibl. zu Iberica 5 (1925) 7 sq. 4 Gutierrez, Η.: Cronica de un soldado de la Guerra del Pacifico. Con un estudio dialectolögico y notas histöricas. ed. Y. P. S. In: Boletin de filologia 5 (1950) 7 - 1 0 8 . - 5 P . S . , Y.: La historia de Carlomagno y de los Doce Pares de Francia en Chile. In: Folklore Americas 26 (1966) 1 - 2 9 . - 6 id.: Cuentos folkloricos de Chile 1 - 3 . Santiago de Chile 1960/61/ 63; cf. auch id.: Nuevos cuentos folkloricos de Chile de raices hispänicas. Santiago de Chile 1992. — 7 id.: Persistencia y riqueza de los cuentos folkloricos en Chile. In: Revista de etnografia 6 (1964) 295-302. - 8 id.: Chilen. Volksmärchen. MdW 1964. - 9 id.: Folktales of Chile. Chic./L. 1967. - 10 id.: Cuentos orales chilenoargentinos. Santiago de Chile 1970. 11 id.: Cuentos mapuches de Chile. Santiago de Chile 1987.

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Collodi veröffentlichte die Geschichte 1881 —83 u. d. T. Le avventure di P. Storia di un burattino in Forts.en im Giornale per i bambini. Bereits 1883 erschien sie in Florenz in Buchform. Sie wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und ist seither internat. verbreitet. Ihre große Popularität ist u. a. der Verfilmung durch Walt -+ Disney (1939) zu verdanken,

Dannemann, Μ.: Y. P. S. (1901-1992). In: Fabula 34 (1993) 122 sq.; Valenzuela, B.: Bibliogr. de las publicaciones de Υ. P. In: Archivos del folklore chileno 10 (1976) 12-21; Festschr. Y. P. S. In: Anales de la Universidad de Chile 5,17 (1988) 1 5 - 4 7 (Würdigung, Biogr., Bibliogr.). - 2 Rilke, R. M.: Gedichte - Poesias. Übers, und Einl. Y. P. S. Santiago de Chile 1940 ( 2 1953). - 3 cf. Rez. von Y. P. S. über zwei Märchen- und eine Sprichwörterslg des chilen.

Santiago de Chile

Manuel Dannemann

Pinocchio (Pinienkern), Hauptfigur einer Kindergeschichte des ital. Journalisten und Schriftstellers Carlo Collodi (Pseud. für Carlo Lorenzini, 1826-90) 1 . Aus einem Holzscheit fertigt Meister Gepetto eine Marionette (-» Puppe), die lebendig wird. Er nennt sie P. und liebt sie wie seinen eigenen Sohn. P. wird in die Schule geschickt, besucht aber lieber ein Puppentheater. Ein Fuchs und eine Katze betrügen ihn um sein Geld und hängen ihn an einem Baum auf, eine Fee rettet ihn. P. hört allerdings nicht auf deren gute Ratschläge und gerät in allerhand gefährliche Situationen. Auf der Suche nach P. erleidet Meister Gepetto Schiffbruch; P., der dies beobachtet, versucht vergeblich, ihn zu retten. P. trifft die Fee wieder, läßt sich zum Schulbesuch bewegen und wird ein guter Schüler. Er versucht, seinen Vater zu finden, wird von einem Fischer gefangen, doch gelingt es ihm, zu entkommen und zur Fee zurückzukehren. Wenig später kann er der Versuchung nicht widerstehen, ins Spielzeugland zu fahren, wo er in einen Esel verwandelt und erst an einen Zirkus, dann an einen Abdecker verkauft wird. Dieser will ihn im Meer ertränken. P. wird von einem Hai verschluckt, in dessen Bauch sich Gepetto befindet. P. rettet sich und seinen Vater und wird zum Lohn in ein richtiges Kind verwandelt.

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Pitre, Giuseppe

dessen Stereotypisierung der P.-Figur von Lit.wissenschaftlern und Volkskundlern kritisiert wurde 2 . Anfang des 20. Jh.s gelangte die P.Erzählung auch nach Spanien, wo die Hauptfigur Pinocho genannt und die Geschichte stark verändert wurde; die Einfügung span. Charakteristika ist zu einem großen Teil auf die Ill.en der durch Salvador Bartolozzi erstellten span. Übers, zurückzuführen; Bartolozzi ist auch Autor der 48 Hefte mit der Erzählung von Pinocho und seinem Gegenspieler Chapete, einer komisch aussehenden Stoffmarionette 3 . In Deutschland liegen zahlreiche Übers.en der P.-Geschichte vor, in denen die Hauptfigur Namen wie Hölzele der Hampelmann, Kasperle, Purzel oder Zäpfel Kern erhielt4. Anklänge an P. finden sich auch in den von Ellis Kaut verfaßten und in Deutschland überaus populären Geschichten über den -> Kobold Pumuckl (Hörspiel 1963, Bücher ab 1965, Fernsehserie ab 1982, Kinofilme 1982, 1993)5. Unterschiedliche Deutungen der P.-Geschichte bieten sich an. Am naheliegendsten ist die Interpretation als didaktisch-moralisierendes Lob der Schulbildung: Wiederholt wird betont, daß ,brave Kinder' gerne in die Schule gehen. Die abschließende Verwandlung der Holzpuppe in einen menschlichen Knaben schließlich erfolgt als Belohnung für P.s folgsames Verhalten. In diesem Sinn kann P. auch als Entwicklungsroman gelesen werden6. P. trägt jedoch gleichfalls Züge einer Schelmengestalt, vergleichbar etwa den Protagonisten der ital. Commedia dell'arte oder der span. Schelmenromane. Darüber hinaus fallen zahlreiche Bezüge zum Puppentheater auf: Nicht nur, daß P. selbst eine seiner Figuren ist; auch die Szenen und die vorherrschende Dialog- bzw. Monologform lehnen sich an die Struktur des Puppentheaters an 7 . Verbindungen der P.-Geschichte zur Volkserzählung existieren nach zwei Richtungen: Einerseits hat C. aus der populären Überlieferung geschöpft. Neben Elementen des Märchens (gute Fee, -> Verwandlungen) und der Fabel (Tiere mit menschlichem Verhalten) verarbeitet er u. a. die Jonas-Geschichte und Motive aus dem Decamerone des -»• Boccaccio8. Andererseits hat die P.-Geschichte ihrerseits auf die mündl. Überlieferung eingewirkt, wobei das internat. am weitesten verbreitete

Motiv das von der -> Nase sein dürfte, die beim Lügen immer größer wird (cf. Mot. D 1376.1). Allg. kann die P.-Geschichte als fester Bestandteil des Kanons der Kinder- und Jugendliteratur angesehen werden9: Allein in Italien erfuhr das Buch zwischen 1883 und 1983 mehr als 130 Aufl.n 10 . Auch die Fondazione Nazionale Carlo Collodi in Collodi (Piemont) trägt mit ihren Aktivitäten zu einer Verbreitung der Figur des P. bei (cf. Märchenpflege), und in Italien sowie als Inbegriff des Italienischen im Ausland ist P. eine Art Symbolfigur geworden. 1

Compagnone, L.: Commento alia vita di P. Neapel 1966; Müller, H.: Collodi, Carlo. In: LKJ 1 (1975) 268; id.: P. ibid. 3 (1979) 5 0 - 5 2 ; d e m e n t e , P./Fresta, M. (edd.): Interni e dintorni del P. Montepulciano 1986; Klescewski, R.: Carlo Collodi. In: K N L L 4 (1989) 102 sq. - 2 cf. Benitez, Μ. E.: Nota preliminar. In: Collodi, C.: Las aventuras de Pinocho. Madrid 4 1990, 17-32, hier 23; Zipes, J.: Happily Ever After. Ν. Y./L. 1997, 8 2 - 8 7 . - 3 Benitez (wie not. 2) 26. - 4 Klotz, Α.: Kinder- und Jugendlit. in Deutschland 1840-1950 t. 1. Stg 1990, 277 sq. ' Z u e r s t Kaut, E.: Meister Eder und sein Pumuckl. Stg. 1965; cf. Gärtner, H.: Kaut, Ellis. In: LKJ 2 (1977) 147; Gerke-Reineke, J.: Geklonte Medienhelden. Merchandising am Beispiel,Pumuckl'. Münster 1995. - 6 Zipes (wie not. 2) 7 8 - 8 1 ; Richter, D.: P. oder Vom Roman der Kindheit. Ffm. 1996; cf. Rez. R. Schenda in Fabula 38 (1997) 163 sq. - 7 LKJ 3, 51. - 8 Kamber, G.: Le fonti nel „Decameron" di due episodi di „P." In: Italica 46 (1969) 242-278. 9 Doderer, K : Klassische Kinder- und Jugendbücher. Weinheim u . a . 1969, 17-34; Biaggioni, R.: P. Cent'anni di avventure illustrate. Florenz 1984. 10 Lucas, A. L.: P.In: The Oxford Companion to Fairy Tales, ed. J. Zipes. Ox. 2000, 384 sq.

Santiago de Chile

Pirat

Manuel Dannemann

Räuber, Räubergestalten

Pitre, Giuseppe, »Palermo 21.12.1841, f ebenda 9. 4. 1916, führender ital. Folklorist1, der neben noch heute unentbehrlichen Arbeitsinstrumenten 2 ein monumentales, im positivistischen Geist erstelltes Korpus von Volkserzählungen und anderen volkskundlichen Dokumenten 3 hinterlassen hat. P. entstammte einer einfachen Familie. Mit 13 Jahren trat er in ein Palermitaner Jesuiteninternat ein. 1860 und 1861, zur Zeit der Revolution in

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Pitre, Giuseppe

Sizilien, diente er als Freiwilliger zunächst als Schiffsjunge, dann als Unteroffizier bei der Garibaldischen Marine. 1861—65 studierte er Medizin an der Univ. Palermo. Ab 1864 hielt er Vorlesungen über ital. Lit. am Kgl. Konservatorium für Musik und arbeitete seit 1865 als Gymnasiallehrer. Erst die Choleraepidemie 1866-67 führte ihn zu seinem Arztberuf, den er bis 1911 ausübte und der sich für seine Feldforschungen als vorteilhaft erwies4. 1911 erhielt er den Lehrstuhl für Vk. (Demopsicologia) an der Univ. Palermo 5 . P. war Mitbegründer und später Präsident der Societä Siciliana per la Storia Patria, die auch internat. Korrespondenten hatte 6 , wurde 1895 zum Gemeinderat in Palermo gewählt7 und 1914 zum Parlamentsabgeordneten ernannt und war Mitglied u. a. der American Folklore Soc. Nach P.s Tod hat seine Tochter Maria sein wiss. Erbe verwaltet und bewahrt 8 . Seine hs. Slg befindet sich im Museo Etnografico Siciliano (Palermo). P.s volkskundliche Interessen, die bis 1872 mit literar.9 verflochten blieben, galten seit 1862 — entsprechend der im Risorgimento herrschenden romantischen Vorliebe für mündl. Erzählgut — heimatlichen Sprichwörtern und Seemannsausdrücken 10 , bei deren Veröff. der damalige Gymnasiast und P.s späterer wichtigster Mitarbeiter S. Salomone Marino 11 mithalf. In Würdigung dieser beiden sizilian. Folkloristen wurde der Premio Pitre — Salomone Marino geschaffen. 1871 publizierte P. die Canti popolari siciliani12 als ersten seiner insgesamt 25 Bände umfassenden Biblioteca delle tradizioni popolari siciliane. Die in rascher Abfolge erschienenen Bände bieten Studien zur Volkspoesie und Slgen von mündl. Erzählgut (vor allem Märchen und Sprichwörter, aber auch sehr zahlreich Legenden, Sagen, Spottverse, Rätsel, Kinderreime, Fingererzählungen, Bänkelsang, Ritterepen [-» Reali di Francia] etc.) sowie zur sizilian. Vk.13 (Aberglauben, Familienleben, Feste, Kinderspiele, Volksmedizin, Volkstheater, Marionettentheater etc.)14. 1875 erschien P.s erste und wichtigste Märchenpublikation, die vier Bände umfassende Slg Fiabe e novelle popolari siciliane15. Zuvor hatte L. Gonzenbach sizilian. Märchen veröffentlicht 16 , deren internat. vergleichende Kommentierung durch R. -» Köhler zur Öff-

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nung sizilian. und überhaupt ital. Forschung wesentlich beitrug. P.s Slg — von einer langen Einl.17 eröffnet und mit einem Glossar beschlossen — enthält 300 numerierte Texte, die die mündl. Erzählung im sizilian. Dialekt 18 , nach der damaligen Auffassung wortgetreu, wiedergeben19. Jeweils am Textende stehen weitere (nicht numerierte), oft auf Italienisch zusammengefaßte Var.n samt vergleichenden Anmerkungen, welche sich auf Italien beschränken 20 . Mit großer Wahrscheinlichkeit hatte P. damals noch kein Exemplar der Kinder- und Hausmärchen eingesehen21. Da num. 156 und 190 Sammelmärchen mit je 15 bzw. 13 Erzählungen sind, und noch sechs (italo-)alban. Märchen 22 im Anh. hinzukommen, kann man von insgesamt 332 Texten ausgehen (ohne die nicht numerierten Var.n). Die Slg enthält nach Gattungen angeordnet 12 Tiermärchen, 81 Zaubermärchen (ca 25% der Slg), 8 Legenden, 33 Novellen, 6 Märchen vom dummen Riesen, 49 Schwänke, 6 Formelmärchen, 7 gemischte und 130 nicht klassifizierte Texte (hist, und ätiologische Erzählungen)23. 21 männliche Korrespondenten im Westen der Insel, zu denen sich noch weitere Vermittler und Vermittlerinnen (in Palermo u. a. P.s Tanten, in anderen Ortschaften Pfarrer, Bibliothekare, Freunde, Bekannte) gesellten, haben etwa die Hälfte der Slg beigesteuert24. Bei etwa zwei Dritteln der Texte (immer mit Herkunftsangabe) sind Namen, manchmal Alter und/oder Beruf der Gewährsleute angegeben, was eine frühe Würdigung der - Kuriositätenliteratur). Deswegen richtet sich sein Augenmerk in der Masse des Wissensstoffes mit Vorliebe auf Außergewöhnliches, Wunderbares, ja Wunderliches. Für eine solche Betrachtungsweise ist die Natur ein einziges Wunder (16,134). Daß P. etwas mitteilt, bedeutet nicht, daß er es für Realität hält, sondern nur, daß es von einer Autorität verbürgt ist. Daraus ergibt sich die inhaltliche Spannweite des Werkes: Nüchterne Wirklichkeit steht neben Phantastischem. Dabei können von P. mitgeteilte Tatbe-

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Plinius

stände von anderen Autoren, vor oder nach ihm, zu Erzählungen ausgebaut worden sein. So ist bei P. die Vorsicht der Hunde gegenüber Krokodilen (Mot. A 2494.4.2) eine ,naturwiss.' Beobachtung (8,148), bei -> Phädrus Thema einer Tierfabel (1,25); das Vorhandensein einer Bernsteininsel (Mot. F 731.5) eine Tatsache (37,42), in der kelt. Tradition Sagenstoff (cf. Glasberg); die Existenz eines -» Magnetberges für P. geogr. Wissen (2,211), in 1001 Nacht Märchenmotiv 4 . All dies sind Beispiele der allg. Wechselwirkung von gelehrtem Wissen und märchenhafter Erzählung. Das Werk des P. enthält jedoch auch selber schon viele fertige Erzählungen. Diese dienen nicht nur zur Illustration oder als Fundgrube naturwiss. Tatbestände. Sie sind vielmehr auch das Werk eines bewußt agierenden homo narrans: Es gehört zu den schriftstellerischen Eigenarten des P., daß die zum Beweis angeführten Beispiele „wie von selbst zur Anekdote, Erzählung, Kurzgeschichte werden" 5 . Sie erhalten auf diese Weise eine strukturelle Funktion und tragen dazu bei, eine Gattung antiker wiss. Lit. ganz eigener Prägung zu konstituieren6. Solche Erzählungen können aus griech. Buchwissen stammen, wobei ihre letzte Qu. oft nicht mehr faßbar ist. Sie können auch der schriftl. vorliegenden röm. Tradition entnommen sein, deren mündl. Ursprung noch durchschimmert. Bei manchen Erzählungen liegt zwischen P. und der ursprünglichen mündl. Geschichte nur ein einziger schriftl., konkret zu benennender Mittler. Es gibt schließlich auch Erzählungen, die P. persönlich gesammelt hat und als einziger mitteilt. Aus griech. Buchwissen ist z.B. der Großteil der Geschichten über das Auftreten von Hunden als Soldaten (8,142 sq.) abzuleiten7 oder die Erzählung von der selbstaufopfernden Treue des Adlers von Sestos (10,18)8, ebenso die Geschichte des dankbaren Löwen (8,56-58; cf. AaTh 156: ->· Androklus und der Löwe). Aus röm. Tradition stammt die Geschichte des Prätors, auf dessen Kopf sich ein Specht setzte, was in Umkehrung des ursprünglich guten Omens zum Untergang des Amtsträgers bzw. seiner ganzen Sippe führte (10,41); daß dieselbe Geschichte unter verschiedenen Stammesnamen überliefert wird, weist auf ihren ursprünglichen Charakter als mündl. Stammessage hin9. Mehrere von P. berichtete Wunder-

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geschichten stammen von Licinius Mucianus, führendem Staatsmann und rechter Hand des Kaisers Vespasian. Dieser gab überwiegend, wenn nicht sogar ausschließlich, Selbstgesehenes und Selbstgehörtes in einem Buch heraus, dessen einziger bekannter Benutzer P. war 10 . Aus dieser Qu. stammt ζ. B. die Geschichte des mit Zähnen geborenen Mädchens, das den Untergang der Stadt verursachen sollte, in die es gebracht wurde (7,63) u , oder die Erzählung AaTh 202: Böcke auf der Brücke (8,201). Allem Anschein nach unmittelbar aus mündl. Qu. hat schließlich P. selbst die Erzählung über den helvet. Handwerker gesammelt, der eine Feige, eine Weintraube und Öl aus Italien in seine Heimat mitbrachte und so der Urheber der gall. Wanderung wurde (12,5)12. Die außergewöhnlich intensive Nachwirkung des P. hängt nicht zuletzt mit seiner persönlichen Einstellung gegenüber der Welt des Wissens sowie mit der sich daraus ergebenden objektiven Eigenart seines Werkes zusammen. Die Wirkung der Naturalis historia auf die Nachwelt war ungeheuer groß und umfaßte unterschiedliche Epochen und Bereiche, von der Spätantike über die Kirchenväter, das MA. und die Humanisten bis in das ZA. der Aufklärung. Ein Zeichen dafür ist die große Zahl der erhaltenen Hss. — an die 200. Mit dem 19. Jh. trat allerdings eine Wende in der Wertung ein. Als Kern der Kritik wurde formuliert, das Wissen des P. beruhe nicht auf eigener Forschung, sondern es sei unkritisch aufgehäuftes Buchwissen aus fremder Hand, ein ,Studierlampenbuch' 13 ; sein Werk sei ohne Struktur, sein Stil das schlechteste, unverständlichste Latein, das je geschrieben worden sei14. Erst seit etwa 1970 werden die Vorzüge des P. gewissermaßen neu entdeckt und gewürdigt: Manche früher beanstandete Sachbehauptung hat sich als stichhaltig erwiesen", viele Mitteilungen stellten sich als Ergebnis eigener Erkundung heraus. Heute weiß man, daß auch an Stellen, an denen Behauptungen des P. fehlerhaft sind, diese erst korrekt eingeschätzt werden können, wenn man ihn zunächst als Schriftsteller richtig versteht. Des weiteren hat sich die Forschung mit der Struktur des Werkes beschäftigt 16 und einen Sinn in seinem extrem verkürzenden, enzyklopädischen Stil gefunden.

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Plutarch

D i e B e d e u t u n g d e s P. f ü r die E r z ä h l f o r s c h u n g ist bis j e t z t v o r allem in gelegentlichen Exkursen behandelt worden. Eine systematische Ü b e r s i c h t , A n a l y s e u n d e n d g ü l t i g e K a t e g o r i s i e r u n g des ü b e r a u s r e i c h h a l t i g e n einschlägigen M a t e r i a l s , eine S t u d i e ü b e r ,P. als E r z ä h ler', stellt ein d r i n g e n d e s D e s i d e r a t d a r . E r z ä h l t y p e n u n d - m o t i v e (Ausw.) 17 : 2,22 = Schicksalsbuch (Mot. Ν 115). - 6,184; 7,31 = Hundsköpfige. - 7,11 = Rückwärtsfüßler im Himalaya. - 7,16 = Menschlicher Blick tötet (Mot. F 592). - 7 , 1 6 - 1 8 = Auge mit zwei Pupillen (Mot. F 541.3.1). - 7,26 = Krieg zwischen Pygmäen und Kranichen (Mot. F 535.5.1). - 7,32 sqq. = Monstren als Resultat des spielerischen Schöpferwillens der Natur. — 7,36 = Geschlechtswechsel bei Menschen. - 8,57 = AaTh 76: -> Wolf und Kranich + cf. AaTh 156: Androklus und der Löwe. - 8,78; 29,66 = Basilisk (cf. - Gorgonen). - 8 , 8 0 - 8 4 = Wolfsmensch (Mot. D 113.1.1). - 8,103 = Kluger Fuchs prüft Festigkeit des Eises. - 8,127 = Bär nährt sich vom Pfotensaugen (Mot. Β 725). - 8, 154 = Bukephalos läßt nur Alexander auf sich reiten (Mot. Η 172). - 8,201 = AaTh 202: Böcke auf der Brücke. 8,215 = Affe und Brettspiel (Mot. Β 298.1). - 8,221 sq. = cf. AaTh 1592: Mäuse fressen Eisen. — 9 , 2 4 - 2 8 = Delphin liebt Knaben (Mot. Β 612.2). 9,90 = Polyp piaziert Steinchen zwischen Schalen der Auster, um sie aussaugen zu können (-> Krebs). - 10,47 = Löwe fürchtet sich vor weißem Hahn. 10,75 = Dämon Myiagros verscheucht Fliegen. 10,136 = Pegasus. — 10,203 = Feindschaft von Adler und Zaunkönig (cf. - Henker, Scharfrichter). - 28,12 = Wasser mit Sieb schöpfen (Mot. Η 413.3; Danaiden). - 28,13 = Vestalinnen beherrschen Festbannen (cf. -» Fußspuren). - 33,8 = Unsichtbar machender Zauberring (Mot. D 1076, D 1361.17; cf. - Gyges). - 35,65 sq. = Malwettbewerb: Weintrauben und Vorhang (Mot. Η 504.1.3; -» Maler). - 35,85 = Schuster bleib bei deinem Leisten (Mot. J 1289.7). - 37,3 sq. = AaTh 736 A: Ring des Polykrates. - 37,159 = Schlangenstein (Mot. Β 722; cf. Edelstein; Drache, Drachenkampf, Drachentöter, Kap. 5.4). 1 Plinius Minor, Epistulae 3,5. - 2 P. selbst gibt (Praefatio, 17) an, daß er in das Werk 20000 Exzerpte aus 2000 Bänden von 100 ausgesuchten

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Autoren verarbeitet habe; cf. Chibnall, M.: Pliny's Natural History and the Middle Ages. In: Empire and Aftermath. ed. Τ. A. Dorey. L./Boston 1975, 5 7 - 7 8 , hier 58. - 3 Ausg.n: Pline l'Ancien: Histoire naturelle 1 sqq. ed. A. Ernout u.a. P. 1950 sqq.; C. P. Secundus d. Ä. Naturkunde. Lat. - Dt. 1 sqq. ed. R. König/G. Winkler. Mü. 1973 sqq. - 4 Bianchi, E.: Teratologia e geografia. In: Acme 34 (1981) 227-247, hier 238. - 5 Deila Corte, F.: Struttura della Naturalis Historia. In: Plinio il Vecchio sotto il profilo storico e letterario. Como 1982, 19-39. ' M u r p h y , M.: Ethnography in the Naturalis Historia of Pliny the Elder. (Diss.) Berk. 1997, 15, 117. - 7 Ivancik, Α.: Les Guerriers-chiens. In: Revue de l'histoire des religions 210 (1993) 305-329. 8 Woodford, S.: The Woman of Sestos. In: J. of the Warburg and Courtauld Institutes 28 (1965) 343-349. - 9 Köves-Zulauf, Τ.: Reden und Schweigen. Rom. Religion bei P. Maior. Mü. 1972, 234-288. - 1 0 Traina, G.: II mondo di C. Licinio Cuciano. In: Athenaeum Pavia 75 (1987) 3 7 9 406. 11 Köves-Zulauf, Τ.: P. über den Untergang der Stadt Pometia [1963], In: id.: Kl. Sehr. Heidelberg 1988, 81-112. - 12 id.: Helico, Führer der gall. Wanderung [1977]. ibid., 199-252. - 13 Mommsen, T.: Eine Inschrift des älteren P. In: Hermes 19 (1884) 6 4 4 - 648, hier 648. - 1 4 Norden, E.: Die antike Kunstprosa. Darmstadt 5 1958, 314-316; Serbat, G.: Pline l'Ancien. In: Temporini, H./Haase, W. (edd.): Aufstieg und Niedergang der röm. Welt 32. B./N. Y. 1986, 2069 - 2 1 9 9 , hier 2085. - 15 cf. Rink, Α.: Mensch und Vogel bei röm. Naturschriftstellern und Dichtern. Ffm. u . a . 1997, 12. - 1 6 Della Corte (wie not. 5); Beagon, M.: Roman Nature. Ox. 1992, 21; Borst, Α.: Das Buch der Naturgeschichte. Heidelberg 1994, 25; Murphy (wie not. 6) bes. 42 sq. 17 Unter Verwertung der Hinweise in der Rez. W. Maaz in Fabula 23 (1982) 325 sq. Marburg

Thomas Köves-Zulauf

Plutarch, * C h a i r o n e i a ( B ö o t i e n ) u m 50 p. C h r . n., t e b e n d a k u r z n a c h 119 1 , griech. Schriftsteller. P. s t u d i e r t e in A t h e n bei d e m P l a t o n i k e r A m m o n i o s , seit e t w a 75 u n t e r h i e l t er eine , F a m i l i e n a k a d e m i e ' in C h a i r o n e i a , einen der platonischen Akad. nachempfundenen Bildungszirkel f ü r V e r w a n d t e u n d F r e u n d e 2 . E r p f l e g t e wenige V e r b i n d u n g e n z u L i t e r a t e n 3 , d a f ü r gute Beziehungen zu den höchsten röm. K r e i s e n 4 u n d b e s a ß d a s r ö m . B ü r g e r r e c h t 5 . P. ü b e r n a h m politische Ä m t e r f ü r seine H e i m a t s t a d t . A u f e n t h a l t e in R o m u n d A l e x a n d r i a sind sicher; seit e t w a 95 w a r er einer d e r b e i d e n A p o l l o n p r i e s t e r in D e l p h i 6 .

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Plutarch

Wie eine antike Titelliste - der sog. Lampriaskatalog — zeigt7, schrieb P. zu nahezu allen wiss. Themen. Erhalten geblieben sind die später als Moralia zusammengefaßten Traktate - hauptsächlich Popularphilosophisches —, daneben einige naturwiss., antiquarische, religionsgeschichtliche und literaturtheoretische Essays; P.s wirkungsträchtigste Leistung sind die Bioi paralleloi (Parallelviten)8, eine chronologisch geordnete Galerie von paarweise aufeinander bezogenen griech.-röm. Helden- und Politikerbiographien von -» Theseus/-» Romulus bis Philopoimen/Flamininus (22 Paare erhalten), die zu einem Vergleich von Griechenland und Rom insgesamt geraten9. Für die Geschichte volkskundlicher Methodik bedeutsam sind bes. die Schriften Aitia Römaika ([Rom. Bräuche] = Ethika 263 D - 2 9 1 C) und Aitia Hellenika ([Griech. Bräuche] = Moralia 291 D - 3 0 4 F) 10 . Diese beiden Problemsammlungen bestehen aus Fragen nach auffälligen, vorwiegend rituellen Bräuchen und meist mehreren Antworten mit Quellenangabe". Vielleicht dienten sie, da sie von den Viten gelegentlich zitiert werden 12 , als Materialsammlung für diese13. P. gilt gelegentlich als der erste wiss. Volkskundler, weil er hier nicht nur nach den hist. Ursachen der Bräuche fragt, sondern auch eine vergleichende Methode durch die Gegenüberstellung von Griechenland und Rom entwickelt14. Zumindest hinter den Aitia Römai'ka steht aber nicht nur ein antiquarisches, sondern auch ein politisches Interesse: die röm. Kultur der griech. Oberschicht näherzubringen 15 . Die Erhebung der Fakten hat man sich eher literar. als empirisch vorzustellen: P. war Schreibtischethnologe16. Für die ägypt. Religion ist P.s Schrift Peri Isidos kai Osiridos (Über Isis und Osiris) als Quelle von hohem Rang 17 . Schließlich berichtet P., daß ,Sitz im Leben' für die antike Gattung ,Märchen' (hier: mythos) das att. Fest der Oschophoria war 18 . P.s Werke gehören zu den wichtigsten Uberlieferungsträgern antiker Erzählmotive: Ihr reiches Nachleben entfaltet sich vor allem seit dem 15. Jh. in Europa. Als einer der Lieblingsautoren der Renaissance wurde er früh ins Lateinische übersetzt (ζ. B. von Leonardo Bruni und Erasmus von Rotterdam) 19 . Die eigentliche Popularisierung P.s setzte aber mit der Übers, ins Französische durch Jacques Amyot

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(Vitae, 1559; Moralia, 1572) und aus Amyot ins Englische durch Sir Thomas Norths Übers, der Vitae (1579) ein20. Für Montaigne war P. die Autorität schlechthin21. Corneille, Racine und Shakespeare dramatisierten P.s Stoffe 22 . Höhepunkt der P.-Schwärmerei war das 18. Jh. 23 , dessen Konzept des Heroischen durch P. vermittelt worden ist24. P.s Viten wurden Jugendliteratur 25 . In Deutschland wandte man sich von P. als einem nachklassischen Autor erst seit dem Neohellenismus ab, in Frankreich (ζ. B. bei C. A. de Sainte-Beuve26) dagegen war seine Popularität bis Ende des 19. Jh.s ungebrochen 27 . P.s Nachwirkung ist sogar in frühen Science-fiction-28 und Kriminalromanen (z.B. Geschichten über Hunde, die die Mörder ihrer Herren aufspüren) 29 festzustellen. In der Exempel-, Anekdoten- und Apophthegmenliteratur entfaltete P. ein reiches, oft anonymes Nachleben; die Gestalt dieser Gattungen formte er über Antonio degli Beccadelli und Erasmus 30 . Schon in der Schwanksammlung Ottomar Nachtigalls, loci ac sales mire festivi (1524), finden sich einige aus P. entnommene Apophthegmata 31 , ebenso im engl. Schwank des 16. Jh.s 32 . Job -» Fincel berichtete in seinem Buch Wunderzeichen (1556-62) aus P.33 Jean Bodin berief sich in der Demonomanie des sorciers (1580) auf P.34, H. Kornmann zitierte ihn im Möns Veneris (1614) als Quelle antiker Sagen35. Auch Protestant. Exempelsammlungen des 16. und 17. Jh.s verwenden P. als Quelle: ζ. B. Andreas Hondorff im Promptuarium exemplorum (1568), Wolfgang -» Bütner in den Epitome historiarum (1576), Johannes Schramm im Fasciculus historiarum (1589), J. Mollerus in den Allegoriae profano-sacrae (1646)36. Der Münchner Hofprediger J. -» Drexel empfiehlt 1645 P. neben -» Plinius, -»· Claudius Aelianus u.a. als Quelle des Predigtexempels37. Dem entspricht P.s Nachleben im neuzeitlichen Lese- und Jugendbuch: In dt. Lesebüchern finden Fabeln Verwendung mit dem Hinweis ,nach P.'38, einzelne Viten waren als ,Heldenleben' bis in die 1940er Jahre Jugendliteratur 39 . E r z ä h l m o t i v e (Ausw.): Vitae 216 b = AaTh 293: Magen und Glieder. - 564 c = Mensch trägt zwei Taschen voller Übel: eine vorn, eine auf dem Rükken 40 . — 795 sq. = Kopf und Schwanz der Schlange im Streit 41 . - 816 sq. = cf. AaTh 2040: -> Häufung

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Plutarch

des Schreckens. — 856 e = Schafe liefern Hunde den Wölfen aus 42 . - 901 d = AaTh 1804 B: cf. - Scheinbuße43. - 1041 c = Kuckuck und Vögel44. Moralia 38 Β (ähnlich 146 F) = Zunge gleichzeitig bester und schlechtester Körperteil 45 . - 79 A = AaTh 1889 F: - Gefrorene Worte46. - 79 A = AaTh 50 A: Fußspuren vor der -» Löwenhöhle. — 86 Ε = Satyr und Feuer (Mot. J 834). - 137 D = AaTh 207 B: cf. -> Aufstand der Arbeitstiere (hier: Ochse/ Kamel). - 150 A = Abstammung des Maultiers (Mot. L 465) 47 . - 151 Β = Aufgabe: Meer austrinken (Mot. Η 1142.3)48. - 153 A = Rätselfragen: „Was ist das Älteste?" (Zeit) etc. 49 - 155 Β = Panther und Fuchs 50 . - 156 A = Wolf sieht Bauern Schafe essen und beklagt, daß ihm dergleichen verboten sei (cf. AaTh 129 A*: Sheep Licks her Newlyborn). - 157 A = Mondmutter kann ihrem Kind wegen dessen wechselnder Gestalt kein Kleid nähen 51 . - 174 D = Herrscher zerbricht lieber selbst kostbaren Becher, bevor er jemand anderen dafür zu hart bestrafen müßte (Mot. J 2522)52. - 184 Ε = Untertan kritisiert inkognito reisenden Herrscher 53 . 198 D = Männerbeherrscher von ihren Frauen beherrscht 54 . - 210 F = Lahmer braucht kein Pferd; im Krieg komme es darauf an, stehen zu bleiben und Tapferkeit zu zeigen55. - 3 57 F: Götterbild wird angeschwemmt 56 . - 419 B, C = AaTh 113 A: -> Pan ist tot. - 490 C = Huhn und Katze 57 . - 509 F (ähnlich 553 F, 969 D) = AaTh 960: - Kraniche des Ibykus. 601 C = AaTh 1334: Der lokale - Mond. - 614 Ε = AaTh 60: - Fuchs und Kranich. - 790 C = cf. - Fliegen sollen nicht vertrieben werden (Mot. J 215.1). 806 Ε = AaTh 221: cf. ->• Königswahl der Tiere. 831 C = Geier erbricht Eingeweide, aber nicht seine eigenen 58 . — 848 A = Streit um des Esels Schatten (Mot. J 1169.7)59. - 967 A = AaTh 232 D*: Crow Drops Pebbles into Water Jug as to be Able to Drink976 C = Prophetischer Fisch (Mot. Β 144)61. 1 Ziegler, Κ.: Ρ. von Chaironeia. Stg. 21964; Barrow, R. H.: P. and His Times. L. 1967; Jones, C. P.: P. and Rome. Ox. 1971; Russell, D. Α.: P. L. 1973. 2 Ziegler (wie not. 1) 17, 26 sq. - 3 Barrow (wie not. 1) 4 3 - 5 0 , 136, doch sind num. 204 und 227 des ,Lampriaskatalogs' (bei Ziegler [wie not. 1] 60-65) Dion von Prusa gewidmet, cf. auch Dodds, E. R.: The Portrait of a Gentleman. In: Greece & Rome 2 (1933) 97-107. - 4 Jones (wie not. 1) 2 8 - 3 6 , Barrow (wie not. 1) 46—49. - 5 Jones (wie not. 1) 22, 48 sq. - 6 cf. Zagdoun, M.-A.: P. ä Delphes. In: Revue des etudes grecques 108 (1995) 586-592. - 7 Irigoin, J.: Le Catalogue de Lamprias. ibid. 99 (1986) 318-331; Werkübersicht P.s bei Harrison, G. W. M.: The Critical Trends in Scholarship on the Non-Philosophical Works in P.'s Moralia. In: Aufstieg und Niedergang der röm. Welt 2,33,6. ed. H. Temporini/ W. Haase. B./N. Y. 1992, 4646-4681. - "Russell, D. Α.: P. and the Antique Hero. In: The Yearbook of English Studies 12 (1982) 2 4 - 3 4 , hier 34. 9 ibid., 29 sq. - 1 0 Zur literar. Tradition cf. Bou-

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logne, J.: Les .Questions romaines' de Plutarque. In: Temporini/Haase (wie not. 7) 4682-4708, hier 4684 sq. 11 cf. Scuderi, R.: Alcuni riferimenti alia vita politica di Roma nelle ,Quaestiones Romanae' di P o . In: Gabba, E. (ed.): Studi di storia e storiografia antiche. Pavia7Como 1988, 117-142, hier 119. - 12 cf. ζ. B. Rose, H. J. (ed.): The Roman Questions of P. Ox. 1924, 47 sq. - 13 ibid., 51; Halliday, W. R. (ed.): The Greek Questions of P. Ox. 1928, 13; anders Boulogne (wie not. 10) 4686 sq. - 14 So Russell, W. M. S.: P. as a Folklorist. In: Newall, V. J. (ed.): Folklore Studies in the 20th Century. Woodbridge/Totowa 1980, 371-378 (diese Ansicht geht auf F. Β. Jevons [1892] zurück). - 15 Boulogne (wie not. 10) 4698-4703; Beispiele bei Scuderi (wie not. 11) 123-138. - 1 6 Zu P.s Qu.n cf. Stockt, L. van der: P.'s Use of Literature. Sources and Citations in the Quaestiones Romanae. In: Ancient Soc. 18 (1987) 281-303; zum anthropol. Zugang cf. Boulogne (wie not. 10) 4703 sq. - 17 cf. Gwyn Griffiths, J.: P. In: Lex. für Ägyptologie 4. Wiesbaden 1982, 1067; Russell (wie not. 1) 33; Brenk, F.: In Mist Apparelled. Leiden 1977, 205 sq. - 18 cf. BP 4, 43; zum Fest Deubner, L.: Att. Feste. Β. 1932, 142. - 19 Ziegler (wie not. 1) 315-317; P.-Übersicht seit der Renaissance cf. Sieber, F.: Dem Monde kann man kein Kleid machen. In: DJbfVk. 3 (1957) 366-387, hier 371, 386; für Deutschland cf. Worstbrock, F. J.: Dt. Antikerezeption 1450-1550 1. Boppard 1976; zur Vermittlung durch Meistersinger cf. EM 9, 524. — 20

Aulotte, R.: Amyot et P.e. Geneve 1965; cf. Sandy, G. N.: Classical Forerunners of the Theory and Practice of Prose Romance in France. In: Antike und Abendland 28 (1982) 167-191, bes. 172-174. 21 Schottländer, R.: Montaignes Verhältnis zu P. ibid. 32 (1986) 159-172. - 22 Hirzel, R.: P. Lpz. 1912, 134-145; Muir, K.: Shakespeare's Sources 1. L. 1957, Kap. 7. - 23 Howard, M. W.: The Influence of P. [...]. Chapel Hill 1970 (für Europa); Reinhold, M.: The Ciassick Pages [...]. Univ. Park, Pa. 1975 (für die USA). - 24 cf. Russell (wie not. 8) 30. - 25 Seebaß, A. (ed.): Alte Kinderbücher und Jugendschriften [...]. Basel 1983, num. 209 sq., 1494. - 26 Lepenies, W.: Sainte-Beuve. Mü.AVien 1997, 366 u. ö. - 27 Hirzel (wie not. 22) 195 sq.; Highet, G.: The Classical Tradition. L. 21967, 210-214, 393-395, 424, 671 sq. - 28 Russell (wie not. 14) 373. - 29 EM 8, 452. 30 Verweyen, T.: Apophthegma und Scherzrede. Bad Homburg/B./Zürich, 80-87. 31 Lier, Η. Α.: Ottmar Nachtigalls „loci ac sales mire festivi". In: Archiv für Litteraturgeschichte 11 (1882) 1 - 5 0 , hier 14 sq. - "Stiefel, A. L.: Die Qu.n der engl. Schwankbücher des 16. Jh.s. In: Anglia 31, N. F. 19 (1908) 453-520, hier 474 (zu num. 35). "Brückner, 374, not. 19. - 34 cf. EM 2, 573. - 3 5 cf. EM 8, 302. - 36 cf. Brückner, 583 sq., 598, 607, 614, 654. - 37 Herzog, U.: Geistliche Wohlredenheit. Münster 1991, 38 , 41. - 38 Tomkowiak, 333. - 3 9 cf. Seebaß (wie not. 25); cf. ζ. B. Ax, W. (ed.): Griech.

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Pocci, Franz Ludwig Evarist Alexander Graf von

Heldenleben. Stg. (1933) 31942. - 40 Babrius/Perry, num. 66 und 266. 41 ibid., num. 371; Bieber, D.: Studien zur Geschichte der Fabel [...]. Diss. Mü. 1905, 25. 42 Dicke/Grubmüller, num. 651. - 43 cf. Wesselski, Α.: Narkissos oder das Spiegelbild. In: Archiv orient a l s 7 (1935) 37-63, 328-350, hier 45 sq. 44 Perry, num. 446. - 45 Schwarzbaum, Fox Fables, xlvi (not. 78), 310; Tubach, num. 4916; Marzolph, Arabia ridens 2, num. 1040. — 46 Sasaki, M./Morioka, Η.: Migration of a Popular Tale: Frozen Words. In: Tsuda Review 37,2 (1984) 245-283. - 47 Dicke/ Grubmüller, num. 411. - 48 BP 2,369; Schwarzbaum, Fox Fables, 565 sq., not. 7. - 49 cf. BP 2, 358 sq. 50 Dicke/Grubmüller, num. 373. — 51 Sieber (wie not. 19) 366 sq.; EM 7, 1438; EM 9, 797; Röhrich, Redensarten 2, 1045. - 52 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 924. - 53 ibid., num. 442. 54 Schwarzbaum, Fox Fables, 416, not. 56. - 55 cf. Marzolph, Arabia ridens 2, num. 677. - 56 Kroll, J.: Das Gottesbild aus dem Wasser. In: Märchen, Mythos, Dichtung. Festschr. F. von der Leyen. Mü. 1963, 251-268, hier 257; Günter 1949, 62, 246. 57 Dicke/Grubmüller, num. 248. - 58 Ähnlich Babrii fabulae Aesopeae. ed. O. Crusius. Lpz. 1897, num. 34. - 59 Harkort, F.: Die Schein- und Schattenbußen im Erzählgut. Diss, (masch.) Kiel 1956, 169-177; Schwarzbaum, Fox Fables, xi sq. - 60 Dicke/Grubmüller, num. 360. 61 Richmond, J.: Chapters on Greek Fish Lore. Wiesbaden 1973, 14 sq.; Nachwirkung im Märchen cf. KHM 60, 85. Ausg.n: Paton, W. R. u.a. (edd.): P.i Moralia 1 - 7 . Lpz. 2 1959-78. - Ziegler, K./Gärtner, Η. A. (edd.): P.i Vitae parallelae 1 - 4 . Lpz. 1959-80.

Konstanz

Markus Asper

Pocci, Franz Ludwig Evarist Alexander Graf von, * München 7.3.1807, f ebenda 7.5. 1876, Dichter, Zeichner und Komponist, Schöpfer des dichterischen Bilderbuchs und Klassiker des literar. Puppenspiels (-» Puppentheater) 1 . P., Sohn eines aus ital. Adelsfamilie stammenden Offiziers und Oberhofmeisters am bayer. Hof, studierte 1825-28 Jura in Landshut und München. Nach Tätigkeiten als Rechtspraktikant in Starnberg und Dachau und als Regierungsakzessist in München stand er im Dienst von Ludwig I., Maximilian II. und Ludwig II.: 1830 wurde P. Kammerjunker und Zeremonienmeister, 1847 Hofmusikintendant und 1864 Oberstkämmerer. Er pflegte Kontakte mit dem Kreis um J. - Tanz in der Dornenhecke: ,Märlein' (Mü. [1838], 1839, 1840; num. 78, 98, 127), Bilderbogen (1854; num. 312) und Puppenspiel (1868; in num. 509). AaTh 327 A: ->• Hansel und Grete!: ,Märlein' (Mü. 1838, 1839, 1840; num. 73, 92, 127) und Puppenspiel (1861; in num. 509). - AaTh 332: - Gevatter Tod: ,Märlein' in Versen mit Zeichnungen (Mü. 1845; num. 189, cf. num. 188), Volksdrama (Mü. [1855]; num. 320) und Puppenspiel (1859; in num. 439). AaTh 312: cf. Mädchenmörder: Märchen in Versen (Mü. [1845], 2 1846; num. 180, 200), Bilderbogen (1852; num. 289) und Puppenspiel (1859; in num. 403). - AaTh 900: ->· König Drosselbart: Bilderbogen (1858; num. 382) und Puppenspiel (1876; in num. 551 [i.e. 552]). Nur als Puppenspiele: AaTh 750 A: cf. Die drei Wünsche (1858; in num. 439) 26 . - AaTh 410: Schlafende Schönheit (1859; in num. 403). - AaTh 545 B: Der gestiefelte - Kater (1860; in num. 439). - AaTh 333: - Rotkäppchen (1861; in num. 509). AaTh 451: —• Mädchen sucht seine Brüder (1869; in num. 520). - AaTh 510 A: cf. - Cinderella (1873; in num. 541). Nur als Bilderbogen: AaTh 313 A: cf. -» Magische Flucht (1857; num. 366). Ferner: AaTh 801: - Kontinuität von P.n: N. Neumann 2 4 hat an zahlreichen Beispielen eine Konstanz in der Tradierung von P.n vom frühneuzeitlichen

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Schwank bis zum zeitgenössischen Witz nachgewiesen. Es geht ihm dabei vor allem um die Historizität des Lachens, d. h. um die Tatsache, daß die P.n im jeweiligen Überlieferungsbereich in den Wissenszusammenhang der Lachenden eingebunden waren und der Anlaß des Lachens in früheren Zeiten ein anderer gewesen ist als heute. Außerdem hätten zu allen Zeiten die Hörer pointierter Erzählungen eine gedankliche Eigenleistung erbringen müssen, die darin bestehe, die Lücken zwischen dem Text und der P. zu schließen. „Witze sind u. a. gerade dann gut, wenn ihre Pointe mit einem Minimum an Informationsvorgabe ein Maximum an erworbenem Wissen in Bewegung oder, schärfer: in Unordnung bringt." 25 Beim Hörer muß zur richtigen Wirkung von Witzen ein Pnwissen vorhanden sein, das bei bestimmten Stichworten wie Schwiegermutter, Pantoffelheld, Geistliche u. a. bestehende Vorstellungen mobilisiert (-» Ehebruchschwänke und -witze, ->· Stereotypen). Zum Wesen der P. gehört ferner der Überraschungseffekt. Letzterer kommt in der Erhellung über die unvermutete Verbindung einander fremder Elemente zustande 26 , wenn der Sinn der P. schlagartig wahrgenommen wird 27 . Bedarf die P. einer nachträglichen Erklärung, ist ihre Wirkung dahin. Der Begriff P. kann daher mit W. R. Schweizer als „eine bewußt vorbereitete, plötzliche Enthüllung polarer Gegensätze am Objekt mit dem Zweck, Heiterkeit zu erregen" 28 definiert werden. P. Wenzel hat in einer sprachwiss. Unters, den umfassenden Versuch einer Typologie der Pointierung (anhand gedr. engl. Witzsammlungen) vorgelegt 29 . Der moderne Witz ist durch immer stärkere Verknappungen gekennzeichnet 30 . Nach H. Bausinger 31 schrumpft in solchen Witzen das Epische zusammen und wird derart stark auf die P. ausgerichtet, daß es berechtigt erscheint, den Witz - zumal in seiner Dialogform als Frage und Antwort 3 2 — den Sprachformeln zuzuordnen und in die Nähe des Rätsels zu stellen. Auch andere sprachliche Kleinformen wie sprichwörtliche -+ Redensarten, Sagwörter (-• Wellerismus) und Wandsprüche sind durch Pointierung gekennzeichnet 33 . Schließlich neigt auch die moderne -> Sage mit ihrer deutlichen Affinität zu Schwank, Anekdote und Witz zur Kürze und zur Pointierung ihrer Aussage in einem oft überraschenden Schluß 34 .

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Polarität

1 Erb, Τ.: Die P. in der Dichtung von Barock und Aufklärung. Bonn 1929, 10. - 2 ibid., 24. - 3 Berendsohn, W.: Epische Gesetze der Volksdichtung. In: HDM 1 (1930-33) 566-572, hier 566. - 4 Straßner, E.: Schwank. Stg. 1968, 24. - s Stroszeck, Η.: P. und poetische Dominante. Dt. Kurzprosa im 16. Jh. Ffm. 1970, 11. - 6 Kartschoke, D.: Vom erzeugten zum erzählten Lachen. Die Auflösung der P.nstruktur in Jörg Wickrams ,Rollwagenbüchlein'. In: Haug, W./Wachinger, B. (edd.): Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jh.s. Tübingen 1993, 71-105, hier 96 sq. - 7 Neumann, S.: Schwank und Witz als Medien sozialer Aussage. In: id. (ed.): Volksleben und Volkskultur in Vergangenheit und Gegenwart. Bern u.a. 1993, 49-65, hier 51. - 8 Bausinger, 142 sq. - 'Bausinger, H.: Bemerkungen zum Schwank und seinen Formtypen. In: Fabula 9 (1967) 118-136. - l0 Peuckert, W.-E.: Dt. Volkstum in Märchen und Sage, Schwank und Rätsel. B. 1938, 166.; cf. Bausinger, 148; Bausinger (wie not. 9) 134. " c f . EM 4, 736. - 12 ibid., 735. - 13 Hasubek, P.: Die Fabel. B. 1982, 173. - 14 Erb (wie not. 1) 8. 15 Lessing, G. E.: Zerstreute Anmerkungen. In: Sämtliche Sehr. 11. ed. K. Lachmann. 3. Aufl. ed. F. Munkker. Stg./Lpz. 1895, 243 sq. - 16 Erb (wie not. 1) 25-63. - 17 Elm, T.: Die moderne Parabel. Parabel und Parabolik in Theorie und Geschichte. Mü. 1982, 41. - 18 ibid., 42 sq. - " E M 1, 536; cf. Röhrich, L.: Derwitz. Stg. 1977,6. - 20 ibid., 10. 21 Landmann, S.: Der jüd. Witz. Olten/Fbg 31961; Torberg, F.: „Wai geschrien", oder Salcia Landmann ermordet den jüd. Witz. In: Der Monat 14,157 (1961) 48-65. - 22Tucholsky, K.: Panter, Tiger & Co. Reinbek 1960, 33-35. - 23 Röhrich (wie not. 19) 31. - 24 Neumann, N.: Vom Schwank zum Witz. Zum Wandel der P. seit dem 16. Jh. Ffm./N. Y. 1986. - 25 ibid., 126. - 26 Preisendanz, W.: Über den Witz. Konstanz 1970, 27. - 27 Plessner, H.: Lachen und Weinen. Mü. 1950, 128. - 28 Schweizer, W. R.: Der Witz. Bern/Mü. 1964, 52. - 29 Wenzel, P.: Von der Struktur des Witzes zum Witz der Struktur. Unters.en zur Pointierung in Witz und Kurzgeschichte. Heidelberg 1989. - 30 Hirsch, E. C.: Der Witzableiter oder Schule des Gelächters. Mü. 1991, 73. 31 Bausinger, 138. - 32Wehse, R.: Warum sind die Ostfriesen gelb im Gesicht? Ffm. 1983. - 33 Bausinger, 98 sq., 128. - 34 Brednich, R. W.: Das Huhn mit dem Gipsbein. Mü. 1993, 5.

Göttingen

Rolf Wilhelm Brednich

Polarität (griech.-lat.-neulat.: Hervortreten von Gegensätzen, Ausbildung zweier Pole). Der aus der Geographie, Astronomie und Physik stammende Begriff P. bezeichnet das Vorhandensein zweier als Endpunkte des Durchmessers eines Kreises oder einer Kugel

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gedachter Pole, das Auseinandertreten einer Kraft in zwei entgegengesetzte Kräfte (Polarisation). Als Metapher bedeutet P. im allg. eine deutliche Gegensätzlichkeit bei wesenhafter Zusammengehörigkeit; eine ursprüngliche Einheit, die durch Gabelung oder Aufspaltung polarisiert wird (-• Dichotomie). Die Gegensätze ziehen sich an oder stoßen sich ab, sie bleiben aber aneinander gebunden 1 . Die polarisierende Darstellung im Märchen hat u. a. eine -» kognitive Funktion: Sie ergibt für das Kind die einfachste Charakteristik der Personen, der Dinge und Handlungen, die seinen Fähigkeiten angemessen ist, um nach der Festlegung der antinomischen Begriffspaare allmählich differenzieren zu lernen2. Begriffspaare der Sprache selbst sind bereits nach dem Prinzip der Dichotomie aufgebaut 3 , was der geistigen Daseinsbewältigung dient: Der Mensch neigt nach M. Lüthi dazu, sich selbst und die Welt in Pen und -> Kontrasten zu erleben. Die Aufspaltung der Welt in eine diesseitige und eine jenseitige, des Daseins in Immanenz und Transzendenz entspricht menschlichem Denken und Empfinden (-• Weltanschauung, Weltbild)4. Dieses Welterleben ergibt nach C. -> Levi-Strauss das strukturale Gerüst des mythischen Denkens, das von der Bewußtwerdung bestimmter polarer Gegensätze ausgeht und zu deren allmählicher Ausgleichung strebt 5 . Die Symbole der ,Urpolarität' Tod und Leben erscheinen nicht nur in den -• Mythen6, sondern auch in den -> Träumen 7 , in der Lit. und Kunst. In der Naturbetrachtung -» Goethes ist Ρ das Grundprinzip der Natur: Ihr Wirken beruht auf dem Wechsel von Entzweiung und Spannung sowie von Ergänzung und Wiederzusammenfügung. Diese Naturanschauung kommt in Goethes Mährchen (1795) zum Ausdruck, mit dem die Unterhaltungen dt. Ausgewanderten enden8. Laut A. Olrik entspricht dem „gesetz der scenischen zweiheit" das „grosse gesetz des gegensatzes", nach welchem sich „die sage [...] immer polarisieren [wird], dieser ganz einfache gegensatz ist eine hauptregel der epischen composition" (-> Epische Gesetze)9. Die polaren Gegensätze in Charakter, Gestalt und sozialer Stellung der Personen sind demnach wesensbestimmende Merkmale der Volksdichtung (cf. -· Dualismus). Im Märchen gibt es

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Polarität

keine gemischten Charaktere, die Polarisation gibt ihm seine Durchsichtigkeit. Jede Gestalt vertritt nur eine Eigenschaft (cf. Gut und böse, -> Fleiß und Faulheit, Arm und reich, Schön und häßlich, -» Stark und schwach); dies gilt für die Handlungsträger im Märchen, aber oft auch in Tiererzählungen und in der Fabel (cf. Dummheit, List), wobei in der Fabel die Polarisation der Figuren einer polaren Gegenüberstellung bestimmter Thesen entspricht10. Diese konsequente Verteilung sich polar gegenüberstehender Eigenschaften auf verschiedene Figuren wird von Lüthi bis zu einem gewissen Grad relativiert, indem er auf ,Κοηtrastpolaritäten' in ein und derselben Figur hinweist: Die Gänsemagd (KHM 89, AaTh 533: Der sprechende -> Pferdekopf) ist in Wirklichkeit eine Prinzessin, der Grindkopf ein schöner Mann mit goldenen Haaren (AaTh 314: -> Goldener). Aber auch große Themen wie die P. von Tod und ->• Wiederbelebung werden durch Dinge und Geschehen dargestellt, welche Gegensätze in sich vereinigen: In KHM 50, AaTh 410: - Schlafende Schönheit sei das Schloß für Dornröschen Paradies und Gefängnis zugleich, der Schlaf Bann und Schutz11. Durch die Kontrasteigenschaften der Handlungsträger wird auch das Geschehen polarisiert12, ja es ergeben sich aus der Tendenz der P. sog. Zweizahlgeschichten, wie die Lohnund Strafe-Erzählungen sowie Erzählungen von der fatalen und närrischen -«· Imitation 13 , wobei hier die Gegenspieler auch bloß Kontrastfiguren ohne polare Gegensätze sein können: Die Charaktereigenschaften der Stiefschwestern in AaTh 480: Das gute und das schlechte Mädchen sind ζ. B. weniger polarisiert als die der Protagonisten in AaTh 613: Die beiden Wanderer14. Innerhalb einer Dreiheit (drei Helfer, drei Versuche des Helden, drei Brüder; cf. -> Drei, Dreizahl) kann sich auch eine P. bilden: die beiden ersten Glieder und das dritte stehen einander gegenüber (cf. Jüngste, Jüngster; -> Letzter, Letztes, Zuletzt). Das Prinzip der P. gilt also nicht nur in Märchen mit zwei Hauptfiguren 15 . Das Märchen mit seinem Hang zu -> Extremen schildert freilich Eigenschaften wie etwa Hochmut (-> Demut und Hochmut) oder Faulheit auch für sich, ohne Gegenpol, viel lie-

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ber jedoch stellen Erzähler nicht nur gegensätzliche Eigenschaften einander gegenüber, sondern spannen die Pole auch so weit wie möglich auseinander: nicht einfach hoch und niedrig, sondern Königstochter und Sohn armer Leute, Königstochter und Tierkind; nicht einfach Lohn und Strafe, sondern höchster Lohn und grausamste Strafe, wobei der entwirklichte Stil des Märchens nur eine abstrakte Schilderung der Strafen erlaubt (cf. auch Hinrichtung) 16 . Die P. sorgt nicht allein für die erzählerische Spannung, sondern ist — nicht nur in den Zweizahlgeschichten — Strukturprinzip des Märchens (cf. -> Struktur; Dynamik), dessen Eingangssituation bereits durch Extremisierung und P. ausgezeichnet ist17. Da aber das Märchen zum Gleichgewicht strebt, zur Beseitigung von Konflikten, zum Aufstieg des Helden und der Heldin aus dem wie auch immer gearteten Elend zum -» Glück 18 , kann man mit Lüthi von einer das Ganze umgreifenden P., von einem Initialmangel und dessen Behebung am Ende der Erzählung sprechen (-• Mangelsituation, -» Schädigung), von einer P. Minus/Plus19. Den Rahmen ergibt die P. aber nicht nur im Ganzen, sondern auch in den Binnenspannungen (cf. -» Berichtigungsmotiv)20. Das Märchen ist auch an formalen P.en reich: Freiheit und Bindung walten in den Erzählungen; leichte Beweglichkeit der Figuren bildet den Kontrast zur Festigkeit und Starrheit von Umriß, Stoff und Farbe; Klarheit steht dem ->• Geheimnis gegenüber. Die -»• Isolation der Figuren hebt sich in ihrer universalen Beziehungsfähigkeit auf (-• Allverbundenheit). Indem aber das Märchen die Pen Freiheit und Bindung vereinigt, zeigt es sich als klassische Dichtung, als eine Kunst der Mitte21. Pen besitzen ferner thematische und didaktische Funktionen: Der Gegensatz von Schein und Sein beherrscht die dargestellte Welt im Märchen 22 ; die P. vom glänzenden Erfolg der Helden und tragischen Mißerfolg der Gegenspieler ergibt ein anthropol. Modell von Sichbewähren bzw. Versagen23. Vertreter einer sozialkritischen Märchenforschung erblicken im Aufstieg aus Armut und Unterdrückung zum höchsten Reichtum und Glück die gesellschaftliche Anerkennung der Zurück-

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gesetzten, den „Sieg des Volkes über die Mächtigen" (-> Wunschdichtung)24. Die Schwarzweißmalerei des Märchens, die P. von gut und böse ergeben positive und negative Projektionsmuster, und das Märchen kann dadurch als moralische Geschichte verstanden und/oder instrumentalisiert werden (cf. -» Moral)25. Das Prinzip der P, das auch symbolische Funktionen besitzt26, herrscht nicht nur im Märchen. Lüthi definiert Volkssagen und Legenden als ,Zweiwelt-Erzählungen'27 und stellt dem Märchen, das durch die Überwindung polarer Gegensätze einen gewissen Monismus' aufweise (->· Eindimensionalität), den Dualismus der Sage und der Legende28 sowie vieler Schöpfungsgeschichten entgegen. Ein dualistisches Weltbild mit polaren Gegensätzen gibt auch vielen Kriminalromanen, Science Fiction-Erzählungen und Comics das Gepräge. Lüthi hat gezeigt, daß P. nicht nur Kompositionsprinzip innerhalb der Volkserzählungen ist, sondern daß sie mitunter auch verschiedene Märchentypen eines Erzählzyklus charakterisiert: So werden etwa die einzelnen Typen des Cinderella-Zykhis (AaTh 510 A—B; cf. auch AaTh 511: Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein) und AaTh 923: -> Lieb wie das Salz durch Statik oder aber durch Dynamik bestimmt29. Außerdem bilden die volkstümlichen Gattungen selbst die P. von einer .verzückten Weltschau' auf der einen (Märchen; -» Optimismus) und von ,bangem Fragen und Forschen' (Sage; cf. Pessimismus) auf der anderen Seite30. 1

Hoffmeister, J. (ed.): Wb. der phil. Begriffe. Hbg 1955, 476; Duden. Dt. Universalwb. Bearb. G. Drosdowski. Mannheim u.a. 3 1996, 1162; Obenauer, K.: Das Märchen. Dichtung und Deutung. Ffm. 1959, 96. - 2 Bühler, C./Bilz, J.: Das Märchen und die Phantasie des Kindes. Mü. 2 1961, 26 sq.; EM 3, 608 sq. - 3 EM 3, 609; Lüthi, M.: Das Volksmärchen als Dichtung. Düsseldorf/Köln 1975, 109. 4 Lüthi, M.: Diesseits- und Jenseitswelt im Märchen. In: Janning, J./Gehrts, H. (edd.): Die Welt im Märchen. Kassel 1984, 9 - 2 1 , hier 19. - 5 Levi-Strauss, C.: Strukturale Anthropologie. Ffm. 1967, 247-250. - 6 ibid., 247. - 7 Jockel, B.: Das Reifungserlebnis im Märchen. In: Laiblin, W. (ed.): Märchenforschung und Tiefenpsychologie. Darmstadt 1986, 195-211, hier 196. - s G o e t h e s Werke 6. ed. E. Trunz. Mü. 9 1977, 209-241; Hoffmeister (wie 2

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not. 1); Obenauer (wie not. 1) 99. - ' O l r i k , Α.: Epische Gesetze der Volksdichtung. In: ZfdA 51, N. F. 39 (1909) 1 - 1 2 , hier 5 sq. - 10 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 236; Leibfried, E.: Fabel. Stg. 3 1976, 22 sq. 11 Lüthi (wie not. 3) 109; id.: Dornröschen. Vom Sinn und vom Gewand des Märchens. In: id.: Es war einmal ... Göttingen "1998, 11-23, hier 14. - 1 2 E M 2, 1240 sq.; Lüthi, M.: Freiheit und Bindung im Volksmärchen. In: id.: Volkslit. und Hochlit. Bern/ Mü. 1970, 170-180, hier 170. - 13 EM 8, 247. 14 Jason, H.: Whom Does God Favor: The Wicked or the Righteous? The Reward-and-Punishment Fairy Tale (FFC 240). Hels. 1988, bes. 38. - 15 Lüthi (wie not. 3) 101. - 1 6 ibid„ 109 sq. - 1 7 E M 7, 1332. - 1 8 E M 8, 248. - " L ü t h i (wie not. 3) 67; id.: Lob der Autonomie und der Heteronomie. In: Jb. für Volksliedforschung 2 7 - 2 8 (1982-83) 17-27, hier 20. - 2 0 ibid., 20 sq.; Lüthi (wie not. 3) 67. 21 id.: Das Märchen. In: id.: Volksmärchen und Volkssage. Bern/Mü. 3 1975, 9 - 2 1 , hier 16 sq.; id. (wie not. 12) 180. - 2 2 id. (wie not. 3) Reg. s.v. Sein/ Schein. - 2 3 ibid., 114. - 24 EM 1, 792 sq.; EM 6, 882 sq.; Woeller, W.: Die Triumphszene im dt. Märchen. In: Letopis 6 - 7 (1963-64) 308-322, hier 322; Degh, L.: Märchen, Erzähler und Erzählgemeinschaft. B. 1962, bes. 269. - 25 Obenauer (wie not. 1) 97; EM 9, 138. - 2 6 E M 8, 144-146. - " L ü t h i (wie not. 4) 9. - 28 ibid., 18. - 29 Lüthi, M.: Der Aschenputtel-Zyklus. In: Janning, J./Gehrts, H./Ossowski, H. (edd.): Vom Menschenbild im Märchen. Kassel 1980, 3 9 - 5 8 , hier 57. - 30 Lüthi, M.: Shakespeare und das Märchen. In: id. 3 1975 (wie not. 21) 109-117, hier 117; Ranke, K : Betrachtungen zum Wesen und zur Funktion des Märchens. In: Studium Generale 11 (1958) 647-664, hier 658 sq.

Basel

Katalin Horn

Polen 1. Quellen - 1.1. Vordem 19. Jh. - 1.2. 1800-63 - 1.3. 1864-1918 - 1.4. 1919-2000 - 2. Charakterisierung - 3. Forschung

1. Quellen 1.1. Vor dem 19. Jh. Die erste Slg ma. Erzählungen in P. stammt aus dem 13. Jh. Sie enthält 71 lat. Exempla aus drei Themenkreisen: familiäres, gesellschaftliches und religiöses Leben, darunter bekannte Erzählungen, etwa Versionen von AaTh 982: Die vorgetäuschte -> Erbschaft und AaTh 1000: -> ZornwetteEine aus der gleichen Zeit stammende Hs. (Gwidrinus; drei weitere Hss. bis zum 15. Jh.) - enthält 95 Erzählungen, z.B. eine

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Fassung von AaTh 430: Asinarius2. Zahlreiche Erzählungen befinden sich in der 1540 ins Altpolnische übers. Slg Gestα Romanorum·, sie wurde bereits im MA. von den Predigern in poln. Sprache genutzt und bis zum 18. Jh. mehr als 16mal aufgelegt3. Insgesamt sind in P. aus dem MA. über 600 Erzählungen bekannt, welche aus denselben lat. Quellen stammen wie im übrigen Europa und aus didaktischen Gründen in poln. Sprache überliefert wurden, im weiteren Sinn zu den Volkserzählungen zählen und noch aus rezenten mündl. Überlieferungen bezeugt sind. Seit dem 16. Jh. lagen aus dem Deutschen und Tschechischen übers. Volksbücher in poln. Sprache vor, angepaßt an poln. Verhältnisse. Sie verbreiteten sich rasch, etwa Poncjan (-> Sieben weise Meister), Sowizdrzal (-• Eulenspiegel), Marcholt (-> Salomon und Markolf), Frantowe prawa (-> Frantova präva), ebenso wie äsopische Fabelbücher (-• Äsopika) 4 . Aus Italien brachten zahlreiche Künstler, die im 16. Jh. durch die poln. Königin Bona aus dem Hause Sforza nach P. gerufen wurden, ital. Novellen und schwankartige Erzählungen mit. Dazu kamen Schwänke von Heinrich Bebel oder Johannes Pauli5. Infolge der regen Kontakte des poln. Adels mit Frankreich und seiner Kultur - von der Wende des 17. Jh.s an — gelangten frz. Märchen in den poln. Sprachraum, etwa von -> Perrault oder auch andere -> Contes des fees6. Die Märchen aus Tausendundeinenacht (Awantury arabskie lub tysiqc nocy i jedna [Arab. Abenteuer oder Tausendundeinenacht], [1774]) wurden durch frz. Übers.en bekannt und stießen auf lebhaftes Interesse; erst in den 1970er Jahren erschien eine wiss. Übers. 7 Oriental. Märchen fanden den Weg in die poln. Lit. auch aufgrund kriegerischer und kaufmännischer Kontakte mit dem Osman. Reich8. Um die Mitte des 18. Jh.s sind die bekanntesten europ. Märchen wie AaTh 327 A, 333, 410, 470*, 510 in poln. Sprache bezeugt. Wie rege die kulturellen Kontakte mit ganz Europa gewesen sein müssen, zeigt, daß 166 Märchen, welche zum Bestand der Kinderund Hausmärchen der Brüder Grimm gehören, schon vor 1812 in P. bekannt waren 9 . 1.2. 1800 — 63. Ein bewußtes Interesse an der Sammlung von Volksdichtung erwachte um die Wende zum 19. Jh., also nach dem Ver-

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lust der staatlichen Eigenständigkeit P.S. Dieser Umstand prägte das Verhältnis der damaligen Schicht der gebildeten Bevölkerung zur Volksdichtung. Märchen, Sagen und Lieder wurden als nationales Erbe angesehen (cf. Nation). Diese Vorstellung führte zu regelrechten Pilgerfahrten' ins Volk mit dem Ziel, Erzählungen und Lieder zu sammeln. Die Anzahl dieser Kontakte und die Menge der gesammelten und veröff. Erzählungen wurden zum Maßstab für Patriotismus 10 . Bes. intensiv war die Sammeltätigkeit in den östl. Grenzgebieten P.s, in denen auch Weißrussen und Litauer lebten, der Adel jedoch meist poln. Herkunft war. Da die Volksdichtung Mittel zum Zweck war, war man nur an solchen Erzählungen interessiert, die nach Auffassung der Sammler diesem patriotischen Sinn entsprachen11. 1837 gab der als ,ροίη. Grimm' bekannte K. J. Wojcicki zwei kommentierte Bände poln. und weißruss. Volksmärchen und Sagen heraus 12 ; binnen weniger Jahre folgten Übers.en ins Deutsche, Englische, Französische, Russische und Tschechische. Von Wojcicki inspiriert, legten u. a. K. Balmski, L. Siemiedski und R. Zmorski weitere Slgen vor 13 . 1846 sammelte der Lehrer und Organist J. Lompa, einer der bedeutendsten Folkloristen seiner Zeit, in Oberschlesien in poln. Sprache Märchen, Sagen, Sitten und Bräuche, die er für J. G. Büsching und K. Weinhold ins Deutsche übertrug 14 . Alle Slgen verblassen jedoch gegenüber der von A. J. -» Glmski 1853 in Wilna herausgegebenen vierbändigen Märchensammlung Bajarz polski (Der poln. Märchenerzähler), welche in kurzer Zeit zehn poln. und sieben fremdsprachige Aufl.η erreichte15. Aus heutiger Sicht besitzen diese Märchensammlungen unterschiedlichen wiss. Wert, zeigen sie doch ausgeprägte Spuren literar. ->• Bearbeitung. 1.3. 1 8 6 4 - 1918. In der 2. Hälfte des 19. Jh.s begannen Sprachwissenschaftler, mündl. tradierte Texte in phonetischer Transkription aufzuzeichnen. Ein Beispiel einer wiss. musterhaft durchgeführten Feldforschung war die 1869 entstandene Slg von L. Malinowski Bajki slqskie (Schles. Märchen). Diese und Slgen vergleichbarer Art unterscheiden sich beträchtlich von den frühen Editionen. Die Diskussion über die wiss. Unzulänglichkeit der von der -» Romantik beeinflußten

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Erzählsammlungen führte auch in P. zur Entstehung der Folkloristik als Wiss. Die volkskundliche Auswertung von Malinowskis aus sprachwiss. Sicht wertvoller Slg wurde jedoch durch die phonetische Transkription wesentlich erschwert; erst über 100 Jahre später erschien eine folkloristisch-wiss. Ausg.16 Es gibt fast keine Region, die nicht durch einen wiss. Sammelband abgedeckt ist17. Die größte Märchensammlung dieser Zeit initiierte O. Kolberg. Er veröffentlichte zwischen 1857 und 1890 2000 Erzählungen aus verschiedenen Gattungen: (1) Tier- und Zaubermärchen; (2) Legenden; (3) Novellenmärchen; (4) komische Erzählungen und Sagen. Der Kommentar enthält ausführliche Angaben über Ort und Zeit der Aufnahme sowie die Gewährsperson. Darüber hinaus wurden alle Erzählungen mit den wichtigsten europ. Slgen verglichen18. Um die Jh. wende wurde auch die erste wiss. bearb. poln. Übers, der KHM der Brüder Grimm unter Mitarbeit zweier bedeutender Märchenforscher, J. -» Karlowicz und H. Lopacmski, vorgelegt19. In dieser Zeit entstanden außerdem die für die Erzählsammlung und -forschung wichtigen Zss. Wisla (Die Weichsel), eine Zs. für Ethnologie und Folklore, herausgegeben 1887-1905 in Warschau, und die von 1895 bis heute erscheinende Zs. Lud (Das Volk), das Organ der Poln. Ges. für Vk. In diesen beiden Zss. publizierten die bekanntesten poln. Ethnologen ihre Materialien und Studien. Die Zahl der eingesandten Var.n bekannter Erzähltypen aus mündl. Überlieferung war so groß (über 6000 Erzählungen), daß auf dem Kongreß der Poln. Ges. für Vk. (1905) ein Aufruf veröffentlicht wurde, das Sammeln von Volkserzählungen zu reduzieren, sich auf noch nicht erhobene Typen zu beschränken und einen Typenkatalog zu erarbeiten. Dieser Aufruf wurde leider falsch verstanden, und die Sammeltätigkeit erlosch fast gänzlich20. Ein Typenkatalog, erstellt von J. Krzyzanowski, kam erst 40 Jahre später heraus 21 . 1.4. 1 9 1 9 - 2 0 0 0 . Nach der Wiedererlangung der staatlichen Selbständigkeit P.s (1918) intensivierten die Volkskundler ihre Forschungen hauptsächlich in Gebieten, welche aus verschiedenen Gründen bisher vernachlässigt worden waren. Bei den Kaschuben, in Masuren, dem Ermland und Oberschlesien kam es

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zu umfangreichen Feldforschungsunternehmungen 22 . Für Oberschlesien bildete die Poln. Akad. der Wiss.en eine bes. Kommission zur Bestandsaufnahme der volkskundlichen Forschung. Im Schles. Inst, in Kattowitz entwarf eine Gruppe von Wissenschaftlern unter Leitung von M. Gladysz aus Krakau ein breit angelegtes volkskundliches Feldforschungsprogramm 23 , das allerdings durch den 2. Weltkrieg unterbrochen wurde. Nach 1945 wurden zahlreiche wiss. Slgen des 19. Jh.s ediert, bes. unpublizierte, z.B. mit Texten von Lompa, Malinowski und Kolberg24. Bisher nur hs. oder auch in Archiven vorhandene Materialien wurden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht; außerdem erschienen für ganz P. repräsentative Ausw.Sammlungen25. Auch kam es zu ausgiebigen regionalen Feldforschungen, die D. Simonides an der Oppelner Univ. angeregt hatte. Diese Forschungen schlugen sich in einer Reihe von Slgen und wiss. Abhdlgen nieder26. Internat. Zusammenarbeit zwischen westslav. Wissenschaftlern (sorb.: P. -> Nedo; poln.: H. Kapetus, T. Komorowska, Simonides; Slovak.: V. -> Gasparikovä; tschech.: J. Jech) führte zur VeröfF. von drei Erzählsammlungen der Westslaven27. Nach den 1967 in der Reihe Die Märchen der Weltliteratur erschienenen Poln. Volksmärchen28 kamen 1994 in derselben Reihe die Märchen aus der Tatra heraus 29 . In der Nachkriegszeit hat die Sammel- und Editionstätigkeit der poln. Folkloristik gewaltige Fortschritte gemacht, was jedoch nicht durch ein Aufleben der mündl. Überlieferung bedingt war. Die Aktivität der Erzählforscher wurde durch die Weiterentwicklung des wiss. Apparats der poln. Folkloristik und durch den Einsatz neuer technischer Hilfsmittel stimuliert. 2. C h a r a k t e r i s i e r u n g . Es wäre wohl zutreffender, statt von ,ροίη. Volkserzählungen' von ,Volkserzählungen, die im poln. Kulturkreis Aufnahme fanden', zu sprechen, denn der Großteil der in P. bekannten Stoffe und Motive stammt aus internat. Quellen. Betrachtet man die KHM als Musterbeispiel des europ. Märchenschatzes, dann stellt man fest, daß mehr als 80 % der dort auftretenden Märchen auch in P. überliefert sind. Der Versuch,

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.nationale' Merkmale poln. Märchen herauszuarbeiten, konnte bis jetzt nicht unternommen werden, da nicht alle Regionen mit Märchenmonographien vertreten sind. Im Typenkatalog von Krzyzanowski stehen der Häufigkeit nach Schwänke und komische Erzählungen mit großem Abstand an erster Stelle (493 Typen), danach folgen Zaubermärchen (251). Die mengenmäßige Verbreitung anderer Gattungen differiert wenig: Tiermärchen (92), Legenden (91), lokale Sagen (85), Novellenmärchen (81), ätiologische Erzählungen (76). Die angegebenen Zahlen sind jedoch nur bedingt aussagekräftig für ganz P., da die Überlieferung in den einzelnen Regionen unterschiedlich intensiv belegt ist. Zu den häufigsten Typen zählen AaTh 307: Prinzessin im Sarg und — mit der größten Zahl von Var.n AaTh 756 B: ->· Räuber Madej. Obwohl dieses Legendenmärchen ursprünglich aus Frankreich stammen könnte, wo es schon im 15. Jh. bezeugt ist30, wird es von den bekanntesten poln. Märchenforschern (ζ. B. Karlowicz, Krzyzanowski) als rein poln. angesehen, und zwar wegen der Verbreitungsdichte, der charakteristischen Struktur, bes. aber wegen des letzten Motivs - der Versöhnung des Räubers mit Gott 31 . Zu den Wesenszügen poln. Schwänke gehören breit ausgebaute Var.nkombinationen von Episoden, was eine Systematisierung einzelner Handlungszüge wesentlich erschwert. Im Vergleich zu ost- und südslav. sind poln. Volkserzählungen in sprachlicher Hinsicht ärmer. Formelhafte Elemente (-> Formelhaftigkeit, Formeltheorie) wie Eingangs-, Binnen- und Schlußformeln kommen selten vor. In dramatischer Hinsicht wiederum treten menschliches Handeln, Realismus und eine gewisse Rationalität in den Vordergrund, die das Wunderbare in den Hintergrund drängen. In abgelegenen ländlichen Gebieten hat sich die mündl. Überlieferung eher behaupten können, während sie in der Nähe von Städten abnimmt. Es besteht auch ein Ost-West-Gefälle hinsichtlich des Alters der tradierten Stoffe. In Ostpolen lassen sich schon aus dem MA. bekannte ErzählstofTe nachweisen, die in Westpolen nahezu gänzlich verschwunden sind. Die zivilisatorischen Veränderungen in R haben zu einem fast völligen Versiegen des tra-

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ditionellen Erzählguts geführt. Märchen werden fast auschließlich nur noch im kleinen Kreis den Kindern (meist von den Großeltern) oder bei speziellen, erst nach 1945 eingeführten Erzählwettbewerben (-• Märchenpflege) erzählt 32 . Hier entsteht eine völlig neue Erzählsituation. Der Erzähler trägt seine Geschichten nicht mehr im Kreis bekannter Zuhörer vor, wobei es bei der lebendigen Interaktion zu Improvisationen kommt. Er wendet sich auch nicht primär an das ihm unbekannte Publikum, sondern an die mit ihm auf der Bühne befindlichen professionellen Preisrichter. Ihnen trägt er seine schriftl. vorbereiteten, sprachlich-mundartlich ausgefeilten Texte vor - ohne Spontaneität. Die Texte werden aus alten Quellen ausgesucht und dem Geschmack der Preisrichter angepaßt - eine Art naiver Lit. Begabte Märchenerzähler können damit das Ansehen der Umgebung gewinnen.

Das heißt aber nicht, daß der nur allzu menschliche Erzähltrieb ausgestorben ist. Im Gegenteil: Die Rolle der Märchen haben moderne Sagen übernommen, welche sehr rege und hauptsächlich in städtischen Ballungsgebieten tradiert werden 33 . 3. F o r s c h u n g . Die Problematisierung des Sammeins und Bearbeitens von Volkserzählungen setzte mit der 1842 erschienenen Studie Podania Gminu (Volkssagen) ein, die der berühmte poln. Schriftsteller Jozef I. Kraszewski vorlegte34; er sprach dabei die Fragen der literar. Bearb. und der VeröfF. mundartlicher Texte (-• Dialekt) an. Die sich entfaltende Diskussion führte zu einer Annäherung der Ansichten zwischen Sammlern, Forschern und Schriftstellern. In dieser Zeit veröffentlichte der Schriftsteller Ryszard W. Berwmski — bislang ein Anhänger der romantischen Idee, Volksüberlieferungen seien eine Schöpfung des Volkes (-• Kollektivität, Kollektivbewußtsein) - sein Werk über die Volksliteratur, in dem er seine bisherigen Anschauungen einer generellen Kritik unterzog 35 und die These aufstellte, daß das einfache Volk nicht Schöpfer der Volksliteratur (und damit Träger der nationalen Identität) sei, sondern nur Brocken vom reichgedeckten Tisch der Hochkultur aufhebe, dem eigenen Niveau anpasse und weiter überliefere (cf. -> Gesunkenes Kulturgut). Einen beeindruckenden Impuls gab Kolberg der poln. Märchenforschung mit seinem monumentalen Lebenswerk Lud (1865 sqq.), wel-

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ches für die europ. Vk. zum Modell regionaler Monogr.n wurde. Um das reichhaltige Material zu klassifizieren, entwickelte er Grundzüge einer Systematik der Volkserzählung. Mit der Erforschung der Erzählungen befaßten sich Vertreter verschiedener Fachrichtungen, meistens jedoch Sprachwissenschaftler. Allg. Konsens war, daß die im Volk mündl. tradierten Erzählungen dem Bereich der Folklore zuzuordnen seien und nicht der Lit. Zu den herausragenden Gelehrten dieser Zeit gehört der vielseitig gebildete und sprachkundige Karlowicz. Anfänglich unter dem Einfluß der -> mythol. Schule stehend, befaßte er sich später mit der ->· anthropol. Theorie. Er war langjähriger Herausgeber der Zs. Wisla, in welcher er zahlreiche Studien veröffentlichte und u.a. wiss. Forschungen über Sagen, Legenden und Märchen und eine Katalogisierung der dokumentierten Texte forderte 36 . Gegen Ende des 19. Jh.s begann man zu verstehen, daß ->• Erzähler ebenso wichtig sind wie der Stoff selbst. Der erste Erzähler, dem eine Monogr. gewidmet wurde, war der in Zakopane geb. Jan Krzeptowski, genannt Sabala oder Sablik (1809-94) 37 . Für die Erzählforschung bedeutsam wurde die 1877—95 von der Akad. der Wiss.en in Krakau herausgegebene Zs. Zbior wiadomosci do antropologii krajowej (Slg von Mittigen zur Anthropologie des Landes). Der wichtigste poln. Folklorist zwischen ca 1925 und 1976 war unzweifelhaft Krzyzanowski38. In seinen vergleichenden Studien über die altpoln. Lit. kam er zu dem Schluß, daß sich durch die langanhaltenden gegenseitigen Beeinflussungen von Volksliteratur und Hochliteratur unauflösliche Komplexe gebildet hätten. In seiner 1934 erschienenen Monogr. Romans polski XVI wieku (Der poln. Roman des 16. Jh.s) untersuchte er die anonyme Märchendichtung und die Kolportageliteratur aus slav., rom. und germ. Quellen39. 1935 erschien seine komparatistische Studie Paralele (Parallelen). Darin befaßte er sich mit einem in P. bislang stiefmütterlich behandelten Bereich literar. Gattungen, den Apokryphen, Fazetien, Epigrammen, Predigtmärlein, der Erbauungs-, sowie der Schwank- und Unterhaltungsliteratur aller Art, aber auch mit Märchen, die wortgetreu aufgezeichnet waren 40 . Den Märchen widmete er noch weitere Studien, betrachtete

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er sie doch als eine hochentwickelte Gattung der Wortkunst 41 . Seiner Initiative ist es zu verdanken, daß 1957 die erste, ausschließlich der mündl. Überlieferung gewidmete Zs. des slav. Sprachraums, Literatura ludowa (Volksliteratur), gegründet wurde, deren Herausgeber er selbst 1957—68 war; seit 1972 ist die Zs. das Organ der Poln. Ges. für Vk. Unter der Leitung von Krzyzanowski gründete die Poln. Akad. der Wiss.en 1958 im Rahmen des Inst.s für Lit.forschung einen Arbeitskreis für Volksliteratur, zu dessen Aufgaben es gehörte, folkloristische Forschungsprojekte und Editionen alter Texte zu realisieren. Hier entstand auch das Projekt ,Die Geschichte der poln. Folkloristik', das die wiss. Programme der poln. Folkloristen und ihre Verwirklichung von 1800 bis zur Gegenwart dokumentieren soll. Bisher erschienen die Bände für die Zeiträume 1800-63 und 1864-1918 42 . 1965 entstand unter der Leitung von Krzyzanowski außerdem das erste Hb. der Folklore im slav. Sprachraum 43 . Sein wichtigstes Werk ist jedoch der Typenkatalog der poln. Volkserzählungen, der alle zwischen 1837 und 1960 erschienenen Erzählungen (nach Regionen) dokumentiert — in Anlehnung an AaTh und an die von R. T. -> Christiansen konzipierte Klassifizierung der Wandersagen44. Krzyzanowski war ein Anhänger der finn. Schule (->• Geogr.hist. Methode); bes. interessierten ihn die Forschungen W. -» Andersons, obwohl er in bezug auf den Einfluß der Hochliteratur auf mündl. Erzählungen anderer Ansicht war. 1961 wurde unter Leitung von Simonides am Inst, für poln. Lit. in Oppeln ein großangelegtes Feldforschungsprojekt zur Volkserzählung in Südwestpolen gestartet. Es entwickelte sich zum größten Unternehmen dieser Art in P., das gleichzeitig der Ausbildung von Nachwuchswissenschaftlern diente, die später in der Folkloristik tätig wurden; 1970 wurde an der damaligen Pädagogischen Hochschule in Oppeln ein Lehrstuhl für Folkloristik eingerichtet (Simonides, J. Pospiech, T. Smolmska, P. Kowalski, J. Hajduk-Nijakowska). Die Erforschung rezenter Erzählungen erfolgt primär unter Beachtung des sozialen und kulturellen Kontexts 45 , wobei zunächst die Strukturen, Funktionen und gruppenspezifischen Wandlungen der Bergmannsfolklore interessierten46. Gleichzeitig begannen auch Forschungen über

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Erzähler, deren Repertoire u n d Einfluß auf die Zuhörer 4 7 . Ein weiterer wichtiger Aspekt war die Erforschung altersgruppenspezifischer Überlieferungen (ζ. B. Teenager-Folklore) 4 8 . Aufgrund neuerer Erkenntnisse entstanden Interpretationen bekannter Quellen der Volksdichtung u n d eine Neuinterpretation der G e schichte der poln. Folkloristik 4 9 . A n der M a rie-Curie-Skldowska-Univ. in Lublin arbeitet unter der Leitung v o n J. Bartmmski eine Gruppe v o n Volkskundlern und Sprachwissenschaftlern an einem Wb. der Stereotypen u n d der S y m b o l e des Volkes 5 0 . V. KrawczykWasylewska v o m Pädagogischen Inst, der Univ. L o d z beschäftigt sich seit den frühen 1990er Jahren unter breiter internat. Mitwirk u n g mit der interdisziplinären Problematik v o n Folklore und Ökologie. A u f Betreiben des Warschauer A n t h r o p o l o g e n u n d Folkloristen R. Sulima wurde an der Warschauer Univ. ein Lehrstuhl für Kulturwissenschaften (1993) eingerichtet, der moderne, folkloreähnliche Kulturerscheinungen ( - • Folklorismus) untersucht. A n der Univ. Breslau rief C. Hernas eine Arbeitsgemeinschaft für an Folklore interessierte Wissenschaftler ins Leben 5 1 . 1 Klapper, J.: Das älteste Sagen- und Legendenbuch Oberschlesiens. Bruder Pilgrim von Ratibor. In: Der Oberschlesier 17 (1935) 185; Wolny, J.: Exempla ζ kazah niedzielnych Peregryna ζ Opola (Exempel aus den sonntäglichen Predigten des Peregrinus von Oppeln). In: Kultura elitarna a kultura masowa w Polsce pöznego sredniowiecza. ed. B. Geremek. W. 1978, 248-274. - 2 H s . Krakow, Biblioteka Jagiellonska 2233 BB IX 9, 287-422; Liberiusz, J.: Gospodarz nieba i ziemi, Jezus Chrystus (Der Herr des Himmels und der Erde, Jesus Christus). Krakau 1665, 189 sq.; cf. auch Bajka ludowa w dawnej Polsce (Das Volksmärchen im alten P.). ed. H. Kapehis/J. Krzyzanowski. W. 1968. - 3 Bystroii, J.: Historyje Rzymskie (Gesta Romanorum). Krakow 1894; Simonides, D.: Folklor w kontekscie sredniowiecznych zrödel (Die Folklore im Kontext ma. Qu.n). In: Ζ polskich studiöw slawistycznych 9 (1998) 7 - 1 2 . - 4 Wielkie Zwierciadlo przykladöw (Der große Spiegel der Beispiele). Übers. S. Wysocki. Krakau 1612; Krzyzanowski, J.: Romans polski XVI w. (Der poln. Roman des 16. Jh.s). W. 1962, 87-104; Dunin, J.: Papierowy bandyta (Papierbandit). Lodz 1974; Frantowe prawa (Satzungen des Franta). ed. J. Magnuszewski. W. 1968. - 5 Brückner, Α.: Facecje polskie ζ 1624 r (Poln. Fazetien aus dem Jahre 1624). Krakow 1903; Dawna facecja polska ( X V I - X V I I I w.) (Die alte poln. Fazetie [16.-18. Jh.]). ed. J. Krzyzanowski/K. Zukowska-Billip. W. 1980. - 6 K r u -

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szewska-Michalowska, T.: Rözne historie. Studium ζ dziejöw nowelistyki staropolskiej (Verschiedene Erzählungen. Studien zur Geschichte der altpoln. Novellistik). Wroclaw 1965, 299-301; Wortman, S.: Bam w literaturze i w zyciu dziecka (Das Märchen in der Lit. und im Leben des Kindes). W. 1958. 7 Ksigga tysi^ca i jednej nocy (Tausendundeinenacht) 1 - 9 . Übers. T. Lewicki. W. 1973-75. - 8 cf. not. 2; Kapehis, H.: Türk. Volkserzählungen in der poln. Lit. des 16. Jh.s. In: Fabula 6 (1963) 253-257. 'Simonides, D.: Jakob i Wilhelm Grimm a folklor polski (Jacob und Wilhelm Grimm und die poln. Folklore). In: Slizmski, J. (ed.): Bracia Grimmowie a folklor slowiariski. W. 1989, 2 5 - 5 0 . - 1 0 Berwmski, R.: Listy ζ narodowej pielgrzymki (Briefe von der nationalen Pilgerfahrt). In: Przyjaciel ludu 5 (1838) 167-172; Kapehis, H./Krzyzanowski, J. (edd.): Dzieje folklorystyki polskiej 1800-1863. Epoka przedkolbergowska (Die Geschichte der poln. Folkloristik 1800-1863. Die Epoche vor Kolberg). Wroclaw 1970; Simonides, D.: Folklor jako kryterium tozsamosci narodowej wsröd Slowian Zachodnich w II polowie 19 stulecia (Die Folklore als Kriterium der nationalen Identität innerhalb der Westslaven in der 2. Hälfte des 19. Jh.s). In: Ζ polskich studiöw slawistycznych 7 (1988) 475-483; ead.: Poln.-nationale Denkweisen in der poln. Märchenforschung der ersten Hälfte des 19. Jh.s. In: Märchenspiegel 7,4 (1996) 2 6 - 2 9 . " e a d . : Folklor slowny (Die mündl. Folklore). In: Etnografia Polski. Przemiany kultury ludowej. ed. M. Frankowska. Wroclaw 1981, 327-329. - 1 2 Wöjcicki, K. W.: Klechdy, starozytne podania i powiesci ludu polskiego i Rusi (Klechden, alte Überlieferungen und Volkssagen) 1 - 2 . W. 1837. - 13 Wichtigste Slgen: Zmorski, R.: Powiesci i basni ludu w Mazowszu (Volkssagen und -märchen aus Masowien). Wroclaw 1852; Siemieiiski, L.: Podania i legendy polskie, ruskie i litewskie (Poln., ukr. und litau. Sagen und Legenden). Poznan 1845; Balmski, K : Powiesci ludu (Volkserzählungen), ed. K. W. Wöjcicki. W. 1842. - 14 Die poln. Hss. befinden sich im Ethnogr. Museum, Krakau (die dt. Übers. [Breslauer Staatsbibl.] ist während des 2. Weltkriegs abhanden gekommen). - 15 cf. Krzyzanowski, J.: Paralele. Studia poröwnawcze ζ pogranicza literatury i folkloru (Parallelen. Vergleichende Studien aus dem Grenzgebiet der Lit. und der Folklore). W. (1935) 3 1977, 760-772; Simonides, D.: Ζ recepcji „Bajarza polskiego" Glmskiego, A. J. (Zur Nachwirkung von A. J. Glmskis „Bajarza polskiego"). In: Ludowosc dawniej i dzis. ed. R. Görski/J. Krzyzanowski. Wroclaw 1973, 9 1 - 1 0 8 . - 1 6 Malinowski, L.: Bajki sl^skie. ed. E. Jaworska. W. 1973. - 17 Knoop, O.: Poln. Märchen aus der Provinz Posen. In: ZfVk. 26 (1916) 204-208; Bar^cz, S.: Bajki, fraszki, podania, przyslowia i piesni na Rusi zebral (Märchen, Schwänke, Überlieferungen, Sprichwörter und Lieder, bei den Ukrainern gesammelt). Tarnopol 1866; Kozlowski, K : Lud. Piesni, podania, basni, zwyczaje i przes^dy ludu ζ Mazowsza Czerskiego (Das Volk. Lieder, Sagen, Märchen, Bräuche und Aberglaube des Volkes

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Polen

im Czersker Masowien). W. 1869; Kupiec, J.: Powiesci i bajki sl^skie 1 - 4 (Schles. Märchen und Erzählungen). Poznari 1884; Lompa, J.: Klechdy czyli basnie ludu polskiego na Sl^sku (Märchen des poln. Volkes in Schlesien). W. 1900; Lorentz, F.: Teksty pomorskie czyli slowihsko-kaszubskie (Pommersche oder slovinz.-kaschub. Texte) 1 - 2 . Krakow 1913/24; Matyas, K.: Podania i basnie krakowskie (Krakauer Sagen und Märchen). Lwöw 1890; Udziela, S.: Krakowiacy (Das Krakauer Volk). Krakow 1924; Chgtnik, Α.: Ζ kurpiowskich boröw. Szkice, opowiadania, obrazki i gadki (Aus kurp. Wäldern. Skizzen, Ber.e, Sittenbilder und Volkserzählungen). Lwöw 1930; Ciszewski, S.: Krakowiacy (Das Krakauer Volk). 1: Podania, powiesci fantastyczne, powiesci anegdotyczno-obyczajowo-moralne, bajki ο zwierzgtach, zagadki i lamiglowki (Überlieferungen, Zaubermärchen, Schwänke, Tierfabeln, Rätsel). Krakow 1894; Grzegorzewski, J.: Na spiszu. Studia i teksty folklorystyczne (Bei der Aufzeichnung. Studien und folkloristische Texte). Lwöw 1919; Hoff, B.: Lud cieszyriski (Das Volk von Teschen). W. 1888. 18 Kolberg, O.: Dziela wszystkie (G. W.) 1 sqq. W./ Krakow 1957 sqq. - 19 Kowerska, Z. (Übers.): Bajki domowe i dziecinne, zebrane przez braci Grimmöw (Kinder- und Hausmärchen, gesammelt durch die Brüder Grimm) 1 - 2 . W. 1896. - 20 Udziela, S.: Ο potrzebie zestawienia i uporz^dkowania opowiadah ludowych (Von der Notwendigkeit der Zusammenstellung und der Systematisierung der Volkserzählungen). In: Lud 11 (1905) 393. 21 Krzyzanowski, J.: Polska bajka ludowa w ukladzie systematycznym (Systematischer Katalog der poln. Volkserzählungen) 1-2. Wroclaw/W./Kraköw 2 1962—63. - 22 B^k, S.: Teksty gwarowe ζ polskiego Sl^ska (Mundartliche Texte aus dem poln. Schlesien). Krakow 1939; Steffen, Α.: Opowiadania komiczne i podania ζ Warmii (Lustige Erzählungen und Sagen aus dem Ermland). Krakow 1937. 23 Gladysz, M.: Zaiys organizacji i planu badan etnograficznych na Sl^sku (Eine Skizze des ethnogr. Feldforschungsplans in Oberschlesien). In: Zaranie Sl^skie (1939) H. 2 - 4 , 90-98. - 24 Lompa, J.: Bajki i podania (Märchen und andere Überlieferungen), ed. J. Krzyzanowski. Wroclaw/W./Kraköw 1965; Malinowski (wie not. 16); Kolberg (wie not. 18). 25 Kapelus, H./Krzyzanowski, J.: Sto basni ludowych. W. 1957 (dt.: Die Kuhhaut. 100 poln. Volksmärchen. Lpz./Weimar 1987); Kapetus, H.: Ksi^ga bajek polskich (Das Buch der poln. Märchen) 1. W. 1988; Grabowska, M.: Ksigga bajek polskich (Das Buch der poln. Märchen) 2. W. 1988; Simonides, D.: Ksifga humoru ludowego (Das Buch des Volkshumors). W. 1981. - 26 Simonides, D./Liggza, J.: Gadka za gadk^. 300 podari, bajek i anegdot ζ Görnego Sl^ska (Lauter Erzählungen. 300 Sagen, Märchen und Schwänke aus Oberschlesien). Katowice 1973; Kupiec, J.: Podröz w zaswiaty. Powiesci i bajki sl^skie (Reise ins Jenseits. Schles. Geschichten und Märchen), ed. D. Simonides/J. Pospiech. W. 1975; Simonides, D.: Kumotry diabla (Die Gevatter des Teufels). W. 1977 (oberschles. Volkserzählungen);

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Ondrusz, J.: Cudowny chleb, podania, basnie i opowiesci cieszynskie. W. 1984; Konieczna, H./Pomianowska, W.: Bajki Warmii i Mazur (Märchen des Ermlands und Masowiens). Krakow 1956. 27 Nedo, P./Kapehis, H.: Spiewaj^ca lipka (Die gläserne Linde). Bautzen 1972 (westslav. Märchen; die Ausg. erschien auch in dt., tschech. und Slovak. Sprache); Simonides, D.: Skarb w garneu. Humor zachodnich Slowian (Der Schatz im Topf. Der Humor der Westslaven). Opole 1979; Komorowska, Τ./ Gasparikovä, V.: Zböjnicki dar. Polskie i slowackie opowiadania tatrzaüskie (Das Geschenk der Räuber. Poln. und slovak. Erzählungen aus der Tatra). W. 1976. — 2S Bukowska-Grosse, E./Koschmieder, E.: Poln. Volksmärchen. MdW 1967. - 29 Simonides, D. und J.: Märchen aus der Tatra. MdW 1994. 30 Krzyzanowski (wie not. 15) 844-854. 31 ibid., 615-622. - 32 Simonides, D.: Rezente Erscheinungsformen der Märchen in P. In: Märchen in unserer Zeit. ed. H.-J. Uther. Mü. 1990, 115-130. 33 ead.: Moderne Sagenbildung im poln. Großstadtmilieu. In: Fabula 28 (1987) 269-278; ead.: Zur Methodologie der Slg zeitgenössischer populärer Erzählungen. ibid. 31 (1990) 279-283; ead.: Contemporary Urban Legends in Poland. In: Storytelling in Contemporary Societies, ed. L. Röhrich/S. WienkerPiepho. Tübingen 1991, 45-50; Czubala, D.: Wspölczesne legendy miejskie (Stadtsagen der Gegenwart). Katowice 1993. - 34 Kraszewski, I. J.: Podania gminu (Volkssagen). In: id.: Studia literackie. Wilno 1842, 93-106. - 35 Berwinski, R. W.: Studia ο literaturze ludowej ze stanowiska historycznej i naukowej krytyki (Studien über die Volkslit. aus hist, und wiss.skritischer Sicht) 1 - 2 . Poznan 1854. - 36 Wichtigste Studien: Karlowicz, J.: Podanie ο Madeju (Sagen über den Räuber Madej). In: Wisla 2 (1888) 804-814; ibid. 3 (1889) 102-134, 300-305, 602 - 604; ibid. 5 (1891) 43-59, 379-387; id.: Zyd wielki tulaez (Der ewige Jude). Legenda Sredniowieczna (Die ma. Legende). In: Biblioteka warszawska 3 (1873) 214-232; id.: Pi^kna Melusyna i krölewna Wanda (Die schöne Melusine und die Prinzessin Wanda). In: Ateneum 2 (1876) 457-498; ibid. 3 (1876) 137-167; id.: Podanie ο Walterze ζ Tyiica (Die Sage über Walter von Tyniec). ibid. 4 (1881) 214-234. - 37 Stopka, Α.: Sabala. Portret, zyciorys, bajki, powiastki, pionenki, melodye (Sabala. Porträt, Lebenslauf, Erzählungen, Märchen und Melodien). (Krakow 1897) Nachdr. 1987. - 38 Simonides, D.: Julian Krzyzanowski. In: Fabula 28 (1977) 264 - 267. - 39 Krzyzanowski und Dunin (wie not. 4). 40 Krzyzanowski (wie not. 15). 41 id.: Sztuka slowa (Wortkunst). W. 1972; id.: W swiecie bajki ludowej (In der Welt des Volksmärchens). W. 1980 (entstanden um 1943). - 42 Kapehis/ Krzyzanowski (wie not. 10); iid.: Dzieje folklorystyki polskiej 1864-1918 (Die Geschichte der poln. Folkloristik 1864-1918). W. 1982. - 43 Krzyzanowski, J. (ed.): Slownik folkloru polskiego (Hb. der poln. Folklore). W. 1965. - 44 Christiansen, Migratory Legends. - 45 Simonides, D.: Wspölczesna sl^ska proza

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Politik, Politisierung

ludowa (Die gegenwärtigen schles. Volkserzählungen). Opole 1969; Pospiech, J.: Tradycje folklorystyczne na Sljsku w XIX i XX wieku (do 1939) (Folkloristische Traditionen in Schlesien im 19. und 20. Jh. [bis 1939]). W. 1977. - 46 Lig?za, J.: Ludowa literatura görnicza (Die Volkslit. der Bergleute). Katowice 1958; id.: Podania görnicze ζ Görnego Sl^ska (Bergmannssagen aus Oberschlesien). Bytom 1972; id.: Sladami tradycji. Studia nad folklorem görniczym (Auf den Spuren der Tradition. Studien über die Folklore der Bergleute). Bytom 1968; Simonides, D.: Rzecz ο humorze sljskim (Vom schles. Humor). Opole 1984; ead. (ed.): Gorniczy stan w wierzeniach, obrzgdach, humorze i piesniach (Bergmannsleben im Aberglauben, in Bräuchen, in Humor und Liedern). Katowice 1988. - 47 Smolmska, T.: Wspölczesni gawgdziarze ludowi na Sl^sku (Gegenwärtige Erzähler in Schlesien). Opole 1986; ead.: Ζ wybranych problemöw dawnej i wspölczesnej sztuki opowiadania (Eine Ausw. von Problemen der früheren und der zeitgenössischen Erzählkunst). Opole 1987; Kadhibiec, K. D.: Gawgdziarz CieszyAski Jozef Jezowicz (Der Erzähler Jozef Jezowicz aus Teschen). Ostrava 1973; Simonides, D./Smolmska, T.: Folklor slowny a wspölczesni gawfdziarze konkursowi (Mündl. Folklore zeitgenössischer preisgekrönter Erzähler). In: Sl^skie miscellanea, literatura, folklor. ed. D. Simonides/D. J. Zaremba. Wroclaw 1980, 93-107. 48 Hernas, C.: W kalinowym lesie. U zrödel folklorystyki polskiej (Gegenwärtige Teenager-Folklore. An der Qu. der poln. Folkloristik) 1 - 2 . W. 1965; Cieslikowski, J.: Wielka zabawa. Folklor dziecigcy, wyobraznia dzieci, wiersze dla dzieci (Das große Spiel. Kinderfolklore, Kinderphantasie, Gedichte für Kinder). Wroclaw 1967; Simonides, D.: Wspölczesny folklor slowny dzieci i nastolatköw (Zeitgenössische mündl. Folklore von Kindern und Teenagern). Wroclaw 1976. - 49 Burszta, J.: Kultura ludowa - kultura narodowa. (Volkskultur — Nationalkultur). W. 1974; id.: Chopskie zrödla kultury (Bäuerliche Qu.n der Kultur). W. 1985. - 50 Bartmmski, J. (ed.): SIownik stereotypöw i symboli ludowych. 1: Kosmos (Hwb. der Stereotypen und der Symbole des Volkes. 1: Kosmos). Lublin 1999. 51 Krawczyk-Wasilewska, V.: Ecology and Folklore 2. Lodz 1992; ead.: Wspölczesna wiedza ο folklorze (Das gegenwärtige Wissen um die Folklore). W. 1986; Sulima, R.: Literatura a dialog kultur (Lit. und Kultur im Dialog). W. 1982; id.: Folklor i literatura (Folklore und Lit.). W. 1976; Hernas, C.: Folklor i ustna twörczosc ludowa (Die Folklore und die mündl. Volksdichtung). In: Literatura polska. Przewodnik encyklopedyczny 1 - 2 . ed. C. Hernas. W. 1984, 264 -266.

Opole

Dorota Simonides

Politik, Politisierung 1. Allgemeines - 2. Politische Funktion von Erzählungen — 3. Politische Instrumentalisierung von

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Erzählungen - 4. Erzählstoffe in der P. - 5. P. als Thema - 6. Politische Theorien der Erzählung - 7. Folkloristen als Politiker 1. A l l g e m e i n e s . Politik (P.), ursprünglich nur die .Kunst der Staatsverwaltung', stellt in der neueren geschichtlich-gesellschaftlichen Entwicklung einen sich „ständig erweiternden Bereich der Gesellschaft dar, ein differenziertes Gefüge von Normen, sozialen Beziehungen, Gruppen und Institutionen" 1 . Diesem weiten Verständnis von P. entsprechend hat die Volksüberlieferung als kultureller Ausdruck große und ständig wachsende politische Bedeutung. Die zunehmende Politisierung der Ges. 2 läßt sich an mündl. und schriftl. Erzählungen und Liedern und deren gesellschaftlicher Bewertung deutlich ablesen. Dienten in vormodernen Ges.en ->· Mythen 3 , genealogische -> Sagen (cf. ->• Libussa, -+ Melusine, ->• Romulus und Remus, Schwanenritter, die Aeneis Vergils)4 und Epen als Legitimation weltlicher wie geistlicher Herrschaft und Sagen, -• Sprichwörter 5 , - Ständespott, Klerus), so hat seit der frühen Neuzeit und bes. dem Aufkommen moderner Nationalstaaten und bürgerlicher Gesellschaften die Einbeziehung auch des,einfachen Volkes' in politische Prozesse ebenso zugenommen wie das Interesse der staatlichen P. am Volk und an dessen Ausdrucksformen. Das auf Legitimation der Nation (-• Patriotismus) gerichtete Interesse der P. an der -» Volksdichtung wurde in vielen Ländern institutionalisiert in Form von staatlich geförderter Sammlung und Erforschung, der die Vk. bzw. Folkloristik letztlich ihre Entstehung verdankt 7 . Der enge Zusammenhang zwischen Volkserzählung bzw. Lied und P. wird im folgenden an sechs Bereichen dargestellt. 2. P o l i t i s c h e F u n k t i o n v o n E r z ä h l u n g e n . Erzählungen und Lieder und deren -> Performanz haben eine — im weiten Sinn politische Funktion insofern, als sie durch die Schaffung von Erzähl- bzw. Singgemeinschaften die Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden und damit soziale Zugehörigkeiten definieren. Sie sind zudem Ausdruck und Reflex nicht nur der sozialen und politischen Verhältnisse und Machtbeziehungen,

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Politik, Politisierung

sondern auch der Werthaltungen 8 und ->• Normen, der Glaubensvorstellungen und Orientierungen, der Weltanschauungen 9 und des 10 Charakters der jeweiligen Gruppe. In einem engeren Sinn haben Erzählungen (ζ. B. Fabeln, Fürstenspiegel, politische und ethnische Witze, Spott, Gerüchte, politische Lieder) als Manifestationen von Überzeugungen, Stereotypen und -» Vorurteilen politische Funktionen dadurch, daß sie konkrete politische Wirkungen (Protest, Aufruhr, Kriegsbereitschaft, aber auch Befriedung und Entlastung) hervorrufen können. 3. P o l i t i s c h e Instrumentalisierung von E r z ä h l u n g e n . Die bewußte und gezielte Nutzung von Erzählungen und Liedern durch die politisch Mächtigen (-» Herrschaft, Herrscher; Kirche; Staat; Parteien; cf. auch - Ideologisierung) hat eine beachtliche Geschichte. Ging es im MA. den Herrschern durch die Förderung von Epos", -+ Heldensage und Loblied um die Legitimation ihrer Macht, die Festigung der Loyalität der Untertanen und die Ermunterung zum kriegerischen Handeln, so stand für die christl. Kirche die Propagierung und Festigung des Glaubens durch Predigtexempel, Liedkontrafakturen 12 und Flugschriften (-* Traktatliteratur) im Vordergrund; sowohl für die Reformation (cf. ->• Luther, ->• Melanchthon, -»• Erasmus von Rotterdam) als auch die ->· Gegenreformation (-• Jesuit. Erzähllit.) spielte die Nutzung der Volksüberlieferungen eine beachtliche Rolle. Auch -> Aufklärung und Gegenaufklärung 13 machten erheblichen Gebrauch von populären Erzählungen und Liedern zur Propagierung ihrer Ideen; das gleiche gilt für die Revolutionen des späten 18. und des 19. Jh.s 14 sowie für deren Gegenbewegungen, die auf die Absicherung des sozialen und politischen status quo zielten (-• Ständeordnung). Das Interesse der Kolonialmächte (-• Kolonialismus) an der Sammlung der Mythen, Märchen und Lieder der beherrschten Völker und deren Übers, in die Kolonialsprachen diente vielfach dem politischen Ziel ihrer besseren Kenntnis und damit Kontrolle 15 . Die wohl umfangreichste und systematischste Nutzung der Volksüberlieferung geschah

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allerdings im Zuge der Nationsbildungen im 19. und frühen 20. Jh., als die Erzähl- und Liedüberlieferungen 16 der Legitimierung der jungen Nationalstaaten 17 , der Schaffung eigener Nationalkulturen 18 und nationaler Identitäten und der Förderung von Patriotismus und Nationalismus dienten. Die Suche nach Ursprüngen und überlanger Kontinuität 19 , nach nationalen Mythen und Epen (cf. Ossian, Veda slovena20, -* Kalevala21, Kalevipoeg, -> Nibelungenlied, -> Dzangar, -» Narten, Manas, Firdausl, Geser Khan, Kosovo-Zyklus 22 ) war Ausdruck ethno-nationalen Selbstbewußtseins und diente oft der nationalpolitischen Erziehung in der Schule23, in -» Medien oder sogar im Straßengesang24; in den USA hatten neu kreierte mythische ,Volkshelden'25 (-> Paul Bunyan, Davy -> Crockett, Fakelore) analoge Funktionen. Extreme Formen erreichte die politische Instrumentalisierung der Volksüberlieferung im 20. Jh. im totalitären Nationalsozialismus, der nicht nur germ. Kontinuitäten und einen ,Rassestil' in der Volkspoesie postulierte26, sondern diese auch in der Propaganda und vielen anderen Bereichen einsetzte. Sprichwort27, Volkslied28, Gerücht 29 und auch politischer Witz30 wurden vom totalitären Staat gezielt als Waffe eingesetzt. Der Machtausübung der Eliten durch die absichtsvolle Verwendung und -» Manipulation der Volksüberlieferungen, aber auch durch Verbote und ->· Zensur hat sich das .einfache Volk' stets zu widersetzen versucht. Sein alltägliches Erzählen, seine Schwänke, Witze31 und Lieder32 enthalten seitJh.en viel Sozialkritik und sind Ausdruck politischen Widerstands und Protests, der bis zu Aufruhr und Aufstand führen konnte. Wildschützen, Attentäter, Aufrührer, Haiducken und Klephten 33 , ->· Räuber und andere Sozialrebellen34 sind bevorzugte Helden der Erzählungen und Lieder von Bauern, Handwerkern und Arbeitern. Diese Tradition fand im 19. Jh. ihre Fortsetzung und Instrumentalisierung für den politischen Kampf in der Arbeiterbewegung, den Gewerkschaften und linken Parteien 35 , in Südosteuropa aber auch in der nationalen Mythologie der jungen Nationen 36 . Zu einer weit massiveren politischen Nutzung der Volksüberlieferungen kam es nach der Gründung der Sowjetunion 37 und später der übrigen sozialistischen Länder durch das ideologisch be-

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Politik, Politisierung

gründete Streben nach dem ,neuen Menschen' und einer sozialistischen Lebensweise', in welche die .positiven Elemente' der Volksüberlieferung integriert werden sollten38. Die Folge war ein umfassender staatlicher Folklorismus für die Ziele der kommunistischen Partei39, ζ. B. durch die Integration von Elementen der Volkstradition in das System sozialistischer Feste und Feiertage40, durch die tägliche Präsenz von Folklore in den Medien sowie auf politisch hoch eingestuften Folklorefestivals, auf denen auch Märchenerzähler auftraten 41 . Erzählungen und Lieder über die sozialistischen Führer (Lenin, Stalin u. a.) wurden verfaßt und propagiert 42 , allerdings mit geringem Erfolg. Für ,negativ' erachtete Teile der Volksüberlieferung, bes. die modernen Erscheinungsformen, wurden hingegen verboten oder behindert 43 . Ähnlich wie das Dritte Reich schreckten auch die totalitären sozialistischen Regime nicht davor zurück, Witze, Sagen und Gerüchte zur Desinformation der Bevölkerung in Umlauf zu setzen44; diese Taktik wurde im 2. Weltkrieg im übrigen auch von der US-Regierung angewandt 45 . Die politische Nutzung der Lied- und Erzählüberlieferung findet in modernen Industriegesellschaften ihre Fortsetzung sowohl in den zahlreichen neueren Protestbewegungen (wie etwa der Studentenrevolte 1968, der AntiVietnamkriegs-Bewegung und der Anti-Atombewegung), die ζ. B. alte Volkslieder zu politischen Liedern umfunktionierten 46 , als auch in der Wirtschaft im Bereich des nationalen und globalen Marketing und der -> Werbung, in der Sprichwörter, Redensarten und Märchenzitate eine beachtliche Rolle spielen, wie auch im Konkurrenzkampf gegen ausländische Produkte, in dem auch Gerüchte und Sagen47 eingesetzt werden. Die Folklore ist weiterhin auch Gegenstand staatlicher Kulturpolitik und wird zudem genutzt, um in multi-ethnischen Gesellschaften Vorurteile, - Grimm Abgeordneter in der Frankfurter Paulskirche, I. -» Sismanov bulg. Unterrichtsminister, Y. Pino Saavedra Vertreter des chilen. Präsidenten und Vizepräsident der chilen. UNESCO-Kommission, G. -» Pitre Gemeinderat in Palermo und ital. Parlamentsabgeordneter, D. ->· Hyde erster Präsident der Republik Irland und B. Andräsfalvy ung. Kultusminister, A. Shenhar israel. Botschafterin und M. Pop rumän. Botschafter in Moskau, D. Simonides ist Senatorin der Republik Polen. Bes. bei jenen Folkloristen, die einer ideologisch inspirierten Theorie der Volkskultur anhingen, war und ist der Zusammenhang zwischen Forschung, Lehre und politischem Engagement enger, was entweder in aktivem politischen Handeln für die jeweilige Regierung bzw. Partei oder aber in politischer Opposition zum Ausdruck kommt. Ersteres galt bes. im Dritten Reich, wo etwa K. Haiding, L. Mackensen und E. Mudrak verantwortliche politische Funktionen innehatten 77 , und in den sozialistischen Regimes, wo z.B. G. -» Ortutay in Ungarn Kultusminister78, W. Steinitz Mitglied des Politbüros der DDR und P. ->· Nedo Leiter des Amtes für sorb. Volksbildung war. Letzteres war der Fall bei dem Sprichwortsammler K. F. W. -> Wan-

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der 79 , der seine Stelle als Lehrer verlor, bei O. -> Loorits, der wegen seiner Arbeiten zur liv. Sprache und Kultur aus Lettland ausgewiesen wurde, bei Gramsci, der im Vorstand der Kommunistischen Partei Italiens war und verfolgt wurde 80 , bei dem Liedforscher K. Huber, der von den Nationalsozialisten hingerichtet wurde 81 , bei V. Ja. -» Propp, der Selbstkrititk üben mußte, oder bei P. N. Boratav, dessen Professur wegen seines Engagements gestrichen wurde 82 . Generell ist aber noch zu wenig untersucht, in welchem Maße Folkloristen zugleich auch Politiker bzw. Politikberater 83 oder Oppositionelle waren und Politiker auch Volkserzählungen sammelten und erforschten. I

Bernsdorf, W.: Wb. der Soziologie. Stg. 1969, 816. - 2 ibid., 817. - 3 Zu Japan cf. Naumann, N.: Die Mythen des alten Japan. Mü. 1996; ead.: Amor und Psyche und der Gott von Miwa. In: Fabula 28 (1987) 1-33. - 4 cf. Petzoldt, L.: Hist. Sagen 1. Mü. 1976, 96-121. - 5 cf. Resnikow, S.: The Cultural History of a Democratic Proverb: ,Whan Adam dalf, and Eva span, Who was than a gentelman?' In: J. of English and Germanic Philology 36 (1937) 391-405; Kunzle, D.: World Upside Down. The Iconography of a European Broadsheet Type. In: Babcock, B. A. (ed.): The Reversible World. Symbolic Inversion in Art and Society. Ithaca 1978, 39-94. - 6 z.B. Moser-Rath, Schwank, 137-171. - 7 Ein gutes Beispiel ist die „Laographia" in Griechenland, cf. Herzfeld, M.: Ours Once More. Folklore, Ideology, and the Making of Modern Greece. Austin 1982, 97-122; zu Israel cf. Hasan-Rokem, G.: The Birth of Scholarship out of the Spirit of Oral Tradition. Folk Narrative Publ.s and National Identity in Modern Israel. In: Fabula 39 (1998) 277-290. - 8 Dundes, Α.: Interpreting Folklore. Bloom. 1980. - 9 id.: Folk Ideas as Units of World View. In: JAFL 84 (1971) 93-103; id: Thinking Ahead. A Folkloristic Reflection of the Future Orientation in American Worldview. In: id. (wie not. 8) 69-85. - 10 Dorson, R.: National Characteristics of Japanese Folktales. In: Oinas, F. J. (ed.): Folklore, Nationalism, and Politics. Columbus 1978, 147-162. II Zu Iran cf. Marzolph, U.: Das pers. Nationalepos im Spannungsfeld von Überlieferung und ideologischer Instrumentalisierung. In: Lares 65,1-2 (1999) 81-99. - 12 Moser, D.-R.: Verkündigung durch Volksgesang. Studien zur Liedpropaganda und -katechese der Gegenreformation. B. 1981. - 13 Böning, H./Siegert, R.: Volksaufklärung. Biobibliogr. Hb. zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im dt. Sprachraum von den Anfängen bis 1850 t. 1. Stg. 1990; Drascek, D.: ,Gegenaufklärung' im süddt. Raum. Zur Transformation der spätbarocken Alltags- und Frömmigkeitskultur im letzten Drittel des 18. Jh.s. Mü. 1999. - 14 z.B. Sauermann, D.: Hist.

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Politik, Politisierung

Volkslieder des 18. und 19. Jh.s. Münster 1968; id.: Das hist.-politische Lied. In: Hb. des Volksliedes 1. Mü. 1973, 293-322. - 15 Dingwaney, A./Maier, C. (edd.): Between Languages and Cultures. Translation and Cross-Cultural Texts. Pittsburgh 1995; Roth, K.: Crossing Boundaries. The Translation and Cultural Adaptation of Folk Narratives. In: Fabula 39 (1998) 243-255, bes. 247 sq. - 16 Für die Volksdichtung cf. Bausinger 21980, 11-19; für das Volkslied cf. Klüsen, E.: Volkslied. Fund und Erfindung. Köln 1969. - 17 Ein bes. anschauliches Beispiel bietet Südosteuropa: Lord, Α. B.: Folklore, ,Folklorism' and National Identity. In: Balkanistica 3 (1976) 63-73; Wolfgramm, E.: Geschehen und Gestalten. Die Anfänge der nationalen Befreiungsbewegung des makedon. Volkes im Spiegel seiner epischen Lieder. In: Jb. für Vk. und Kulturgeschichte 21 (1978) 56—69; Gencev, S.: Zur Frage der Rolle der Volkskultur bei der Bildung der bulg. Nation. In: Ethnologia Slavica 12-13 (1980-81) 163-169; Ba§göz, I.: Folklore Studies and Nationalism in Turkey. In: Oinas (wie not. 10) 123-137; Kartari, Α.: Ideologie in der türk. Ethnologie und Folkloristik. In: Ethnologia Balkanica 2 (1998) 57-68; Herzfeld (wie not. 7); id.: Anthropology through the Looking-Glass. Critical Ethnography in the Margins of Europe. Cambr./ Ν. Y. 1987; id.: Cultural Intimacy. Social Poetics in the Nation-State. N. Y./L. 1997; Karakasidou, A. N.: Sacred Scholars, Profane Advocates. Intellectuals Moulding National Consciousness in Greece. In: Identities 1 (1994) 35-61. - 18 Hobsbawm, E.I Ranger, T. (edd.): The Invention of Tradition. L. 1983; Dorson, R.: The Question of Folklore in a New Nation. In: id. (ed.): American Folklore and the Historian. Chic./L. 1971, 94-107; Löfgren, Ο.: The Nationalization of Culture. In: Ethnologia Europaea 19 (1989) 5-24; Bauman, R.: The Nationalization and Internationalization of Folklore. The Case of Schoolcraft's „Gitshee Gauzinee". In: Handoo, J.I Siikala, A.-L. (edd.): Folklore and Discourse. Mysore 1999, 101-120. - 19 Röhrich, L.: Das Kontinuitätsproblem bei der Erforschung der Volksprosa. In: Kontinuität? Geschichtlichkeit und Dauer als volkskundliches Problem. Festschr. H. Moser. B. 1969, 117-133. - 20 Sismanov, I. D.: Glück und Ende einer berühmten literar. Mystifikation: Veda Slovena. In: Archiv für slav. Philologie 25 (1903) 580-611. 21

Wilson, W. Α.: The Kalevala and Finnish Politics. In: Oinas (wie not. 10) 51-75. - 22 Braun, M.: Die geschichtliche Wirksamkeit der Volksdichtung. In: Beitr.e zur Südosteuropa-Forschung. Mü. 1966, 272-278; Lauer, R.: Das Wüten der Mythen. In: id./ Lehfeldt, W. (edd.): Das jugoslaw. Desaster. Wiesbaden 1995, 107-148; Colovic, I.: Bordell der Krieger. Folklore, Politik und Krieg. Münster 1994, bes. 71-86, 134-157. - 23 Zur Bedeutung von Schule und Schulbüchern cf. Höpken, W. (ed.): Öl ins Feuer? Schulbücher, ethnische Stereotypen und Gewalt in Südosteuropa. Hannover 1996; Marzolph, U.: Die Revolution im Schulbuch. Die Grundschul-

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lehrbücher „Persisch" vor und nach 1979. In: Spektrum Iran 7,3-4 (1994) 36-56; id.: Interkulturelles Erzählen. Der Transfer von Erzählgut in iran. Grundschullehrbüchern. In: Lipp, C. (ed.): Medien populärer Kultur. Festschr. R. W. Brednich. Ffm. 1995, 182-195; id.: Zur Lage der Erzählforschung im nachrevolutionären Iran. In: Spektrum Iran 8,3 (1995) 39-51. - 24 Roth, K.: Geschichtsunterricht auf der Straße. Zum Jahrmarktgesang in Bulgarien. In: Medien populärer Kultur. Festschr. R. W. Brednich. Ffm./N. Y. 1995,266-279. - 25 Dorson (wie not. 18); id.: Folklore. Selected Essays. Bloom./L. 1972. 26 Emmerich, W.: Germanistische Volkstumsideologie. Tübingen 1968, bes. 243-257; Gerndt, H. (ed.): Vk. und Nationalsozialismus. Mü. 1987; Dow, J. R./Lixfeld, H. (edd.): The Nazification of an Academic Discipline. Folklore in the Third Reich. Bloom. 1994. - 27 Mieder, W.: Proverbial Manipulation in Adolf Hitler's „Mein Kampf'. In: Internat. Folklore Review 10 (1995) 35-53. - 28 Ehlers, J.: From Agitprop to Folk-Song. Some Examples of Politicized Folk-Songs and of the Political Song Made Traditional, ibid., 54-99. - 29 cf. EM 5, 1104. - 30 cf. Röhrich, L.: Der Witz. Mü. 1980, 211; Eisenfeld, Β.: Gerüchteküche DDR. Die Desinformationspolitik des Ministeriums für Staatssicherheit. In: Werkstatt Geschichte 13 (1996) 41-53. 31 Burde-Schneidewind, G.: Herr und Knecht. Antifeudale Sagen aus Mecklenburg. B. 1960; Meek, D. E. (ed.): Tuath is Tighearna (Tenants and Landlords). An Anthology of Gaelic Poetry of Social and Political Protest (1800-1890). Aberdeen 1995; Neumann, S.: Schwank und Witz als Medien sozialer Aussage. In: id. (ed.): Volksleben und Volkskultur in Vergangenheit und Gegenwart. Bern/Ffm. 1993, 49-65. - 32 Steinitz, W.: Dt. Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jh.en 1 - 2 . B. 1954/62; Foner, P. S.: American Labor Songs of the 19th Century. Urbana 1975; Green, Α.: Only a Miner. Studies in Recorded Coal-Mining Songs. Urbana 1972; Fowke, E./Glaser, J.: Songs of Work and Protest. N. Y. 1960; Haid, Η. und G. (edd.): Politisches Lied. Wien 1980. - "Hobsbawm, E. J.: Bandits. Harmondsworth 1972, 70-82; Adanir, F.: Haiduckentum und ösman. Herrschaft. In: Südostforschungen 41 (1982) 43-116; Romanska, C.: Die Haiduken in der bulg. Volksdichtung. In: Gülich-Bielenberg, H. (ed.): Die Volkskultur der südosteurop. Völker. Mü. 1962, 34-41. - 34 Hobsbawm (wie not. 33); Williams, F.: The Outlaw in Ireland. In: Handoo, J./ Kvideland, R. (edd.): Folklore. New Perspectives. Mysore 1999, 43-49. - 35 Foner (wie not. 32); Green (wie not. 32); Lied und polit'ische Bewegung, ed. Arbeiterliedarchiv der Akad. der Künste der DDR. Lpz. 1984; Reuss, R. Α.: American Folksongs and Left-Wing Politics. In: Oinas (wie not. 10) 9 - 3 1 . - 36 Herzfeld (wie not. 7) 101 sq.; Skendi, S.: The Songs of the Klephts and Haydouks - History or Oral Literature? In: Serta Slavica in memoriam Aloisii Schmaus, ed. W. Gesemann. Mü. 1971, 666-673; Romanska (wie not. 33). - 37 Oinas, F. J.: The Politi-

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Politik, Politisierung

cal Uses and Themes of Folklore in the Soviet Union. In: id. (wienot. 10) 77 - 95. - 38 Hadzinikolov, V.: Die sozialistische Lebensweise. In: Jb. für Vk. und Kulturgeschichte 22 (1979) 27-48; kritisch Volbrachtovä, L.: Über Volkskultur, Politik und Identität. In: Jeggle, U. u. a. (edd.): Tübinger Beitr.e zur Volkskultur. Tübingen 1986, 87-108. - 39 Zur Rolle der Volksdichtung in der sozialistischen Gesellschaft cf. Strobach, H. u.a. (edd.): Geschichte der dt. Volksdichtung. B. 1981, 167-185. - 40 Roth, K. und J.: The System of Socialist Holidays and Rituals. In: Ethnologia Europaea 20 (1990) 107-120. 41 ζ. B. auf dem „Nationalen Folklore Festival" 1981 und 1986 in Koprivstica, Bulgarien; cf. auch Simonides, D.: Rezente Erscheinungsformen der Märchen in Polen. In: Uther, J. (ed.): Märchen in unserer Zeit. Mü. 1990, 115-130, bes. 125-127. - 42 Krugljasova, V. P.: Narodnye rasskazy ο Lenine (k voprosu ο sostojanii neskazocnoj prozy) (Volkserzählungen über Lenin [zum Problem der gegenwärtigen Situation der nicht-erzählerischen Prosa]). In: Fol'klor Urala. Sverdlovsk 1980, 3-13. - 43 Silverman, C.: The Politics of Folklore in Bulgaria. In: Anthropological Quart. 56,2 (1983) 55-61; ead.: Peasants, Ethnicity, and Ideology in Bulgaria. In: Roth, K. (ed.): Die Volkskultur Südosteuropas in der Moderne. Mü. 1992, 295-310. - 44 Eisenfeld (wie not. 30). — 45 Neubauer, H.-J.: In der „Zone der Legendenbildung". Zu einigen Kontexten der amerikanischen „rumor clinics" im Zweiten Weltkrieg, ibid., 33 - 40. - 4 6 cf. Klüsen, E./Heimann, W.: Kritische Lieder der 70er Jahre. Ffm. 1978; Hetmann, F. (ed.): Protest. Lieder aus aller Welt. Ffm. 1967. - 47 Fine, G. Α.: Manufacturing Tales. Sex and Money in Contemporary Legends. Knoxville 1992; Rosnow, R. L.l Fine, G. Α.: Rumor and Gossip. The Social Psychology of Hearsay. Ν. Υ. 1976. — 48 Zu dieser politisch motivierten Anwendung von Folklore cf. die Beitr.e in: J. of Folklore Research 36,2-3 (1999) (Sonderheft „Cultural Brokerage. Forms of Intellectual Practice in Society"). - 49 Blümmer, Η.: Der bildliche Ausdruck in den Reden des Fürsten Bismarck. Lpz. 1891, 182-186; Miller, E./Villarreal, J. J.: The Use of Cliches by Four Contemporary Speakers. In: Quart. J. of Speech 31 (1945) 151-155; Titus, C. Α.: Political Maxims. In: California Folklore Quart. [= WF] 4 (1945) 377-389; Röhrich, L.: Die Bildwelt von Sprichwort und Redensart in der Sprache der politischen Karikatur. In: Kontakte und Grenzen. Festschr. G. Heilfurth. Göttingen 1969, 175-207; Mieder, W.: Das Sprichwort und die politische Sprache. In: id.: Das Sprichwort in unserer Zeit. Frauenfeld 1975, 14-22; Daniels, K.: Redensarten, Sprichwörter, Slogans, Parolen. In: Henrici, G./MeyerHermann, R. (edd.): Linguistik und Sprachunterricht. Paderborn 1976, 174-191; Mieder, W.: (Un-) sinnige Phrasendrescherei. Sprichwörtliche Prosatexte als sprachsoziol. Zeichen. In: Brednich, R. W./ Schmitt, H. (edd.): Symbole. Zur Bedeutung der Zeichen in der Kultur. Münster 1997, 145-162; id.: The Politics of Proverbs. From Traditional Wisdom to

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Proverbial Stereotypes. Madison/L. 1997; CampionVincent, V./Shojaei-Kawan, C.: Marie-Antoinette and Her Famous Saying. In: Fabula 41 (2000) 13-41. - 50 Gardner, G.: The Mocking of the President. A History of Campaign Humor from Ike to Ronnie. Detroit 1988; Hansen, K.: Das kleine Nein im großen Ja. Witz und Politik in der Bundesrepublik. Opladen 1990, 122-133; Orben, R.: Α Speech Writer on Humor and the Public. Γη: Thompson, K. W. (ed.): The Rhetoric of Modern Statesmanship. Lanham/L. 1992, 51-76, bes. 65-68. 51 Bülck, R.: „Lewer duad üs Slaw". Geschichte eines politischen Schlagwortes. In: Jb. des Vereins für ndd. Sprachforschung 74 (1951) 99-126; Kotz, V.: Slogans. In: Sprache im technischen ZA. 7 (1963) 538-546; Raymond, J.: Tensions in Proverbs. In: Western Folklore 15 (1956) 153-158. - 52 Wein, G.: Die Rolle der Sprichwörter und Redensarten in der Agitation und Propaganda. In: Sprachpflege 12 (1963) 51 - 52. - 53 Degh, L.: American Folklore and the Mass Media. Bloom. 1994, bes. 34-109. 54 Sauermann 1968 (wie not. 14); Steinitz (wie not. 32). - 55 Nlandu-Tsasa, C.: La Rumeur au Zaire de Mobutu. Radio-trottoir ä Kinshasa. P. [1988]; Marc, P.: De la Bouche ... ä l'oreille. Psychologie sociale de la rumeur. Neuchätel 198 7. - 56 Zur politischen Relevanz des Sprichworts cf. Voigt, G.: Karl Friedrich Wilhelm Wander und sein „Politisches Sprichwörterbrevier". In: Dt. Jb. für Vk. 2 (1956) 80-90. — 57 Röhrich (wie not. 49); Feldman, O.: Non-Oratorical Discourse and Political Humor in Japan. Editorial Cartoons, Satire, and Attitudes Toward Authority. In: Landtsheer, C. de/Feldman, O. (edd.): Beyond Speech and Symbols. Westport/L. 2000, 165-191. - 58 ibid., 166; cf. Hansen (wie not. 50). — 59 Röhrich, L.: Der Witz. Seine Formen und Funktionen. Mü. 21980, 210-216; Wöhlert, M.: Der politische Witz in der NS-Zeit am Beispiel ausgesuchter SD-Berichte und Gestapo-Akten. Ffm. 1997; Hoffmann, O.: Witze, Karikaturen und sonstige Ergötzlichkeiten aus dem III. Reich. Cassarata 1935; Rasch, J. (ed.): Politische Witze im Dritten Reich. Stg. 1992. - 60 Draitser, Ε. A. (ed.): Forbidden Laughter. Soviet Underground Jokes. L. Α. 1978; Kaiina, J.: Nichts zu lachen. Politik und andere Witze aus den Ländern des real existierenden Sozialismus. Mü. 1980; Florian, E. (ed.): Der politische Witz in der DDR. Humor als Gesinnungsventil. Mü. 1983; Banc, C./Dundes, Α.: First Prize: Fifteen Years! An Annotated Collection of Romanian Political Jokes. L./Toronto 1986; Wroblewsky, C. de (ed.): Wo wir sind ist vorn: Der politische Witz in der DDR. Hbg. (1986) erw. Ausg. 1990; Vasilev, Κ. V.: Smechüt srestu nasilieto. 45 godini vicove (Lachen gegen die Gewalt. 45 Jahre Witze). Sofia 1990; Schlechte, H. (ed.): Witze bis zur Wende. 40 Jahre politischer Witz in der DDR. Mü. 1993; Colombo, J. R. (ed.): Iron Curtains. Humor of the Soviet Union. Toronto 1996; Köhler-Zülch, I.: Der politische Witz und seine erzählforscherischen Implikationen. In: Festschr. Brednich (wie not. 24) 71-85. -

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Politis, Nikolaos Georgiou

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Dorson, R. M.: Theories of Myth and the Folklorists. In: id. 1972 (wie not. 25) 147-158; id.: Peasant Customs and Savage Myths. Chic./L. 1968. - 72 cf. bes. Herzfeld (wie not. 7); Herzfeld 1987, 1997 (wie not. 17); die Beitr.e in Oinas (wie not. 10); Dorson (wie not. 18). - 7 3 Naumovic, S.: Romanticists or

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Double Insiders? In: Ethnologia Balkanica 2 (1998) 101-120; Karakasidou (wie not. 17). - 7 4 Dundes, A. (ed.): Internat. Folkloristics. Classic Contributions by the Founders of Folklore. Boulder/N. Y./L. 1999, 131-136. - 7 5 Cirese, A. M.: Cultura egemonica e culture subalterne. Palermo 1971. - 76 Oinas, F.: The Problem of the Notion of Soviet Folklore. In: Folklore Today. Festschr. R. M. Dorson. Bloom. 1976, 379-397. - 7 7 cf. Bollmus, R.: Zwei Volkskunden im Dritten Reich. Überlegungen eines Historikers. In: Gerndt (wie not. 26) 49—60 (u.a. Beitr.e in dem Band). - 78 cf. Oinas (wie not. 10). - 79 cf. Voigt (wie not. 56); Trinks, K.: Karl Friedrich Wilhelm Wander. In: Wiss. Zs. der Technischen Hochschule Dresden 5 (1955-56) 567-578. - 8 0 Dundes (wie not. 74) 132. 81 v. Bruckbauer, M.: „... und sei es gegen eine Welt von Feinden!" Kurt Hubers Volksliedslg und -pflege in Bayern. Mü. 1991, 15. - 8 2 v. Kartari (wie not. 17) 62. - 83 Zur aktiven Beteiligung von Folkloristen im Dritten Reich cf. Bollmus (wie not. 77); Gajek, E.: Weihnachten im Dritten Reich. In: Ethnologia Europaea 20 (1990) 121 - 1 4 0 , hier 125 sq.; in einigen sozialistischen Ländern beinflußten Folkloristen die Minderheitenpolitik und wirkten in Kommissionen für die Ausarbeitung .sozialistischer Rituale' (cf. Roth [wie not. 40] 110-112) und in Jurys staatlich organisierter Folklore-Festivals mit. Zur heutigen Tätigkeit von Folkloristen im Bereich ,Public Folklore' cf. Bendix, R.AVelz, G.: Introduction. In: J. of Folklore Research 3 6 , 2 - 3 (1999) 111-125.

München

Klaus Roth

Politis, Nikolaos Georgiou, * Kaiamata 8. 3. 1852, f Athen 12. 1. 1921, Begründer der wiss. Vk. in Griechenland. 1868-72 studierte er Klass. Philologie, 1872-76 Jura an der Univ. Athen. 1876-80 setzte P. seine Studien in München fort, wo er vor allem mit K. Krumbacher, dem Begründer der wiss. Byzantinistik, in ein freundschaftliches Verhältnis trat. 1880-84 war er als Bibliothekar der Parlamentsbibliothek in Athen tätig, 1882 wurde er zum Dozenten für Altgriech. Mythologie an der Univ. Athen, 1884 zum Abteilungsleiter des Mittelschulwesens und 1885 zum Generalinspektor der Volksschulen ernannt. In dieser Funktion erließ er 1887 ein Rundschreiben an alle Lehrer mit der Aufforderung, volkskundliches Material zu sammeln. Seit 1889 war P. Mitherausgeber der Zs. Hestia, 1890 bis zu seinem Tod Professor für Altgriech. Mythologie und Archäologie1.

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Politis, Nikolaos Georgiou

Trotz der hist. Ausrichtung seiner akademischen Karriere beschäftigte sich P. weiterhin mit der rezenten griech. Vk. 1908 gründete er die Hellenike Laographike Hetaireia (Griech. Vk.-Ges.), die 1909 den ersten Band der Zs. Laographia (t. 37: 1998) herausbrachte. 1884 hatte P. den Ausdruck laographia (Volksbeschreibung) geprägt, der als griech. Bez. für Vk. bis heute verbindlich geblieben ist2. Im ersten Band der Zs. nahm er die erste wiss. Systematisierung von Volksüberlieferungen in verbale Zeugnisse und traditionelle Handlungen des Volkes in Griechenland vor 3 . P. gab für den Zeitraum 1907-20 eine griech. Nationalbibliographie heraus 4 . 1918 gründete er das Hellenikon Laographikon Archeion (Griech. Vk.archiv), das sich die systematische volkskundliche Materialsammlung zur Aufgabe gemacht hat. P. war im kulturellen Leben eine Persönlichkeit ersten Ranges: Er war Mitarbeiter mehrerer Kulturzeitschriften 5 , Initiator des Lit.preises für Dorfgeschichte und Heimatroman und ab 1883 Jurymitglied mehrerer Preisausschreiben für Poesie und Drama, Übersetzer (u.a. Boite d'argent [1906] von Alexandre Dumas fils) sowie ein Exponent der Lit.generation von 1880, die den Demotizismus als Lit.sprache durchsetzte und für eine Umorientierung der Nationalideologie in Richtung einer Aufwertung der Volkskultur eintrat 6 . P. veröffentlichte zuerst den Miszellenband Neohellenike Mythologia (preisgekrönt 1871, 2. Teil 1874)7, dann 1899-1902 das vierbändige Monumentalwerk Paroimiai (Sprichwörter; mit internat. vergleichendem Kommentar; nur bis zum Buchstaben E)8 sowie 1904 die zweibändige Slg Paradoseis (Sagen)9. 1914 erschien seine Slg Eklogai apo ta tragoudia tou hellenikou laou (Ausw. aus den Liedern des griech. Volkes), in der erstmals in Griechenland auf den Wert der Var.nforschung hingewiesen wurde 10 . Die zahlreichen, verstreuten wiss. und populärwiss. Studien von P. kamen in Laographika symmeikta 1—4 (Volkskundliche Miszellen) heraus, von denen zwei Bände noch zu seinen Lebzeiten erschienen11. Das wiss. Werk von P., der sich mit der Vk. in ihrer ganzen Breite auseinandergesetzt hat, verläuft entlang zweier Koordinatenachsen: einer horizontal-vergleichenden (unter Einbeziehung des gesamten damals bekannten ethnogr.

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und kulturanthropol. Materials) und einer vertikal-hist., die ihren Ausgangspunkt im alten Griechenland nimmt und die rezente Volkskultur vorwiegend als ,Restbestand' betrachtet (-+ Survivaltheorie)12. Diese Theorie ist im kulturhist. Kontext der neugriech. Nationalideologie (-• Nation, Patriotismus) des 19. Jh.s zu sehen13, die dem Kontinuitätstheorem verpflichtet war und dem seinerseits verschiedene Wiss.szweige, u. a. die Vk., dienten 14 . P. war einer der großen Anreger und Forschungsförderer; seine Schüler S. P. -• Kyriakides und G. A. ->• Megas, beide Direktoren des Griech. Vk.archivs und Herausgeber der Laographia, entwickelten sein wiss. Konzept der Vk. im 20. Jh. weiter. Von bes. Interesse für die Erzählforschung ist P.s Sagensammlung, die im ersten Band ca 1000 thematisch gegliederte Texte umfaßt, während der Kommentarband (der allerdings nur die ersten 644 Nummern berücksichtigt) eine Reihe von weitreichenden Studien enthält (zu Versteinerter König, Schloß der Schönen, Altweibertragen, Hausschlange [-• Schlange], -> Gorgonensage, Kallikantzaren), die einen bleibenden Platz in der internat. Erzählforschung gefunden haben 15 . Wegweisend waren auch P.s Kommentare zu verschiedenen Märchensammlungen 16 , seine Studien zu den Akritenliedern17, zum -> Georgs-Lied18 sowie zu byzant. Sagen (-+ Byzant. Erzählgut) 19 . 'Kyriakides, S.: N. G. P. In: Laographia 7 (1923) 9 - 5 1 ; Boehm, F.: N. G. P. In: ZfVk. 3 0 - 3 2 (1920-22) 110 sq. - 2 Alexiades, Μ. Α.: He hellenike kai diethnes epistemonike onomatothesia tes laographias (Die griech. und internat. Terminologie der Vk.). Athen 1988, 4 1 - 4 5 . - 3 P., Ν.: Laographia. In: Laographia 1 (1909) 3 - 1 8 ; cf. Loukatos, D.: Eisagöge sten hellenike laographia (Einführung in die griech. Vk.). Athen 1977, 68 sq.; Megas, G. Α.: Eisagöge eis ten laographian (Einführung in die Vk.). Athen 1967, 6 9 - 7 4 . - 4 P., Ν.: Heilenike bibliographia (1907-1920) 1 - 3 . Athen 1909-27. 5 cf. Kyriakides (wie not. 1) 2 7 - 5 1 (Bibliogr. der Werke von N. G. P.). - 6 cf. Demaras, K.: Historia tes neohellenikes logotechnias (Geschichte der neugriech. Lit.). Athen 1968, 356; Polites, L.: Historia tes neas hellenikes logotechnias (Geschichte der neugriech. Lit.). Athen 4 1978, 189 sq. - 7 P., Ν.: Neohellenike mythologia (Neugriech. Mythologie) 1 - 2 . Athen 1871/74. - 8 id.: Meletai peri tou biou kai tes glösses tou hellenikou laou. Paroimiai (Studien zum Leben und zur Sprache des griech. Volkes. Sprich-

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Polivka, Jiri

Wörter) 1 - 4 . Athen 1899/1900/01/02 (Nachdr. Athen 1965). - 9 id.: Meletai peri tou biou kai tes glösses tou hellenikou laou. Paradoseis (Studien zum Leben und zur Sprache des griech. Volkes. Sagen) 1 - 2 . Athen 1904 (Nachdr. Athen 1965). - 10 Zur Kritik der Methode Apostolakes, G. M.: Ta demotika tragoudia. A: Hoi sylloges (Die Volkslieder. 1: Die Slgen). Athen 1929, 274-325. "P., Ν.: Laographika symmeikta (Volkskundliche Miszellen) 1 - 4 . Athen 1920/21/30/80 (Nachdr. t. 2 1975). - 12 Kyriakidou-Nestoros, Α.: He theöria tes hellenikes laographias (Theorie der griech. Vk.). Athen 1978, 99-110. - 13 Herzfeld, M.: Ours Once More. Folklore, Ideology and the Making of Modern Greece. Austin 1982, 97-122, 145-148; Beaton, R.: Folk Poetry of Modern Greece. Cambr. 1980, 1-12; Danforth, L. M.: The Ideological Context of the Search for Continuities in Greek Culture. In: J. of Modern Greek Studies 3 (1984) 53-87; Kyriakidou-Nestoros, Α.: Introduction to Modern Greek Ideology and Folklore. In: J. of Modern Hellenism 3 (1986) 35-46. - 14 Puchner, W.: Ideologische Dominanten in der wiss. Beschäftigung mit der griech. Volkskultur im 19. Jh. In: Zs. für Balkanologie 35,1 (1999) 46-62; Veloudis, G.: Jacob Philipp Fallmerayer und die Entstehung des neugriech. Historismus. In: Südost-Forschungen 39 (1970) 43-90. - 15 cf. die ausführliche Rez. von K. Dietrich in: ZfVk. 15 (1905) 123-126. - 16 Laographia 1 (1909) 77-81, 107-120; 2 (1910) 371-384; 4 (1913-14) 341-343; 5 (1915-16) 469-488. - 17 ibid., 169-275. - 18 ibid. 4 (1913-14) 185-235. - "ibid. 6 (1917/18) 346-367.

Athen

Walter Puchner

Politischer Witz -» Witz

Polivka, Jiri, * Enns (Österreich) 6. 3. 1858, t Prag 21. 3. 1933, tschech. Slavist, Lit.Wissenschaftler und Folklorist. P. absolvierte das dt. Gymnasium in Prag und studierte slav. Philologie an den Univ.en Prag (u.a. bei J. Gebauer) und Agram (u. a. bei L. Geitier). Unter Geitiers und V. Jagics Einfluß begann er sich mit mittelbulg. Sprachdenkmälern zu beschäftigen. 1882 wurde er in Wien promoviert und habilitierte sich 1884 an der Karls-Univ. Prag. Danach unternahm er mehrere wiss. Reisen in slav. Länder, um 1889/90 stand er in Moskau und St. Petersburg in Kontakt mit A. N. Pypin, Α. N. Veselovskij und N. S. Tichonravov. 1895 wurde er Professor für slav. Philologie an der Karls-Univ. Seine wiss. Arbeit und Verdienste wurden durch Mitglied-

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schaften in wiss. Akad.n vieler europ. Länder gewürdigt1. In P.s vielseitiger wiss. Tätigkeit überwiegen neben sprachwiss. und philol. bes. literaturhist. und folkloristische Arbeiten2. Angeregt durch die vergleichende Methode der russ. Schule untersuchte er ma. Stoffe in der slav. Lit., ζ. Β. den Bruncvik- (-> Herzog Ernst; -> Löwentreue) und Griseldastoff (AaTh 887: Griseldis)3. P. zufolge haben diese ,unpoetischen Schöpfungen' Bedeutung für die Lit.geschichte, da die Vorliebe für legendäre und apokryphe Stoffe den literar. Geschmack widerspiegelt. Seit Beginn der 90er Jahre des 19. Jh.s veröffentlichte P. in in- und ausländischen Zss. bibliogr. Übersichten und Rez.en zu volkskundlichen Veröff.en4 sowie Analysen slav. Erzählstoffe und ihrer Beziehung zur Weltliteratur nach dem Beispiel R. Köhlers, wodurch er vor allem westeurop. Wissenschaftler mit den Überlieferungen der slav. Völker bekannt machen wollte. Hierzu gehören ζ. B. die Studien über AaTh 325: Zauberer und Schüler sowie AaTh 545 B: Der gestiefelte Kater5, die u.a. sowohl P.s profunde Kenntnisse bulg. Materialien als auch seine Verbundenheit mit der südslav. Folkloristik dokumentieren 6 . Grundsätze, Ausrichtung und Bedeutung einer vergleichenden Erzählforschung (-• Komparatistik) legte P. in einer wichtigen Studie dar 7 . Im wesentlichen vertrat er die -> Wandertheorie und zog Polygenese lediglich für Motive, nicht aber für Erzähltypen mit komplexen Motiwerbindungen in Betracht. Bei der Migration von Märchen bliebe der Handlungskern erhalten, während sich u. a. der Stil und episodische Zutaten änderten 8 . Seit Anfang des 20. Jh.s konzentrierte sich P. auf die vergleichende Erforschung der slav. Volksmärchen. In seiner umfassenden Studie zum Märchen 9 sah er Erzähltraditionen verschiedener Völker weniger durch Sprachverwandtschaft als durch die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kulturkreis bestimmt. Für ganz Europa unterschied P. einen west- und mitteleurop. sowie einen ost- und einen südosteurop. Erzählkreis und betonte, daß Slaven in allen drei Kreisen vertreten seien, ζ. B. Westslaven, Slovenen und Kroaten im westund mitteleurop. Unter bes. Berücksichtigung slav. Materials publizierte P. bedeutende mo-

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Polivka, Jiri

nogr. Abhdlgen über zahlreiche Erzähltypen und -Stoffe, z.B. über AaTh 1640: ->· Tapferes Schneiderlein, AaTh 571: Klebezauber, AaTh 306: Die zertanzten Schuhe, AaTh 810 A: - Buße des Teufels10, AaTh 676 + 954: Ali Baba und die vierzig Räuber, AaTh 981: —• Altentötung, AaTh 500: Name des Unholds oder über die Personifikationen von Tag und Nacht 11 . Auf Initiative J. Horäks und V. -> Tilles wurde zu P.s Lebzeiten eine Ausw. seiner Abhdlgen publiziert12. Seit Anfang des 20. Jh.s wandte sich P. noch einem weiteren Arbeitsgebiet zu. Er gab die Märchen tschech. Sammler wie ζ. B. die J. S. Kubins heraus 13 und versah sie mit umfangreichen Kommentaren. Bereits 1901 hatte J. ->• Bolte P. die Mitherausgabe an den Anmerkungen zu den Kinder- u. Hausmärchen der Brüder ->• Grimm (BP) angetragen 14 , für die P. vor allem slav. und in slav. Sprachen vorliegendes Material einbrachte. Dank der Zusammenarbeit dieser beiden Gelehrten entstand ein Werk, das sich nicht nur durch seinen Umfang, sondern auch durch die Genauigkeit der Angaben auszeichnet. Durch die internat. Rezeption von BP verwirklichte sich auch P.s Ziel, slav. Volksmärchen der westeurop. Forschung zugänglich zu machen. In seinem fünfbändigen Werk Sup is slovenskych rozpravok ([Verz. slovak. Märchen]. Turciansky Sv. Martin 1923/24/27/30/31) faßte P. die slovak. Volksprosa, wie sie in den hs. ,Prostonärodne zäbavniky' (Volkstümliche Unterhaltungen) und den sog. Codexy (hs. Aufzeichnungen verschiedener Sammler) vom Beginn des 19. Jh.s bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges dokumentiert war, zusammen. Diese monumentale Slg stellt ein Gegenstück zu Tilles Verz. tschech. Märchen 15 dar. Während Tille sich auf das Märchen beschränkte, hatte P. die gesamte Volksprosa im Blick, ζ. B. auch Sagen und Lebensgeschichten, wodurch ein Mosaikbild der slovak. Volksprosa entstand. Das Verz. P.s wurde im Unterschied zu dem Tilles von S. - Männermärchen, den ->• Erzählern, dem -> sozialen Milieu sowie Eingangs· und -> Schlußformeln bei den Slaven insgesamt. Im Hauptteil folgen den wichtigsten Märchensammlungen jedes ostslav. Volkes hist.-bibliogr. Übersichten. Die größte Beachtung fanden die Großrussen; bei den Weißrussen berücksichtigte P. M. -» Federowski und bei den Ukrainern V. M. Hnatjuk. In diesem Werk ging P. verstärkt auf die Form der Märchen, bes. auf die Eingangs- und Schlußformeln, ein, denen er bereits eine ausführliche Studie gewidmet hatte (darin u.a. Hinweis auf die Entwicklung von Eingangsformeln zu selbständigen ,Einl.smärchen', sog. priskazki, in russ. Märchen) 17 . Wenngleich P. hinsichtlich einer slav. literar. Gemeinsamkeit zurückhaltend war, vertrat er den Standpunkt einer gegenseitigen kulturellen Wechselwirkung. Auf P. hatte nachhaltig Veselovskij durch die weite kulturpsychol. Auffassung seiner Arbeiten gewirkt, die slav. Märchenstoffe in den Kontext westeurop. vergleichender Lit.wiss. und Folkloristik stellten. Auf dem Gebiet der Komparatistik wird P. als ein kritischer Anhänger der Wandertheorie angesehen, dessen Vorgehen der geogr.-hist. Methode vergleichbar ist. Als profunder Kenner slav. Überlieferungen und als Vermittler zwischen den Kulturen nimmt P. in der Geschichte der tschech. und slovak. sowie allg. der europ. Slavistik und Folkloristik eine herausragende Stellung ein. 1

P., J. In: Ottüv slovnik naucny. Prag 1903, 115; P., J. In: Masaryküv slovnik naucny 5. Prag 1931, 847; Bolte, J.: G. P. Nachruf. In: ZfVk. 42 (1933) 291; P., J. In: Ottüv slovnik naucny nove doby. Prag 1937, 1226 sq.; Horäk, J.: J. P. 1858-1958. In: Ceskoslovenskä etnografie (1958) 315-317; Gasparikovä, V.: P., J. In: Enc. l'udovej kultüry Slovenska 2. Bratislava 1995, 59 sq. — 2 cf. Tille, V.: Polivkovy Studie ze srovnävaci literatury (P.s Studien aus der vergleichenden Lit.). In: Festschr. J. P. Prag 1918, 1-216; Mächal, J.: Literärne-historicke präce Polivkovy (Literarhist. Arbeiten P.s). ibid., 217-228; Weingart, M.: J. P. a slovanskä lidoveda (J. P. und die slav. Vk.). ibid., 229-234; Haskovec, P. M.: Vzpominka (Erinnerung), ibid., 235 sq.; Paul, K.: Tricetilete jubi-

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Poliziano,ι, Angelo

leum (30jähriges Jubiläum), ibid., 237 sq.; Horäk, J.: Soupis praci prof. dra. J. Polivky 1879-1918 (Verz. der Arbeiten von Prof. Dr. J. P.). ibid., 239-256; id.: J. P. Vzpominka jubilejni (J. P. Jubiläumserinnerungen). In: Närodopisny vestnik ceskoslovansky 21 (1928) 1 - 1 2 (mit Bibliogr.); Fischer, Α.: Siedemdziesifciolecie prof. dr. Jerzego Polivki (Zum Siebzigsten Prof. Dr. J. P.s). In: Lud 27 (1928) 194-197; Kudelka, M.: P. J. In: Ceskoslovenske präce ο jazyce, dejinäch a kulture slovanskych närodü od r. 1760. ed. id./Z. Simecek. Prag 1972, 3 8 9 - 3 9 2 (Bibliogr.). - 3 P., J.: Kronika ο Bruncvikovi ν ruske literature (Die Chronik des Hauses Braunschweig in der russ. Lit.). Prag 1892; id.: Dve povidky ν ceske literature (Zwei Erzählungen in der tschech. Lit.). Prag 1889; id.: Drobne prispevky literärne-historicke (Kleine literarhist. Beitr.e). Prag 1891. - 4 cf. Horäk 1928 und Kudelka (wie not. 2). - 5 P., J.: Magosnikät i negovijat ucenik (Der Zauberer und sein Schüler). In: SbNU 15 (1898) 393-448; id.: Le Chat botte. ibid. 1 6 - 1 7 (1899) 782-841. - 6 cf. Broucek, S.: J. P. a cesko-bulharske vedecke kontakty (J. P. und die tschech.-bulg. wiss. Kontakte). In: CL 67 (1980) 196-202; Parpulova-Gribül, L.: J. P. i bülgarskata nauka (J. P. und die bulg. Wiss.). In: Bülgarski folklor 3 (1988) 37—40; cf. auch die spätere Ausg. der Hss. des Sammlers S. Verkovic: Lidove povidky jihomakedonske (Südmazedon. Volksmärchen), ed. P. A. Lavrov/J. P. Prag 1932. - 7 P., J.: Ο srovnävacim studiu tradic lidovych (Uber die vergleichende Erforschung der Volkstraditionen). In: Närodopisny sbornik ceskoslovansky 2 (1898) 1 - 4 9 . - 8 cf. auch Horälek, K.: J. P. und V. Tille. In: Beitr.e zur Geschichte der Slawistik, ed. Η. M. Bielfeldt/K. Horälek. B. 1964, 5 8 - 8 0 , hier 68. - 9 P., J.: Pohädkoslovne Studie (Märchenkundliche Studien). Prag 1904 ( = Närodopisny sbornik ceskoslovansky 10,2). - 10 ibid., 1 - 6 5 , 6 7 - 1 0 6 , 107-141, 160-180. " P . , J.: Ali-Baba i cetrdeset razbojnika (Ali Baba und die 40 Räuber). In: Zbornik za narodni zivot i obicaje juznih Slavena 12 (1907) 1 - 4 8 ; id.: Seit welcher Zeit werden die Greise nicht mehr getötet? Slav. Parallelen. In: ZfVk. 8 (1898) 2 5 - 2 9 ; id.: Tom Tit Tot. ibid. 10 (1900) 254-272, 382-396, 438 sq.; id.: Personifikationen von Tag und Nacht im Volksmärchen. ibid. 26 (1916) 313-322; 27 (1917) 68 sq.; 29 (1919) 29, 44 sq. - 12 P., J.: Lidove povidky slovanske (Slav. Volksmärchen) 1 - 2 . ed. J. Horäk/V. Tille. Prag 1929/39 (u.a. Beitr.e zu AaTh 555, 1641, 567, 325, 545, 725 und 517 in dt., bulg. und tschech. Sprache). - 13 Kubin, J. S.: Povidky kladske (Erzählungen aus Kladsko [ehemalige Grafschaft Glatz]) 1 - 2 . Bibliogr. Kommentar J. P. Prag 1908/10-14; id.: Lidove povidky ζ ceskeho Podkrkonosi (Volkserzählungen aus dem tschech. Riesengebirgsvorland) 1 - 2 . ed. J. P. Prag 1923/26; P., J. (ed.): Povidky lidu opavskeho a hanäckeho (Volkserzählungen aus der Umgebung von Opava und der Hanä). Prag 1916; cf. Jech, J.: Tschech. Volksmärchen. B. 2 1984, 435 sq. - 1 4 Bolte (wie not. 1). - 15 Tille, Soupis; cf. Horälek (wie not. 8); Gasparikovä, V.: Ku geneze Poliv-

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kovho Süpisu slovenskych rozprävok (Zur Entstehung von P.s „Süpis slovenskych rozprävok"). In: Festschr. J. Michälkow. Bratislava (im Druck). 16 cf. Horälek (wie not. 8) 69 sq.; Bogatyrev, P. G.: Poslednyj trud prof. Ju. I. Polivki ο vostocnoslavjanskich skazkach (Die letzte Arbeit Professor J. I. P.s über ostslav. Märchen). In: Central'naja Evropa (1933) 339-341. - 17 P., J.: Üvodni a zäverecne formule slovanskych pohädek (Anfangs- und Schlußformeln slav. Märchen). In: Närodopisny vestnik ceskoslovansky 19 (1926) 1 - 1 6 , 7 5 - 8 8 , 145-160, 209-224; ibid. 20 (1927) 1 - 1 6 , 85-100, 181-200. Bratislava

Viera G a s p a r i k o v ä

Poliziano, Angelo ( i . e . A n g e l o A m b r o g i n i ) , * M o n t e p u l c i a n o 14. 7. 1454, F l o r e n z f 28./ 29. 9. 1494, ital. D i c h t e r , H u m a n i s t , einer d e r b e d e u t e n d s t e n G e l e h r t e n d e r ital. Renaissance 1 . P. w u r d e c a 1 4 6 7 - 6 9 z u r F o r t f ü h r u n g seiner S t u d i e n n a c h F l o r e n z geschickt u n d h ö r t e d o r t u . a . bei J o h a n n e s A r g y r o p u l o s Griechisch, Christoforo L a n d i n o Latein und bei M a r s i l i o F i c i n o P h i l o s o p h i e . G e f ö r d e r t d u r c h L o r e n z o d e ' M e d i c i , f a n d er 1473 eine A n s t e l l u n g als dessen p e r s ö n l i c h e r S e k r e t ä r u n d w u r d e 1475 H o f l e h r e r v o n dessen S ö h n e n Piero u n d G i o v a n n i (später Papst L e o X.). N a c h e i n e m Streit m i t L o r e n z o s F r a u C i a r i c e O r s i n i 1479 a u s d e m M e d i c i - H a u s h a l t ausgeschlossen, u n t e r n a h m P. m e h r e r e R e i s e n d u r c h N o r d i t a l i e n , k e h r t e a b e r bereits 1480 n a c h F l o r e n z z u r ü c k u n d erhielt d o r t a u f L o r e n z o s E m p f e h l u n g den Lehrstuhl f ü r Rhetorik und P o e t i k . P. h a t t e vielfaltige I n t e r e s s e n , so bes. a n a n t i k e n u n d m a . phil. S t r ö m u n g e n ; er bes c h ä f t i g t e sich u. a. m i t G e s c h i c h t e , Politik, Rechtswissenschaft, Architektur u n d Botanik. F ü r die Medici-Bibl. u n t e r n a h m e r R e i s e n n a c h B o l o g n a , F e r r a r a , P a d u a u n d Venedig u n d s p ü r t e d a b e i alte H s s . a u f . Als einer d e r e r s t e n t r a t er f ü r v o l k s s p r a c h l i c h e D i c h t k u n s t ein, t a t sich a b e r bes. als Ü b e r s e t z e r vieler K l a s s i k e r a u s d e m G r i e c h i s c h e n ins L a t e i n i sche h e r v o r . P.s vielfältiges S c h r i f t t u m u m f a ß t V e r ö f f . e n seiner V o r l e s u n g e n , hist.-literar. Betrachtungen der Werke antiker Autoren u n d ihres E i n f l u s s e s a u f s p ä t e r e G e l e h r t e sowie S c h r i f t e n f ü r d e n S c h u l g e b r a u c h 2 . P. e n t w i k kelte ein S c h e m a z u r philol. R e k o n s t r u k t i o n d e r U b e r t r a g u n g s f o l g e v o n Texten, d a s bis ins 19. J h . A n w e n d u n g f a n d .

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Poliziano.ι, Angelo

Bereits mit 13 Jahren gab P. eine Ausg. lat. Briefe heraus, fünf Jahre später folgte eine Catull-Ausg. Auch verfaßte er zahlreiche lat. und griech. Versdichtungen (Elegien, Oden, Epigramme). Das 1494 veröff. mythol. Drama [Favola d'JOrfeo (-> Orpheus) gilt als eines der ersten Stücke in ital. Sprache und als Prototyp des Schäferspiels3. Für die Erzählforschung bedeutsam ist die u. d. T. Bel libretto (auch Detti piacevoli) bekannte Slg von Fazetien, Anekdoten, Bonmots, Fabeln, Lügengeschichten, Exempla, Wortwitzen, Wortspielen, Sprichwörtern und sprichwörtlichen Redensarten. Sie entstand nach den Forschungen A. -> Wesselskis offenbar zwischen 1477 und 1479 und kann als eine Art Tagebuch angesehen werden4. Viele Indizien sprechen für P.s Urheberschaft, der als intimer Kenner des Florentiner Lebens diese Alltagsgeschichten und Anekdoten, die man sich am Hofe der Medici und andernorts erzählte5, zusammengestellt haben dürfte 6 . Erstmals im Druck erschien die Slg als erster Teil in der von dem Vielschreiber Lodovico -> Domenichi zusammengestellten Slg Facetie et motti arguti di alcuni eccellentissimi ingegni et nobilissimi signori (Florenz 1548), die mehrfach verändert wurde und unter wechselnden Titeln bis 1609 allein in Italien mehr als 20 Aufl.η erlebte7. Domenichi gab an, das Ms. von ,Padre Stradino' (i. e. Giovanni Mazzuoli aus Strada) erhalten zu haben. Der Bel libretto enthält 413 zumeist kurze Texte, deren Handlungsträger Angehörige politisch und wirtschaftlich einflußreicher Kreise (bes. aus der Familie de' Medici), Herrscher, Hofleute, Adlige, Vertreter des hohen und niederen Klerus (ζ. B. Arlotto -» Mainardi) sowie Dichter (-+ Dante), Maler (Botticelli) und Bildhauer (Donatello) sind, aber auch Leute aus dem Volk, Bauern, Bürger, Pferdeverkäufer, Zimmerleute, Mägde oder Kaufleute. Tradiert werden darüber hinaus, oft mit beißendem Spott, ethnische -> Stereotypen (Deutsche, Franzosen, Iren, Engländer); frauenfeindliche Einstellungen sind durchgängig vertreten. P. enthält sich sonst jeder subjektiven Bewertung des Geschehens. Bemerkenswert ist die Tatsache, daß eine größere Anzahl der Texte die Begebenheiten unter Anspielung auf zeitgenössische Institutionen und Ereignisse und mit Nennung leben-

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der Persönlichkeiten schildert. Dies verleiht den Geschichten einen hohen Grad an Aktualität und erlaubt den Rückschluß, daß sie zumindest teilweise mündl. in der städtischen Überlieferung kursiert haben könnten. Die Erzählinhalte und -motive sind ζ. T. literar. schon früher belegt, haben Entsprechungen in thematisch vergleichbaren Slgen wie den Fazetien Poggios oder den Novellen Anton Francesco Donis. P. bringt als erster Anekdoten über den Pfarrer Arlotto 8 , darunter auch die wohl älteste Fassung der Lügengeschichten über den großen Kohlkopf und den riesigen Kessel (num. 92 = AaTh 1960 D + AaTh 1960 F: cd. Die ungewöhnliche -» Größe). Erzählorte sind zumeist toskan. Städte wie Florenz, Siena und Lucca, aber auch andere ital. Orte wie Rom und Neapel, gelegentlich eine andere europ. Großstadt wie London. Während P.s Werke (bes. Briefe, Vorträge, lat. Poesie) im 16./17. Jh. in ganz Europa ungemein nachwirkten 9 , ist die Rezeption einzelner Fazetien, Anekdoten und anderer Texte und Sprichwörter des Bel libretto in den meisten Fällen nicht sicher zu erweisen. Allerdings gibt es zahlreiche ital., frz. und auch dt. Slgen des 16./17. Jh.s, welche die gleichen Stoffe darbieten. E r z ä h l t y p e n und - m o t i v e (Ausw.)10: num. 39 = Frau beichtet Vergewaltigung durch 50 Knechte. Priester erteilt Absolution; die Frau freut sich, keine Sünde begangen zu haben (Mot. Τ 458). - 90 = Armseliger grauer Mantel mit feinem Tuch geflickt: „Wäre er auch sonst noch so!" (Rotunda J 1115.5.1). - 92 = AaTh 1960 D + AaTh 1960 F: cf. Größe: Die ungewöhnliche G. — 114 = Schielender Scholar als Tüchtigster gelobt: kann beide Seiten eines Buchs auf einmal lesen. - 140 = Für jeden Großen ist ein Feind zu viel, und 100 Freunde sind zu wenig. — 156 = Die Florentiner können ihren Verstand nicht verlieren, weil sie nie einen hatten. - 196 = AaTh 110: Katze mit der Schelle. - 214 = Geistlicher, mit großen Ehren bewirtet, um ihn empfänglicher für eine höhere Steuer zu machen, warnt, es möge ihm nicht so ergehen wie -> Christus, dem die Juden mit Ölzweigen und Palmen entgegengegangen seien und ihn danach gekreuzigt hätten (Mot. J 1265.1). - 207 = Trotz Fastenzeit kocht Mönch durch Hinund Herwenden Eier an Kerzenflamme. Vom Abt ertappt, rechtfertigt er sich, dies vom Teufel gelernt zu haben. Der Teufel, unter dem Tisch verborgen, kommt hervor und behauptet, er habe es vielmehr vom Mönch gelernt (Mot. G 303.25.10). - 215 = AaTh 1591: Die drei - Gläubiger. - 216 = AaTh 1358 C: cf. - Ehebruch belauscht. - 217 = AaTh

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Polo, Marco

1423: Der verzauberte -» Birnbaum. - 222 = cf. AaTh 1543 A*: A Combing-machine. - 227 = AaTh 1842: - Testament des Hundes. - 287 = AaTh 778*: cf. -» Kerzen für den Heiligen und den Teufel. - 326 = AaTh 1585: - Pathelin. - 341 = AaTh 1826: cf. Predigtschwänke. - 342 = Auf die Klage von Leuten, ihnen sei ein schlechtes Pferd geliehen worden, bewirkt Geistlicher durch Schläge, daß es zu traben beginnt (Mot. J 2481). - 343 = Dieb gibt gestohlene Fische als Eigentum aus und sagt, sie seien bestimmt nicht weggekommen, wenn der Bestohlene die Fische, wie er es getan, in die Ärmel gesteckt hätte (Mot. J 1604). - 350 = Verborgen hinter der Statue des hl. -> Johannes Baptista ruft ein Mann einem Beter zu: „Deine Frau ist eine Hure, und dein Söhnchen wird bald gehenkt!" Der Mann antwortet, der Heilige habe immer nur Böses gesagt, darum sei ihm auch der Kopf abgeschlagen worden (Mot. Κ 1971.8; Der gefoppte - Beter). - 353 = AaTh 1543: Keinen Pfennig weniger.

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Hans-Jörg Uther

ter und Onkel waren von Konstantinopel aus nach Innerasien auf Handelsreisen gegangen2 und aufgrund von Kriegswirren weiter nach Osten bis zur Residenz des Großkhans der Mongolen, Kublai, in Nordchina vorgestoßen. Mit einer Botschaft des Khans an den Papst kamen sie 1269 nach Italien zurück, um 1271, in Begleitung von Μ. P., erneut zum Hof Kublais aufzubrechen; die Rückkehr nach Venedig erfolgte vermutlich 12953. Berühmt wurde Μ. P. durch seinen geogr.ethnogr. Traktat, dessen altfrz. Titel Divisament dou monde den Anspruch einer umfassenden .Beschreibung der Welt' erhebt4; im ital. Bereich setzte sich bald die Bezeichnung Milione durch, die eventuell auf einen Beinamen der Familie Polo zurückgeht 5 . Das Werk ist in ca 150 Hss. überliefert, die voneinander abweichende Fassungen unterschiedlichen Umfangs in verschiedenen Sprachen (altfrz., venezian., toskan., lat. etc.) enthalten 6 . Einem Teil der Hss. zufolge ist das Divisament dou monde 1298 in einem Genueser Gefängnis in Zusammenarbeit mit Rusticiaus de Pise (Rustichello oder Rusticiano von Pisa) entstanden, der vermutlich mit dem gleichnamigen Verf. einer altfrz. Kompilation von Artusromanen (-• Grimm als eine dritte Möglichkeit und als die ihrer Ansicht nach vom hist. Standpunkt aus bedeutsamste Erklärung ins Auge gefaßt worden war. In der 2. Hälfte des 19. Jh.s fand die P. energische Verfechter in A. Lang und zeitgenössischen Adepten der sog. -> Anthropol. Theorie, die sich in Deutschland und England gleichzeitig mit der diffusionistischen Schule in der Volkserzählforschung, aber in tendenzieller Opposition dazu entwickelte. In Frankreich, wo Benfey zuerst mit G. Paris und E. Cosquin bedeutende Forscher als Anhänger

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gewonnen hatte, bildete Langs Behandlung der Märchen -» Perraults vielleicht einen Auslöser für J. Bedier, dessen ->· agnostische Theorie deutliche Gemeinsamkeiten mit der Theorie der P. aufweist2. In Mittel- und Nordeuropa, wo die Unters, von Volkserzählungen einen Teilbereich der nationalen Philologien bildete (was in England nie und in Frankreich nur bis zu einer gewissen Zeit der Fall war), besaß die Wandertheorie sehr viel stärkeres Gewicht. Zweifellos das wichtigste folkloristische Modell im späten 19. und in der 1. Hälfte des 20. Jh.s war die von den Finnen J. und K. Krohn begründete geogr.-hist. Methode, in der P. kaum je in Erwägung gezogen wurde. Bereits in den 1880er Jahren erklärte J. Krohn in bezug auf die anthropol. Theorie, die P. komplexer mündl. Erzählungen widerspräche aller psychol. Wahrscheinlichkeit3. 70 Jahre später wurde dieser Standpunkt von W. -»· Anderson bekräftigt, der sarkastisch feststellte, die Theorie der P. von Märchen sei ein Relikt „aus der Mottenkiste der Romantik" 4 . Die aus praktischer Vernunft genährte Ansicht, daß komplexe Erzählungen monogenetisch entstehen, während einfache, auf Volksglaubensvorstellungen beruhende Geschichten durch P. erklärt werden könnten, findet sich in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen in den Schriften von Wissenschaftlern mit so unterschiedlichem geistigen Hintergrund wie dem Nordamerikaner Α. H. Krappe und dem Österreicher A. -» Wesselski5. Die Monogenese bildete auch in der nord. Erzählforschung die vorherrschende Theorie, bis die P. in den 1950er Jahren erneut in die Debatte geworfen wurde. Hauptsächlich war dies die Konsequenz einer Kampagne gegen die finn. geogr.-hist. Methode, angeführt von dem Schweden C. W. von -> Sydow, dessen Schüler J.-Ö. Swahn von der Möglichkeit einer P. komplexer Märchen ausging und in dieser Hinsicht wohl den Dänen B. Holbek beeinflußte 6 . P. in der ihr schon von W. Grimm zugeschriebenen beschränkteren Anwendbarkeit ist nach wie vor ein Bestandteil des begrifflichen Systems der dt. Erzählforschung: K. Ranke, der Begründer der EM, berief sich nicht selten darauf 7 , und sie wird immer noch von Zeit zu Zeit in monogr. Art.n der EM zur Erklärung herangezogen (ζ. B. AaTh 250 A: -» Flunder [H. -> Lixfeld]; AaTh 531: —• Ferdinand

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Polykrates: Ring des P.

der treue und F. der ungetreue [W. Pape]; AaTh 555: -» Fischer und seine Frau [H. Rölleke]; AaTh 1950: Faulheitswettbewerb [E. Moser-Rath]). In Nordamerika folgte in der Nachkriegszeit auf die geogr.-hist. Schule S. -• Thompsons eine Generation von Wissenschaftlern, die an den Ursprüngen und der Geschichte der Volkserzählung weithin uninteressiert war; die Frage der P. wurde zwar 1980 von D. J. Ward erneut aufgeworfen, dessen Beitrag jedoch ohne Resonanz blieb8. Unter den erwähnten neueren Unters.en beweisen diejenigen, die für etwas anderes als die allereinfachsten Handlungen und Themen polygenetischen Ursprung vorsehen, wohl nicht so sehr die Nützlichkeit des Konzepts als vielmehr, daß die Grenzen zwischen den einzelnen Erzähltypen in der AaTh-Typologie noch nicht stringent genug definiert sind. Es besteht auch der Verdacht, daß die P. - um mit U. Marzolph zu sprechen — nicht mehr ist „als der Ausdruck einer gewissen Hilflosigkeit, mittels einer unzureichenden Quellenlage oder einer mangelhaften Erschließung des Materials zu praktischen Ergebnissen zu kommen" 9 . Ein wachsendes Bewußtsein für Wissenslücken, begleitet von einem neuen (oder vielmehr erneuerten) Bewußtsein für die symbiotische Beziehung zwischen Lit. und Volkserzählung10 wird die Erzählforscher dazu bringen, nach weiteren Quellen und einer rationalen hist. Erklärung der Entsprechungen zwischen weitverbreiteten Erzählungen zu suchen. Im Verlauf dieser Entwicklung wird die vergleichende Erzählforschung sich vermutlich von der anthropol. orientierten Vk. und damit von dem theoretischen System lösen, zu dem die P. gehört. ' KHM/Rölleke 3,405 [417], - 2 Lang, Α.: Perrault's Popular Tales. Ox. 1888; Bedier. - 3 cf. Chesnutt, M.: The Great Crusader of Diffusionism. Walter Anderson and the Geographic-Historical Method. In: Valk, Ü. (ed.): Studies in Folklore and Popular Religion 1. Tartu 1996, 11-26, hier 13. - 4 Anderson, W.: Eine neue Monogr. über Amor und Psyche. In: HessBllfVk. 46 (1955) 118-130, hier 119. - 5 cf. ζ. B. Krappe, Α. H.: The Science of Folklore. Ν. Y. 1930 (Nachdr. L. 1962), 8, 70, 105, 134; Wesselski, Theorie, 33, 74 sq., 173. - 6 cf. Chesnutt, M.: The Demise of Historicism in Nordic Folktale Research. In: id. (ed.): Telling Reality. Folklore Studies in Memory of Bengt Holbek. Kop./Turku 1993, 235-253, hier 246-248. - 7 cf. u.a. Ranke, Κ.: Der Schwank vom Schmaus der Einfältigkeit. Ein Beispiel zur Genera-

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tio aequivoca der Volkserzählungen. In: Beitr.e zur vergleichenden Erzählforschung. Festschr. W. Anderson ( F F C 151-163). Hels. 1955, hier F F C 159. - 8 Ward, D.: The Return of the Dead Lover. Psychic Unity and Polygenesis Revisited. In: Folklore on Two Continents. Festschr. L. Degh. Bloom. 1980, 310-317. - 9 Marzolph, Arabia ridens 1, 235; cf. Schmidt, L.: Schwank. In: id.: Die Volkserzählung. Β. 1963, 299-311, hier 305. - 10 cf. Wesselski, Theorie; Liungman, W.: Das wahrscheinliche Alter des Volksmärchens in Schweden. In: Festschr. Anderson (wie not. 7 = F F C 156); Fehling, D.: Amor und Psyche. Die Schöpfung des Apuleius und ihre Einwirkung auf das Märchen, eine Kritik der romantischen Märchentheorie. Wiesbaden 1977; Röhrich, L./Lindig, E. (edd.): Volksdichtung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Tübingen 1989; Schenda, R.: Von Mund zu Ohr. Bausteine zu einer Kulturgeschichte volkstümlichen Erzählens in Europa. Göttingen 1993.

Kopenhagen

Michael Chesnutt

Polykrates: Ring des P. (AaTh 736 A). Im Mittelpunkt dieses Erzähltyps steht das Motiv von dem im Bauch eines Fisches wiedergefundenen -> Ring, das in einer Fülle unterschiedlicher Erzählungen überliefert ist1. AaTh 736 Α ist antiken Ursprungs und wird in der ältesten Fassung von -> Herodot (3, 40-43) erzählt: Die Kunde der großen militärischen Erfolge des Tyrannen von Samos, P. (gest. ca 522/521 a. Chr. 2 n.) , erreicht auch den ägypt. König Amasis. Dieser rät P. in einem Brief, den Neid der Götter nicht herauszufordern und zum Zeichen seiner Bereitschaft zum Verzicht das, was ihm auf Erden am liebsten sei, wegzuwerfen. P. folgt dem Rat und versenkt seinen kostbarsten Ring auf dem Meeresgrund. Nach einigen Tagen macht ihm ein Fischer einen großen Fisch zum Geschenk, in welchem seine Diener den geopferten Ring wiederfinden. Amasis erkennt darin ein göttliches Zeichen und bricht die Freundschaft zu P. ab, damit er nicht um einen Freund zu trauern brauche, wenn schweres Unheil über diesen hereinbrechen werde (was wenig später der Fall ist).

Die Erzählung beruht auf zwei zentralen Vorstellungen: Allzu großes Glück kann durch freiwilligen Verzicht auf einen bes. wertvollen Gegenstand vor Schicksalsschlägen geschützt werden, und: Der geopferte Gegenstand kehrt zu seinem Besitzer zurück. Bei Herodot sind diese beiden Vorstellungen durch die Konstruktion verbunden, daß man den Neid der

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Polykrates: Ring des P.

Götter vermeiden könne, indem man sich selbst Leid zufügt. Diese Konstruktion erscheint psychol. kompliziert und stellt möglicherweise eine spätere Entwicklung dar. W. -> Aly hat daher vermutet, daß dem Ring in der ursprünglichen Gestalt der Erzählung magische Eigenschaften innegewohnt haben könnten; am Besitz des Ringes habe möglicherweise eine Art Fluch gehangen, so daß der Besitzer sich seiner entledigen wollte (cf. -> Gyges, AaTh 560: Zauberring)3. Die Erzählung wird von zahlreichen antiken Schriftstellern erwähnt oder wiedererzählt, u.a. von Strabo, Diodor, Valerius Maximus, -ι- Pausanias, -> Plinius d. Ä., von denen der Weg zu ma. Qu.η führt (-» Caesarius von Heisterbach, -> Alphabetum narrationum, -> Dialogus creaturarum, Johannes Herolt). Auch in nachma. Zeit bleibt die Bezeugung des Stoffes in Mitteleuropa überaus reich: Er fand seinen Platz in klassischen Slgen der Exempelund Unterhaltungsliteratur, ζ. B. bei Johann -» Geiler von Kaysersberg, Johannes -> Pauli, Hans Wilhelm Kirchhof, Andreas -> Hondorff, -» Pelbärt von Temesvär4. Schließlich läßt sich seine literar. Verbreitung auch bis in die populären Erzählsammlungen der Barockzeit hinein verfolgen5. Als Kennzeichen dieser Texte kann gelten, daß sie stets mit der hist. Figur des Tyrannen P. verbunden sind. Literar. Berühmtheit hat die P.-Sage u.a. durch -+ Grimmelshausen 6 und -> Schiller7 erfahren. Aufgrund der starken Präsenz der Erzählung in gedr. Qu.n ist der Stoff auch in die mündl. Überlieferung eingegangen, und zwar folgerichtig in jene Gattung, zu der er die größte Affinität aufweist: die Sage. Vor allem im dt.sprachigen Raum sowie im nördl. Europa ist im 19./20. Jh. der folgende Typus einer Frevelsage (-• Frevel, Frevler) verbreitet: Eine reiche Schloßherrin (Gutsbesitzer, Kaufmann) wirft aus Vermessenheit (aus Verärgerung über sie heimsuchende Bettler) ihren Ring ins Meer (Fluß, Teich) mit dem Ausruf: „So wenig, wie ich diesen Ring je wiedersehe, werde ich je verarmen!" Kurze Zeit später ereilt sie das Unglück.

Dt.sprachige Var.n zu diesem Sagentypus sind u. a. in Schleswig-Holstein8, Mecklenburg 9 , Westfalen10, Thüringen", Hessen12, Österreich13 und in der Schweiz14 aufgezeichnet worden, nordeurop. Vergleichsmaterial liegt aus Irland 15 , Norwegen16, Schweden17

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und Finnland 18 vor. Streubelege stammen aus der Slovakei und von der Insel Zypern und zeigen mit bes. Deutlichkeit ihre literar. Abkunft von Herodot: In der slovak. Aufzeichnung erhält die hochmütige Schloßherrin von ihrem Onkel einen Brief mit der Aufforderung, ihre Lebensweise zu ändern 19 ; in der zypriot. Var. heißt es, der Ratgeber habe nach dem Wiederfinden des ins Meer geworfenen Rings den Umgang mit seinem Freund abgebrochen20. Eine ökotypische Ausprägung des Stoffes von der frevlerischen Schloßherrin hat ihren Verbreitungsschwerpunkt in den Niederlanden (auch als Straßenlied)21 mit vereinzelten Ausstrahlungen nach Nordwestdeutschland 22 und Lothringen 23 : Eine reiche Frau in Stavoren an der Zuydersee beauftragt in ihrem Hochmut einen ihrer Schiffskapitäne damit, ihr eine Ladung vom Allerbesten zu bringen, was es auf Gottes Erdboden zu kaufen gebe. Als er mit einer Ladung Weizen zurückkommt, wird die Auftraggeberin so wütend, daß sie ihn zwingt, die Ladung ins Meer zu werfen. Der Schiffer antwortet auf diesen Frevel mit der Ankündigung, sie werde eines Tages noch begierig jedes einzelne Korn aufheben. Darauf sie: „Eher werden meine Augen diesen Ring wieder sehen, den ich hier ins tiefste Wasser werfe!" Wenig später findet eine Magd in einem großen Schellfisch den Ring, und der Reichtum der Frau vergeht innerhalb kurzer Zeit. Der in die See geschaufelte Weizen treibt im nächsten Jahr zwar aus, aber seine Ähren bleiben taub 24 .

Alle bisher behandelten Formen von AaTh 736 Α stimmen darin überein, daß die Protagonisten in ihrer Vermessenheit das - Hybris scheitern. Darüber hinaus erfüllt das Zentralmotiv des wiedergefundenen Rings in zahlreichen weiteren internat. verbreiteten Erzählstoffen andere Funktionen. Hierzu gehören die zahlreichen Heiligenlegenden, in denen der wiedergefundene Ring als Zeichen der Heiligmäßigkeit oder auch der Vergebung für eine Schuld fungiert (AaTh 933: - Gregorius, cf. Mot. Ν 211.1.0.1)25. Das Ringmotiv findet sich darüber hinaus in arab. 26 und jüd. 27 Erzählüberlieferungen, ohne daß hier eine genetische Verwandtschaft mit dem Erzählstoff von P. vorliegen muß. Thematische Verwandtschaft weist die P.-Sage über das Ringmotiv auch mit AaTh 745, 745 A: -» Heckpfennig, AaTh 836: -» Hochmut bestraft und mit Var.n des Schicksalsmärchens AaTh

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Polynesien

930 Α: Die vorbestimmte Frau auf. In der modernen Sage schließlich ist das Ringmotiv zum Slapstickthema vom Angler, der sein verlorenes Gebiß im Fischbauch wiederfindet, mutiert 28 . 1 Ergänzend zu AaTh: Nyman; Ο Süilleabhäin/Christiansen; Baughman; van der Kooi; Delarue/Teneze; Pujol; BFP; Jason, Iraq; Nowak, num. 219, 257; Arewa, num. 119; Ting; Choi, num. 265; cf. Künzig, J.: Der im Fischbauch wiedergefundene R. in Sage, Legende, Märchen und Lied [1934]. In: id.: Kleine volkskundliche Beitr.e [...]. Fbg 1972, 6 3 - 8 1 . 2 Zum hist. P. cf. PaulyAVissowa 42 (1952) 1726-1734. - 3 Aly, W.: Volksmärchen, Sage und Novelle bei Herodot und seinen Zeitgenossen. Göttingen 1921, 91. - 4 cf. auch Köhler/Bolte 2, 209, not. 1; Pauli/Bolte 2, num. 635; Tubach und Dvorak, num. 4102; György, num. 182; Dömötör, num. 416. - 5 EM-Archiv: Gerlach, Eutrapeliae 3 (1656) 1,18, num. 95; Plener, Acerra philologica (1687) 2 1 - 2 3 ; Schreger, Zeit-Anwendung (1766) 561a. - 6 Grimmelshausen, H. J. C.: Des Abentheuerlichen Simplicissimi ewig-währender Calender. (Nürnberg 1761) Konstanz 1967, 9 1 - 9 3 . - 7 cf. Leitzmann, Α.: Die Qu.n von Goethes und Schillers Balladen. Bonn 1911, 6 - 9 ; Rudolph, L.: Schiller-Lex. 2. B. 1869, 288-290; Wiese, B. von: Friedrich Schiller. Stg. 4 1978, 616 sq. - 8 R a n k e 3, 8 5 - 9 1 . - «Bartsch, K.: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1. Wien 1879, num. 416; Wossidlo-Archiv, Rostock, Β VI 10. - 10 Kuhn, Α.: Sagen, Gebräuche und Märchen aus Westfalen 1. Lpz. 1859, num. 421. 11 Größler, H.: Sagen der Grafschaft Mansfeld. Eisleben 1880, 62 sq. — 12 Herrlein, A. von: Die Sagen des Spessarts. Aschaffenburg 2 1885, 217-219. 13 Mailly, Α.: Niederösterr. Sagen. Lpz. 1926, num. 56; Haiding, K.: Österreichs Sagenschatz. Wien 1965, num. 112. - 14 Oberholzer, Α.: Thurgauer Sagen. Frauenfeld 1912, num.54. - 15 Ο Süilleabhäin/ Christiansen. — 16 Christiansen, Migratory Legends, num. 7050. - 17 cf. Geer, Y. de: P. och rika frun. Seminararbeit (masch.) Stockholm 1984 (250 schwed. Var.n). - 18 Simonsuuri, L./Rausmaa, P.-L.: Finn. Volkserzählungen. B. 1968, num. 344. - 19 Polivka 4, num. 126 C 2. - 20 Diller, I.: Zypriot. Märchen. Athen 1982, num. 9. 21 van der Kooi; Haan, T. W. R. de: Het vrouwtje van Staveren. In: Het Noorderland 2 (1942-43) 133-140, 184-191, 207-213. - 22 Grimm DS 240; Kuhn, A ./Schwartz, W.: Norddt. Sagen. Lpz. 1848, num. 347; Bodens, W.: Sage, Märchen und Schwank am Niederrhein. Bonn 1936, num. 1078. - 2 3 Merkelbach-Pinck, Α.: Volkserzählungen aus Lothringen. Münster 1967, 124 sq. - 2 4 Nach Kooi, J. van der: Der Großherzog und die Marktfrau. Leer 1994, num. 51 (Oldenburg). - 2 5 Toldo (1902) 318; Saintyves, P.: L'Anneau de Polycrate. Essai Sur l'origine liturgique du theme de l'anneau jete ä la mer et retrouve dans le ventre d'un poisson. In: Revue de l'hi-

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stoire des religions 66 (1912) 4 9 - 8 0 ; Loomis, C. G.: The Ring of Polycrates in the Legends of the Saints. In: J A F L 54 (1941) 4 4 - 4 7 ; Tubach, num. 4102. 26 Künzig (wie not. 1) 63 sq.; Wünsche, Α.: Die Sage vom Ring des P. in der Weltlit. In: Beilage zur Allg. Ztg Mü. 1893, num. 179, 180, 185, 188; Marzolph, U. (ed.): Das Buch der wundersamen Geschichten. Mü. 1999, num. 18. - 27 Künzig (wie not. 1) 6 7 - 6 9 ; Elstein, Y./Lipsker, Α.: Joseph Who Honors the Sabbath. A Thematical Test Case. In: Fabula 37 (1996) 87-115. - 28 Venbrux, E./Meder, T.: „The False Teeth in the Cod". A Legend in Context. In: Contemporary Legend 5 (1995) 115-131.

Göttingen

Rolf Wilhelm Brednich

Polynesien (aus griech. polys: viel und nesos: Insel) wird von einem ausgedehnten Inseldreieck im Pazifik (-• Melanesien, -» Mikronesien) gebildet, das im Norden durch Hawaii, im Südwesten durch -> Neuseeland (Aotearoa) und im Südosten durch die Osterinsel (Rapa Nui) begrenzt wird. Zu P. gehören u.a. die Marquesas-, Tuamotu-, Tubuai-(Austral-)Inseln (alle in Frz.-P), die Cook-Inseln, Tuvalu, Tokelau, Samoa, Tonga und Niue1. Trotz der großen Entfernungen, die die polynes. Inseln voneinander trennen, sind sich die Sprachen wie auch die Uberlieferungen im gesamten Gebiet sehr ähnlich. Diese Tatsache erklärt sich zum einen durch den gemeinsamen Ursprung, zum anderen durch den häufigen Verkehr zwischen den Inselgruppen, der durch hochentwickelte Seefahrtstechniken ermöglicht wurde — Navigation anhand der Sternbilder sowie Weitstreckenkanus, die gegen die vorherrschenden Passatwinde segeln konnten 2 . Im gesamten polynes. Gebiet nennen die Einheimischen sich Maori (Hawaii: Maoli; Tahiti, Osterinsel: Maohi; Rarotonga, Neuseeland: Maori). Aus tahit. Überlieferungen geht hervor, daß weite Teile P.s früher einem religiösen und politischen Bund angehörten, dessen Mittelpunkt der Tempel von Taputapuatea auf der zentral gelegenen Insel Ra'iatea (Gesellschaftsinseln) bildete3. Dieser Bund hieß Hauatea (politische Macht, die vom Himmelsvater Atea ausgeht). Der Hauatea-Bund umfaßte die Inselgruppen von den Austral-, Tuamotu- und Gesellschaftsinseln bis Rarotonga, Rotuma und Neuseeland4. Obwohl Hawaii, die Marquesas-Inseln und die Osterinsel in den

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Polynesien

tahit. Überlieferungen nicht gesondert erwähnt werden, legen Ähnlichkeiten der Schöpfungsmythen, Götternamen und religiösen Zeremonien nahe, daß sie gleichfalls einmal dem Hauatea-Bund angehörten. Auch ist der Name des Tempels Taputapuatea (großes Heiligtum von Atea) mit zwei Stätten in Hawaii verbunden. Der Hauatea-Bund hatte bis um 1350 Bestand, als bei einer der jährlichen Feiern im Taputapuatea-Tempel ein Mord begangen wurde. Darauf wurde der panpolynes. Bund aufgelöst und als pantahit. Inselbund weitergeführt. Die Grundlinien der mythischen Überlieferung sind in ganz P. weitgehend übereinstimmend, von den Kosmologien über die Hauptgötter und -göttinnen bis hin zum Glauben an die Heiligkeit von Land, Meer und der gesamten Natur. Nach Auffassung der Polynesier stammen die Menschen von den Göttern ab und tragen die Verantwortung für die Pflege von Erde und Natur, die sie als ihre Vorfahren betrachten. Die Ahnen wurden verehrt, die als Ariki Nui (hawaiian. Ali'i Nui) bezeichneten Häuptlinge nach ihrem Tod häufig in bes. Zeremonien zu Göttern erhoben. Oft wurden die Ariki Nui auch für Götter gehalten, die auf Erden wandeln (cf. Erdenwanderung der Götter), ihre jüngeren menschlichen Geschwister beschützten und den richtigen Anbau der Nahrungsmittel gewährleisteten. Als einer der wichtigsten Ahnen wird der in allen Teilen P.s bekannte -> Kulturheros -> Maui betrachtet, der u. a. den Lauf der Sonne verlangsamte, das Himmelsniveau anhob, Land aus der See angelte und den Menschen das Geheimnis des Feuermachens schenkte (-> Feuerraub) 5 . Nach in ganz P. herrschender Vorstellung bilden die Häuptlinge und die einfache Bevölkerung über- und untergeordnete Linien, die von jeweils demselben göttlichen Ahnherrn abstammen; sie alle besitzen eigene Arbeitsverantwortlichkeiten und haben die Pflicht, als Mitglieder einer großen Familie füreinander zu sorgen. Alle politische Macht wurde durch die Götter als Ergebnis des rechten religiösen Verhaltens (pono) sanktioniert; pono brachte in allen Dingen Glück und Wohlstand. Naturkatastrophen (Erdbeben, Trockenheit, Hungersnöte) wurden als Zeichen eines der Religion zuwiderlaufenden Verhaltens (bzw. Man-

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gel an pono) interpretiert, das immer den Verfehlungen eines Häuptlings zuzuschreiben war. Polynes. Kosmologien unterteilen das Universum in männliche und weibliche Bereiche, die genealogisch aus der Vereinigung von Erdmutter und Himmelsvater hergeleitet werden. Die Nacht wird weiblich, der Tag männlich gedacht. Das Land und die vorgelagerten Riffs sind weiblich konnotiert, die offene See männlich; die Küstenfischerei oblag daher den Frauen, die Tiefseefischerei den Männern. In den traditionellen Gebeten der Polynesier ist von 40000 Göttern die Rede. Zu ihnen gehörten neben den im Tempel verehrten großen Göttern auch zahlreiche individuelle Familiengötter. Die Hauptgötter waren im gesamten P. ausgesprochen einheitlich. Die großen männlichen Gottheiten waren Tangaroa, Tane, Tu und Rongo, zuständig für Meer, Zeugung, Krieg und Landwirtschaft. Atea (Wakea), der Himmelsvater, war der Sohn von Tangaroa, und zusammen mit Papa, der Erdmutter, brachte er Inseln und Götter hervor. Große weibliche Gottheiten neben Papa waren Hina, die Göttin der Riffs und des Mondes, und die Eidechsengöttin Haumea, die Patronin der Geburt, der Fischteiche und der politischen Macht. Jede der großen Gottheiten besaß zahlreiche körperliche Erscheinungsformen (kinolau). Diese wurden als gesonderte Einheiten mit eigenen Kräften und Einflußbereichen gesehen, die - vergleichbar dem christl. -> Trinitätskonzept — mit dem höchsten Gott ihrer Familie in göttlicher Identität verbunden waren. Die Erscheinungsformen des Gottes Ku umfaßten außer dem im Tempel als höchstem hawaiian. Gott verehrten Kunuiakea den Kriegsgott Kuka'ilimoku, den Gott des Taroanbaus Kuka'o'o, den Gott der Axtherstellung Kukalipi, den Gott des Kanubaus Kupulupulu, und den Gott der Tiefseefischerei Ku'ulakei. Götter konnten außer in menschlicher Gestalt auch als Tier, Pflanze oder unbelebter Teil der Natur erscheinen. So manifestiert sich der hawaiian. Gott Lono (Rongo) auch als Schwein, Fisch, Vogel, Farn oder Fels6. Trotz vieler Ähnlichkeiten in den kosmologischen Vorstellungen gibt es auch Unterschiede. So teilt sich P. hinsichtlich der Mythologie und Religion in einen östl. und in einen westl. Bereich. Die konservativeren und abge-

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schlossener lebenden Westpolynesier (Tuvalu, Samoa, Tonga, Niue) hatten nicht an den im Zentrum P.s entwickelten religiösen Neuerungen teil 7 . Während sich in Ostpolynesien aufgrund der durch die hochentwickelte Navigationstechnik ermöglichten Weitstreckenfahrten ein relativ einheitlicher Glauben und Kult entwickelte, sind die ostpolynes. Götter, Mythen und religiösen Zeremonien in Westpolynesien größtenteils nicht bekannt. Die Erschaffung der Welt geht nach westpolynes. Überlieferungen darauf zurück, daß der große Gott Tangaroa, der Gott der Meere, in Te Po, der weiblichen Nacht, trieb, bis er sich aus Einsamkeit an die Erschaffung der Erde machte: Er schuf die Inseln im Meer und rief alle Arten von Geschöpfen und Göttern hervor, um Land und Meer damit zu bevölkern. Diese Überlieferung steht der christl. -+ Schöpfungsgeschichte so nahe, daß möglicherweise eine bewußte Inanspruchnahme des alten Gottes Tangaroa zum Zweck einer raschen Bekehrung der Einheimischen vorliegt. In Ostpolynesien ist die Überlieferung vollständiger und komplexer. In den Versionen von Ra'iatea und Tahiti steht am Beginn des Universums ebenfalls der große Meeresgott Tangaroa (hawaiian. Kanaloa, tahit. Ta'aroa), der in Te Po, der weiblichen Nacht, treibt. In der tahit. Version treibt Ta'aroa in einem Ei eingeschlossen dahin und knackt im richtigen Augenblick die Schale, aus deren Stücken er dann Himmel und Erde macht. Darauf schwängert Ta'aroa ein weibliches Element und zeugt Götter, die ihrerseits zu Ahnen der Menschen werden. In der tahit. Version der Schöpfungsgeschichte wird Atea als Himmel zusammen mit der Erde und den Meeren von Ta'aroa erschaffen. Atea trägt gleichzeitig männliche und weibliche Merkmale. Wie in der hawaiian. Version vereinigt er sich mit der Gottheit Fa'ahotu (hawaiian.: Ho'ohoku), die gleichfalls teils männlich, teils weiblich ist. Fa'ahotu gebiert drei lebende männliche Kinder, die aber alle sterben, weil ihre flachen Brüste keine Milch geben 8 . Darauf erteilt der große Ta'aroa Atea den Befehl, er solle Fa'ahotu alle seine weiblichen Attribute abtreten, und desgleichen Fa'ahotu, alle ihre männlichen Züge Atea zu überlassen. Fortan können Fa'ahotus Kinder überleben. Das erste ist der große Gott Ro'o (Maori: Rongo, hawaiian.:

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Lono), danach wird die Vielzahl der tahit. Götter geboren. In der hawaiian. Kosmologie gebiert Po, die weibliche Nacht, ihrerseits eine männliche und eine weibliche Nacht, Kumulipo und Po'ele. Aus der inzestuösen Vereinigung (-• Inzest) dieser beiden entsteht der Korallenpolyp, von dem alles göttliche und menschliche Leben abstammt. In den Überlieferungen von Hawaii, Tahiti und den Marquesas-Inseln bringen inzestuöse Verbindungen göttliche Kinder hervor. Die wichtigsten sind in Hawaii die Erdmutter Papa, auch Papahanaumoku (Inselgebärerin Papa) genannt, und der Himmelsvater Wakea, die manchen Überlieferungen zufolge Bruder und Schwester sind 9 . Ihre Vereinigung bezeichnet den Anfang der hawaiian. Welt: Papa gebiert erst die Insel Hawaii, dann die Insel Maui und darauf die Tochter Ho'ohokukalani (Sterne an den Himmel setzen), die menschliche Gestalt besitzt. In einer der vier heiligen Mondnächte, in denen Wakea im Tempel den Kult ausüben sollte, verführt er Ho'ohokukalani. Das erste Kind aus dieser Verbindung ist männlich und kommt vor der Zeit tot zur Welt. Die Eltern nennen es Haloanaka (zitternder langer Atem) und begraben es. Aus seinem Grab wächst die erste Taro-Pflanze, die eine Körperform des Gottes Kane und der am höchsten verehrte Pflanzenahn des Volks von Hawaii ist. Von dem zweiten Sohn Haloa (langer Atem) als dem ersten großen Häuptling stammen die Hawaiianer ab 10 . Der Überlieferung von Neuseeland zufolge 11 gebar Te Po, die weibliche Nacht, zwei Kinder, den Himmelsvater Rangi (Rangiatea; tahit. Ra'iatea) und die Erdmutter Papatuanuku 1 2 . Aus deren inzestuöser Verbindung ging alles Leben im Universum hervor. In der neuseeländ. Überlieferung gebiert Papatuanuku keine Inseln, sondern Maui angelt die Nord- und die Südinsel Neuseelands aus dem Meer. Rangi und Papatuanuku werden die Eltern der Götter, die aber zunächst zwischen den umschlungenen Körpern ihrer beiden Eltern gefangen liegen 13 . Erst als die Kinder beschließen, ihre Eltern voneinander zu trennen, kann das Sonnenlicht ins Land dringen. Nach der Überlieferung der neuseeländ. Maori wird Hinetitama, das erste menschliche Wesen, zur Todesgöttin Hinenuitepo, als sie erfährt, daß sie mit ihrem eigenen Vater ein Kind gezeugt

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hat 14 . Der Trickster Maui will den Tod durch eine Umkehrung des Geburtsvorganges überwinden. Als er in Gestalt einer Raupe durch die Vagina der schlafenden Hinenuitepo in deren Körper kriechen will, wacht sie auf und zerquetscht ihn15; daher sterben die Menschen. Auf der Osterinsel sind die alten Götter aufgrund der hist. Umstände weitgehend vergessen: 1862 verschleppten Sklavenhändler Teile der Bevölkerung zur Arbeit in die peruan. Guanolagerstätten; durch von Heimkehrern eingeschleppte Pocken und Tuberkulose16 hatte sich die Bevölkerung bereits 1868 von geschätzten 2000 auf 111 Personen vermindert. Allenfalls finden sich noch Götternamen in Ortsbezeichnungen17. Unter den erhaltenen Überlieferungen ist die Erzählung über den Gott Makemake, der mit Hilfe einer Priesterin namens Haua auf die Osterinsel kam 18 . Makemake soll der Familienschutzgeist von Hotu Matu'a, einem der ersten Häuptlinge, die nach den Osterninseln segelten, gewesen sein, wurde aber später als ein oberster Gott verehrt 19 . Makemake wird oft als vogelköpfiger Mensch dargestellt; zur Erlangung seines Schutzes wurden ihm sowohl Menschenopfer als auch Erstlingsfrüchte dargebracht. Bei einem jährlichen Fest an den Klippen von Orongo schwammen Krieger über das offene Meer auf die Insel Motu Nui, um das erste Ei der Rußseeschwalbe zu holen; wem es gelang, sicherte damit dem Häuptling seines Stammes das Recht, ein Jahr lang über die Insel zu herrschen20. 1 Bellwood, P.: The Polynesians. Prehistory of an Island People. L. 1987. - 2 Finney, Β. (ed.): Voyage of Rediscovery. A Cultural Odyssey through Polynesia. Berk. 1994. - 3 Henry, T.: Ancient Tahiti. (Honolulu 1928) Nachdr. Ν. Y. 1985, 122. - 4 ibid., 122-128. - 5 Beckwith, M.: Hawaiian Mythology. Honolulu 1970, 226-237. - 6 Kame'eleihiwa, L.: Kampua'a, the Hawaiian Pig-God. Honolulu 1996, X - X I I . 'Turner, G.: Samoa, A Hundred Years Ago and Long Before. (L. 1884) Nachdr. Suva 1984, 2 3 - 7 7 . - 8 Henry (wie not. 3) 272. - 9 c f . Fornander, Α.: An Account of the Polynesian Race 1 - 3 . (Rutland, Vt 1969) Nachdr. Tokio 1980, hiert. 1, 186. - 10 Kame'eleihiwa, L.: Native Land and Foreign Desires. Honolulu 1992,'23-31. " J a k u b a s s a , E.: Märchen aus Neuseeland. MdW 1985, zum folgenden bes. num. 1 - 6 . - 12 Best, Ε.: Maori Religion and Mythology 1 - 2 . (Wellington 1924) Nachdr. Ν. Y. 1977, hier t. 1, 62. - 13 ibid., 64. - 14 ibid., 125-127. - 15 Kame'eleihiwa, L.:

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Maui, the Mischief Maker. Honolulu 1991. - 16 Orliac, C. und Μ.: Easter Island. Mystery of the Stone Giants. Ν. Y. 1984, 22. - " M e t r a u x , Α.: Ethnology of Easter Island. (Honolulu 1940) Nachdr. 1971, 8, 306-308. - " i b i d . , 311 sq. - 1 9 Orliac (wie not. 16) 60. - 2 0 ibid., 74. Lit.: Emerson, Ν. B.: Unwritten Literature of Hawai'i. The Sacred Songs of the Hula. Wash. 1909. id.: Pele and Hi'iaka. Honolulu 1915. - Hambruch, P.: Südsee-Märchen. MdW 1916 (Neudruck 1979). - Handy, E. S. C.: The Native Culture in the Marquesas. Honolulu 1923 (Nachdr. Ν. Y. 1971). - Gifford, E.: Tongan Myths and Tales. Honolulu 1924. - Handy, E. S. C.: Polynesian Religion. Honolulu 1927 (Nachdr. Millwood, Ν. Y. 1985). - Pukui, M. K.: Hawaiian Folk Tales. Poughkeepsie 1933. Stimson, J. F.: Tuamotuan Religion. Honolulu 1933. - Malo, D.: Hawaiian Antiquities. Honolulu 1951. - Handy, E. S. C./Pukui, Μ. K.: The Polynesian Family System in Ka-'u, Hawai'i. Wellington 1958. - Barrere, D. B.: Cosmogonic Genealogies of Hawai'i. In: J. of the Polynesian Soc. 70 (1961) 419-428. - Kamakau, S. M.: Ruling Chiefs of Hawai'i. Honolulu 1961. - id.: Ka po'e kahiko (The People of Old), ed. D. B. Barrere. Honolulu 1964. Kirtley, B. F.: A Motif-Index of Traditional Polynesian Narratives. Honolulu 1971. - Beckwith, M.: The Kumulipo. A Haiwaiian Creation Chant. Honolulu 1972. - Pukui, M. K./Elbert, S. H./Mo'okini, Ε. T.: Place Names of Hawai'i. Honolulu 1974. Barrere, D. B.: The Kumuhonua Legends. A Study of Late 19th Century Hawaiian Stories of Creation and Origins. Honolulu 1969. - Kamakau, S. M.: Na Hana a ka Po'e Kahiko (The Works of the People of Old). Honolulu 1976. - id.: Na Mo'olelo ο ka Po'e Kahiko (Tales and Traditions of the People of Old). Honolulu 1993. - Kame'eleihiwa, L.: Na Wahine Kapu. Sacred Hawaiian Women. Honolulu 1999.

Honolulu

Lilikala Kame'eleihiwa

Polyphem (AaTh 1135-1137). Die Geschichte von der -> Blendung des -» einäugigen menschenfressenden - Kannibalismus) und der Flucht des Helden aus dessen Behausung ist in ganz Eurasien verbreitet1. Die berühmteste literar. Bearb. ist die P.-Geschichte in -» Homers Odyssee (9,106—545), die auch die Beschreibung der Erzähltypen AaTh 1135-1137 beeinflußt hat. Die folgende Zusammenfassung von AaTh 1137: The Ogre Blinded (Polyphemus) basiert auf mündl. Var.n und der türk. literar. Erzählung von der Tötung des Tepegöz durch Basat im ->• Dede

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Korkut kitabi ([Das Buch des Dede Korkut], num. 8)2: Ein Held, der allein (mit anderen) unterwegs (in einem Wald, in der Wildnis) ist, gelangt zufallig zur Höhle (Hütte) eines einsam (mit seiner Mutter) lebenden und Schafe hütenden (oft einäugigen) Ogers, der ihn fangt und droht, er werde ihn fressen. Der Gefangene gibt sich als Arzt aus und verspricht dem Oger die Heilung seiner Augen (der Riese schläft ein). Der Held erhitzt einen Metallspieß im Feuer und stößt ihn dem Oger ins Auge. Dem auf einem Auge (beidseitig) erblindeten Unhold kann der Held entkommen, indem er sich mit einem Schaffell bedeckt oder sich an der Unterseite eines Schafs festklammert, als dieses die Behausung des Ogers verläßt. Hierauf folgt manchmal der Versuch des Ogers, den Helden mit Hilfe eines Zauberrings (Zaubergegenstands), der den Fliehenden zwingt, ,Hier bin ich' zu rufen, erneut zu fangen; der Held kann jedoch dem Oger wieder entkommen, gewöhnlich mit Hilfe einer -> Selbstschädigung. Er schneidet sich den Finger mit dem Ring ab und wirft ihn ins Meer. Der Oger setzt dem Ring nach und ertrinkt.

Die im AaTh-Typenkatalog als AaTh 1135: Eye-Remedy und AaTh 1136: Same Episode with Other Deceits of the Ogre klassifizierten Texte sollten trotz unterschiedlicher Requisiten als ein Erzähltyp aufgefaßt werden. Sie stammen vornehmlich aus Nordeuropa, handeln von der Selbstschädigung eines Jenseitswesens durch falsch bezogene Namen oder durch Sprachmißverständnisse (cf. AaTh 1545: Junge mit vielen Namen, AaTh 1697: cf. Handel mit dem Teufet) und haben folgende Grundform 3 : Ein Riese (Troll, Teufel, Wassergeist, Feenkind, Schakal) erlaubt einem Mann mit dem angeblichen Namen ,Ich selbst', der ihm vorspiegelt, er könne sein krankes Auge heilen (ihm neue Augen einsetzen, größere Stärke verleihen), eine glühende Masse (geschmolzenes Blei) in sein Auge zu gießen. Der Riese erblindet. Auf die Frage nach dem Täter antwortet der Geschädigte: ,Ich selbst'.

Strukturell und thematisch gehören AaTh 1135—1137 zu Erzählungen, die von der körperlichen -» Schädigung eines Ogers durch einen kleineren, aber klügeren Mann handeln (-• Stark und schwach). Hier wird der Oger auf verschiedene Weise durch das Versprechen größerer körperlicher Kraft oder einer angeblichen Heilung überlistet (cf. auch AaTh 1131, 1133, 1134, 1138). In AaTh 1137 wird durch die Blendung und den Tod des Ogers die erzählerische Symmetrie wiederhergestellt. AaTh

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1135 und AaTh 1136 lassen sich als Subtypen von AaTh 1137 verstehen4. Häufig ist die Kombination mit AaTh 1000, 1003, 1004, 1029, 1052, 1060 und 1115. Nach Ansicht der meisten klassischen Philologen und Erzählforscher gingen der Fassung Homers (ca 9. Jh. a. Chr. n.) volkstümliche mündl. Var.n voraus; einäugige Riesen, die außerhalb der (bekannten) Gesellschaft leben, werden auch in anderen klassischen Quellen erwähnt; -» Herodot (4,27) gab Aristeas von Proconnesus (7. Jh. a. Chr. n.) als Quelle für die Beschreibung der im westl. Mittelmeer beheimateten einäugigen Arimaspen an 5 . Die erste Quelle, die die Tepegöz-Geschichte des ->• Dede Korkut kitabi vorwegnimmt, findet sich in Firdausis Säh-näme ([Königsbuch], ca 980-1010 p. Chr. n.) in der Geschichte von Rostams Zusammentreffen mit einem Riesen, dessen einziger verwundbarer Punkt (cf. -> Achillesferse) sein (einziges) Auge ist6. In der möglicherweise auf das 11./12. Jh. datierbaren 3. Reise -» Sindbad des Seefahrers aus Tausendundeinenacht7 finden sich die wesentlichen Züge der P-Erzählung (Mästen, Blendung, Flucht) wieder. Die Fassung im Dolopathos (um die Wende des 12. Jh.s entstanden) des Johannes de Alta Silva8 folgt dem Sindbadbuch (-• Sieben weise Meister), von dem sie wahrscheinlich abgeleitet ist. Auch die isl. Hrölfs saga Gautreksson9 enthält die P.-Geschichte; die älteste dt. Fassung ist eine Hs. aus dem 15. Jh. 10 Tepegöz, der türk. P., ist bereits bei dem ägypt. Historiker Ibn ad-Dawädärl (gest. 1332) erwähnt, der in seiner Geschichte des Vorderen Orients, Durar at-tlgän, das Oguznäme, die Geschichte der Ogus-Türken, zusammenfaßt und einen Teil der Geschichte von Tepegöz und den Ogusen anführt 11 . Ibn ad-Dawädärl führt seine Quellen zu den Ogusen auf einen mittelpers. Text zurück. Viele Wissenschaftler sind jedoch der Ansicht, daß sich das Dede Korkut kitabi auf zwei verschiedene Zeitabschnitte bezieht: das 14./15. Jh. bei den anatol. Aq Qoyunlu und die Zeit des 9.-11. Jh.s, als die Ogusen noch in Mittelasien lebten12. Die weite Verbreitung und die Beliebtheit der P.-Erzählung regten eine Vielzahl vergleichender und analytischer Arbeiten von Volkskundlern und klassischen Philologen aus Ost

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und West an. Mehrere wichtige, in der westl. Wiss. relativ unbekannte Studien legen eine größere geogr. Verbreitung bis weit hinein nach Mittelasien und in die weiter entfernten Gebiete des Russ. Reiches hinein nahe. In den russ. Var.n13 erscheint in der Rolle des Ogers oft die Baba-Jaga - ein Wechsel in der Geschlechterrolle, wie er sich auch in mittelasiat. Var.n findet. Häufig begegnet das Motiv des Zauberrings (Mot. D 1612.2.1; vielfach auch Axt, Messer), der laut verkündet, wo der Held sich befindet, bis dieser sich den mit dem Zaubergegenstand verbundenen Arm oder Finger abhackt und so entkommt (-> Kleiner Fehler, kleiner Verlust)14. Bei Α. N. -»· Afanas'ev steht die Blendung mit einem erhitzten Metallspieß in logischem Zusammenhang mit dem Beruf des Helden, der Schmied ist15. In den beiden von E. D. Tursunov 16 und Ch. G. Korogly 17 verfaßten umfangreichen Abhandlungen über die türk.-mongol. Var.n von AaTh 1137 sind Slgen von Kasachen, Kirgisen, Altaiern, Aserbaidschanern, Turkmenen, Gagausen, Türken, darüber hinaus von Mongolen und Kalmücken aufgeführt. Diese Unters.en legen eine Verwandtschaft der P.Erzählung mit anderen nichtwestl. Überlieferungen nahe, bes. dem Er Tosräfc-Zyklus des kirgis. Manas-Epos und dem osset. Uruzmag-Epos, aber auch allg. mit einer langen und komplexen Tradition einäugiger Riesen und Unholde im gesamten mittelasiat. und mongol. Gebiet 18 . Diese Materialien und Analysen legen Zweifel nicht nur an der gelegentlich geäußerten These des homerischen Ursprungs der Erzählung nahe, sondern auch an Theorien, wonach sie aus dem östl. Mittelmeergebiet, dem Kaukasus oder aus Indien stamme 19 . Im Vordergrund der ersten komparatistischen Unters.en stand die Frage nach der Herkunft des R-Stoffes, einer möglichen Entstehung bei den Türken und der Verbreitung von Osten nach Westen (H. von Diez)20 sowie das vermutete Vorhandensein einer mündl. Überlieferung vor Homer (W. Grimm) 21 . Var.n aus mündl. Überlieferung dokumentierten R. Köhler und J. -• Polivka und später J. -+ Bolte22. Polivkas Unters. 23 lieferte slav. Material für O. Hackmans Zusammenstellung von 221 Var.n, die trotz Einbeziehung vieler unpassender Erzählungen immer noch die

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vollständigste Unters, darstellt24. Hackman unterschied drei Grundtypen: A: Blendung des Riesen, Flucht des Helden unter dem Schaf oder im Schaffell, Ringepisode; B: Niemandoder Selbstepisode; C: Blendung in Verbindung mit der Selbstepisode25. Diese Typologie bildet auch den analytischen Rahmen für neuere Arbeiten. Hackman nahm einen östl. Ursprung der Erzählung an. Seit den 50er Jahren des 20. Jh.s haben in der volkskundlichen Erzählforschung wie in der klassischen Philologie Arbeiten, die sich verschiedenster Ansätze bedienen — von komparatistischen bis hin zu hermeneutischen, symbolistischen und psychoanalytischen - , das Wissen über die P.-Erzählung und ihre Bedeutung erweitert26. In den 60er Jahren verfaßte L. -» Röhrich zwei wichtige Werke mit breitem, hauptsächlich ma. Quellenmaterial, die eine auf der Unters, von Einzelzügen beruhende vergleichende Analyse lieferten und nach der Beziehung zwischen der homerischen Version und den Märchenvarianten fragten 27 . J. Glenn verglich auf der Grundlage von 25 Handlungsaspekten mündl. Var.n mit den Versionen aus dem Dolopathos, dem Deck Korkut kitabi, dem Sindbadbuch und der homerischen Version und überprüfte die verschiedenen Interpretationen der P.-Erzählung28. D. Fehling beschäftigte sich bes. mit dem Auftauchen des P.-Stoffes im Dolopathos und der davon ausgehenden Verbreitung in Europa sowie der mutmaßlichen Herkunft des Stoffes aus dem Sindbadbuch29. J. E. Montgomery arbeitete archetypische Gemeinsamkeiten zwischen der P.Geschichte und der 3. Reise Sindbad des Seefahrers heraus 30 . R. Mondi Schloß aus einem Vergleich entsprechender Märchen und griech. mythol. Traditionen, daß der Riese P. und die Zyklopen einst unabhängige Gestalten waren, die im homerischen P. miteinander verschmolzen31. Einer der seit von Diez meistuntersuchten Aspekte ist die Beziehung zwischen dem westl. P. und dem türk. bzw. mittelasiat. Tepegöz. Ursprünglich stand das Interesse daran in Zusammenhang mit der Suche nach oriental., letztendlich ind. Ursprung europ. Erzählungen32. P . N . - » Boratavs kurzer Aufsatz von 1939 untersucht verschiedene Motive der Tepegöz-Erzählung und stellt sie der P.-Erzählung gegenüber: Die Auseinandersetzung des

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Odysseus mit dem Riesen charakterisiert er als Abenteuer; Basat dagegen töte den Tepegöz, um die Ogusen zu retten 33 . Die Typologie der Tepegöz-Erzählung im türk. Typenkatalog 34 ist die erste, die auf mündl. türk. Var.n beruht; die Motivanalyse verweist auf eine Handlung, die mehr mit europ. mündl. Var.n gemein hat als mit der literar. Version im Dede korkut kitabi. Einige im Kommentar erwähnte Erzählungen erinnern jedoch an für die literar. Tepegöz-Geschichte bezeichnende Themen: Das Ungeheuer ist halbmenschlich, wird von einem Khan oder Padischah adoptiert und dadurch zum Adoptivbruder des Helden Basat, obwohl er als Wilder in eindeutigem Gegensatz zu ihm steht (cf. Valentin und Orson). Alle Versuche, den Unhold in die (zivilisierte) menschliche Gesellschaft zu integrieren, scheitern, und er wird verbannt bzw. soll getötet werden. In diesen mündl. Var.n ist der Charakter des Tepegöz komplizierter, da er mit Zügen eines Helden ausgestattet und einem ζ. T. tyrannischen Führer gegenübergestellt wird - eine später auch von J. Conrad herausgearbeitete Tendenz35. 1956 kam C. S. Mundy in seiner Analyse der literar. Tepegöz-Version aufgrund unlogischer Elemente zu dem Schluß, die P.-Sequenz, die nur einen kleinen Teil der gesamten Erzählung umfaßt, stelle den unbeholfenen Versuch einer Adaptation der homerischen Version an das türk. Korpus dar; alle anderen Aspekte der Tepegöz-Geschichte sah er als nebensächlich an 36 . Der Turkologe und Folklorist W. Hickmann bezeichnete Mundys Analyse als zu mechanistisch und begrenzt37. Auch M. Meeker wandte gegen Mundy aus anthropol. Perspektive ein, daß in beiden Versionen grundlegende kulturelle Unterschiede bezüglich der Rolle des einzelnen in der Gesellschaft zum Ausdruck kämen, wobei das türk. Ideal in der Unterordnung unter das gesellschaftliche Ganze, das westl. im Primat des Individuums bestünde 38 . Dabei folgte Meeker dem schon bei von Diez eingeschlagenen Trend, von dem nur W. -»· Eberhard und Boratav abwichen, indem sie die Geschichte von Basat und Tepegöz im Dede Korkut kitabi mehr als Teil der Volksüberlieferung und für die mündl. türk. Var.n repräsentativ und weniger als eigenständige literar. Fassung behandelten. Conrad verglich 120 europ. und 19 türk. mündl. Var.n unter-

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einander sowie mit den literar. Fassungen in der Odyssee und im Dede Korkut kitabi. Abweichend von früheren Analysen stellte sie über die Kulturgrenzen hinweg bei den mündl. Var.n strukturelle und thematische Übereinstimmungen fest, die enger sind als die jeweiligen Verbindungen zu den literar. Fassungen. Den zentralen Konflikt in der Erzählung interpretierte sie als Spannung zwischen den widerstreitenden Kräften der Sozialordnung und dem Willen des einzelnen39. Parallel zu der Beschäftigung westl. Forscher mit Tepegöz in Zusammenhang mit dem Ursprung von AaTh 1137 untersuchten Arbeiten türk. Wissenschaftler das Dede Korkut kitabi. Diese Arbeiten stammen bes. aus den frühen Jahren der Republik, als die Nationalisten ihre bes. Aufmerksamkeit auf die Ogusen, die als die ursprünglichen Türken Anatoliens betrachtet wurden, und ihre ,Geschichte richteten. Diese Arbeiten waren oft eher deskriptiv und konzentrierten sich entweder auf spezielle kulturelle Züge, über die das Werk Aufschluß gab, oder die Aufzeichnung zeitgenössischer türk. Var.n, die im Bestreben, einen konstanten, hist. türk. Volkscharakter herauszuarbeiten, den Nachweis erzählerischer Kontinuität erbringen sollten40. Neben den Arbeiten von Boratav und I. Bajgöz sind zwei weitere bedeutende türk. Beiträge zur internat. Erforschung des P.themas zu nennen: Ο. Gökyay erörtert die Tepegöz-Forschung sowie das Dede Korkut kitabi und vergleicht die türk. Var.n mit der P.-Geschichte41; S. Sakaoglus komparatistischer Beitr. umfaßt eine Motivliste, eine Aufstellung der türk. Publ.en zu Tepegöz und einen Überblick über Unters.en zur Beziehung zwischen P. und Tepegöz42. Anhänger der Sonnen- und Naturmythologie legten den Zusammenstoß zwischen Odysseus und P. natursymbolisch (Kampf zwischen Licht und Dunkel etc.) aus. Die erste solarmythol. Interpretation geht auf Grimm zurück 43 ; nach anderen naturmythol. Deutungen steht P.s einziges Auge für den Mond 44 , die Sonne45, einen Vulkan46 oder das Auge des Sturms 47 . G. Germain benutzte nordafrik. Material zur Stützung einer ritualistischen Interpretation, nach der die Erzählung das Survival eines alten Initiationsritus des Widderkults darstellt48. Ε. B. Tylor interpretierte die Geschichte wörtlich; Kannibalismusdiskussionen

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Polyphem

trugen zur Rechtfertigung des viktorian. sozialevolutionären Paradigmas und seines Bedürfnisses, den Inbegriff des ,Primitiven' zu konstruieren, bei 49 . Mit L. ->• Laistner beginnen die symbolistischen Analysen. Hier werden alle Ungeheuer und Unholde der Volkserzählung auf -» Träume zurückgeführt; in der Geschichte des einäugigen P. sieht er nicht nur den in diesem verkörperten Schrecken, sondern auch die Beschreibung eines Machtkampfs und den Sieg des menschlichen Helden als Wunscherfüllung 50 . Laistner setzte sich auch mit der Bedeutung von Sehen und Blindheit auseinander und kam zu dem Schluß, daß ein Unhold, der nicht sichtbar ist oder nicht sehen kann, impotent sei, wobei er Sicht mit physischer wie sexueller Kraft gleichsetzte (-> Impotenz) 51 . Psychol. Deutungen in Anlehnung an S. Freud drehen sich um zwei Schlüsselthemen der Erzählung, Blendung und Kannibalismus 52 . Den Blendungsakt versteht z.B. E. Jones als symbolische Kastration, wobei das Auge als Symbol schöpferischer Kraft gesehen wird und die Mutilation die Macht des nächtlichen Unholds ausschaltet, und interpretiert daher den Konflikt zwischen Odysseus und P. als ödipal (cf. AaTh 931: —• Ödipus)53. Auch G. Roheim vertritt auf einer breiten Grundlage vergleichender volkskundlicher Materialien sowohl die Traum- als auch die ödipale These, wobei er Kastrationsängste für das Hauptmotiv der Blendung und Entmachtung des Ogers hält 54 . Von einem oft durch sexuelle Spannungen verschärften familiären Machtkampf spricht ebenfalls Conrad, eine Interpretation, die durch die von ihr einbezogenen türk. Var.n gestützt wird 55 . 1 cf. zusammenfassend Conrad, J. Α.: Polyphemus and Tepegöz Revisited. A Comparison of the Tales of the Blinding of the One-eyed Ogre in Western and Turkish Traditions. In: Fabula 40 (1999) 278-297; ergänzend Fehling, D.: P. und Rhampsinit im Dolopathos. In: id: Amor und Psyche. Mainz/Wiesbaden 1977, 89-97; Hansen, W.: Homer and the Folktale. In: A New Companion to Homer, ed. I. Morris/B. Powell. Leiden/N. Y. 1997, 442-462; Ramos, M.: Do ciclope da „Odisseia" äo Olharapo da tradi^ao oral transmontana. In: Estudos de literatura oral 3 (1997) 145-158; Montgomery, J. E.: Al-Sindibäd and Polyphemus. Reflections on the Genesis of an Archetype. In: Myths, Historical Archetypes and Symbolical Figures in Arabic Literature, ed. A. Neuwirth u.a. Beirut 1999, 437-466; Tezcan, S./Boe-

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schotten, H. (edd.): Dede Korkut oguznamelere. Istanbul 2001, 146-155; Tezcan, S.: Dede Korkut oguznamelere üzerine notlar. Istanbul 2001, 297-317. - 2 Ergänzend zu AaTh 1137: Baughman; Rausmaa; Kerbelyte; de Meyer, Conte; HubrichMessow; Kurdovanidze; Jason. - 3 Ergänzend zu AaTh 1135, 1136: 0 Süilleabhäin/Christiansen 1135; Baughman Κ 602.1; Hodne 1135; Rausmaa 1135, 1136; Jauhiainen G 1701, G 1711, G 1721, Μ 87; Kecskemeti/Paunonen 1135; Aräjs/Medne 1135, 1136; SUS 1135, 1136; Krzyzanowski 1135; Gasparikovä, num. 81; Hubrich-Messow 1136; Cirese/Serafini 1135; Megas/Puchner 1136; BFP 1135; Stroescu, num. 4942 c; Jason 1135; Schwarzbaum, Fox Fables, 199 (not. 10), 209 (not. 16), 241 (not. 7); Bodker, Indian Animal Tales, num. 212; Jason, Indie Oral Tales 1135; Ting 1137; Marzolph, U.: Social Values in the Persian Popular Romance „Sal!m-i JavähirT". In: Edebiyät N. S. 5 (1994) 77-98, bes. 83 (iran. Var.n). - 4 Uther, H.-J.: Behinderte in populären Erzählungen. B./N. Υ. 1981, 32-34, hier 32. - Molton, J. D. P.: Aristeas of Proconnesus. Ox. 1962, 80-84. - 6 Korogly, Ch. G.: Depegioz i Polifem (Tepegöz und P.). In: Sovetskaja tjurkologija (1989) H. 4, 76-83, hier 81. - 7 1001 Nacht 6, 716; Marzolph, U.: Sindbäd (the Sailor). In: EI2 9 (1997) 638-640. - 8 Fehling (wie not. 1). - 9 cf. Naumann, H.-P: Das P.-Abenteuer in der altnord. Sagalit. In: SAVk. 75 (1979) 173-189. - 10 Röhrich, Erzählungen 1, 49 sq. 11 Korogly (wie not. 6) 79. - 12 ζ. B. Boratav, P. N.: Dede Korkut Hikäyelerindeki Tarihi Olayar ve Kitabin Te'lif Tarihi. In: Türkiyat meemuasi 13 (1958) 31-62; Ba§göz, I.: The Epic Tradition among Turkic People. In: Heroic Epic and Saga. ed. F. Oinas. Bloom. 1978, 310-385, hier 315; Lewis, G.: The Book of Dede Korkut. L. 1988, 18; Reichl, K.: Turkic Oral Epic Poetry. N. Y./L. 1992, 43 sq. - 13 cf. SUS. - 14 cf. Frazer, J. G.: Apollodorus: The Library 2. L. 1921 (Nachdr. 1976), 404-455, hier num. 2, 4-10. - 15Afanas'ev, num. 302. - 16Tursonov, E. D.: Tjurko-mongol'skie versii skazanija ob osleplenii ciklopa (Die turko-mongol. Versionen der Blendung der Zyklopen). In: Sovetskaja tjurkologija (1975) H. 3, 36-43. - 17 Korogly (wie not. 6); cf. auch id.: Iz vostocno-zapadnych fol'klornych svjacj. Temjaglaz (Depegez) i Polifem (Über die Ost-WestBeziehung in der Volksüberlieferung. Tepegöz und P.). In: Tipologija i vzaimosvjazy srednevekovych literatur Vostoka i Zapada. ed. B. L. Riftin u.a. M. 1974, 275-288; id.: Oguzskii geroiceskij epos (Das ogus. Heldenepos). M. 1976. - 18Tursonov (wie not. 16) 38 sq. - 19 cf. Gennep, A. van: La Legende de Polypheme. In: id.: Religions, meeurs et legendes 1. P. 1908, 155-164; Meuli, K : Odyssee und Argonautika. Unters.en zur griech. Sagengeschichte und zum Epos. B. 1921, 65-80; Bender, F.: Die märchenhaften Bestandtheile der homer. Gedichte. Darmstadt 1878, 29 sq.; Ruben, W.: Ozean der Märchenströme 1 (FFC 133). Hels. 1944, 244-253. - 20 Diez, H. F. von: Depe Ghöz oder der oghuz. Cyclop. In: id.:

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Pomeranceva (Gofman), Erna Vasil'evna

Denkwürdigkeiten von Asien 2. B./Halle 1815, 399-435. 21 Grimm, W.: Die Sage von P. [1857], In: id.: Kl.re Sehr. 4. ed. G. Hinrichs. Gütersloh 1887, 428-462. - 22 Köhler/Bolte 1, 181-184; BP 3, 369-378. 23 Polivka, J.: Nachträge zur P.sage. In: ARw. 1 (1898) 305-336. - 24 Hackman, O.: Die P.sage in der Volksüberlieferung. Hels. 1904. - 25 ibid., 160 sq., 189, 206. - 26 Überblick bei Conrad (wie not. 1). — 27 Röhrich, L.: Die ma. Redaktionen des P.Märchens (AT 1137) und ihr Verhältnis zur außerhomerischen Tradition. In: Fabula 5 (1962) 48-71; Röhrich, Erzählungen 2, 312-350, 447-460. 28 Glenn, J.: The Polyphemus Folktale and Homer's Kyklöpeia. In: Transactions and Proc. of the American Philological Assoc. 102 (1971) 133-181; id.: The Polyphemus Myth. Its Origin and Interpretation. In: Greece and Rome 25,2 (1978) 141 -155. - 29 Fehling (wie not. 1). - 30 Montgomery (wie not. 1). — 31 Mondi, R.: The Homeric Cyclopes. Folktale, Tradition, and Theme. In: Transactions and Proc. of the American Philological Assoc. 113 (1983) 17-38. 32 Ruben (wie not. 19). - "Boratav, P. N.: Dede Korkut Hikäyeleri Hakkinda (Uber das Buch Dede Korkut). In: id.: Folklor ve Edebiyat 1. Istanbul 1939, 108-110. - 34 Eberhard/Boratav, num. 146. 35 Conrad (wie not. 1) bes. 286. - 36 Mundy, C. S.: Polyphemus and Tepegöz. In: Bulletin of the School of Oriental and African Studies 18 (1956) 279-302; cf. auch id.: The Cyclops in Turkish Tradition. A Study in Folklore Transmission. In: Kongreß Kiel/ Kopenhagen 1959, 229-234. - 37 Hickman, W.: Basat and Tepegöz: A Reappraisal. In: Edebiyat 2,1-2 (1988) 167-189. - 38 Meeker, Μ. E.: The Dede Korkut Ethic. In: Internat. J. of Middle East Studies 24 (1992) 395-417. - 39 Conrad (wie not. 1) 288. 40 cf. z.B. Öztelli, C.: Yajayan Dede Korkut: Tepegöz (Der lebendige Dede Korkut: Tepegöz). In: Türk folklor ara§tirmalari 6,213 (1967) 4375 sq. 41

Gökyay, Ο. §.: Dedem Korkudun kitabi (Das Buch Dede Korkut). Istanbul 1973, XLVIII-LXIII; cf. auch id.: Tepegöz Efsanesine Dair (Zu den Tepegöz-Geschichten). In: Olus 1,15 (April 1939) 231 sq. - 42 Sakaoglu, S.: Ya§ayan Tepegöz hikäyesi (Die lebendige Tepegöz-Geschichte). In: Türk kültür ara§tirmalan 11-14 (1973-75) 50-84. - 43 Grimm (wie not. 21). - 44 Nitzsch, G. W.: Erklärende Anmerkungen zu Homer's Odyssee 3. Hannover 1840, 27. - 45 Krek, G.: Einl. in die slav. Literaturgeschichte. Graz 21887, 665 - 759. - 46 cf. bes. Berard, V.: Les Navigations d'Ulysse. P. 1929, 179-185; kritisch dazu Bonnard, Α.: Victor Berard et les cyclopes. In: Recueil de travaux publies ä l'occasion du quatrieme centenaire de la fondation de l'Univ. de Lausanne. Lausanne 1937, 45-62. - 47 Laistner, L.: Nebelsagen. Stg. 1879, 272. - 48 Germain, G.: Essai sur les origines de certains themes odysseens et sur la genese de l'Odyssee. P. 1954, 55-129. - 49Tylor, Ε. B.: Primitive Culture. L. 1870, 376-385; Pocock, L. G.: Reality and Allegory in the Odyssey. Amst.

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1959, 26 sq. - 50 Laistner, L.: Das Rätsel der Sphinx 2. B. 1889, 48 sq. 51 ibid., 57-63. - "Bennett, S.: The Hero as an Only Child. An Unconscious Fantasy Structuring Homer's Odyssey. In: The Internat. J. of PsychoAnalysis 55 (1974) 555-562; Clarus, I.: Über den Sinn der Blendung (des P. durch Odysseus und der Selbstblendung des Oidipus). In: Analytische Psychologie 17 (1986) 555-562 . - "Jones, E.: Nightmare, Witches, and Devils. Ν. Υ. 1931, bes. 289. 54 Röheim, G.: The Gates of the Dream. Ν. Υ. 1952, 355-405. - 55 Conrad (wie not. 1) 283-286. Berkeley

JoAnn Conrad

Pomeranceva (Gofman), Erna Vasil'evna, "•Moskau 19.4.1899, f e b e n d a 11.8.1980, russ. Erzählforscherin. 1 9 1 8 - 2 2 studierte P. an der philol. Fakultät der Univ. Moskau u. a. bei P. N. Sakulin und hatte Kontakt mit dem Moskauer linguistischen Kreis um P. G. - Herder die Übers.en ,Populärlied',,Lieder des Volks' und .Volkslied'14. Die Volkspoesie oder Naturpoesie erhielt ihren eigenen Rang und regte die Dichter zu entsprechenden Produktionen an; und auch in der musikalischen Komposition spielte das Populäre, der ,Volkston', zunehmend eine Rolle15.

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Die Einstellung zum Populären und zur P. war allerdings nicht einheitlich. Während etwa Gottfried August -> Bürger die Popularität seiner Gedichte als das „Siegel ihrer Vollkommenheit" 16 über gefühlvolle Wendungen zu erreichen suchte, wandte sich Friedrich Schiller entschieden gegen das .Schmelzende' und das allzu Sinnliche in der Dichtung 17 . Für ihn war entscheidend, daß „der Popularität nichts von der höheren Schönheit aufgeopfert" werde18. 1805 veröffentlichte der preuß. Prediger J. G. Greiling eine Theorie der Popularität 19 . Er vertrat darin die Auffassung, daß sich P. nicht in sprachlichen Bemühungen erschöpfen könne, daß vielmehr „ein populäres Denken vorhergehen" müsse20. Im Gegensatz zum „spekulativen" oder „philosophischen Verstand" gebrauche das Volk den „natürlichen gemeinen Verstand", der auch als „der gesunde Verstand" bezeichnet werden könne 21 . Greiling sprach zwar von der „Herablassung zum Volksverstand"22, aber er erkannte dem Populären einen eigenen Wert zu. Er neigte, mit den Termini jüngerer Debatten 23 gesprochen, nicht der Defizit-, sondern der Differenzhypothese zu. Diese Anerkennung von Popularität führte dazu, daß neben die Anstrengung zur P. wiss. Erkenntnisse und auch literar.-künstlerischer Leistungen der Respekt vor den autonomen Äußerungen des Volkes trat, wie man sie in der ,Volkspoesie' verwirklicht sah. Für P. schien in diesem Bereich kein Bedarf zu bestehen, da solche Produkte ja bereits durch ihre Herkunft als populär definiert sind. Das leitende Prinzip im Umgang mit der Volkspoesie wurde deshalb das Sammeln und die möglichst unverfälschte Wiedergabe. Dabei bestand keineswegs immer Einigkeit darüber, was unverfälscht heißt. J. Grimm zum Beispiel sah ,die rechte Treue' in der Wiedergabe einer Erzählung gewährleistet, wenn deren Zentrum unzerstört blieb - er wählte den einprägsamen Vergleich mit dem Ausschlagen eines Eis, bei dem der Dotter ganz erhalten bleibt24. Es gibt also Spielraum für die Bearbeitung, wobei manche Sammler auch nicht davor zurückscheuen, den Dotter nach ihren Vorannahmen wiederherzustellen' (-» Rekonstruktion). Dies gilt nicht nur für die Anfänge der Folkloristik, sondern vielfach bis in die Gegenwart hinein.

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Popularisierung

Bei den Schritten der Bearbeitung spielt das Ziel der P. eine zentrale Rolle. Es ist zu unterscheiden zwischen sprachlich-stilistischen Veränderungen und solchen inhaltlicher Art, die das Erzählte den Lesern oder Zuhörern näher bringen sollen. Dabei handelt es sich nicht um einen eindeutig bestimmbaren Prozeß. Die Verankerung einer Erzählung in der Lebenswelt der Rezipienten kann zur P. beitragen; sie kann aber auch das Gegenteil bewirken. B. Auerbach stellte beispielsweise fest, daß das Volk es nicht liebe, „sich seine eigenen Zustände wieder vorgeführt zu sehen" 25 . In vielen Fällen ist die P. verbunden mit der Pädagogisierung (-» Pädagogik). Anhand der Kinderund Hausmärchen der Brüder Grimm ist der Zuschnitt der Märchen auf die kindliche Auffassungsgabe, aber auch auf die für Kinder bestimmte Moral oft herausgestellt worden. Der moralisierende Gehalt hat der Wirkung keinen Abbruch getan: Die Märchen mit einer deutlichen Trennung von Gut und Böse sind am populärsten geblieben - wie überhaupt die Vermittlung moralischer Maßstäbe und die Belehrung stets wichtige Elemente populärer Erzählungen waren (-• Didaktisches Erzählgut). Gegen eine allzu starke Idealisierung und vor allem gegen -» Ideologisierung entwickeln sich aber oft allergische Reaktionen; die unter autoritären Regimen unternommenen Versuche, überliefertes Erzählgut durch politisch konforme Erzählungen zu verdrängen (-> Marxismus, Nationalsozialismus), waren nicht bes. wirksam. Erfolgreicher waren Tendenzen, durch Auswahl und Bearb. einen nationalen Erzählschatz zu schaffen und zu popularisieren, wie dies in den 1950er Jahren in den USA durch B. Botkin geschah. Die kritische Ausgrenzung solcher von R. -» Dorson als fakelore bezeichneter Produkte sicherte den Bereich legitimer Folklore für die Wiss. ab, bremste aber die Verbreitung der ,Folklore für Millionen' kaum. Der Hinweis auf spezifische Ziele der P. darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß in vielen Fällen die Ausbreitung als solche und damit der wirtschaftliche Erfolg das eigentliche Ziel ist. Im weiteren Sinne gehören zu den Mitteln der P. auch die Bemühungen um attraktive äußere Gestaltung und - Hildebrand (Farsa de Ines Pereira, 1523) oder AaTh 1479*: Die Alte auf dem Dach (Ο Triunfo do Inverno, 1529). Bes. Bedeutung kommt den Contos e Histörias de Proveito e Exemplo von Gonpalo Fernandes -»• Trancoso (16. Jh.) zu, einer Slg von 40 Erzählungen in der Exempeltradition, in denen wunderbare oder schwankhafte Elemente fast vollständig fehlen. Die durch die Inquisition verbotene Erstausgabe (1575) ist nur in einem einzigen Exemplar erhalten 18 . Drei Erzählungen daraus wurden in der Ausg. von 1624 getilgt, vermutlich aufgrund von Wundermotiven, von denen man wohl vermutete, sie dienten der Entschuldigung der Hexerei19, und zehn neue Texte hinzugefügt 20 . Die große Popularität des Werks ist seit Anfang des 17. Jh.s belegt21. In ihm erscheinen folgende Volkserzählungen: AaTh 873: König entdeckt seinen unbekannten Sohn22, die einzige Geschichte mit Wunderelementen in der Ausg. von 1624; AaTh 506 A: cf. -» Dankbarer Toter23; novellenmärchenhafte Versionen von AaTh 516 C: Amicus und Amelius24 und AaTh 707: Die drei goldenen Söhne15·, AaTh 887: Griseldis26; AaTh 910: Die klugen - Ratschläge21; AaTh 910 G: Verstandfür einen Pfennig28 (sehr häufig in mündl. Uberlieferung); AaTh 1331: Neidischer und Habsüchtiger29·, AaTh 1454*: cf. -> Brautproben·, AaTh 1534: Die Urteile des -» Schemjaka30; andere novellenmärchenhafte Erzählungen weisen Motivähnlichkeiten mit AaTh 891 A: - Kristallpalast31, AaTh 922: - Kaiser und Abt32, AaTh 926 C: Cases Solved in a Manner Worthy of Solomon (-» Salomonische Urteile)33 sowie AaTh 143034 auf.

Etwa 30 Jahre vor Basiles Le tre cetre (5,9) findet sich bei dem Dichter Fernäo Rodrigues Lobo Soropita (spätes 16. Jh.) schon eine Anspielung auf AaTh 408: Die drei -> Orangen*5, bis heute eines der beliebtesten Märchen in P. Im 17. Jh. erscheinen bei dem Schriftsteller Francisco Manuel de Melo (1608—66) Erwähnungen der Heldin von AaTh 879: -» Basilikummädchen36 und von Carochinha (AaTh 2023: Little Ant Finds a Penny, Buys New Clothes with it, and Sits in her Doorway)11, einer Erzählung, die in P. so weit verbreitet ist, daß ihr Name zum Synonym für Märchen wurde.

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Portugal

3. G e s c h i c h t e der E r z ä h l f o r s c h u n g 3.1. 1 8 7 0 - 1 9 2 0 . Das romantische Interesse an Volksliteratur setzte in den 20er Jahren des 19. Jh.s mit dem port. Exilschriftsteller Joäo de Almeida Garrett ein, der seinerseits von Autoren wie Sir Walter -» Scott beeinflußt war, und galt fast ausschließlich dem Sammeln und der literar. Bearb. von Romances' (iber. Balladen). Zwar wurden schon 1837 drei Märchen der Brüder ->• Grimm ins Portugiesische übersetzt38, und 1860 erschien eine Var. von AaTh 774 C: Hufeisenlegende in einer Zs.39; den Anfang eines 50jährigen Goldenen ZA.s für das Sammeln und die Erforschung der port. Erzählüberlieferung bildet jedoch das Jahr 1870, in dem T. -» Braga erstmals zwei port. Volkserzählungen (AaTh 408 sowie AaTh 563: -» Tischleindeckdich) in einem Aufsatz über Märchen publizierte40. Die erste Erzählsammlung in Buchform wurde 1879 von A. -> Coelho veröffentlicht 41 . Sie enthält 75 Erzählungen und eine Einl., in der Coelho die Sammler sowie die meisten Informanten nennt und sich für genaue Wiedergaben ausspricht. Die Slg, die keine Var.n enthält, sollte die Bandbreite des port. Materials veranschaulichen. In der Einl. vergleicht Coelho das port. Material mit alten literar. Erzählungen und mündl. Var.n aus anderen europ. Ländern. Volkserzählungen standen für Coelho keineswegs im Mittelpunkt seines Interesses; seine Hauptarbeitsgebiete waren einerseits port. Linguistik und Ethnographie und andererseits Bildungsfragen. In diesem Zusammenhang gab er auch ein Buch mit port. Volkserzählungen für Kinder heraus 42 . Trotz seiner Vertrautheit mit der dt. Sprache und Kultur sprach sich Coelho gegen die Idee einer port. Übers, der -» Kinder- und Hausmärchen aus, da er befürchtete, die Reinheit der mündl. port. Überlieferung würde dadurch beeinträchtigt 43 . 1883 publizierte Braga die Contos tradicionaes do Povo Portuguez44. Der 1. Teil von Band 1 enthält 57 Zaubermärchen, der 2. Teil 90 Novellen-, Schwank- und Formelmärchen; der 1. Teil von Band 2 bringt frühe literar. Quellen von Volkserzählungen in P., der 2. Teil Sagen und Fabeln. Bragas langes Vorwort und die Fußnoten zu den Erzählungen zeigen den Einfluß der damals tonangebenden Theorien von Ε. B. Tylor, T. Benfey und A. De

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Gubernatis. Bragas etwas unzuverlässige wiss. Arbeitsweise hat allerdings seine unbestreitbare Gelehrsamkeit beeinträchtigt. Eine dritte Slg wurde von Z. Consiglieri Pedroso veröffentlicht, zuerst 1882 in engl. Übers., dann im port. Original45. Die engl. Ausg. enthält zwar keine Var.n derselben Erzählung, doch legte Consiglieri Pedroso in der port. Ausg. von 1910 Wert darauf, in P. weitverbreitete Erzählungen (ζ. B. AaTh 408), in mehreren Fassungen vorzustellen, da er sich der Gefahr bewußt war, daß eine bes. gut erzählte Version fälschlich für einen ,genetischen Typus' gehalten werden könnte 46 . 1904 und 1905 erschienen zwei umfangreiche Bände mit Volkserzählungen und Ortsnamenssagen der Algarve, gesammelt von F. X. Ataide Oliveira (-• Athaide Oliveira, F. X. de), die sich oft durch ein übermäßiges Bemühen um Klarheit und Gefälligkeit auszeichnen47. Mit ungewöhnlichem Engagement widmete sich Ataide Oliveira den Feldforschungen für eine Slg von Lokalsagen über verzauberte Mauren und Maurinnen, wie sie in P. weitverbreitet sind. Er beschreibt, wie er mit behutsamer Überzeugungsarbeit widerstrebende Frauen dazu brachte, ihm Geschichten zu erzählen, die ihrer Meinung nach nicht weitergegeben werden durften, weil die Verzauberung der Maurinnen sich sonst verdoppeln würde 48 . M. Cardoso Martha und A. Pinto publizierten 1912 eine regionale Slg mit 40 Erzählungen 49 . Selbstgesammelte Erzählungen sowie Texte aus port, und ausländischen Slgen stellte A. de Castro Osorio in kindgerechter Bearbeitung in ihrer Reihe Para as crianfas 1 - 1 8 (1897 -1913) vor 50 . Ende des 19. Jh.s erschienen verschiedene volkskundliche und philol. Zss., die Artikel über mündl. Überlieferungen und Slgen von Volkserzählungen brachten; die bedeutendsten waren die Revista Lusitana (1887-1943) 51 , A Tradifäo (1899-1904) 52 und die Revista do Minho (1885-1914) 53 , doch kommt auch in vielen anderen Zss., darunter einigen kurzlebigen, das starke Interesse an Ethnographie und Volksüberlieferung in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh.s zum Ausdruck. Von bes. Interesse ist A. Apells 1920 erschienene komparatistische Unters. Er geht aus von den 27 russ. Volksmärchen, die er aus der Slg Α. N. -> Afanas'evs übersetzt hatte, vergleicht sie mit port, und brasilian. Var.n und

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Portugal

dehnt den Vergleich dann systematisch weltweit auf alte und neuere Erzählungen aus, wobei er auf eine beträchtliche Zahl der damals verfügbaren Slgen zurückgreift 54 . In seiner Einl. äußert sich Apell vorsichtig und kenntnisreich zu den verschiedenen komparatistischen Theorien seiner Zeit, die er im Zuge seiner Analyse erörtert. Apell ist der wichtigste Vertreter der Komparatistik in P., und sein Buch ist, in kleinerem Maßstab, ein Vorläufer der vergleichenden Analyse span. Erzählungen durch Α. M. Espinosa senior55. Der hervorragendste port. Folklorist bleibt J. Leite de Vasconcelos. Als Naturwissenschaftler, Arzt, Ethnologe und Philologe war er der letzte große Vertreter der alten Schule vielseitig gebildeter und interessierter Gelehrter. Die von Vasconcelos begründete Revista Lusitana spiegelt diesen interdisziplinären Ansatz wider. Vasconcelos war der erste Wissenschaftler, der die Ergebnisse seiner Feldforschungen exakt transkribierte, in seiner Publ.stätigkeit galt sein Hauptinteresse jedoch der Ethnographie und der Geschichte des Volksglaubens in P. 3.2. N a c h J. Leite de Vasconcelos. Wahrend Coelho, Pedroso und Apell in die europ. Erzählforschung eingebunden waren, verlor die port. Folkloristik seit den 30er Jahren des 20. Jh.s den Anschluß an die interaat. Wiss. Die Forschung war auf lokale ethnogr. Monogr.n ausgerichtet, die gelegentlich einige Erzählungen zur Veranschaulichung der mündl. oder sprachlichen Überlieferung einer bestimmten Gegend enthielten56. Exakte Feldforschungen zu volkstümlichem Erzählmaterial sind auch Dialektologen zu verdanken, die jedoch ihre eigenen Ziele im Blick hatten und Volkserzählungen als Unters.sgegenstand wenig Aufmerksamkeit schenkten. Dieses Material erscheint als Teil studentischer Examensarbeiten für Ethnographie und Linguistik an den Univ.en von Lissabon und Coimbra, bes. bei dem Linguisten L. F. Lindley Cintra von der Fakultät für Lit. in Lissabon57. Auf dem Gebiet der Erzählüberlieferung wurden bis in die 1960er Jahre hinein nur noch Anthologien, die aus früheren Slgen schöpften, veröffentlicht58. Die von Vasconcelos hinterlassene umfangreiche Slg von verstreutem Erzählmaterial wurde erst 1964/66 posthum von P. and A. So-

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romenho u. d. T. Contos populäres e Lendas publiziert59. Die über 600 Nummern sind unklassifiziert und unbefriedigend nach thematischen Gruppen geordnet. Vasconcelos selbst hätte dieses Buch sicher anders angelegt, denn er hatte schon 1920 eine begeisterte Besprechung von A. -» Aarnes ersten Klassifizierungsarbeiten (FFC 3, 10, 13) verfaßt 60 ; auch hätte er wohl einen Teil der ihm von A. C. Osorio überlassenen 70 literar. bearb. Erzählungen nicht mit publiziert. Die Soromenhos veröffentlichten auch die Erzählungen aus den Examensarbeiten von Cintras Studenten als Teil einer Slg von 734 bis dahin unpublizierten Erzählungen 61 . Diese Slg enthält ebenfalls viel Material aus Feldforschungen, die das Team des Musikethnologen M. Giacometti sowie Studenten nach der April-Revolution von 1974 durchführten. Es ist eine ausgezeichnete Slg, mit genauen Transkriptionen des gut dokumentierten Materials. Unglücklicherweise legten die Herausgeber es aber nach dem Vorbild ihrer VasconcelosAusg. an und ließen das Erzählkorpus unklassifiziert. 3.3. N e u e r e Z e i t . Dem aktuellen Forschungsstand entsprechende Arbeiten zum port. Erzählgut erschienen seit den 1970er Jahren, allerdings außerhalb von P. Die erste Slg klassifizierter port. Volkserzählungen stellt die von S. L. Robe betreute Diss, von M. Costa Fontes (1975) dar, eine Auswahl von 50 Erzählungen aus Fontes' ausgedehnten Feldforschungen bei port. Auswanderern in Kalifornien, mit Kommentaren und Verweisen auf die Kataloge von A. Aarne und S. Thompson, T. L. ->• Hansen, R. S. - Boggs und Robe 62 . Bereits 1955 hatte in den USA Q. E. Martinez in seiner ebenfalls unpubliziert gebliebenen Diss, einen Motiv-Index der bis dahin veröff. port. Erzählungen vorgelegt63. H. Meiers Auswahl port. Märchen von 1940 in der dt. Reihe Die Märchen der Weltliteratur fand 1975 mit dem Band von Meier und D. Woll eine Fortsetzung, deren gut dokumentierte Texte auch unveröff. Material umfassen64. Seit den 1990er Jahren erscheinen in P. auch regionale Slgen, deren Erzählungen klassifiziert sind65. An port. Univ.en ist Folkloristik kein eigenständiges Fach, sondern wird an den geisteswiss. Fakultäten der Univ. Clässica in Lissa-

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Portugal

b o n (dort zusätzlich an der Anthropol. Fakultät), der Univ. N o v a in Lissabon, der Univ. Porto und der Univ. d o Algarve in Faro gelehrt, w o b e i volkskundliche Erzählforschung nur in einem Semester a n g e b o t e n wird. Dabei zeigt sich eine gewisse Bevorzugung der Balladen, da die Balladenforschung in den letzten 20 Jahren florierte, während die Erzählforschung gerade erst F u ß faßt. In den vergangenen Jahren entstanden j e d o c h drei Dissertationen 6 6 und mehrere Magisterarbeiten 6 7 im Bereich der volkskundlichen Erzählforschung. O b w o h l es an port. Univ.en mehrere folkloristische Forschungszentren gibt 6 8 , ist mit Erzählforschung hauptsächlich das Centro de Estudos Ataide Oliveira an der Univ. d o Algarve befaßt. Es verfügt über ein Archiv, das v o n I. Cardigos geleitet wird, die auf dieser Grundlage den K a t a l o g der port. Volkserzählung vorbereitet u n d seit 1995 auch die einmal jährlich erscheinende internat. Zs. Estudos de Literatura Oral herausgibt. Als weitere zeitgenössische port. Erzählforscher zu nennen sind A . Saraiva v o n der Univ. Porto, ein Spezialist für Volksliteratur 6 9 , N . Jüdice v o n der Univ. N o v a in Lissabon, der zahlreiche, z u m größten Teil veröff. Magisterarbeiten über Volkserzählungen betreut hat, und F. Vaz da Silva v o m Instituto Superior das Ciencias d o Trabalho e d a Empresa 7 0 . 4. R e z e n t e E r z ä h l ü b e r l i e f e r u n g . D i e lebendige Erzähltradition ist zwar rasch im Schwinden begriffen, trotzdem ist das Sammeln v o n Volkserzählungen in den ländlichen G e g e n d e n P.s immer n o c h lohnend, gelegentlich sind auch n o c h außergewöhnlich gute Erzählerinnen u n d Erzähler zu finden. A u s d e m gegenwärtig erarbeiteten Überblick über die veröff. Slgen geht hervor, d a ß in P. ca 400 verschiedene internat. verbreitete Erzähltypen und Subtypen belegt sind, daneben eine Anzahl v o n Erzählungen, die nicht bei A a T h vork o m m e n . N a c h aktuellem Forschungsstand scheinen die häufigsten Typen folgende zu sein: AaTh 15; AaTh 60: Fuchs und Kranich', eine Fassung von AaTh 122 F: Wait till I Am Fat Enough71; AaTh 225: cf. Fliegen lernen; AaTh 303: Die zwei -» Brüder, AaTh 313 C: cf. -» Magische Flucht (von männlichen Erzählern als AaTh 313 erzählt); AaTh 330: cf. - Schmied und Teufel·, AaTh

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408; AaTh 516 C; eine Reihe von Subtypen zu AaTh 425: cf. Amor und Psyche; AaTh 432: -> Prinz als Vogel·, AaTh 465 Mann wird wegen seiner schönen Frau verfolgt-, AaTh 707; AaTh 720: -» Totenvogel; AaTh 750 A: cf. Die drei Wünsche·, verschiedene ätiologische Erzählungen in Zusammenhang mit der Flucht nach Ägypten; AaTh 877: Die geschundene -» Alte-, AaTh 879; AaTh 884 A: cf. - Frau in Männerkleidung; AaTh 891 B*: The King's Glove·, AaTh 922; mehrere Dummenschwänke, Erzählungen von gewitzten Burschen und Märchen vom dummen Teufel; AaTh 1350: Die rasch getröstete Witwe und AaTh 1354: Tod der Alten·, AaTh 1360 C: Der alte -» Hildebrand·, AaTh 1548: - Stärkste Dinge12. 1 Vasconcellos, J. Leite de: Contos populäres e lendas 1. Lissabon 1969, 727-850; entsprechende galic. Überlieferungen bei Gonzalez Reboredo, X. M.: Lendas galegas de tradiciön oral. Vigo 1995. - 2 cf. ζ. B. Affinitäten zwischen Galley, Μ.: Badr az-zin et six contes algeriens. P. 1971, 152—180 (Name), 206-231 (Motiv) und Oliveira, F. X. Athaide: Contos tradicionaes do Algarve 1 - 2 . Tavira/Porto 1900/ 05 (Neuausg. Lissabon 1987/89), hier t. 1, num. 97 (Name), num. 143 (Motiv). - 3 Parsons, Ε. C.: FolkLore from the Cape Verde Islands. Cambr., Mass./ Ν. Y. 1923; ead.: Ten Folktales from the Cape Verde Islands. In: J A F L 30 (1917) 230-238. - 4 Barros, Μ. M. de: Literatura dos negros (Contos, cantigas e parabolas). Lissabon 1900; Belchior, M.: Grandeza africana. Lendas cantadas da Guine Portuguesa. Lissabon 1963; id.: Contos mandingas. Porto [ca 1968], - 5 Chatelain, H.: Folk-Tales of Angola. Boston/N. Y. 1894; Lang, A./Tastevin, C.: La Tribu des Va-Nyaneka. Corbeil 1938; Cardoso, C. L.: Contribuigäo para ο estudo critico da bibliografia do conto popular das etnias angolanas. Luanda 1960; Martins, J. V.: Subsidios para a historia, arqueologia e etnografia dos povos de Luanda. Contos dos Quiocos. ed. H. de Sicard. Lissabon 1971; Lima, Μ. H. de Figueiredo: Natjäo Ovambo. Lissabon 1977, 217-229; Marcelino, R.: Jisabhu. Contos tradicionais. Lissabon 1984. - 6 Junod, H.-A.: Cantos e contos dos Rongas. ed. L. Correia de Matos. s. 1. 1975; Guerreiro, M. Viegas: Contos macondes. Lourengo Marques 1963; id.: Novos contos macondes. Lissabon 1974; Rosärio, L. J. C.: A narrativa africana de expressäo oral. Lissabon 1989; Godinho, Μ. L./ Rosärio, L. (edd.): Ο conto mogambicano. Da oralidade a escrita. Rio de Janeiro 1994, 17-99. 7 Frere, M.: Old Deccan Days. L. 1889; Davidson, S./Phelps, E.: Folk Tales from New Goa, India. In: J A F L 50(1937) 1 - 5 1 . - 8 D u a r t e , J. Barros: Timor: Ritos et mitos ataiiros. Lissabon 1984; Sä, Α. B. de: Textos em teto da literatura oral timorense. Lissabon 1961. - ' M a t t o s o , J. (ed.): Livro de Linhagens do Conde D. Pedro. Lissabon 1980, 138-140. 10 ibid., 169. -

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" Ähnlich eine Episode in einem jüd. Märchen (IFA 5650), cf. Dan, I.: The Innocent Persecuted Maiden. In: Jason, H./Segal, D.: Patterns in Oral Literature. Den Haag/P. 1977, 13-30, hier 21 sq. - 12 Mattoso (wie not. 9) 204-211. - 1 3 Cintra, L. F. Lindley (ed.): Crönica Geral de Espanha de 1344 t. 2. Lissabon 1954, 3 5 - 3 8 . - 14 ibid., 230-233. - 1 5 Frei Hermenegildo de Tancos: Orto do Esposo. ed. B. Maler. Rio de Janeiro 1956, 299, 240 sq., 202 sq., 317 sq., 316, 138. - 16 Vasconcellos, J. Leite de (ed.): Fabulärio portugues. In: Revista Lusitana 8 (1903-05) 9 9 - 1 5 1 ; 9 (1906) 5 - 1 0 9 , hier t. 8, 116, 104, 122 sq. - 17 Buescu, M. L. Carvalhäo (ed.): Copilagam de todalas obras de Gil Vicente. Lissabon 1984. - 18 Faks. Lissabon 1982. - 1 9 cf. Donati, C.: Tre racconti proibiti di Trancoso. Rom 1983. 20 Trancoso, G. F.: Contos e histörias de proveito e exemplo (Texto integral conforme a ediijäo de Lisboa, de 1624). ed. J. Palma-Ferreira. Lissabon 1974; zur Editionsgeschichte cf. Mimoso, Α.: „Contos e histörias de proveito e exemplo" de Gon Kollektaneen)

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noch nicht ausgeschöpft, veranschaulicht die Methode. Als weitere Qu.n nannte P. - wohl nicht nur als konventionellen Topos — eigene Beobachtungen und ihm mündl. Mitgeteiltes, ζ. T. mit Hinweis auf -«· Informanten: explizit in Titeln 22 oder verstreut in den Werken 23 . Für die Kindbettbräuche aus dem Leipziger Kleinbürgermilieu ist die Nutzung eigener Erfahrungen wahrscheinlich (seine beiden Töchter wurden 1660 und 1662 geboren) 24 , und öffentliche Sammelaufrufe dokumentieren zumindest sein Interesse an umlaufenden Geschichten 25 . Dieses legt auch der ein Jahrzehnt nach P.' Tod veröff. abfallig intendierte anekdotische Bericht nahe, daß P., mit einer Schreibtafel versehen, in Leipzig überall Leute, bes. „die lustige Pursche in denen Kauffmanns-Gewölbern", nach Neuem befragt hätte 26 . Entgegen dem daraufhin tradierten Vorwurf der Leichtgläubigkeit P.' und des ,Unechten' seines Materials 27 wäre P. hier eher als ein Vorläufer von Sammlern städtischer Folklore zu charakterisieren, den ungeachtet der -> Glaubwürdigkeit des Erzählten alles interessierte. Eine dritte Qu. besteht in P.' eigenem Erfindungsgeist, wie er für Rübezahlgeschichten selbst einräumte 28 . Die Unzahl der Phänomene, von denen P. meist anhand traditionsreicher Erzählstoffe berichtete, sei an einer kleinen Ausw. aus dem Anthropodemvs plvtonicvs (1666/67) demonstriert: Affe (2, 462-467). - Bärensohn (1, Kap. 19, 266-269). - Basilisk (2, 73). - Eidechse (1, Kap. 1, 32 sq.). - Elementargeister (1, Kap. 2, 44 sq.; 1, Kap. 11, 1 - 3 ; gegen -» Paracelsus). - Eselmensch (2, 452-455). - cf. AaTh 1645 A: - Guntram (1, Kap. 1, 43 sq.). - Hebammendienst bei Unterirdischen (1, Kap. 2, 109 sq.; 1, Kap. 13, 69-71; 1, Kap. 14, 89 sq., 133 sq.). - Hundsköpfige (1, Kap. 9, 390-392). - Homunkulus (1, Kap. 3). - Oldenburger Horn (1, Kap. 2, 102 sq.). — Incubus und Succubus (1, Kap. 1, 16, 25 sq.). - Lamia (1, Kap. 1, 20 sq.). - Lilith (1, Kap. 1, 19). - Luftgeister (1, Kap. 11, 1-8). - Mandragora, Alraune (1, Kap.15). Mann im Mond (1, Kap. 12, 23-27). - Melusine (1, Kap. 13, 37 sq., 64 sq.; 1, Kap. 21, 320 sq.). Mondsüchtige (1, Kap. 12, 17-20). - Monstren (1, Kap. 9, 406; 1, Kap. 12). - Nachtmahre, Alpdrücken (1, Kap.l). - Peter von Staufenberg (1, Kap. 2, 89 sq.). - Rattenfänger von Hameln (1, Kap. 2, 76 sq.). - Riesen (1, Kap. 17). - Sphinx (2, 432-436). - Wassergeister, Sirenen, Nixen, Nymphen, Fisch-Mischwesen (1, Kap. 13). - Wechselbalg (1, Kap. 10; 1, Kap. 13, 66-72). - Wolfsmenschen (1, Kap. 19). — Wildmenschen (1, Kap. 21). -

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Praetorius,>, Johannes

Wilde Jagd (1, Kap. 21, 332 sq.). - Wind füttern (1, Kap. 11, 3 - 5 ) . - Zwerge (1, Kap. 22).

P.' ausgeprägter barock-manieristischer Spieltrieb zeigt sich in Buchstaben- und Zahlenspielen seiner Titel und Texte, ζ. B. bei Gliederungspunkten, die in akrostischer Form das Gesamtthema nennen (ζ. B. über 30mal in Blockes-Berges Verrichtung19), oder in Anagrammen. Sein etymol. Vorgehen bei Namen (z.B. von Rübezahl, Katzenveit, Blocksberg, von aus den jeweiligen Fluggeräten der Hexen hergeleiteten Völkernamen 30 ) hat satirische Qualitäten. P. paraphrasierte und parallelisierte und erreichte auch auf diese Weise eine quantitative Ausdehnung seiner Werke, deren Stoffmasse er ζ. T. alphabetisch ordnete. Zahlenmystik und lat.sprachige Passagen oder Wörter in den für den dt.sprachigen Markt verfaßten Büchern erweckten den Eindruck einer wiss. Kompetenz des Autors. In allen Werken P.' kommen mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung verschiedene von ihm selbst klar differenzierte Umgangsebenen mit dem Außerordentlichen und Wunderbaren zum Ausdruck 31 : (1) P. war dem elitären Magiewissen seiner Zeit mit seinen komplexen Kosmosdeutungen verpflichtet 32 , das ζ. B. mit Bezügen zur Endzeit 33 in das christl., hier Protestant. System integriert war (Gespenster, Werwölfe, Hexen sind für P. Werke des -> Teufels); (2) meist distanziert aufklärerisch erzählte P. von den Glaubensvorstellungen und -praktiken ungebildeter Schichten, die Volksmedizin und kirchlichen Schutzbrauch in Form von ->• Schadenzauber wie -»• Abwehrzauber ( Amulett, Segen) einschlossen (ζ. B. Entlarvung falscher Gespenster oder als Teufel verkleideter Menschen); (3) eher zögerlich brachte er Erkenntnisse der fortschreitenden Naturwissenschaften ein (ζ. B. medizinisches Univ.swissen über das Alpdrücken, chemische Erklärungen zur Entstehung des Irrlichts 34 ). P. vermittelte seinen Lesern offensichtlich das Gefühl sowohl einer Teilhabe an oberschichtlichem Magiewissen 35 als auch einer Überlegenheit hinsichtlich unterschichtlicher Glaubensvorstellungen, und diese Gemengelage machte ihn vermutlich attraktiv für wachsende Käuferschichten, ein lesehungriges Bürgertum in größeren Städten wie Leipzig, Hamburg oder Frankfurt 3 6 , wobei P. selbst keineswegs mit einem gänzlich homogenen

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Publikum zu rechnen schien 37 . Leserbedürfnissen kam entgegen, daß P.' moralisches Engagement in den Hintergrund trat, er vielmehr informieren und vor allem unterhalten wollte (,allzeit nutzbarlich' durch ,kurtzweilige Schosen', ,possierliche Fratzen' etc.) 38 . Die größte Nachwirkung von P.' Werken 39 hatten die Rübezahl-Publ.en, die - ausgeschrieben und bearbeitet — sich schließlich verselbständigten, während andere Werke von P. nur vereinzelt bis in die 1720er Jahre neu verlegt bzw. zur Grundlage neuer Werke 40 wurden. Schriftsteller und Dichter nutzten ihn als Quelle, wie schon sein Zeitgenosse Grimmelshausen, dann ca 100 Jahre später Musäus, schließlich -> Goethe, -> Brentano und -» Heine. Anfang des 19. Jh.s wurden seine Werke als Quelle volkstümlicher Glaubensvorstellungen von -» Arnim und Brentano, F. L. F. Dobeneck, J. G. G. -> Büsching und J. und W. -> Grimm entdeckt; letztere gaben vor allem im 1. Band ihrer Dt. Sagen bei über 60 Texten P. als Qu. bzw. unter ihren Qu.η an 41 . Die Werke P.' sind bisher nicht systematisch für die Erzählforschung ausgewertet worden 42 . 1 Zarncke, F.: P. In: A D B 26 (1888) 520-529; Helm, K.: P., Johann. In: H D A 7 (1935-36) 303-305; Schilling, M.: P., J. In: Killy, W. (ed.): Lit.lex. 9. Gütersloh/Mü. 1991, 220 sq.; Jordan, S.: P. In: N D B 20 (2001) 667 sq.; cf. ausführlich zu P. und seinem Umfeld Waibler, Η.: M. J. P. P. L. C. Bio-bibliogr. Studien zu einem Kompilator curieuser Materien im 17. Jh. Ffm./Bern/Las Vegas 1979. - 2 Aus seiner Vorlesung über Chiromantie gingen hervor P., J.: Lvdicrvm chiromanticum [...]. Jena 1661 und id.: Centifrons idolvm iani: Hoc est: Mesoposcopia sev prosopomantia [...]. Arnstadt 1661; cf. auch id.: Eine Zigevner Karte oder Chiromanten Spiel. Nürnberg [1659]; cf. Waibler, H.: Ein Autor von Lehrkartenspielen im 17. Jh. Der Leipziger Magister J. P. [...]. In: Anzeiger des Germ. Nationalmuseums (1975) 90-114. - 3 cf. P., J.: Daemonologia Rvbinzalii silesii [...]. Lpz. 1662, Vorw. (er schreibe „non famae sed fami"). - 4 Zarncke (wie not. 1); Hayn, H.: Johann P. und seine Werke. Ein Beitr. zur Kuriositätenlit. In: Zs. für Bücherfreunde 12 (1908-09) 78—87; Faber du Faur, C. von: German Baroque Literature. A Catalogue of the Collection in the Yale Univ. Library [1], New Haven, Conn. 1958, num. 746-778, 1671, t. 2 (New Haven/L. 1969) num. 745 b, c, 765 a; Waibler, H.: J. P. (1630-1680). Ein Barockautor und seine Werke. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 20 (1979) 952-1152; Dünnhaupt, G.: Personalbibliogr.n zu den Drucken des

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Praetorius,ι, Johannes

Barock 5. Verb, und vermehrte Aufl. Stg. 2 1991, 3145-3193. - 5 Petrus Hilarius, Steffen Läusepeltz, Johann Richter, Wigandus Sechswochius, Servius, Hoffmeister Spinn-Stuben, Lustigerus Wortlibius. 6 Dünnhaupt, G.: Chronogramme und Kryptonyme. Geheime Schlüssel zu Datierung und Autorschaft der Werke des Polyhistors J. P. In: Philobiblon 21 (1977) 130-135; Waibler (wie not. 4) 954, not. 16, 977-979. - 7 Für P. als Autor Dünnhaupt (wie not. 6) 134 (aufgrund des Kryptonyms und vor allem des fingierten Druckorts „Zippelzerbst im Drömbling", eines bisher nur noch bei P. nachgewiesenen Namens); Einordnung der „Lustigen Gesellschafft" unter P. in id. (wie not. 4) 3148-3152 (num. 3.1-3.23); Dünnhaupt folgend ζ. B. Schilling (wie not. 1); Müller, R.: P., Johann. In: Dt. Lit.-Lex. 12. ed. H. Rupp/ C. L. Lang. Bern/Stg. 3 1990, 220-223; gegen eine Verf.schaft P ' Waibler (wie not. 1) 51 sq. (aus thematischen und stilistischen Gründen und aufgrund der Tatsache, daß P., der in späteren Werken oft auf eigene, zuvor anonym oder pseudonym erschienene Publ.en hinwies, dies im Fall der „Lustigen Gesellschafft" nicht tat); cf. auch Moser-Rath, Schwank, 39 sq.; ead.: de Memel, Johann Peter. In: Killy (wie not.l) 8 (1990) 95 sq. - 8 Waibler (wie not. 1) 3 9 - 4 9 , cf. auch 4 9 - 5 1 (posthum gedr. Werk P.' mit anderem Verf.namen versehen). - 9 Wyl, K . de: Rübezahl-Forschungen. Die Sehr, des M. J. Prätorius. Breslau 1909; Moepert, Α.: Die Anfange der Rübezahlsage. Lpz. 1928. - 10 Auszug unter Angabe von P. bei Grässe, J. G. T.: Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen 1. (Dresden 2 1874) Nachdr. Lpz. 1980, num. 616. " Helm, K.: Aus der Wochen-Comoedie des Wigand Sexwochius (1662). In: HessBllfVk. 5 (1906) 4 0 - 6 1 ; Hepding, H.: Wigand Sexwochius. ibid. 23 (1924) 125-129. - 12 Die Titelauflage „Taudel- und Zaudelhaftiger Spin-Rocken [...]" (Zippelzerbst 1678) diente als Basis für [Schmidt, J. G.:] Die gestriegelte Rockenphilosophie [...] 1 - 6 . Chemnitz 1705-22 (Nachdr. der zweibändigen Ausg. von 1718/22. ed. H.-J. Poeckern. Weinheim u.a. 1987). - 13 MüllerLöbau, C.: Volkskundliches im „Spin-Rocken" des J. P. In: Mittigen für sächs. Vk. 7 (1918) 192-206. — 14 cf. auch [anonym:] Hollandiorvm Evangelvs [...] Oder Der Ndl. Schutz-Engel wieder Den Engl. Leviathan [...]. [Lpz.] 1665 u. a., cf. Waibler (wie not. 4) num. 42, 144, 44 und Dünnhaupt (wie not. 4) 3170, num. 32, 33; 3174, num. 40; cf. zu P.' astrologischen Informationen Harms, W./Schilling, M. (in Zusammenarbeit mit B. Bauer und C. Kemp): Dt. ill. Flugbll. des 16. und 17.Jh.s 1. Tübingen 1985, num. 206. - 15 Uber dieses Prodigium auch in P., J.: Anthropodemvs plvtonicvs [...] 1. Magdeburg 1666, 251-301. - 1 6 Schenda, R.: Die dt. Prodigienslgen des 16. und 17. Jh.s. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 4 (1962) 638-710, hier 665-668. 1 7 cf. den .Prodigienkatalog' in P., J.: Die letzte Wunder-schwangere Zeit [...]. [Lpz. 1678]; cf. auch id.: Deutschlandes Neue Wunder-Chronik [...]. [Lpz.] 1678. - 18 cf. Titel von P., J.: Astrologia germanica

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[...]. Lpz. 1665 und id.: Storchs u. Schwalben Winter-Qvartier [...]. Ffm./Lpz. 1676; P. nutzte in seinen Titeln selten den Terminus ,curios' und stets personenbezogen als ,wißbegierig' (Leute können auch ,sehr ineuriosi' sein, z.B. Antropodemvs [wie not. 15] 256). - 19 cf. Titel von P. (wie not. 3) und P. 1665 (wie not. 18). - 2 0 cf. Jaenecke-Nickel, J.: Zur Erschließung des volkskundlichen Schrifttums des Barock. In: Letopis C 11/12 (1968/69) 104-113, bes. 107-111; Schenda (wie not. 16) 666; Brückner, Reg. s.v. P.; de Wyl (wie not. 9) 23 sq.; Waibler (wie not. 2). 21 cf. Daxelmüller, C.: Das literar. Magieangebot. In: Brückner, W./Blickle, P./Breuer, D. (edd.): Lit. und Volk im 17. Jh. 2. Wiesbaden 1985, 837-863, hier 846; Schenda (wie not. 16) 666. - 2 2 P., J.: Des Rübezahls Anderer [...] Theil. [...] mehr als hundert [...] Fratzen [...] nach dem sie aus sehr vieler weitleufftiger kostbarer auch mühsamer Erkundigunge neulichst von den erfahrnen Schlesiern Böhmen etc. Reisenden etc. eingesamlet seyn [...]. Lpz. 1662; id.: Deß Rübezahls Dritter [...] Theil [...] nicht allein aus allerhand Relationen der frembden Handels-Leute; sondern auch Ver-Avisirungen Vornehmer und Gelahrter Schlesischer & c. Leute zu Wege gebracht [...]. Lpz. 1665; zu Informanten in den RübezahlPubl.en cf. de Wyl (wie not. 9) 25 sq., 3 0 - 4 1 . 2 3 ibid.; cf. Eymold, U.: Die Sehr, des J. Prätorius als Qu. für die „Dt. Sagen". Magisterarbeit Mü. 1986, 6 0 - 6 5 , 8 9 - 9 3 . - 2 4 ζ. B. Helm (wie not. 11) bes. 42; Hepding (wie not. 11). - 2 5 ζ. Β. P. (wie not. 3) Vorw. (der Leser solle alles schicken, was er zum Thema „gelesen haben, hören oder gehöret haben"). — 2 6 W. E. Tentzel in seinen Monatlichen Unterredungen (Juli 1689) 721, cf. Waibler (wie not. 1) 65; rezipiert schon bei Behrens, G. H.: Hercynia curiosa oder Curiöser Hartz-Wald [...]. Nordhausen 1703, 137 sq. (scharfe Kritik an P.); cf. Köhler-Zülch, I.: Die Hexenkarriere eines Berges: Brocken alias Blocksberg. In: Narodna umjetnost 30 (1993) 4 7 - 8 1 , hier 75 sq., cf. auch 51 sq. - 2 7 cf. z.B. Zitat aus Tentzel (wie not. 26) in Rez. über Brüder Grimm: Dt. Sagen 1. B. 1816 in Jenaische Allg. Lit.-Ztg 13 (Aug. 1816) 312 zur Abqualifizierung des von den Grimms gelobten P. als Qu., cf. Vorw. „Dt. Sagen", X X sq. (interessant hier die Charakterisierung von P. als Qu. des .bürgerlichen Lebens'). - 2 8 cf. de Wyl (wie not. 9) 9 (im „Satyrus etymologicus", 444). - 2 9 P., J.: Blokkes-Berges Verrichtung [...]. (Lpz. 1669) Nachdr. ed. H. Henning. Hanau 1968, 31 sq. und pass. - 3 0 ibid., 44 - 4 6 . 31 cf. ζ. Β. P. (wie not. 15) 27 (Phänomen Alpdrücken gehöre in den Bereich der Medizin, der Magie und des Aberglaubens). - 3 2 cf. Daxelmüller (wie not. 21); cf. auch id.: Disputationes curiosae. Zum „volkskundlichen" Polyhistorismus an den Univ.en des 17. und 18. Jh.s. Würzburg 1979. - 3 3 Ingen, F. van: Das Geschäft mit dem schles. Berggeist. Die Rübezahl-Schr. des M. J. P. In: Daß eine Nation die ander verstehen möge. Festschr. M. Szyrocki. Amst. 1988, 361-380. - 3 4 P. (wie not. 15) 36 sq., 41, 303

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Prägnanz

sq., 307 u. ö. - 3 5 cf. z.B. Aussage im Titel P., J.: Reformata astrologia cometica [...] der gestalt deutlich und vernehmlich beschrieben; daß ein ieder Ungelehrter flugs ohne alt-astrologisches und vergebliches Kopffbrechen oder weiter-benöthigtem bessern Nach- und Unterrichte auch ohnezweiffelhafften Jrrthume daraus allezeit nutzbarlich erlernen können [...]. Lpz. 1665. - 3 6 cf. Wagener, H.: Eberhard Werner Happel. Vernunft und Aberglaube im Spätbarock. In: HessBllfVk. 59 (1968) 4 5 - 5 6 , hier 46. 37 z . B . P. (wie not. 29) 155 (über 9 Seiten lange lat. Passage habe er nicht übersetzt, da sie einem Gelehrten dienlicher als einem gemeinen ungelehrten Mann sei). - 38 cf. van Ingen (wie not. 33). - 39 Zur Wirkungsgeschichte cf. Waibler (wie not. 1) 5 3 - 8 7 , cf. 64— 67 (zur Aufnahme P.' in Gelehrtenlexika und anderen Nachschlagewerken seit 1678). - 4 0 cf. Schmidt (wie not. 12). 41 cf. Eymold (wie not. 23) 88; Grimm DS 2, 613, Reg. s. v. P.; zur weiteren Beschäftigung der Grimms mit P. cf. Waibler (wie not. 1) 74. - 4 2 Zur vielfaltig verlaufenden Rezeption P.' cf. ζ. B. für „Blockes-Berges Verrichtung" in der Harzlit. das vom Brockenwirt herausgegebene Gästebuch: Nehse, C. E.: Brokken-Stammbuch [...] nebst einigen komischen Brokkengedichten aus einem alten Werke des D. J. Praetorii vom Jahre 1669. Sondershausen 1850; zur Feldforschung Ende des 19. Jh.s cf. C. G. Lelands Empfehlung, Zigeuner nach den in „Abentheuerlicher Glücks-Topf', „Anthropodemvs plvtonicvs" und „Blockes-Berges Verrichtung" vorhandenen Themen abzufragen, cf. Köhler-Zülch, I.: Die Heilige Familie in Ägypten, die verweigerte Herberge und andere Geschichten von ,Zigeunern'. Selbstäußerungen oder Außenbilder? In: Die Sinti/Roma-Erzählkunst im Kontext Europ. Märchenkultur, ed. D. Strauß. Heidelberg 1992, 3 5 - 8 4 , hier 82 sq.

Göttingen

Ines Köhler-Zülch

Prägnanz. -> Stil und -» Struktur des Volksmärchens werden nach M. -+ Lüthi durch Perfektion, Präzision und P. charakterisiert. Da das Märchen eine welthaltige Kunstform ist (-> Welthaltigkeit), die auf das Wesen, nicht auf die Besonderheit der Phänomene zielt1, strebt es durch -«• Abstraktheit 2 , -> Sublimation und linienscharfe Umgrenzungen 3 zur P. Um dieses Ziel zu erreichen, bedienen sich Erzähler u.a. der Technik der bloßen Benennung: Sie schildern nicht, malen weder Schauplätze noch Handlungen aus; sie beschreiben die Handlungsträger und ihre Motivationen nicht 4 . Dementsprechend entbehrt der Stil des Märchens häufig jeglicher Nuancen: Im Vor-

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dergrund steht vor allem die fortschreitende Handlung (-+ Dynamik); ihre Elemente sind scharf bestimmt, ihre Hintergründe aber werden nicht beleuchtet5: Woher die Ratgeber ihr Wissen beziehen, woher die Helfer kommen, warum die Gaben gerade im entscheidenden Moment auftauchen, erfährt man nicht6. Auch der kleine Fehler bleibt ein stumpfes Motiv (-» Blindes Motiv) und gibt dem Märchen P : Der Fersenverlust des Helden (-* Fersenklemmen), der abgeschnittene Finger der Heldin, der Flügel des jüngsten Rabenbruders (AaTh 451: —>· Mädchen sucht seine Brüder) sind folgenlos7. Die häufige Nichtmotivierung steht außerdem im Zusammenhang mit der Tendenz des Märchens, seine Motive und Protagonisten isoliert (-• Isolation) darzustellen. Die Kontraste ohne Zwischenstufen sowie formelhafte Wiederholungen (-• Formelhaftigkeit, Formeltheorie), Kondensierung, Vereinfachung, Schematisierung, -> Übertreibung und Tendenz zu Extremen tragen ebenfalls zur P. des Volksmärchens bei8. Im Gegensatz zur schwer durchschaubaren Realität fällt die klare Strukturierung der Märchen auf. Diese wird auch durch prägnantes Einsetzen und Abschließen der Episoden und des ganzen Märchens gewährleistet9. Die Bedeutung der Zahlen, vor allem der Dreizahl, verleihen dem Märchen ebenfalls P , zugleich aber eine gewisse Unwirklichkeit10. Diese von Lüthi herausgestellte Darstellungsart der europ. Märchen 11 muß indessen durch Beobachtungen an neueren Volksmärchen aus mündl. Überlieferung ergänzt werden. So weisen etwa etliche ung. Märchen des 20. Jh.s eine unübersehbare Freude an Begründung, Schilderung und Ausmalung auf. Dies kann freilich zum Pverlust, ja zum Zersägen, aber auch zu größerem dichterischem Ausdrucksreichtum, zu psychol. und lebensweltlichem Realismus führen 12 . 1 Lüthi, M.: Das Volksmärchen als Dichtung. Düsseldorf/Köln 1975, 14. - 2 id.: Das europ. Volksmärchen. Mü. 6 1978, 32 sq. - 3 ibid., 26 sq., 136. "ibid., 25 sq., 38, 56; EM 4, 1433 sq. - 5 Lüthi (wie not. 2) 57. - 6 id.: Die Gabe im Märchen und in der Sage. Diss. Bern 1943, 74 sq.; id. (wie not. 2) 31, 54 sq. - 7 id. (wie not. 1) 7 3 - 7 6 . - 8 EM 4, 1433 sq.; Lüthi (wie not. 1) 71. - 9 id.: Fantastik und Realistik im europ. Volksmärchen. In: Internat. Jugendbuchtagung 1982 in Gwatt. Bern/Mü. 1982, 3 8 - 5 4 , hier

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Prahlerei des Freiers

44; id.: Lob der Autonomie und der Heteronomie. In: Jb. für Volksliedforschung 27-28 (1982-83) 17-28, hier 20; id. (wie not. 2) 67. - 10 id. 1982 (wie not. 9); id. (wie not. 2) 74. 11 Lüthi, Märchen, 29-32. - 12 Horn, K.: Wandlung und Auflösung traditionellen Erzählgutes im heutigen Dorf (Textanalysen). In: Märchenerzähler - Erzählgemeinschaft. ed. R. Wehse. Kassel 1982, 52-62; ead.: Volksmärchen und individuelles Schöpfertum. Stilanalyse eines Märchens von Jänos Tombäcz. In: Orbis litterarum 35 (1980) 291-317, hier 305-313.

Basel

Prahler

Katalin Horn

Aufschneider

Prahlerei des Freiers (AaTh 859, 859 A - D ) , Schwank über einen mittellosen - Thompson als Subtypen von AaTh 859: The Penniless Bridegroom Pretends to Wealth aufgeführten Erzähltypen AaTh 859 A: The Penniless Wooer: Patch of Land, AaTh 859 B: The Penniless Wooer: Money in Hand, AaTh 859 C: The Penniless Wooer: „House of my Father with one hundred fifty Lights and Goat Pen" und AaTh 859 D: „All of these are Mine" behandeln die gleiche Thematik. Deshalb erscheint es sinnvoll, die Subtypen und den übergeordneten Typ als einen Typ aufzufassen. Es lassen sich folgende Handlungsabläufe feststellen, die z.T. miteinander kombiniert werden: (1) AaTh 859': Ein reicher Mann will seine Tochter nur an einen reichen Mann verheiraten. Ein armer Bewerber (manchmal zwei) verkleidet sich und gibt vor, reich zu sein. Als der Vater bereit ist, ihm seine Tochter zur Frau zu geben, und schauen will, wie der zukünftige Schwiegersohn lebt, verbrennt der Bewerber einen Turm aus Holz und gibt vor, nun sei all sein Reichtum verbrannt. Trotz Zweifeln an seiner Glaubwürdigkeit findet die Heirat statt. In einigen Var.n stellt ihn das Mädchen bloß, indem sie ihn unerkannt zu Hause besucht. (2) AaTh 859 Α (oft mit AaTh 859 Β kombiniert)2: Als der Bräutigam nach der Hochzeit seiner Braut sein Land zeigen soll, zieht er geflickte (schmutzige) Kleider an, weist auf einen Placken sei-

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ner Jacke (Hose) und sagt: „Dies Stück Land gehört mir!" (3) AaTh 859 Β (oft mit AaTh 859 Α kombiniert)3: Ein Onkel will für seinen Neffen um eine Frau werben. Er gibt ihm ein Geldstück und Essen in die Hand. Dem Vater des Mädchens erzählt er, daß sein Neffe Geld in der Hand halte und reichlich zu essen habe. (4) AaTh 859 C4: Ein Diener prahlt damit, sein Haus habe 150 Lichter und einen Ziegenstall, woraufhin sein Herr seine Tochter an ihn verheiratet. Als sie sein Zuhause ansehen wollen, stellt sich heraus, daß die Lichter die Sterne sind, die durch die Löcher im Dach hineinscheinen, und daß eine Ziege an einem Baum angebunden ist. (5) AaTh 859 D 5 : Ein Freier streicht seine Schnurrbarthaare mit den Worten: „Dies sind alles meine!", woraufhin das Mädchen denkt, er zeige auf die Felder und die Viehherden, denen sie entgegenreiten.

Derartige Schwänke sind mit zahlreichen Belegen überwiegend in Europa weit verbreitet, einzelne Var.n finden sich in Nordafrika und im Nahen Osten, in Indien, in Nordamerika (afro-amerik.) und auf den Westind. Inseln. Zwei ältere dt.sprachige Versionen in der Kombination AaTh 859 A + AaTh 859 B 6 sowie eine span. Fassung von AaTh 859 C 7 datieren aus dem 17. Jh. Von den Brüdern -» Grimm wurde der Schwank nach der Vorlage von Johannes -» Praetorius 8 u. d. T. Hans heiratet (KHM 84 [21819]) in ihre Kinder- und Hausmärchen aufgenommen und statt der fragmentarischen Erzählung Die Schwiegermutter eingefügt 9 . Die anderen bisher bekannten Var.n stammen aus dem 19. und vor allem aus dem 20. Jh. Die meisten Var.n folgen der Handlung von AaTh 859, AaTh 859 Α und AaTh 859 B, andere Fassungen sind nur regional verbreitet, ζ. B. in Spanien AaTh 859 C, in Nordamerika und auf den Westind. Inseln AaTh 859 D. Schwänke über doppeldeutige Pen eines Brautwerbers bzw. eines Bräutigams über vorgetäuschten Reichtum (auch von Seiten der Frau oder ihrer Familie) waren in europ. Schwank- und Unterhaltungsbüchlein des 17./ 18. Jh.s sehr beliebt; doch blieb das Ziel einer Geldheirat unerreicht, wenn der Brautwerber wie in AaTh 1688 Β seine Übertreibungen allzu anmaßend gestaltet hatte 10 . In allen Versionen geht es um einen Aufschneider, der durch seine bewußt zweideutige Ausdruckweise (cf. -» Mißverständnisse) von seiner Umgebung falsch verstanden und somit

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Predigt

für wohlhabend gehalten wird. Ziel der Aufschneiderei ist in allen Fällen die Heirat mit einer Frau, die sich (und ebenso ihr Vater) trotz anfänglichem Zögern von dem männlichen Imponiergehabe beeindrucken läßt und auf den Betrug hereinfällt; für den Brautwerber, der sich die Leichtgläubigkeit der Menschen und bes. der Frau zunutze macht, ist die Heirat in den meisten Fällen mit einem sozialen Aufstieg verbunden. 1 Ergänzend zu AaTh 859: Hodne, p. 263 sq.; van der Kooi; Archiv van der Kooi, Groningen; Eberhard/ Boratav, num. 144; SUS 859E*, 859 F*, 859 G*; Ambainis, O.: Lett. Volksmärchen. B. 1979, num. 126; Henßen, G.: Volk erzählt. Münster 1935, num. 280; Zender, M.: Volksmärchen und Schwänke aus der Westeifel. Bonn 1935, num. 68; Ruppel, H./Häger, Α.: Der Schelm im Volk. Kassel 1952, 64 sq.; Ilg, B.: Maltes. Märchen und Schwänke 2. Lpz. 1906, num. 110; cf. Cepenkov, M. K./Penusliski, K.: Makedonski narodni prikazni 3. Skopje 1989, num. 250 sq.; Dzalila, O., D. und Z.: Kurdskie skazki, legendy i predanija. M. 1989, num. 126; cf. El-Shamy, Η. M.: Tales Arab Women Tell. Bloom./Indianapolis 1999, num. 7. - 2 Ergänzend zu AaTh 859 A: van der Kooi; Archiv van der Kooi, Groningen. — 3 Ergänzend zu AaTh 859 Β: Pujol. - 4 Ergänzend zu AaTh 859 C: Ο Süilleabhäin/Christiansen; Chevalier, M.: Cuentos folklöricos en la Espana del Siglo de Oro. Barcelona 1983, num. 54. - 5 Ergänzend zu AaTh 859 D: van der Kooi; Burrison, J. Α.: Storytellers. Folktales and Legends from the South. Athens/ L. 1989, 47. - 6 Praetorius, J.: Gazophylaci gaudium, das ist ein Ausbund von Wündschel-Ruthen [...]. Lpz. 1667, 148 sq.; EM-Archiv: Wolgemuth (1669) 2, 51, num. 22 ( = Uther, H.-J.: Märchen vor Grimm. MdW 1990, num. 37); BP 2, 203 sq. 7 Chevalier (wie not. 4). - 8 Praetorius (wie not. 6). - 9 KHM/Uther, num. 84. - 10 ζ. Β. Moser-Rath, Predigtmärlein, num. 186 (mit weiteren Nachweisen).

Göttingen

Pratum spirituale

Sabine Dinslage

Johannes Moschos

Predigt 1. Allgemeines - 2. Judentum - 3. Islam - 4. Christi. MA. - 5. Katholizismus - 6. Protestantismus

1. A l l g e m e i n e s . Das wiss. Interesse an der Textgattung P. geht philol. zum einen vom

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nationalen Sprachdenkmal aus und zum anderen vom funktionalen Ort der exemplarischen Kurzerzählungen in Prosa (-• Exemplum, -> Exempelsammlungen), deren Motivbestand in Wechselwirkung mit dem der abendländischen ->• Novellistik stand. Hier konnte die internat. Erzählforschung einen breiten Quellenfundus aufarbeiten. In der dt.sprachigen Vk. wurde allerdings erst seit E. -» Moser-Rath über den von F. Pfeiffer schon 1858 eingeführten Begriff des P.märleins (-• P.exempel, P.märlein) die Bedeutung der christl. P. als Vermittlungsort von mündl. Tradition ernstgenommen. Dabei handelte es sich um Pen des Barock und nicht mehr um ma. Predigeraussagen, die zuvor lediglich für Belegstellen zu Aberglauben und Brauch herangezogen worden waren. Diese späte Wahrnehmung bei den dt. Erzählforschern ist jedoch auch in Zusammenhang mit den ebenfalls erst um jene Zeit einsetzenden Forschungsinteressen der dt.sprachigen Germanistik an der religiösen Barockliteratur allg. zu sehen. Zuvor hatten religiöse Textgattungen lediglich des MA.s zum Kanon der nationalen Lit.Überlieferung gezählt, während für die Neuzeit eine zugleich konfessionelle Trennung in Profan- und Kirchengeschichte auch die Lit.geschiehte beherrschte. Die Wiederbelebung von Rhetorikstudien nach dem 2. Weltkrieg führte hier zu einem Umdenken in allen Philologien. Schließlich erreichte das ältere mediävistische Interesse an den Exempla die modernen Mentalitätshistoriker außerhalb Deutschlands, so daß in letzter Konsequenz auch hierzulande „P. und Geschichte" 1 ein Thema der Fachhistoriker werden konnte und damit die geistliche Rhetorik kein bloßer Gegenstand der Kirchengeschichte oder gar nur der Homilethik als Plehre geblieben ist. Davon hat hist. Erzählforschung genauer Kenntnis zu nehmen, zumal das Gattungsphänomen die beiden anderen großen monotheistischen Weltreligionen — Judentum und Islam - gleichermaßen betrifft. Diese drei typischen Buchreligionen kennen aufgrund der Interpretationsbedürftigkeit ihrer kanonisierten Heiligen Schriften den ausgesprochenen Wortgottesdienst für eine größere Zuhörerschaft, d. h. die Verkündigung für eine Gemeinde und die Katechese mit Hilfe des Gotteswortes. Der unsichtbare, aber redende Gott verpflichtet seit Israel zum Hören

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Predigt

im Unterschied zu den bloßen Kultreligionen. Deren -» Gottesdienst kulminiert allein in -» Opfer und heiligem Schauspiel, während sich christl. Liturgie gleichzeitig ,am Tisch des Wortes' und ,am Tisch des Mahles' vollzieht. In der islam. P. geht es ebenfalls um fortwährende Vergegenwärtigung und Explikation des Korans als geoffenbartem Gotteswort, doch hier findet eine stärkere Verquickung mit weltlichen Inhalten statt, da der Koran zugleich die gesetzliche Grundlage jedweder religiös legitimierten politischen Ordnung darstellt. Der Begriff der P. oder des Predigens bedarf allerdings genauerer Umschreibungen, zumindest was deren Gestalt in den Heiligen Schriften selbst angeht. So hat man für die Übers, des A. T.s ins Deutsche anhand der revidierten Übers. M. Luthers von 1984 festgestellt, daß der Begriff ,P.' zwar mit 21 Nennungen dem -> Neuen Testament vorbehalten bleibt, jedoch im Alten Testament,predigen/Prediger' 44mal verwendet wird, im Gegensatz zur kathol. Einheitsübersetzung mit nur zwei Belegen für ,predigen'2. Es gibt also massiv zum Ausdruck kommende konfessionelle P.vorstellungen für Rede, Ansprache, Lehre, Verkündigung und Botschaft. Daher dürfte es nützlich sein, sich für den folgenden Zusammenhang an die Diskussionen der Rhetoriker zu halten, wie sie vor allem für die Neuzeit innerhalb beider christl. Konfessionen streng systematisiert worden sind. 1 cf. Menzel, Μ.: P. und Geschichte. Hist. Exempel in der geistlichen Rhetorik des MA.s. Köln u.a. 1998. - 2 Gerstenberger, E. S.: P. 2: Α. T. In: T R E 27 (1997) 231-235, hier 231 sq.

Würzburg

Wolfgang Brückner

2. J u d e n t u m . Die jüd. P. besitzt als Bestandteil des Gottesdienstes und als Rede zu bes. Anlässen wie Hochzeit oder Bestattung, seit dem 19. Jh. auch zu Jubiläen und Festen in den Königshäusern, eine alte und zugleich recht junge Geschichte1. In ihrer traditionellen, im Ν. T. übernommenen Form reicht sie auf die Propheten des A. T.s zurück; andererseits erfuhr sie unter dem Einfluß der Protestant. Homiletik seit dem ausgehenden 18. Jh. eine neue rhetorische Ausgestaltung und entwickelte eine nicht unumstrittene Bedeutung innerhalb des synagogalen Gottesdienstes.

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Am Ende der 2. Tempel-Periode (70 n. Chr.) war die P. sowohl in Palästina als auch in der Diaspora als die Schrift (Thora) erläuternder Lehrvortrag allg. üblich. Hebr. darash bedeutet untersuchen, (die Schrift) auslegen, wovon sich die Begriffe darshan: Prediger (wörtlich: Erklärer, Exeget) und derasha (jidd. droshe): P. (wörtlich: Erklärung, Exegese, Ansprache) ableiten. Als früheste Prediger traten die Propheten auf (ζ. B. Ezechiel, Deutero-Jesaja). Die Schriftvorlesung als Mittel der Unterrichtung über den Inhalt der Bibel wurde durch sachliche Erläuterungen und Zusammenfassungen ergänzt. So zogen die Abgesandten des Königs Josaphat in allen Städten Judas umher und ,lehrten im Volk' (2. Chr. 17,9). Über die konkrete Situation der P. im Gottesdienst sind keine gesicherten Erkenntnisse überliefert. Dem Lukasevangelium zufolge findet die Schriftdeutung unmittelbar nach der Haftara (Vorlesung der Propheten) statt (Lk. 4,20—27), während Philos Beschreibung des Gottesdienstes darauf verweist, daß der Brauch nicht einheitlich geübt wurde. Erst mit Philos Homilien und mit Paulus für das Judenchristentum (Apg. 9,20) löste sich die Schrifterläuterung vom Schrifttext und der Funktion der Belehrung der Zuhörer, wurde frei, vom synagogalen Gottesdienst ungebunden und erbaulich. Die P. bediente sich ursprünglich der jeweiligen Landessprache (z.B. Aramäisch, Griechisch), predigen durften unabhängig von einer offiziellen Position in der Gemeinde - alle, die hierzu die geistige Kompetenz besaßen. Die vorwiegend am -> Sabbat, an den Festtagen und am 9. Av gehaltene und sich zumeist auf den Thora-Abschnitt des betr. Tages beziehende P. behandelte in der Frühphase vor allem praktische Belange, so z.B. rechtliche Richtlinien, Zeremonien und die das Leben entsprechend fester Grundsätze leitenden Bräuche (halacha: religiöse Bestimmungen). Parallel hierzu entwickelte sich mit dem -* Midrasch eine ebenso umfassende wie wichtige Lit.2, die sich sowohl auf die Erforschung der Bibel als auch als Ergebnis des rabbinischen Studiums auf den die Textstelle für die Gegenwart des Lesers auslegenden und aktualisierenden Bibelkommentar bezog. Man unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen halachischen, also gesetzlich orientierten, und

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Predigt

haggadischen, also erbaulichen Midraschim 3 . Abgesehen von sehr späten Texten entstanden alle Midraschim in Israel. Eine wichtige Aufgabe des Midrasch stellt die Schriftdeutung im Rahmen des synagogalen Gottesdienstes am Sabbat und an den Jahresfesten dar, zu den bedeutendsten klassischen P.sammlungen zählen die beiden Pesiqtot und der Midrasch Tanchuma mit der charakteristischen Einl.sformel ,Jelamdenu' (Es belehre uns [unser Lehrer])4. Im Gegensatz zur bibl. und nachbibl. Zeit ereichte die P.kunst im MA. im aschkenas. Kulturbereich, hier bes. in Deutschland und Frankreich, ihren Tiefpunkt, obwohl sie nun eine sehr viel detailliertere Position zu zeitgenössischen politischen und sozialen Problemen wie etwa den Verfolgungen und Pogromen bezog. Zwar trugen im 11. Jh. sowohl Moses und sein Sohn Juda aus Narbonne den Ehrentitel darshan, ansonsten sind mit Ausnahme von Moses ben Jakob aus Coucy (Frankreich, 2. Hälfte 13. Jh.) kaum nennenswerte Prediger bekannt. Anders verhielt es sich bis 1492 in Spanien und anschließend in den Zufluchtsländern der sephard. Juden wie Italien oder den Niederlanden. Die sephard. Juden hatten einen neuen Typ der P. entwickelt, der an ein Textwort anknüpfte, sich des Midrasch lediglich als schmückendem Beiwerk bediente und Wert auf thematische Einheitlichkeit, Disposition und individuellen künstlerischen Stil legte. Die sephard. Prediger standen unter dem Einfluß der phil. Schrifterklärungen nach Maimonides, aber auch der erzwungenen Disputationen mit Christen. Ihren Höhepunkt erlebten diese P.en im 15. Jh. in Spanien. Um 1450 verfaßte Josef ben Schemtov mit der En ha-kore eine erste rhetorische Theorie der jüd. P., ihm folgte um 1470 Messer Leon mit dem Werk Nofet zuflm. Zu den bedeutendsten Vertretern der (sephard.) P. zählen u.a. Nissim ben Reuben Gerondi (14. Jh.) und Isaak Arama, in Italien Juda Moscato, Azariah Figo, Leone von Modena oder Salomo Molcho, in der Türkei Moses Almosnino und in den Niederlanden Menasse ben Israel. Obwohl die ma. P.en durchweg nur in hebr. Fassungen überliefert sind, kann davon ausgegangen werden, daß der mündl. Vortrag in der jeweiligen Volkssprache stattfand. Infolge der hebr. (Rück-)Übers., der nachträglichen Kommentierung und der Einfügung von Zitaten

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läßt sich die ursprüngliche Form der mündl. vorgetragenen Version nur schwer bestimmen. Auf die enge Wechselwirkung zwischen P. und ethischer Lit., aber auch auf die Symbiose von theoretisch-abstrakter Schriftexegese und illustrierendem narrativen Material verweist der wahrscheinlich zwischen 1190 und 1215 verfaßte und erstmals 1538 in Bologna gedruckte Sefer Chassidim (Buch der Frommen). Das Jehuda ben Samuel ben Qalonymos he-chasid von Regensburg (um 1140/50-1217) zugeschriebene Werk5 ist die wohl bedeutendste ma. Kompilation jüd. populärer Erzählungen in Mitteleuropa (-• Jüd. Erzählgut). Sie vermittelt auch umfassende Informationen zu abergläubischen und magischen Vorstellungen der Zeit6 und enthält zahlreiche längere und kürzere Homilien über ethische Probleme. Die Juden betrachteten im MA. wie in der frühen Neuzeit die P. nicht nur als Mittel der Wissensvermittlung und der Belehrung, sondern auch als kunstvollen rhetorischen Akt. Mit der christl. P. verband sie im Zuge humanistischer Gelehrsamkeit die Orientierung an den antiken Rhetoriklehren. Hierfür seien bes. ital. Homileten wie Azariah Figo, Leone von Modena und nicht zuletzt Juda Moscato als hervorragende Vertreter genannt. Der humanistisch gebildete Moscato (gest. 1594)7 zitierte in seiner erstmals 1871 in Warschau herausgegebenen P.-Sammlung Nafotsot Yehuda u. a. Plato, Aristoteles, Philo, -> Josephus Flavius, Galen, -> Ovid, Quintilian, Cicero, Asklepiades, Seneca, Averroes, Rudolph Agricola und Giovanni Pico della Mirandola, an jüd. Autoren Saadia, Maimonides, Ha-Levi Bahya, Ibn Ezra, Levi ben Gershon und Crescas8. Zur Vermittlung seiner phil. Gedankengänge und seines Wissens bediente er sich narrativer Beispiele, die er ebenso der eigenen Empirie wie literar. Vorlagen, der Naturgeschichte, Legenden, Sagen, der Mythologie und der Dichtung, entnahm.

In der Neuzeit erlebte die jüd. P. eine zweifache Entwicklung. Während zunächst in Deutschland, Österreich und bes. in Osteuropa die traditionelle Form der P. mit so bekannten Vertretern wie Jonathan Eybeschütz9, Mei'r Eisenstadt oder Zewi Hirsch Waidoslaw fortbestand, setzten sich im 18. Jh. tiefgreifende Veränderungen durch. Im Osten entstand die mystisch-orthodoxe Bewegung des Chassidismus10, dessen homiletische Erzählfreudigkeit nicht zuletzt in den Reden und Geschichten des Rabbi Nachman von Bratzlaw

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Predigt

(1771-1810) ihren Ausdruck fand ( - Chassid. Erzählgut)11. Im Westen hingegen zeigte die Aufklärung ihre Folgen. Moses Mendelssohn (1729-86) trat für die Einführung der (hoch)dt. Sprache bei den Juden ein. Nach der Frz. Revolution änderte sich die Gestaltung des synagogalen Gottesdienstes erheblich: Zu Thoraschrein und Vorlesepult kamen Orgel und Kanzel hinzu, der P. räumte man einen festen Platz innerhalb des Gottesdienstes ein, Großstadtgemeinden wie Hamburg leisteten sich sogar eigene Prediger neben dem Rabbiner ( - Rabbi). 1805 hielt Wolf ben Joseph von Dessau (1762—1826) erstmals eine Ansprache in dt., 1817 Tobias Goodman in engl. Sprache12. Diese Reformen führten zu Konflikten mit konservativen Juden und häufig zu Spaltungen der Gemeinden in orthodoxe und liberal-konservative Gruppen, da die Orthodoxen in Orgel und P. eine bewußte Anlehnung an die christl. Liturgie sahen. Der meist heftig ausgetragene Streit läßt es verständlich erscheinen, daß Leopold Zunz (1794-1886) sein epochales Werk Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden (B. 1832) vornehmlich als Apologie verstand; er versuchte, die P. als eine alte Institution und nicht als Ergebnis assimilatorisch-reformerischer Neuerungen nachzuweisen13. Zu den bedeutendsten Predigern des 19. Jh.s gehören Eduard Kley (1789-1867), Gotthold Salomon (1784-1862), Abraham Geiger (1810-74), Samuel Holdheim (1802-60), Michael Jehiel Sachs (1808-64), Samson Raphael Hirsch (1808-88) und David Einhorn (1809-79); ihnen folgten im frühen 20. Jh. Siegmund Maybaum (1844-1919), Nehemias Anton Nobel (1871-1922) und Leo Baeck (1873-1956) 14 . Der Einfluß der Protestant, auf die jüd. P. ist dabei unverkennbar; Zunz selbst stand während seiner kurzen Zeit als Prediger an der Neuen Synagoge in Berlin (1820-22) unter dem Einfluß von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834). Allerdings erfuhren die reformistischen Ideen des späten 19. Jh. auch seitens der Liberalen Kritik 15 . Dennoch bedeuteten die Reformen keinen radikalen Bruch, da auch die moderne synagogale P. durchweg auf einem nach dem Abschnitt des betr. Tages ausgewählten Text beruht.

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Zu den frühen homiletisch-exegetischen Verfahrensweisen zählten die Erklärung von Bibelversen und -zitaten durch die Konstruktion von Widersprüchen und deren Lösung durch Zitate. Hierbei griff das antithetische Argumentationssystem der P. häufig auf Erzählungen, Allegorien und Symbole zurück, stets aber standen die Erklärung des Wortsinns der Hl. Schrift und die aktualisierende Moralisation im Vordergrund. In einer weiteren exegetischen Form konnte der Prediger sowohl den Bibelabschnitt als auch den Midrasch als festgelegt betrachten. Lag eine Texterklärung vor, behandelte der Redner den Text und den Midrasch so wie ursprünglich den Text allein, was neben einer streng logischen Argumentation den Einbezug von Witz und Emotion zur Mitteilung der religiösen Moral ermöglichte16. Bereits in der talmudischen Periode (1.—6. Jh.) wurden abstrakte exegetische Gedankenketten durch konkretisierende Exempel, populäre Erzählungen, Parabeln und dramatisierende Elemente verdeutlicht. Die Prediger bezogen die illustrativen Belegmaterien aus den allg. Umständen des Lebens, aktuellen Ereignissen, alltäglichen Lebensformen und aus Sagen und Legenden. I. Bettan unterscheidet sieben Genres von P.märlein (Exemplum, Analogie, Sprichwort, Parabel, Allegorie, Fabel, Sage und Legende)17, wobei das bereits in den Schriften des A. T.s anzutreffende Exempel (ζ. B. Jes. 43,22) am häufigsten begegne und rhetorisch am wirkungsvollsten sei18. Der Rückgriff auf narrative Einschübe prägte die P. des MA.s ebenso wie die der frühen Neuzeit; großer Beliebtheit erfreuten sich Erzählungen über Rabbi Akiba. Prediger des 17./18. Jh.s konnten sich auf Erzählkompilationen wie auf das erstmals 1610 in Basel gedr. und seitdem bis ins 20. Jh. hinein immer wieder aufgelegte und den Zeitumständen angepaßte jüd.-dt. Maassehbuch (Buch der Erzählungen) beziehen; Homileten des 19./ 20. Jh.s bezogen ihre narrativen Beispiele aus der persönlichen Erinnerung, der Zeitgeschichte, der bibl. und jüd. Geschichte, dem Midrasch, der Naturwissenschaft, der Psychologie oder der populären Erzählüberlieferung 19 . Sie nahmen wie der Wiener Oberrabbiner Hirsch Perez Chajes (1876-1927) engagiert Stellung zum Antisemitismus20 und zum 1. Weltkrieg21. Zur Erleichterung der Auswahl

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Predigt

der P.exempel standen Zusammenstellungen wie J. H. K o h n s vielfach aufgelegter Bibel- und Talmudschatz22, F. Kanters Gleichnisse für Reden über jüd. Angelegenheiten23, Mishle Ya'kov24 und Neue Gleichnisse>25, L. Israel N e w mans Hasidic Anthology26 oder M. Bubers Erzählungen der Chassidim27 zur Verfügung. D i e Exempla of the Rabbis des Londoner Oberrabbiners der span.-port. jüd. Gemeinde in L o n d o n und Folkloristen M. -> Gaster, eine Slg v o n 450 Exempla, Apologien und Erzählungen aus einem Zeitraum von 1500 Jahren, stellen den ersten Versuch einer systematischen Erfassung des Materials dar 2 8 . Obwohl dem Vorw. zufolge für Wissenschaftler, Studenten und bes. für Erzählforscher verfaßt 2 9 , dürfte dieses Werk auch jüd. Predigern bei der Vorbereitung ihrer Ansprachen als Hilfe gedient haben. 1 Carlebach, Α.: Homiletic Literature. In: Enc. Judaica 8. Jerusalem 1971, 946-960; Heinemann, G. u.a.: Preaching, ibid. 13 (1971) 994-1007; Altmann, Α.: Zur Frühgeschichte der jüd. P. in Deutschland. Leopold Zunz als Prediger. In: Publ.s of the Leo Baeck Institute 6 (1961) 3 - 5 9 ; Bacher, W.: Die Prooemien der alten jüd. Homilie. Lpz. 1913; Baeck, L.: Zwei Beispiele midraschischer P. In: Monatsschrift für Geschichte und Wiss. des Judentums 69, N. F. 33 (1925) 258-271; Benoit, G.: La Predication rabbinique au XIX e siecle. These Montauban 1900; Bettan, I.: Studies in Jewish Preaching. Middle Ages. (Cincinnati 1939) Lanham/L. 1987; Cohen, Α.: Jewish Homiletics. L. 1937; Dienemann, Μ.: Eine altjüd. P. In: Monatsschrift für Geschichte und Wiss. des Judentums 70, N. F. 34 (1926) 366-370; Eckstein, A. (ed.): Die Verteilung des homiletischen Stoffes für den kultischen Cyclus. ibid. 60, N. F. 24 (1916) 81-92; Freehof, S. B.: Modern Jewish Preaching. Ν. Υ. 1941; Fuchs, Η.: Ρ. In: Jüd. Lex. 4,1. Β. 1930, 1093-1100; Leimdörfer, D.: Der Prediger Salomon, oder: Das Gotteswort auf der Höhe. Ein Denkmal für den Vater der jüd. Kanzelrede, Gotthold Salomon [...]. Hbg 1885; id.: Die P. und die Prediger des Tempels. In: id. (ed.): Festschr. zum hundertjährigen Bestehen des Israel. Tempels in Hamburg 1818-1918. Hbg 1918, 33-66; Lewkowitz, J./Fuchs, H.: Homiletik. In: Jüd. Lex. 2. B. 1928, 1658-1659; Maybaum, S.: Die ältesten Phasen in der Entwickelung der jüd. P. B. 1901; id.: Jüd. Homiletik [...]. B. 1890; Salzberger, G.: Die moderne P. In: Monatsschrift für Geschichte und Wiss. des Judentums 75, N. F. 39 (1931) 81-96; Treitel, L.: Zur Entwicklungsgeschichte der P. in Synagoge und Kirche [...]. In: Festschr. zum 75jährigen Bestehen des Jüd.-theol. Seminars Fraenckelscher Stiftung 2. Breslau 1929, 373-376; Vries, S. P. de: Jüd. Riten

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und Symbole. Wiesbaden 1981, 4 1 - 4 5 . - 2 Stemberger, G.: Geschichte der jüd. Lit. Mü. 1977, 83-96. - 3 ibid., 83. - "ibid., 90-92. - 5 Parma, Bibl. Palatina, Ms. 3280 (1133); cf. Meitlis, J.: Di schwohim fun R. Schmuel un R. Juda Chassid. L. 1961; Ausg.n (Ausw.): Margaliot, R.: Sefer Hasidim. Jerusalem 1984; Marcus, I. G.: Sefer Hasidim. Jerusalem 1985; Lit. (Ausw.): Dan, J.: Das Entstehen der jüd. Mystik im ma. Deutschland. In: Judentum im dt. Sprachraum. ed. Κ. E. Grözinger. Ffm. 1991, 127-172; Daxelmüller, C.: Rabbi Juda he-chasid von Regensburg. In: Gelehrtes Regensburg. Regensburg 1995, 105-118; Marcus, I. G.: The Recensions and Structure of Sefer Chasidim. In: Proc. of the American Academy for Jewish Research 45 (1978) 131-153. 6 Angerstorfer, Α.: Hebr. Qu.n zum christl. und jüd. Hexenglauben in Bayern am Anfang des 13. Jh.s. In: Verhandlungen des Hist. Vereins für Oberpfalz und Regensburg 133 (1993) 17-28; Dan, J.: Sippurim demonologijim mi-kitve R' Jehudah he-Chasid (Die dämonologischen Erzählungen in den Sehr. Rabbi Jehuda he-Chasids). In: Tarbiz 30 (1960) 273-289. 7 Bettan (wie not. 1) 192-226. - 8 ibid., 201. - 9 ibid., 317-368; id.: The Sermons of Jonathan Eybeshitz. In: Hebrew Union College Annual 10 (1935) 553-597. - 10 Dubnow,S.: Geschichte des Chassidismus 1 - 2 . B. 1931 (Nachdr. Jerusalem 1969). 11 Rosenfeld, Ζ. A. (ed.): Rabbi Nachman's Wisdom. [Ν. Υ.] 1973; Rabbi Nachman's Stories. Übers. Α. Kaplan. Jerusalem u. a. 1983; Setzer, S. H. (ed.): Sippure Ma'asiot. Vunder ma'asiot fun Rabbi Nachman Bratzlaver. N.Y. 1929; Brocke, M.: Die Erzählungen des Rabbi Nachman von Bratzlaw. (Mü./Wien 1985) Hbg 1989. - 1 2 Goodman, Τ.: Α Sermon, on the [...] Death of [...] Princess Charlotte of Wales and Saxe Coburg. Preached at the Synagogue, Denmark Court, Strand. November 19th [...] 5578. L. 1817. 13 Zunz, L.: Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden hist, entwickelt. Ffm. 2 1892 (Nachdr. Hildesheim 1966). - 1 4 Ζ. B. Baeck, L.: Aus drei Jahrtausenden. Wiss. Unters.en und Abhdlgen zur Geschichte des jüd. Glaubens. Tübingen 1958, bes. 142-185. - 15 Elbogen, I.: Der jüd. Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung. Ffm. 31931 (Nachdr. Hildesheim 1962), 410. - 16 Vries, S. P. de: Jüd. Riten und Symbole. Wiesbaden 1981, 43. 17 Bettan (wie not. 1) 24. - 18 ibid., 24 sq. - 19 Daxelmüller, C.: Erzähler auf der Kanzel. Das Exemplum in jüd. P.en des 19. und 20. Jh.s. In: Fabula 32 (1991) 33-66. - 2 0 Chajes, H. P.: Ist der Antisemitismus eine spontane Volksbewegung? In: id.: Reden und Vorträge, ed. M. Rosenfeld. Wien 1933, 57-62. 21 id.: Krieg und Judentum, ibid., 112-114. 22 Kohn, J. H.: Bibel- und Talmudschatz. Ein Buch für die jüd. Familie. Neu bearb. S. Bamberger. Hbg 8 5663/1903. - 23 Kanter, F.: Gleichnisse für Reden über jüd. Angelegenheiten. Ffm. 1911. - 2 4 id.: Mishle Ya'kov. Gleichnisse und Erzählungen, zeitgemäße Betrachtungen zu allen Fest- und Feiertagen des Jahres. Mährisch-Ostrau 1929. - 25 id.: Neue

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Predigt

Gleichnisse. Gleichnisse und Erzählungen aus dem jüd. Schrifttume für das jüd. Leben. MährischOstrau (1921). - 26 Newman, L. I. (unter Mitarbeit von S. Spitz): The Hasidic Anthology. N.Y./L. 1934. - 27 Buber, M.: Die Erzählungen der Chassidim. Zürich 1949. - 28 Gaster, M.: The Exempla of the Rabbis. Lpz./L. 1924. - 29 ibid., IX.

Würzburg

Christoph Daxelmüller

3. I s l a m . Auch im islam. Kulturraum bezieht sich der Zusammenhang von P. und Erzählforschung auf das intendierte Vermitteln religiöser Inhalte vor einem Auditorium. Eine erste Stufe stellten die spontanen, bereits mit dem später gängigen Terminus hutba bezeichneten P.en des Propheten Mohammed dar, in denen dieser vor allem seine Offenbarungserlebnisse publik machte 1 . Formal ähnelten diese in Reimprosa gehaltenen P.en den Aussagen autochthoner arab. Seher (-• Divination), inhaltlich fixiert wurden die als Offenbarung empfundenen Passagen im -» Koran. Situationen, in denen Mohammed vor Publikum sprach, lassen sich aus der islam. Prophetenbiographie erheben 2 . Unter den ersten Kalifen wurde die hutba ritualisiert. Seither wird der Terminus vornehmlich auf die P. angewandt, die in die Zeremonien des Mittagsgebets am Freitag eingebettet ist3. Aber auch im Verlauf islam. Feste (ζ. B. Opferfest, Fest des Fastenbrechens) hält der Prediger (hatlb) oder Vorbeter (imäm) eine hutba. Theoretisch gliedert sich eine Freitagspredigt in (1) Lob Gottes, (2) Segnung des Propheten, (3) Aufruf zum Glauben, (4) Segnung der Gläubigen, (5) Koranrezitation. Seit dem 10. Jh. wurde es üblich, ein Gebet für den Kalifen oder Herrscher einzubinden. Im Fall politisch-religiöser Konflikte kann auch ein Aufruf zum gihäd (nach islam. Verständnis hier ,Krieg im Dienste Gottes') erfolgen. Starke Rezeption erfuhr die P.sammlung des Gähiz (gest. 868) mit ihren vergleichsweise kurzen P.en; bis heute rekurrieren Prediger auf die klassische P.sammlung des Ibn Nubäta (gest. 984)4. In der Gegenwart sind durch Video- oder Tonaufnahmen neue Verbreitungsmöglichkeiten von P.en entstanden 5 . Zahlreich sind die Anlässe gelebter Frömmigkeit, in denen durch Inhaber verschiedener Funktionen unter Verwendung unterschiedlicher Terminologie P.en gehalten werden.

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Schon in der frühislam. Zeit traten volkstümliche Prediger auf, die in öffentlichen Räumen, vor Moscheen, auf Märkten oder in Karawansereien einem breiten Publikum erbauliches Erzählgut nahebrachten 6 . Die Bezeichnung dieser volkstümlichen Prediger als qussäs bzw. wu"az bringt sie teils mit Geschichtenerzählen (qassa), teils mit erbaulichen Ermahnungen (wa'z) in Zusammenhang. Sie wurden von Vertretern der islam. Orthodoxie zunehmend negativ eingeschätzt, die ihnen unkorrekte Überlieferung der Traditionen, Scharlatanerie und persönliche Bereicherung nachsagten. Der Theologe und Prediger Ibn al-Gauz! hat in seinem Kitäb al-Qussäs wa-l-mudakkirm (Buch der Prediger und Mahner) zahlreiche zeitgenössische Anekdoten über solche volkstümlichen Prediger aufgezeichnet7. Doch ist das Verhältnis zwischen volkstümlichen Predigern und orthodoxen Gelehrten nicht auf eine einfache Opposition zu reduzieren: Auch offiziell bestellte Prediger konnten sich außerordentlicher Beliebtheit erfreuen. Beide Gruppen von Predigern standen in Interaktion mit ihrem Publikum, das Themen vorgeben oder sich einen bestimmten Redner wünschen konnte. Auch der jeweilige Herrscher spielte eine Rolle bei der Bewertung oder Kontrolle der P. In jedem Fall blieben die genannten Mechanismen informell8. Neben den öffentlichen P.en findet sich eine weitere Form in den gesellschaftlichen Treffen, welche die politische Oberschicht kultivierte; in diesen erörterte man u. a. religiöse Themen oder trug Erbauliches vor. Aus einem derartigen Kontext stammt eine P., die Wäsil ibn 'Atä' (gest. 748/49) spontan vor dem Statthalter des Irak gehalten haben soll, und die einen der ältesten erhaltenen P.texte darstellt 9 . In der islam. Geschichte haben P.en in der religiös-politischen Mission (da'wa), mit der innerislam. Gruppierungen ihre Klientel gewinnen und einweisen konnten, eine Rolle gespielt. Klassisch wird der Terminus da'wa auf die religiös-politische Werbung der Siebenerschiiten angewandt. So sind zahlreiche im fatimid. Kairo des 11. Jh.s gehaltene P.en des aus Persien stammenden Predigers al-Mu'aiyad fid-Dln as-STräzI (ca 1000-1078) erhalten 10 . Parallelen zum Vorgehen heutiger islamistischer Gruppierungen sind denkbar 11 .

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Predigt

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Im schiit. Islam finden bes. anläßlich des während letztere der Definition einer P. insoTrauermonats Muharram halböffentliche oder fern entsprechen, als auch sie erbaulich-moraprivat organisierte Zusammenkünfte statt, in lischen Charakters sind. denen man sich des Prophetenenkels Husain I Zur Entstehung der hutba cf. Becker, C. H.: Islamerinnert, der bei einem Versuch, seinen Machtstudien 1. Lpz. 1924, 462. - 2 z.B. Ibn Ishäq: Das anspruch militärisch durchzusetzen, 661 in Kerbelä' den Märtyrertod starb. Ein wä'iz ge- Leben des Propheten. Übers. G.3 Rotter. Stg./Wien 1986, z.B. 100, 162-164. - Wensinck, J. Α.: nannter Prediger stimmt das Publikum ein, be- Jüiutba. In: EI 2 5 (1985) 74 sq.; cf. Lane, Ε. W.: An vor ein Rezitator Szenen aus dem Leben und Account of the Manners and Customs of the Moddem Martyrium Husains vorträgt 12 . Derartige ern Egyptians. L. 51860, 83-90. - 4 Klimkeit, H.-J.: legendenartig verklärte Geschichten um zen- P. 1: Religionsgeschichte. In: TRE 27 (1997) 5 trale Gestalten der Schia, bes. um den Tod der 225-231, hier 228. - cf. Dar maktab-e gom'e (In 1 - 7 . Teheran 1364 - 69/ schiit. Imame, wurden in der Lit. der Zwölfer- der Freitagsschule) 1985-90. - 6 Goldziher, I.: Muhammedan. Studien schia kompiliert. Großen Einfluß auf volks2. Halle 1889-90 (Nachdr. Hildesheim 1971), tümliche religiöse Vorstellungen im Iran und 161-170; Mez, Α.: Die Renaissance des Islam. Hei- vermittelt über den Derwischorden der Bek- delberg 1922 (Nachdr. 1968), 314-316. täsiya — im Einflußgebiet der Osmanen übte 7 Schwartz, M. S. (ed.): Ibn al-JawzI's Kitäb aldas pers. Werk Rouzat as-sohada (Garten der Qussäs wa'l-mudhakkirln. Beirut 1971; cf. auch Märtyrer) des Hosein Vä'ez Käsefi (gest. 1504) Hartmann, Α.: Islam. P.wesen im MA. Ibn al-GauzT aus 13 , dessen Titel Eponym der Gattung schiit. und sein „Buch der Schlußreden" (1186 n.Chr.). In: Saeculum 38 (1987) 336-366; Marzolph, U.: .Ererbaulicher Märtyrerpredigten wurde (rouze- laubter Zeitvertreib'. Die Anekdotenslgen des Ibn alv kh äni, wörtlich: Vortrag des Werkes Rouzat Gauzi. In: Fabula 32 (1991) 165-180, hier 166. as-sohada). Dem Prediger Käsefi ist auch eine 8 Berkey, J.: Storytelling, Preaching, and Power in pers. Bearb. von Kaiila und Dimna u. d. T. Mamluk Cairo. In: Mamlük Studies Review 4 (2000) 53-73; Preißler, H.: Baghdad und seine Prediger. In: Anvär-e Soheili (Die Lichter des Soheili) zu Religiverdanken. Die Breite des den arab. Predigern Kippenberg, H. G./Luchesi, B. (edd.): Lokale onsgeschichte. Marburg 1995, 119-128. - 9 Daiber, der späteren Zeit zur Verfügung stehenden er- H.: Wäsil Ibn 'Atä' als Prediger und Theologe. Leibaulichen und narrativen Materials ist in Wer- den 1988, 23-37; Köhler, B.: Die Wiss. unter den ken wie dem weitverbreiteten al-Mustatraf fl ägypt. Fatimiden. Hildesheim u.a. 1994, 45. 10 Klemm, V.: Die Mission des fatimid. Agenten alkull fann mustazraf (Das Entzückende aus allen Wissensbereichen Pflückende) des -> IbsIhT Mu'ayyad ft d-dTn in STräz. Ffm. 1989. II (gest. 1446) dokumentiert, dessen Beliebtheit cf. Halm, H.: Die Schia. Darmstadt 1988, 161. 12 Thaiss, G.: Religious Symbolism and Social bis heute ungebrochen erscheint14. Im privaten Bereich können auch Frauen Pen halten. R. A. und E. W. Fernea haben am Beispiel des Irak in den 1960er Jahren religiöse Zusammenkünfte von Schiitinnen untersucht. Eine als Mulla bezeichnete Frau leitet dabei die aus Wechselgesängen, Vortrag von Märtyrerlegenden, Tanz und Gebet bestehende, in Teilen dem dikr (einem in Trance versetzenden Sprechgesang) der islam. Mystik ähnelnde Veranstaltung15. Bei derartigen schiit. Zusammenkünften tritt wie auch beim rituellen Treffen von Sufis das rationale, bewußte Moment der P. im engeren Sinn zugunsten der Aktivierung religiöser Gefühle zurück. Die Übergänge zwischen Pen im Sinne der hutba und unmittelbaren religiösen Erfahrungen nach Art der Mystiker sind dabei fließend. Erstere wollen durch ihre Rhetorik ebenfalls eine affirmative Hinwendung zu Gott hervorrufen,

Change. The Drama of Husain. In: Keddie, N. R. (ed.): Scholars, Saints and Sufis. Berk. u.a. 1972, 348-366, hierzu 352-358. - 13 Halm (wie not. 11) 181; Rypka, J.: Iran. Lit.geschichte. Lpz. 1959, 300 sq. — 14 Marzolph, U.: Medieval Knowlege in Modern Reading. A Fifteenth-Century Arabic Enc. of Omni Re Scibili. In: Binkley, P. (ed.): Pre-Modern Encyclopaedic Texts. Leiden u.a. 1997, 407-419. 15 Fernea, R. A. und Ε. W.: Religious Observance among Islamic Women. In: Keddie (wie not. 12) 385-401, hier 391-395.

Göttingen

Bärbel Beinhauer-Köhler

4. C h r i s t i . M A . Die P. des MA.s1 läßt sich in zwei große Phasen einteilen, die vom Texttypus und der praktischen Umsetzung her bestimmt sind. Seit dem Ende der Antike bis ins 12. Jh. herrscht die Homilie vor, danach der Sermo. Die Homilie stellt im wesentlichen eine satzweise Auslegung längerer Bibelpassa-

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Predigt

gen dar, verbunden mit Elementen der Glaubens-, Sakramenten- und Liturgielehre. In Festtagspredigten treten bibl. und außerbibl. ->• Heilige als Erzählinhalte hinzu. Biblisches, hagiographisches und patristisches Schrifttum, häufig in Form von textlichen Versatzstücken eingebracht, bildet die Grundlage. Das Ziel dieser P.form ist die Darstellung, Einübung und Festigung der christl. Lehre und Lebensweise. Die überlieferten P.en sind oft sehr ähnlich, die Rezeption von Standardpredigten ist groß. Der Vortrag beschränkt sich zumeist auf die Verlesung von Homilien anerkannter Autoren. Einschlägige Empfehlungen der Karolingerzeit fordern den Verzicht auf nova und die Beschränkung ad legendum. Die namhaften, immer wieder abgeschriebenen Prediger wie Caesarius von Arles (gest. 542)2, - Gregor d. Gr. (gest. 604), Beda Venerabilis (gest. 735)3, Paulus Diaconus (gest. um 799), Smaragdus von St. Mihiel (gest. um 825)4, Haimo (gest. um 855)s und Heiric von Auxerre (gest. 876/77)6 sowie Hrabanus Maurus (gest. 856)7 bieten nicht bes. variationsreiche Texte. Das gilt bis zu den P.en des Aelfric Grammaticus (gest. vor 1020)8, Ivo von Chartres (gest. 1116)9, Gebuin von Troyes (gest. 1150)10, Guerric von Igny (gest. 1157)11, Gottfried von Admond (gest. 1165)12, Isaak von Stella (gest. 1168/69)13, Garnerius (gest. 1170)14, Achard (gest. 1171)15 und Walter von St. Viktor (gest. 1185)16, Hieronymus von Arezzo (gest. um 1177)17 sowie Balduin von Forda (gest. 1190)18. Auch wirkungsreiche Prediger wie die Zisterzienser -• Bernhard von Clairvaux (gest. 1153), Amadeus von Lausanne (gest. 1159)19 und Aelred von Rievaulx (gest. 1167)20 unterscheiden sich hier wenig. Die überlieferten P.en stammen insgesamt zumeist aus dem bischöflichen und klösterlichen Milieu. In der einfachen Volksseelsorge entstandene Texte sind so gut wie nicht erhalten, was auf den geringen Stellenwert der P. schließen läßt. Einzig die P.en zur Werbung für die -· Jacques de Vitry (gest. 1240) geknüpft ist, nimmt mit den Bettelorden dann noch einmal an Intensität zu. Dominikaner und Franziskaner bauen die P. in der Form des Sermo zum seelsorglichen Medium schlechthin aus 36 . Für die mündl. Kultur des Spätmittelalters nehmen die mendikantischen Texte einen zentralen Platz ein. Teilweise losgelöst von der Meßliturgie werden die P.en zu Massenveranstaltungen mit großem Bildungseffekt für das Volk. Vom 13. bis zum 15. Jh. sind die Dominikaner Wilhelm von Peyraud (gest. 1271)37, Aldobrandinus Cavalcanti (gest. 1279)38, Nikolaus von Gorran (gest. 1295)39, - Jacobus de Voragine (gest. 1298),

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Predigt

Gerhard von Mailly (gest. um 1300)40, Guido von Evreux (gest. um 1300)41, Johannes von San Gimignano (gest. nach 1333)42, Wilhelm von Paris (gest. nach 1437)43, Johannes -» Nider (gest. 1438), Johannes -> Herolt (gest. 1468) und die Franziskaner Johannes von La Rochelle (gest. 1245)44, Petrus von Saint-Benoit (gest. 2. Hälfte 13. Jh.) 45 , Nikolaus von Byard (gest. 2. Hälfte 13. Jh.) 46 , - Berthold von Regensburg (gest. 1272), Bonaventura (gest. 1274)47, Guibert von Tournai (gest. 1284)48, Bertrand von Tours (gest. 1332)49, Nikolaus von Lyra (gest. 1349)50 und Johannes von Werden (gest. 1437) die beherrschenden Gestalten. Eine große Zahl nicht so prominenter Namen kann ihnen an die Seite gestellt werden. Tausende gehaltener oder auch zu Muster- und Lehrzwecken in den Studienanstalten der Orden abgefaßter P.en sind in Hss. erhalten. Nach der dominanten Phase der Bettelorden vom 13. bis 15. Jh. schließt auch der Weltklerus in der Qualität seiner P.en auf. Stiftungen von Prädikaturen 51 an Dom- und Kollegiatkirchen sorgen dafür, daß die von den predigenden Orden praktisch aus dem Blickfeld verdrängten Weltgeistlichen wieder gleichwertig werden. Mit Prädikanten wie Johann ->· Geiler von Kaysersberg (gest. 1510) in Straßburg oder Wilhelm Textoris (gest. um 1500)52 in Basel verfestigt die Amtskirche den Stellenwert der P. als Nahtstelle zwischen gebildeter Geistlichkeit und Volk. Die Sermones sind erheblich variationsreicher als die Homilien. In ihnen spiegeln sich die sprachliche und gedankliche Individualität der Prediger und die unterschiedliche Breite ihres persönlichen Wissens wider. Das kommt vor allem im Stilmittel der -» Exempel53 zum Ausdruck. Die P.exempel werden in den Sermones zu Erklärungszwecken und zur Illustration aus allen möglichen Bereichen von Erzählüberlieferung und Wiss. herangezogen, wobei sich im theol. Einsatz ganz unterschiedliche Kenntnisse entfalten. Der Zulauf der Bettelorden vom 13. bis zum 15. Jh. erklärt sich nicht zuletzt aus der Resonanz des illiteraten Volkes auf das gelehrte Pangebot der Mönche. Bei den Exempelinhalten stehen die Geschichte, Natur, Geographie, Astronomie, Kunst, Vision und Fabel im Vordergrund. Antike Gestalten wie Alexander d. Gr., Cä-

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sar, Pompeius, Augustus und andere röm. Kaiser haben mit ihren Taten den Vorrang vor Geschichtsstoffen wie den Ereignissen um -• Karl d. Gr. oder Otto III. Aus der Naturkunde und Geographie treten Tiere und Steine mit ihren diversen, teilweise auch vermeintlichen Eigenschaften sowie nebulöse Erzählungen über Asien hervor. Bei den Gestirnen sind es vor allem die Funktionen von Fixsternen und Planeten, die theol. gedeutet werden (cf. ->· Prodigien), bei der Kunst stehen die Plastiken der Götter und Göttinnen und die Sakralarchitektur der Antike im Vordergrund. Während die Visionen durchaus auch jüngere Stoffe aus dem ma. Mönchsmilieu beinhalten, schöpfen die Fabeln fast ausschließlich aus den -» Äsopika. Im Explikations- und Illustrationsmaterial der Exempel dominiert das antike Bildungsgut. Mit diesen profanen und heidnischen Erzählstoffen gehen die Sermones erheblich über das hinaus, was die Homilien vorher geboten haben. Aus theol. Perspektive, aber mit geistiger Offenheit für das weltliche Wissen wird die P. durch den Exempelgebrauch zum mündl. Kulturvermittler. Ohne Scheu wird profanes Erzählgut wie das bibl. und hagiographische den literalen, typol., tropologischen und anagogischen Exegeseschritten unterzogen. Dabei suchen die Prediger nach induktiven und deduktiven Beweisen ihrer spezifischen Thesen gerade im außertheol. Material, sie benutzen die Exempel zur transzendierenden Allegorese, und sie gebrauchen sie zu moralischen Appellen. Im Sermo wird der theol. Diskurs inhaltlich sehr weltoffen wiss. gestaltet. Ihr narratives Fundament beziehen die Prediger dabei aus enzyklopädisch angelegten -» Exempelsammlungen wie denen des Etienne de Bourbon (gest. um 1261), Humbert de Romans (gest. 1277)54, Johannes von Wales (gest. 128 5)55, ->· Johannes Gobi Junior (gest. um 1320), Arnold von Liege (gest. 1345; Alphabetum narrationum) oder ->• Konrad von Halberstadt (gest. nach 1355). Aber auch nicht eigens zu Pzwecken angelegte Chronikliteratur (u.a. -> Martin von Troppau), Bestiarien (-• Physiologus), Lapidarien sowie das ganze Fachschrifttum der Artes liberales stehen ihnen zu Gebote. Die P. des späten MA.s ist damit zum einen ein Kreuzungspunkt verschiedener literar. Gattungen und wiss. Diszi-

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Predigt

plinen mit der Theologie, zum anderen wirkt sie zugleich als Multiplikator bei der Verbreitung geistlichen und profanen Wissens unter der Bevölkerung. 1 Allg. cf. Kerker, M.: Die P. in der letzten Zeit des MA.s. In: Theol. Quartalschrift 43 (1861) 373-410, 44 (1862) 267-301; Lecoy de la Marche, Α.: La Chaire franipaise au moyen äge. P. 1868; Wackernagel, W.: Die altdt. P. In: id.: Altdt. Pen und Gebete. Basel 1876, 291-445; Bourgain, L.: La Chaire fran(jaise au XIIe siecle. P. 1879; Cruel, R.: Geschichte der dt. P. im MA. Detmold 1879; Rothe, R.: Geschichte der P. Bremen 1881; Zezschwitz, G. von: Geschichte der P. In: Zöckler, O.: Hb. der theol. Wiss.en 4. Nördlingen 21885, 219-354; Linsenmayer, Α.: Geschichte der P. Mü. 1886; Albert, F. R.: Die Geschichte der P. 1 - 3 . Gütersloh 1892/93/96; Langlois, C.-V.: L'Eloquence sacree au moyen äge. In: Revue des deux mondes 115 (1893) 170-201; Owst, G. R.: Preaching in Medieval England. Cambr. 1926; Dargan, E. C.: A History of Preaching 1—2. Grand Rapids 1954; Niebergall, Α.: Die Geschichte der christl. P. In: Müller, Κ. F./Blankenburg, W.: Leiturgia 2. Kassel 1955, 181-353; Gregoire, R.: Les Homeliaires du moyen äge. Rom 1966; Wolf, H.: P. In: Reallex. der dt. Lit.geschichte 3. Β. 21966, 223-257; Schneyer, J. B.: Geschichte der kathol. P. Fbg 1969; Schütz, W.: Geschichte der christl. P. B. 1972; Schneyer, J. B.: Repertorium der lat. Sermones des MA.s 1 - 9 . Münster 2 1973-1980; Zerfass, R.: Der Streit um die Laienpredigt. Fbg 1974; Longere, J.: (Euvres oratoires de maitres parisiens au XII e siecle 1 - 2 . P. 1975; Zink, Μ.: La Predication en langue romane avant 1300. P. 1976; Gregoire, R.: Homeliaires liturgiques medievaux. Spoleto 1980; Ruh, Κ.: Dt. P.bücher des MA.s. In: Reinitzer, H.: Beitr.e zur Geschichte der P. Hbg 1981, 11-30; Rusconi, R.: Predicazione e vita religiosa nella societa italiana. Turin 1981; Vauchez, Α.: Faire croire. P. 1981; Longere, J.: La Predication medievale. P. 1983; Makdisi, G./Sourdel, D./Sourdel-Thomine, J.: Predication et propagande au moyen äge. P. 1983; Coletti, V.: L'Eloquence de la chaire. P. 1987; Martin, H.: Le Metier de predicateur en France septentrionale. P. 1988; Amos, T. L./Green, E. A./Kienzle, Β. M.: De ore domini. Preacher and Word in the Middle Ages. Kalamazoo, Mich. 1989; Lesnick, D. R.: Preaching in Medieval Florence. Athens, Ga 1989; Mertens, V./ Schiewer, H.-J.: Die dt. P. im MA. Tübingen 1992; Taylor, L.: Soldiers of Christ. Ν. Y./Ox. 1992; Bataillon, L. J.: La Predication au XIII e siecle en France et Italie. Aldershot 1993; Hamesse, J./Hermand, X.: De l'Homelie au Sermon. Löwen 1993; Spencer, H. L.: English Preaching in the Late Middle Ages. Ox. 1993; Wenzel, S.: Macaronic Sermons. Ann Arbour 1997; Dessi, R. M./Lauwers, M.: La Parole du predicateur. Nizza 1997; La Predication en Pays d'Oc (XII e -debut XVC siecle). Toulouse 1997; Fletcher, A. J.: Preaching, Politics and Poetry in Late-Medie-

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D. Vorreux. P. 1972. - 2 9 MPL 195 (1855) 11-98; 184 (1879) 817-850. - 30Gastaldelli, F.: Quattro sermoni „Ad abbates" di Goffredo di Auxerre. In: Citeaux 34 (1983) 160-200; MPL 185 (1879) 573-588; ibid. 184 (1879) 1095-1102; Cambridge, Fitzwilliam Museum, Ms. McClean 121, fol. 1—93; Paris, Bibl. Nationale, Ms. lat. nouv. acq. 1476, fol. 85-168; ibid., Ms. lat. 18178, fol. 2-100; Troyes, Bibl. Municipale, Ms. lat. 503, fol. 1-50. 31 Paris, Bibl. Nationale, Ms. lat, 14515, fol. 107-161; Paris, Bibl. Mazarine, Ms. 1002, fol. 1-143. - 32 Paris, Bibl. Nationale, Ms. lat. 14935, fol. 1-50; die Epistolae. P. 1679, 425-438 bringen nur P.titel, MPL 211 (1855) 567-576 nur Auszüge. - 33 MPL 209 (1855) 9-184; MPL 208 (1855) 27-1350. - 34 Paris, Bibl. Nationale, Ms. lat. 14593, fol. 3-13, 118-166, 289-351. - 35 MPL 207 (1855) 559-776. - 36 Zawart, Α.: The History of Franciscan Preaching. Ν. Υ. 1928; Vicaire, M.-H.: La Predication nouvelle des precheurs meridionaux au XIIF siecle. In: Cahiers de Fanjeaux 6 (1971) 21-64; Bougerol, J.-G.: Les Sermons dans les „studia" des mendiants. In: Le scuole degli ordini mendicanti. Todi 1978, 250-280; Avray, D. L. d': The Preaching of the Friars. Ox. 1985 (Nachdr. 1988); Paton, B.: Preaching Friars and the Civic Ethos. Siena 1380-1480. L. 1992; Hanska, J.: „And the Rich Man also Died; and He Was Buried in Hell". The Social Ethos in Mendicant Sermons. Hels. 1997; Montesano, M.: „Supra acqua et supra ad vento". Rom 1999. — 37 Homeliae sive sermones Gulielmi de Peraldo. Lyon 1576; Sermones super epistolas dominicales Gulielmi de Peraldo. Lyon 1576; Sermones de sanctis Wilhelmi Parisiensis. Tübingen 1498. 38 Bamberg, Stadtbibl., Ms. msc. theol. 2; München, Bayer. Staatsbibl., Ms. elm 7832, fol. 4 4 - 70. 39 Fundamentum aureum omnium anni sermonum magistri N. de Gorra. P. 1509. — '"'München, Bayer. Staatsbibl., Ms. elm 15748; Paris, Bibl. Nationale, Ms. lat. 15953, fol. 1-24. 41 Berlin, Staatsbibl. Preuß. Kulturbesitz, Ms. theol. lat. 4° 81. - 42 Aureum opus sermonum adventualium per Joannem de s. Geminiano. P. 1512; Opus aureum sermonum quadragesimalium, epistolarum et evangeliorum per Iohannem de s. Geminiano. P. 1511; Opusculum fratris Johanis de s. Geminiano de operibus sex dierum. P. 1512; Orationes funebres secundum Johannem de s. Geminiano. Lyon 1515; Florenz, Bibl. Nazionale, Mss. conv. sopp. G 1 514, J 1 41, J 2 40. - 43 Guilermus Parisiensis: Postilla super epistolas et evangelia. s. 1. 1521. - 44 John de La Rochelle: Eleven Marian Sermons, ed. K. F. Lynch. Löwen 1961; Amsterdam, Β. Α.: Tres sermones inediti Joannis de Rupella in honorem s. Antonii Patavini. In: Collectanea Franciscana 28 (1958) 33-58; Duval-Arnould, L.: Trois Sermons synodaux de la collection attribuee ä Jean de La Rochelle. In: Archivum Franciscanum Historicum 69 (1976) 336-400, 70 (1977) 35-71; Paris, Bibl. Nationale, Ms. lat. 13583, fol. 241-246; ibid., Ms. lat. 16477. - 45 München, Bayer. Staatsbibl., Ms. elm 2672. -

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Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibl., Ms. cod. guelf. aug., fol. 78.7. - 47 Bonaventurae Opera omnia 5. Quaracchi 1891, 455-503, 327-449; ibid. 9 (1901) 23-731; Bonaventurae Sermones dominicales. ed. J.-G. Bougerol. Grottaferrata 1977; id.: Le Sermon de Bonaventure sur le royaume de Dieu. In: Archives d'Histoire Doctrinale et Litteraire du Moyen-Äge 63 (1988) 187-254; Bonaventure: Sermons de diversis 1 - 2 . ed. J.-G. Bougerol. P. 1993. — 48 Guilibertus Tornacensis: Sermones ad omnes status. Lyon 1511; Bonaventurae Opera omnia Suppl. 3. Trient 1774, 495-610; Leipzig, Univ.sbibl., Ms. 496, fol. 109-128; Rom, Bibl. Vaticana, Ms. lat. 11444. - 49 Sermones Bertrandi de tempore et de sanctis una cum quadragesimali epistolari. Straßburg 1501; Sermones quadragesimales epistolares Bertrandi. Straßburg 1502. - 50 Nicolaus de Lyra: Postilla super evangelia dominicalia. Lyon 1512; id.: Postilla super evangelia quadragesimalia. Lyon 1512. 51 Rauscher, J.: Die Prädikaturen in Württemberg vor der Reformation. In: Württemberg. Jbb. für Statistik und Landeskunde 2 (1908) 152-211; Lengwiler, E.: Die vorreformator. Prädikaturen der dt. Schweiz. Diss. Fribourg 1955; Schmid, Α.: Die Anfänge der Domprädikaturen in den dt.sprachigen Diözesen. In: Rom. Quartalschrift 89 (1994) 78-110. — "Menzel, Μ.: P. und P.organisation im MA. In: Hist. Jb. 111 (1991) 337-384, hier 380 sq. - 53 Lecoy de la Marche, Α.: L'Esprit de nos ai'eux. P. 1889 (Neuausg: Le Rire du predicateur. ed. J. Berlioz. Turnhout 21999); Schmitt, J.-C.: Precher d'exemples. P. 1985; Kienzle, Β. M. u. a.: Models of Holiness in Medieval Sermons. Löwen 1996; Menzel, Μ.: P. und Geschichte. Köln 1998; Polo de Beaulieu, M.-A.: Education, predication et cultures au moyen äge. Lyon 1999; Schinagl, E.: Naturkunde-Exempla in den lat. P.slgen des 13. und 14. Jh.s. Bern 2001. 54 Gedr. als Liber de abundantia exemplorum [magistri Alberti magni Ratisponensis episcopi] ad omnem materiam. s. 1. s. a. - 55 Johannes Gallensis: Summa collationum sive communiloquium. Straßburg 1481. München

Michael Menzel

5. K a t h o l i z i s m u s . Die barocke P. bildet eine hist. Sonderform der frühneuzeitlichen Wortverkündigung unter den Bedingungen des Konfessionalismus. Die dogmatischen und kirchenamtlichen Wurzeln der kathol. P. liegen in den tridentinischen Reformen (16. Jh.). Mit dem ,allg. Verstaatlichungsprozeß' und der Modernisierungsbewegung nahm die ma. Verbindlichkeit religiöser Lebenshaltung weiter zu und ergriff weite Bereiche des Alltags, wobei unter konfessionellem Vorzeichen ein bis dahin unbekanntes Höchstmaß an Verkirchlichung resultiert1. Dies betraf auch das P.amt.

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Die im 17. Jh. greifende Regelung der Ausbildung in den Gymnasien und Univ.en nach der jesuit. Ratio studiorum (1599) standardisierte beim Klerus den Kenntnisstand religiöser Doktrin und rhetorischer Verfahren. Die P. selbst wurde zum festen Bestandteil des religiösen Lebens, sie begleitete den kirchlichen Wochen- und Jahreszyklus und war an den wesentlichen Stufen der christl. Lebensführung (Geburt, Hochzeit, Tod) zu vernehmen. Die Verkündigungsabsicht regierte zunächst Form (Homilie) wie Themenkreis (Postillen, Marienpredigt, Eucharistiepredigt). Dem propagandistischen Ansinnen entsprachen didaktische Vorkehrungen: deutlich gegliederte Disposition, einfacher Stil nach dem Gebot des Augustinus {De doctrina christiana), mehrfache Wiederholung des Wesentlichen, schlichte, gut begreifliche Exempel. Doch war die P. bereits tief in der Schriftlichkeit und in den Möglichkeiten des Druckwesens verankert 2 , und die Postille als Auslegung des Perikopenzyklus im Kirchenjahr wurde zum wichtigen Buchhandelsartikel. Bücher wie Jakob Feuchts (1540—70) Pen Von zweyntzig vermaynten Vrsachen: Warumb etliche Leut diser zeit nit wollen Catholisch sein (1574) erlebten zahlreiche Auflagen. An der Schnittstelle zwischen Oralität und Literalität paßte sich die gesprochene P. an die Hörkompetenz des Publikums an und moderierte sie zugleich in zahlreichen Anleitungen zum .richtigen', aufmerksamen und nachsinnenden Hören der P.3 Noch bis zum Konfessionskrieg stand im Zeichen der -» Gegenreformation die Abgrenzung vom luther. Glauben im Vordergrund, es ging dem Kirchenvolk gegenüber um die Verbreitung und Verfestigung der eigenen Glaubenspositionen: Eucharistie, Muttergottesund Heiligenverehrung, Sakramentenlehre, Priesteramt und kirchliche Autorität. Nach außen mußten die Prediger die Grenze zum Konfessionsgegner deutlich ziehen, so daß die P. an der konfessionellen Identitätsbildung mitarbeitete. Noch in der älteren Derbheit predigte und publizierte Georg Scherer (1539/ 40—1605) Von der Augspurg. Confession (1601), Von den Reliquien (1605) und Von der Communion (1608). Mit der Festigung der konfessionellen Positionen wichen Schimpfen, Drastik und Abwertung gemäßigterer Argumentation.

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Parallel zu dieser Mäßigung setzte von den gefestigten gegenreformatorischen Zentren aus eine Umgestaltung der volkssprachlichen P. ein. So goß in München der Jesuit Jeremias Drexel seine Pen in (lat.) aszetische Traktate von so zeitgemäßer Attraktivität für die Eliten der frühabsolutistischen Staaten, daß sie europaweit gelesen wurden und den Wittelsbacher Hofprediger zum Bestsellerautor machten; der rege Übersetzer Aegidius -» Albertinus wurde zum wichtigsten Vermittler rom. P.- und -» Erbauungsliteratur (cf. auch Antonio de Guevara) 4 . Auch in der Homiletik trieb die frz. und ital. Jesuitenrhetorik (Nicolaus Caussin, Carolo Regio) die Entwicklung der Barockpredigt voran, in Richtung auf eine Lockerung der ,sermo-humilis'-Verpflichtung und damit eine Öffnung für gehobenere Stilebenen. Als Sprachnorm etablierte sich das Oberdeutsche5. Erst mit dem Ende des 30jährigen Krieges kann man zu Recht von der,barocken' P. sprechen. Den alten Formen der Postille, wie noch von Bartholomäus Wagner und Johann Hesselbach (1580—1668) publiziert, traten kleinere Teilzyklen bzw. speziellere Sammlungstypen als Traktate zur Seite. Zur Perikopenauslegung im Amt des Sonn- wie Feiertagspredigers kam nach und nach eine Vielzahl von Aufgaben, die sowohl einer Vervielfachung der P.anlässe (Marienpredigt, Wallfahrtspredigt, Bruderschafts- und Landsmannschaftspredigt, Türkenpredigt etc.) als auch einer Differenzierung des P.amtes vom Hofprediger bis zum Kontroversprediger entsprach: Neben der ,Ordinari-P.' entfaltete sich die ,Extraordinari-P.'. Zunehmend breiteten sich unterhaltsame Elemente aus. Dies gilt insbesondere von der Lob- und Heiligenpredigt und um so mehr, je bedeutsamer der Anlaßfall, denn die panegyrische P. wurde ein Teil des offiziellen Zeremoniells. So griff das delectare gegenüber dem docere Platz, wuchsen das Scharfsinnige und Spitzfindige (argutia, concetto) und die Lebendigkeit des Hörerappells (Dialogpassagen), wurde auf der Kanzel erzählt und allegorisiert, finden sich gelehrte Exkurse, Apophthegmata, Emblemata, Geschichten und P.märlein (-> P.exempel, P.märlein). Im Kirchenjahr kumulierte das Erzählen zu Ostern als Ostermärlein in der Tradition des ->• Risus paschalis. Freilich blieb die Unterhaltungsqualität des

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sprachlichen ornatus stets im Dienst der homiletischen Funktion, war das delectare dem docere bei-, jedoch nicht übergeordnet. Welcher Reichtum des Erzählens und Fabulierens in der Barockpredigt entfaltet wurde, hat E. Moser-Rath 6 beispielhaft ans Licht gehoben; aus der frühen Predigergeneration7 seien zumindest Amandus von Graz, Michael Stainmayr, Heribert von Salurn, Ignaz Trauner, Franz Josef von Busmannshausen, Wolfgang Rauscher, Konrad Purselt und Christoph Selhamer genannt. Florentius Schilling (1602—70) z.B. praktizierte einen ausladenden, sprachlich abwechslungsreichen und besonnen prunkenden Stil; der sprachlich gewandte, auch als Lieddichter beachtliche Procopius von Templin (1608-80) verfaßte zahlreiche thematische P.bändchen. Von den kathol. Barockpredigern ist -> Abraham a Sancta Clara als (Titular-)Hofprediger wie als fruchtbarer Literat die exponierteste und daher bekannteste Gestalt. Mit Andreas -> Strobl und Sebastian Felsenecker (1679—1752) reicht die Tradition der stilistisch gekonnten, mit Erzählungen angereicherten P.weise bis ins 18. Jh. Die Entwicklung der Gattung in Richtung auf das Ausladende und Unterhaltsame, kurz: das Literarische, verdankt sich der Entlastung von der Aufgabe konfessioneller Abgrenzung und Schuldmahnung, der nun gut organisierten Prediger- und Priesterausbildung mit der gesteigerten Nachfrage nach Materialien als Muster und P.vorrat sowie einer vermehrten Leserschaft außerhalb des Klerus. Nachdrucke beweisen, daß die ab etwa 1670 zahlreich erschienenen P.sammlungen Erfolgstitel gewesen sein müssen, mehr noch die bald darauf edierten, aus den P.en hervorgegangenen Unterhaltungsbücher von Abraham a Sancta Clara 8 . Der Zuwachs an Rhetorizität bezeichnet die enge Verbindung, die Kirche und repräsentative Öffentlichkeit nun in allen Konfessionen, bes. aber im Habsburgerreich, eingingen. Die zunehmende Unterhaltungsfunktion resultierte aber auch aus der Konkurrenz mit der unterhaltenden Lit. Doch wie diese wurzelt die Barockpredigt in der Welt der Bücher, der Lexika, Nachschlagewerke und Neuerscheinungen: „Die Predigtliteratur des Barock steht im tiefen Schatten seiner enzyklopädischen Bibliotheken." 9 Nicht nur der Alltag,

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auch alles Gedruckte wurde ihr zum Stoff, selbst, wie für Procopius von Templin, der Simplicissimus -> Grimmelshausens, wie umgekehrt die gedr. Slgen nicht nur zur homiletischen Nachahmung (imitatio) anregten, sondern auch die Erzählstoffe wieder in die Oralität des Erzählens zurückspeisten. In engem Zusammenhang steht daher die volkssprachige P. auch mit der lat. -»jesuit. Erzählliteratur. Das Bewährte und Bekannte der Stoffe gewährleistete der P. Verläßlichkeit und Glaubwürdigkeit, und das Neue ergab sich aus der stets wechselnden stilistischen Präsentation. Freilich bestand auch ein Überbietungsdruck (aemulatio), der um 1680 zu einem weiteren Entwicklungsschritt führte, welcher mit einer überkonfessionellen ,Retheologisierung' der P. wie der Erbauungsliteratur einerseits, mit einer weitgehenden Literarisierung der Barockpredigt andererseits angesetzt werden kann 10 . Der Einschnitt verläuft parallel zum Auftreten des -» Pietismus, und die erneute Intensivierung eines genuin religiösen P.erlebnisses fällt mit der neuen Form der kathol. Missionspredigt zusammen, die gemeinsam mit der Katechismuspredigt die zahlenmäßig weitaus überwiegenden illiteraten Schichten direkt katechisieren sollte (-• Jüngstes Gericht) und die den Hörer als Sünder überführende P. des Gesetzes (usus elenchticus) voraus. In der Bibel finden die Prediger eine Fülle von Beispielen dafür, wie Menschen scheitern und gerettet werden. Consolatio heißt, daß der scheiternde Mensch im Glauben an den für ihn gestorbenen und auferstandenen Christus Rechtfertigung erfährt. Wer Christus nur als Exempel eines guten Lebens wie andere Heilige versteht, dem ist der Himmel noch verschlossen7. Den Heiligengeschichten des MA.s (-> Hagiographie) begegnen die Reformatoren bes. deshalb kritisch, weil sie mehr die eigene

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Frömmigkeit in den Vordergrund stellen als zum Empfang der Gnade einladen. Im sog. Konfessionellen Zeitalter (ca 1550—1700) erreichte die Protestant. P. quantitativ ihren Höhepunkt. Aus dieser Zeit stammt auch die Mehrzahl der Protestant. Exempelsammlungen für Prediger. Es wurde so oft und so lange gepredigt, daß viele Gemeindeglieder mit passivem Widerstand reagierten, indem sie die Liturgie versäumten, womit sie indirekt den hohen Rang der P. in der Volksfrömmigkeit bekundeten. Dieser spiegelt sich auch in der Fülle gedr. P.en wider. Publiziert wurden, bes. im luther. Raum, P.en zu allen Sonn- und Festtagen des Kirchenjahres, Auslegungen bibl. Bücher, viele P.en aus bes. Anlässen, ζ. B. bei Katastrophen wie der Pest. Zahlreiche P.en behandelten kontroverstheol. Themen, wobei die Polemik oft innerprotestant. heftiger tobte als gegen die kathol. Seite8. Bei aller theol. Strenge bemühten die Prediger sich, bibl. Texte und Lebenswelt der Hörer zu verknüpfen; sehr verbreitet waren die Bergpostille von Johannes Mathesius (1562) sowie seine P.en zu Luthers Leben. Zahlreich publiziert wurden Leichenpredigten als Einzeldrucke und in Sammelbänden 9 . Sie waren als ->• Erbauungsschriften beliebt und dienten zugleich als Statussymbole. Ihnen wurden diverse Zugaben beigefügt: Parentationen (i. e. Dank an die Trauergemeinde, verbunden mit einem Nachruf auf die verstorbene Person, oft in gereimter Form); Musikstücke, die für die Beerdigung komponiert waren, etc. Der Stellenwert der biogr. Würdigung einer verstorbenen Person gegenüber dem geistlichen Teil der Leichenpredigt wuchs während des 17. Jh.s - und damit die Gefahr, daß Leichenpredigten zu ,Lügenpredigten' wurden, wie bereits Zeitgenossen kritisierten. Der führende Pietist Philipp Jacob Spener (-• Pietismus) riet deshalb, nur in der Einl. der P. sowie in den von der P. getrennten Personalia von der verstorbenen Person zu reden; dagegen deutete August Hermann Francke (1663-1727) das Leben, wenn es ,in wahrem Glauben' geführt wurde, als zur Nachahmung aufforderndes Exempel10. Erzählstoffe schöpften die Prediger im 16./ 17. Jh. aus Sammelwerken11. Außerbibl. Erzählgut wurde infolge der engen Perikopenordnung benötigt, die für die P.en in den

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Hauptgottesdiensten jährlich wiederkehrende Evangelientexte vorgab. Neben der Verkündigung konnte die Unterhaltung Eigenwert erlangen. Die Frage nach der Historizität des Erzählten gewann in der Aufklärung an Bedeutung. Hauptkriterium für den Gebrauch literar. Gattungen ist, daß die bibl. Wahrheit in ihrer Bedeutung für die Hörer illustriert und ihre Rezeption gefördert wird. Trotz polemischer Auswüchse im theol. Streit sowie inhaltlicher und methodischer Spitzfindigkeiten zeugt die evangel. P. insgesamt von einer tiefen Frömmigkeit. Namhafte Protestant. Prediger dichteten Kirchenlieder, die in Gesangbüchern bis heute enthalten sind: Nicolaus Seinecker (1530-92), Cyriacus Spangenberg (1528-1604), Valerius Herberger (1562—1627), Johann Heermann (1585-1647), Christian Scriver (1629-93) etc. Die enge Verbindung konfessioneller Kompromißlosigkeit und lebendiger luther. Spiritualität bezeugt am eindrücklichsten Paul Gerhardt (1607-76). Johann Balthasar Schupp (1610-61) erreichte mit volkstümlicher, unkonventioneller, inhaltlich aber orthodoxer P. eine große Hörerschaft, zog jedoch den Unmut des Hamburger Geistlichen Ministeriums auf sich, das 1657 die theol. Fakultäten von Wittenberg und Straßburg um Gutachten ersuchte, ob ein Pastor Scherze, Fabeln, Satiren und lächerliche Geschichten predigen dürfe 12 .

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schen Vernunft ausgesetzt. J. J. Spalding publizierte 1772 die prinzipielle Homiletik Über die Nutzbarkeit des P.amtes13. Gegen rationalistische Religionskritik sollte der praktische Nutzen der Religion und mit ihr der P. nachgewiesen werden. Ihr Ziel war Gottseligkeit oder Glückseligkeit, der Weg dahin die Tugend. - C a s a l i c c h i o (17. Jh.). D e m christl. P. v e r g l e i c h b a r e E r s c h e i n u n g e n b e g e g n e n im ü b r i g e n a u c h in d e r a u ß e r e u r o p . Lit., ζ. Β. im B u d d h i s m u s (-» J ä t a k a s ) , in d e n religiösen K o m m e n t a r e n d e r -> J a i n a s o d e r im I s l a m ( - • I b n al-GauzT).

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Predigtschwänke

Als Synonym für P. wird in der Forschung seit G. Frenken, dann vor allem durch H. Wolf verteidigt, der Terminus Predigtexempel verwendet, obwohl, wie E. Moser-Rath mit Recht einwendet, dieser synonyme Gebrauch nicht ohne weiteres zu rechtfertigen ist9. Während nämlich P. erkennbar einen — wenn auch durch die Beispielhaftigkeit bestimmten narrativen Text meint, subsumiert der weiter gefaßte Terminus Predigtexempel auch die vor allem in der ma. Predigtliteratur zahlreich belegten nichtnarrativen ->• Exempla aus den verschiedensten Bereichen (Alltagsleben, Recht, Natur, Medizin, Liturgie etc.), die von den Predigern mit derselben Zielrichtung angewandt wurden wie die narrativen Predigteinlagen, erkennbar ζ. B. in der Summa predicantium des engl. Dominikaners John -» Bromyard oder auch in den Sermones dominicales des Franziskaners Jacobus de Marchia (15. Jh.) 10 . Überblickt man die Forschungsliteratur zum P. und Predigtexempel seit Pfeiffer, so ist festzustellen, daß sich bisher keine eindeutige, allg. akzeptierte Terminologie durchgesetzt hat. 1

Pfeiffer, F.: P. In: Germania 3 (1858) 407-444. Moser-Rath, Predigtmärlein; Herzog, U.: Geistliche Wohlredenheit. Die kathol. Barockpredigt. Mü. 1991; Moos, P. von: Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike bis zur Neuzeit [...]. Hildesheim/Zürich/N. Y. 2 1996, 113-133 (faßt die Exempla der ma. Predigtlit. zu pauschal als „erbauliche Beispielgeschichten über einen anonymen quidam" auf und wertet sie gegenüber dem rhetorischen Exempel ab). - 3 Schenda, R.: Stand und Aufgaben der Exemplaforschung. In: Fabula 10 (1969) 6 9 - 8 5 , bes. 69 sq. (Kritik an Pfeiffers Terminologie). - 4 Als Gattungsbegriff wird P. aufgefaßt z.B. von S. Becker, cf. EM 4, 51. - 5 Vollert, K.: Zur Geschichte der lat. Facetienslgen des XV. und XVI.Jh.s. B. 1912, 4 5 - 6 0 . - 6 Wenzel, S.: The Joyous Art of Preaching. In: Anglia 97 (1979) 304-325. - 7 Moser-Rath, Predigtmärlein. - 8 R e hermann; Daxelmüller, C.: Erzähler auf der Kanzel. Das Exemplum in jüd. Predigten des 19. und 20. Jh.s. In: Fabula 32 (1991) 3 3 - 6 6 . - ' F r e n k e n , G.: Die Exempel des Jacob de Vitry. Mü. 1914, 5 - 1 8 ; Wolf, H.: Das Predigtexempel im frühen Protestantismus. In: HessBllfVk. 5 1 - 5 2 (1960) 349-369, bes. 349 sq. (verwendet, da ihm P. zu „unprägnant" und „andererseits zu einseitig" erschien, p. 349); cf. dagegen aber Moser-Rath, Predigtmärlein, 3; Grubmüller, K.: Meister Esopus. Unters.en zu Geschichte und Funktion der Fabel im MA. Mü./ Zürich 1977, 2 5 6 - 2 6 0 (Fabel als Predigtexempel); 2

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Wagner, F.: Der rhein. Zisterzienser und Predigtschriftsteller Caesarius von Heisterbach. In: Cistercienser Chronik 101 (1994) 9 3 - 1 0 9 (spricht von den Beispielgeschichten im „Dialogus miraculorum" allg.er als ,Exempla', da diese auch außerhalb der Predigt Anwendung fanden). - 10 S. Iacobus de Marchia: Sermones dominicales 1 - 4 . ed. R. Lioi. Ancona 1979-82.

Berlin

Angelika Lozar

Predigtschwänke 1. Allgemeines - 2. AaTh 1824 - 3. AaTh 1825 - 4. AaTh 1825 A - 5. AaTh 1825 Β - 6. AaTh 1826 - 7. AaTh 1827 - 8. AaTh 1827 A - 9. Weitere P.

1. A l l g e m e i n e s . Neben Katechismus, -» Beichte und Taufe (-• Katechismus-, -> Beicht-, ->• Taufschwänke) wird auch die zum -»• Gottesdienst gehörende Predigt im humoristischen Erzählgut thematisiert. Die Gattungsbezeichnung P. orientiert sich, mit Ausnahme der Predigtparodie (-> Parodie), weniger am Inhalt der Predigt, sondern vielmehr an der Komik der Predigtsituation, wobei meist die Inkompetenz des Predigers im Mittelpunkt steht. Der internat. Typenkatalog verzeichnet von AaTh 1824 bis AaTh 1840 u. a. sowohl Predigtparodien als auch einzelne Schwanktypen über Vorfalle während des Gottesdienstes. Wegen ihrer umfangreichen Überlieferung werden AaTh 1825 C; Die angesägte Kanzel, AaTh 1828*: -> Weinen und Lachen bei der Predigt, AaTh 1830: Wettermacher, AaTh 1834: -» Pfarrer mit der feinen Stimme, AaTh 1835 A*: - Heiliger Geist in der Kirche in der EM gesondert behandelt. Zu P.n, die S. -> Thompson in anderem Umfeld anführt, gehören AaTh 1785 B: -> Nadel in der Kanzel, AaTh 1735: Die zehnfache -» Vergeltung und AaTh 1641 C: - Wortwitz, Schlagfertigkeit und Wörtlichnehmen sowie Trunkenheit auf der Kanzel erzeugt. Hauptquellen für P. sind die Schwankkompilationen des 17. und 18. Jh.s, jedoch nicht -» Predigtmärlein, die zwar komische Elemente enthalten, als Vor-

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läge für Predigten die Predigtsituation selbst aber nicht verspotten 1 . Daneben erscheinen P. in den Erzählsammlungen des 19. und 20. Jh.s. Während in den 30er Jahren noch behauptet werden konnte, der predigende -> Pfarrer sei eine Lieblingsfigur des Schwanks2, dürften am Ende des 20. Jh.s bei sinkenden Zahlen regelmäßiger Gottesdienstbesucher und der nachlassenden Kontrollinstanz des Pfarrers im Alltag einer Gemeinde kaum noch P. erzählt werden, da die Ventilfunktion von Schwank und Witz an dieser Stelle stark an Bedeutung verloren hat. Allerdings sind konfessionelle, regionale und Stadt-Land-Unterschiede zu berücksichtigen. Das Weiterleben von P.n im klerikalen Witz ist in einigen Slgen dokumentiert 3 . Die europ. Orientierung des AaTh-Katalogs führte zur weitgehenden Vernachlässigung der P. in nichtchristl. Religionen4. Daneben erscheinen auch in den Slgen aus christl. geprägten Regionen singuläre, oft nicht klassifizierte P.5 2. A a T h 1824. AaTh 1824: Parody Sermon dient als Sammelbecken für parodistische Predigttexte und Erzählungen, die Predigtparodien enthalten 6 . L. Raudsep hat zu Recht darauf hingewiesen, daß es sich hierbei nicht um Var.n, sondern um selbständige Texte handelt7. Die innerhalb des Sammeltyps verzeichneten Erzählungen parodieren keineswegs immer Predigten, sondern u.a. auch kirchliche Bräuche und Riten. Eine Gruppe bilden Lügengeschichten von der Verkehrten Welt8 oder gereimte Verse, die keinen sinnvollen Zusammenhang ergeben 9 . Im Anschluß an eine ndd. Fassung dieser Verspredigten folgt eine Erzählung, in der -> Eulenspiegel den Bauern sagt, daß auch er eine solche Predigt übernehmen könne; aus Angst vor Schlägen verläßt er anschließend rasch das Dorf 10 . In Polen findet sich die auf eine Schwanksammlung des 17. Jh.s zurückgehende Predigt eines Mönchs, mit der dieser sich von Räubern loskaufen kann: Er vergleicht das Leben -+ Christi (einschließlich der Kreuzigung) mit dem der Räuber und beschließt die Predigt damit, daß den Räubern die Himmelfahrt verwehrt bleiben werde, wenn sie sich nicht änderten".

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Auch Predigten, bei denen -» Reliquien gezeigt werden, können parodistische Züge tragen, wenn die zu zeigende Reliquie vorher ausgetauscht wurde und der Prediger improvisieren muß 12 . Hieran knüpft die Erzählung von einem Mann an, der sich als Prediger ausgibt und im Gottesdienst einen Hasenknochen und den Fuß eines Schafs als Gebeine zweier Heiliger vorweist13. 3. A a T h 1825. Die konstituierenden Elemente von AaTh 1825: The Peasant as Parson liegen darin, daß eine unqualifizierte Person die Aufgaben des Pfarrers übernimmt und als Prediger versagt. Da die Mißgeschicke, die dieser Person zustoßen, in anderen P.n auch von ausgebildeten Pfarrern verursacht werden, kommt es zu starken Überschneidungen mit AaTh 1825 Α, Β und C, so daß hier die Eingangssequenz von größerem Interesse ist. Eine derart klare Trennung wird bei der tatsächlichen Klassifizierung von Erzähltexten allerdings nicht immer eingehalten. Handlungsauslösendes Moment für AaTh 1825 ist entweder, daß eine Gemeinde meint, keinen neuen Pfarrer bezahlen zu können, so daß einer aus ihrer Mitte 14 oder ein zufallig vorbeikommender Fremder, der lesen kann 15 , den Gottesdienst halten soll. Manche Texte haben eine ehrgeizige Ehefrau als Ausgangspunkt, die für ihren Mann, der bisher Schweinehirt war, das Pfarramt anstrebt 16 , oder es handelt sich um einen hochverschuldeten Bauern, der bei einem Pfarrer in die Lehre geht17. Eine dritte Gruppe bilden die Var.n, in denen jemand im Schlaf18 oder im Rausch 19 von der Ehefrau oder einem Fremden als Pfarrer verkleidet wird. Der -• Kleidertausch mit einem Pfarrer bringt auch einen desertierten Soldaten in eine Gemeinde, die keinen Pfarrer hat 20 . Die Unterstellung, ein Pfarrer hätte einen leichten Beruf, weil er nur sonntags zu arbeiten brauche, führt in zwei frz. Var.n zum vorübergehenden Rollentausch mit einem Gemeindemitglied21. Ebenfalls in einer frz. Var. muß ein Armer den Pfarrer, der sich im Tag geirrt und am Sonntag bereits gefrühstückt hat, bei der Messe vertreten 22 . Der weitere Verlauf von AaTh 1825 ist ζ. B. dadurch gekennzeichnet, daß der Pfarrer versucht, in der Predigt lat. Wendungen einzuflechten (AaTh 1825 B: „I Preach God's

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Word")23, oder nichts zu sagen weiß, das Vorgesagte falsch versteht bzw. Unsinn redet24. Andere Var.n bilden u.a. Kontaminationen mit AaTh 1641: -+ Doktor Allwissend2S. AaTh 1825 ist in Europa und Nordasien verbreitet26. 4. A a T h 1825 A. AaTh 1825 A: The Parson Drunk handelt entgegen dem Lemma bei AaTh nicht von der Trunkenheit eines Pfarrers, sondern von einer Predigt, die den vollzogenen oder versuchten Ehebruch des Bischofs mit der Ehefrau des Pfarrers thematisiert (cf. Ehebruchschwänke). Ein Pfarrer, dessen Gemeinde sich über ihn beschwert hat, stellt sich, als der Bischof unerwartet zur Visitation kommt, bis zum Beginn des Gottesdienstes schlafend, belauscht aber die Annäherungsversuche des Bischofs an seine Frau. In der Predigt macht er Anspielungen auf das Verhalten des Bischofs, so daß die gegen ihn gerichteten Vorwürfe aus der Gemeinde vom Bischof nicht mehr aufgegriffen werden.

Der Erzähltyp ist nur selten belegt, aber in ganz Europa nachgewiesen27. Die größte Verbreitung findet er in Skandinavien, wo ein Ms. des 17. Jh.s und ein populärer Druck von 1833 als früheste schriftl. Belege gelten28. Der älteste dt.sprachige Nachweis findet sich in J. -» Paulis Schimpf und Ernst, dort allerdings nicht als Schwank ausgestaltet: Ein Pfarrer, der vom Bischof dazu verpflichtet wurde, immer die Wahrheit zu sagen, predigt von der wenig vorbildhaften Lebensweise der Bischöfe, so daß ihm die Stelle entzogen wird und er das Bistum verlassen muß 29 .

Die früheste ital. Var. ist in der Novellensammlung des Matteo Bandello (2, num. 45) aus dem 16. Jh. belegt (Rotunda J 1211.1.1*). In AaTh 1825 Α werden meist sowohl der Ehebruch als auch die geschickte Einflechtung von Nachrichten über bisher verborgene Geschehnisse aufgegriffen. Eine Ausnahme bilden eine südslav. und eine karel. Var., in denen der Pfarrer in der Predigt bei der durch Beschwerden aus der Gemeinde veranlaßten Visitation des Bischofs erwähnt, daß er Geld für den Bischof sammeln werde30 bzw. dem Bischof eine goldene Kutsche wünsche31; daraufhin lehnt der Bischof die Beschwerden ab (-• Bestechung). 5. A a T h 1825 B. AaTh 1825 B: „IPreach God's Word"32 erscheint hauptsächlich in zwei

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Ausprägungen. Die erste Gruppe von Belegen betont die Schlagfertigkeit des Predigers: Eine Gemeinde (zukünftiger Dienstherr) verlangt vom Pfarrer, aus dem Stegreif über einen Text zu predigen, der auf der Kanzel liegen wird. Der Zettel ist leer, so daß der Prediger mit den Worten ,Aus nichts schuf Gott Himmel und Erde' beginnt.

Mehrere Var.n werden als Anekdote Friedrich d. Gr. (-» Alter Fritz) zugeschrieben, der auf diese Weise einem jungen Pastor eine Stelle verschafft haben soll33. In einer dän. Fassung beendet der Pfarrer direkt nach seiner spontanen Aussage ,Aus nichts schuf Gott Himmel und Erde' die Predigt, so daß ihm die Gemeinde dann wieder Predigtvorlagen aufschreibt34; in anderen Var.n wird die damit einsetzende Predigt als bes. gelungen gelobt35. Die Belege im EM-Archiv stammen hauptsächlich aus Skandinavien, Norddeutschland und den Niederlanden. Außerdem liegt ein Beleg von dt. Auswanderern in den USA vor 36 . Für die schwed. Var.n gibt es einen Hinweis auf eine Slg des 17. Jh.s37. Eine zweite Gruppe bilden versuchte Latinisierungen in Predigten, die sich schon in Schwanksammlungen des 17. Jh.s belegen lassen. E. -» Moser-Rath hat auf die schwierige Abgrenzung zwischen AaTh 1641 C und AaTh 1825 Β hingewiesen38. Ausgangspunkt ist die Beschwerde der Gemeinde, ein Pfarrer könne kein Latein. Dieser fragt den -«• Küster um Rat, der auf einem gemeinsamen Spaziergang aus den Dingen, die sie sehen, durch Anhängen lat. Endungen angeblich lat. Wörter bildet, die der Pfarrer dann zur Zufriedenheit der Gemeinde in seine Predigt übernimmt39.

Eine Var. zählt zu den Ortsneckereien über die dummen Leute von Teterow40. Seine lat. Wörter übersetzt der Pfarrer im allg. nicht; in wenigen Var.n droht er, daß bei der Übers, die Kirche einstürzen werde, so daß die Gemeinde hinausläuft 41 . Die Konfession des Predigers wird nur in einer Var. thematisiert, in der in einem Dorf, in dem zur Hälfte Protestanten und Katholiken leben, die evangel. Kirche relativ leer ist. Der kathol. Pfarrer erzählt von seiner lat. Vorrede; daraufhin überrascht der evangel, seine Gemeinde mit latinisierten Wendungen 42 . Die Verbreitung dieser Var.n konzentriert sich auf die regionalen Erzählsammlungen Nord- und Westdeutschlands sowie angrenzender Regionen, ζ. B. Flandern 43 . Ein

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älterer Beleg findet sich in einer dt. Slg aus dem 17. Jh. 44 Der von Thompson im Lemma als charakteristisch formulierte Satz erscheint in den Erzählungen nur selten, so in einer Var. zu Hodscha Nasreddin 45 . Ein ähnlicher Verlauf liegt vor, wenn ein Prediger aus Lampenfieber immer nur den Satz ,Ich bin ein guter Hirte' wiederholt. In einer Anekdote löst -» Luther die Situation, indem er auf die Kanzel steigt und bemerkt, der Prediger sei eher ein gutes Schaf, worauf er selbst eine Predigt hält 46 . Auch die Erzählungen über den Pfarrer, der den als Gedächtnisstütze vorgesehenen Zettel in seiner Alltagshose vergißt, in der Predigt steckenbleibt und flucht, gehören zu dieser Gruppe 47 .

kennen. Als sie verneinen, droht er, sie in der Kirche festzuhalten und mehrere Wochen aus der Bibel vorzulesen, so daß sie die Kirche fluchtartig verlassen53. Eine zweite, kleinere Gruppe bilden Var.n, in denen eine Predigt zum alljährlichen Festtag eines Heiligen gehalten werden soll. Mit der Begründung, daß er schon im vergangenen Jahr aus Leben und Werk des Heiligen erzählt habe und seitdem nichts Neues mehr hinzugekommen sei, beendet der Prediger schnell seine Rede. Diese Var. erscheint zuerst bei Poggio (num. 38), danach bei Arlotto Mainardi 54 , Lodovico -> Domenichi und in späteren dt. Schwankkompilationen 55 . Belege aus dem 19./ 20. Jh. finden sich nur in Finnland, Ungarn und Rumänien 56 .

6. A a T h 1826. AaTh 1826: The Parson has no Need to Preach umfaßt ebenfalls zwei größere Gruppen. Gemeinsames Element ist die Unlust oder Unfähigkeit des Predigers zu predigen bzw. Zeitmangel. Dieses Problem wird jeweils durch Schlagfertigkeit des Predigers gelöst. Die größte Gruppe bildet eine vorwiegend in Vorderasien und Osteuropa verbreitete Erzählung:

7. A a T h 1827. Das Klischee vom trinkenden Pfarrer spiegelt der Erzähltyp AaTh 1827: You Shall See me a Little While Longer wider, der in zahlreichen Schwankkompilationen des 17. Jh.s belegt ist.

Der Prediger fragt die Gemeinde, ob sie wüßten, was er predigen werde. Als die Versammelten verneinen, weigert er sich, es ihnen zu sagen. Bei der nächsten Gelegenheit (am folgenden Sonntag) wiederholt er seine Frage; die Gemeinde bejaht, und der Prediger meint, daß er es der Gemeinde dann nicht sagen müsse. Am dritten Sonntag beschließen die Gläubigen, daß die eine Hälfte der Gemeinde bejahen, die andere Hälfte verneinen soll. Der Prediger meint, daß dann die Wissenden den anderen mitteilen könnten, was er predigen wollte.

AaTh 1826 ist schon in der arab. Lit. des 10./ll.Jh.s überliefert48. Die europ. Verbreitung im 19./20. Jh. konzentriert sich mit wenigen Ausnahmen auf die bait. Länder, Ost- und Südosteuropa 49 . Darüber hinaus finden sich Nachweise im jüd. Erzählgut, auch außerhalb Europas, und in China 50 . Der Schwank wird häufig mit Hodscha Nasreddin oder anderen oriental. Schwankgestalten in Verbindung gebracht 51 . In ukr. und weißruss. Var.n fehlt die Pointe, daß die eine Hälfte der Gemeinde behauptet, es zu wissen und die andere nicht 52 . Alternativ zur Frage, ob sie wüßten, was er predigen wolle, zeigt der Pfarrer der Gemeinde manchmal die Bibel und fragt, ob sie das Buch

Ein Pfarrer wettet mit einem Gemeindemitglied, daß er während der Predigt einen Krug Wein leeren könne, ohne daß es die Gemeinde bemerke. Um sich hinter der Kanzel zu bücken und trinken zu können, zitiert er den Bibelspruch ,Über eine Weile werdet ihr mich sehen' (Joh. 16,16; cf. auch AaTh 1533 A: Hog's Head Divided According to Scripture). Am Schluß der Predigt zeigt er den leeren Krug, indem er behauptet, es sei ein Krug gefunden worden und der Besitzer könne ihn sich abholen 57 .

Der zum Komplex des Wörtlichnehmens zu zählende Schwank läßt sich in den Slgen des 19. und 20. Jh.s vor allem in Skandinavien und angrenzenden Ländern belegen; Ausnahmen bilden ein Nachweis in Mexiko, eine Erzählung ndl. Auswanderer in Südafrika sowie ein Beleg aus den USA 58 . In zwei anderen Var.n bricht der Pfarrer zufällig während des Bibelzitats in den Kanzelboden bzw. in das Podest, auf dem er steht, ein, und verschwindet daher aus dem Blickfeld der Zuhörer (cf. AaTh 1825 C)59. 8. A a T h 1827 A. Neben der Trinkfreudigkeit des Pfarrers wird auch dessen Lust am Kartenspiel thematisiert. In AaTh 1827 A: Cards (Liquor Bottle) Fall from the Sleeve of the Preacher erweist sich der Pfarrer als schlagfertig: Als ihm Spielkarten aus dem Ärmel (Tasche) fallen, fragt er die Gemeinde

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(Kinder) nach der Bedeutung der Karten und nimmt deren Kenntnis als Beweis ihrer mangelnden religiösen Erziehung 60 . Andere Var.n dieses Typs enden mit dem Vergleich des Pfarrers, daß die Gemeinde am Jüngsten Tag so auseinanderfallen werde wie die Spielkarten aus seiner Tasche61. AaTh 1827 Α ist vor allem in Nord- und Osteuropa seit Ende des 19. Jh.s nachgewiesen, außerhalb Europas mit Einzelbelegen in Sibirien und Südafrika 62 . 9. Weitere P. Zahlreiche weitere P. sind eher selten belegt und können hier nur in Ausw. vorgestellt werden. Das gilt für die Erzählung von einem Pfarrer, der von seiner Befürchtung predigt, daß er beim Jüngsten Gericht von Gott nach seiner Herde gefragt werde. Da er mit seiner Gemeinde so unzufrieden ist, werde er antworten müssen, daß Gott ihm keine Schafe, sondern Ziegen (Böcke, Ferkel, anderes Vieh) gegeben habe 63 . In den dt. Schwankkompilationen des 17. Jh.s und in Skandinavien ist AaTh 1833 H: The Large Loaves häufiger vertreten. Während einer Predigt über die bibl. Geschichte von der Speisung der Fünftausend (Mt. 16,32—39) zweifeln die Zuhörer am Wahrheitsgehalt der Erzählung. In einigen Var.n wird der Pfarrer, der 500 gesagt hat, vom Küster verbessert, entgegnet ihm aber, daß das die Gemeinde nicht glauben werde64. In anderen Var.n wird der Pfarrer nach der Größe des Backofens gefragt 65 bzw. vergleicht das Brot ζ. B. mit den Dimensionen eines Kirchturms 66 . Es kommt auch vor, daß der Pfarrer die Zahlen verwechselt und behauptet, fünf Leute seien mit 5000 Broten gespeist worden, worauf einer aus der Gemeinde antwortet, daß er das auch könne 67 .

Zu diesem Erzähltyp werden auch andere Schwänke gestellt, in denen die Gemeinde den Wahrheitsgehalt des vom Pfarrer Erzählten anzweifelt, ζ. B. die Dauer der Schöpfung oder Details bei der Erschaffung des Menschen68. Die Trink- und Spielfreudigkeit eines Pfarrers wird ebenfalls in AaTh 1836 A: The Drunken Parson: „Do not Live as I Live" thematisiert: Ein Pfarrer, der kein vorbildliches Leben führt, mahnt seine Gemeinde, seinen Worten und nicht seinen Werken zu folgen. Die auf Skandinavien, Deutschland und angrenzende Länder 69 beschränkte Verbreitung beginnt mit Kompilationen des 16. und 17. Jh.s 70 . Dort trägt AaTh 1836 Α nicht immer die Züge eines

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Schwanks, sondern gelegentlich eher die einer belehrenden Erzählung für die Gemeinde 71 . Den sprichwörtlichen Charakter der Aussage72 belegt eine Slg des 20. Jh.s, in der von einem Töpfermeister erzählt wird, der auf seine Produkte Redensarten schreibt, so auch die besagte73. In einem mehrepisodischen Pfarrerschwank steht AaTh 1836 Α in Verbindung mit AaTh 1827 Α sowie AaTh 1839 B: Sermon Illustrated und übernimmt die Funktion einer einleitenden Entschuldigung für den Pfarrer, der seine Schwächen kennt 74 . Unter AaTh 1839: The Card-playing Parson werden P. über die Spielleidenschaft von Pfarrern zusammengefaßt. In AaTh 1839 A: Parson Calls out Cards ruft der Pfarrer, als er in der Kirche während der Predigt einschläft und dann geweckt wird, im Glauben, er sei noch im Wirtshaus, die Farben von Spielkarten aus. Verbreitung findet dieser Schwank in Mittelund Nordeuropa 75 . Die ältesten schriftl. Belege, in denen der Pfarrer manchmal auch auffordert nachzuschenken, stammen aus dem 16.-18. Jh. 76 , aber auch in den jüngeren Slgen wird AaTh 1839 Α angeführt 77 . In einer Var. glaubt sich der Pfarrer beim Hahnenkampf 78 . In AaTh 1839 Β wettet er beim Kartenspiel, er werde bei der Predigt ausrufen, daß eine bestimmte Karte Trumpf sei. Der Pfarrer erfüllt die Bedingung, indem er den Satz als Beispiel aus dem Alltag zitiert und anfügt, daß nicht das Kartenspiel, sondern der Herrgott Trumpf sei. AaTh 1839 Β ist in den Slgen des 19. und 20. Jh.s häufiger in Nord- und Mitteleuropa nachgewiesen79. In einigen Var.n wettet der Pfarrer auch, daß er von der Kanzel fluchen werde, und zitiert einen Fluch in seiner Predigt80. 'Moser-Rath, Predigtmärlein, 64. - 2 Herold, K.: Geistlicher. In: HDM 2 (1934 - 4 0 ) 453 -464, hier 458. - 3 Bemmann, H.: Der klerikale Witz. Mü. 1976, 31-35; Rauch, K./Schröder, C. M.: Geistlicher Humor. Fbg/Basel/Wien 1967; Röhrich, L.: Der Witz. Stg. 1977, 205 sq. - 4 Marzolph, Arabia ridens 2, Reg. s.v. Prediger. - 5 z.B. Kubitschek, R.: Böhmerwäldler Bauernschwänke. Wien/Prag/Lpz. 1920, 23-30; Dietz, J.: Lachende Heimat. Schwänke und Schnurren aus dem Bonner Lande. Bonn 1951, num. 206 sq., 210; Zender, M.: Volksmärchen und Schwänke aus Eifel und Ardennen. Bonn 1984, num. 82, 93—99; cf. auch Kristensen, Ε. T.: Vore Faedres Kirketjeneste. Aarhus 1899; Stroescu, num. 3239,

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Predigtschwänke

3272, 4184, 4192, 4364. - Ergänzend zu AaTh: Hodne; Raudsep, num. 427; Aräjs/Medne; van der Kooi; Archiv van der Kooi, Groningen; Gonzalez Sanz; Cirese/Serafini; György, num. 121; BFP; Jason, Types; Robe. - 7 Raudsep, num. 427. - 8 Bll. für pommersche Vk. 1 (1893) 29 sq.; BP 3, 116-118. - 9 Bll. für pommersche Vk. (wie not. 8) 29. 10 Nimtz-Wendlandt, W.: Erzählgut der Kur. Nehrung. Marburg 1961, num. 110. 11 Bukowska-Grosse, E./Koschmieder, E.: Poln. Volksmärchen. MdW 1967, num. 63; Simonides, D. und J.: Märchen aus der Tatra. MdW 1994, num. 28. - 12 Boccaccio 6,10; Bebel/Wesselski 1, num. 63. - 13 Lemieux, G.: Les Vieux m'ont conte 3. Montreal/P. 1974, num. 14. - 14 Jahn, U.: Volkssagen aus Pommern und Rügen. B. 21889, num. 638; Orso, E. G.: Modern Greek Humor. Bloom./L. 1979, num. 41. - 15 Schmidt, H./Kahle, P.: Volkserzählungen aus Palästina 2. Göttingen 1930, num. 98. 16 Satke, Α.: Hlucinsky pohädkär Josef Smolka. Ostrau 1958, num. 15. - "Wisser, W.: Plattdt. Volksmärchen 2. MdW 1927, 212 sq. - 18 Schneller, C.: Märchen und Sagen aus Wälschtirol. Innsbruck 1867, 173-177; Espinosa, Α. M.: Cuentos populäres de Castilla. Buenos Aires 1946, num. 24. - 19 Bünker, J. R.: Schwänke, Sagen und Märchen in heanz. Mundart. Lpz. 1906, num. 1; Polivka 4, num. 124.A.2. - 20 Vermast, Α.: Vertelsels uit West-Vlaanderen. Gent 1892, 78-84 (= Lox, H.: Fläm. Märchen. MdW 1999, num. 72). 21 Blade, J.-F.: Contes populaires de la Gascogne 3. P. 1886, 304-308; Joisten, C.: Contes populaires du Dauphine 2. Grenoble 1971, num. 242.1. - 22 ibid., num. 243.1. - 23 Jahn (wie not. 14); Lemieux (wie not. 13) t. 2 (1974) num. 8. - 24 Wisser (wie not. 17) 212 sq.; Blade (wie not. 21); Rael, J. B.: Cuentos espanoles de Colorado y de Nuevo Mejico 1. Stanford s.a., num. 30. - 2 5 Lox (wie not. 20); Polivka 4, num. 124.A.2; Skattegraveren 22 (1889) num. 682; BP 2, 413; cf. auch Satke (wie not. 16). - 26 Ergänzend zu AaTh: Ο Süilleabhäin/Christiansen; Kecskemeti/Paunonen; Aräjs/Medne; SUS; van der Kooi; de Meyer, Conte; Gonzalez Sanz; Cirese/Serafini; Gasparikovä, num. 179; MNK; Lörincz; Soboleva. - 27 Ergänzend zu AaTh: Hodne; Rausmaa; Gonzalez Sanz; Cirese/Serafini; Jason. - 28 Liungman, Volksmärchen, 3 38. - 29 Pauli/Bolte, num. 711. 30 Krauss, F. S.: Tausend Sagen und Märchen der Südslaven 1. Lpz. 1914, num. 35. 31 Konkka, U. S.: Karel'skie narodnye skazki. M./ Len. 1963, num. 77. - 32 Ergänzend zu AaTh: Rausmaa; Raudsep, num. 396; Kecskemeti/Paunonen; Ο Süilleabhäin/Christiansen; de Meyer, Conte; Pujol; MNK; SUS; Robe. - 33 Stübs, H.: Uli Lüj verteilen. Plattdt. Geschichten aus dem pommerschen Weizakker. Greifswald 1938, num. 78; Selk, P.: Volksschwänke und Anekdoten aus Angeln. Hbg 1949, num. 115; Dietz (wie not. 5) num. 83. - 34 Kristensen, Ε. T.: Danske Skaemtesagen. Aarhus 1900, num. 3 84. - 35 Wisser (wie not. 17) 152; Brendle, T. R./ Troxell, W. S.: Pennsylvania German Folk Tales [...].

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Norristown 1944, 188; Zentralarchiv der Dt. Volkserzählung, Marburg, num. 147683. - 36 Brendle/ Troxell (wie not. 35) 118. - 37 Liungman, Volksmärchen, 33 8. - 38 EM 1, 13 50. - 39 Vk. 1 (1888) 254 (fläm.); Espinosa, Α. M.: Cuentos populäres espanoles 1. Madrid 1946, num. 60; Dietz (wie not. 5) num. 208. - 40 Neumann, S.: Plattdt. Schwänke. Rostock 1968, 9. 41 Zender (wie not. 5) num. 82; Henßen, G.: Sagen, Märchen und Schwänke des Jülicher Landes. Bonn 1955, num. 478; cf. SUS 1826**. - 42 Henßen, G.: Volk erzählt. Münster 1935, num. 279. - 43 Vk. 1 (1888) 254; Meyere, V. de: De vlaamsche vertelselschat 2. Antw. 1927, num. 168; Mont, P. de/Cock, Α. de: Vlaamsche volksvertelsels. Zutphen 1927, 281 sq. - 44 EM-Archiv: Jan Tambaur (um 1660) 116 sq. - 45 Hodscha Nasreddin, num. 279. - 46 EM-Archiv: Jan Tambaur (um 1660) 23 sq.; cf. Wolgemuth (1669) 5, num. 66. - 47 EM-Archiv: Vademecum 2 (1766) num. 116. — 48 Marzolph, Arabia ridens 1, 262 sq.; ibid. 2, num. 378. - 49 Ergänzend zu AaTh: Raudsep, num. 283; Aräjs/Medne; SUS; Haboucha; Pujol; Cirese/Serafini; MNK; György, num. 34; BFP; Soboleva. - 50 Schwarzbaum, 56, 452; Jason; Ting. 51 Hodscha Nasreddin, num. 1; Schwarzbaum, 56; Basset 1, num. 162; Bodker, L.: European Folk Tales. Kop. 1963, 217 sq. (türk.). - 52 Cendej, I.: Skazki Verchoviny. Uzgorod 1959, 52 sq. (ukr.); Barag, L. G.: Beloruss. Volksmärchen. B. 1966, num. 78. - 53 Propp, V. Ja. (ed.): Severnorusskie skazki ν zapisjach Α. I. Nikiforova. M./Len. 1961, num. 29; Raudsep, num. 283 II; cf. Afanas'ev 3, num. 516. 54 Wesselski/Arlotto, num. 8. - 55 EM-Archiv: JocoSeria (1631) num. 82; Gerlach (1656) num. 701; cf. György, L.: Könyi Jänos Democritusa. Bud. 1932, num. 56. - 56 Rausmaa; György, num. 34; Stroescu, num. 3869. - 57 EM-Archiv: ζ. B. de Memel, Lustige Gesellschaft (1656) num. 107; Burger-Lust (1663) num. 44; Fasciculus facetiarum (1670) 278 sq.; Sommer-Klee (1670) num. 65; cf. auch de Memel, Lustige Gesellschaft (1656) num. 995; Burger-Lust (1663) num. 124. - 58 Ergänzend zu AaTh: Hodne; Rausmaa; Raudsep, num. 315; Aräjs/Medne; Ο Süilleabhain/Christiansen; Robe; Coetzee; cf. Kristensen (wie not. 5) num. 47; id. (wie not. 34) num. 382; Parson, Ε. C.: Folk-Lore of the Sea Islands, South Carolina. Cambr., Mass./N. Y. 1923, num. 140. 59 Kubitschek (wie not. 5) 25; Liungman, Volksmärchen. - 60 Simonsuuri, L./Rausmaa, P.-L.: Finn. Volkserzählungen. Β. 1968, num. 139; DBF A 2, 230; Kooi, J. van der/Schuster, T.: Der Großherzog und die Marktfrau. Märchen und Schwänke aus dem Oldenburger Land. Leer 1994, num. 206 a. 61 Simonsuuri/Rausmaa (wie not. 60) num. 140. 62 Ergänzend zu AaTh: Hodne; Rausmaa; Raudsep, num. 331; Aräjs/Medne; de Meyer, Conte; SUS; Soboleva; Coetzee. - 63 Sebillot, P.: Les joyeuses Histoires de Bretagne. P. 1910, num. 97; Zs. des Vereins für rhein. und westfäl. Vk. 29 (1932) 96 sq.; Boskovic-Stulli, M.: Narodne pripovijetke. Zagreb 1963,

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Priester: Alle P. in der Hölle

num. 98; Narodna umjetnost 1 1 - 1 2 (1975) 83; Bebel/Wesselski 1, num. 78. - 6 4 EM-Archiv: Gerlach 1 (1656) num. 895; Bienenkorb 4 (1771) num. 113; cf. Schwarzbaum, 344, num. 469. - 65 EM-Archiv: Bienenkorb 6 (1771) num. 110; Wossidlo, R.: Volksschwänke aus Mecklenburg, ed. S. Neumann. B. 3 1965, num. 243; de Meyer, Conte. - 6 6 Aräjs/ Medne; Raudsep, num. 128; Stroescu, num. 3862, 4183, 4901. - 6 7 Kristensen (wie not. 5) num. I l l , 117; Simonsuuri/Rausmaa (wie not. 60) num. 149; cf. Robe 183 3*1. - 6 8 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 19; SUS. - 69 Ergänzend zu AaTh: Hodne; Rausmaa; Raudsep, num. 401; Aräjs/Medne; van der Kooi. - 7 0 Bebel/Wesselski, num. 152; Pauli/Bolte, num. 68; Kirchhof, Wendunmuth 1, num. 85; EMArchiv: Jan Tambaur (um 1660) 175 sq. 71 Pauli/Bolte, num. 68. - 72 Wander 5, 418 (num. 493). - 7 3 Ruppel, H./Häger, Α.: Der Schelm im Volk. Kassel 3 1952, 145 sq. - 7 4 van der Kooi/Schuster (wie not. 60). - 75 Ergänzend zu AaTh: Rausmaa; Raudsep, num. 332 I; Aräjs/Medne. - 76 Kirchhof, Wendunmuth 2, num. 76; EM-Archiv: Polyhistor 4 (1729) 213 sq.; Neues Vademecum 1 (1786) num. 66. - 77 Kubitschek (wie not. 5) 27; Selk (wie not. 33) num. 69. - 78 D B F A 2, 42. - 79 Ergänzend zu AaTh: Rausmaa; Raudsep, num. 332 II; Aräjs/ Medne; van der Kooi; Cirese/Serafini; Coetzee; Asmus, F./Rnoop, O.: Sagen und Erzählungen aus dem Kreise Kolberg-Körlin. Kolberg 1898, 73; Wossidlo (wie not. 65) num. 261; Kooi, J. van der/Schuster, T.: Märchen und Schwänke aus Ostfriesland. Leer 1993, num. 182 b, 183. - 8 0 iid. (wie not. 60) num. 206 b.

Göttingen

Sigrid Fährmann

Priester: Alle P. in der Hölle (AaTh 1738), ein Schwank aus dem Umkreis sozialkritischer Erzählungen über Geistliche (-> Pfarrer). In seiner geläufigen Vollform hat der Erzähltyp folgenden Inhalt: Der P. verweigert einem todkranken Mitglied seiner Gemeinde das Abendmahl bzw. die letzte Ölung (-> Sakramente), weil er nie die Kirche besucht habe (aus anderen Gründen). Der Todkranke erholt sich jedoch wieder und trifft auf den P., dem er als Traum oder tatsächliches Geschehnis erzählt, er sei gestorben und habe in den Himmel wollen, aber -«• Petrus habe ihn nicht hereingelassen, weil ihm die letzten kirchlichen Segnungen fehlten. Daraufhin habe er gebeten, sie nachträglich von einem P. im Himmel zu erhalten, aber Petrus habe im ganzen Himmel keinen P. finden können.

Die Vorstellung, daß ein Teil der Menschheit nicht des ewigen Seelenheils teilhaftig würde, ist vielen Weltreligionen eigen. Im N.

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T. (Mt. 19, 2 3 - 2 4 ) ζ. B. ist der Ausspruch Jesu (-» Christus) überliefert, daß eher ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe als ein Reicher in den Himmel komme. Im Talmud findet sich die Vision des Rabbinersohns Joseph, nach der die Armen im Jenseits in der Oberwelt, die Vermögenden jedoch in der Unterwelt landen (-> Arm und reich) 1 . Im Hadit, der Slg normativer Aussagen des islam. Propheten Mohammed, wird verkündet, daß nur die Armen Einlaß ins Paradies fänden, während die Wohlhabenden zurückgewiesen würden 2 . Zu den sozialen Gruppen, denen nach der Überlieferung der -» Himmel verschlossen blieb, gehörten auch und gerade die P. Im Deutschen ζ. B. äußerte schon Walter von der Vogelweide (ca 1170—1230), die P. zeigten uns den Weg zu Gott und müßten selbst hinab in die -> Hölle 3 . Eine bissige Satire der Reformationszeit läßt den hl. Franz von Assisi vergeblich vor dem Himmelstor darauf warten, daß noch ein zweiter Franziskaner dort hinaufkomme 4 . In der Unterhaltungsliteratur des 18. Jh.s heißt es, P. und Wegweiser hätten große Ähnlichkeit miteinander, denn beide wiesen den rechten Weg, gingen ihn aber nicht 5 . Dieser Widerspruch zwischen Lehre und Leben mit seinen Konsequenzen im Jenseits, der den Geistlichen seit dem späten MA., bes. aber seit der Reformationszeit auch massiv direkt vorgehalten wurde, hat in einer Reihe von Erzählungen eine sehr differenzierte Darstellung gefunden. In der einfachsten, legendenhaften Form wird geschildert, wie jemand keinen Einlaß in den Himmel findet, weil er zu sündenbeladen ist oder nicht mehr gebeichtet hat. Er bittet deshalb Petrus um einen P., der aber im Himmel nicht anzutreffen ist. Belege dafür liegen aus Deutschland 6 , Serbien 7 und Palästina 8 vor. Sie könnten eine Art Vorstufe von AaTh 1738 darstellen, müssen aber wohl eher als Schwundstufe angesprochen werden, die auch als Witz begegnet: Ein junges Paar, das auf dem Wege zur Trauung umkommt, möchte die Hochzeit im Himmel nachholen, kann es aber nicht, weil dort noch kein P. hingelangt ist 9 . Die eindeutig kritisch auf den P. zielende Vollform von AaTh 1738 scheint - entgegen der etwas pauschalen Zuordnung der Belege bei AaTh — nach Maßgabe der jüngeren Kata-

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Priester: Alle P. in der Hölle

löge und der Texte im EM-Archiv als eigenständige Erzählung nur im nördl. Deutschland 10 , in Friesland 11 , Schweden 12 , Finnland 13 , Lettland 14 , Österreich 15 , Italien 16 und Südafrika 1 7 bekannt zu sein. Der Erzähltyp ist jedoch auch in inhaltlich geringfügig abweichenden Var.n überliefert, in denen statt des P.s Vertreter anderer sozialer Gruppen genannt sind, die nicht im Himmel anzutreffen seien. Das sind ζ. B. in Deutschland Reeder 18 , bei den Finnlandschweden Polizeikommissare 19 oder bei den Iren Advokaten, Schotten, Juden etc. (cf. auch AaTh 1656: Juden aus dem Himmel gelockt)20. Dergestalt konnte letztlich jedem irgendwie Mißliebigen im Rahmen eines ihm erzählten Traums der Himmel abgesprochen werden. Das zeigt verstärkt auch die auf den P. gemünzte Standardversion von AaTh 1738 in einer Kontamination mit AaTh 1860 A: Lawyers in Hell: Der P. beschwert sich beim Amtmann (Bürgermeister, Richter) über die Traumerzählung eines Gemeindeangehörigen, der daraufhin aufs Amt bestellt wird und dort einen neuen Traum bzw. ein angebliches Erlebnis im Jenseits erzählt: Er habe den Himmel verlassen müssen und sei in die Hölle gekommen, die voller P. und anderer Leute gewesen sei. Als er sich auf den letzten freien Stuhl habe setzen wollen, habe ihn der Teufel heruntergejagt mit der Bemerkung, dieser Stuhl sei für den Amtmann des Ortes (etc.) bestimmt. Der so geschockte Ortsobere läßt den Mann unbehelligt wieder gehen.

Die Verbindung von AaTh 1738 und AaTh 1860 Α in einer Erzählung, deren Spitze sich sowohl gegen die geistliche als auch die weltliche Obrigkeit richtet, ist vor allem aus Deutschland belegt; es heißt z.T. ausdrücklich: „An einem Orte hatten sie einen schlechten Pfarrer und einen noch schlechtem Amtmann, darum waren sie der Geistlichkeit und dem Jus gar abhold." 21 Die Kontamination ist jedoch mit diesem Doppelakzent auch bei Dänen 2 2 und Finnlandschweden 23 bezeugt. Denn offenbar ist die in der Volksmeinung anzutreffende Aversion gegen Juristen nahezu ebenso alt und verbreitet wie die gegen P. So wird ζ. B. schon in Johannes -» Paulis Schimpf und Ernst (1522) auch den Advokaten drastisch der Himmel abgesprochen 24 . Andererseits fügte man AaTh 1738, z.T. im Kontext ganzer Schwankketten 25 , auch in mehr oder minder deutliche Lügengeschichten (zumeist AaTh

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1960 G: cf. Die ungewöhnliche -• Bauer im Himmel). Schließlich gehören zwei inhaltlich ferner stehende legendenhafte Erzähltypen in diesen thematischen Zusammenhang. So schildern Erzählungen aus Südosteuropa 34 , aber auch aus Dänemark 3 5 die vergebliche Suche im Himmel nach einem P. oder einem Angehörigen, der dann, ζ. T. auf dem Kopf eines Bischofs stehend, tief in der Hölle entdeckt wird. In Deutschland 3 6 erzählt man, daß nicht nur alle P., sondern auch alle Advokaten in der Hölle seien und Gott daher keinen Prozeß gegen den Teufel führen kann, der den von seinen Trabanten beschädigten Himmelszaun nicht reparieren lassen will. Bei den Flamen dagegen läßt Petrus keinen Advokaten in den Himmel, weil er dann einen Prozeß befürchtet 37 . Da keiner der Belege von AaTh 1738 und AaTh 1860 Α weiter als bis ins 19. Jh. zurückreicht und von beiden Typen nur relativ wenig

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Priester Johannes

Nachweise vorliegen, können bisher weder Aussagen zum Alter noch zur tatsächlichen Verbreitung getroffen werden. Die meisten der weiteren in diesem Artikel angeführten Erzählungen lassen sich nicht oder nur bedingt einem der beiden Typen zuordnen. Die Vorstellung, daß kein P., Jurist oder Adliger in den Himmel komme, war jedoch offenkundig so verbreitet, daß ein ganzes Bündel von Geschichten, die von dieser Vorstellung leben, auch unabhängig voneinander entstehen konnte. Sie zeigen zumeist einen antiklerikalen oder gegen die Obrigkeit gerichteten Akzent, der bis zu bissiger Satire reichen konnte, wenngleich die Grenze zwischen Spaß und Spott nicht immer zu erkennen ist. Dennoch lassen sich an diesen Erzählungen mehr oder minder deutlich soziale Haltungen ablesen, die ihre Wurzeln in der Wirklichkeit haben. I Schwarzbaum, 157. - 2 ibid. - 3 Ranke, K.: Folktales of Germany. Chic. 1966, 232. - 4 BP 3, 275. 5 EM-Archiv: Vademecum 7 (1777) 137. - 6 ζ. Β. Kubitschek, R.: Böhmerwäldler Bauernschwänke. Wien/Prag/Lpz. 1920, 29; Benzel, U.: Volkserzählungen aus dem oberpfalz.-böhm. Grenzgebiet. Münster 1965, num. 161. — 7 Vrcevic, V.: Srpske narodne pripovijetke ponajvise kratke i saljive 2. Dubrovnik 1882, 41. - 8 Schmidt, H./Kahle, P.: Volkserzählungen aus Palästina 2. Göttingen 1930, num. 108. 9 D o r s o n , R. M.: Negro Folktales in .Michigan. Cambr. 1956, 216, not. 45; Dance, D. C.: Shuckin' and Jivin'. Bloom. 1978, num. 65. - 10 Stübs, H.: Uli Lüj verteilen. Greifswald 1938, num. 93. II Archiv van der Kooi, Groningen. - 1 2 Liungman, Volksmärchen. - 1 3 Rausmaa. - 14 Aräjs/Medne. 15 Haiding, K.: Märchen und Schwänke aus Oberösterreich. B. 1969, num. 125. - 16 Cirese/Serafini. - 17 Coetzee. - 18 Neumann, S.: Der Ochse als Bürgermeister. Schwänke aus Pommern. Rostock 1999, num. 86. — 19 Hackman, O.: Finlands svenska folkdiktning I A 2. Hels. 1920, num. 363,3. - 2 0 0 Süilleabhäin/Christiansen. 21 Pröhle, H.: Kinder- und Hausmärchen. Lpz. 1853 (Nachdr. Hildesheim/N. Y. 1975), num. 26; cf. auch Wisser, W.: Plattdt. Volksmärchen [2], MdW 1927, 9 6 - 9 8 ; Henßen, G.: Sagen, Märchen und Schwänke des Jülicher Landes. Bonn 1955, num. 475; Wossidlo, R.: Volksschwänke aus Mecklenburg, ed. S. Neumann. Rostock 3 1965, num. 212, 219; Ranke (wie not. 3) num. 79; Kooi, J. van der/Schuster, T.: Der Großherzog und die Marktfrau. Leer 1994, num. 223 (Oldenburg.); Neumann (wie not. 18) num. 148. - 22 Kristensen, Ε. T.: Efterslaet tili „Skattegraveren". Kolding 1890, num. 74. - 2 3 Hackman (wie not. 19) num. 363,5. - 24 Pauli/Bolte, num. 117. 25 Wisser (wie not. 21) 212-215; Haiding (wie

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not. 15) num. 100, 142; Rausmaa, SK 4, num. 209-211. - 2 6 Nedo, P.: Lachende Lausitz. Sorb. Schwänke. Lpz. 1957, 49; Kristensen, Ε. T.: Danske Skjaemtesagn 1. Aarhus 1900, num. 357 sq. - 27 Kristensen, Ε. T.: Vore faedres kirketjeneste. Aarhus 1899, num. 503. - 28 Webster, W.: Basque Legends. L. 1877, 200 sq. - 2 9 Zender, M.: Volksmärchen und Schwänke aus Eifel und Ardennen. Bonn 1984, num. 60; Briggs, K. M./Tongue, R. L.: Folktales of England. Chic. 1965, num. 82; D B F A 2, 50. - 30 D B F A 2, 276, cf. auch 236 sq.; cf. auch Kristensen (wie not. 26) num. 357; van der Kooi/Schuster (wie not. 21) num. 158. 31 Briggs/Tongue (wie not. 29) num. 59; D B F A 2, 22; Dance (wie not. 9) num. 63. - 3 2 Dietz, J.; Lachende Heimat. Bonn 1951, num. 22; van der Kooi/ Schuster (wie not. 21) num. 186; Grüner, G.: Waldeck. Volkserzählungen. Marburg 1964, num. 531; ähnlich Hackman (wie not. 19) num. 363,1. 33 Henßen, G.: Volk erzählt. Münster 1935, num. 270. - 34 BFP; Loukatos, D. S.: Neoellenika laographika keimena. Athen 1957, num. 58. - 35 Kristensen (wie not. 26) num. 550. — 36 Wisser (wie not. 21) 174 sq.; Neumann, S. Α.: Plattdt. Legenden und Legendenschwänke. B. 1973, num. 78; Kooi, J. van der/Schuster, T.: Märchen und Schwänke aus Ostfriesland. Leer 1993, num. 118. - 3 7 Meyere, V. de: De vlaamsche vertelselschat 3. Antw./Sandpoort 1929, num. 216,6.

Rostock

Siegfried Neumann

Priester Johannes, sagenhafter König und (Erz-)Priester1, über den seit Mitte des 12. Jh.s in Europa Erzählungen umliefen. Auslöser war der Bericht eines syr. Bischofs, der 1145 Papst Eugen III. diesen mächtigen Herrscher und sein Reich in Indien beschrieb. Otto von Freising berichtete darüber in seiner Chronica (7,33)2. Die eigentliche Figur des P. J. wurde in dem um 1170 fingierten, eventuell von einem Kleriker im Stauferreich verfaßten und an den byzant. Kaiser Manuel gerichteten Brief des P.s J. erfunden, dessen Verf. sich als Presbyter J., Herr über die drei Indien, Herr der Herrschenden und König der Könige bezeichnet. Sein Reich erstreckt sich im Osten bis zum Aufgang der Sonne und im Westen bis Babylon. Er herrscht über 72 Könige, mit deren Hilfe er das Hl. Land von der islam. Herrschaft befreien will. In seinem Land leben Menschen, Tiere und Pflanzen wie im -» Paradies. Neben zahlreichen Arten wilder Tiere (u. a. Elefanten, Kamele, Flußpferde, Krokodile, Löwen, Tiger, Hyänen) gibt es dort -» Fabelwesen wie Greife, -> Vampire, Zentauren, Zyklopen, -> Kanni-

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Priester Johannes

balen, Faune, Satyrn, Pygmäen, -» Hundsköpfige, -> Riesen, Amazonen und den Vogel -> Phönix. Der P. J. kontrolliert die von -» Alexander d. Gr. eingeschlossenen Völker der Endzeit; er wird Gog und Magog gegen die Feinde der Christen führen und sie nach dem Sieg wieder einschließen bis zum Tag des -» Jüngsten Gerichts. Im Land des P.s J. fließt Milch und Honig, und es gibt keine giftigen Tiere wie Schlangen und Skorpione. Im Fluß Ydonus findet man wertvolle Edelsteine. Ein Kraut vertreibt alle unreinen Geister. Der dort wachsende Pfeffer wird gegen Getreide, Nahrungsmittel, Leder und Tuche getauscht. Drei Tagesreisen entfernt entspringt am Fuß des Berges Olymp eine wohlriechende Quelle; wer dreimal von ihr trinkt, fühlt sich immer jung (cf. Verjüngung, Lebenswasser). Jeder, der einen bestimmten hohlen -» Stein betritt, wird von Krankheit geheilt. Es gibt Salamander, die nur im Feuer leben können; aus ihrer Haut werden kostbare Gewänder hergestellt. Wenn der P. J. ausreitet, wird ein hölzernes ->• Kreuz vor ihm hergetragen, dazu ein goldenes Gefäß, gefüllt mit Erde, um an die Vergänglichkeit der Menschen zu erinnern. Wenn er gegen seine Feinde zieht, läßt er 13 große Goldkreuze vor sich hertragen, denen jeweils 10 000 Ritter und 100 000 Fußsoldaten folgen. Macht und Reichtum zeigen sich bes. in seinen beiden Palästen, die voller Gold und Edelsteine sind. Ein großer -» Spiegel deckt jedes Unheil, das gegen den Herrscher geplant wird, frühzeitig auf. In einem der Paläste wird man nicht hungrig oder krank und stirbt nicht. Eine duftende Quelle vermittelt alle Arten von Gewürzen und Geschmäcken. Wer daraus trinkt, bleibt immer jung und erreicht ein Alter von 300 Jahren, drei Monaten, drei Wochen, drei Tagen und drei Stunden.

In dieser Schilderung sind Motive unterschiedlicher literar. Traditionen enthalten. Der wichtigste Fundus für die erwähnten Wunder des Orients3, speziell Indiens, sind die Legenden um Alexander d. Gr., wie sie im Alexanderroman des Pseudo-Kallisthenes zusammengestellt sind4. Autoren wie -» Plinius (Historia naturalis) und Solinus (Collectanea) hatten den Europäern ein konkretes Bild von Indien als Land voller wunderbarer Dinge und Wesen geliefert5. Ein weiterer Qu.nbereich ist die Bibel: ,Herr der Herrschenden und König der Könige' ist ζ. B. ein Titel, der Christus gegeben wird (Apk. 17,14). Darüber hinaus schöpft der Bericht aus -* Utopievorstellungen: Die gesellschaftliche Utopie mit dem P. J. als dem idealen Herrscher hielt den europ. Herrschern den Spiegel vor. Weitere Qu.n waren die Bestiarien und Steinbücher des MA.s, bes. der weitverbreitete -> Physiologus.

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Der Nachweis jüd. und arab. Materials fallt schwer. Legenden wie Barlaam und Josaphat oder die vom hl. Thomas in Indien sowie volkstümliche Seefahrergeschichten wie die von Sindbad dem Seefahrer waren dem Autor bekannt. Eldad ha-Dani schrieb im 9. Jh. eine phantastische geogr. Erzählung, deren Elemente ebenfalls im Brief auftauchen 6 . Der Brief des P.s J. ist in zahlreichen Hss. und Drucken erhalten 7 . Die Ausschmückung der Geschichte erlebte Variationen von großer Popularität 8 . In seinen Briefen erwähnte Jacques de Vitry einen König, der islam. Heere besiegt habe und Jerusalem aufbauen wolle9. Damit wollte er für den Kreuzzug nach Palästina werben; den realen Hintergrund der Schilderung bildeten die Siege der Mongolen. Um mit dem sagenhaften P. J. in Kontakt zu treten, schickte man von Europa aus Gesandtschaften zu den Mongolen, aber auch Kaufleute wie Marco -> Polo machten sich auf den Weg. Deren -• Reiseberichte siedelten den P. J. in Ostasien an 10 . Dazu kamen Dichtungen wie der -• Parzival Wolframs von Eschenbach, in dem der P. J. Sohn des Repanse de Schoye ist. Im Jüngeren Titurel Albrechts von Scharfenberg (1270) wird der -+ Gral nach Indien in das Reich des P.s J. gebracht. Weithin bekannt wurde die Figur des P.s J. mit den Reiseberichten des Jean de Mandeville. Sehr populär wurde der P. J. auch durch die Legende von den Hll. Drei Königen des Johannes von Hildesheim (1370)11: Als ihren Nachfolger setzten die Hll. Drei Könige einen würdigen Mann ein, der den Titel Priester führen sollte; zu Ehren von Johannes Baptista und Johannes Evangelista erhielt er den Namen Johannes. Seit dem 14. Jh. identifizierte man den P. J. mit dem Herrscher von Äthiopien. Wieder waren es Missionare, Pilger und Kaufleute, die neues Wissen beisteuerten12. Der christl. Herrscher von Äthiopien war für die Europäer aus handelspolitischen Gründen sehr interessant, denn mit ihm als Verbündetem konnte man die von Muslimen beherrschten Handelswege unter Kontrolle bringen. Seit dem 15. Jh. bemühten sich die Europäer daher verstärkt, zum Reich des P.s J. vorzudringen. Die erste offizielle port. Gesandtschaft erreichte 1520 Äthiopien. Der ausführliche Bericht des Kaplans Francisco Alvarez13 beschreibt den äthiop. Herrscher zwar als bedeutend, den Eu-

1299

Priester soll Kalb gebären

r o p ä e r n u n d d e n islam. G e g n e r n m i l i t ä r t e c h nisch j e d o c h weit u n t e r l e g e n . D i e R o m . K i r c h e v e r s u c h t e , die christl. Ä t h i o p i e r i h r e m R i t u s zu u n t e r w e r f e n . D i e s scheiterte a n d e m u n d i p l o m a t i s c h e n V e r h a l t e n d e r J e s u i t e n im J a h r 1640 1 4 . D e r N a m e R J. blieb f ü r d e n ä t h i o p . Herrscher bestehen, aber der M y t h o s vom m ä c h t i g e n G e g n e r des I s l a m w a r i n z w i s c h e n v e r l o r e n g e g a n g e n . D o c h E l e m e n t e d e r Leg e n d e lebten in vielen V a r i a t i o n e n weiter. 1 cf. Knefelkamp, U.: J. Presbyter. In: Lex. des MA.s 5. Mü./Zürich 1991, 530-532; Huschenbett, D.: Priesterkönig J. In: Verflex. 7 ( 2 1989) 828-842. 2 Buchner, R. (ed.): Ausgewählte Qu.n zur dt. Geschichte des MA.s. 16: Otto Bischof von Freising: Chronik oder Die Geschichte der zwei Staaten, ed. W. Lammers. Darmstadt 3 1974. - 3 cf. Wittkower, R.: Marvels of the East. In: J. of the Warburg Inst. 5 (1942) 159-197. - 4 cf. Thiel, Η. von (ed.): Leben und Taten Alexanders von Makedonien. Darmstadt 1983. - 5 cf. Gregor, H.: Das Indienbild des Abendlandes. Wien 1964; Knefelkamp, U.: Indien. In: Lex. des MA.s 5. Mü./Zürich 1991, 404 sq. - 6 cf. Ullendorf^ E./Beckingham, C. F.: The Hebrew Letters of Prester John. Ox. 1982. - 7 Zarncke, F.: Der P. J. [1876-79]. Nachdr. Hildesheim u.a. 1980; Gosman, M.: La Lettre du Pretre Jean. Diss. Groningen 1982; Knefelkamp, U.: Die Suche nach dem Reich des Priesterkönigs J. Gelsenkirchen 1986, 180-188. 8 Oppert, G.: Der Presbyter J. in Sage und Geschichte. B. 1864; Köhler, R.: La Nouvelle italienne du Pretre Jean et l'empereur Frederic. In: Romania 5 (1876) 7 6 - 8 1 ; Kampers, F.: Ma. Sagen vom Paradiese und vom Holze des Kreuzes Christi. Köln 1897; Fjelstrup, Α.: Gotfred af Ghemens Udgave af Historiem om Jon Praest. Kop. 1910; Hilka, Α.: Die anglo-normann. Versversion des Briefes des Presbyters J. In: Zs. für frz. Sprache und Lit. 43 (1915) 100 sq.; Besthorn, R.: Ursprung und Eigenart der älteren ital. Novelle. Halle 1935; Silverberg, R.: The Realm of Prester John. Gordon City/N. Y. 1972; Kremers, D.: Der „Rasende Roland" des Ludovico Ariosto. Stg. 1973,229-234; Tekinay, Α.: Materialien zum vergleichenden Studium von Erzählmotiven in der dt. Dichtung des MA.s und den Lit.en des Orients. Ffm./Bern/ Cirencester 1980, 61 sq.; Gumilev, L. N.: Searches for an Imaginary Kingdom. Cambr. 1987. - 9 Vitry, J. von: Briefe, ed. R. C. B. Huygens. Leiden 1960. 10 cf. Rachewiltz, I. de: Prester John and Europe's Discovery of East Asia. Canberra 1972. 11 Christern, Ε. (ed.): Die Legende von den Hll. Drei Königen. Mü. 1963. - 1 2 Zur Geschichte der oriental. Christen cf. Brincken, A. D. von den: Die Nationes Christianorum Orientalium im Verständnis der lat. Historiographie. Köln/Wien 1973; Beckingham, C. F.: The Achievements of Prester John. Ox. 1966. - l 3 Alvares, F.: Ho Preste Joam das Indias. Lissabon 1540 (dt.: General Chronica, das ist: Wahrhaffte

1300

eigentliche und kurtze Beschreibung. Ffm. 1581; moderne engl. Übers.: The Prester John of the Indies, ed. C. F. Beckingham/G. W. B. Huntingford. Cambr. 1961 [Nachdr. 1975]). - 14 Knefelkamp, U.: Mission und Kolonialismus. Portugals Scheitern in Äthiopien (1520-1640). In: Port. Forschungen der Görres-Ges. Reihe 1,20 (1993) 115-131. Frankfurt/Oder

Ulrich Knefelkamp

Priester soll Kalb gebären ( A a T h 1739), Dummenschwank aus dem Motivkomplex v o n d e r a n g e b l i c h e n ->· S c h w a n g e r s c h a f t eines M a n n e s (cf. a u c h A a T h 1 2 1 8 , 1 6 7 7 : Eierbrüter; A a T h 1319: -> Eselsei ausbrüten)': Ein Mann (meist Geistlicher) mit Bauchschmerzen schickt seinen Knecht (Magd) mit einer ->• Urinprobe zum Arzt. Auf dem Weg zerbricht die Flasche, und der Knecht füllt eine neue mit dem Harn einer trächtigen Kuh (Stute). Der Arzt diagnostiziert, der Mann werde ein Kalb gebären (cf. auch AaTh 1862 C: Die einfältige Diagnose). Der Mann glaubt ihm (und verreist beschämt). Als er sich kurze Zeit später (in einem Stall) entleert (nachdem ihm ein Abführmittel verabreicht worden ist) oder (betrunken) aufwacht, sieht er zufallig ein Kalb und glaubt, es sei sein Kind. D e r in f a s t g a n z E u r o p a ( u n d Sibirien) verbreitete E r z ä h l t y p ist a u c h in A m e r i k a bek a n n t u n d w u r d e gelegentlich in d e r L e v a n t e wie a u c h in S ü d a f r i k a a u f g e z e i c h n e t 2 . E r zeigt sich ü b e r a u s v a r i a t i o n s r e i c h , bes. in d e r E i n g a n g s - u n d S c h l u ß e p i s o d e . Verschiedene Tiere k ö n n e n f ü r d a s K i n d g e h a l t e n w e r d e n , in einer a r a m . Var. ζ. B. ein R a b e : D e r v e r m e i n t l i c h s c h w a n g e r e P r i e s t e r will sich a n e i n e m B a u m a u f h ä n g e n , in d e m sich ein R a b e n n e s t b e f i n d e t . Als d u r c h die S c h w i n g u n g e n ein R a b e h e r abfällt, f r a g t er: , K a m s t d u gleich als P r i e s t e r z u r Welt?' 3 In d e r s k a n d . Ü b e r l i e f e r u n g w i r d d e m E r z ä h l t y p o f t ein ä t i o l o g i s c h e r S c h l u ß angefügt: Ein F u c h s streift d e n seine N o t durft verrichtenden M a n n (Mönch) an den Beinen; er h ä l t diesen F u c h s f ü r seinen S o h n u n d nennt ihn Mikkel (anderer Name). Dieser N a m e wurde zur Benennung der Füchse4. S o n s t lassen sich k a u m ö k o t y p i s c h e A u s p r ä g u n g e n feststellen. So ist e t w a eine a l t e r n a t i v e E i n g a n g s e p i s o d e (ein M a n n , d e r i m m e r v o m R a h m n a s c h t , w i r d g e w a r n t , d a ß ihn d a s s c h w a n g e r m a c h e n k ö n n e ) in so weit a u s e i n a n d e r l i e g e n d e n G e b i e t e n wie d e r S l o v a k e i 5

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Priester soll Kalb gebären

und Mexiko6 aufgezeichnet worden. Demgegenüber lassen sich einige gängige Kontaminationen mit anderen Schwanktypen genauer abgrenzen. In Nord-, Mittel- und Osteuropa endet die Geschichte oft mit AaTh 1281 A: Das menschenfressende -> Kalb1; in dieser Verbindung bildet sie den Abschluß einiger finn. Var.n von AaTh 1543 A*: Der gekaufte Penis*. In oriental. Var.n wird AaTh 1739 gelegentlich kontaminiert mit der zweiten Hälfte der (wenn auch wohl nicht genetisch) verwandten Erzählung vom Geizigen, der ein Kind bekommt: Ein mehrmals verheirateter Geizkragen verweigert seinen jeweiligen Frauen alles, womit sie Mahlzeiten bereiten können, verstümmelt ihnen dann zur Strafe, weil sie nicht kochen können, Nase und Ohren und trennt sich von ihnen. Eine junge Frau rächt sie (cf. AaTh 1408 B: Fault-finding Husband Nonplussed): Sie heiratet den Geizigen, entwendet unbemerkt Geld und gibt ihm so ausgiebig zu essen, daß er Bauchschmerzen bekommt. Dann macht sie ihm weis, daß er schwanger sei. Als er endlich erleichternd furzen kann (während er schläft), legt sie ihm ein neugeborenes Kind in die Arme. Vor Scham flüchtet er aus dem Haus.

Diese Erzählung zirkulierte im Umfeld von Tausendundeinenacht9 und ist u.a. in einer modernen pers. Var. belegt10. In jüngeren Texten werden öfter homosexuelle Handlungen als Ursache für die Schwangerschaft des Mannes aufgeführt 11 , so auch in Ezra Pounds Canto XII (1925): Einem Seemann schiebt man im Krankenhaus das Kind einer Prostituierten unter. Er zieht den Jungen auf und gesteht ihm auf seinem Sterbebett, er sei nicht der Vater, sondern die Mutter — sein Vater sei ein Kaufmann aus Istanbul 12 . Wenn diese Geschichte mit AaTh 1739 verbunden wird, begegnet öfter das Eingangsmotiv, daß ein Mann die Frauen beneidet, weil sie schwanger werden können 13 . Das für AaTh 1739 zentrale Motiv der Verwechslung der Urinprobe erscheint zuerst in der 2. Hälfte des 12. Jh.s in einer lat. Slg äsopischer Fabeln14, etwas später im Esope (vor 1190) der -> Marie de France 15 und bei Berechja ha-Nakdan (frühes 13. Jh.) 16 . Es handelt sich hier allerdings zunächst noch um eine Blutprobe: Die Tochter vertauscht das Blut des Vaters mit ihrem eigenen, der Arzt entdeckt die Schwangerschaft, und die Wahrheit kommt heraus. Die eigentliche Urinprobe er-

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scheint dann erstmals in der Episode zu Achilles und Deidamia in der Weltchronik von Jansen Enikel (ca 1270)17. Das Motiv des entflohenen Tieres als vermeintliches Kind findet sich zuerst in zwei dt. Mären, Des Mönches Not vom Zwickauer (ca 1300; Hase)18 und Der schwangere Müller (14. Jh.; Schwalbe)19: Der Mönch (Müller) meint, er sei schwanger, weil er unten gelegen habe; ein Bauernknecht prügelt das ,Kind' heraus 20 . Heinrich Bebel21 erwähnt 1508 als erster ein Kalb: Ein in einem Stall schlafender Mönch träumt, er habe ein K. bekommen; als er aufwacht, sieht er ein wegen der Kälte dorthin gebrachtes neugeborenes K. und denkt, sein Traum habe sich erfüllt. Alle für die spätere mündl. Tradition charakteristischen konstitutiven Motive und Strukturelemente kommen erstmals in einem Schwank von Hans ->• Sachs (Der schwanger pauer mit dem füel; 1551) zusammen 22 . Die schriftl. Überlieferung nach dem 16. Jh. ist recht spärlich. Wenn die Erzählung auch gelegentlich noch in Schwanksammlungen und Kalendern dargeboten wird23, so scheint ihre spätere Popularisierung doch hauptsächlich auf mündl. Wege stattgefunden zu haben. 1 Zapperi, R.: The Pregnant Man. Chur u . a . 4 1991 (ital. Orig. Rom 1979; dt. 1984); Loukatos, D. S.: Pater tiktön (Das Männerwochenbett). In: Epeteris laographikou archeiou 1 1 - 1 2 (1958-59) 2 7 - 4 2 ; cf. auch allg. Lee, A. C.: The Decameron. L. 1909, 277-281; Kasprzyk, K.: Nicolas de Troyes et le genre narratif en France au XVIC siecle. W./P. 1963, 40—43. — 2 Ergänzend zu AaTh: SUS; Krzyzanowski; Kecskemeti/Paunonen; Raudsep, num. 273; Aräjs/Medne; Rausmaa; Hodne; Nyman; Ο Süilleabhain/Christiansen; Hoffmann, num. 1739 A, 1739*; van der Kooi; Legros; de Meyer, Conte; de Meyer/ Sinninghe; Gonzalez Sanz; Cirese/Serafini; M N K ; Gasparikovä, num. 8, 387; Soboleva; Robe; Coetzee. - ' A r n o l d , W.: Aram. Märchen. MdW 1994, num. 28. - 4 Hodne, Ait[iological] Leg[end], num. 74; Christensen, Α.: Dumme Folk. Kop. 1941, 31 sq.; cf. auch Rausmaa, num. 1319. - 5 Polivka 5, 3 2 - 3 5 . 6 J A F L 29 (1916) 547-558, hier 554 sq. (mexikan.). - 7 Raudsep, num. 273; Hodne; M N K ; Gasparikova, num. 8, 387; Ranke, K.: European Anecdotes and Jests. Kop. 1972, num. 37 (russ.); Kooi, J. van der/Schuster, T.: Der Großherzog und die Marktfrau. Märchen und Schwänke aus dem Oldenburger Land. Leer 1994, num. 87. - 8 Rausmaa, num. 1543 Α*; Zapperi (wie not. 1) 8 9 - 9 1 . - ' C h a u v i n 5, num. 107; Ranelagh, E. L.: The Past We Share. L.I Melbourne/N.Y. 1979, 2 1 0 - 218; Eberhard/Boratav, num. 367 V. - 10 cf. Marzolph, U.: Wenn der Esel

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Priester auf der Sau

singt, tanzt das Kamel. Pers. Märchen und Schwänke. Mü. 1994, num. 34. 11 Arnold (wie not. 3) num. 51; Legman, G.: Rationale of the Dirty Joke 1. N.Y. 1968, 601 sq.; Röhrich, L.: Der Witz. Stg. 1977, 167. - 12 Pound, Ε.: The Cantos. L. 1964, 5 7 - 6 1 . - 13 Krzyzanowski, num. 1739 A; Gasparikovä, num. 320; Randolph, V.: Pissing in the Snow and Other Ozark Folktales. Urbana/Chic./L. 1976, num. 13. - 14 Perry und Babrius/Perry, num. 684. - 15 Marie de France: Fables, ed. H. Spiegel. Toronto/Buffalo/L. 1987, num. 42. 16 Schwarzbaum, Fox Fables, 417-420. - 17 Hägen, F. Η. von der: Gesammtabenteuer 2. Stg./Tübingen 1850, 489-508. - 18 Novellistik des MA.s. Märendichtung. ed. K. Grubmüller. Ffm. 1996, num. 25. - 19 Verflex. 8 ( 2 1992) 914 sq.; cf. auch Meiners, U.: Schelm und Dümmling in Erzählungen des dt. MA.s. Mü. 1967, 116 sq. - 2 0 Zapperi (wie not. 1) 147 (1931 in Ostpreußen aufgezeichnete Var.). 21 Bebel/Wesselski 1, num. 148. - 22 Sachs, H.: Sämtliche Fabeln und Schwänke 5. ed. H. Goetze/C. Drescher. Halle 1904, num. 733; t. 1. ed. H. Goetze. Halle 1893, num. 185. - 23 Archiv van der Kooi, Groningen.

Groningen

Jurjen van der Kooi

Priester auf der Sau (AaTh 1838), einer der Schwanktypen, in denen P. (-> Pfarrer) und Küster bei der Ausübung ihres Amtes in mißliche Situationen geraten. Die Standardfassung hat folgenden Inhalt: Der Küster hat ein umherstreunendes Tier, meist ein Schwein, aus Versehen in der Kirche eingeschlossen. Als er beim nächsten Gang zur Kirche dort laute Geräusche hört, vermutet er einen bösen Geist oder den -» Teufel und geht den P. holen. Dieser schlüpft in den Ornat, nimmt die Bibel und befiehlt dem Küster, die Kirchentür aufzuschließen, um der Sache auf den Grund zu gehen. Das Tier stürzt heraus, fahrt dem P. zwischen die Beine und rennt mit ihm davon. Der P. meint, ihn hole schon der Teufel.

Diese Erzählung zielt darauf ab, vor allem den Geistlichen, aber auch seinen Helfer lächerlich erscheinen zu lassen. Die Komik des Schwanks resultiert aus dem Kontrast zwischen der Würde des geistlichen Amtes und dem burlesken Geschehen, das von den beiden Amtsträgern bis zuletzt gemäß der von ihnen vertretenen christl. Lehre fehlgedeutet wird. Dabei ist es sicher kein Zufall, daß der mehr oder minder deutliche Spott vor allem den P. trifft, dessen Würde leichter verletzbar ist und den hier die Anmaßung geistlicher Autorität

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sowie Naivität in gleicher Weise kennzeichnen. Zugleich wird der Glaube an den Teufel, der lange als real existierende Gestalt aufgefaßt wurde, komisch relativiert. AaTh 1838 ist den Typenkatalogen und Texten des EM-Archivs zufolge in Finnland 1 , bei Finnlandschweden 2 , in Estland 3 , Lettland 4 , Schweden 5 , Norwegen 6 , Dänemark 7 , Deutschland 8 , England 9 , Frankreich 10 , Spanien 11 , Ungarn 1 2 und Serbien 13 sowie bei Frankokanadiern 14 verbreitet oder zumindest bekannt. Das zeigt, in welchem Maße sowohl in Protestant. und kathol. als auch in griech.-orthodoxen Glaubensgebieten das Gelächter zielgerichtet auf Kosten des Geistlichen ging. Gelegentlich, speziell in Dänemark 1 5 , aber auch andernorts 16 , ließ es vermutlich der Respekt vor dem P. geraten erscheinen, statt seiner den Küster auf dem vermeintlichen Teufel reiten zu lassen. In Dänemark erfreute sich dieser Kirchendiener offenbar keines bes. Ansehens (dän. ,klokker' [Küster] bedeutet auch ,Dummkopf'), was der Erzählung einen pejorativen Akzent geben konnte. Vereinzelt erscheint AaTh 1838 auch verbunden mit anderen Erzähltypen 17 , speziell mit AaTh 1791: ->• Küster trägt den Pfarrer, wobei teils beide Typen aneinander gefügt sind 18 , teils aber auch nur der Handlungszug, daß der P. unfreiwillig auf dem Tier reiten muß, als Abschluß an AaTh 1791 angehängt ist 19 . D a offenbar kein Beleg vor das 19. Jh. zurückgeht und sich auch kein Gebiet mit bes. Überlieferungsdichte abzeichnet, können weder zum Ursprung noch zur Geschichte des Erzähltyps gültige Aussagen gemacht werden. Das feste Handlungsgerüst der Normalform des Schwanks und seine fast durchgängige Fixierung auf P. und Kirchendiener als Handlungsträger läßt jedoch auf singuläre Erfindung des Sujets und anschließende Verbreitung durch vorwiegend mündl. Weitergabe über Länder- und Sprachgrenzen hinweg schließen. Der Erzähltyp ordnet sich in die Fülle und Vielfalt der Pfarrerschwänke ein, die vorwiegend im christl. Abendland tradiert und verbreitet wurden. Im Unterschied zu mehr oder minder antiklerikalen Spottgeschichten, wie sie L. Raudsep für Estland zusammengestellt hat, ist jedoch kaum ein sozialkritischer Ak-

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Priester: Der sündige P.

zent erkennbar. Natürlich dient die Wiedergabe der Erzählung dazu, sich spöttisch über den kirchlichen Amtsträger zu erheben u n d zustimmendes Gelächter bei den Z u h ö r e r n zu erzielen. Aber es ist mehr Ausdruck von Schadenfreude als aggressive Kritik. I Rausmaa. - 2 Hackman, O.: Finlands svenska folkdiktning I A 2. Helsingfors 1920, num. 338. 3 Raudsep, num. 291. - 4 Aräjs/Medne. - s Liungman, Volksmärchen; Sahlgren, J./Liljeblad, S.: Svenska sagor och sägner 3. Sth. 1939, num. 102 (= Schier, K.: Schwed. Volksmärchen. MdW 1971, num. 57). - 6 Hodne. - 7 Skattegraveren 10 (1888) 233 sq., num. 553; Kristensen, Ε. T.: Molbo- og aggerbohistorier 1 - 2 . Viborg 1892/Aarhus 1903, hier t. 1, num. 296; id.: Fra Mindebo. Jyske folkeaeventyr. Aarhus 1898, num. 14; id.: Danske skjaemtesagn 1. Aarhus 1900, num. 105; id.: Vore Fsedres Kirketjeneste. Aarhus 1899, num. 183. - 8 Bll. für pommersche Vk. 5 (1897) 77, num. 47; Henßen, G.: Volk erzählt. Münster 1935, num. 267; Wossidlo, R.: Volksschwänke aus Mecklenburg, ed. S. Neumann. B. 1963, num. 290; Grüner, G.: Waldeck. Volkserzählungen. Marburg 1964, 293, num. 532 (= Ranke, K.: Folktales of Germany. Chic. 1966, num. 80); Kooi, J. van der/Schuster, Τ.: Märchen und Schwänke aus Ostfriesland. Leer 1993, num. 164; iid.: Der Großherzog und die Marktfrau. Märchen und Schwänke aus dem Oldenburger Land. Leer 1994, num. 185. 9 Baughman. - 10 Begegnung der Völker im Märchen. 1: Frankreich - Deutschland, ed. M.-L. Teneze/G. Hüllen. Münster 1961, 129-131, num. 25; Joisten, C.: Contes populaires du Dauphine 2. Grenoble 1971, num. 232. II Boggs; Llano Roza de Ampudia, A. de: Cuentos asturianos. Madrid 1925, num. 196; Espinosa, A. M., hijo: Cuentos populäres de Castilla y Leon 2. Madrid 1988, num. 427; Camarena Laucirica, J.: Cuentos tradicionales de Leon 2. Madrid 1991, num. 280. - 1 2 MNK. - 13 Djordjevic, D. M.: Srpske narodne pripovetke i predanja iz Leskovacke oblasti. ed. N. Milosevic-Djordjevic. Belgrad 1988, num. 216. - 14 Lemieux, G.: Les Vieux m'ont conte 18. Ρ./ Montreal 1982, num. 20. - 15 Kristensen 1892/1903 (wie not. 7) 1, num. 297-300; 2, num. 380; id. 1900 (wie not. 7) num. 635-637. - 16 cf. z.B. Hackman (wie not. 2) num. 338 (Var. 1); Altmärk. Sagenschatz. Lpz./B. 1908, 209 sq., num. 47; Peuckert, W.E.: Schlesiens dt. Märchen. Breslau 1932, num. 290 (Rektor statt Küster); Grannas, G.: Volk aus dem Ordenslande Preußen erzählt Sagen, Märchen und Schwänke. Marburg 1960, num. 103; Seignolle, C.: Contes populaires de Guyenne 2. P. 1946, num. 74. - 17 Birlea, O.: Antologie de prozä popularä epicä 3. Buk. 1996, 168-172; Galkin, P./Kitajnik, M./Kustum, N.: Russkie narodnye skazki Urala. Sverdlovsk 1959, 51-55. - 18 cf. z.B. Boskovic-Stulli, M.: Narodne pripovijetke. Zagreb 1963, num. 99. — 19 cf. ζ. B. Zender, M.: Volksmärchen und Schwänke

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aus der Westeifel. Bonn 1935, num. 45; Haiding, K.: Märchen und Schwänke aus Oberösterreich. B. 1969, num. 106. Rostock

Siegfried N e u m a n n

Priester: Der sündige P. (AaTh 759 A), Legende, der die theol. Frage zugrunde liegt, o b die von einem sündigen P. ausgeteilten ->· Sakramente trotzdem ihre Wirkung behalten. Die Erzählung soll zeigen, d a ß dies tatsächlich der Fall ist. Die frühesten Belege datieren aus dem M A . 1 Es lassen sich zwei Fassungen unterscheiden, je nach Art der theol. Argumentation. D e r früheste Beleg der ersten Fassung findet sich in den Sermones vulgares des Jacques de Vitry (ca 1180-1240). Die Erzählung soll zeigen, d a ß die K r a f t des Sakraments nicht von der Tugend des Spenders abhängt und eine solche ketzerische Lehre verwerflich ist 2 . Ein Mann will die Sakramente nicht aus der Hand eines unwürdigen P.s empfangen. Weil er dies aber nicht aus Bosheit, sondern aus Unwissenheit tut, will ihn Gott durch einen -» Traum belehren. Der Schlafende leidet unter schier unerträglichem Durst. Er hat das Gefühl, bei einem Brunnen zu sein, aus dem ein Aussätziger das reinste Wasser in einem herrlichen Gefäß an einem goldenen Seil schöpft. Viele Leute trinken das Wasser. Ihm jedoch verweigert der Aussätzige den Trunk, da er auch die Sakramente von unwürdigen P.n verschmäht habe. Verwerflich sei die Lehre der -» Ketzer, die da sagen, die Kraft der Sakramente hänge von der Tugend des Spenders ab. Spätere m a . Belege gehen auf diese Fassung zurück; allerdings gibt es kleinere funktionale Unterschiede. Im wahrscheinlich zwischen 1297 und 1308 entstandenen Alphabe tum narrationum und in dessen engl. Ubers, aus d e m 15. Jh. fehlt der Angriff auf die Ketzer 3 . Auch in der mittelndl. Predigtsammlung Sermoenen over de tien geboden (15. Jh.) fehlt dieser Bezug. Hier ist überdies die Pointe der Erzählung verlorengegangen 4 . Statt o h n e Bedenken das Wasser v o m Aussätzigen entgegenzunehmen, weigert sich ein f r o m m e r -> Einsiedler, es zu trinken, u n d m u ß von anderen e r m a h n t werden: D e r Mensch, der das Wasser geschöpft habe, möge k r a n k sein, habe aber das Wasser nicht beschmutzt. In der zweiten, zeitlich später liegenden Fassung wird der unwissende Gläubige nicht im

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Priesters Gäste

Traum, sondern durch ein wirkliches Ereignis dazu gebracht, seine irrige Meinung zu ändern. Einflußreich für die Überlieferung wurde die Fassung aus den in zahlreichen Volkssprachen vorliegenden -» Gesta Romanorum (num. 12). Der früheste Beleg dieser Erzählung, der im Erzählteil wörtlich mit der Gesta-Fassung übereinstimmt, steht in der Exempelsammlung Solsequium (1284) des Bamberger Schulmeisters Hugo von Trimberg5. Ein Mann geht zur Zeit der Messe auf dem Feld spazieren und wird dort von einem heftigen Durst befallen. Er sieht einen klaren Bach, aus dem er zu trinken anfängt. Sein Durst wird aber immer größer. Deswegen will er die Quelle aufsuchen. Ihm begegnet ein Alter, der ihn fragt, warum er nicht zur Messe gegangen sei. Nachdem er dem Greis die Ursache genannt hat, zeigt dieser ihm die Quelle: einen stinkenden Hund mit aufgesperrtem Rachen, durch den das herrliche Wasser der Quelle fließt. Der Mann geht fortan zur Messe.

Der Erzählung ist eine ausführliche allegorische Auslegung angehängt, in welcher der Hund als P. gedeutet wird. Diese Deutung geht auf Hugo von St. Viktor zurück, der dem P. und dem Hund vier Qualitäten zuschreibt: heilt die Wunden, ,riecht' die Sünden, schützt die Schafe und verteidigt die Seele gegen die Nachstellungen des Teufels6. Wann und wie intensiv die Erzählung in die mündl. Tradition aufgenommen wurde, ist nicht festzustellen. Erst im 20. Jh. wurde sie in mehreren, vorwiegend kathol. Ländern (ir., ital., ung. Belege) sporadisch aufgezeichnet7; eine Affinität zur Fassung der Gesta Romanorum ist nicht von der Hand zu weisen. AaTh 759 Α zählt zu der Gruppe ma. Geschichten über die Heiligkeit und Wirkung der Sakramente sowie über die sie spendenden P.8 Vor allem über die sog. praesentia realis -» Christi in der Eucharistie wurde im MA. jahrhundertelang eine theol. Debatte geführt. Die praesentia realis wurde um 1200 von den meisten Christen und Theologen akzeptiert und nur von wenigen, ζ. B. den Katharern und verwandten Bewegungen, bestritten. Ein allg. Problem bildete aber die Frage nach der Gültigkeit der von unwürdigen P.n verabreichten Sakramente 9 . Einige Angehörige häretischer Bewegungen erkannten wohl die praesentia realis an, machten aber die Gnadenwirkung der Sakramente von der moralischen Qualität der P. abhängig. Auch rechtgläubige Theologen

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wie Papst Gregor VII. (1015-85) vertraten diese Auffassung. Da die Kritik an den P.n als Gefahr für die Kirche betrachtet wurde, begannen die kirchlichen Behörden im 12. Jh., die Sakramente gegen diese Kritik abzusichern, indem sie eine Trennung zwischen dem Sakrament und der Person des P.s vornahmen. AaTh 759 Α gehört in diesen kirchlichen Kontext. Die erste Aufzeichnung des Exempels bei Jacques de Vitry — er war zu Beginn des 13. Jh.s aktiv am Kampf gegen die Katharer in Frankreich beteiligt - zeigt den engen Zusammenhang mit aktuellen kirchlichen Entwicklungen10. 1 cf. Tubach, num. 2672. - 2 Jaques de Vitry/Crane, num. 155 (= Wesselski, Α.: Mönchslatein. Lpz. 1907, num. 80). - 3 Banks, M.: An Alphabet of Tales 1 - 2 . L. 1905, hier t. 1, num. 687. - 4 Vooys, C. G. N. de: Middelnederlandse legenden en exempelen. Groningen/Den Haag 2 1926 (Nachdr. Groningen/ Amst. 1974), 230-240, bes. 234 sq. - 5 Weiske, B.: Die „Gesta Romanorum" und das „Solsequium" Hugos von Trimberg. In: Haug, W./Wachinger, B. (edd.): Exempel und Exempelslgen. Tübingen 1986, 173-207. - 6 ibid., 190. - 7 Ergänzend zu AaTh: 0 Süilleabhäin/Christiansen; Cirese/Serafini; M N K . 8 ζ. B. Strange, J. (ed.): Caesarii Heisterbacensis monachi ordinis Cisterciensis „Dialogus miraculorum" 1 - 2 . Köln/Bonn/Brüssel 1851 (Nachdr. Ridgewood 1966), Buch 12; zusammenfassend bei Caspers, C. Μ. Α.: De eucharistische vroomheid en het feest van sacramentsdag in de Nederlanden tijdens de late middeleeuwen. Leuven 1992, 141-152. - ' C a s p e r s (wie not. 8) 2 5 - 3 0 . - 1 0 Jacques de Vitry/Crane, XXVI.

Amsterdam

Ton Dekker

Priesters Gäste (AaTh 1741), Schwank über weibliche List, in dem eine kluge Frau mittels bewußt inszenierter -+ Mißverständnisse einen Sieg über ihren Herrn (Ehemann) erringt: Ein Mann (Priester) beauftragt seine Frau (Köchin, Magd), zwei Hühner (Gänse, Hasen, Fische) zu braten: Er will sie mit einem Gast (Geistlichen) verspeisen. Sie ißt heimlich die gebratenen Vögel mit ihrem Liebhaber (nascht davon) und erzählt dem Gast während des Essens (vorher), daß ihr Mann sein Messer wetze, um ihm die Ohren (Testikel) abzuschneiden. Der Gast flieht. Ihrem Mann macht sie weis, er habe die gebratenen Vögel gestohlen. Der Mann läuft, das Messer schwenkend, dem Gast nach und ruft: ,Gib mir doch wenigstens einen!'

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Priesters Gäste

Dieser in Europa, Vorder- und Mittelasien, Indien, Nord- und Südafrika, Nord- und Mittelamerika weitverbreitete Schwank1 wurde in der westl. Hälfte Europas, wo er bes. literar. dokumentiert ist, relativ stabil überliefert, wenn auch mit gewisser Variabilität bezüglich der Requisiten und Handlungsträger. In den ältesten europ. Var.n, dem im ritterlichen Milieu spielenden Fabliau Les Perdris (Ende 12. Jh.?)2 und dem im bäuerlichen Umfeld angesiedelten Märe Der Hasenbraten (13. Jh.) 3 , wird dem Fliehenden eingeredet, seine Hoden seien in Gefahr; in der späteren literar. wie auch in der jüngeren mündl. Überlieferung wird dieses Motiv zumeist verharmlost 4 : Der Gast hat nur den Verlust seiner Ohren zu befürchten, so im 16. Jh. u.a. bei Johannes Pauli (1522)5 und zweimal bei Hans Sachs (1536, 1559)6. Danach findet sich der Typ bis weit ins 19. Jh. hinein in vielen (u.a. lat., dt., dän., ndl., frz., span, und ung.) Schwankkompilationen 7 sowie u. a. auch als Ballade8, Kalendergeschichte9 oder Bühnenstück 10 , wobei der schwankhafte und manchmal frivole Inhalt oft durch moralisierende Warnungen vor lügenhaften und naschhaften Frauen eine schärfere Note enthält. Vorlage für KHM 77 (seit 2 1819)" war ein Predigtmärlein von A. -> Strobl (1700)12. Außerhalb Europas ist der Erzähltyp ebenfalls früh belegt: Er wurde im 13. Jh. im Jemen in den Midrasch Haggadol (Genesis)13 aufgenommen. Er ist auch in der Wortley-Montague-Hs. von Tausendundeinenacht (18. Jh.) nachgewiesen14. Die populäre Überlieferung ist hier variationsreich und offensichtlich weniger von der literar. Tradition abhängig. Neben der Hauptform begegnen andere Redaktionen wie die folgenden: Von Mittelasien bis nach Nordafrika und Serbien kann die Frau den Gast auch dadurch vertreiben, daß sie ihm weismacht, ihr Mann — der gerade Brot holt — wolle ihm einen Stößel in den Hintern (Ofengabel in den Mund) treiben. Der Mann ruft dem Fliehenden nach: ,Laß mich doch wenigstens ein bißchen eintunken!' 15 Auf dem ind. Subkontinent macht die Frau dem Gast vor, ihr Mann wolle ihn mit dem Stampfer verprügeln, und ihrem Mann erzählt sie, der Gast wolle den Stampfer haben, den sie ihm aber nicht gebe, worauf der Mann dem Gast mit dem Stampfer nachläuft, um ihm diesen zu

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schenken16. Ein jüd. Ökotyp entstand in Osteuropa: Die Frau hat die Gurgel eines Kalbs (den Kröpf einer Gans) gegessen; sie behauptet, ihr Mann sei ein Räuber, der dem Gast die Gurgel aufschneiden wolle17. AaTh 1741 wird fast immer selbständig erzählt. Nur am Nordostrand des Verbreitungsgebiets wird diese Erzählung gelegentlich in längere Schwankkonglomerate eingebunden18. Im Bereich der Hodscha Nasreddin-Überlieferung spielt dieser Schelm öfter die Rolle des um seinen Braten betrogenen Ehemanns 19 . In Europa tritt der Erzähltyp gelegentlich als Tiermärchen auf 20 . I Ergänzend zu AaTh: Rausmaa; Kecskemeti/Paunonen; Ο Süilleabhäin/Christiansen; de Meyer, Conte; van der Kooi; Pujol; Gonzalez Sanz; Cirese/Serafini; Stroescu, num. 3468; MNK; BFP; Jason; Haboucha; El-Shamy, Folk Traditions; Marzolph; Jason, Indic Oral Tales; Robe; Hansen; Flowers; Coetzee; Schmidt; Röhrich, Erzählungen 1, num. 10; Ranke, K.: European Anecdotes and Jests. Kop. 1972, num. 172 (port.); Stumme, Η.: Tunis. Märchen und Lieder 2. Lpz. 1893, num. 12; Laoust, E.: Contes berberes du Maroc 2. P. 1949, num. 52; Parsons, Ε. C.: FolkLore of the Sea Islands, South Carolina. Ν. Y. 1923, num. 159. - 2 Noomen, W./Boogard, N. van den: Nouveau Recueil complet des fabliaux 4. Assen/ Maastricht 1988, num. 21. - 3 Röhrich, Erzählungen 1, 192-194; Fischer, H.: Studien zur dt. Märendichtung. Tübingen 21983, num. 135. - 4 cf. jedoch Wossidlo, R.: Volksschwänke aus Mecklenburg, ed. S. Neumann. B. 1963, num. 57; Meier, H./Woll, D.: Port. Märchen. MdW 1975, num. 93; Frobenius, L.: Volksmärchen der Kabylen 1. Jena 1921, num. 28; Parsons, Ε. C.: Folk-Tales of Andros Island, Bahamas. Lancaster/N. Y. 1918, num. 36. - 5 Pauli/Bolte, num. 364. - 6 Sachs, H.: Sämtliche Fabeln und Schwänke 3. ed. Ε. Goetze/C. Drescher. Halle 1894, num. 61; ibid. 2. ed. E. Goetze. Halle 1900, num. 248. - 7 BP 2, 129-131; Moser-Rath, Schwank, 380, 426; de Meyer, Conte; Chevalier, M.: Cuentos folkloricos en la Espana del Siglo de Oro. Barcelona 1983, num. 226; György, num. 174. - 8 Brednich, R. W.: Schwänke in Liedform. In: Gedenkschrift P. Alpers. Hildesheim 1968, 69-90, bes. 84-89 (Ambrosius Osterreych [16. Jh.]). - 'Archiv van der Kooi, Groningen. - 10 Sebillot, C.: Le Folklore de France 3. P. 1906, 216. II KHM/Uther 4, 147-149. - 12 Abdruck bei Moser-Rath, E.: Erzählen auf der Kanzel. In: Fabula 2 (1959) 1-26, hier 22-25. - 13 Schwarzbaum, 453. - 14 Chauvin 6, num. 341; dt. Text in Tauer, F. (Übers.): 1001 Nacht. (Lpz. 1982) Ffm./Lpz. 1995, 618-620. - 15 Levin, I.: Märchen vom Dach der Welt. MdW 1989, 231-233 (tadschik.); Marzolph; Marzolph, U.: Wenn der Esel singt, tanzt das Kamel.

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Prinz, Prinzessin

Mü. 1994, num. 20 (pers.); Larrea Palacin, A. de: Cuentos populäres de los judios del norte de Marruecos 1. Tetuän 1952, num. 66; BFP; Eschker, W.: Der Zigeuner im Paradies. Kassel 1986, num. 71 (serb.). - 16 Thompson/Roberts 1741 A; Pillai-Vetschera, T.: Ind. Märchen. Kassel 1989, num. 17. 17 Schwarzbaum, 57, 453 sq. - 18 Levin (wie not. 15); Jason, Var. 2 (afghan.). - 19 Hodscha Nasreddin 2, num. 543; Röhrich, Erzählungen 1, 201 sq.; de Larrea Palacin (wie not. 15); Marzolph, U.: Nasreddin Hodscha. Mü. 1996, num. 572. - 20 TodorovicSträhl, P./Lurati, O.: Märchen aus dem Tessin. MdW 1984, num. 5.

Groningen

Jurjen van der Kooi

Primitives Kulturgut -»Naturvölkermärchen

Prinz, Prinzessin, von den Brüdern Grimm zur Absetzung gegenüber den frz. Märchen ,Königsohn' und ,-tochter' genannt, sind in der Volksüberlieferung wie König und Königin vorrangig Gestalten des Märchens. Entsprechend den Gesetzen der Gattung handelt es sich nicht um individuell gezeichnete Charaktere — worauf schon das weitgehende Fehlen persönlicher Namen hindeutet - , sondern um stark typisierte Personen. Der P. ist in einer Vielzahl von Fällen der erfolgreiche Märchenheld (-• Held, Heldin) par excellence, kann aber in Var.n ein und desselben Erzähltyps oft durch andere Personen ersetzt sein (cf. ζ. B. AaTTi 304: Der gelernte Jäger). Als Held, der „wesenhaft ein Wandernder" ist1, gelten für ihn die folgenden Kriterien: Er ist untüchtig in der alltäglichen Welt, ohne geistige Ansprüche, nicht dumm (-• Dümmling, Dummling), aber naiv im besten Sinne. Einen Beruf hat er nicht, dafür aber eine Berufung. Er ist neugierig, aktiv, furchtlos, willensstark, durchhaltefahig und wählt immer richtig. Er erahnt jenseitige Zusammenhänge, ist ein Auserwählter, frei in seinen Sozialbeziehungen und Entscheidungen2. Der einer Ethik der Selbstentfaltung unterworfene Ρ ist „Träger einer unterhaltenden Handlung, der gleichzeitig als Sinnbild des gefährdeten, jedoch zum Höchsten prädestinierten Menschen ein ästhetisches und psychologisches Identifikationsmodell anbietet" 3 . W. Solms dagegen nennt den P. „,eine strahlende Null'.

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Es sind ihre eigenen Glücksvorstellungen, die die Leserinnen und Leser an der Figur des Märchenprinzen bewundern. Und damit sie sie mit ihren Phantasien ausfüllen können, muß diese Figur selbst konturlos und abstrakt sein."4 Die Pessin bleibt einerseits in verschiedenen Spielarten desselben Märchens nahezu immer eine Pessin, unterliegt also in dieser Beziehung weit mehr einem -· Identifikationen bis weit über das Märchenalter hinaus 24 . Auch statistisch relevantes Material der mehr als 12000 Einsendungen von Illustrationen zu L. Röhrichs Projekt Kinder malen Märchen25 zeigt in hohem Maß eine Gleichsetzung mit der Rolle von R und Ressin, wie sie ebenfalls im Kinderspiel mit dem Brautschleier oder den Gardinen der Mutter stattfindet 26 . Die Ausstrahlung der Figuren über die Gattung des Volksmärchens hinaus ist beträchtlich. Für die Kinder- und Jugendliteratur werden R und Ressin mit dem Erscheinen von Kindermärchenbüchern gegen Ende des 18. Jh.s relevant. Sie begegnen darüber hinaus als typische Figuren im europ. -> Kunstmärchen der -» Romantik (ζ. B. bei Aleksandr S. ->• Puskin 27 ) und später28, wobei im weiteren Verlauf die Märchenkulisse verlorengehen kann und nur die Gestalten von P. und P.essin erhalten bleiben29. Märchen mit Königssohn und -tochter werden dramatisiert für Film, Fernsehen, Rundfunk, Hörspiel, Oper, Theater, Kasperletheater, Freilicht- und Kindergartenbühne und bieten Stoffe für die gesamte Breite der Printmedien mit all ihren Gattungen 30 . Auf ikonographischer Ebene leben die Gestalten weiter auf Bilderbogen31, in Comics 32 und allg. Illustrationen von Märchenbüchern33. Märchenhafte Anklänge finden sich im ,P. Karneval' oder selbst noch in der Bezeichnung ,P.essin' stolzer Väter für ihre Töchter. Zu erwähnen ist auch die allg. Faszination, die von zeitgenössischen lebenden Ren und P.essinnen ausgeht 34 . In anderen Gattungen der Volkserzählungen sind P. und P.essin entweder gar nicht vorhanden oder relativ bedeutungslos wie in der Ballade 35 und dem Volkslied allg.36, in denen Standesunterschiede oft unüberwindlich sind und nicht selten tragisch enden (cf. AaTh 666*: -»· Hero und Leander), oder in der Legende (-• Einsiedler; -> Keuschheit)37. 1 Lüthi, M.: Das europ. Volksmärchen. Mü. 6 1978, 29, cf. auch 18; id.: Es war einmal. Vom Wesen des Volksmärchens. Göttingen 3 1968, 108 sq. - 2 Horn, K.: Der aktive und der passive Märchenheld. Basel 1983, 6 - 8 9 . - 3 Lüthi, M.: Das Volksmärchen als Dichtung. Düsseldorf/Köln 1975, 168. - "Solms,

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W.: Der Märchenprinz. In: Das selbstverständliche Wunder. Beitr.e germanistischer Märchenforschung, ed. id. (in Verbindung mit C. Oberfeld). Marburg 1986, 4 3 - 6 1 , hier 54. - 5 Wehse, R.: Die P.essin. In: Die Frau im Märchen, ed. id./S. Früh. Kassel 1985, 9 - 1 7 , hier9. - 6 Walther, W.: Märchenp.essinnen in „Tausendundeiner Nacht". In: Verse and the Fair Sex. Studies in Arabic Poetry and in the Representation of Women in Arabic Literature, ed. F. De Jong. Utrecht 1993, 9 2 - 1 0 0 , hier 100. - 7 Lüthi (wie not. 3) 151. - 8 Löwis of Menar, Α. von: Der Held im dt. und russ. Märchen. Jena 1912, 2. - 'Overbeck, Η.: Malai. Erzählungen. Jena 1925, 9 - 1 1 7 . 10 Müller, E.: Das Bild der Frau im Märchen. Mü. 1986, bes. 103-122 (Kap. 6: Von P.essinnen, die nicht heiraten wollen). 11 Töpfer, Α.: Der König im dt. Volksmärchen. (Diss. Jena) Lpz. 1930, 17. - 12 Bettelheim, B.: Kinder brauchen Märchen. Mü. 1980, 217, 241, 244-246, 309, 314; cf. auch Grant Duff, J. F.: Schneewittchen [1934]. In: Laiblin, W. (ed.): Märchenforschung und Tiefenpsychologie. Darmstadt 1969, 8 8 - 9 9 , hier 96 sq., 99; Bausinger, H.: Anmerkungen zu Schneewittchen. In: Brackert, H. (ed.): Und wenn sie nicht gestorben sind ... Ffm. 1980, 3 9 - 7 0 , bes. 60 - 64. 13 Lüthi (wie not. 3) 11-52; Töpfer (wie not. 11) 12. - 14 Löwis of Menar (wie not. 8) 38 sq.; Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 25. - 15 ibid., 211 sq. 16 Töpfer (wie not. 11) 13. - 1 7 Colshorn, C. und T.: Märchen und Sagen aus Hannover. Hannover 1854 (Nachdr. Hildesheim/N. Y. 1975), 154; Neumann, S.: Mecklenburg. Volksmärchen. B. 2 1973, 173. 18 Aley, P.: Jugendlit. im Dritten Reich. Gütersloh 1967, 100; Richter, D./Merkel, J.: Märchen, Phantasie und soziales Lernen. B. 1974. - 19 Hanika, J.: Die schwarzen P.essinnen. Beziehungen eines Märchenmotivs zum Brauchtum. In: Rhein. Jb. für Vk. 2 (1951) 3 9 - 4 7 . - 20 Jung, C. G.: The Collected Works 14.2. ed. W. McGuire. Princeton/N. Y. 1972, 125 (§ 185). 21 EM 3, 710. - 22 Scherf, W.: Ablösungskonflikte in Zaubermärchen und Kinderspiel. In: Medien- und Sexualpädagogik 2,4 (1974) 14-24, hier 18. 23 Bühler, C./Bilz, J.: Das Märchen und die Phantasie des Kindes. Mü. 1958, 27; Psaar, W./Klein, M.: Wer hat Angst vor der bösen Geiß? Zur Märchendidaktik und Märchenrezeption. Braunschweig 1976. - 2 4 Freud, S.: G. W. 2: Die Traumdeutung [1900]. Ffm. 1961, 3 58. - 25 Röhrich, L.: Kinder malen Märchen. Ffm. 1976. - 2 6 Wehse, R.: P , P.essin. In: LKJ 3 (1984) 8 7 - 8 9 . - 2 7 Puskin, Α.: Skazka ο care Saltane [...] (Das Märchen vom Zaren Saltan [...]) [1835], cf. id.: Gesammelte Werke 2. ed. H. Raab. Ffm. 1973, 317-346. - 2 8 z . B . Wilde, O.: The Happy Prince [1888]. In: id.: Complete Works, ed. J. B. Foreman. L./Glasgow 1969, 285-291. - 2 9 SaintExupery, A. de: Le petit Prince. P. 1943. - 3 0 cf. Solms (wie not. 4) 44. — 31 Vogel, H.: Bilderbogen, Papiersoldat. Würfelspiel und Lebensrad. Würzburg 1981, 52, 125, 127. 32 Klußmeier, G.: Alles über P. Eisenherz. Sage -

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Prinz als Vogel

Geschichte - Comic - Roman. Wien 1987. 33 Aley, P.: Märchenkulissen. In: Doderer, K. (ed.): Bilderbuch und Fibel. Eine kritische Analyse der Lit. für Leseanfanger. Weinheim/Basel 1972, 106-113, hier 106. - 3 4 cf. z.B. Bennett, G./Rowbottom, Α.: ,Born a Lady, Died a Saint'. The Deification of Diana in the Press and Popular Opinion in Britain. In: Fabula 39 (1998) 197-208. - 35 Rosenmüller, E.: Das Volkslied „Es waren zwei Königskinder". Diss. Dresden 1917; Wehse, R.: Schwanklied und Flugblatt in Großbritannien. Ffm./Bern/Las Vegas 1979, 156, 169, 280, 332. - 36 Röhrich, L.: Das Bild der Frau im Märchen und im Volkslied. In: Solms (wie not. 4) 83-108. - 3 7 cf. Mot. F 526.4; Tubach, num. 127, 475, 500, 1888, 2095, 2493, 2866, 2971, 3792, 3811, 3952-3957.

München

Rainer Wehse

Prinz als Esel - Belauschen), aus dem hervorgeht, daß der verletzte P. nur mit Hilfe einer aus deren Körpern hergestellten Medizin geheilt werden kann. Die Heldin tötet sie und bereitet das -» Heilmittel zu. (5) In -» Verkleidung als Arzt wird sie in das Zimmer des P.en vorgelassen, wo sie ihn mit der Medizin einreibt. Er wird wieder gesund. Als Bezahlung verlangt sie bestimmte Gegenstände. (6) Sie kehrt heim und ruft wie zuvor ihren Geliebten zu sich. Er kommt, voller Groll über die ihm zugefügte Verwundung. Sie erklärt ihm, daß es nicht ihre Schuld war, und beweist anhand der erhaltenen Gegenstände (-» Erkennungszeichen), daß sie ihn geheilt hat. Das Paar versöhnt sich.

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Kombinationen von Teil (2) und (3) bieten frz. literar. Quellen: Yonec, ein Lai der Marie de France (12. Jh.), sowie Madame d'-> Aulnoys oft nachgedrucktes Feenmärchen L'Oiseau bleu (1697)2. Marie de France erzählt von einer jungen Frau, die von ihrem alten Ehemann in einem Turm gefangengehalten und von dessen Schwester bewacht wird. Ein Falke fliegt ins Fenster der jungen Frau, verwandelt sich in einen schönen Ritter und wird ihr Geliebter. Die Schwester des Ehemanns beobachtet sie, der Ehemann bestückt das Fenster mit spitzen Eisen, der tödlich verwundete Geliebte erklärt der Frau, daß sie mit einem Sohn schwanger sei, der sie beide rächen werde. Die Frau folgt den Blutspuren des Geliebten, und er schenkt ihr auf dem Totenbett einen Ring, der ihren Ehemann alles vergessen lassen werde, und ein Schwert für den künftigen Sohn. Als dieser erwachsen ist, erschlägt er den Mann seiner Mutter am Grab seines Vaters. Bei Madame d'Aulnoy verschwören sich Stiefmutter und Stiefschwester gegen die Heldin; die Patin der Stiefschwester, eine Fee, verwandelt den in die Heldin verliebten P.en in einen Vogel. Nach seiner Verwundung heilt ihn ein zauberkundiger Freund. Die Heldin sucht ihn und kann ihn im Austausch für Geschenke nachts besuchen (-+ Nächte erkauft); in der dritten Nacht erkennt er sie wieder.

Der Version Madame d'Aulnoys sind sowohl die frz. als auch die schwed. mündl. Überlieferung verpflichtet3. In einer allgemeineren Kurzform von AaTh 432 folgt auf Teil (2) und (3) (denen oft Teil [1] vorangeht) eine Suche der Heldin; sie heilt aber den P.en nicht. Diese Kurzform findet sich in neuerer mündl. Überlieferung in Osteuropa 4 und verstreut in sehr verschiedenen Regionen5; die Suchwanderung entspricht oft dem abschließenden Teil von AaTh 425 A: The Monster (Animal) as Bridegroom oder AaTh 425 Β: The Disenchanted Husband: the Witch's Tasks (cf. AaTh 425 sqq.: -» Amor und Psyche). Darüber hinaus haben in der Türkei, Griechenland und Sizilien die vogelgestaltigen Geliebten in AaTh 425 D: Vanished Husband Learned of by Keeping Inn (Bath-house) und AaTh 425 E: Enchanted Husband Sings Lullaby manchmal die charakteristischen Merkmale des Vogelprinzen im 2. Teil von AaTh 432 angenommen 6 . Eine vollständigere Version von AaTh 432 (Teil [2]—[5]) bietet -· Pars pro toto). In Indien sagt die Tochter ,Sobur' (Warte!) 19 , in einer Erzählung aus Fes bittet sie um eine bestimmte Perle 20 ; Sobur bzw. Perle erweist sich als Name eines Pen. In Norwegen und Dänemark soll der Vater den Grünen Ritter von ihr grüßen 21 . In Osteuropa bittet sie um eine Feder des Falken Finist (-> Phönix) 22 .

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Teil (2): Wie in den frz. literar. Quellen wird die Heldin manchmal in einem Turm gefangengehalten (cf. AaTh 1419 E: -> Inclusa)23. Häufiger befindet sie sich einfach allein in ihrem Zimmer. Sie ruft ihren Liebhaber, der nicht immer ein Vogel ist, auf verschiedene Weise herbei: ζ. B. stellt sie ein Gefäß mit Wasser (anderen Flüssigkeiten) bereit, öffnet das Buch, verbrennt einen Teil der Pflanze, Haar oder Pulver 24 . In Indien schwenkt sie einen Fächer aus Federn. Der P. macht ihr oft kostbare Geschenke 25 . Teil (3): Die Gegenspielerinnen sind Schwestern, Stiefschwestern oder die Stiefmutter. Oft bespitzeln sie die Heldin mit Hilfe eines Gucklochs in der Wand zu ihrem Zimmer. Gelegentlich tritt das Bespitzelungsmotiv in Kontamination mit AaTh 511: —• Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein auf und ist dann mit einer Reihe von Schwestern verbunden, die eine zunehmende Anzahl von Augen haben 26 . Nachdem sie die Glasscherben oder Messer angebracht (Mot. S 181) oder entsprechende Vorkehrungen getroffen haben, damit der P. sich verletzt, rufen die Schwestern entweder den P e n selbst herbei oder warten, bis die Heldin es tut. Teil (4): Gewöhnlich macht sich die Heldin als Mann verkleidet auf die Suche (cf. ->• Frau in Männerkleidung). Dem nächtlichen Gespräch eines Vogelpärchens (Tier- 27 , Dämonenpaar 2 8 ) entnimmt sie, daß der P. nur durch eine aus deren Körpern (Blut, Federn etc.) hergestellte Salbe (Getränk) geheilt werden kann. Diese Belauschungsepisode (Mot. Ν 452) ist auch ein Bestandteil von AaTh 613: Die beiden Wanderer, dort mit männlicher Hauptfigur 29 . Mit einer weiblichen Gestalt erscheint sie in frühen literar. Erzählungen aus Indien 30 , für die Überlieferung seit Basile ist dies jedoch außerhalb von AaTh 432 wohl eher ungewöhnlich 31 . In dem sprechenden Vogelpaar finden sich Frau und Liebhaber, ihre Vogelgestalt, die Vogeleigenschaften des Liebhabers widergespiegelt. In einer mexikan. Var. erzählt der P. selbst seiner Liebsten, wie er geheilt werden kann 3 2 . Teil (5) und (6): In Teil (5) erkennt der P. in seinem Zimmer manchmal seine Liebste wieder, nachdem sie ihn geheilt hat; Teil (6) fehlt dann 3 3 . Wenn Teil (6) vorhanden ist, spielen die von der Heldin erbetenen Erkennungszei-

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Prinz als Wolf

chen eine Rolle: das Pferd des P.en, eine Locke aus seinem H a a r 3 4 , sein Ring 3 5 oder H e m d 3 6 . An ihre Stelle tritt m a n c h m a l eine E r k l ä r u n g der Heldin. In der Fassung Α. N . Afanas'evs zeigen sich Held und Heldin dreimal öffentlich in großer Pracht als Z a r e n s o h n u n d Zarentochter, ohne v o m Vater u n d den Schwestern e r k a n n t zu werden 3 7 . In der ind. Überlieferung wird A a T h 432 mit einer anderen Episode eingeleitet: D e r Vater fragt seine Töchter, wem ihr Wohlergehen zu verdanken sei. Die älteren schreiben ihm das Verdienst d a f ü r zu, die jüngste aber beansprucht es f ü r sich selbst (cf. A a T h 923: Lieb wie das Salz)3s. Dieses T h e m a der Selbstbestimmtheit ist f ü r die Gesamtüberlieferung von A a T h 432 bezeichnend: In Teil (2) k a n n die Heldin ihren Geliebten herbeirufen, w a n n immer es ihr gefallt; in Teil (4)—(5) zieht sie aus eigenem Antrieb aus u n d heilt den P.en; in Teil (6) beschwichtigt sie seinen Z o r n und erwirbt von neuem seine Liebe. D a m i t erscheint die Heldin v o n A a T h 432 ebenso als liebende wie als lebenstüchtige Frau. I Ergänzend zu AaTh: Ο Süilleabhäin/Christiansen; Hodne; Aräjs/Medne; SUS; Gasparikovä, num. 105, 584; Delarue/Teneze; Camarena/Chevalier; Pujol; Aprile; MNK; BFP; Archiv G. A. Megas, Athen; Haboucha; Jason; Kurdovanidze; Haring, num. 4.432; Robe; Espinosa 2, 488; cf. auch Ashliman, D. L.: Α Guide to Folktales in the English Language. Ν. Y. u. a. 1987. - 2 Delarue/Teneze; Mme d'Aulnoy: Contes 1. ed. J. Barchilon/P. Hourcade. P. 1997, 73 — 114; Schenda, R.: Tausend frz. Volksbüchlein aus dem 19. Jh. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 9 (1969) 779-952, hier 891; Scherf, Märchenlexikon 1, 101-106. — 3 Delarue/Teneze; Liungman, Volksmärchen, 99. - 4 MNK; BFP; Gasparikovä, num. 584; SUS. - 5 Consiglieri Pedroso, Z.: Portuguese Folk-Tales. L. 1882, num. 12; Hambruch, P.: Malai. Märchen aus Madagaskar und Insulinde. MdW 1927, num. 32; Holbek, B.: Interpretation of Fairy Tales (FFC 239). Hels. 1987, 554; Paredes, Α.: Folktales of Mexico. Chic./L. 1970, num. 34. - 6 Eberhard/Boratav, num. 93; Swahn, J. O.: The Tale of Cupid and Psyche. Lund 1955, 313-326; Boratav, P. N.: Türk. Volksmärchen. Β. 1967, num. 6; Walker, W. S./Uysal, Α.: Tales Alive in Turkey. Cambr., Mass. 1966, 104-111; Hahn, num. 102; Gonzenbach, num. 27. — 7 Swahn (wie not. 6) 19. - 8 Megas, G. Α.: Das Märchen von Amor und Psyche in der griech. Volksüberlieferung. Athen 1971, 180-190. - 9 Marzolph *432 (la); KHM 21. - 10 Swahn (wie not. 6) 212-218. II

BP 2, 265; Boulenger, J.: Les Contes de ma cuisiniere. P. 1935, 187-194 (griech.); Hahn, num. 7;

1324

Mitchnik, H.: Egyptian and Sudanese Folk-Tales. Ox. 1978, 93-100; Stevens, E. S.: Folk-Tales of Iraq. L. 1931, num. 6; Thompson/Roberts. - 12 Muhawi, I./Kanaana, S.: Speak, Bird, Speak Again. Palestinian Arab Folktales. Berk. u.a. 1989, num. 12. 13 Asbjornsen, P. C.: Tales from the Fjeld. L. 1874, 311-317; Calvino, I.: Italian Folktales. Ν. Y. 1980, num. 18. - 14 Schwartz, H.: Elijah's Violin and Other Jewish Folktales. Ν. Y. 1983, 19-24. l5 Klaar, M.: Die Pantöffelchen der Nereide. Kassel 1987, num. 16 (griech.). - 16 Busk, R. Η.: The FolkLore of Rome. L. 1874, 46-65; Folk-Lore J. 2 (1884) 241 sq., num. 10; Hahn, num. 7; Hansen 432**A, 432**B. - 17 Busk (wie not. 16) 63-65. 18 Afanas'ev, num. 234 sq. (engl: Russian Fairy Tales. Ν. Y. 1945, 580-588); Boulenger (wie not. 11) 187-194; Bain, R. N.: Russian Fairy Tales from the Skazki of Polevoi. L. 1901, 188-199. - 19 Thompson/Roberts; cf. Megas (wie not. 8) 185. - 20 El Fasi, M./Dermenghem, E.: Nouveaux Contes fasis. P. 1928, 7 - 3 2 . 21

Hodne; Asbjornsen (wie not. 13) 311-317. Bain (wie not. 18) 188-191; Scherf, Märchenlexikon 1, 291-295; Afanas'ev (wie not. 18); SUS. 23 Calvino (wie not. 13); D'Aronco, Toscana 432 (a,b); Holbek (wie not. 5) 554; Pichette, J.-P.: L'Oiseau bleu. In: Festschr. L. Lacourciere. Ottawa 1970, 321-329. - 24 Megas (wie not. 8) 183. - 25 d'Aulnoy (wie not. 2); cf. Delarue/Teneze; Muhawi/Kanaana (wie not. 12); Klipple; Hahn, num. 7; Kronenberg, Α. und W.: Nub. Märchen. MdW 1978, num. 27. - 26 Berze Nagy, num. 432; Espinosa, A. M.: The Folklore of Spain in the American Southwest. Norman/L. 1985, 191-195; Gasparikovä, num. 584; Romero, S.: Contos populäres do Brasil, ed. L. da Cämara Cascudo. Rio de Janeiro 1954, 128-136. 27 Boulenger (wie not. 11); Busk (wie not. 16) 46-56; Kronenberg (wie not. 25); Megas (wie not. 8) 184. 28 Busk (wie not. 16) 57-63; Crane, T. F.: Italian Popular Tales. Boston 1885, num. 3. - 29 Christensen, R. T.: The Tale of the Two Travellers (FFC 24). Hamina 1916, 59-80. - 30 ibid., 118-124. 31 Basile 2,5; Dawkins, R. M.: Modern Greek Folktales. Ox. 1953, num. 25; Marzolph *432 (4). 32 Robe. - 33 Busk (wie not. 16) 57-62; Asbjarnsen (wie not. 13); Muhawi/Kanaana (wie not. 12); Stevens (wie not. 11); Meier, H.: Span, und port. Märchen. MdW 1940, num. 20; Schwartz (wie not. 14). - 34 Klipple; Schneller, C.: Märchen und Sagen aus Wälschtirol. Innsbruck 1867, num. 21. - 35 PinoSaavedra, Y.: Folktales of Chile. Chic. 1968, num. 17. - 36 Pichette (wie not. 23). - 37 Afanas'ev (wie not. 18). - 38 Thompson/Roberts 432, 923 B. 22

Berkeley

Christine Goldberg

Prinz als Wolf (AaTh 428), Z a u b e r m ä r c h e n aus dem Umkreis der Tierbräutigamerzählungen:

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Prinz als Wolf

Ein Mädchen im -> Dienst einer Dämonin bekommt eine Reihe schwieriger -• Aufgaben gestellt, darunter die, einen ->• Brief zu überbringen, in dem es heißt, die Empfängerin, eine andere Dämonin, solle das Mädchen töten. Durch den Beistand eines Wolfs entrinnt es jedoch dem Anschlag. Die hilfreiche Tat löst den Zauber, unter dem der Wolf steht; er verwandelt sich in einen P.en (-• Erlösung) und heiratet das Mädchen.

Die Motive, aus denen dieses Märchen besteht, sind eng mit der abschließenden Sequenz von AaTh 425 B: The Disenchanted Husband: the Witch's Tasks bzw. AaTh 425, Subtyp A nach der Beschreibung J.-Ö. Swahns 1 verwandt (cf. AaTh 425 sqq.: Amor und Psyche). Das Eingangsmotiv vom Dienst beim Dämon erscheint auch in AaTh 310: —» Jungfrau im Turm und AaTh 314: —• Goldener. Der Motivkomplex der unlösbaren Aufgaben kommt ebenfalls in vielen Märchen vor. Charakteristisch für AaTh 428 sind Mot. Η 931: Tasks assigned in order to get rid of hero sowie die beiden verwandten Motive Mot. Κ 978: Uriah letter und Mot. Κ 511: Uriah letter changed. Falsified order of execution — Motive, wie sie sich in AaTh 461: Drei -> Haare vom Bart des Teufels und AaTh 930 sqq.: Uriasbrief finden. Das bezeichnendste Motiv von AaTh 428 ist Mot. Β 435.3: Helpful wolf In der Mehrzahl der Var.n, die AaTh 428 zugeschrieben werden 2 , fehlen jedoch viele dieser Motive, einschließlich des letzten, das für den Erzähltyp bestimmend ist, so daß die Typenzuweisung äußerst fraglich erscheint. Der jap. Erzähltypenkatalog von H. -• Ikeda erwähnt zahlreiche Var.n, obwohl diese hauptsächlich nur das Motiv des Uriasbriefes enthalten. Darüber hinaus verweist Ikeda auf den Erzähltyp 105 im chin. Katalog W. ->· Eberhards, in dem es zwar auch um die Übermittlung eines Briefes, jedoch nicht um dessen Vertauschung geht. I.-H. Choi wiederum klassifizierte mit Verweis auf Ikeda und Eberhard als Typ 668 im korean. Katalog Var.n, deren Schwerpunkte auf dem Motiv des Uriasbriefes liegen. Var.n von AaTh 428 finden sich vor allem in Sammlungen aus Europa, so Lettland, Estland, Finnland, Dänemark, Schweden, Rußland, Ungarn, Italien, Frankreich, Katalonien, Spanien und Portugal. Daneben gibt es Belege aus serbokroat. und türk. sowie aus südamerik. Überlieferung. Viele der Märchen aus diesen Sammlungen scheinen frag-

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mentarisch zu sein. Häufig enthalten sie nur eine kleine Anzahl der Motive, die gewöhnlich mit dem Erzähltyp verbunden werden. Tatsächlich kommt in vielen Var.n, die AaTh 428 zugerechnet werden, keine Verwandlung des hilfreichen Wolfs in einen P.en vor. Eine bes. ausführliche Var. bietet S. -> Grundtvigs Sammlung dän. Märchen 3 , in der der P. in Gestalt eines kleinen weißen -» Hundes erscheint. Wahrscheinlich wurde A. -> Aarne durch seine Kenntnis solcher nord. Märchen dazu veranlaßt, AaTh 428 als eigenständigen Erzähltyp, getrennt von dem geläufigeren und weitverbreiteten Typ AaTh 425, aufzuführen 4 . Als einer der frühesten Belege von AaTh 428 wurde die Geschichte von Otherus und Syritha in den Gesta Danorum (Buch 6) des Saxo Grammaticus herangezogen. Die Hauptübereinstimmung von Saxos Erzählung und AaTh 428 besteht im Dienst im Haus der Riesin (Mot. G 462). A. Olrik 5 hielt die Geschichte von Otherus und Syritha für von AaTh 301: Die drei geraubten -> Prinzessinnen beeinflußt, F. von der ->• Leyen 6 , E. -» Tegethoff 7 und E. Philippson 8 betrachteten sie als von AaTh 900: König Drosselbart abgeleitet. I. M. ->• Boberg 9 untersuchte das Motiv von den sprechenden Nahrungsmitteln in Saxos Erzählung in Zusammenhang mit AaTh 428 und zog den Schluß, daß die Geschichte aus Südosteuropa nach Skandinavien gelangt sei. Zu anderen engen Parallelen gehört die literar. Amor und Psyche-Erzählung des Apuleius aus dem klassischen Altertum 10 , mit der wiederum das Kusa-Jätaka (-• Jätaka) in Zusammenhang gebracht wird 11 . Diese Erzählungen sind jedoch in der Regel enger mit den bekannteren Formen von AaTh 425 verwandt. In seiner Monogr. The Tale of Cupid and Psyche sprach sich Swahn überzeugend dagegen aus, AaTh 428 getrennt von AaTh 425 als eigenständigen Erzähltyp aufzufassen 12 . Als Gründe führte er die Bruchstückhaftigkeit der meisten Belege sowie die Willkürlichkeit, mit der sie dem Typ zugeordnet wurden, an. Er hält diese Erzählungen für eng mit den ältesten Var.n des Amor und Piyc/ie-Märchens (AaTh 425 Β bzw. Swahns Subtyp A) verwandt; sie sollten daher in Zusammenhang mit anderen Erzählungen betrachtet werden, auf die das Muster dieses Subtyps paßt. W. -» Anderson schloß sich dieser Auffassung an 13 :

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Prinz, dessen Wünsche in Erfüllung gingen

„Der sogenannte Märchentypus AaTh 428 ist nichts anderes als der zweite Teil des Swahnschen Subtypus Α des Märchentypus 425 — also der Schlußteil des ,echten Psychemärchens'[...]". Boberg betrachtete AaTh 428 als eigenen Erzähltyp, ihre Analyse beruht jedoch weitgehend auf fragmentarischen Fassungen. Wie Anderson faßte auch W. Liungman 14 die AaTh 428 zugeordneten Erzählungen als Var.n von AaTh 425 auf, und somit stimmen beide mit Swahn überein, daß AaTh 428 keinen eigenständigen Erzähltyp darstellt. 1 Swahn, J.-Ö.: The Tale of Cupid and Psyche (Aarne-Thompson 425 & 428). Lund 1955, 29-31. — 2 Ergänzend zu AaTh: SUS; Aprile; György, num. 73. - 3 Grundtvig, S.: Gamle danske Minder i Folkemunde 1. Kop. 1854, 100-105. - 4 Aarne, Α.: Das Verz. der Märchentypen [...] (FFC 3). Hels. 1910. - 5 Olrik, Α.: Märchen in Saxo Grammaticus. In: ZfVk. 2 (1892) 117-123, 252-258, 367-374. 6 Leyen, F. von der: Das Märchen in den Göttersagen der Edda. B. 1899, 11. - 7 Tegethoff, E.: Studien zum Märchentypus von Amor und Psyche. Bonn/ Lpz. 1922, 118. - 8 Philippson, E.: Der Märchentypus von König Drosselbart. Greifswald 1923, 98 sq. - 'Boberg, I. M.: The Tale of Cupid and Psyche. In: Classica et medievalia 1 (1938) 177-216, hier 179 sq. - 10 Swahn (wie not. 1) 373-380. - "ibid., 387-390. - 12ibid., 363-370. - 13 Anderson, W.: Eine neue Monogr. über Amor und Psyche. In: HessBllfVk. 46 (1955) 118-130, hier 123. 14 Liungman, W.: Varifran kommer vära sagor? Djursholm 1952, 122 sq.

Los Angeles

Timothy A. Tangherlini

Prinz, dessen Wünsche in Erfüllung gingen (AaTh 652), relativ selten überliefertes 1 Zaubermärchen, in dem die übernatürlichen Kräfte des Helden im Mittelpunkt stehen: Der Pate (Gott, Jesus -> Christus, Bettler, Soldat, Maria etc.) stattet einen P.en bei der Taufe mit der Fähigkeit aus, daß seine -» Wünsche in Erfüllung gehen. Als ein Neider (Diener, Gärtner, Koch, Kammerherr, Schmied, General, Zwerg, Hofnarr etc.) von der außergewöhnlichen Begabung erfährt, entführt er das Kind (-• Entführung), tropft der schlafenden Königin Blut auf den Mund (Kleider) und bezichtigt sie des -» Mordes und des -> Kannibalismus. Während die Königin eingekerkert ist, ziehen Pflegeeltern den P.en auf, und der Entführer nutzt die Zauberkräfte, indem er ihn Reichtümer (Schloß) wünschen läßt. Nach einiger Zeit verliebt sich der P. in seine Adoptivschwester (die herbeigewünschte

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Spielgefährtin), die ihm seine wahre Identität enthüllt. Der P. verwandelt seinen Entführer in einen Hund, seine Geliebte in eine Blume (Nelke, Lilie, Rose; -> Verwandlung) und zieht mit diesen zurück an den Hof seines Vaters, wo er als Jäger in dessen Dienste tritt. Schließlich teilt er seinem Vater mit, daß er sein totgeglaubter Sohn sei, worauf die Königin aus dem Kerker befreit und der Betrüger entzaubert und bestraft wird. Der P. entzaubert auch seine Geliebte (-• Erlösung) und heiratet sie. Aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s wurde AaTh 652 im Baltikum, in Skandinavien, Irland, Frankreich, Italien, den Niederlanden und Deutschland sowie in ost- und südosteurop. Sprachgemeinschaften aufgezeichnet. Außerhalb Europas ist der Erzähltyp im Irak, in Armenien, Ägypten, Tunesien sowie im frz.sprachigen Kanada belegt 2 . Die Version in der 1. Aufl. der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm (KHM 76 [1812]: Die Nelke) stammt von der Familie Hassenpflug aus Kassel, die in der 2. Aufl. (1819) von Katharina Dorothea Viehmann 3 . Die Viehmann-Version ist religiös gefärbt: Die Königin gebiert ihren Sohn nach einem inbrünstigen Gebet. Als sie in den Kerker geworfen worden ist, schickt Gott ihr zweimal täglich zwei Engel in Gestalt weißer Tauben, die ihr Nahrung bringen. Nach ihrer Befreiung lebt die Königin noch drei Tage und stirbt dann selig. Die zwei weißen Tauben und die Engel weilen an ihrem Grab. In dieser Version wird der Entführer in einen Hund verwandelt, der glühende Kohlen zu fressen bekommt - ein narratives Element, das häufig in AaTh 652 verwendet wird4. Durch die Nachwirkung der K H M ist das Märchen Teil der mündl. Überlieferung geworden bzw. in diese zurückgekehrt: Eine ndl. Version, die um 1890 in der Provinz Nordbrabant aufgezeichnet wurde, kann als Nacherzählung der schriftl. fixierten Viehmann-Version betrachtet werden 5 . Anklänge an AaTh 652 finden sich bereits in der anonymen mittelndl. Reimdichtung Esmoreit6, die Ende des 14. Jh.s in Brabant aufgezeichnet und in einer singulären um 1410 datierten Hs. überliefert ist 7 . Als Schauspiel wurde Esmoreit wohl nur kurze Zeit in der Umgebung von Brüssel aufgeführt. Eine Beeinflussung der mündl. Überlieferung ist daher unwahrscheinlich. In Esmoreit bekommt ein Ehepaar ein Kind, das entführt wird. Die Mutter wird des Mordes verdächtigt und eingekerkert, das Kind wird an einem anderen Ort erzogen. Es kehrt als Erwachsener zurück,

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Prinz, dessen Wünsche in Erfüllung gingen

die Mutter wird befreit und der Täter bestraft. Schließlich heiratet der junge Mann seine Geliebte. Esmoreit enthält allerdings zwei gravierende Unterschiede zu AaTh 652: Einerseits thematisiert der Dichter einen Gegensatz zwischen Christentum und Islam; andererseits hat er die Handlung offenbar realistisch darstellen wollen und verzichtet auf sämtliche magischen bzw. wunderbaren Elemente. Daraus ergeben sich auffällige Inkonsequenzen, ζ. B. wenn Esmoreit nicht getötet wird, obwohl er eine Bedrohung darstellt. Dies läßt sich nur dadurch erklären, daß das entführte Kind lebend mehr wert ist als tot. Im Zusammenhang mit AaTh 652 wird gelegentlich auf Basiles Erzählung La mortella (1,2) verwiesen, die jedoch eine Fassung von AaTh 652 A: - Myrte bzw. AaTh 407: ->· Blumenmädchen darstellt. Dort spielt zwar die Metamorphose der Geliebten von einer Blume (blühender Zweig) in ein Mädchen eine wichtige Rolle, es fehlen aber für AaTh 652 zentrale Handlungselemente wie die Entführung und die falsche Verdächtigung sowie das konstituierende Element, daß die Wünsche des P.en in Erfüllung gehen. In Typenkatalogen werden Märchen des Typus AaTh 652 Α gelegentlich zu AaTh 652 gestellt8. Die Forschung zu AaTh 652 hat sich vor allem mit dem Aufzeigen von Parallelen beschäftigt. So wurde auf Übereinstimmungen mit KHM 160, AaTh 407 hingewiesen9. Auch in KHM 56: Der Liebste Roland wird ein Blumenmädchen genannt, das von einem Schäfer gepflückt und später entzaubert wird10; der Kern dieses Märchens gehört jedoch zu AaTh 313 sqq.: -> Magische Flucht. In Blumen verwandelte Mädchen kommen auch in Balladen und Volksliedern vor 11 . Motive und Episoden von AaTh 652 erscheinen auch in zahlreichen anderen Zaubermärchen 12 . Innerhalb des Erzähltyps selbst werden einzelne Elemente oft variiert 13 . So wächst der R häufig bei seinem Entführer auf, in einigen Fällen (zunächst) bei Pflegeeltern14. Manchmal wird keine Adoptivschwester oder herbeigewünschte Spielgefährtin genannt, sondern eine Pflegemutter; diese kann zwar in eine Blume verwandelt werden, eine Eheschließung am Schluß der Geschichte ist jedoch ausgeschlossen15. Die leibliche Mutter des P.en ist in einigen Versionen bereits gestorben (von ihrem

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Ehegatten lebendig begraben worden), kann aber vom P.en wieder zum Leben erweckt werden (-• Wiederbelebung)16. Interessant ist auch das Element des Kannibalismus: In manchen Fassungen beschuldigt der Entführer nicht nur die Mutter, das Kind verzehrt zu haben, sondern schreckt auch selbst davor nicht zurück: Er erteilt den Auftrag, das Kind zu töten und als Beweis bestimmte Körperteile (Zunge, Herz, Leber, Gehirn, Augen) vorzuzeigen, um diese anschließend zu verzehren und hierdurch die wunderbaren Eigenschaften des Opfers auf sich zu übertragen (cf. auch AaTh 567: Das wunderbare -* Vogelherz)17; die mit der Tötung beauftragte Person erbarmt sich jedoch (Mot. Κ 512) und bringt die Organe eines geschlachteten Tieres (-• Tierherz als Ersatz) zurück 18 . Der angebliche bzw. beabsichtigte Verzehr von Menschenfleisch ist hier also nicht etwa als Relikt primitiver Zivilisationsphasen zu verstehen, aus denen das Märchen überliefert wäre, sondern als ultimativer Ausdruck eines Verbrechens, das die entsprechende Person als Unmenschen charakterisiert. Dementsprechend wird der Entführer am Schluß der Geschichte in den Kerker geworfen oder zum Tode verurteilt, oft muß er den Rest seines Lebens in Verwandlung als Hund fristen 19 . Alle Texte erzählen auf ihre Weise, wie Habgier zu Verbrechen, Lüge und (Macht-) Mißbrauch führt, haben aber ohne Ausnahme einen positiven Schluß, in dem die Gerechtigkeit triumphiert. In manchen Versionen verbirgt sich hinter dem Abschluß die Hand Gottes, der gelegentlich bereits früher in die Handlung (als Pate, durch Brot als Himmelsgabe) eingegriffen hatte. Wie so oft im Märchen, kommt in AaTh 652 das Wunderbare mit einem hohen Grad an Selbstverständlichkeit vor. Auch die Wünsche und Verwandlungen werden ohne viel Aufhebens in das Märchen eingeführt. Letztere sind allerdings mit Symbolik beladen: Die Verwandlung des Entführers in einen Hund ist mit Konnotationen von Unterwerfung und Demütigung verbunden. Bei der Verwandlung des Mädchens in eine Blume überwiegen positive Werte wie Anmut, Unschuld, Reinheit, Jungfräulichkeit, Schönheit und erotische Attraktivität. 1 Ranke 2, 379; KHM/Uther 4, 146. - 2 Ergänzend zu AaTh: Aräjs/Medne; SUS; Kecskemeti/Paunonen; Ο Suilleabhäin/Christiansen; Delarue/Teneze; Cirese/

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Prinzessin auf der Erbse

Serafini; Gasparikovä, num. 24, 91; BFP; M N K ; Guilakjan; Jason; Jason, Types; Jason, Iraq. 3 KHM/Rölleke 3, 475; KHM/Uther 4, 145 sq.; BP 2, 121-123. - 4 Aräjs/Medne; BFP; Koväcs, Α.: Ung. Volksmärchen. MdW 1974, 161-167; Sinninghe, J. R. W.: Vijftig Nederlandse sprookjes. Amst. 1942, 3 7 - 4 0 ; Schambach, G./Müller, W.: Niedersächs. Sagen und Märchen. (Göttingen 1854) Nachdr. Stg. 1948, 282-285. - 5 Sinninghe (wie not. 4); Blecourt, W. de: Volksverhalen uit NoordBrabant. Utrecht/Amst. 1980, 9 6 - 9 9 ; Bodker, L./ Hole, C./D'Aronco, G.: European Folk Tales. Kop. 1963, 108-111 (ndl.). - 6 Esmoreit. Middeleeuwsch drama, ed. P. Leendertz. Zutphen [1938]; Esmoreit. ed. Α. M. Duinhoven. Zutphen [1979]. - 7 Zum folgenden cf. Meder, T.: Esmoreit. De dramatisering van een onttoverd sprookje. In: Queeste 3 (1996) 18-24. — 8 Flowers. - ' T h o m p s o n , S.: The Folktale. Ν. Υ. 1946, 9 3 - 9 7 . - 10 Scherf, 258 sq. 11 Erk/Böhme 1, num. 9; BP 2, 127 sq.; KHM/Uther 4, 146. - 12 ibid. - 13 BP 2, 121-128. - 14 Ranke 2, 3 8 0 - 3 8 4 (3 Var.n); BP 2, 122 sq. - 15 Oberfeld, C.: Volksmärchen aus Hessen. Marburg 1962, 6 3 - 6 6 ; Geramb, V. von: Kinder- und Hausmärchen aus der Steiermark. Graz/Wien 3 1948, 173-181; Schambach/Müller (wie not. 4); cf. Ranke 2, 380-384. 16 Gasparikovä, num. 91; Koväcs (wie not. 4) 161-167; BP 2, 124. - " R a n k e 2, 383; cf. auch Visser, M.: The Rituals of Dinner. Ν. Y. 1991, 4 - 1 7 . - 18 Teneze, M. L./Hüllen, G.: Begegnung der Völker im Märchen 1. Münster 1961, 8 2 - 8 8 , 150 (frz.); cf. Delarue/Teneze 2, 549-553, bes. 552; Oberfeld (wie not. 15) 6 3 - 6 6 ; Ranke 2, 380-383. - 19 BP 2, 122 sq.; BFP; Ranke 2, 383 sq.; Geramb (wie not. 15) 170-178.

Amsterdam

Theo Meder

Prinzessin auf der Erbse (AaTh 704), von dem dän. Dichter Hans Christian Andersen verfaßtes, 1835 veröff. Märchen: Ein Prinz möchte nur eine wirkliche P. heiraten, aber seine Suche bleibt erfolglos. Eines Abends gelangt ein Mädchen ins Schloß, das erklärt, eine echte P. zu sein. Die Königin prüft es, indem sie ihm unter 20 Matratzen und 20 Eiderdaunendecken eine E. ins Bett legt. Am nächsten Morgen klagt das Mädchen, es habe auf etwas Hartem gelegen, und erweist sich durch seine Empfindlichkeit als echte P. (-» Zeichen edler Herkunft). Der Prinz heiratet das Mädchen.

Andersens Aussage, er habe das Märchen in der Kindheit gehört und dann in seiner Weise wiedergegeben1, wurde wegen mangelnder Parallelen in der dän. Volksüberlieferung angezweifelt2. Die Möglichkeit, daß schon vor

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Andersen eine ähnliche Erzähltradition in Europa bestanden haben könnte, ist allerdings nicht völlig auszuschließen; für diesen Fall erscheint jedoch A. Christensens Annahme einer Herkunft des Andersen-Märchens aus Deutschland zu eingeschränkt3. Dem Märchen liegen drei Erzählmotive zugrunde, von denen zwei sehr alt und vermutlich oriental. Herkunft sind4: (1) Das überwiegend misogyn instrumentalisierte Motiv weiblicher Uberempfindlichkeit ist in unterschiedlichen lächerlich überspitzten bzw. jenseits aller Realität liegenden Ausformungen (ζ. B. Verwundung durch Rosenblatt, Haar im Bett, Kopfschmerz durch Mörsergeräusch) in mehreren Traditionssträngen belegt: in Redaktionen der -• Vetälapancavimsatikä5, mit vermutlichen Abzweigungen in die Elite des Contes (1643) des Sieur d' -» Ouville 6 und in katalan. 7 und ital. 8 Märchen; in einer pseudohist. arab.-pers. Überlieferung (9.-13. Jh.) 9 ; im ind.pers. Papageienbuch10, mit einem Ausläufer in den Peregrinaggio des -» Christoforo Armeno"; sowie in einer singulären chin. Anekdote 12 . Die Geschichte vom Sybariten Smindyrides, der sich über schlechten Schlaf in einem Bett aus Rosenblättern beklagte (Seneca, De ira 2,25,2 [41 - 4 9 p. Chr. n.]; Claudius Aelianus, Variae historiae 9,24 [2./3. Jh.]), dürfte trotz ihres Alters wohl kaum den Ursprung des Motivs bilden 13 ; dagegen sprechen Fülle und Variabilität des oriental. Materials. (2) Das Motiv der Bettprobe als männliche -» Scharfsinnsprobe ist Bestandteil mehrerer Fassungen von AaTh 655, 655 A: Die scharfsinnigen -> Brüder: Bei einem Herrscher legen die Brüder Proben ihrer Kennerschaft (sog. Tisch-, Bastard-, Bettprobe) ab, wobei der Bettkenner (oft durch sieben Decken hindurch) ein Haar im Bett spürt. J. Schicks Dokumentation 1 4 zufolge scheinen sich die literar. Fassungen, in denen der Bettkenner vorkommt, auf Redaktionen der Vetälapancavimsatikä15 und den Kathäratnäkara16 zu beschränken; hinzu kommen einige neuere Volkserzählungen aus Süd- und Südostasien 17 . U m eine weniger subtile Wahrnehmung — der Bettkenner schläft in einem beschädigten Bett — handelt es sich in dem Beleg im Midrasch Echa Rabbati (5. Jh.) 18 . In veränderter Form (die Lehrer prüfen den Scharfsinn eines Prinzen, indem sie ihm Efeublätter unter die Bettpfosten legen) erscheint die Bettprobe in Redaktionen der -> Sieben weisen Meister19. Uber die reiche ir. Volksbuchtradition könnte diese Geschichte in die mündl. ir. Überlieferung gelangt sein, in der sie als Anekdote über den Philosophen Aristoteles erzählt wird, dessen Frau sich hier den Scharfsinn ihres Mannes zunutze macht, um ihn zum Narren zu halten 20 . Weitere von der Tradition der Sieben weisen Meister abhängige Versionen des 20. Jh.s kommen in der mündl. Überlieferung der Mallorquiner, Usbeken und der Juden des pers.afghan. Bereichs 21 sowie im amerik. Film 22 vor.

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Prinzessin auf der Erbse

(3) Als -» Brautprobe ist die Bettprobe Bestandteil nord. (bes. schwed. und finn.) mündl. Var.n von AaTh 545 A: -» Katzenschloß21, in denen das Mädchen die Prüfung mit Hilfe seiner Katze besteht. G. Christensen hat auf eine Reihe schwed. Belege des 19. Jh.s, darunter eine Var. von 1830, aufmerksam gemacht 24 . Möglicherweise bildete ein solches Märchen Andersens Vorlage 25 .

Mit AaTh 704 verwandt ist das Märchen vom Erbsensucher26, das Elemente von AaTh 1430, 1681*: ->• Luftschlösser mit der Bettkennergeschichte bzw. der Bettprobe und Bestandteilen von AaTh 545 Α bzw. AaTh 545 B: Der gestiefelte -» Kater kombiniert und gelegentlich auch in Verbindung mit AaTh 812: - Kinder- und Hausmärchen (KHM 182 [1843])36. Als Grund für die Tilgung aus der 6. Aufl. der KHM gilt allg. ihre angebliche große Ähnlichkeit mit der Andersen-Version37, doch hat J.-M. Adam jüngst strukturelle und inhaltliche Unterschiede herausgearbeitet38. Dennoch und trotz des relativ kurzen zeitlichen Abstandes (erste dt. Übers, des Andersen-Märchens 1839, Zweitauflage 184039, Aufzeichnung des Grimm-Märchens 184040) ist angesichts der oft beträchtlichen Umgestaltungen, die durch mündl. Erzähler vorgenommen werden, eine Abhängigkeit von der Andersen-Version möglich bzw. wahrscheinlich. Das gilt auch für die litau. Fassungen und die span. Var. Während W. -> Berendsohn Andersens Märchen unter dessen Hof- und Gesellschaftssatiren zählte 41 , projizierte B. Lundt es auf die Lebensbedingungen ma. Königinnen und interpretierte den E.ntest als Tauglichkeitsprobe

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der Gebärerinnen und Erzieherinnen künftiger Könige 42 . M. Maar sah die Ρ auf der E. als Ausdruck von Andersens Hypochondrie und seiner Ängste an 43 . Adam betonte u.a. die kommunikativen Aspekte: Der Prinz leide an einer semiologischen Krankheit, die ihm verbale und nonverbale Zeichen verdächtig mache 44 . Als ironisches Spiel mit Wahrheit und Wirklichkeit faßte C. -> Shojaei Kawan die P. auf der E. auf*5, entsprechend der These S. Baggesens, daß bei Andersen der vordergründige Text immer auch einen Subtext enthält, der die eigentliche Bedeutung birgt46. I H. C. Andersens Eventyr 1 - 7 . ed. E. Dal u.a. Kop. 1963-90, hier t. 1, 19 sq.; t. 6, 4; Andersen, H. C.: Gesammelte Märchen 1. Lpz. 1847, V. - 2 Christensen, G.: H. C. Andersen og de danske folkeeventyr. 2: Kilderne for de enkelte eventyr. In: DSt. (1906) H. 4, 161-174, hier 168 sq.; Holbek, B.: Hans Christian Andersen's Use of Folktales. In: The Telling of Stories, ed. M. Nejgaard u.a. Odense 1990, 165-177, hier 166; Penzer, Ν. M. (ed.): The Ocean of Stories 6. Delhi u. a. 2 1923, 290. - 3 Christensen, Α.: La Princesse sur la feuille de myrte et la princesse sur le pois. In: Acta Orientalia 14 (1936) 241-257, hier 257. - 4 Zur Motivgeschichte cf. Shojaei Kawan, C.: The Princess on the Pea. Tradition and Interpretation. In: A Century of Folklore/Sada aastap folkloori uurimist. ed. M. Köiva. Tartu 2002, 5 5 - 7 1 . - 5 Ruben, W.: Ozean der Märchenströme. 1: Die 25 Erzählungen des Dämons (Vetälapancavimsati) ( F F C 133). Hels. 1944, 142 sq.; Vetalapantschavinsati. Übers. H. Uhle. Mü. 1924, 63, 159 sq.; Baitäl Pachisi [...]. ed. H. Oesterley. Lpz. 1873, num. 10. 6 L'Elite des Contes du Sieur d'Ouville 2. ed. G. Brunet. P. 1883, 149-151. - 7 Amades, num. 393; Aleover, Α. M.: Aplec de rondaies mallorquines 6. Palma de Mallorca 1953, 49 sq.; t. 11 (1956) 18-26. 8 Schneller, C.: Märchen und Sagen aus Wälschtirol. Innsbruck 1867, num. 45. — 'Christensen (wie not. 3) 241-250. - 1 0 Hatami, M.: Unters.en zum pers. Papageienbuch des NahsabT. Fbg 1977, num. 35; ergänzend: Die Sukasaptati (Textus ornatior). Übers. R. Schmidt. Stg. 1899, num. 5, 17; Die Maräthl-Uebers. der Sukasaptati. Übers, id. Lpz. 1897, num. 5, 9; Marzolph, U.: Die Vierzig Papageien. Walldorf 1979, num. 5. II Die Reise der Söhne Giaffers [...]. ed. H. Fischer/ J. Bolte. Tübingen 1895, 116-132. - 12 Ting. 13 Möglicher Ursprung in Griechenland laut Christensen (wie not. 2) 173; E. Rohde, zitiert nach Schick, H.: Die Scharfsinnsproben 1 - 2 . Lpz. 1934/ 38, hier t. 1, 144; Ruben (wie not. 5) 144. - 14 Schick (wie not. 13). - " i b i d . 1, 90-134; cf. Ruben (wie not. 5) 139-141; Uhle (wie not. 5) 120-126; Oesterley (wie not. 5) num. 23. - 16 Kathäratnäkara 2. Übers. J. Hertel. Mü. 1920, num. 205-208, bes. num. 207; cf. Schick (wie not. 13) t. 1, 134-136. -

1335 17

Prinzessin in der Erdhöhle

ibid., 136-141; Lorimer, D. L. R.: The Burushaski Language 2. Oslo u.a. 1935, 405-409 (= Thompson/Balys F 647.9.1); Gaudes, R.: Kambodschan. Volksmärchen. B. 1987, num. 34; de Vries, 120-122. - 18 Schick (wie not. 13) t. 1, 243-248 (= Hasan-Rokem, G.: Web of Life. Folklore and Midrash in Rabbinic Literature. Stanford, Calif. 2000, 47 sq.) - 19 cf. z.B. La Scala Coeli de Jean Gobi, ed. M.-A. Polo de Beaulieu. P. 1991, 377 (zu num. 520); Le Roman des sept sages, ed. J. Misrahi. P. 1933, V. 381-396; Dyocletianus Leben von Hans von Bühel, ed. A. Keller. Quedlinburg/Lpz. 1841, V. 320—352; Le Roux de Lincy: Roman des sept sages. P. 1838, 4 sq.; Storia di Stefano figliuolo d'un imperatore di Roma. ed. P. Rajna. Bologna 1880, Strophe 28-32. - 20 Freundliche Mittig von D. 0 hÖgäin, Dublin; Aufzeichnungen: Univ. College Dublin, Department of Irish Folklore, Irish Folklore Collection Mss. num. 913, p. 196 und num. 1492, p. 271-273; Irish Folklore Collection Almqvist Tape 1967: 1 und 1974: 6; cf. auch Almqvist, B.: Arastotail ar an mBlascaod (Aristoteles auf Blasket Island). In: Festschr. G. Mac Eoin (im Druck). 21 Aleover (wie not. 7) 2 (1936) 141-147 (= Schick [wie not. 13] t. 2, 445); Afzalov, M. I./Rasulev, Ch./ Chusainova, Z.: Uzbekskie narodnye skazki 2. Taschkent 21963, 389-401; IFA, num. 4099, 2483. - 22 Murder by Death. USA 1976 (Regie: R. Moore). - 23 EM 7, 1128; BP 3, 331 sq.; Rausmaa, SK 1, num. 85; Hodne 545 B, Var. 34 (= Hodne 704, Var. 3). - 24 Christensen (wie not. 2) 169 sq. 25 Brix, Η.: Η. C. Andersen og hans eventyr. Kop. 1907, 228; Liungman, Volksmärchen, 152. - 26 Inhalt cf. EM 7, 1076. - 27 Cirese/Serafmi 545 C*; Berze Nagy 545 C* = MNK 545 D*; BFP 545 C*; Haboucha **859 E; EM 7, 1076 sq. und 1083, not. 61; BP 3, 332; Scherf 2, 838-840; IFA, num. 2508 (aus Tunesien); Bolhar, Α.: Slovenske narodne pravljice. Ljubljana 41974, 76—82; Neoellenika analekta 2 (1874) 26-30; im Kontext von AaTh 704 unzutreffend: de Meyer, Conte 545 C*. - 28 York MöllerChristensen, I.: Den gyldne trekant. H. C. Andersens gennembrud i Tyskland. 1831-1850. Odense 1992, num. 20, 22, 95, 96, 120, 124, 144, 187, 192, 221, 234; jeweils als Andersens num. 3 ist die P. auf der E. erfaßt in: Moller, S. J. u.a.: Bidrag til Η. C. Andersens Bibliograf! 1—5. Kop. 1966-72; zur engl. Übers, cf. Hjemager Pedersen, V.: A Wonderful Story of a True Soldier and a Real Princess. Problems in Connection with the Rendition of Hans Andersen's Vocabulary in English. In: Andersen og Verden. ed. J. de Mylius/A. Jergensen/V. Hjarnager Pedersen. Odense 1993, 197-209; Glyn Jones, W.: Andersen in English - A Feasibility Study II. ibid., 210-216. — 29 Princessa na gorosina (Die P. auf der Ε.). UdSSR 1976 (Regie: Β. Ryzarev); cf. Schmitt, C.: Adaptionen klassischer Märchen im Kinder- und Familienfernsehen. Ffm. 1993, 503. - 30 Die P. auf der E./The Princess on the Pea. Oper von Ernst Toch (1927); Die P. auf der E. Ballettsuite in fünf Sätzen von Boris Brock (1998); Poser, H.: Märchen und

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Märchenlieder. Songs für Kinder, mit CD. Salzburg 1993. 31 z.B. Produktion der Augsburger Puppenkiste, 1954. - 32 cf. Schmitt (wie not. 29) 224 (Bekanntheitstabelle für Deutschland); Berendsohn, W. Α.: Phantasie und Wirklichkeit in den „Märchen und Geschichten" Hans Christian Andersens. Walluf 1973, 255 (Die P. auf der E. im dän. Schullesebuch). — 33 Röhrich, Redensarten 1, 390 sq. - 34 Hodne 704, Var. 2 (Var. 1: nur Erwähnung); Aräjs/Medne; Ο Süilleabhain/Christiansen; Archiv van der Kooi, Groningen; andere Katalogeinträge betreffen die oben dargestellten verwandten Erzählungen, Motive oder Episoden: Rausmaa, SK 1, num. 85; Camarena/Chevalier; Jason; Lörincz; Ting; Thompson/Balys; unzutreffend: Jason, Indic Oral Tales. - 35 Kerbelyte, LPTK (Var. 1 = Jurkschat, C.: Litau. Märchen und Erzählungen. Heidelberg 1898, num. 45); Gonzalez Sanz. - 36 KHM/Rölleke 2, 418-420; BP з, 330 sq. - 37 Christensen (wie not. 2) 169; BP 3, 331; Penzer (wie not. 2). - 38 Adam, J.-M.: Textualite et transtextualite d'un conte d'Andersen. „La Princesse sur le petit pois". In: Poetique 128 (2001) 421-445, hier 428, 439-441; id./Heidmann, U.: Un Conte etrangement mal aime: „Die Erbsenprobe" des Grimm (im Druck). - 39 York Möller-Christensen (wie not. 28) num. 20, 22. - 40 KHM/Rölleke 3, 541. 41 Berendsohn (wie not. 32) 185. - 4 2 Lundt, B.: Die „P. auf der E." als Qu. hist. Sozialisationsforschung. In: Stationen einer Hochschullaufbahn. Festschr. A. Kuhn. Dortmund 1999, 247-260. - 43 Maar, M.: Andersens Nachleben. In: Andersen, H.-C.: Schräge Märchen, ed. H. Detering. Ffm. 1996, 319-334, hier 323; cf. auch Nielsen, E.: Hans Christian Andersen mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. (Hbg 1958) Reinbek 41995, 104. - '"Adam (wie not. 38) 435-439; id./Heidmann (wie not. 38). - 45 Shojaei Kawan (wie not. 4). — 46 Baggesen, S.: Dobbeltartikulationen i H. C. Andersens eventyr. In: de Mylius и.a. (wie not. 28) 15-29, 531 sq. (engl. Zusammenfassung).

Göttingen

Christine Shojaei Kawan

Prinzessin in der Erdhöhle (AaTh 870), weniger bekannter und in der Forschung kaum beachteter Erzähltyp aus dem Themenkomplex der unschuldig verfolgten -» Frau (Kap. 3.1.2). Zwei Könige verloben ihre Kinder aus dynastischen Erwägungen oder laut Weissagung (Liebespaar; Fernliebe durch Bild; benachbarter Prinz freit vergeblich um P). Es kommt zum Streit (Krieg) der Könige. Die Braut übergibt dem Bräutigam vor der Trennung Identitäts- und Erinnerungsstücke (ζ. B. unfertige Goldgewebe, Hochzeitsweste mit unfertiger Stickerei). Der Vater der P. bringt

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Prinzessin in der Erdhöhle

seine Tochter zu ihrem Schutz (um ihren Willen zu brechen) in einer E. (Keller, Turm, anderes Versteck) unter (allein, mit zwei Schwestern, sieben Dienerinnen, mit Nahrung für drei bzw. sieben Jahre). Der Vater der P. fällt, der Sohn des Siegerkönigs wird Herr über beide Länder und verlobt sich nach vergeblicher Suche der Braut (nach mißdeutetem Orakel) erneut. Die eingesperrte Frau befreit sich nach drei (sieben) Jahren selbst (mit Hilfe eines Wolfs oder Bären), nachdem sie als Notspeise Fledermäuse (Hund, Katze, kannibalisch die Dienerinnen) gegessen hat. Sie nimmt am Königshof Magddienste an und wird Zofe der neuen Braut, für die sie die scheinbar unlösbaren Aufgaben erledigt, die zum Erweis der rechten Braut (Fertigstellen der unfertigen Stücke) dienen sollen. Vor allem vertritt sie die falsche Braut bei der Trauung, weil jene vom Stallknecht (Nachbarkönig) schwanger ist (krank ist; sich ihrer Häßlichkeit schämt; als Trollhexe die Kirche nicht betreten kann) und gerade am Hochzeitstag ein Kind im Stall gebiert. Die unterschobene Braut lenkt das Interesse des Bräutigams durch vieldeutige Verse auf sich und beklagt auf seine Nachfrage ihr Schicksal in kaum verhüllender Weise. Sie erhält von ihm als Zeichen der Legitimation (-• Erkennungszeichen) einen Ring (Gürtel, Kette, Handschuh). Die falsche Braut wird beim Hochzeitsmahl (im Brautgemach) von ihm durch ihre Unkenntnis der Zusammenhänge überführt (muß ihre Magd nach den Gesprächen mit Pferd, Brücke etc. befragen), kann den Ring nicht vorweisen und wird zum Tod im Nagelfaß verurteilt (wird weggejagt; geht beleidigt fort; wird Hühnermagd). Die rechte Braut wird als Königin eingesetzt.

AaTh 870 ist vor allem aus Nordeuropa bekannt 1 ; bereits M. Moe konnte fast 50 Var.n nachweisen2. Für Norddeutschland sind lediglich vier Var.n bekannt 3 . Weitere AaTh 870 (falschlich) zugeordnete, zumeist singuläre Belege stammen hauptsächlich aus dem mediterranen Raum und betreffen lediglich das Thema der im Turm eingesperrten Frau (cf. z.B. AaTh 310: -» Jungfrau im Turm). Der älteste Beleg findet sich 1845 in der Slg von K. Müllenhoff 4 , eine schwed. Fassung wurde 1848 von G. O. ->· Hylten-Cavallius veröffentlicht5. Müllenhoffs Jungfer Maleen - der Name hat Affinitäten zu der Gestalt der Büßerin ->• Maria Magdalena — wurde von den Brüdern -> Grimm in etwas auserzählter Form 6 in die -> Kinder- und Hausmärchen übernommen (seit 61850: KHM 198)7. AaTh 870 verbreitete sich in der 2. Hälfte des 19. Jh.s (vielleicht auch angeregt durch die Vorbildfunktion der Grimmschen Texte) rasch in Skandinavien und ist in allen bedeutenden Slgen vertreten, ζ. B. in den Slgen von S.

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Grundtvig 8 , Ε. T. Kristensen9 und A. Bondeson 10 . AaTh 870 liegt ferner als Ballade von Börries von Münchhausen (Ballade vom Brennesselbusch, 1911) vor. Regionale Besonderheiten lassen Aussagen über die jeweiligen Erzählgemeinschaften bzw. Lesegesellschaften zu, in denen sie gepflegt worden sind: Die drei nyländ. Var.n G. A. Abergs sowie die Fassung J. Kamps 11 stammen von Dienstboten 12 . Mehrere Var.n haben das bedeutsame Detail bewahrt, daß die rechtmäßige und die neue Braut sich zum Verwechseln ähnlich sehen13. Hylten-Cavallius verfolgt andere Bearb.stendenzen, wenn er seine Fassung mit ma. Versatzstücken aufputzt und sich eher an Erwachsene und Kinder der gebildeten Schichten wenden will14. Ein Vergleich der sehr unterschiedlichen fünf Fassungen von Kristensen, der als Sammler bes. nahe am vorgetragenen Text seiner Erzähler geblieben ist, gibt Einblicke in die Dynamik und in das Prozeßhafte der Überlieferungspsychologie: Prinsessen i hojen15 ist novellistisch auserzählt mit raffinierter Rückblende und Märchen im Märchen. Karl Finkelfaders datier16 enthält schwankhafte Elemente, wenn sich die Ahnenbilder in der Kirche bei der Hochzeitszeremonie indigniert herumdrehen. Die andere Var. von Prinsessen i hojen17 enthält als einzige grausame Züge, wenn es heißt, das uneheliche Kind sei den Raben zum Fraß vorgeworfen worden. Die Fassung Prinsessin i hulenn ist in aggressivem Ton gehalten und enthält derbe Prügelszenen. Die Var. von 189819 dagegen ist von bes. gemüthaftem Ton und stärker als die anderen Texte auf den Aspekt der Liebe festgelegt. Von diesen Var.n des 19. Jh.s läßt sich der zeitliche Bogen zu Motivanklängen bei -» Saxo Grammaticus (ca 1200 p. Ch. n.) zurückschlagen20, der damit (Gesta Danorum, Buch 7)21 eine fiktive Genealogie begründen wollte: Der norw. König Regnald läßt für seine einzige Tochter Drott eine unterirdische Höhle einrichten und verbirgt sie dort nebst Dienern und Speisen für lange Zeit, weil der schwed. Seeräuber Gunnar an der Südküste Norwegens gelandet ist und das Land verheert. Gunnar erschlägt Regnald, setzt zur Demütigung des Volkes einen Hund als Statthalter ein und läßt überall nach Drott suchen. Er hört endlich Gemurmel unter der Erdoberfläche, läßt graben und findet einen hohlen Raum, gewundene Gänge und dann Drott. Er tötet die Diener, zwingt die Königs-

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Prinzessin in der Erdhöhle

tochter zur Ehe und kann so seine Herrschaftsansprüche legitimieren.

Eine Staatsräson, wie sie hier anklingt, spielt auch in den aus dem 19. Jh. stammenden Fassungen eine signifikante Rolle, und in diesem Sinn handelt der Vater situationsbedingt folgerichtig. Ausführlich wird die königliche Ausstattung der P. in der E. beschrieben: Die Mitgabe von Speisen für sieben Jahre gehört ebenso dazu wie das freiwillige Opfer der Dienerinnen, die sich als kannibalische Nahrung für die P. zur Verfügung stellen. In den als Dienstbotengeschichten ausgeprägten Var.n ist dieser Einfluß in Vergessenheit geraten. Var.n, in denen das dynastische Element keine Rolle mehr spielt, stellen die Grausamkeit des despotischen und habgierigen Vaters heraus. Im Zentrum von AaTh 870 steht das Motiv der unschuldig leidenden Frau in Verbindung mit Isolation und Magddiensten, das auch aus einer Vielzahl anderer Märchen bekannt ist (ζ. B. AaTh 403: Die schwarze und die weiße Braut)22. AaTh 870 ist unterschiedlich interpretiert worden. A. -» Olrik glaubte nachweisen zu können, daß die Vorstellung des Erdhügels und des unterirdischen Schlosses mit den begehbaren Grabhügeln der Steinzeit in Zusammenhang gebracht werden kann 23 . E. Marold stellte die Hypothese auf, daß möglicherweise Reste eines Kultes um die Befreiung der Wachstumsgöttin aus dem unterirdischen Versteck eine Rolle in der Überlieferung gespielt haben könnten 24 ; sie machte darauf aufmerksam, daß in diesem Kult Hund, Wolf oder Bär als Helfertiere auftreten, welche in den Fassungen des 19. Jh.s teils als befremdliches, teils als blindes Motiv noch erhalten geblieben sind. M. Lüthi betonte in seiner Interpretation zu KHM 198 bes. das Auseinanderklaffen von -> Schein und Sein im Märchen. Er stellte es dar am Bild der ,falschen' und der .rechten' Braut, ihrem Verkehrte-Welt-Spiel, und stützte sich dabei auf Deutungen der Schule C. G. -> Jungs 25 . F. Karlinger beschäftigte sich bes. mit den lyrischen Einschüben von AaTh 870. Er hielt sie für Nachklänge aus alten Zaubersprüchen 26 , doch können die klagenden Verse der Braut auch als ein Code zur Umgehung eines Verbots aufgefaßt werden: Die Sprechende will nicht verstanden werden, aber Interesse erwecken. So redet sie in der Krisensi-

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tuation, als sie z.B. an den aufgespießten Mäusehäuten vorbeireitet, an der Kirchentür (Beginn des Asylrechts) und an dem Brennesselbusch (Notspeise und auch Aphrodisiakum). AaTh 870 ist durch drei Entwicklungsschritte geprägt: eine Geschichte mit (1) ma. überindividuellen dynastischen Vorstellungen, (2) christl. Überformungen (Fasten, Demut, Gehorsam) und (3) romantisch verklärenden Elementen einer Liebesgeschichte. Die Heldin (und ihre norddt. Entsprechung Jungfer Maleen) erreicht ihr Ziel durch extremen Überlebenswillen (Kannibalismus in der E.) und ebenso durch vorausschauende Klugheit, welche ein gewisses Maß an offensivem Verhalten einschließt. Ihre Aktivitäten kann sie aber nur in den Grenzen eines bestimmten gesellschaftlichen Systems entfalten: als Garantin der Erbfolge in einem patriarchalischen Herrschaftssystem (-» Patriarchat). Wie die Texte des 19. Jh.s beweisen, hat sich die Rolle der Frau über einen großen Zeitraum hinweg kaum verändert. ' Ergänzend zu AaTh: Ο Süilleabhäin/Christiansen; Hodne; Ranke. - 2 cf. Sproglige og historiske afhandlinger viede S. Bugges minde. Christiania 1908, 265; Liungman, W.: En traditionsstudie över sagan om Prinsessan i jordkulan (Aarne 870) 1 - 2 . Diss. Göteborg 1925; cf. ferner Scherf, 740-742. 3 Ranke. - 4 Müllenhoff, K.: Märchen, Sagen und Lieder aus Schleswig, Holstein und Lauenburg. Kiel 1845; cf. Uther, H.-J.: Märchen vor Grimm. MdW 1990, num. 69 (Kommentar). — 5 Hylten-Cavallius, G. O./Stephens, G.: Schwed. Volkssagen und Märchen. Wien 1848, num. 16. - 6 Konkordanz zu Müllenhoffs 1. und 2. Fassung sowie Grimms K H M 198 cf. Ranke 3, 192-202 (dort auch Hinweis auf eine ostpreuß. Var.). - 7 KHM/Uther 4, 365 sq. (Kommentar); Scherf, 650-653. - 8 Grundtvig, S.: Gamle danske minder i folkemunde. Ny samling. Kop. 1857. - 9 Kristensen, Ε. T.: jEventyr fra Jylland 1. Kop. 1881, num. 8, 9; id.: Danske folkesventyr. Viborg 1888, num. 37; Skattegraveren 9(1888)185-189; Kristensen, Ε. T.: Fra Mindebo. Jyske Folkeaeventyr. Aarhus 1898, num. 7. - 1 0 Bondeson, Α.: Historiegubbar pä Dal. Stockholm 1886, 3 0 - 3 4 . " A b e r g , G. Α.: Nyländska Folksagor. Hels. 1887, num. 215, 240, 243 (die ersten beiden Var.n finnlandschwed.); Kamp, J.: Danske Folkeaeventyr 1. Kop. 1879, num. 3. - 12 cf. auch Kvideland, R./Eiriksson, H. Ö.: Norw. und isl. Volksmärchen. B. 1988, num. 38. - 13 ζ. Β. Säve, P. A./Gustavson, Η.: Gotländska sagor 2. Uppsala 1955, num. 105; Stroebe, Κ.: Nord. Volksmärchen. MdW 1915, num. 3 (dän.); Badker, L.: European Folk Tales. Kop. 1963, 3 7 - 4 1 (norw.).

1341 -

Prinzessin und die magische Fischhaut

14

Hylten-Cavallius/Stephens (wie not. 5). Kristensen 1881 (wie not. 9) num. 8. - 16 ibid., num. 9. - 17 id. 1888 (wie not. 9). - 1 8 Skattegraveren (wie not. 9). - 19 Kristensen 1898 (wie not. 9). - 20 Roth, D./Kahn, W. (edd.): Märchen und Märchenforschung in Europa. Ffm. 1993, 241. 21 Saxonis Grammatici Gesta Danorum. ed. A. Holder. Lpz. 1901, 240. - 2 2 cf. EM 2, 712-723. - 23 cf. BP 3, 450. - 2 4 Marold, E.: Die Königstochter im Erdhügel. In: Festschr. O. Höfler 2. Wien 1968, 351-361. — 25 Lüthi, M.: So leben sie noch heute. Göttingen 2 1976, 122-125. - 26 Karlinger, F.: Menschen im Märchen. Wien 1994, 3 7 - 4 4 . 15

Siegburg

Maria Christa Maennersdoerfer

Prinzessin und die magische Fischhaut (AaTh 570 A), im Mittelmeerraum verbreitetes, selten belegtes Zaubermärchen: Ein Fischer findet im dritten gefangenen -> Fisch eine goldene Schale (Becher), die sich mit Goldstükken füllt, nachdem er daraus getrunken hat. Als eine P. (Königin) die Schale haben möchte, verlangt er, daß sie sich ihm hingibt. Die P. wird schwanger und von ihrem Vater (Ehemann) verstoßen (-» Aussetzung). Sie geht (mit dem Fischer; nachdem der Fischer erschlagen wurde) in ein anderes Land, erwirbt dort Reichtum und kehrt in ->• Verkleidung als Mann an den Hof zurück. Als der Vater die Goldschale haben möchte, stellt sie zur Bedingung, daß er mit ihr schlafe (cf. Nächte erkauft; -» Homophilie; -> Inzest). Er willigt ein, sie gibt sich zu erkennen, führt ihm sein früheres Fehlverhalten vor Augen, und sie versöhnen sich 1 .

Alle Belege von AaTh 570 Α stammen aus Slgen des 19. und 20. Jh.s2. Da die geogr. Verbreitung auf den östl. und südl. Mittelmeerraum sowie die angrenzenden Länder beschränkt ist, stammt die Erzählung möglicherweise aus einer osman. Geschichtensammlung wie dem -> Billur Köschk. Variationen einzelner Elemente betreffen vor allem die Eingangssequenz. So beginnen die ägypt. Var.n in Anlehnung an AaTh 875: Die kluge Bauerntochter damit, daß der Sultan eine junge Frau, die einen von ihm gesuchten Spruch genannt hat, heiratet; nur in diesen Var.n handelt es sich im weiteren Verlauf um die Ehefrau des Herrschers3. In einer Var. aus Palästina fliehen drei Männer hochverschuldet aus einer Stadt; während die anderen Geld verdienen, kümmert sich einer um den Haushalt und fängt den wunderbaren Fisch4. In der

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tunes. Var. findet ein Bäcker den goldenen Becher, in dem sich Wassertropfen in Goldstücke verwandeln5. Ein Berbermärchen erzählt von einem magischen Kästchen, dem beim Flötenspiel zwei tanzende Mädchen entsteigen, die drei Wassergläser vor den Prinzen stellen; als er daraus getrunken hat, füllen sich die Gläser mit Gold 6 . Käufer der Fische ist oft ein Jude, einmal der Gehilfe eines Zauberers 7 . Während der Mittelteil, in dem die P. geschwängert und verstoßen wird, relativ stabil ist, variiert der Schluß häufig. Einmal bietet der König seine Frau zum Beischlaf an (tunes.)8. Ein anderes Mal verzichtet die Tochter darauf, ihren Vater mit dem magischen Gegenstand in Versuchung zu führen, konfrontiert ihn aber mit seinem früheren Fehlverhalten (marokkan.) 9 . Manchmal verlangt der Vater, daß die Tochter getötet wird, worauf die mitfühlenden Diener (Mot. Κ 512) sie in Männerkleidung fliehen lassen (arab.; türk.) 10 ; in einem Fall fordert er als Beweis ihr Blut zum Trinken (-• Tierherz als Ersatz)11. In einer kabyl. Var. setzt der Vater die schwangere Tochter in einem Kasten auf dem Meer aus; sie trifft später den Vater ihres Kindes wieder, der schließlich vom Sultan zum Nachfolger ernannt wird 12 . Ein anderes Berbermärchen endet damit, daß die Tochter ihren Vater bei der Wiederbegegnung beschimpft und anschließend das Land verläßt 13 . Aussetzung auf dem Meer und Belehrung des Vaters durch die Tochter zeigen Nähe zu AaTh 675: Der faule -> Junge. Entgegen der Typenbeschreibung bei AaTh kommt in keinem der hier besprochenen Belege eine magische Fischhaut vor 14 . Unter Mot. D 1025.2: Magic fishskin wird einzig auf die Bibliogr. zu Tausendundeinenacht verwiesen; dort ist eine magische Fischhaut nur als Transportmittel (Mot. D 1520.5.1) erwähnt und nicht als goldproduzierender Gegenstand 15 . Allg. thematisiert AaTh 570 Α einen VaterTochter-Konflikt. Dieser entzündet sich an der freien Wahl des Ehemanns und zeigt die P. als selbständige Frau: Sie bringt es allein zu Wohlstand, arrangiert die Wiederbegegnung mit dem Vater und deckt seine scheinheilige Moral durch den magischen Gegenstand auf. ' H a h n , num. 109. - 2 Ergänzend zu AaTh: BFP; Eberhard/Boratav, num. 71, 192 V, 193 ( 6 - 8 ) ; Megas/Puchner; Jason; Nowak, num. 218, 225; El-

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Prinzessin auf dem Glasberg

Shamy, Folk Traditions 1, 423. - 3 Spitta-Bey, G.: Contes arabes modernes. Leiden/P. 1883, num. 3; Littmann, E.: Arab. Märchen und Schwänke aus Ägypten. Wiesbaden 1955, num. 12; El-Shamy, H.: Oral Traditional Tales and the Thousand Nights and a Night. In: Nejgaard, M. u. a. (edd.): The Telling of Stories. Odense 1990, 63-117, hier 82. - 4 Littmann, Ε.: Arab. Märchen. Lpz. s.a., 339-350. 5 Noy, D.: Contes populaires racontes par des Juifs de Tunisie. Jerusalem 1968, num. 41. - 6 Lacoste, C.: Traduction des legendes et contes merveilleux de la Grande Kabylie. P. 1965, num. 77; Grim, M.: Der Gewittervogel. Märchen der Berber Algeriens. B. 1983, 82-93. - 7 RTP 29 (1914) 205-211 (alger.). - 8 Noy (wie not. 5). - 9 R T P 29 (1914) 205-211, 212-215. - 10 Littmann (wie not. 4); Giese, F.: Türk. Märchen. MdW 1925, num. 17; Nowak, num. 218. 11 RTP 29 (1914) 212-215. - 12 Dermenghem, E.: Contes kabyles. Algier 1945, 37-43. - 13 Lacoste und Grim (wie not. 6). - 14 Der von AaTh angeführte Beleg bei Dawkins, R. M.: Modern Greek Folktales. Ox. 1953, num. 4 entspricht AaTh 675. 15 Chauvin 5, 230, 262. Göttingen

Sigrid F ä h r m a n n

Prinzessin auf dem Glasberg (AaTh 530), Zaubermärchen von einem männlichen Aschenputtel, meist d e m jüngsten von drei Söhnen, der d a n k hilfreicher Pferde die Ρ zur F r a u gewinnt ( - • Askeladden; Dümmling, Dummling; Unscheinbar). Konstituierendes Element ist die -» Freierprobe in F o r m eines Rittes. Sie ist häufig mit dem Motiv vom -• Glasberg verbunden - einem Motiv, das sich auch in anderen G a t t u n g e n findet, d a r u n ter in mehreren Z a u b e r m ä r c h e n als Ausdruck f ü r ein unüberwindliches bzw. schwer passierbares Hindernis ( u . a . in Var.n zu A a T h 313 sqq.: -> Magische Flucht; AaTh 451: —• Mädchen sucht seine Brüder). Der in drei Teile (Erwerb der Zauberpferde, Gewinnen der Freierprobe, E r k e n n u n g des unscheinbaren Helden) strukturierte Erzähltyp weist unterschiedliche A u s f o r m u n g e n auf: (1) Erwerb der Zauberpferde durch Wachehalten: (1.1) Vom Feld (Heuschober, Garten) eines Vaters mit drei Söhnen wird die Ernte gestohlen. Die Söhne halten jeweils in drei Nächten nacheinander Wache. Die beiden älteren schlafen ein (laufen vor Angst weg), der jüngste (1.1.1) fangt (u.a. mit Hilfe von Maus, Frosch, altem Männlein) drei Zauberpferde und gibt sie gegen das Versprechen zukünfti-

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ger Hilfe frei, (1.1.2) läßt sich von Riesen im Heuballen zu deren Schloß tragen, tötet die Riesen und findet Schätze (dienstbare Geister) und drei Pferde. (1.2) Der sterbende Vater bestimmt, daß die Söhne nach seinem Tod (ein Jahr später) in drei aufeinanderfolgenden Nächten am Grab (in der Kirche am Sarg) wachen (beten) sollen (-» Grabwache). Die älteren Söhne lassen sich aus Gleichgültigkeit (Angst) durch ihren jüngsten Bruder vertreten. Vom Vater (im Kampf mit erscheinenden Geistern) erhält der Jüngste dreimal ein Pferd bzw. eine Pfeife (Stock, Zügel), um Pferde herbeizurufen. (2) Um die Königstochter zur Frau zu bekommen, soll der Freier (2.1) einen Berg (meist Glasberg, auch Kristall-, Marmorberg) hinaufreiten (von der Spitze einen goldenen Apfel, von der nach eigenem Wunsch auf dem Gipfel sitzenden [von Vater, Troll, Teufel piazierten] P. Apfel, Ring und Tuch holen, sie küssen), (2.2) an einem Gebäude (Turm, Schloß, Mauer) bis zur am obersten Fenster (4. Stockwerk, Balkon) sitzenden P. hochspringen (ihr den Ring abziehen) oder (2.3) über einen Graben (Grube) springen. Der unerkannte Jüngste bewältigt dank seiner Zauberpferde dreimal (in drei Anläufen) die Aufgabe. Beim dritten Mal markiert der König (Tochter) den Helden oft durch ein Erkennungszeichen (Verletzung oder Aufdrücken eines Zeichens). (3) Boten (König und Tochter selbst) suchen den Helden überall im Land und/oder lassen alle Männer an der Königstochter vorbeidefilieren (Königstochter bedient alle zu einem Fest eingeladenen Männer). Der Jüngste wird zu Hause (am Königshof) an den der P. gehörenden Gegenständen und/oder den Markierungen erkannt. Er heiratet die Königstochter und erlöst manchmal verzauberte Prinzen (P.nen) aus der Gestalt seiner Pferde. In einer meist A a T h 530 zugerechneten G r u p p e von Erzählungen 1 h a t der unscheinbare Held keine Brüder oder ist von seiner Familie fortgelaufen. Diese G r u p p e entspricht dem 1961 bei der 2. Revision des A a T h - K a t a logs neu eingeführten Erzähltyp A a T h 314 A: -> Hirt und die drei Riesen2: (1) Der Held (oft auch Prinz), meist schon im Besitz eines Zaubergegenstands, verdingt sich beim König als Hirt. Trotz des Verbots weidet er seine Herde im benachbarten Gebiet, das Riesen gehört. Er tötet die Riesen und gewinnt großen Reichtum, darunter drei Pferde. Mit der nach seiner Flöte tanzenden Herde erregt er Aufsehen, aus dem Riesenschloß mitgenommene wunderbare Blumensträuße schenkt er der jüngsten Königstochter, die sich in ihn verliebt. (2) Die P. soll mit dem Gewinner eines Reitturniers (Erreichen hoch aufgehängter Gegenstände, Wettrennen) verheiratet werden. Der unscheinbare Hirt ist Sieger. (3) Er gibt sich zu erkennen (wird erkannt), und die Hochzeit findet statt. Eine weitere G r u p p e von Erzählungen wird AaTh 530 zugeordnet, die lediglich mit dem

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Prinzessin auf dem Glasberg

Motiv des Wachehaltens zum Erwerb der Zauberpferde beginnen und mit AaTh 532: Das hilfreiche -* Pferd bzw. dem entsprechenden Subtyp von AaTh 314: ->· Goldener (Teil 5: Jüngste P. verliebt sich in den unscheinbaren Helden und erwählt ihn durch Zuwerfen eines Apfels) fortfahren 3 . AaTh 530 ist vor allem in Mittel-, Nordund Osteuropa und auf dem Balkan, seltener im Kaukasus, in Mittel- und Südasien und im Nahen Osten sowie in Südafrika, Nord-, Mittel- und Südamerika aufgezeichnet worden 4 . In der gesamten eher östl. Hälfte Europas gehört der Erzähltyp zu den sehr verbreiteten, in Lettland, Ungarn und Rumänien zu den populärsten Zaubermärchen 5 . Es finden sich sehr unterschiedliche Kontaminationen 6 . Als Eingang, manchmal nur in Andeutungen, erscheint u. a. AaTh 502: Der wilde -> Mann1, als Fortführung von AaTh 530 sind allg. Kontaminationen mit den Schlußpassagen von AaTh 314 (Teil 6: Beistand im Krieg und Lösung von Aufgaben für den König) häufig 8 und vor allem in russ. Var.n - oft auch zusätzlich mit AaTh 530 A: The Pig with the Golden Bristles9. Als Vorstufe von AaTh 530 wird eine altägypt. Erzählung über einen sich als Offizier ausgebenden ägypt. Königssohn (um 1200 a. Chr. n.) angesehen10, der die Fürstentochter durch Hochsprung bis zu ihrem Fenster (ohne Pferd) zur Frau gewinnt11. Für das Motiv vom Ritt auf den Glasberg gilt als ältester Beleg eine dän. Ballade (um 1560), in der -»• Siegfried mit seinem Pferd Grani Brunhild von einem Glasberg herunterholt 12 . Schon 1892 ordnete V. Tille13 in einer kaum rezipierten Unters, bis dahin aufgezeichnete Var.n in drei Gruppen: (A) Grabwache-Fassungen, verbunden mit dem Sprung auf ein hohes Stockwerk oder dem Ritt auf den Glasberg (vor allem russ.), (B) Feldwache-Fassungen mit Wettrennen (vor allem slav. und germ.) und (C) Var.n vom Hirten mit einem Turnier (mitteleurop.)14. Er interpretierte das Märchen naturmythol. (u.a. rote, weiße, schwarze oder silber-, gold-, kupferfarbene Pferde als -»• Personifikationen von Tageszeiten) und war der Auffassung, daß die Akzentuierung auf den verkannten Jüngsten in den Gruppen Α und Β später entstanden sei, als die mythol. Kontexte nicht mehr verstanden wurden. Spätere Studien zu AaTh

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530 veranschaulichen die Interessendominanzen von Erzählforschern aus der 1. Hälfte des 20. Jh.s. I. M. - Boberg, Schülerin C. W. von -• Sydows, hielt den Erzähltyp für ein idg. Erbe, aus dem sich ein osteurop.-slav. Ökotyp (Grabwache und P. in einem hohen Gebäude), ein nordeurop.-germ. (Feldbewachung und Ritt auf den Berg, meist Glasberg) und ein westeurop.-rom.-kelt. (Turnier) entwickelt hätten (-» Ide. Theorie), wobei sie die vor allem auf dem Balkan auftretenden Var.n mit dem Ritt über einen Graben ausschloß15. Hingegen sprach sich K. -> Krohn 16 , Vertreter der -» geogr.-hist. Methode, für AaTh 530 als ein Wandermärchen aus (-> Wandertheorie), zumal die Verbreitung nicht mit sprachlichen, sondern mit geogr. und kulturellen Gebieten zusammenfalle, und befürwortete wie zuvor E. -» Cosquin 17 eine Migration in hist. Zeit aus Indien über Kleinasien nach Europa (-> Ind. Theorie). J. Honti 18 nutzte in seinem Plädoyer, Volkserzählungen nicht anhand ihrer einzelnen Motive, sondern ihrer Grundideen zu erforschen, die altägypt. Erzählung als ein Beispiel für die Hinfälligkeit von auf einzelne Motive gegründeten Hypothesen durch das Auffinden neuer Var.n. Sowohl gegen Bobergs These vom idg. Erbe als auch diejenige Krohns einer ind. Herkunft nahm J. de -> Vries19 Stellung; er wies auf Nord-, Ost- und Mitteleuropa, das Hauptverbreitungsgebiet von AaTh 530, als ein jahrhundertelang einheitliches Kulturgebiet hin, betonte die östl. Orientierung und hielt das Motiv vom Glasberg für ursprünglich und für ein zu den Vorstellungen von der Welt der Toten gehörendes Jenseitsmotiv. Ebenfalls in Verbindung mit der Totenwelt sah V. Ja. -+ Propp 20 die russ. Var.n von AaTh 530 mit der Grabwache und schrieb dieser einen apotropäischen Charakter zu (-• Abwehrzauber). Auffallend für die vorliegenden Var.n von AaTh 530 (ca 250 Texte im EM-Archiv) ist die Vielfalt unterschiedlicher Kombinationen zwischen den einzelnen Teilen des Erzähltyps. So finden sich zwar Var.n mit der Grabwache (1.2) vor allem östl. einer Linie vom Siedlungsgebiet der Lappen und Finnlandschweden, von Mecklenburg, Ungarn bis zum Nahen Osten21, doch nur in Var.n der Russen, Kaukasier und Turkvölker scheint die Grabwache fast ausschließlich bzw. überwiegend mit dem

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Prinzessin auf dem Glasberg

Sprung an einem Gebäude hoch (2.2) verbunden zu sein22, in Estland, Lettland und Polen hingegen mit dem Ritt auf den Glasberg (2.1). Die Kombination Bewachung eines Feldes (1.1) mit dem Ritt auf den Glasberg (2.1) ist charakteristisch für norw. und viele dt. Var.n, Glasberg-Var.n in Schweden haben hingegen als Einl.steil häufig AaTh 50223 und in Dänemark oft den ersten Teil vom Märchen über den Hirten, der Zauberpferde von Riesen erwirbt (AaTh 314 A)24. Ein Turnier, dessen Gewinner die Hand der R erhält, findet sich, sofern darunter verschiedene Reiterspiele (hoch aufgehängten Gegenstand holen, Kranzspringen, Wettrennen) verstanden werden, sehr verstreut u. a. in holstein., slovak., ung., russ. und mongol. Var.n25. Kennzeichnend für diese Kombinationstendenzen ist es, wenn ζ. B. der Held an einem vierstöckigen Gebäude auf einem Glasberg hochspringen muß 26 oder des öfteren erst durch Feld- oder Grabwache Zaubergegenstände gewinnt, um dann als Hirt die Zauberpferde zu erwerben (AaTh 314 A). Die Var.n von AaTh 530 bieten das gesamte Spektrum des unscheinbaren und unerkannten Helden: vom Protagonisten niedriger sozialer Herkunft, der dumm, einfältig, schmutzig, häßlich und faul ist oder erscheint, bis zum klugen und schönen sich verstellenden Königssohn vom Typ Grindkopf/Goldener. Die Darstellungsweise des unscheinbaren Helden hängt von der typenbedingten Ausformung ab und variiert außerdem nach geogr. Gebieten: Der dumme mißachtete Jüngste findet sich weniger bei mit AaTh 502 beginnenden und AaTh 314 Α entsprechenden Var.n und kaum bzw. gar nicht in den vorliegenden zentralasiat. Fassungen (im Unterschied zu den in den Episoden [1.2] und [2.2] übereinstimmenden russ. Var.n, die den Jüngsten als Dummkopf schildern)27 sowie denjenigen aus dem Nahen Osten, in denen der Jüngste sogar von vornherein der Klügere sein kann 28 . Die relevanten europ. Var.n hingegen stellen ein ausgesprochenes Dummlingsmärchen mit der jeweils für die Region spezifischen Figur des Aschensitzers, Ofenhockers oder Dummhans als Protagonist dar. Kontaminationen mit AaTh 314 und AaTh 530 Α dienen einer Steigerung des ->• Kontrasts von lumpigem Narr und strahlendem Held. Nachdem der Held sich seinen Brüdern überlegen gezeigt hat,

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spielt er nun nach der Hochzeit mit der P. seine Schwäger an die Wand: Öffentlich provoziert er durch närrisches Verhalten (auf dem Pferd verkehrtherum sitzen, gegen Frösche in einer Pfütze kämpfen) ihren Spott 29 , unerkannt als prächtiger Ritter übertrifft er sie im Kampf, bei der Lösung von Aufgaben und erniedrigt sie durch Brandmarken auf das Äußerste30. Das gespannte Verhältnis zwischen dem Jüngsten auf der einen Seite und dem Vater mit den Brüdern auf der anderen kommt in AaTh 530 in spezifischen Situationen zum Ausdruck: Die Brüder wollen am Wettkampf teilnehmen oder zusammen mit dem Vater zuschauen, dem Jüngsten wird verboten mitzukommen. Auf dem Hin- und/oder Rückweg überholt er unerkannt in prachtvoller Ausrüstung Brüder und Vater, scheucht sie zur Seite 31 , läßt sie in ihrem Sonntagsanzug durch sein Pferd beschmutzen 32 , im Graben landen 33 oder zieht den Brüdern mit der Peitsche eins über 34 . Er veranlaßt den Vater gegen Trinkgeld (z.T. in Schläge umgewandelt 35 ), sein Pferd zu halten 36 , oder die Brüder, seine Stiefel zu putzen 37 . Wenn die Zurückgekehrten den wunderbaren Helden in höchsten Tönen preisen, fragt er anzüglich nach erhaltenen Schlägen oder Trinkgeld, woraufhin die Brüder den Baum fallen, die Scheune abreißen und den Dachstuhl ihres Hauses zerstören, von denen aus der Jüngste angeblich alles beobachtet hat 38 . Relativ häufig findet sich in den Var.n sein Einwurf, daß vielleicht er dieser Held gewesen sei, woraufhin er Gelächter oder Prügel erntet 39 . Manchmal besucht er zusammen mit der P. triumphierend sein Elternhaus (cf. AaTh 935: -» Heimkehr des verlorenen Sohnes)40.

Psychol. Interpretationen sehen AaTh 530 als ein Märchen über die Ablösungsprozesse des Jüngsten, über seine Identitätsfindung in Auseinandersetzung mit Vater und Brüdern 41 , und deuten den bes. in dän. Var.n auftretenden Troll bzw. Teufel, der die P. auf den Glasberg verwünscht hat, als eine Deckfigur für den Vater, der die Tochter behalten will42. Die Var.n schildern in unterschiedlicher Intensität das wachsende Selbstbewußtsein des Protagonisten bis hin zu einem überlegen spielerischen Umgang mit der Rolle des Verkannten. Wie andere Dummlingsmärchen kann AaTh 530 als eine Wunschdichtung betrachtet werden, die ermutigt und kompensiert, aber auch als eine Erzählung, die Rezipienten Vergnügen als Mitwisser des unscheinbaren Helden verschafft.

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Prinzessin auf dem Glasberg

1 Tille, V.: Literarni Studie. 1: Skupina lidovych povidek ο neznämem rekovi, jenz ν zävodnech ziskal princeznu za chot' (Literar. Studie. 1: Die Gruppe von Volkserzählungen über den unbekannten Ritter, der im Wettkampf die P. zur Frau gewinnt). Prag 1892; cf. Rez. A. Hauffen in ZfVk. 4 (1894) 98 sq.; Boberg, I. M.: Prinsessen pa glasbjaerget. In: DSt. (1928) 16-53; ead.: Glasbergritt. In: HDM 2 (1934-40) 627-630. - 2 cf. HDM 2, 629; z.B. Tille, 54—56; Koväcs, Α.: Kalotaszegi nepmesek 1. Bud. 1943, num. 5; Boskovic-Stulli, Μ.: Narodne pripovijetke. Zagreb 1963, num. 50; Ranke 530 (Var.n 2, 4, 5); Cosquin 2, num. 43; cf. Fabre, D./Lacroix, J.: La Tradition orale du conte occitan 1. P. 1974, num. 13. - 3 ζ. Β. Ambainis, Ο.: Lett. Volksmärchen. Β. 1979, num. 84; Plenzat, Κ.: Der Wundergarten. B./Lpz. 1922, 97-110 (litau.); Polivka 2, 239 (num. 18, Var. 10); Daskalova, L. u.a.: Narodna proza ot Blagoevgradski okrüg. Sofia 1985, num. 28 (bulg.); Sakryl, K. S.: Abchazskie narodnye skazki. M. 1975, num. 25; Macler, F.: Contes, legendes et epopees populaires d'Armenie 1. P. 1928, 84-92. - 4 Ergänzend zu AaTh: Ο Süilleabhäin/Christiansen; Hodne; Rausmaa, SK 1, num. 77; Kecskemeti/Paunonen; Sabitov; Aräjs/Medne; Kerbelyte, LPTK; Dekker/van der Kooi/Meder, 285-289; de Meyer, Conte; Delarue/ Teneze, app.; Camarena/Chevalier; Pujol; Cirese/Serafini; Krzyzanowski; Gasparikovä, num. 154, 195, 302, 311, 374, 487, 570, 581; MNK; SUS; BFP; Megas/Puchner; Gullakjan; Kurdovanidze; Ergis, num. 206; Marzolph; Nowak, num. 122; Jason; Jason, Types; Jason, Indic Oral Tales; Flowers; Robe; Schmidt, S.: Hänsel und Gretel in Afrika. Köln 1999, num. 36; in den Katalogen finden sich z.T. AaTh 530 zugeschriebene Erzählungen, die nur den Eingangsteil des Erzähltyps aufweisen, und solche, in denen das Glasberg-Motiv eine marginale Rolle spielt. - 5 cf. Kommentare zu Ambainis (wie not. 3) num. 77; Koväcs, Α.: Ung. Volksmärchen. MdW 1966, num. 13; Birlea, O.: Antologie de prozä popularä epicä. Buk. 1966, 262. - 6 z.B. AaTh 530 + AaTh 675: Klein, R.: Das weisse, das schwarze und das feuerrote Meer. Kassel 1966, 63-76 (finn.); AaTh 530 + 513 Β + AaTh 570: PreindlsbergerMrazovic, M.: Bosn. Volksmärchen. Innsbruck 1905, 117-126; AaTh 530 + AaTh 530 B* (der Held gewinnt bei drei Proben drei Königstöchter, nimmt sie gleich mit bzw. raubt Bräute und gibt die beiden älteren seinen Brüdern zur Frau): Kallas, O.: Achtzig Märchen der Ljutziner Esten. Jurjew (Dorpat) 1900, num. 16; Lemke, E.: Volkstümliches aus Ostpreußen 2. Mohrungen 1887, num. 6 II; Paasonen, H.: Gebräuche und Volksdichtung der Tschuwassen. ed. E. Karahka/M. Räsänen. Hels. 1949, num. 26; Campbell, C. G.: From Town and Tribe. L. 1952, 73-80 (Südirak); cf. zu Slovak. Var.n Filovä, B./Gasparikovä, V.: Slovenske l'udove rozprävky. 1. Zväzok. Bratislava 1993, num. 154; cf. Wisser, W.: Das Märchen vom „Ritt auf den Glasberg" in Holstein. In: ZfVk. 25 (1915) 305-313 (u.a. Konstruktion einer Idealform „Simson, tu dich auf!", die wiederum in Scherf, 739, 1113-1118 [cf. hier auch AaTh-Reg.] als Leitfassung diente). - 7 z. B. Stroebe, K.: Nord.

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Volksmärchen 1. MdW 1915, num. 16 (schwed.); cf. Hylten-Cavallius, G. O./Stephens, G.: Svenska Folksagor och Äfventyr 1. Stockholm 1844, num. 20 (Var. 1-3). - «z.B. Keleti szemle 20 (1927) 38-57 (osset.); Bgazba, Ch. S.: Abchazskie skazki. Suchumi 1959, 136-145; Sakryl (wie not. 3) num. 42; Leskien, Α.: Balkanmärchen. MdW 1915, num. 7 (bulg.). - 9 z.B. Viidalepp, R.: Estn. Volksmärchen. B. 1980, num. 68; Nikiforov, Α. I.: Severnorusskie skazki. ed. V. Ja. Propp. M./Len. 1961, num. I l l , 125; cf. MNK (Var. 27, 28); Djordjevic, D. M.: Srpske narodne pripovetke i predanja iz leskovacke oblasti. ed. N. Milosevic-Djordjevic. Belgrad 1988, num. 79. - 10 HDM 2, 628; Honti, J. T.: Celtic Studies and European Folk-Tale Research. In: Bealoideas 6 (1936) 33-39, hier 34. "Brunner-Traut, E.: Altägypt. Märchen. MdW 3 1973, num. 4. - 12 cf. BP 1, 233 sq.; BP 2, 340; cf. Levinsen, N.: Folkeeventyr fra Vendsyssel. ed. L. Bodker. Kop. 1958, p. 250. - 13 Tille (wie not. 1); cf. Tille, 48-56; Tille, Soupis 2.1, 148-162. - 14 cf. auch die Kommentare in Kreutzwald, F.: Ehstn. Märchen. Halle 1869 zu num. 13 (Α. Schiefner); in Leskien, A./Brugman, K.: Litau. Volkslieder und Märchen. Straßburg 1882 zu num. 4 (W. Wollner); in Cosquin 2, num. 43. - 15 Boberg 1928 (wie not. 1) und HDM 2, 627-630; cf. Polivka 2, 255 (zu Var.n mit dem Ritt über einen Graben). - 16 zu Böberg 1928 (wie not. 1) cf. Krohn, K.: Übersicht über einige Resultate der Märchenforschung. (FFC 96) Hels. 1931, 96-99. - 17 Cosquin, E.: Les Contes indiens et l'Occident.P. 1922,329-336. - 18 Honti (wie not. 10)34 sq. - "Vries, J. de: Betrachtungen zum Märchen [...]. (FFC 150) Hels. 1954, 60-63. - 2 0 Propp, V.: Die hist. Wurzeln des Zaubermärchens. Mü./Wien 1987, 181-185 (Orig.: Istoriceskie korni volsebnoj skazki. [Len. 1946] 1986, 146-149). 21 cf. jedoch die Kombination Feld bewachen und an einem Gebäude hochspringen in finnougr. Var.n: z.B. Redei, K.: Zyrian Folklore Texts. Bud. 1978, num. 84, 235 (Komi); Beke, Ö.: Tscheremiss. Märchen, Sagen und Erzählungen. Hels. 1938, num. 51; id.: A Cseremiszek (Marik) nepkölteszete es szokäsai 1. Bud. 1951, num. 27 (Mari); cf. auch Uffer, L.: Rätorom. Märchen. MdW 1973, num. 28 (Grabwache und der auf einer Brüstung stehenden P. einen Kuß geben). - 22 Bgazba (wie not. 8); Sakryl (wie not. 3) num. 42; Sidel'nikov, V. M.: Kazachskie skazki 1. Alma-Ata 1958, 53-58; Afzalov, M. I./Rasulev, Ch./Chusainova, Z.: Uzbekskie narodnye skazki 2. Taskent 21963, 26-30. - 23 cf. not. 7. 24 cf. HDM 2, 630, not. 53. - 25 Ranke (Var. 5, 16); Gasparikovä, num. 374; Berze Nagy (Var. 13, 20); Nikiforov (wie not. 9) num. 125; Eliasov, L. E.: Burjatskie skazki 1. Ulan-Ude 1959, 70-82. 26 Koväcs (wie not. 5). - 27 ζ. B. Eliasov (wie not. 25); Sidel'nikov und Afzalov/Rasulev/Chusainova (wie not. 22). — 28 ζ. B. Campbell (wie not. 6); Littmann, E.: Arab. Märchen. Lpz. s.a., 183-203. - 2 9 z.B. Lintur, P. V.: Zakarpatskie skazki Andreja Kaiina. Uzgorod 1957, 97-105; Grannas, G.: Plattdt. Volkserzählungen aus Ostpreußen. Marburg 1957, num. 31; Cammann, Α.: Westpreuß. Märchen.

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Prinzessin als Hirschkuh

B. 1961, 90-102; Jurkschat, C.: Lit. Märchen und Erzählungen 1. Heidelberg 1898, num. 63; Viidalepp (wie not. 9); cf. Hüllen, G.: Märchen der europ. Völker 7. Münster 1967, 129-135 (slov.); cf. Mode, H. (in Zusammenarbeit mit M. Hübschmannovä): Zigeunermärchen aus aller Welt 3. Wiesbaden 1984, num. 153 (aus Polen); Nikiforov (wie not. 9) num. 125; Pomeranzewa, E.: Russ. Volksmärchen. B. 1966, num. 26. - 30 cf. jedoch Kahn, O.: Kommentar zu dem Märchen von der P. auf dem Glasberge. In: ÖZfVk. 81, N. S. 32 (1978) 165-177 (Markierung des Helden interpretiert als Brandmarkung und als Zeugnis matrilinearer Gesellschaften). 31 Viidalepp (wie not. 9). - 32 Uffer (wie not. 21). — 33 Hylten-Cavallius/Stephens (wie not. 7) Var. 3. 34 Jech, J.: Tschech. Volksmärchen. B. 1984, num. 32; Mode (wie not. 29); Dirr, Α.: Kaukas. Märchen. MdW 1922, num. 30 (armen.); Dorson, R. M.: Polish Wonder Tales of Joe Woods. In: WF 8 (1949) 25-52, hier 28-33; Afanas'ev, num. 181; Nikiforov (wie not. 9); Beke 1951 (wie not. 21); Löwis of Menar, A. von: Finn, und estn. Volksmärchen. MdW 1922, num. 1 (finn.); Cammann (wie not. 29); cf. Polivka 2, 231 (num. 18, Var. 2). - 3 5 B 0 dker, L.: Dän. Volksmärchen. MdW 1964, num. 38. - 36 Ranke (Var. 12, 13); cf. auch Lox, H.: Fläm. Märchen. MdW 1999, num. 33. - " G r a n n a s (wie not. 29). 38 Boehm, M./Specht, F.: Lett.-litau. Volksmärchen. MdW 1924, num. 10 (lett.); Cappeller, C.: Litau. Märchen und Geschichten. B. 1924, num. 33; Boskovic-Stulli, M.: Kroat. Volksmärchen. MdW 1975, num. 17; Berze Nagy 530 (Var.n 13, 25); Birlea (wie not. 5) 437 sq.; Dorson (wie not. 34). - 39 Afanas'ev, num. 179; Pomeranzewa (wie not. 29); Nikiforov (wie not. 9); Beke 1938 (wie not. 21); Redei (wie not. 21) num. 235; Lagercrantz, E.: Lapp. Volksdichtung 5. Hels. 1961, num. 297; Viidalepp (wie not. 9); Lemke (wie not. 6) num. 5; Grannas (wie not. 29); Djordjevic (wie not. 9); Boskovic-Stulli (wie not. 2) num. 3; Heller, L./Surowzowa, N.: Ukr. Volksmärchen. Wien u. a. 1921, 23-27; Paasonen (wie not. 6). - 40 Bodker (wie not. 35); Nedo, P.: Sorb. Volksmärchen. Bautzen 1956, num. 55; Wisser, W.: Das Märchen im Volksmund. Dumm' Hans mit der Königstochter im Elternhaus. Hbg 1925, 6, 15-21 (4 Var.n), cf. auch 8 - 1 5 (Entdeckung des Helden im Elternhaus). 41

Scherf, bes. 1107-1116. - 42 Holbek, B.: Künsten at hente prinsesser ned fra glasbjerge. In: Albjerg, A. (ed.): Folklore och barnlitteratur. Nordens BiskopsArnö 1983, 24-43, hier 40 sq.; id.: Interpretation of Fairy Tales (FFC 239). Hels. 1987, bes. 425; Scherf, 1107. Göttingen

Ines Köhler-Zülch

Prinzessin als Hirschkuh (AaTh 401), Z a u bermärchen, das eng mit A a T h 400: -• Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau verk n ü p f t ist.

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Ein Mann (Jäger, Königs- oder Kaufmannssohn, Soldat) trifft auf der Jagd (in einem unbewohnten Schloß) die in eine -» Hirschkuh (anderes Tier, schwarze Frau) verzauberte P. Sie sagt ihm, wie sie erlöst werden kann. Der Held muß drei Nächte überstehen, in denen er von Dämonen (bösen Männern) gequält wird, ohne ein Wort sagen (sich bewegen) zu dürfen (-• Qualnächte). Die P. versorgt ihn, pflegt seine Wunden und gewinnt (stufenweise) ihre menschliche Gestalt zurück. Vor der Heirat trennt sich das Paar. Die P. gibt Ort und Zeit für ein Wiedersehen an und verbietet dem Helden, bestimmte Dinge zu essen (zu trinken, sich berühren zu lassen). Eine böse Alte (Hexe, Stiefmutter) verführt den Helden, das -» Tabu zu übertreten, oder sticht ihn mit einer -» Nadel1, so daß er dreimal beim Erscheinen der P. schläft (cf. AaTh 861: -> Rendezvous verschlafen). Die P. hinterläßt eine Nachricht, wo er sie finden kann, oder ein -> Erkennungszeichen (Taschentuch, Ring)2. Nach langer Suche findet der Mann die P , und sie heiraten. Als älteste Belege f ü r das Motiv der v o m Prinzen verfolgten Hirschkuh gelten der Ritter- und M i n n e r o m a n Friedrich von Schwaben (anonym, 14. Jh.) 3 u n d das Meisterlied Der Ritter von Purgund mit dem Hirsen (1552) von H a n s -» Sachs. Bei H a n s Sachs findet sich d a r ü b e r hinaus auch das Motiv des verschlafenen Rendezvous 4 . Aus der mündl. Überlieferung des 19. u n d 20. Jh.s ist A a T h 401 vor allem in E u r o p a belegt; singuläre Var.n stammen aus Südamerika und dem f r a n k o k a n a d . Sprachraum 5 . Die P. in Gestalt einer Hirschkuh erscheint in dt.sprachigen, f r a n k o k a n a d . , dän. und Slovak. Var.n und einem ung. R o m - M ä r c h e n 6 . Der M a n n verfolgt die Hirschkuh u n d gelangt so zu einem Schloß. In einer slovak. Var. verfolgt der Königssohn in einem zoologischen G a r t e n ein R e h u n d gelangt durch ein Loch in eine andere Welt 7 ; in frz. u n d ital. Var.n sowie in einer dt. Fassung trifft der Held auf eine Ziege 8 , in einzelnen Belegen h a t die im Schloß gefundene P. eine Fischhaut 9 , ist in eine Schlange 1 0 oder einen H u n d 1 1 verwandelt. Die P. erscheint in vielen europ. L ä n d e r n auch als schwarze F r a u , die Stück f ü r Stück weiß wird 1 2 . Die Verzauberung k a n n auch durch einen Zustand des Gefangenseins ausgedrückt sein, ζ. B. wenn die P. in der Erde steckt 1 3 oder, wie in einer u d m u r t . Var., in einem F a ß an einer Linde hängt 1 4 . Zahlreiche Texte enthalten das Motiv der von einem M a n n verfolgten Hirschkuh; d a sie aber d a r a n anschließend einen anderen H a n d -

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Prinzessin als Hirschkuh

lungsverlauf aufweisen, ist ihre Klassifizierung als AaTh 401 unzutreffend 15 . Nur in die Nähe ist K H M 93: Die Rabe zu stellen, in der die zu Erlösende zwar auch in Tiergestalt erscheint, doch das für AaTh 401 charakteristische Rendezvous-Motiv die Erlösung herbeiführen soll, während es in AaTh 401 nach der bereits stattgefundenen Erlösung die Suchwanderung motiviert 16 . Konstituierend für AaTh 401 ist das Motiv der Qualnächte, nur in wenigen Fassungen muß der Held andere Aufgaben erfüllen, wie ζ. B. gegen einen schwarzen Mann kämpfen 17 oder ein Jahr lang nicht mit bzw. über Frauen sprechen 18 , um die P. zu erlösen. Nur wenige Var.n schließen die Erzählung mit der -» Erlösung der P. ab 19 , meistens kommt es danach zu einer -> Trennung des Paars. In einer masur. und einer sudetendt. Var. ist es der Mann, der die von ihm Erlöste verläßt. Er kehrt in ärmlicher Kleidung zu seinen Eltern zurück und kann erst mit dem Erscheinen der P. seine neue Position demonstrieren (cf. AaTh 935: Heimkehr des verlorenen Sohnes; AaTh 402: -• Maus als Braut)20. Trennt sich hingegen die P. von ihrem Retter wie in der überwiegenden Anzahl der Var.n, dann verlaufen die Handlungsstrukturen parallel zu AaTh 400. Auf der Suche nach seiner verlorenen Braut erhält der Held Unterstützung vom König der Vögel (-• Tierkönig), von anderen Tierhelfern (Adler, Geier, Ochse), Menschenfressern oder von einem Wind, der ihn zu seiner Braut bringt 21 . Die P. steht meist kurz vor der Hochzeit mit einem anderen Mann; in frz. Var.n erkennt sie ihren Retter an den Taschentüchern, die sie bei ihm zurückgelassen hat 22 ; der Held der brasilian. Fassung spielt auf einer Zaubergeige, die alle Leute zum Tanzen bringt, und der neue Bräutigam wird mit dem Vergleich vom neuen und alten Schlüssel abgewiesen 23 . Oftmals gelingt es dem Helden auch, durch Zaubergaben (Mantel, Stab, Ring etc.) sein Ziel zu erreichen. Diese bekommt er geschenkt oder erringt sie durch eine List von den sich darum streitenden Personen (AaTh 518: -> Streit um Zaubergegenstände)24. Im frz. Typenkatalog sind AaTh 401 und AaTh 400 zu einem Erzählzyklus um das Motiv der Suche nach der verschwundenen Braut zusammengefaßt. Unterschiede zwischen beiden Erzähltypen bestehen in den der Such-

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wanderung vorhergehenden Episoden, die in AaTh 401 vor allem durch die beiden Motive der Qualnächte und des dreimal verschlafenen Stelldicheins bestimmt sind 25 . 'z.B. Pitre, G.: Märchen aus Sizilien, ed. R. Schenda/D. Senn. MdW 1991, num. 36. - 2 Delarue/ Teneze 2, 25-28; Webster, W.: Basque Legends. L. 1877, 106-111; Zaunert, P.: Dt. Märchen seit Grimm. MdW 1981, num. 39; Kristensen, Ε. T.: Danske Folkeasventyr 3. Viborg 1888, num. 44; Afanas'ev, num. 271. - 3 BP 2, 346 sq.; cf. auch Woite, H.: Märchenmotive im Friedrich von Schwaben. Diss. Kiel 1910, 21-28. - 4 Goetze, E./Drescher, K. (edd.): Sämtliche Fabeln und Schwänke von Hans Sachs 6. Halle 1913, 344-349, num. 813 a; cf. auch BP 2, 335-346; Bolte, J.: Gereimte Märchen und Schwänke aus dem 16. Jh. In: ZfVk. 21 (1911) 160-164. - 5 Ergänzend zu AaTh: 0 Süilleabhäin/ Christiansen; Kecskemeti/Paunonen; Aräjs/Medne; de Meyer, Conte; Delarue/Teneze; Camarena/Chevalier; Aprile; Gasparikovä, num. 303, 528; SUS; Sabitov; Baughman. - 6 Ranke 1, 318 sq.; Haiding, K.: Österreichs Märchenschatz. Wien 1953, 87 sq.; Kristensen (wie not. 2); Lemieux, G.: Les Vieux m'ont conte ... 3. Montreal/P. 1974, num. 6; Polivka 2, 162-164; Mode, H.: Zigeunermärchen aus aller Welt 2. Wiesbaden 1984, num. 99 (ung. Rom-Var.). - 7 Polivka 2, 164-168. - 8 Delarue/Teneze 2, 25-28; Luzel, F. M.: Contes populaires de BasseBretagne 1. P. 1887, num. 5; Sebillot, P.: Contes populaires de la Haute-Bretagne 3. P. 1882, num. 4; Pitre (wie not. 1). - 9 Massignon, G.: Contes de l'Ouest. P. 1954, num. 2. - 10 Jones, W. H./Kropf, L. L.: The Folk-Tales of the Magyars. L. 1889, num. 12.

-

"Loorits, O.: Estn. Volkserzählungen. Β. 1959, num. 78. - 12 Kristensen (wie not. 2); Polivka 2, 164-168; Schulte-Kemminghausen, K./Hüllen, G.: Märchen der europ. Völker 4. Münster 1963, 138-143 (masur.); Uffer, L.: Las Tarablas da Guarda. Basel 1970, 96-103; Afanas'ev, num. 271; Sudetendt. Zs. für Vk. 3 (1930) 259-263. - "Webster (wie not. 2); Blade, J. F.: Contes populaires de la Gascogne 1. P. 1886, 193-211. - 14 Kralina, N.: Sto skazok udmurtskogo naroda. Izevsk 1961, num. 42. - 15 cf. Scherf, 184 sq. - 16 cf. KHM/Uther, num. 93. - 17 Haiding (wie not. 6). - 18 Lemieux (wie not. 6). — " z . B . Loorits (wie not. 11); Ranke I, 318 sq.; Haiding (wie not. 6). - 20 Sudetendt. Zs. für Vk. (wie not. 12); Schulte-Kemminghausen/Hüllen (wie not. 12). 21 Afanas'ev, num. 271; Massignon (wie not. 9); Zaunert (wie not. 2); Webster (wie not. 2). - 22 Blade (wie not. 13); Delarue/Teneze 2, 25-28; Luzel (wie not. 8). - 23 Cascudo, L. da Cämara: Contos tradicionais do Brasil. Bahia 21955, 34-43. - ^ L o m bard! Satriani, R.: Racconti popolari calabresi 2.

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Prinzessin im Sarg

Neapel 1956, num. 72; Luzel (wie not. 8). Delarue/Teneze 2, 3 3 - 3 5 .

Göttingen

cf.

Stefanie Rühle

Prinzessin zum Lachen bringen Zum L. bringen

Lachen:

Prinzessin durch Lügen gewinnen kampf mit der Prinzessin

Prinzessin muß „nein" sagen mit der Prinzessin

25

Rede-

Redekampf

Prinzessin kann das Rätsel nicht lösen Rätselprinzessin

Prinzessin im Sarg (AaTh 307), Zaubermärchen oder sagenähnliche Erzählung mit Horrorelementen aus dem Bereich des Toten-, -» Gespenster- und -» Dämonenglaubens (cf. -» Horrorgeschichte, Horrorliteratur) 1 : Die Tochter des Königs ist eine Hexe (steht unter einem Fluch, ist vom -> Teufel besessen, verzaubert). Nach ihrem Tod muß bei ihrem S. (Grab) in der Kirche (auf dem Friedhof, im Sterbezimmer) jede Nacht eine Wache (-> Grab wache) stehen (muß jemand drei Nächte bei ihr wachen, um sie zu erlösen [-» Qualnächte]). Alle Wächter sind am nächsten Morgen tot (unauffindbar). Einem -• Soldaten (anderem Mann aus der Unterschicht, gelegentlich auch vornehmer Herkunft) gelingt es, meist mit Hilfe eines alten Mannes (alter Frau), drei Nächte durchzustehen und, ζ. T. mit Hilfe magischer (frommer) Praktiken, die P. ins Leben zurückzurufen und von der Verwünschung zu befreien (ihre Seele zu erlösen, die Hexe unschädlich zu machen). Der Erlöser heiratet die P. (wird reich belohnt).

AaTh 307 ist (mit Ausnahme der Brit. Inseln) in fast ganz Europa verbreitet2, darüber hinaus kommt der Erzähltyp nur sporadisch vor (je eine Var. bei Armeniern 3 und Georgiern4; eine Var. port. Ursprungs aus Mosambik5; zwei frankokanad. Var.n6; in einer ind. Var. handelt es sich um eine Besessene, keine Tote7). Es scheint sich um ein vorwiegend mündl. überliefertes Märchen zu handeln; bes. häufig ist es im Baltikum (Lettland: 243

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Var.n8; Litauen: 178 Var.n9; Estland: 72 Var.n10) und im dt.sprachigen Gebiet (60 Var.n11) belegt. Den frühesten bekannten Nachweis bildet eine Aufzeichnung aus Westfalen, die den Brüdern -ι· Grimm 1818 durch die Familie von Haxthausen zugekommen war, aber nicht in die KHM aufgenommen wurde 12 . Eine literar. Bearb. stammt von Nikolaj V. Gogol', dessen Novelle Vij (1835) nach eigener Aussage auf einer fast unverändert wiedergegebenen ukr. Volkssage beruht 13 . Dieser aus zwei Hauptteilen bestehenden Erzählung (Hexenritt, bei dem der Held die Hexe überwindet, und Totenwache [= AaTh 307], bei der er den Mächten des Bösen unterliegt) stehen Var.n aus Lettland 14 , Litauen 15 und Rußland (u.a. eine der Fassungen Α. N. Afanas'evs) 16 nahe. Den schlechten Ausgang von Gogol's (auch mehrmals verfilmter17) Novelle interpretiert Ν. K. Moyle als Spiel mit Prinzipien des Volksmärchens: Gogol's Protagonist sei als der Zweitälteste von drei Gefährten zum Scheitern verurteilt, erst der ->· Jüngste werde siegen18. Eine häufige Einl. in Zaubermärchenformen von AaTh 307 bildet der Kinderwunsch eines Königspaars (selten: anderes Ehepaar), das sich nach jahrelanger unfruchtbarer Ehe an eine übernatürliche oder zauberkundige Person, manchmal den Teufel selbst, wendet, und eine Tochter bekommt, die oft kohlschwarz19, stumm 20 und/oder unnatürlich früh entwickelt bzw. -* erwachsen bei der Geburt 21 und meist zu frühem Tod verdammt ist22; einige skand. Var.n erzählen vom Bruch des -» Tabus, die Tochter vor ihrem 12. (14.) Geburtstag zu sehen 23 . In zahlreichen anderen Fassungen werden die näheren Umstände von Tod oder Verwünschung nicht mitgeteilt oder nur kurz erwähnt; die P. ist teils Hexe oder Horrorwesen, teils Opfer von Fluch oder Verzauberung. Wenn die dem Bericht der Spuknächte vorangehende Vorgeschichte ausführlicher geschildert wird, kann dies sowohl aus der Perspektive der P. bzw. ihres Vaters als auch aus der Perspektive des Helden geschehen. Ebenso wie die weibliche Hauptfigur vielfach abstoßend bis grauenerregend wirkt, wird die männliche Hauptfigur eingangs manchmal recht abfallig charakterisiert: als alter Trinker 24 , Verschwender 25 , verlotterter oder verachtenswerter

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Prinzessin im Sarg

Mensch26. Der Held muß meist auf Befehl Wache halten und versucht oft allnächtlich zu desertieren27. Gleichzeitig profitiert er von der Situation, indem er Geldforderungen stellt (und mit dem Lohn oder Vorschuß manchmal sogleich fortläuft 28 ) oder sich ordentlich auftischen läßt 29 . Schnaps und Tabak gehören oft zum nächtlichen Proviant; manchmal wird der Held auch betrunken gemacht, um ihn die Angst vergessen zu lassen30, oder er trinkt sich selbst Mut an, bevor er die Grabwache antritt 31 . Solche Szenen sind oft mit schwankhaftem Realismus und ζ. T. detailliert geschildert. Vor Antritt der Nachtwache trifft der Held fast immer einen Helfer, der ihm entscheidende Ratschläge erteilt: einen alten Mann oder eine alte Frau, in denen bisweilen Gott selbst32, -> Christus 33 , Engel34 oder Heilige (Maria 35 , Joseph 36 , -» Antonius [von Pa37 dua] , Nikolaus 38 , Laurentius 39 , Katha40 rina ) verkörpert sind. Die von der Helferfigur mitgeteilten Schutzmaßnahmen und Erlösungsmittel sind: (1) Verstecken an wechselnden Orten (Altar 41 , Kanzel 42 , Orgel 43 , Kirchenbank 4 4 , Beichtstuhl 45 etc.), in der dritten Nacht meist im S. der P. (unter den ->• Knochenhaufen einer Gruft, den Knochen der getöteten Wachen etc.); (2) fromme Übungen (Beten 46 ; Lesen von Bibel 47 oder Gebetbuch 48 ) bzw. Zuhilfenahme christl. Symbole (-» Kreuz, Kreuzzeichen 49 ) oder geweihter Gegenstände 50 ; (3) Einsatz von magischen Mitteln, bes. das Schlagen eines -> Zauberkreises 51 ; (4) eigene Willensstärke (nicht aufsehen 52 ; sich nicht umdrehen 53 , nicht sprechen 54 ); (5) eher profane Exorzismen (das Böse muß aus der P. herausgeprügelt werden 55 ); (6) Ersatzfutter für die Menschenfresserin 56 .

Diese verschiedenen Maßnahmen werden allerdings vielfach miteinander kombiniert, auch fromme Praxis und Magie mischen sich57, und schon der erste Motivkomplex schließt über simple Versteckmanöver hinaus Aspekte des Heiligen und -» Numinosen mit ein. Für einen Teil der estn. Überlieferung typisch ist, daß Tiere (Katze, Hund, Hahn 58 ; Stier59) dem Helden bei der Nachtwache beistehen. Die zu überstehende Geisterstunde liegt vor oder nach -» Mitternacht, in den östl. Erzählungen meist zwischen Mitternacht und dem ersten Hahnenschrei. Die P , die ihren S. verlassen hat, tobt durch die Kirche — manchmal als feurige oder funkensprühende Gestalt 60 —, sie flucht, lärmt und beschimpft ih-

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ren Vater, weil er ihr niemanden zum Fressen geschickt hat. Sie schnüffelt herum, sucht die Wache überall, ruft nach ihr, droht, sie zu fressen, kennt manchmal sogar den Namen des Helden und findet ihn gewöhnlich ausgerechnet in dem Moment, in dem sie wieder in ihren S. muß. Eine Schwarzweißsymbolik (-> Farben, Farbsymbolik), u. a. in dt., bait, und slav. Var.n61, bezeichnet den Zustand von Erlöstheit bzw. Unerlöstheit der Seele62: die schwarze Ρ wird, ζ. T. in Stufen, am Ende schneeweiß. In den östl. Erzählungen sind oft Scharen von Dämonen am Spukort versammelt63; allg. bezeichnend ist, daß sich die Situation von Nacht zu Nacht gefährlicher gestaltet. AaTh 307 ist des öfteren mit anderen Erzähltypen verbunden, am häufigsten mit den Typen AaTh 505—508: Dankbarer Toter bzw. AaTh 507 C: Giftmädchen und AaTh 306: Die zertanzten Schuhe, die ebenfalls Erzählungen dämonischen Charakters sind. So endet eine Reihe slav., estn. und litau. Var.n mit dem zentralen Motiv von AaTh 507 C: Der Helfer - oft ein dankbarer Toter 64 oder ein Heiliger, dessen Ikone der Held erstanden hatte 65 - verlangt, die Braut zu teilen, wobei Schlangen, Kröten und anderes Teufelsgetier aus ihrem Körper kommen 66 . In port, wie in slav. Märchen folgt AaTh 307 oft auf AaTh 306 und ist dann gewöhnlich recht kurz gefaßt 67 . Mehrfach wird auch von der zuerst beschämenden, aber letztendlich triumphalen Heimkehr des vermeintlich nichtsnutzigen Sohnes berichtet (AaTh 935: —• Heimkehr des verlorenen Sohnes)68. Vieles läßt darauf schließen, daß sich die Märchenform von AaTh 307 auf dem Hintergrund von Sagen entwickelt hat. Zwar überwiegen Var.n mit dem Happy-End der Heirat, doch schließt ein großer Teil der Texte in eher sagentypischer Weise: Entweder findet die gequälte Seele ihre ewige Ruhe, oder die Hexe wird für alle Zeiten unschädlich gemacht; manchmal stirbt auch der Erlöser69. Zahlreiche Sagenbeispiele von AaTh 307 bietet die lett. Überlieferung: Der Ehemann der Hexe70 oder der Sohn eines Zauberers 71 müssen drei Nächte lang am S. wachen; nach der dritten Nacht endet der Spuk. Manchmal kämpft der Sohn oder Diener mit den Teufeln um die geschundene Haut der Leiche und listet ihnen

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Prinzessin im Sarg

ζ. T. viel Geld oder Gold ab 72 ; teils wird dabei die Seele des Toten gerettet 73 , teils bleibt die Grabwache erfolglos (cf. AaTh 815: —• Schatz in der Totenhaut)1*. In zwei russ. Var.n gelangen die Schwester einer Hexe 75 und die Schwiegertochter eines Zauberers 76 durch die Totenwache zu Reichtum. Poln. Sagen von Gespenstern, die in Kirchen spuken und von mutigen Burschen vertrieben werden, sind auf bestimmte Orte lokalisiert 77 ; das Beispiel einer Vermischung von Zaubermärchen und Schatzsage bietet eine Var. aus Hessen 78 . Komparatisten haben den Erzähltyp in eher vage Zusammenhänge gestellt: R. T. Christiansen sah gewisse Gemeinsamkeiten mit der Erzählung von der Sünde Kaiser Karls d. Gr. (-• Nekrophilie) 79 ; R. Aprile sprach von einem antiken Substrat (-• Menschenopfer) und christl. Beiklängen (Identifikation mit der Passion Christi) 80 . W. Scherf hob in seinen Interpretationen einer dt., einer poln. und zweier russ. Var.n von AaTh 307 die gestörte Vaterbeziehung der P. hervor, der meist eine positive Beziehung des Helden zu Vater, Mutter oder verschiedenen anderen Vaterfiguren gegenüberstehe 81 . Auch diese Deutung betrifft mehr die Randbereiche des Gesamtgeschehens von AaTh 307. Im Mittelpunkt von AaTh 307 stehen vor allem die Auseinandersetzung mit dem Übersinnlichen und den Mächten des Bösen, Ängste vor allem, was mit dem Tod zu tun hat, und die abergläubische Furcht vor Gespenstern und Dämonen, wobei allerdings immer verschiedene Ebenen von Glauben und Unglauben sowie verschiedene Grade der Betroffenheit vorauszusetzen sind. So war die Graubündner Erzählerin Maria Ursula Capaul überzeugt, eine wahre Begebenheit zu berichten 82 ; die Lettin Alma Makovska (geb. 1922) dagegen, von der G. Pakalns das Märchen zwischen 1986 und 2001 ca zehnmal aufgezeichnet hat, erklärte, ihr Vater habe es den Kindern abends im Bett vor dem Einschlafen erzählt, und gerade weil es so schauerlich war, sei es auch bes. beliebt gewesen 83 . Den Volkserziehern waren solche Horrorgeschichten wegen ihres abergläubischen Inhalts und der nach offizieller Ansicht wenig kindgerechten Schauerthematik wohl eher suspekt — in Lettland wurden sie in Sowjet. Zeit nur selten in Märchenbüchern gedruckt 84 ; ähnliche Gedanken mögen die Brüder Grimm bewogen haben, das Märchen nicht zu verwenden.

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'cf. Müller/Röhrich C 15, C 16, v. auch C 12; 0 Süilleabhäin, S.: A Handbook of Irish Folklore. [Dublin] 1942, 225, 445 sq. - 2 Ergänzend zu AaTh: Hodne; Rausmaa, SK 1, num. 9; Kecskemeti/Paunonen; Aräjs/Medne; Kerbelyte, LPTK; van der Kooi; Gasparikovä, num. 199, 227, 332, cf. 30; SUS; Delarue; Cirese/Serafmi; Aprile; Camarena/Chevalier; MNK; Megas/Puchner; cf. auch AaTh 307 B* (ung.), 307 C* (poln.). - 3 Hoogasian-Villa, S.: 100 Armenian Tales and Their Folkloristic Relevance. Detroit 1966, num. 35. — 4 Bleichsteiner, R.: Kaukas. Forschungen 1. Wien 1919, num. 13. — 5 Junod, H.-A.: Les Chants et les contes des Ba-Ronga de la Baie de Delagoa. Lausanne 1897, num. 30 (= Klipple). - 6 Archiv der Univ. Laval, Quebec (nach AaTh). - 7 North Indian Notes and Queries 2 (1892-93) num. 51 (= Thompson/Roberts). 8 Aräjs/Medne. - 'Kerbelyte, LPTK. - 10 Letzte Aufzeichnung 1939; alle Angaben zu den estn. Var.n nach freundlicher Mittig von R. Järv, Tartu, aufgrund des Materials im Estn. Folklorearchiv, Tartu. — 11 Ergänzend zu Ranke 1, 147: Ranke, K.: Folktales of Germany. Chic. 1966, not. zu num. 23. - 12 BP 3, 531-537, hier 531-534. - 13 Gogol', Ν. V.: Polnoe sobranie socinenij (Gesamtausj». der Werke) 2. [Μ.] 1937, 176-218, hier 176. - 14Sväbe, Α.: Latvju tautas pasakas 3. Riga 1924, num. 2 e, f; Smits, P.: Latviesu tautas teikas un pasakas 3. Waverly, Iowa 2 1964, num. 2.8, 2.10, 2.11. - 15Boehm, M./Specht, F.: Lett.-litau. Volksmärchen. MdW 1924, 205-210. - 16Afanas'ev, num. 367; Zelenin, D. K.: Velikorusskie skazki Vjatskoj gubernii. Petrograd 1915, num. 17. - 17 La maschera del demonio (engl. Black Sunday/Mask of Satan; dt. Die Stunde, wenn Dracula kommt). Italien 1960, Regie Mario Bava; Vij. Sowjetunion 1967, Regie Konstantin Ersov; La maschera del demonio (Fernseh-Remake des Films von 1960). Italien u.a. 1990, Regie Lamberto Bava. 18 Moyle, Ν. K.: Folktale Patterns in Gogol"s „Vij". In: Russian Literature 7 (1979) 665-688, hier 666, 668, 678-680. - 19 BP 3, 531-534; Veckenstedt, E.: Wend. Sagen, Märchen und abergläubische Gebräuche. Graz 1880, 338 sq.; Zaunert, P.: Dt. Märchen aus dem Donaulande. MdW 1926, 150-155. 20 Bindewald, T.: Oberhess. Sagenbuch. Ffm. 1873, 142-144; Kristensen, Ε. T.: Danske Folkesventyr. Viborg 1888, num. 33. 21 Jahn, U.: Volksmärchen aus Pommern und Rügen I. Norden/Lpz. 1891, num. 16 und p. 356 (3. Var.); Sommer, E.: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Sachsen und Thüringen 1. Halle 1846, 104-108; Vasconcellos, J. Leite de: Contos populäres e lendas 1. ed. A. da Silva Soromenho/J. P. Caratäo Soromenho. Coimbra 1963, num. 190. - 22 Ranke 1, 147-149; Satke, Α.: Hlucinksy pohädkär Josef Smolka. Ostrava 1958, num. 3. - 23 Grundtvig, S.: Dän. Volksmärchen [1], Lpz. 1878, 148-171; Kristensen, Ε. T.: /Eventyr fra Jylland 3. Kop. 1895, num. 50; Prinsessene som dansa i äkeren. Eventyr frä Rogaland. Oslo 1967, num. 51. - 24 Peuckert,

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Prinzessin im Sarg

W.-E.: Schlesiens dt. Märchen. Breslau 1932, num. 51; Piprek, J.: Poln. Volksmärchen. Wien 1918, 13, not. 1; Krzyzanowski, J.: Slownik folkloru polskiego (Lex. der poln. Folklore). W. 1965, 191; Subtyp D der estn. Var.n (cf. not. 10). - 25 Jahn (wie not. 21) num. 16; Oliveira, F. X. d'Athaide: Contos tradicionaes do Algarve 1 - 2 . Tavira 1900/Porto 1905, hier t. 2, num. 311. - 26 ibid., num. 234, 270; Martha, M. Cardoso/Pinto, Α.: Folclore da Figueira da Foz 2. Espozende 1912, 176-186. - 27 Jegerlehner, J.: Sagen und Märchen aus dem Oberwallis. Basel 1913, 114 sq.; Polivka 2, 199 sq., num. 1; Camarena/Chevalier, p. 54-56. - 28 Kristensen (wie not. 20); Lombardi Satriani, R.: Racconti popolari calabresi 2.Vibo Valentia Marina [1956], num. 69; Pires, Α. T.: Contos populäres alentejanos recolhidos da tradi?äo oral. ed. M. Lages. Lissabon 1992, num. 45. - 29 Joisten, C.: Contes populaires du Dauphine 1. Grenoble 1971, num. 18.1-2; Massignon, G.: Contes corses. Aix-en-Provence 1963, num. 101. - 30 DowojnaSylwestrowicz, M.: Podania zmujdzkie 2. W. 1894, 129-136; Prinsessene (wie not. 23); MerkelbachPinck, Α.: Lothringer Volksmärchen. Kassel (1940), 187-191. 31 Gaal, G.: Ung. Volksmärchen. Pest (1857), num. 10; Christiansen, R. T.: Fra jydsk til norsk tradisjon. In: Festschr. Η. P. Hansen. Kop. 1949, 213-221, hier 215. - 32 Basanavicius, J.: Is gyvenimo veliy bei velniy. ed. K. Aleksynas/L. Sauka. Vilnius 1998, num. 23.12; Zs. für rhein-westfäl. Vk. 29 (1932) 44 (not.); Boskovic-Stulli, M.: Narodne pripovijetke. Zagreb 1963, num. 16. - 33 Kapehis, H./Krzyzanowski, J.: Sto basni ludowych. W. 1957, num. 10; Aprile, p. 140 sq. - 34 Smits (wie not. 14) num. 1.13-15, 1.19; Archiv für siebenbürg. Landeskunde 33 (1905-06) 507-510. - "Soromenho, A. da Silva/Soromenho, P. Caratäo: Contos populäres Portugueses (ineditos) 1. Lissabon 1984, num. 237; Aprile, p. 142. - 36 Lombardi Satriani (wie not. 28). - 37 Oliveira (wie not. 25) t. 2, num. 234. - 38 Dobrovol'skij, V. N.: Smolensky etnograficeskij sbornik 1. SPb. 1891, 547-554; Zelenin (wie not. 16) num. 128; Subtyp *849 Β + 307 der estn. Var.n (cf. not. 10). - 39 Uffer, L.: Rätorom. Märchen. MdW 1973, num. 19. - 40 Büchli, Α.: Mythol. Landeskunde von Graubünden 2. ed. U. Brunold-Bigler. Disentis 2 1989, 560-565. 41 Smits (wie not. 14) num. 1.21; Jahn (wie not. 21) num. 16; Sommer (wie not. 21). - 42 Smits (wie not. 14) num. 1.4, 1.19; Oberfeld, C.: Volksmärchen aus Hessen. Marburg 1962, num. 15, 16. — 43 Kerbelyte, LPTK; Neumann, S.: Mecklenburg. Volksmärchen. B. 1971, num. 63; Henßen, G.: Ungardt. Volksüberlieferungen. Marburg 1959, num. 83. 44 Kooi, J. van der/Meerburg, B. A. G.: Fries. Märchen. MdW 1990, num. 6; Peuckert (wie not. 24) num. 54; Merkelbach-Pinck (wie not. 30). - 45 Oliveira (wie not. 25) t. 2, num. 270; Revue hispanique 14 (1906) 140 sq.; Tietz, Α.: Wo in den Tälern die Schlote rauchen. Buk. 1967, 528-530 (dt. aus dem Banater Montangebiet). - 46 Kerbelyte, LPTK;

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Smits (wie not. 14) num. 1.1, 1.4, 1.11, 1.12, 1.23; BP 3, 531-534. - 47 Loorits, O.: Estn. Volkserzählungen. B. 1959, num. 77; Bleichsteiner (wie not. 4). 48 Nord, R.: Volksmärchen aus Waldeck. Corbach 1932, 38-45; Sirovätka, O.: Tschech. Volksmärchen. MdW 1980, num. 18; Polivka 2, 201, num. 5. 49 Kerbelyte, LPTK; Basanavicius, J.: Lietuviskos pasakos jvairios 4. ed. K. Aleksynas/L. Sauka.Vilnius 1998, num. 1; Bll. für pommersche Vk. 7 (1899) 81 sq. - 50 Kerbelyte, LPTK; Oliveira (wie not. 25) t. 2, num. 159; Finamore, G.: Tradizioni popolari abruzzesi 1,2. Lanciano 1885, num. 56; Coleman, Μ. Μ.: A World Remembered. Tales and Lore of the Polish Land. Cheshire, Conn. 1965, 123 sq. 51 Kerbelyte, LPTK; Basanavicius (wie not. 32) num. 23.12-13; Smits (wie not. 14) num. 1.19, 1.23; Zelenin (wie not. 16) num. 128; Ranke 1966 (wie not. 11) num. 23. - 52 Gogol' (wie not. 13); Basanavicius (wie not. 32) num. 23.12; Loorits (wie not. 47). 53 Afanas'ev, num. 366. - 54 Kerbelyte, LPTK. 55 Löwis of Menar, A. von: Russ. Volksmärchen. MdW 1959, num. 48; Velikorusskie skazki ν zapisjach O. A. Chudjakova. ed. V. G. Bazanov/O. B. Alekseeva. M./Len. 1964, num. 43. - 56 ibid.; Kerbelyte, LPTK; Smits (wie not. 14) num. 2.6; Subtyp Β der estn. Var.n (cf. not. 10). - 57 Afanas'ev, num. 366, 367; Zelenin (wie not. 16) num. 128; Polivka 2, 201, num. 5. - 58 Subtyp Β der estn. Var.n (cf. not. 10); Hahn, bei dessen Krähen die Macht der Hexe bricht, auch bei Bazanov/Alekseeva (wie not. 55) num. 94; Smits (wie not. 14) num. 1.4. — 59 Subtyp C der estn. Var.n (cf. not. 10). - 6OB0dker, L./Hole, C./D'Aronco, G.: European Folk Tales. Kop. 1963, 155 sq. (aus Belgien); Delarue, p. 172 sq.; Camarena/ Chevalier [1], p. 54-56. 61 Henßen, G.: Volk erzählt. Münster 1935, num. 176; Busch, W.: Ut öler Welt. Mü. 1910, 9-11; Smits (wie not. 14) num. 1.2; Polivka 2, 200, num. 2; Piprek (wie not. 24) 14, not. 1. - 62 cf. HDA 3 (1930-31) 488 sq. - 63 Sejn, P. V.: Materialy dlja izucenija byta i jazyka russkago naselenija severozapadnago kraja 2. SPb. 1893, num. 18; Boehm/ Specht (wie not. 15); von Löwis of Menar (wie not. 55). - 64 Kerbelyte, LPTK; Subtyp Α der estn. Var.n (cf. not. 10); Sejn (wie not. 63) num. 33. — 65 Kerbelyte, LPTK; Loorits (wie not. 47); cf. not. 38. - 66 Afanas'ev, num. 364; Polivka 2, 199 sq., num. 1; Kerbelyte, LPTK; Smits (wie not. 14) num. 1.11, 1.13-14, 1.19, cf. 1.12, 1.16-17, 1.23; cf. Liljeblad, S.: Die Tobiasgeschichte u.a. Märchen mit toten Helfern. Lund 1927, 36 sq. - 67 Vasconcellos (wie not. 21) num. 320; Marreiros, G. M.: Um Algarve outro, contado de boca em boca. Lissabon 1991, 59-62; Piprek (wie not. 24) 11-16 (+AaTh 505 sqq.), 146-150; Cendej, I.: Skazki verchoviny. Zakarpatskie ukrainskie narodnye skazki. Uzgorod 1959, num. 319-321; Zbornik narodni zivot i obacije juznih slavena 18,1 (1913) 145-147 (+ AaTh 5 52). - 68 Jahn (wie not. 21) num. 16; Joisten, C.: Contes populaires de l'Ariege. P. (1965), num. 7; Fahre, D./Lacroix, J.: La Tradition orale du conte occi-

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Prinzessinnen: Die drei geraubten P.

tan 1. P. 1974, 371-378. - 6 9 Peuckert (wie not. 24) num. 52, 54; van der Kooi/Meerburg (wie not. 44). — 7 0 Smits (wie not. 14) num. 2.1; Sväbe (wie not. 14) num. 2 b - d . 71 ibid., num. 2 a; Smits (wie not. 14) num. 3 . 1 - 2 , 3.6, cf. 3.30. - 7 2 ibid., num. 3.23-24, 3.31. 73 ibid., num. 3.23 , 3.31. - 7 4 ibid., num. 3.27. 75 Bazanov/Alekseeva (wie not. 55) num. 94. 76 ibid., num. 111. - 77 Krzyzanowski (wie not. 24). - 78 Grüner, G.: Waldeck. Volkserzählungen. Marburg 1964, num. 490; cf. auch UfFer (wie not. 39). 79 Christiansen (wie not. 31) 219 sq. - 8 0 Aprile, p. 141 sq. 81 Scherf, 560-563, 906-909, 1337-1339, 1403-1406. - 82 Büchli (wie not. 40) 565. 83 Freundliche Mittig G. Pakalns, Riga. - 8 4 ibid.

Göttingen

Christine Shojaei Kawan

Prinzessin zum Sprechen bringen und Verstand

Prinzessin: Vor der P. verstecken wette

Glück

Versteck-

Prinzessinnen: Die drei geraubten P. (AaTh 301), Zaubermärchen aus dem Themenkreis der Drachentötermärchen (-> Drache, Drachenkampf, Drachentöter). Der Erzähltyp umfaßt eine Gruppe weltweit verbreiteter Erzählungen, in denen der Held eine Fahrt in die Unterwelt (-> Jenseitswanderungen) unternimmt, Ungeheuer besiegt und von diesen gefangengehaltene junge Frauen befreit, von seinen Gefährten verraten und zurückgelassen wird, dennoch auf die Erde zurückgelangt und am Hochzeitstag der P. die Übeltäter bestraft 1 . Aufgrund der unterschiedlichen Einl.sepisoden werden neben dem Haupttyp AaTh 301: The Three Stolen Princesses die Subtypen AaTh 301 Α und AaTh 301 B: Quest for a Vanished Princess unterschieden 2 . AaTh 301 findet sich erstmals bei den Brüdern ->• Grimm ( K H M 5 [1815], ab der 2. Aufl. K H M 91)3 und bei Ludwig Bechstein 4 . (1) Eingangsepisode 5 : (1.1) Ein König verbannt seine drei Töchter, weil sie nachts Äpfel von seinem geliebten Apfelbaum stehlen (cf. AaTh 550: Vogel, Pferd und Königstochter, AaTh 530: -> Prinzessin auf dem Glasberg), in die Unterwelt (die Mädchen werden von einem Untier geraubt und in die Unterwelt entführt). (1.2) Drei Brüder (Jäger, der Jüngste

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als Dummling) oder mit außergewöhnlichen Eigenschaften begabte Weggenosssen (cf. AaTh 513 A: Sechse kommen durch die Welt', AaTh 653: Die vier kunstreichen -» Brüder) des übernatürlichen Helden (cf. Bärensohn; cf. auch AaTh 650 A: -» Starker Hans) machen sich auf, die Töchter zu finden. (2) Ein sonderbares Männlein verprügelt die beiden Brüder, der Held zwingt es, ihm den Eingang zur Unterwelt (meist Brunnen) zu zeigen, und läßt sich an einem Seil hinab. (3) Der Held bezwingt Ungeheuer (Drachen) und befreit die P., die seine Gefährten nach oben hieven; die Gefährten zwingen die Mädchen dazu, sie selbst als Befreier auszugeben. (4) Die Gefährten lassen den Helden zurück (stürzen den Korb um oder schneiden das Seil ab — wobei der Held, manchmal auf Anraten des Zwerges, einen Stein in den Korb gelegt hat). Der Held gelangt an die Oberwelt mit Hilfe eines Geistes, der ihm Flugkraft verschafft (eines Vogels, den er mit dem eigenen Fleisch füttern muß). (5) Am Hochzeitstag der P. kommt der Held vor den König und wird zunächst ins Gefängnis geworfen, doch die Wahrheit kommt ans Licht, die Verräter werden gehenkt, und der Held heiratet die Jüngste. Alternativ dazu wird die Erkennungsszene dramatisiert (-• Wiedererkennen): Der Held kommt in Verkleidung und läßt seine Hunde vom Hochzeitsessen stehlen, oder er zeigt Geschenke (Ringe, Kleider) der befreiten Königstöchter als Beweise vor 6 .

Eine eigenständige reiche Erzähltradition dieser Geschichte läßt sich in China nachweisen, wo sie bereits im - Lebenszeichen (blutende Äpfel; cf. AaTh 303) 20 , (8.3) sehen bei Schlangen die Verwendung des Lebenskrauts und wenden es auf den Toten an. (9) Der Held begegnet einem Ungeheuer mit übernatürlichen Kräften (Drakos, Araber, Hexe, Dreispannenhoch, Siebenspannenhoch, Zwerg, Teufel, zwei Löwen etc.) 21 , (10) tötet es (Kraft, Waffe, magische Mittel) und (11) kehrt nach Hause zurück (heiratet die Heldin) 22 .

Das Entführungsmotiv erscheint hier rückgebildet; zwischen Heldin und Ungeheuer besteht kein greifbarer Zusammenhang, der Gegenspieler ist ausschließlich Gegner des Helden. Damit entfernt die auf den Helden zentrierte griech. Tradition von AaTh 301 Β sich von AaTh 301. AaTh 301 tritt auch in zahlreichen anderen Kontaminationen auf: In Verbindung mit AaTh 513 Α bzw. AaTh 653 helfen z.T. sehr ungewöhnliche Gefährten mit ihren bes. Eigenschaften, die P. zu befreien, ζ. B. in einer westpreuß. Var., in der der Held ein Schmied ist, der Gegner ein Siebenellenbart, die Helfer ein Eichenreißer und ein Bergepuster23. Kontaminationen betreffen ζ. T. auch die Heldenfigur: In einer ung. Var. ist der Held ein Winzling (cf. AaTh 312 D: -» Erbsensohn·, AaTh 700: -ι· Däumling), der die Unterweltsfahrt zur Befreiung der P. antritt und gegen den Siebenellenbart zu kämpfen hat, wobei ihm ungewöhnliche Gefährten (AaTh 513 A, AaTh 653) beistehen24. In der rumän. Geschichte von Drägan Cenu§ä ist es ein Aschenlieger (-> Askeladden), der einen dreifachen Drachenkampf ausführt (AaTh 300 A; Gewinnung der ungewöhnlichen Helfer, 1. Teil des Drachentötermärchens AaTh 300, Unterweltsfahrt wie in

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Prinzessinnen: Die drei geraubten P.

A a T h 301 B, Brautgewinnung als 2. Teil v o n A a T h 300), d e m aber die Braut während seiner Abwesenheit zur Jagd getötet wird 2 5 . In einem norw. M ä r c h e n steht das Wunderpferd im Mittelpunkt der Erzählung (AaTh 301 + A a T h 531: Ferdinand der treue und F. der ungetreue + A a T h 530 + A a T h 329: - Versteckwette)26. In einem kunstvoll gebauten ind. M ä r c h e n sind in die üblichen K o m b i n a tionen v o n A a T h 301 Β u n d A a T h 513 Α bzw. A a T h 653 (Bogenschütze, Beißer, Vielfresser) die M o t i v e der Wiederbelebung (auch in A a T h 302 B: cf. Das ägypt. -» Brüdermärchen) und goldenes H a a r (auch in A a T h 314: Goldener) eingeführt 2 7 . In einer russ. Var. ist die Unterweltsfahrt in eine Meeresfahrt verwandelt, die schöne Helena erweist sich im 2. Teil der Geschichte als verräterische Braut 2 8 . A a T h 301 wird häufig mit Elementen k o m biniert, die auch in anderen Zaubermärchen erscheinen, o b w o h l die ursprüngliche Bindung an A a T h 300 und den M o t i v k o m p l e x des D r a chentöters bestehen bleibt 2 9 . D r a c h e n t ö t u n g und Brautgewinnung n e h m e n in der psychol. orientierten Archetypen- und Mythenforschung als wesentliche Stationen der menschlichen Bewußtwerdung einen bes. Platz ein 3 0 . In verschiedenen Zusammenstellungen sind die M o t i v k o m b i n a t i o n e n der Drachentötermärchen auch in die weitere Volksliteratur, in Volksbrauch und Volkstheater eingedrungen, wie ζ. B. in das griech. Schattentheater, in dessen Repertoire die Episode v o n - Eyerings Proverbiorum copia (1604) 45 ; mit A a T h 102: - H. als Schuhmacher u n d mit A a T h 104: cf. Krieg der Tiere in einem M ä r c h e n aus der Tatra 4 6 ; mit A a T h 103 A*: Cat Claims to be King and Receives Food from other Animals in einem ung. M ä r c h e n 4 7 . In einigen Var.n ist das Motiv v o m Hasen integriert, der dem H . die Schuhe (Strümpfe) durch List entwendet (cf. A a T h 200 C*: Hare and Hunting Dog Conduct a Store), ζ. Β. in einer griech. Aufzeichnung von 1938 (mit Motiven aus [2.2] und [1]): Auf einer Tierversammlung beim Löwen leiht sich der Hase beim H . die Schuhe, u m möglichst schnell Wasser f ü r den hustenden Löwen zu holen (cf. auch A a T h 50: Der kranke -> Löwe). N a c h d e m der Hase nicht wiederkommt, erwirkt der H . ein Todesurteil über ihn, das er über N a c h t der Katze anvertraut, die es von den M ä u s e n zerfressen läßt 4 8 . I

Ergänzend zu AaTh 200: Aräjs/Medne; Kippar; Krzyzanowski; SUS; MNK; Megas; Dicke/Grubmüller, num. 317; Hackman, O.: Finlands Svenska Folkdiktning 1 A 1. Hels. 1917, num. 40; Birlea, O.: Antologie de prozä popularä epicä 1. Buk. 1966, 149; Toschi, P./Fabi, Α.: Buonsangue romagnolo. Bologna I960, num. 8, 9, 24; Amades, num. 297, 339. - 2 Ergänzend zu AaTh 200 A: Kippar; Delarue/Teneze; van der Kooi; Schmidt, num. 619; Toschi/Fabi (wie not. 1) num. 27; Amades, num. 834. 3 Dh. 4, 103-160,290-302; cf. auch BP 3, 542-555; Leach, M.: God Had a Dog. New Brunswick 1961, 202 sq. - 4 D h . 4, 112. - 5 z.B. Cascudo, L. da Cämara: Contos tradicionais do Brasil. Bahia 21955, 380 sq. (= 1); Schmidt, num. 619 (= 2 . 1 ) . - 6 Phaedrus/Perry 4, num. 19. - 7 Dh. 4, 137-142; BP 3, 555; neue Var.n bei Kooi, J. van der/Schuster, T.: Der Großherzog und die Marktfrau. Märchen und Schwänke aus dem Oldenburger Land. Leer 1994, num. 246 a; Gaudes, R.: Kambodschan. Volksmärchen. B. 1987, num. 91. - 8 Dh. 4, 134, num. 9 (zum Typ [2.1] gerechnet); Fortier, Α.: Louisiana FolkTales. Boston/N.Y. 1895, 45 sq. (= Dh. 4, 141 sq., num. 5). - 9 Dh. 4,290-292. - 10 BP 3, 544 - 546. II cf. EM 7, 1412. - 12 cf. Dicke/Grubmüller, num. 317; BP 3, 547 sq.; Dh. 4, 105-110; EM 3, 481 sq.; ungenau sind die Angaben in EM 5, 298. - 13 La Fontaine, Fables 12, 8. - 14 Sachs, H.: Sämtliche Fabeln und Schwänke 1. ed. E. Goetze/C. Drescher. Halle 1900, num. 200; ibid. 4 (1903) num. 374. 15 Montanus/Bolte, num. 14. - 16 cf. Dh. 4, 112. 17 Dh. 4, 292, num. 1 sq.; cf. ibid., 113 sq., num. 3 und 124, num. 6. - 18 Schambach, G./Müller, W.: Niedersächs. Sagen und Märchen. Göttingen 1854,

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320, num. 30; cf. Dh. 4, 134, num. 11. - "Stübs, H.: Uli Lüj verteilen. Plattdt. Geschichten aus dem pommerschen Weizacker. Greifswald 1938, num. 51. 20 Dh. 4,118 sq., num. 3; ibid., 119, num. 2. 21 Dh. 4, 119 sq. - 22 Peuckert, W.-E.: Schlesiens dt. Märchen. Breslau 1932, num. 24; Dh. 4, 124, num. 7; 299, num. 3; 300 sq., num. 1 c; Meyere, V. de: De Vlaamsche vertelselschat 4. Antw. 1933, num. 331. - 23 Ambainis, O.: Lett. Volksmärchen. B. 1979, num. 37. - 24 Aräjs/Medne, 200 IV. - 25 B0dker, L./ Hüllen, G.: Begegnung der Völker im Märchen. 2: Dänemark - Deutschland. Münster 1966, 140 sq. 26 Nagy, Z.: Az ikertünderek. Zagyvarönai nepmesek. Bud. 1990, 18. - 27 Kapehis, H./Krzyzanowski, J.: Sto basni ludowych. W. 1957, num. 6 (dt.: Simonides, D. und J.: Märchen aus der Tatra. MdW 1994, num. 38). - 28 Jahn, U.: Volkssagen aus Pommern und Rügen. B. 21889, num. 568. - 29 cf. BP 3, 548; Dh. 4, 116, num. 6. - 30 MNK. 31 Dh. 4, 127, num. 1. - 32 Nedo, P.: Sorb. Volksmärchen. Bautzen 1956, num. 14 b. - 33 BP 3, 551; rumän. Var.n bei Birlea (wie not. 1). - 34 cf. die Var.n bei Dh. 4, 125 sq., 292-297. - 35 Aräjs/Medne 200 II. - 36 Danner, E.: Die Tanne und ihre Kinder. B. 2 1961, 83 (litau.). - 37 Asmus, F./Knoop, O.: Kolberger Volkshumor. Köslin 1927, 187, num. 186 (2). 38 Vk. Tijdschrift voor Nederlandsche Folklore 8 (1895-96) 106 sq., num. 1. - 39 Dh. 4,133, num. 8. 40 Ranke, K.: Folktales of Germany. Chic. 1966, num. 8; Wiepert, P.: Volkserzählungen von der Insel Fehmarn. Neumünster 1964, num. 191; Meyer, G. F.: Plattdt. Volksmärchen und Schwänke. Neumünster 1935, num. 146; Kuhn, Α.: Sagen, Gebräuche und Märchen aus Westfalen 2. Lpz. 1859, num. 11. — 41 Grannas, G.: Plattdt. Volkserzählungen aus Ostpreußen. Marburg 1957, num. 27. - 42 Meyer (wie not. 40). — 43 Overbeke, A. von: Anecdota sive historiaejocosae. Amst. 1991, num. 258. - 44 Courlander, H./Leslau, W.: The Fire on the Mountain and Other Ethiopian Stories. Ν. Y. 1950, 41-43; Toschi/Fabi (wie not. 1) num. 27; Gaudes (wie not. 7) num. 88. 45 Eyring, E.: Proverbiorum copia 3. Eisleben 1604, 547-550; cf. Dh. 4, 145-147. - 46 Simonides (wie not. 27) num. 34. - 47 Nagy (wie not. 26). - 48 Megas 200. Dresden

Ludger Lieb

Proben Apfelprobe, Brautproben, Charaktereigenschaften u n d -proben. -» Deszendenzproben, Geschicklichkeitsproben, Geschlechtsproben, -+ K r a f t p r o b e n , M u t p r o b e n , -»· Scharfsinnsproben, Testerzählungen

Problemmärchen, eine 1930 von L. Spitzer (zumeist in der Schreibung Problem-Märchen) f ü r die Lais der -> Marie de France (12. Jh.)

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Prodigien

verwendete Bezeichnung, welche die Verbindung von Märchencharakter und einer zentralen, in einem Symbol verdichteten und in die Märchenwelt eingefügten Problemstellung in jedem Lai zum Ausdruck bringen soll1. Nach Spitzer ist die Problemstellung im Guigemar die notwendig leidvolle Liebesverbundenheit zweier Menschen. Sie hat als Symbole das Hemd des Helden und den Gürtel der Dame, die beide nur vom Liebespartner geöffnet werden können 2 . Das ,Märchen' fungiert nach Spitzer als Hintergrund, als ,Rahmen', aus dem die Problemstellung der Lais um so deutlicher hervortritt 3 . Auch nachdem die märchenhaften Züge in Maries Lais vielfach untersucht worden sind4, ist fraglich, ob die Bezeichnung P. treffend ist, denn sie ist bereits durch die bloße Verbindung ihrer beiden Bestandteile spannungsgeladen5. Diese Spannung bestimmt auch die Beurteilung der Lais als möglicher P.6 Gerade weil die Lais eine auf eine hinterfragende Diskussion zielende Liebesproblematik sowie die ebenfalls diskutierbare Psychologie einzelner Figuren (Lanval, Deus amanz, Eliduc) darstellen, sind sie allenfalls phasenweise märchenhaft stilisiert, d. h. nach Art des Märchens erzählt. Mitunter wird, wie in Lanval, sogar explizit der Kontrast zwischen nicht-märchenhafter (höfischer) und feenhafter (Märchen-)Welt thematisiert. Beide Komponenten des von Spitzer geprägten Begriffs lassen sich auch in den höfischen Romanen von Chretien de Troyes und seinen Zeitgenossen7 finden. Dort werden ebenfalls einzelne Ausprägungen der Liebesproblematik für das Publikum thesenhaft zur Diskussion gestellt. Zudem enthalten die Texte, wie auch der Liebes- und Abenteuerroman nach byzant. Vorbild (cf. -» Flo ire et Blancheflor), zahlreiche märchenhaft stilisierte Episoden, Figuren und Strukturelemente. Damit könnte man die Bezeichnung P. auch auf andere Texte übertragen. Ohne Kenntnis von Spitzers Begriff führte H. Bausinger 1956 „Problem-Märchen" in die damals einsetzende Diskussion über die Trivialliteratur ein8. Er überprüfte die Gleichsetzung der in Heftform erscheinenden billigen Reihenromane mit dem Märchen und kam zu dem Ergebnis, daß in diesen im Gegensatz zum Märchen aktuelle Problembezüge ausge-

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breitet werden, die einer märchenhaften Lösung zugeführt werden. D. Bayer präzisierte in einer umfangreicheren Analyse, daß es sich im Märchen „um die entstofflichte Figuration von Problemen handelt", während im Trivialroman konkrete Alltagsschwierigkeiten unrealistisch beseitigt werden9. 1 Spitzer, L.: Marie de France. Dichterin von Problem-Märchen. In: Zs. für rom. Philologie 50 (1930) 29-67, bes. 38 sq. - 2 ibid., 29 sq. - 3 ibid., 54. 4 cf. ergänzend zu EM 8, 729 Ringger, K.: Die ,Lais'. Zur Struktur der dichterischen Einbildungskraft der Marie de France. Tübingen 1973, 66-74; Sienaert, E.: Les Lais de Marie de France. Du conte merveilleux a la nouvelle psychologique. P. 1978, 35-48; Marie de France: Die Lais. Übers. D. Rieger. Mü. 1980, 21-24; Rothschild, J.: Marie de France and the Folktale. Narrative Devices of the Märchen and the Lais. In: In Quest of Marie de France, ed. C. A. Marechal. Lewiston 1992, 138-147. - 5 cf. auch Spitzer (wie not. 1) 45, 54. - 6 cf. Ringger (wie not. 4) 88; Sienaert (wie not. 4) 8; Marie de France (wie not. 4) 24; Menard, P.: Marie de France et nous. In: Amour et merveille. Les „Lais" de Marie de France, ed. J. Dufournet. P. 1995, 7 - 2 4 , hier 16. 7 cf. Partonopeu de Blois. A French Romance of the Twelfth Century 1 - 3 . ed. J. Gildea. Villanova, Pa 1967/68/70; Gautier d'Arras: Ille et Galeron. ed. F. A. G. Cooper. P. 1956. - 8 Bausinger, Η.: Zur Struktur der Reihenromane. In: Wirkendes Wort 6 (1956) 296—301. - 'Bayer, D.: Der triviale Familien- und Liebesroman im 20. Jh. Tübingen 1963, 150.

Göttingen

Susanne Friede

Prodigien. Der Begriff Prodigium stammt aus der röm. Antike, in der als weitere Bezeichnungen im Wortfeld der Divination auch miraculum, monstrum, omen, ostentum, portentum, praesagium und signum verwendet wurden.Vorzeichen verschiedener Art waren zwar auch in anderen antiken Kulturen bekannt, doch scheinen P. im engeren Sinn ein auf die röm. Republik begrenztes Phänomen gewesen zu sein. Es handelte sich dabei um ungewöhnliche Ereignisse (ζ. B. Kometen, Mißgeburten, Steinregen), die als den Zorn der Götter verkündende Zeichen gedeutet wurden. Sie galten stets als ungünstige Vorzeichen, doch sagten sie kein konkretes Geschehen voraus. P. galten nicht einer bestimmten Person, sondern der gesamten res publica, weshalb sie vom Senat anerkannt werden mußten. Sie er-

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Prodigien

eigneten sich ungesucht zu beliebigen Zeitpunkten und wurden zu Beginn des nächsten Jahres kollektiv und rituell entsühnt, um den Zorn der Götter abzuwenden1. Im folgenden werden P. hauptsächlich in der röm. Bedeutung verstanden, denn diese wurde Grundlage für eine Erzähltradition, die seit der Renaissance zu großem Einfluß gelangte (zu bewußt herbeigeführten Vorzeichen cf. -> Orakel; zu ungewöhnlichen Ereignissen, die als Vorboten zukünftigen Geschehens [oder Anzeichen in der Ferne geschehender Dinge] gedeutet werden, ohne daß Sühnehandlungen oder Buße die Erfüllung beeinflussen könnten, cf. Divination, Eidetik, -» Geistersichtig, ->• Prophezeiungen und - Weisung). Trotz des christl. Unbehagens an der Divination wurden ungewöhnliche Ereignisse auch von ma. Verf.n notiert 3 . Eine Legitimation hierfür konnte man in den in der Bibel genannten Vorzeichen des Jüngsten Gerichts finden (Jo. 3; Mt. 24; Mk. 13; Lk. 21)4, das allerdings nicht durch Entsühnung abzuwenden ist. Die seit dem 12. Jh. weitverbreiteten 15 Zeichen vor dem Jüngsten Gericht fußen jedoch nur teilweise auf Bibelstellen (die Reihenfolge und die Art der Vorzeichen wechseln in den verschiedenen Var.n)5. Seit dem 15. Jh. läßt sich dann ein schnell wachsendes Interesse an P. feststellen6. Entscheidend für die Verbreitung des Denkens in P. wurde aber ihre systematische Sammlung. 1508 erschien bei Aldus Manutius d. Ä. in Venedig im Anhang zu einer Briefausgabe des jüngeren Plinius die Editio princeps von Julius ->• Obsequens' Prodigiorvm liber, einer Sammlung von P. der Jahre 190 bis 11 a. Chr. n.7 Gewöhnlich wird der Text in das 4. Jh. datiert. Dieses Werk diente den Gelehrten der Renaissance als Vorbild für eigene Sammlungen: Schließlich habe Obsequens gezeigt, daß die Beachtung von P. und Sühneritualen für die Abwehr drohenden Unheils notwendig sei. Als Anhang zu anderen Werken wurde Obsequens' Sammlung bis 1552 ungefähr 25mal gedruckt. Dann publizierte Conrad -· Hungersnot bis zu politischen Ereignissen wie dem Tod eines bestimmten Fürsten. Manche P. (bes. Naturkatastrophen; Katastrophenmotive) wurden nicht nur als Ankündigung von Gottes Strafe, sondern auch direkt als göttliche Strafe aufgefaßt. Ber.e über P. wurden in Predigten, mündl., hs. sowie in Zeitungen, Flugblättern und -Schriften verbreitet und erreichten auf diese Weise breiteste Schichten der Bevölkerung, nicht zuletzt über die Illustrationen (-• Bildquellen, -Zeugnisse)17. Aus diesen und anderen Qu.η (-+ Chronik-, -• Historien-, -» Kompilations- und Kuriositätenliteratur, ->• Exempelsammlungen, - Garzoni, Simon Goulart, Christoph Irenaeus, Athanasius Kircher, Ludwig Lavater, Michael ->• Sachse und Johannes -> Wolf(f)18. Neben allg. Sammlungen erschienen Spezialsammlungen zu bestimmten Arten von P., so zu -» Blutwundern 19 , Erscheinungen20, Gewittern (-» Blitz, -» Donner) 21 , Kometen 22 , Mißgeburten (Ulisse -> Aldrovandi, Georg Stengel) oder einfach nur zu P. der allerjüngsten Zeit23. Den Berichterstattern über P. galten diese Ereignisse nicht als ,Volkserzählungen', sondern als wichtige Nachrichten. Während für luther. Verf. noch im 17. Jh. P. eine zwar spannende, aber ernste Angelegenheit blieben, scheinen in der frz. P.literatur kathol. und reformierter Prägung schon gegen Ende des 16. Jh.s unterhaltende Züge die Oberhand gewonnen zu haben 24 . Mit der Änderung des theol. Weltbildes und wachsenden naturwiss. Kenntnissen seit dem 17. Jh. (-> Pietismus; Aufklärung) verlor die Deutung von unge-

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wöhnlichen Ereignissen als P. zunehmend an Gewicht, doch ist sie bis heute noch anzutreffen 25 . Erzählungen von ursprünglich für P. gehaltenen Ereignissen finden sich - ihres Deutungskontextes beraubt - in hoher Zahl in den gedr. Sagensammlungen, weil die Sagensammler oft die Lit. des 16. und 17. Jh.s ausschrieben (-• Lit. und Volkserzählung, Kap. 2). H ä u f i g g e n a n n t e P. ( A u s w . ) 2 6 : Bienenschwarm (-» Biene) läßt sich an einem bestimmten Ort nieder27. - Gestrandeter -> Wal28. - Es regnet -» Blut (-• Feuer, Frösche, Korn, Manna, -» Mäuse, Milch, Schwefel, Seide, -» Steine etc.; Regen, Regenwunder)29. - Wasser in einem Teich (Graben) wird blutrot (zu Blut)30. - Mensch (Ding, Hostie) schwitzt Blut (-» Hostie, Hostienwunder) 31 . — • Fastenwunder32. - Ein -» Fisch von bes. Aussehen wird gefangen 33 . -• Heuschreckenschwärme34. - Mißgeburt. — Mehl in der Erde gefunden (-ι· Speisewunder)35. - -» Kind spricht (weint) im Mutterleib36. - Stadt (Alp) versinkt als Strafe für die Sünden ihrer Bewohner (-» Sodom und Gomorrha) 37 . Erdbeben38. - Vulkanaus39 bruch . - Sturmflut (Hochwasser) 40 . - Schweres Gewitter41. - Feuersbrunst42. - Hagelschaden 43 . Komet 44 . — Meteoritenfall 45 . - Zeichen (Bild) am Himmel (in der Luft) 46 . - Gräber öffnen sich, und Tote stehen auf (-> Grab, Grab wunder)47. - -> Glocke läutet von selbst48. - -> Lutherbild (J. Arndts Paradiesgärtlein) verbrennt nicht (wird von Wasser nicht beschädigt)49. - Erscheinung eines Heiligen (Engels)50. B e k a n n t e r e E i n z e l e r e i g n i s s e : Zeichen vor der Zerstörung Jerusalems (-> Josephus Flavius) 51 . - Spieler von Willisau (-» Blasphemie) 52 . - Monstrum von Ravenna 53 . - Papstesel zu Rom (-» Papst)54. - Mönchskalb zu Freiberg55. - Waldenburger Fastnacht 56 . - Einem Jungen in den Niederlanden steht ,Mein Gott' in lat. und hebr. Sprache in den (um die) Augen geschrieben57. 1 Rosenberger, V.: Gezähmte Götter. Das P.wesen der röm. Republik. Stg. 1998, 7 - 1 0 , 197-205; cf. auch Bloch, R.: Les Prodiges dans l'antiquite classique [...]. P. 1963; Zintzen, C.: Prodigium. In: Kl. Pauly 4 (1975) 1151-1153; Momigliano, Α.: Prodigia. In: The Enc. of Religion 12. N. Y./L. 1987, 3; Schenda, R.: Wunder-Zeichen. Die alten P. in neuen Gewändern. Eine Studie zur Geschichte eines Denkmusters. In: Fabula 38 (1997) 14-32. - 2 cf. auch Halvorsen, E. F./Edsman, C.-M.: Varsel. In: Kulturhistoriskt lex. för nordisk medeltid 19. Malmö 1975, 540-545; zahlreiche Artikel im HDA, ζ. B. s.v. Angang, Künden, Orakel, Spökenkieker, Todesvorzeichen, Vorahnung, Vorbedeutung, Vorgeschichte, Vorzeichen. - 3 Hilka, A. (ed.): Die Wundergeschichten des Caesarius von Heisterbach 1. Bonn

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Prodigien

1933, 165-168; Cartier, Ν. Β.: Celestial Portents and Medieval Chroniclers. In: Essays. Festschr. L. F. Solano. Chapel Hill 1970, 15-27; Ceard, J.: La Nature et les prodiges. L'insolite au XVIe siecle. Genf 1977 (Nachdr. 1996), 31-43. - 4 Umfassendes thematisches Verz. von bibl. Wundern in: Grosses vollständiges Universal-Lex. [...] 59. Lpz./Halle 1749, 1898-1902. - 5 Kramer, E. von (ed.): Les 15 Signes du jugement dernier. Poeme anonyme de la fin du XII e ou du debut du XIIP siecle. Hels. 1966; Eggers, H.: 15 Vorzeichen des Jüngsten Gerichts. In: Verflex. 2 (21980) 1013-1020; Frijhoff, W.: Leven, hören, lezen, schrijven. Omgaan met teksten in het werk van A. J. van Rijnevelshorn. In: Mensen van de Nieuwe Tijd. Festschr. Α. T. van Deursen. Amst. 1996, 218-236, hier 233 sq. - 6 Ceard (wie not. 3) 75-79; Daxelmüller, C.: Vorzeichen. In: Lex. des MA.s 8. Mü./Zürich 1997, 1869 sq. - 7 Plinius d. J.: [EJpistolarum libri 10 [...]. Venedig 1508, 495-525; kritische Edition in Rossbach, O. (ed.): T. Livi periochae omnivm librorvm [...]. Ivlii Obseqventis prodigiorvm liber. Lpz. 1910 (u. ö.), 149-181. - 8 Lycosthenes, C.: Prodigiorvm ac ostentorvm chronicon [...]. Basel 1557. — 9 cf. Schilling, H.: Job Fincel und die Zeichen der Endzeit. In: Brückner, 325-392. - 10 Deneke, B.: Kaspar Goltwurm. Ein luther. Kompilator zwischen Überlieferung und Glaube, ibid., 124177. 11 DWb. 6, 2248; t. 14,2, 1782-1838, 1988-1995, 2001-2006; t. 15, 476-486 (ein Lemma ,Prodigium' fehlt); auch in anderen Sprachen war die zeitgenössische Terminologie wenig präzise. - l2 UniversalLex. (wie not. 4) 2149 sq.; Diderot, [D.]/Alembert, [J. L.] d': Enc. [...] 27. Genf/Neuchätel 31779, 512 13 (s.v. prodige). Reichsarchiv Stockholm: Riksrädsprotokoll, 1. 8. 1665, p. 164 sq.; Lindberg, G.: Kyrkans heliga ar [...]. Stockholm 1937, 387-390,480-500; Brüning, R.: Herrschaft und Öffentlichkeit [...]. Stade 1992, 37-54, 85-94; Mahlstedt, G.: Helgdagsreduktionen [...]. Göteborg 1994, 182-186. - 14 Sandblad, H.: De eskatologiska föreställningarna i Sverige under reformation och motreformation. Uppsala 1942; Barnes, R. B.: Prophecy and Gnosis. Apocalypticism in the Wake of the Lutheran Reformation. Stanford 1988; Kaufmann, Τ.: 1600 - Deutungen der Jh.wende im dt. Luthertum. In: Jakubowski-Tiessen, M. u. a. (edd.): Jh.wenden. Göttingen 1999, 73-128. - 15 cf. Walsham, Α.: Providence in Early Modern England. Ox. 1999; Lieburg, F. van: Merkwaardige voorzienigheden. Wonderverhalen in de geschiedenis van het protestantisme. Zoetermeer 2001. - 16 cf. Clark, S.: Thinking with Demons [...]. Ox. 1997, v. Reg.; Barnes, R. [B.]: Images of Hope and Despair. Western Apocalypticism, ca. 1500-1800. In: McGinn, B. (ed.): The Enc. of Apocalypticism 2. (Ν. Y. 1998) N. Y./L. 2000, 143-184; Klingebiel, Τ.: Apokalyptik, P.glaube und Prophetismus im Alten Reich [...]. In: Lehmann, Η./ Trepp, A.-C. (edd.): Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jh.s. Göttingen 1999, 17-32, hier 18-22; Krusenstjern, B. von: P.glaube und

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30jähriger Krieg, ibid., 53-78; Frijhoff, W.: Signes et merveilles dans la Hollande protestante au XVII e siecle. In: Societe et religion en France et aux PaysBas, X V - X I X 6 siecle. Festschr. A. Lottin. Arras 2000, 477 -485. - 17 cf. Walsham, Α.: „The Fatall Vesper". Providentialism and Anti-Popery in Late Jacobean London. In: Past & Present 144 (1994) 36-87; Lever, Μ.: Canards sanglants. Naissance du fait divers. [P.] 1993. - 18 Zur Bibliogr. frz. und dt. Slgen cf. Schenda, R.: Frz. P.schr. aus der 2. Hälfte des 16. Jh.s. In: Zs. für frz. Sprache und Lit. 69 (1959) 150-167; id.: Die dt. P.slgen des 16. und 17. Jh.s. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 4 (1961-63) 637-710; für andere Sprachgebiete fehlen Bibliogr.n, als Beispiele seien genannt: Batman, S.: The Doome Warning all Men to the Iudgemente [...]. [L.] 1581 (Nachdr. Delmar 1984 [mit Einl. von J. R. McNair, iii-xii]); Klint, J. P.: Om the tekn och widunder, som föregingo thet lithurgiska owäsendet (Stift- und Landesbibl. Linköping, Ms. Ν 28); Oddsson, G.: Annalium in Islandia farrago, ed. H. Hermannsson. In: Islandica 10 (1917) 1—30; Skon[ning], Η. H.: Mirabilia Naturalia Eller Natur Wunder [...]. Arhus 1639 (Kop. 21657); Rijnevelshorn, A. J. van: Wisse tijding van de nabyheydt des jongsten dags: in 15 ware Kentekenen, uyt het H. Woordt Godts, en veele [...] Historien en exempelen [...]. Amst. 1665 (zitiert nach Frijhoff [wie not. 5]). - 19 Becman, J. C. (Praeses)/Starck, J. E. (Respondent): Dissertatio de prodigiis sangvinis [...]. Frankfurt (Oder) [1676]; Praetorius, J.: Weißenfelsisches Wunder=Gesicht. Nebenst Einer Erzehlung vielfaltiger Blut=Zeichen zu andern Zeiten [...]. Lpz./Altenburg 1678. - 20 Lavater, L.: De Spectris [...]. Genf 1575; [Bromhall, T.:] A Treatise of Specters [...]. L. 1658. 21 Rhyzelius, Α. Ο.: Brontologia Theologico-Historica [...] Om Aske=Dunder/ Blixt och Skott [...] trowerdiga berettelser om the märkwerdigasta Aske= slag/ Thor=eldar och andra stora brandskadar/ som [...] pä Städer/ Slott/ Kyrkior och andra stora Hus sig tildragit hafwa [...]. Stockholm 1721. - 22 Theophilus, C.: Cometen/ Propheten [...] Ber. von der Comet=Sternen Natur und Würckung; Samt einer Erzehlung Aller Cometen und ihrer Geschichten/ soviel deren von Anfang der Welt her/ in Historien aufgezeichnet worden/ und was jederzeit darauf erfolget [...]. Nürnberg 1665; Historia Cometarum, Das ist Gründliche Beschreibung Nicht allein aller Cometen welche von Christi Geburth bißhero erschienen seyn/ nebenst denen darauf gefolgten vornehmsten merckwürdigen Begebenheiten in der Welt. Sondern auch des jüngsthin [...] erschienenen Cometen [...]. Bremen 1677; Die Wunder GOttes in der Natur, bey Erscheinung der Cometen, Oder besondere Anmerckung der vornehmsten Cometen [...] Welche sich sowohl vor als nach Christi Geburt [...] haben sehen lassen, nebst denen darauf erfolgten Begebenheiten [...] bey Gelegenheit dieses noch am Himmel stehenden Cometen [...]. Ffm./Lpz. 1744. - 23 Kurtze Erzehlung/ Dero Wunderzeichen/ Feuersbrunsten vnd Wassergüssen [...] Von Anno 1618 [...] biß auff ge-

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Prodigien

genwertige zeit [...]. Nürnberg 1630; Wunder Spiegel/ Das ist/ Warhafftige Beschreibung Was von Anno 1628. biß auff gegenwertige Zeit [...] GOTT [...] vor Zeichen vnd Wunder [...] sehen vnd vernehmen lassen [...]. s. 1. 1630. - 24 Schenda (wie not. 1) 23; id.: Die frz. P.lit. in der 2. Hälfte des 16. Jh.s. Mü. 1961, 84-89. - 25 id. (wie not. 1) 28-30; Udtydning af det heist maerkelige Himmeltegn som den 17de April 1850 [...] viste sig i Form af et flammende Svferd til Skrsek og Advarsel for Oprorere og Meenedere. Optegnet af K. B. en 89aarig gammel Mand. Kop. s.a.; Aotäht, A./Löhmus, Α.: Tulemöll vallutas Eesti taeva. Ärevad inimesed helistasid maailmalöpu kartuses Töraverre (Eine Feuersbrunst eroberte Estlands Himmel. Aufgeregte Menschen riefen aus Furcht vor dem Weltuntergang das Observatorium an). In: Postimees (8. 4. 2000) 1 (über Nordlicht). 26 cf. auch den P.katalog bei Schenda 1961 (wie not. 24) 108-127. - 27 Rossbach (wie not. 7) 163, 165 sq., 170, 177, 180 sq.; Kl. Pauly 1, 899 sq.; De Electione Vrbani IIX et Innocentii X Pontificvm Commentary historici duo [...]. Helmstedt 1651, 62 sq. - 28 Heimreich, Α.: Nordfres. [sie] Chronik 2. ed. N. Falck. Tondern 1819, 94; Schama, S.: The Embarrassment of Riehes. An Interpretation of Dutch Culture in the Golden Age. (L. 1987 u. ö.) L. 1991, 130-140; cf. auch Schenda, R.: Walfisch-Lore und Walfisch-Lit. In: Laographia 22 (1965) 431-448, hier 432 sq. - 29 Wunder Ztg von Meusen/ so jn Norwegen aus der Lufft auff die Erde vnd Heuser gefallen [...]. s. 1. 1579; Beckher, D.: Kurtzes Vnd einfaltiges Bedencken von deß Schweffels=Regen/ so allhier im Fürstenthumb Preussen [...] bey Liepstadt gesehen worden [...] Vrsachen vnd Bedeutungen. Hbg 1634; Praetorius, J.: Sacra filamenta Divae Virginis [...] daß ist/ Vnerhörtes Prodigivm, Von der Hoch=blauen Seide/ So bey Laucha üm Naumburg/ unlängst auffm Acker häuffig angetroffen worden; Nachdem sie dahin Himmel=ab/ wie ein Regen oder Thaw gefallen gewesen [···]· Halle 1665; Nachricht von einem im Tilsitschen Ambt gefallenen Blut=Regen. In: Erleutertes Preußen 3 (1726) 603-613; Universal-Lex. (wie not. 4) 2132-2135; Brednich, R. W.: Die Überlieferungen vom Kornregen. Ein Beitr. zur Geschichte der frühen Flugbl.lit. In: Dona Ethnologica. Festschr. L. Kretzenbacher. Mü. 1973, 248-260; Michel, P.: Frosch-Regen. Meteorologie Exegese - Ikonographie. In: Daphnis 27 (1998) 203-229. - 30 Schirren, C.: Verz. livländ. Geschichts-Qu.n in schwed. Archiven und Bibl.en. Dorpat 1861-68, 82 sq., num. 1360; Newe Zeytung/ Warhafftige Geschieht [...] zu Beylstein [...] im Land zu Wirtenberg [...] im Wassergraben hinder dem Stätlein/ wol an 16. Orten Blut auffgequollen vnd geflossen ist [...]. Tübingen 1583; Relation wegen eines im Königreich Preussen/ zwischen Königsberg und Carschau gelegenen Dümpels/ welcher der gemeinen Rede nach/ in Blut sich soll verwandelt haben. In: Erleutertes Preußen 4 (1728) 528-535. 31 Strauss, W. L.: The German Single-Leaf Woodcut 1550-1600. Ν. Y. 1975, 945; Scheible, J. (ed.): Das

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Schaltjahr 4. Stg./Lpz. 1847, 493 sq.; Theatrum Europium [...] 2. Ffm. 21679, 115. - 32 Rollins, Η. Ε.: Notes on Some English Accounts of Miraculous Fasts. In: JAFL 34 (1921) 357-376; Vandereycken, W./Deth, R. van/Meermann, M.: Hungerkünstler, Fastenwunder, Magersucht. Eine Kulturgeschichte der Eßstörungen. Mü. 1992, 71-101; Pulz, W.: Körperlose Leiber - Spiritualisierung des Fleisches. .Heilige Anorexie' im 16. und frühen 17. Jh.? In: Beyer, J. u.a. (edd.): Confessional Sanctity (c. 1550 - c. 1800). Mainz (im Druck). - 33 Universal-Lex. (wie not. 4) 2084-2086, 2115; Anteckningar af kyrkoherden N. Andrea [...] 1561-1592. In: [Almquist, J. A. (ed.):] Anteckningar fran det 16. seklet. Stockholm 1905, 216-222, hier 222; Lindbsk, J.: Den vidunderlige Fisk fra 1587. In: Vor Fortid 1 (1916-17) 145—150. — 34 Heuschrecken-Schwärme an der Düna im J. 1545. In: Archiv für die Geschichte Liv-, Esth- und Curlands 3 (1844) 224; Buchner, E.: Das Neueste von gestern. Kulturgeschichtlich interessante Dokumente aus alten dt. Ztgen 1 - 2 . Mü. [1911/12], hier t. 1, 10 sq., 247; t. 2, 145, 219 sq., 432 sq. — 35 En sand ny Tidende/ Om en vnderlig Guds gierning [...] Huorledis Gud almectigste haffuer beuist en fattig Mand sin store hielp [...] vden for en Stad ved naffn Kaurschim/ liggendis fem Mile fra Prag: Huilcken som vilde for sine B0rns hungers trang skyld/ graffue noget Leer vdmet Veyen at sellie det/ Huor hand haffuer fundet skent got mel/ Huor vdaff mange Folck sammested haffue baget Bred oc Kager [...]. Kop. 1591; Newe Warhafftige Zeittung/ Wie [...] Gott [...] zu Carolstatt in Francken [...] köstlich vnnd gut mehl auß der lieben Erden geschaffen [...]. Coburg 1595; Warhafftiger vnd gründtlicher bericht/ Wie das an zweyen Orten/ als eins an der Sale bey Wettin [...] vnd das ander in der Löblichen Graffschafft Stollberg [...] Gott der HErr als besondere Wunderwercke [...] guth Mehl/ aus eim Berge/ vnd harter Erde/ herfur komen hat lassen/ daraus den guth wolschmeckendt Brodt gebakken/ vnd viel Menschen dauon gespeiset worden seind [...]. Schleswig 15[97]. - 36 Francus, J: Relatio historica qvinqvennalis. Warhafftige Beschreibung aller [...] Geschieht/ so sich [...] von Anno 1590. biß 1595. [...] zugetragen haben [...]. Ffm. 1595, 112; Ravn, R. P.: Borringholms Kranike 1671. ed. J. Knudsen. Renne 1926, 98. - 37 HDA 8 (1936-37) 21-25, 1415 sq.; Beyer, J.: Prolegomena to a History of Story-Telling around the Baltic Sea, c. 1550-1800. In: Folklore 4 (Dorpat 1997) 43-60, hier 47-49; Schenda, R. (in Zusammenarbeit mit Η. ten Doornkaat) (edd.): Sagenerzähler und Sagensammler der Schweiz. Bern/Stg. 1988, v. Reg. s.v. Blü(e)mlisalp. - 38 Wackernagel, W. (ed.): Das Erdbeben von 1356 in den Nachrichten der Zeit und der Folgezeit bis auf C. Wurstisen. In: Basel im 14. Jh. Geschichtliche Darstellungen zur 5. Säcularfeier des Erdbebens [...] 1356. Basel 1856, 211-250; [Heldvaderus, N.:] Tractatus physic-theologicus [sie], Oder Einfaltig vnd Christi. Bedencken/ von den Er[d]biebungen/ so in diesen Nordländ. Örtern [...] vnge-

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Produktionstheorie

wohnlich gesehen [...]. Kop. 1632; Goeze, J. M.: Zwo Predigten, welche durch das fürchterliche, und so weit ausgebreitete Gericht Gottes im Erdbeben [in Lissabon], veranlasset worden [...]. H b g [1756]. - 3 9 R o s s b a c h (wie not. 7) 1 5 8 - 1 6 2 ; Copia eines Schreibens auß Neapolis/ Darinnen berichtet werden Etliche Erschröckliche Wunderztgen/ welche sich [...] mit einem brennenden Berge (Monte Vesuvio genannt [...]) zugetragen [...]. s. 1. 1632; Buchner (wie not. 34) t. 2, 50 sq. - 4 0 Meissner, B.: Babylon. P.bücher. In: Mittigen der Schles. Ges. für Vk. 13/14 (1911/12) 2 5 6 - 2 6 3 , hier 261; Warhafftige anzeygung der grausamen/ erschröcklichen übergiessung der [sic] Tiber zu Rom/ vnd des mörs [Meers] in Selandt vnd Flandern/ etc. In disem 1530. jar geschehen, s. 1. [1530]; Sandfcerdigc Beretning/Om den forferdelig oc skreckelig Vandflod/ Som sig haffuer begiffuet A n n o 1634. den 11. oc 12. Octob. i Holsten / i Nordstrand/ ved Tündern/ oc p a a omliggende Marschlande [...]. s. 1. s.a. 41 Warhafftiger Ber. Von dem grausamen vnd erschrecklichen Vngewitter/ Ja auch Wunderzeichen/ so [...] G O T T verhenget hat/ vber die Stadt Troppen [...] den 11. Junij/ A n n o 1574. s. 1. s.a.; Anstendelig Berättelse/ O m det förskräckejige Askedundret/ som den 18 April innewahrande A h r 1699. uti Furstendömmet Rügen efter sig lembnat myeket merckelige och till en dhel bedröfweligen uthseende Minnes Teckn. s. 1. s.a.; Rhyzelius (wie not. 21). - 4 2 ibid., 55 — 1 [ 19]; Lehmus, E. F.: D a s rechte Verhalten gegen Jesum [...] nach der [...] den 27. des Wintermonats 1753. [...] in der Stadt Ohrdruf entstandenen entsetzlichen Feuers=Brunst [...]. E r f u r t s.a., 17 - 24. - 4 3 Russow, B.: Chronica der Prouintz Lyfflandt [...]. In: Scriptores rerum livonicarum [...] 2. Riga/Lpz. 1848, 1 - 1 9 4 , hier 139; Eine Warhafftige und erschreckliche Newe Ztg/ Welche sich [...] zugetragen/ in Littauen in einer Stadt Kedennen genand/ im Jahr 1648 den 5 April, alda ein erschreckliches Tonner=Wetter entstanden/ welches Hagel geworffen/ gestalt als Menschen Köpffe und [...] grossen Schaden gethan [...] Im T h o n k o m p t her zu mir/ etc. Wilna s.a. - 4 4 H D A 5 ( 1 9 3 2 - 3 3 ) 8 9 - 1 7 0 ; Holtsmark, Α.: Kometer. In: Kulturhistoriskt lex. (wie not. 2) t. 8 (1963) 666 sq.; Hedberg, B.: Kometskräck. En Studie i folkliga och lärda traditioner. Uppsala 1990; [Bellwald, W.:] Von Kometen und der Jahrtausendangst. In: Schweizer Vk. 87 (1997) 3 4 - 4 0 . - 4 5 Wilhelmi, T.: Sebastian Brant. Bibliogr. Bern 1990, 46 sq., 63; [Zävodsky, V./Hoppe, G.:] G r a u s a m e und schreckliche Neuigkeiten [...]. Der Meteoritenfall von Niederreißen. Weimar s.a. — 46 Seydl, O.: A List of 402 Northern Lights Observed in Bohemia, Moravia and Slovakia f r o m 1013 till 1951. In: Geofysikalni sbornik 17 (1954) 1 - 3 3 ; Frijhoff, W.: Voorgezichten van strijd en straf in de zeventiende-eeuwse Republiek [...]. In: Geschiedenis, godsdienst, letterkunde. Festschr. S. B. J. Zilverberg. Roden 1989, 8 1 - 8 9 ; id.: Wegen van Evert Willemsz. [...]. Nimwegen 1995, 94, 383 sq. et pass.; Schwarte, W.: Nordlichter. Münster u . a . 1999. - 4 7 Biene-

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mann, F. (ed.): Livländ. Sagenbuch. Reval 1897, 132; Grip, Ε.: En Vikbolandsprästs anteckningar o m järtecken. In: id.: Kulturhistoriska smäbilder 1. Stockholm 1927, 3 - 3 0 , hier 16 - 1 9 ; Dit wonderlijck Teekken des Heeren is gebeurt in't Sticht van Munster binnen ende boven de Stadt Holdt [...] hoe daer dry dooden wt hären graven verresen zijn [...] Gheschiet den xxviij. October/ 1616. Dordrecht s.a. - ^ U n i versal-Lex. (wie not. 4) 2121; Hallendorff, C. (ed.): U r en svensk kyrkobok fran slutet af 1500-talet. In: Kyrkohistorisk arsskrift 3 (1902, Meddelanden och aktstycken) 5 7 - 8 7 , hier 78; Adelungk, W. H.: Kurtze Hist. Beschreibung Der [...] H a n d e l s = S t a d t H a m b u r g [...]. H b g 1696, 114. - 4 9 Messerli, Α.: Die Errettung des „Paradiesgärtleins" aus Feuers- und Wassernot. In: Fabula 38 (1997) 2 5 3 - 2 7 9 ; Scribner, R. W.: Incombustible Luther. The Image of the Reformer in Early Modern Germany. In: id.: Popular Culture and Popular Movements in Reformation Germany. L./Ronceverte 1987, 3 2 3 - 3 5 3 . - ^ C h r i stian, W. Α.: Apparitions in Late Medieval and Renaissance Spain. Princeton 1981; Beyer, J.: O n the Transformation of Apparition Stories in Scandinavia and Germany, c. 1350-1700. In: F L 110 (1999) 3 9 - 4 7 ; id.: Lutheran Lay Prophets (c. 1550-1700). Diss, (masch.) Cambr. 2000. 51 Bugenhagen, J.: De Vorstöringe der Stat Jerusalem. In: id.: Historia Des lydendes vnde der vpstandinge/ vnses Heren Jesu Christi/ vth den 4 Euangelisten [...]. Barth 1586 (Nachdr. B./Altenburg 1985), 0 5 r - P 8 v , hier 0 5 r - 0 7 r ; dieser Text stand in vielen luther. Ländern im Gesangbuch oder in anderen kirchlichen Hbb., cf. die unvollständige Bibliogr. in Geisenhof, G.: Bibliotheca Bugenhagiana [...]. Lpz. 1908, 1 0 2 - 1 7 3 . - " B r ü c k n e r , 167 sq., 348, 375, 438; Schenda (wie not. 37) 1 7 1 - 1 7 5 ; Reitinger, F.: Schüsse, die Ihn nicht erreichten. Eine Motivgeschichte des Gottesattentats. Paderborn 1997, 1 7 4 - 1 9 5 . - 5 3 Schenda, R.: Das M o n s t r u m von Ravenna. Eine Studie zur P.lit. In: ZfVk. 56 (1960) 2 0 9 - 2 2 5 . - 5 4 Scribner, R. W.: For the Sake of Simple Folk. Popular P r o p a g a n d a for the G e r m a n Reformation. (Cambr. 1981) Ox. 2 1994, 1 2 7 - 1 3 3 . 55 ibid. - 56 [Weisz, L. (ed.):] Die Bullingerztgen [...]. Zürich 1933, 6 1 - 6 4 ; Outreman, P. d': Le Vray Pedagogve Chrestien [...]. ed. R. Coulon. P. 1654, 79; Moser-Rath, Predigtmärlein, 181 sq., 455 sq.; Reherm a n n , 168, 533, 564 sq.; Petzoldt, L.: Hist. Sagen 1. Mü. 1976, num. 228. - 5 7 Buchner (wie not. 34) t. 1, 317; Arnold, G.: D a s Leben Der Gläubigen [...]. Halle 1701, Zusatz p. 238; Wilson, D.: Signs and Portents [...]. L./N. Y. 1993, 142; Körte Verhandelinge Van de hoedanigheid der Wanschepzels [...] door Μ. P. Amst. 1703, 3 3 - 3 5 .

Dorpat

Jürgen Beyer

Produktionstheorie. Der Begriff P. stammt aus der Volksliedforschung. Er bezieht sich auf die J. Pommer (1845-1918) \ Begründer

1389

Pröhle, Heinrich Christoph Ferdinand

der österr. Volksliedforschung und -pflege, zugeschriebene Ursprungshypothese, nach der das Volkslied inmitten des Volkes entstanden ist (,Wiener Schule')2. Damit erhielten die romantischen Auffassungen von der Volkspoesie (-• Naturpoesie; cf. auch Anonymität; ->• Kollektivität, Kollektivbewußtsein) erneut Auftrieb. P. nach Pommer (= Entstehung von Folklore im Volk selbst), Rezeptionstheorie nach J. Meier und Reproduktionstheorie nach H. -» Naumann (= Folklore als gesunkenes Kulturgut) 3 stehen auch in der Erzählforschung einander gegenüber (cf. Lit. und Volkserzählung)4. Allerdings spielt im Unterschied zum Volkslied die Frage nach der namentlichen Herkunft, genauer dem Urheber der einzelnen Sagen, Märchen, Legenden, eine wesentlich geringere und — bei den -» einfachen Formen — so gut wie keine Rolle; denn in dem von den Brüdern Grimm geprägten Forschungsgebiet waren Fragen der Altersbestimmung und -> Verbreitung vorrangig (cf. auch -» Geogr.-hist. Methode) 5 . Anonymität, Kollektivität und fortlaufende mündl. Überlieferung (-• Kontinuität) von Volkspoesie und -prosa, die Postulate der romantischen Philologie (-» Philologische Methode), wurden im Anschluß an die Volksliedforschung allerdings auch in der Erzählforschung in Frage gestellt (A. - Grimm) Geschichte und klassische Philologie. Nach seiner 1847 zurückgelegten Reise durch Süddeutschland und Österreich-Ungarn wurde er 1848/49 für die Augsburg. Allg. Ztg politischer Korrespondent in Wien3. Seit Frühjahr 1849 lebte er in Berlin als Feuilletonist und freier Schriftsteller. 1851 begannen seine ausgedehnten Sammelreisen in den Harz (Clausthal-Zellerfeld, Lerbach u. a. Orte), seit 1854 sammelte er von Wernigerode (Wohnsitz 1854-57) aus. Mit einer Diss, über die Namen des Brocken und die mit dem Berg verbundenen Sagen4 wurde P. 1855 dank der Vermittlung W. Grimms und K. Simrocks durch F. C. Dahlmann an der Univ. Bonn promoviert. 1857-90 war P. (mit einer Unterbrechung 1858/59 in Mühlheim an der Ruhr) als Lehrer in Berlin tätig. 1890 erhielt er den Professorentitel. P. gehörte dem Kuratorium der -» Gleim-Stiftung in Halberstadt an. Sein Nachlaß, vor allem Korrespondenz, befindet sich zum größten Teil in der Biblioteka Jagiellonska in Krakau 5 .

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Pröhle, Heinrich Christoph Ferdinand

P.s Arbeiten umfassen zahlreiche Publ.en in Buchform und ζ. T. von ihm mehrfach verwertete, bisher noch nicht systematisch erfaßte Beitr.e in verschiedenen Ztgen und Zss. (u. a. Dt. Museum, Vossische Ztg, Literar. Centraiblatt, Zs. für dt. Mythologie und Sittenkunde) zur Lit.-, Kirchen- und Kulturgeschichte, aus dem Bereich der allg. Geschichte und vor allem der Volks- und Altertumskunde sowie eigene Dichtungen 6 . Für die Erzählforschung von bes. Interesse sind die systematisch einer Region, dem Mittelgebirge Harz, gewidmeten Märchen- und Sagensammlungen P.s: Kinder- und Volksmärchen (78 Texte und drei von P. verfaßte Märchen)7, Märchen für die Jugend (64 Texte)8, Harzsagen. Gesammelt auf dem Oberharz [...] (212 Nummern, vier unnumerierte Sagen)9 und Unterharz. Sagen (458 Nummern) 10 , die alle 1853—56 erschienen11. Dem Harz galt ein breites volkskundliches, hist., literaturwiss. bis hin zu sozialen Aspekten reichendes Interesse P.s, das Eingang in seine Anmerkungsapparate, Zss.beiträge und in selbständige Veröff.en fand, ζ. B. außer in der Diss, in Publ.en von Wanderskizzen und Sagen12, über die Harzburg 13 , über Brauch, Spiel, Schimpfen und Fluchen 14 , von Volksliedern15 und Brokkensagen16, aber auch von Gedichten über den Harz und Kyflhäuser 17 oder über Heinrich -» Heines Beziehungen zum Harz 18 sowie von Reiseführern 19 . Ferner veröffentlichte P. die nach eigener Aussage zwischen gelehrten und bloß unterhaltenden Sammlungen stehende Ausg. dt. Sagen20 und die als Jugendschrift konzipierte Ausg. der Rheinlandsagen 21 , deren Texte er im Unterschied zu den Harzer Sagensammlungen überwiegend schriftl. Quellen entnommen und bearbeitet hatte. P.22, der sich als Schüler J. und W. Grimms verstand und bes. durch die Dt. Mythologie J. Grimms motiviert worden war, sah das Sammeln und Herausgeben von Märchen und Sagen auch unter patriotischen Prämissen (-» Patriotismus) als einen Beitr. zur Mythologie, zur Kinder- und Jugenderziehung 23 und als kalkuliertes Feedback an, um Volkstraditionen unverfälscht u. a. vor einer durch den Tourismus bedingten Lit. zu bewahren 24 . Sagen galt sein bes. mythol. Interesse, und in seinem Überblick zur Sagensammlung und -forschung im Harz bringt u. a. seine Charakterisierung J. C.

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C. Nachtigals die unterschiedlichen Konzepte der - Feldforschungen und Bearb.smethoden (-> Authentizität). Während P. in den Kinder- und Volksmärchen konkret auf einige wenige und in den Märchen für die Jugend allg. auf häufige Var.nkontaminationen hinwies, verwandte er zur Erstellung einer vollständigen' Sagenvariante prinzipiell verschiedene mündl. Fassungen27. Über diese inhaltliche Veränderung individueller Fassungen hinaus unterzog P. die meist von ihm selbst aufgezeichneten und die von Mitarbeitern, vor allem Lehrern und Pfarrern, erhaltenen Texte durchgehend einer wiederholt ausführlich und selbstbewußt geschilderten formalen Bearb., bei der er verschiedene Märchen· und Sagenstile unterschied (-» Stil)28. Die postulierte Treue gegenüber der Überlieferung galt nicht der Form, sondern allein den Erzählstoffen. Dies und das Fehlen von Qu.nangaben bei Texten mündl. Herkunft, sogar bei Erzählungen seines ausführlich charakterisierten Haupterzählers, kennzeichnet P.s romantische Auffassung von der -» Kollektivität und -> Anonymität der Volksüberlieferungen29. Sein Vorgehen ist symptomatisch für die im 19. Jh. übliche Inszenierung von Mündlichkeit 30 und allg. aufschlußreich für Standardisierungsprozesse im Umgang mit Volksüberlieferungen, die auch durch Rez.en und eine Vernetzung der Sammlerszene gefördert wurde. Eine Besonderheit hingegen, die nicht gängigen Methoden entsprach, stellt die u.a. von W. Grimm und Mannhardt gerühmte Vertrautheit P.s mit dem ,Feld' dar 31 . In essayisti-

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Pröhle, Heinrich Christoph Ferdinand

scher Form berichtete P., der vom Forscher aktive Dialektkenntnisse forderte und auch auf die -» Gattungstermini der Überlieferungsträger einging 32 , äußerst anschaulich und lebendig über Kontaktaufnahmen mit Gewährsleuten, Kartenspiel in der Spinnstube, das Erzählen von -• Lebensgeschichten oder die Auswanderung nach Australien und Amerika 33 . In einer eigens verfaßten Anleitung zur Feldforschung thematisierte er auch die Problematik einer Bezahlung von ->· Informanten, das Verhalten des Sammlers gegenüber Volksglaubensvorstellungen und die Möglichkeit von Falschinformationen 34 . P.s Stärke war seine durch ein intensives Interesse an ,Land und Leuten' geprägte Sammelleidenschaft, die ihn auch gegenüber der zeitgenössischen Erzählwirklichkeit offen sein ließ. Dieser ,ethnogr. Blick' kam seinen Harzer Märchen- und Sagensammlungen zugute, die ein wichtiges Dokument für die Volksüberlieferung um 1850 und bis heute die umfassendste und oft für lokale Anthologien genutzte Sammlung der Region darstellen. 1

Grosse, W.: H. C. F. P. In: Mitteidt. Lebensbilder 4. Magdeburg 1929, 343-353 (Sterbedaten fehlerhaft); Kesslin, C. F.: Nachrichten von Schriftstellern und Künstlern der Grafschaft Wernigerode vom Jahre 1074 bis 1855. Wernigerode 1856, 252-258; Zs. des Harzvereins für Geschichte und Altertumskunde 28 (1895) 800-803 (Nachruf E. Jacobs); Weinhold, K.: H. P.f. In: ZfVk. 5 (1895) 329 sq. - 2 cf. P., Η.: Geschichte der burschenschaftlichen Bewegung unter dem Ministerium Eichhorn, insbesondere der hallischen Burschenschaft (Alemannia) von 1842-1845. In: VeröfT.en des Archivs für die Dt. Burschenschaft 1 (1894) 1-16, cf. auch I - X ; id.: Friedrich Ludwig Jahn's Leben. Nebst Mittheilungen aus seinem literar. Nachlasse. B. 1855 (21872). - 3 cf. id.: Aus dem Kaiserstaat. Schilderungen aus dem Volksleben in Ungarn, Böhmen, Mähren, Oberösterreich, Tyrol und Wien. Wien 1849; id.: Berlin und Wien. B. 1850. - 4 id.: De Bructeri nominibus et de fabulis quae ad eum montem pertinent. Diss. Wernigerode 1855; cf. die kritische Rez. W. Mannhardts in Zs. für dt. Mythologie und Sittenkunde 3 (1855) 319-321. 5 Zum Briefwechsel zwischen P. und J. und W. Grimm cf. Friemel, B.: Verz. von Jacob und Wilhelm Grimms Briefwechsel 1 - 2 . Diss. Β. 1992, Reg. s.v. P.; fast alle Briefe der Grimms an P. veröff. in Gürtler, H./Leitzmann, Α.: Briefe der Brüder Grimm. Jena 1923, Reg. s.v. P; der gesamte Briefwechsel wird im Rahmen der Grimm-Briefausgabe Berlin (geplant in t. 3) durch I. Köhler-Zülch herausgegeben. - 6 cf. Kesslin (wie not.l) 254-258 (Bibliogr., bis 1855 sind 17 selbständige Publ.en und eine Ausw.

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von über 50 Zss.beitr.en angegeben). - 7 P., Η.: Kinder- und Volksmärchen. Lpz. 1853 (Nachdr. Hildesheim/N.Y. 1975, Nachwort H. Stein). - 8 id.: Märchen für die Jugend. Mit einer Abhdlg für Lehrer und Erzieher. Halle 1854. - 9 id.: Harzsagen. Gesammelt auf dem Oberharz und in der übrigen Gegend von Harzeburg und Goslar bis zur Grafschaft Hohenstein und bis Nordhausen. Lpz. 1854 (Neuausg. ed. W.-E. Peuckert. Göttingen 1957 [Texte der Ausg. von 1854 ergänzt durch 26 Texte aus anderen Publ.en P.s, dessen Handexemplar zur 2. Aufl. der Sagen sowie von P.s Beiträger Georg Schulze, Pfarrer in Altenau; P.s mythol. Ausführungen in den Anmerkungen der Ausg. von 1854 weitgehend eliminiert, von Peuckert ergänzt durch Nachweise von Textnachdr.en]). - 10 P., Η.: Unterharz. Sagen. Mit Anmerkungen und Abhdlgen. Aschersleben 1856 (Nachdr. Lindlar 1979) (Abhdlgen u. a. über Zwerge in Familiensagen, einige Märchen und Sagen vom Hirsch, über die Venediger, den wilden Jäger und Frau Holle). "P.s „Harzsagen" (wie not. 9) und „Unterharz. Sagen" (wie not. 10) erschienen um Texte gekürzt, durch neue erg. ohne Anmerkungsapparate als 2. Aufl. in einem Band: P., Η.: Harzsagen z.T. in der Mundart der Gebirgsbewohner [...]. Lpz. 1886 (276 Nummern; erw. um „Aus dem Tagebuche eines dt. Sammlers", XV-XLI). - 12 id.: Aus dem Harze. Skizzen und Sagen. Lpz. 1851 (21857, Nachdr. Hildesheim u.a. 1989); dort enthaltene Sagen von P. selbst meist als aus- und umgeschrieben charakterisiert, cf. id. (wie not. 9) XX sq. - 13 id.: Arx Hercinia. In: Dt. Museum 2 (1852) 241-255. - 14 id.: Harzbilder. Sitten und Gebräuche aus dem Harzgebirge. Lpz. 1855. - 15 id.: Weltliche und geistliche Volkslieder und Volksschauspiele. Aschersleben 1855 (ζ. T. mündl. aus der Harzgegend und aus fliegenden Bll.). — 16 id.: Brockensagen. Mit einer Abhdlg über den Hexenzug nach dem Blocksberge. Harzburg 1888 (mit Texten u.a. aus den Slgen von K. Müllenhoff, A. Kuhn, W. Schwartz, G. Schambach und W. Müller). - 17 id.: Der Harz und Kyfifhäuser in Gedichten. Harzburg 1869. - 18 id.: Heinrich Heine und der Harz. Harzburg 1855. - " z . B . id.: Der Harz. III. Wegweiser für 1874 (Grieben's Reise-Bibl. 2). Β. 131874 (P. war bis zur 22723. Aufl. zuständig). - 20 id.: Dt. Sagen. B. 1863, XV (B. 21879, erw. u.a. durch Anmerkungsapparat, Aufsatz „Ueber die dt. Kaisersage" [275-287], Texte aus id.: Die Reformationssagen und die Volksüberlieferungen der Protestanten. B. 1867); zu P.s Reformationssagen cf. Brückner, Reg. s. v. P. 21 P., Η.: Rheinlands schönste Sagen und Geschichten. Für die Jugend bearb. B. [um 1886]. - ^ K ö h ler-Zülch, I.: H. P.: A Successor to the Brothers Grimm. In: The Reception of Grimms' Fairy Tales, ed. D. Haase. Detroit 1993, 41-58. - 23 cf. z.B. P. (wie not. 8) IX sq. (Ergänzung eines klassisch ausgerichteten Bildungskonzepts durch nationale Märchen und Sagen im Unterricht). - 24 cf. z.B. id. 2 1879 (wie not. 20) 276 sq.; cf. auch P.s nicht thema-

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Proletariat

tische, sondern topographische Anordnung in Sagenausg.n und die Vernetzung mit Reiseführern. 25 P. (wie not. 9) X V I - X X I I I . - 2 6 id. (wie not. 11). - 27 cf. id. (wie not. 8) XXVI. - 28 Köhler-Zülch, I.: Der Diskurs über den Ton. Zur Präsentation von Märchen und Sagen in Slgen des 19. Jh.s. In: Homo narrans. Festschr. S. Neumann. Münster u.a. 1999, 2 5 - 5 0 , hier 4 1 - 4 5 . - 2 9 ead./Shojaei Kawan, C.: Les Freres Grimm et leurs contemporains. In: Görög-Karady (ed.): D'un conte ... ä l'autre. P. 1990, 249-260. - 3 0 cf. Gerndt, H.: Sagen und Sagenforschung im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. In: Fabula 29 (1988) 1 - 2 0 . 31 cf. Gürtler/Leitzmann (wie not. 5) 217 sq.; Sammelrez. Mannhardts in Zs. für dt. Mythologie und Sittenkunde 3 (1855) 411-414. - 3 2 P. (wie not. 7) XVI sq. - 3 3 id.: Aus dem Tagebuche eines dt. Sammlers. In: id. (wie not. 11) X V - X L I (Dt. Museum 15 [1856]); id. (wie not. 14) bes. 9 3 - 1 0 5 . 34 id.: Wie sammelt man Volkssagen? In: id.: Feldgarben. Lpz. 1859, 374-376; cf. auch id.: Eine Pfingstbetrachtung. In: id. (wie not. 10) 174-182, hier 180-182 (Magdeburger Correspondent [1853] num. 114 sq.).

Göttingen

Ines Köhler-Zülch

Proletariat. Der Begriff P. hat eine semantische Tradition, die bis in die röm. Antike zurückreicht. Damals wurden so die Bürger der niedrigsten Klasse bezeichnet - angesiedelt noch unterhalb des Fußvolkes und dessen fünf Steuerklassen. Dies bedeutete, daß sie weder zur Steuerzahlung noch zum Kriegsdienst herangezogen wurden. Proletarier besaßen als einziges Eigentum ihre Kinder (proles). Das P. rekrutierte sich aus dem verarmten bäuerlichen Mittelstand, der nicht mehr landansässig war und sich vor allem in Rom versammelte. Die Vertreter des -> Humanismus nahmen — in deutlichem Bezug auf die altröm. Bedeutung - das Wort wieder auf, zunächst im hochentwickelten England des 16. und 17. Jh.s1. Als Proletarier galten damals soziale Außenseiter, Randexistenzen, auch die Armen und Bettler, deren Anzahl infolge der Umstrukturierung der ma.-agrarischen zu einer neuzeitlich-industriellen Gesellschaft beständig anwuchs. Diese neuen gesellschaftlichen Gruppen unterlagen ständigen Sozialdisziplinierungen, waren gleichzeitig Ziel sozialreformerischer Bestrebungen und waren „an ihrer eigenen Entstehung beteiligt"2. Der Terminus

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P. entwickelte sich zu einem politisch-publizistischen Begriff, der sich nach der Frz. Revolution und bes. mit der sich um 1850 auf dem Kontinent beginnenden industriellen Revolution durchsetzte3, aber auch in die USA und die überseeischen Kolonien abstrahlte 4 . Erst durch die Konzentration auf die Fabrikarbeiter im P-Begriff wurde dieser in die Richtung spezifiziert, die bei K. Marx erkenntnistheoretische und geschichtsphilosophische Bedeutung erlangen konnte 5 . Das Kommunistische Manifest (1848) bezeichnet als P. die Klasse der Lohnarbeiter als Subjekt eines geschichtlichen Emanzipationsprozesses, der die Beseitigung der privatkapitalistischen Gesellschaftsordnung anstrebe und schließlich durchführe. Als Kampfbegriff verlor die Bezeichnung P. innerhalb der sich ausbreitenden Arbeiterbewegung und deren Differenzierung nach Fraktionen schon im 19. Jh. an Schärfe und Präzision. Selbst in den kommunistischen Ländern wurde der Begriff schon seit den 1920er Jahren zunehmend durch das Quasisynonym Arbeiterklasse verdrängt, hielt sich jedoch in dem Schlagwort Proletarier aller Länder, vereinigt euch!' auch unter Linken in Westeuropa 6 . Nach dem 2. Weltkrieg — und spätestens seit dem Ende der sozialistischen Staatenordnung um 1989 — wird Ρ als Klassenbezeichnung von westl. Wissenschaftlern zusehends als Konstrukt des 19. und 20. Jh.s bewertet, welches einer differenzierten Beschreibung der hist, und gegenwärtigen Realitäten nicht gerecht werden kann 7 . Das Wort ,Prolet' wurde in Westdeutschland während der Zeit der Teilung zur abwertenden Bezeichnung für einen ungebildeten und schlecht erzogenen Menschen umgedeutet, eine Diffamierung, die auch auf den ,Bauern' zutrifft, der in sozialistischen Ländern als Teil des P.s angesehen wurde. Die Selbstbezeichnung der Dt. Demokratischen Republik (DDR, 1949-90) als .Arbeiter· und Bauernmacht' wurde deshalb oft satirisch persifliert. Die Entwicklung einer proletarischen Erzählliteratur mit eigenen Stoffen und Formen ist im Zusammenhang mit der Diskussion zur Fokussierung einer hist. Arbeiterkultur zu sehen 8 . Eine solche wurde seit der Entstehung der Sowjetunion (1917) verstärkt geführt und häufig in den Kontext einer proletarischen Revolution gestellt, die die kapitalistische Gesell-

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Proletariat

schaftsordnung überwinden müsse. Über die Grenzen der Sowjetunion hinaus wirkten die Vorstellungen des ,Proletkults', eines 1917 in Petrograd gegründeten Verbandes der proletarisch kulturell-volksbildnerischen Organisationen' 9 . Als autonome Massenorganisation sollte der Proletkult eine neue ,Klassenkultur' schaffen, die an die Stelle der zum Absterben verurteilten bürgerlichen Kunst und Lit. treten sollte. Die Formen des Proletkults waren stark performanzorientiert: Massenschauspiele, .Maschinenkonzerte' und Straßentheater feierten im Sinne einer ,monumentalen Propaganda' die Macht der Revolution und des Arbeiterkollektivs. Der Proletkult geriet 1921 in Gegensatz zum Führungsanspruch der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und wurde 1932 aufgelöst10. Seine Vorstellungen strahlten auch nach Westeuropa aus. Bes. innerhalb der sich als proletarisch verstehenden Parteien, Organisationen und Verbände Deutschlands während der Weimarer Zeit gab es ähnliche kulturdidaktische Ansätze. Wohl weil zwischen Eliteund Massenkultur angesiedelt, wurde der Proletkult von der westeurop. volkskundlichen Forschung bisher nicht zur Kenntnis genommen. Neuere Forschungen zur Arbeiterkultur seit Beginn der 1970er Jahre untersuchen nur selten Arbeiterfolklore unter erzählforscherischer Perspektive11. 1979 gründete sich innerhalb der Dt. Ges. für Vk. eine Kommission ,Arbeiterkultur', deren Inhalte bestimmt wurden durch internat. Mitarbeit aus Österreich, der Schweiz, aus Skandinavien und der DDR 1 2 . Sie benannte sich 1998 um in Kommission für Arbeitskulturen 13 . Einen Sonderweg gehen skand. Ethnologen, die unter dem Stichwort Arbeiterfolklore (als Fach) einen Teil der Arbeitergeschichte subsumieren. Deren Aufgabe ist es, die .Erfahrungen und Weltanschauungen der Arbeiterbewegung und der Arbeiterklasse' anhand ihrer Überlieferungen zu beschreiben; Arbeiterfolklore umfaßt hier Gedichte, Reime, Sprüche und Rätsel, Erzählungen, Spiele, Riten, Bräuche 14 . Die überwiegend vergleichende europ. Erzählforschung gestand der Arbeiterkultur lange Zeit nur geringe Relevanz zu und bewertete sie nach überkommenen Kriterien: Sie wurde gemessen an ihren Beziehungen zur ,alten' (= bäuerlichen) Volkskultur 15 und als

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deren Schwundstufe bezeichnet16. Die der -• Grimm geprägte Suche nach Volksüberlieferungen im 19. Jh. wandte den Blick der Sammler überwiegend zurück zu den Vertretern traditioneller Berufsgruppen innerhalb der Bevölkerung wie Bauer, Bergmann, -> Fischer, -> Handwerker, -» Jäger oder Außenseitern wie -» Bettler, -> Fährmann, -> Henker, Scharfrichter, Müller, Schinder. Dies blieb so bis zum Beginn des 20. Jh.s, und es scheint auch für die moderne Erzählforschung bezeichnend zu sein, daß die EM kein Stichwort Arbeiter aufweist (cf. Gesinde, -> Arbeit, Herr und Knecht). Dennoch wurden von einzelnen Sammlern auch unterschichtliche Erzähler und Erzählungen berücksichtigt. Im Umkreis des DDRVolkskundlers W. Steinitz entstanden in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg Sageneditionen zum Thema Herr und Knecht sowie sozialkritische Schwanksammlungen, die auf das von R. -» Wossidlo um die Jh.wende gesammelte Material zurückgreifen konnten 17 . S. -» Neumann stellte die Persönlichkeit, das Repertoire sowie die Erzählhaltung eines unterschichtlichen mecklenburg. ,Volkserzählers' vor und gliederte dessen Geschichten u.a. nach Sozialbereichen auf 18 . Klassencharakter und .Volksverbundenheit' des Erzählguts waren Kriterien, die nicht nur in der DDR, sondern auch in anderen Ländern Ost- und Südosteuropas bei den Deutungen der .Volksdichtung' in sozialistischem Sinn angewendet wurden. Exemplarisch für Bulgarien hat dies P. -» Dinekov dargestellt19, führend in der russ. Schule war V. Cicerov, dessen 1959 erschienenes Werk Russkoe narodnoe tvorcestvo 1968 von A. Hexelschneider u. d. T. Russ. Volksdichtung ins Deutsche übertragen wurde und ein umfangreiches Kapitel zur Arbeiterfolklore enthält 20 . Bes. bedeutsam für diese Richtung der Erforschung proletarischer narrativer Formen und für die öffentliche Rezeption der volkskundlichen Ergebnisse waren die liededitorischen Arbeiten von Steinitz. Mit der Slg Dt. Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jh. en 1—2 (1955/62) versuchte er, „herrschaftskritische Kulturproduktivität im arbeitenden und unterdrückten Volk" seit dem

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Proletariat

MA. als Kontinuum nachzuweisen21. Steinitz bezog sich bei seinen Thesenbildungen auf die von Lenin entworfene Theorie von den zwei Kulturen: „vom In- und Gegeneinander einer volksfeindlichen Herrschaftskultur und einer widerständigen, zu revolutionärer Sprengkraft gedeihenden Gegenkultur der Werktätigen" 22 . Folklorisierung bedeutete für ihn einen kollektiven Schaffensprozeß (-» Kollektivität, Kollektivbewußtsein), dessen Ergebnis u.a. das Arbeitervolkslied ist23. Er versuchte so, die Theorie vom ->• gesunkenen Kulturgut abzulösen, die während der Weimarer Zeit von H. -• Naumann formuliert worden war und die der unterschichtlichen Volkskultur wenig Eigenständigkeit zubilligte24. Steinitz näherte sich damit aber nach heutigem Verständnis romantisierenden Ideen. Zum P. in engerem Sinne, nämlich als lohnabhängige Fabrikarbeiterschaft, stehen bei Steinitz Texte und Ableitungen zu hist. Liedern bes. im 2. Band: Beitr.e zum politischen Arbeitervolkslied der Jahre 1850—1914', Lieder aus dem Kampf gegen Reaktion und Faschismus, für den Sieg des Sozialismus 1918—1933, während im 1. Band schon Lieder der ausgebeuteten und kämpfenden Arbeiter, vorwiegend aus dem 19. Jh., vor allem Weberlieder, Bergarbeiterlieder, aber auch Texte der Steinarbeiter, Maurer, und Metallarbeiter bekannt gemacht worden waren 25 . Wie H. -» Bausinger am Beispiel des Leunaliedes verdeutlichte — der Text geht auf ein Soldatenlied zurück - , ist die proletarische Folklorisierung in diesem Falle mit der Setzung eines aggressiven Akzentes verknüpft: „Die Kugel, die kam nun geflogen,/ Sie durchbohrte dem einen das Herz./ Das war für die Eltern ein Kummer,/ Für sein Liebchen da war es ein Schmerz." „Da kam eine feindliche Kugel,/ die durchbohrte dem einen das Herz,/ Für die Eltern da war es ein Kummer,/ Für den ,Stahlhelm', da war es ein Scherz." 26

Die Slg Steinitz war, bezieht man ihre Rezeptionsgeschichte in die Bewertung ein, vor der dt.-dt. Grenzöffnung (1989) zu einer gesamtdt. Liedersammlung geworden. Ihre Lieder gehörten zum Repertoire der dt.sprachigen Folklorefestivals der 1960er bis 1980er Jahre27. Offensichtlich von Steinitz beeindruckt, gab W. Emmerich 1974/75 zwei umfangreiche

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Bände Proletarische Lebensläufe heraus. Nicht nur der Untertitel Autobiogr. Dokumente zur Entstehung der Zweiten Kultur wies ihn als Vertreter der 1968er Generation aus, sondern auch die Gliederung des umfangreichen Werkes, die einer damals in der Bundesrepublik Deutschland wiederentdeckten sozialistischen Epocheneinteilung folgt: Armut, Anfänge der industriellen Revolution und Proletarisierung 1740-1848; Die Bildung des P.s zur Klasse: Vom Klassengefühl zum Klassenbewußtsein 1849—1870; Die Entfaltung der Arbeiterbewegung von der Reichsgründung bis zum Fall des Sozialistengesetzes 1871-1890; Lage, Kämpfe und Bewußtsein der Arbeiterklasse im imperialistischen Deutschland 1891—1914; Die proletarische Erfahrung des imperialistischen Weltkrieges 1914—1918; Die Arbeiterklasse in Revolution und bürgerlicher Republik 1918-1933; Arbeiterklasse unter der faschistischen Diktatur 1933-19452S. Die Anthologie endet mit 1945, da die dt.sprachige Arbeiterautobiographie seit dem Ende des Nationalsozialismus weder in Deutschland noch in Österreich oder in der Schweiz eine Rolle spielte.

Proletarische Autobiographien gehören als Genre zur sog. Arbeiterliteratur 29 . Diese ungenaue Bezeichnung umfaßt eine Lit., die von Arbeitern geschaffen wurde, ihr Leben darstellt und/oder ihre Interessen vertritt. Als Vorläufer und Wegbereiter gelten die radikaldemokratischen Autoren des Vormärz wie Heinrich -» Heine (Weberlied), Georg Herwegh (Lied Bet' und arbeit'!), Ferdinand Freiligrath, Georg Weerth30. Viele Autoren der frühen Arbeiterliteratur waren selbst Arbeiter, die sich meist autodidaktisch weiterbildeten und Funktionen in der Arbeiterbewegung übernahmen, andere kamen aus bürgerlichen und bäuerlichen Schichten. Wichtige Vermittler und Anreger dieser Lit. waren Arbeiterbildungsvereine und die sozialdemokratische Presse. Deren Redakteure waren oft selbst Arbeiterschriftsteller. Neben Arbeiterliedern und -autobiographien sind zu erwähnen: Gebrauchsund Gelegenheitsdichtungen der proletarischen Festkultur, satirische Unterhaltungszeitschriften, Arbeitertheater, Romane und Erzählungen. Diesen inhaltlich und formal weit gestreuten populären Lesestoffen hat als Volkskundler erstmals und noch immer grundlegend R. -• Herolt, Johannes

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Propheten

Propheten 1. Ursprüngliche Wortbedeutung - 2. Allg. Begriffsbestimmung und Typologie - 3. Judentum 4. Christentum - 5. Islam

1. U r s p r ü n g l i c h e Wortbedeutung. Der Terminus Prophet (P.) bezeichnet allg. den Verkünder und Vermittler einer Mitteilung göttlichen Ursprungs. Die Vorsilbe ,pro' des griech. Wortes kann sowohl ,vor' als auch ,vorher' bedeuten. Dem älteren Verständnis von P. als demjenigen, der Zukünftiges vorhersagt, steht die neuere Interpretation von Prophetie als ,Heraussagen' des göttlichen Willens, das Verkünden der Offenbarung ,vor' jemandem, entgegen 1 . P.en sind damit Vermittler zwischen -• Gott und Menschen. Diese Deutung stützt sich auf die Erzählung bei Homer (Odyssee 1, 37)2, in der der Götterbote Hermes dem Ägisth die ,Weisung gibt', davon abzulassen, den aus dem Trojan. Krieg heimgekehrten Agamemnon zu töten und dessen Gattin Klytämnestra zu heiraten. Die ältesten Belege des Nomens P. finden sich bei Pindar (gest. 446 a. Chr. n.; Neme. Oden 1,60 sq.). Geschildert wird, wie Herakles, der Sohn des ->• Zeus, als Säugling die Schlangen erwürgt, die Hera schickt, um ihn zu töten (Mot. Η 1510: Tests of power to survive)·, der vermeintliche Vater Amphitryon läßt darauf Teiresias rufen, der als P. und Mantis (Seher; Divination) bezeichnet wird; Teiresias verkündet vorausschauend das Schicksal des Kindes (Mot. Μ 312). Allerdings muß zwischen den beiden Bezeichnungen unterschieden werden: „Mantis ist einer, der etwas sieht. Sofern er diese Geheimnisse den Menschen mitteilt" 3 und damit verkündet, ist er ein P. Die Verkündigung der antiken Pen kann direkt, durch Eingebung des sich offenbarenden Gottes, oder indirekt, durch Zeichendeutung (cf. -> Prodigien) und Erklärung eines Orakels bzw. unverständlicher Worte oder Laute einer von der Gottheit inspirierten Person, erfolgen. Im letzteren Fall ist der P. zugleich Exeget bzw. Interpret. Dies gilt bes. für den Pen als Tempelbeamten im Rahmen der antiken Orakel (-» Sibyllen)4. Im Hinblick auf letztere Funktion findet das griech. Wort P. seit dem 3. Jh. a. Chr. n. auch für die ägypt. Priester Verwendung 5 . Mit der antiken Zeichendeutung — in Griechenland und Rom bes.

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Vogelflug und Opferschau, in Ägypten bes. Astrologie - verbunden ist eine Reihe bestimmter Techniken 6 . 2. Allg. B e g r i f f s b e s t i m m u n g u n d Typ o l o g i e . Die Septuaginta übersetzt hebr. näbi' mit griech. prophetes 7 . Theol. Begriffsbestimmung und religionsphänomenologische Typologie wurden ausgehend von den bibl. Berichten über die Pen Israels entwickelt. Entscheidendes Charakteristikum der Verkündigung der Pen ist das Wort. Der P. wird sowohl vom Priester als auch vom Wahrsager, der Zeichen deutet, unterschieden. Prophetie wird zum Gegenstück .heidnischer' Mantik und -» Magie. Allg. typol. Merkmale des Phänomens P. sind: Die Berufung, auf welche die P.en keinen Einfluß haben; das Empfangen einer göttlichen Botschaft durch Audition und Vision, meist in -> Traum oder Ekstase, sei es unmittelbar oder mittelbar durch einen Boten, oft einen -» Engel; das Verständnis des P.en als reines Werkzeug bzw. Sprachrohr Gottes und eine damit in Verbindung stehende Uneigennützigkeit der Sendung; der Aufruf zu Umkehr oder Erneuerung, häufig in Verbindung mit Endzeit- bzw. Gerichtserwartung (-• Jüngstes Gericht) und -» eschatologischer Voraussage; häufig -> Wunder zur Beglaubigung des P.en und seiner Botschaft 8 .

Im Α. T. (Dtn. 13,2-6; 18,20-22) wie im Ν. T. werden die ,wahren' von den .falschen' P.en abgegrenzt: Sie sprechen nicht im Namen Gottes, beanspruchen zu Unrecht, Pen zu sein, und verkünden Unwahres 9 . Dem Typus des P.en steht auch in der späteren Religionsgeschichte der Typus des Pseudo-P.en gegenüber 10 . In Anwendung der skizzierten Typologie wird der Terminus P. auch auf Gestalten der Religionsgeschichte angewendet, die außerhalb des ursprünglichen Begriffsfeldes stehen. So ist es üblich geworden, die Perser Zarathustra (ca 600 a. Chr. n.) und Mani (216-277) wie auch den Japaner Nichiren (1222—82) als Pen zu verstehen". 3. J u d e n t u m . Nach rabbinischer Vorstellung geht alle Prophetie auf die Übergabe der Thora an -> Moses zurück. Diese ursprüngliche Offenbarung umfaßt diejenige aller späteren Pen, die somit prinzipiell der Verkündigung des Moses nichts hinzufügen. Nicht nur die im Α. T. explizit als P. Bezeichneten wer-

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Propheten

den als solche verstanden. Auch die ,Vater' und ,Gerechten' gelten als P.en12. Neben der Bibel enthalten bes. die Pseudepigraphen (-• Apokryphen, Kap. 2) und die narrative Überlieferung (-> Agada, Talmud, Midrasch) P.engeschichten13. Auf eine Übersicht der Erzähltradition, Motive und Inhalte wird hier verzichtet, da sie in den EM-Artikeln -> Altes Testament (bes. Kap. 5—8) und Apokryphen sowie zu folgenden Einzelgestalten dargestellt werden: Aaron (cf. Ex. 7,1 sq.), -> Abraham (cf. Gen. 20,7), Bileam, Daniel, David und Goliath, - Hiob, -> Jonas, Moses. 4. C h r i s t e n t u m . Das Verständnis der P.en im -«• Neuen Testament ist gegenüber dem antiken und alttestamentlichen verschoben; die Vorsilbe ,pro' gewinnt eindeutig temporalen Sinn als Voraussage, Vorherkündigung. Die Verkündigung der P.en des A. T.s wird auf Jesus (-• Christus) bezogen, durch welchen sich das Wort der früheren P.en erfüllt. Als Jesus vorausverkündigend werden neben P.en des A. T.s auch Zacharias (Lk. 1,67—79), Elisabeth (Lk. 1,41), Simeon (Lk. 2,26-32) und Hanna (Lk. 2,36) geschildert14. Die bedeutendsten P.en des N. T.s sind -» Johannes Baptista und Jesus. In beiden sahen ihre Anhänger den verhießenen P.en der Endzeit. Das Ν. T. und das frühe Christentum deuten Johannes als Vorläufer und Verkünder Jesu, als letzten P.en vor dem Messias um. Aussagen des A. T.s werden in den Evangelien typol. auf Jesus übertragen: Wie die Geburt des Moses wird Jesu Geburt von Sterndeutern vorausgesagt; wie bei Moses wird der Vater des Kindes im Traum vor dem Kindermord gewarnt und das Kind gerettet; wie Moses nach Ägypten kehrt Jesus nach Palästina zurück; die Passion Jesu entspricht dem Martyrium der verfolgten P.en des A. T.s (cf. -> Märtyrer; Apokryphen, Kap. 2.2.2); Jesus hat die Gabe übernatürlicher Erkenntnis und sieht vieles von seiner Passion konkret voraus15.

Bereits im Verständnis des Urchristentums wird die Vorstellung Jesu als eines P.en zurückgedrängt und Jesus über die anderen P.en hinausgehoben 16 . Im Hinblick auf die spätere Entwicklung des Jesusbildes kann daher nicht mehr von P.engeschichten gesprochen werden. Die Prophetie erlischt jedoch nicht mit Jesus. Noch die Apostelgeschichte bezeichnet einzelne hervorgehobene Gestalten als P.en (Apg. 11,27

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sq.; 21,10; 15,22 und 32). Der jüd. Prophetie am nächsten steht im Ν. T. die Johannesapokalypse11. Neben dem Ν. T. enthalten vor allem die Pseudepigraphen mit den Apokalypsen christl. und christl. überarbeitete Geschichten, welche den jüd. P.engeschichten ähneln (Apokryphen, Kap. 2). 5. I s l a m . Neben dem P.en und Gottgesandten schlechthin, ->• Mohammed, werden im Koran die folgenden Gestalten als P.en (arab. nabl) bezeichnet: Abraham 18 , Isaak, Jakob, -» Noah, David 19 , Salomon, Hiob, Joseph (Der keusche -> Joseph), Moses20, Aaron, Zacharias, Johannes Baptista, Jesus, Elias, Ismael, Elisa, Jonas 21 , Lot; Idns; Dü 1Kifl.

Darüber hinaus werden drei Namen altarab. Gottgesandter (arab. rasül) genannt: Su'aib (Sure 11,84); Hüd (Sure 11,50); Sälih (Sure 11,61; 27,45). Der Koran nimmt damit das gegenüber dem Α. T. erweiterte Verständnis von Prophetie auf, welches bereits in rabbinischer und alexandrinischer Theologie anzutreffen ist, und ergänzt die Reihung nochmals um christl. und altarab. Pen. Der P. wird abgegrenzt vom altarab. kähin, dem heidnischen Wahrsager, dessen Kenntnisse und Vermögen als Magie abgewertet werden22. In der islam. Theologie übernimmt Mohammed die Funktion als Träger ursprünglicher und vollständiger Offenbarung, welche im rabbinischen Judentum Moses zukommt. Alle ihm vorausgehenden P.en entfalten nur seine sowohl präexistente als auch endgültige Offenbarung 23 . In den Überlieferungen zu seiner Himmelsreise (-» Jenseitswanderungen) durchquert er alle Himmel und läßt die früheren P.en hinter sich24. Wie die jüd. Agada enthalten die islam. P.engeschichten narrative Exegese des Primärtextes und mündl., die Schrift begleitende Überlieferung 25 . Sie sind sowohl Bestandteil von Korankommentaren und Universalgeschichten — wobei die wirkungsgeschichtlich bedeutendsten Werke dieser beiden Gattungen die des Abü Ga'far Muhammad ibn Garir atTabarl (gest. 923)26 sind - als auch eine eigenständige Gattung 27 . Als solche sind sie das literar. Pendant zur Vita Mohammeds 28 . Die Geschichten variieren entsprechend theol. und re-

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ligionspolitischer Reflexion. Aufgrund ihres narrativen, didaktischen und paränetischen Charakters sind sie außer in der Lit. (-» Damirl, Ibn al-Gauz!) häufig in volkstümlichem Erzählgut wie auch in bildlicher Darstellung 29 anzutreffen. Der wirkungsgeschichtlich bedeutendste Kompilator von P.engeschichten ist Muhammad ibn Ishäq (704-767), dessen Werk über Schülerversionen die Gattung islam. P.engeschichten dominiert 30 . Die Gattung verbindet die koranischen P.en in Sukzession von ->• Adam 31 bis Mohammed. Die Reihungen haben Vorlagen in den Genealogien des A. T.s und des N. T.s (cf. Mt. 1). In die Gattung integriert und in eine zeitliche Ordnung gebracht wurden weitere Geschichten, die vor allem Wundererzählungen enthalten, wie z.B. über Alexander d. Gr. Arab.-islam. Erzählstoffe, Kap. 5.3.; -» Gog und Magog, Kap. 3)32, die - Siebenschläfer (AaTh 766)33 und die wundersame Ernährung Marias im Tempel 34 . Viele P.engeschichten verlaufen mit analoger Struktur. Ein Grundschema ist: Bekehrung des P.en zum Monotheismus bzw. Berufung; Verkündigung mit Verheißung und Drohung an das jeweilige Volk; Ungläubigkeit, Ablehnung der göttlichen Botschaft und Feindschaft seitens des Volkes; Errettung des P.en mit seinen wenigen Anhängern und Vernichtung bzw. Besiegung des ungläubigen Volkes. Die vorislam. P.en werden so zu Vorläufern und Leidensgenossen Mohammeds: Das ungläubige Volk Noahs wird durch die ->• Sintflut vernichtet, das Volk Hüds durch Wind35, das Volk Sälihs durch einen Schrei36. Abraham wird vor dem Feuer Nimrods gerettet; eine Mücke dringt in Nimrods Gehirn, zerfrißt sein Fleisch und saugt sein Blut; um die Mücke zum Stillhalten zu bringen, läßt er sich von seinem Diener mit einem Eisenstock auf den Kopf schlagen, bis sein Gehirn von einem starken Schlag birst37. Auf der Flucht vor dem Pharao spaltet sich das Meer für Moses, und der Pharao ertrinkt. Mohammed findet vor den Mekkanern in Medina Zuflucht, wird dort beim sog. Grabenkrieg durch Wind und Kälte vor den Mekkanern gerettet38 und zieht schließlich als Sieger in Mekka ein.

Motive und Inhalte der islam. P.engeschichten entsprechen großenteils jüd., manchmal auch christl.'-apokrypher Überlieferung. Bes. hervorgehoben wird das Motiv der Prüfung und Gottergebenheit der P.en. Auffallig sind

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islamisierende und arabisierende Abweichungen von alttestamentlicher, pseudepigraphischer und jüd. Überlieferung, bes. in den Geschichten Adams sowie Abrahams und seiner Söhne. Hinsichtlich der Geschichte Abrahams sind sich die islam. Exegeten uneinig darüber, ob er Isaak, den Sohn seiner Ehefrau Sarah, oder Ismael, den Sohn seiner kopt. Sklavin Hagar (cf. Gen. 16,1 — 16), opfern sollte39. Ismael gewinnt hier die hervorgehobene Rolle dessen, der sich in der Prüfung durch bes. Gottergebenheit auszeichnet, insofern er um seine geplante Opferung weiß (cf. Abraham, Kap. 4). Die Ismaelerzählung verbindet die Geschichte der israelit. P.en mit der Geschichte der Araber und damit die hebr. mit der arab. Genealogie40. Auf Hagar und Ismael geht auch eine Ätiologie der islam. Wallfahrtsriten, auf Abraham und Ismael die Gründung bzw. Neugründung der Ka'ba (cf. -> Gründungssage) nach der Sintflut zurück: Nachdem Abraham Hagar und Ismael wegen der Eifersucht Sarahs weggeschickt hat, irrt Hagar in der Wüste umher, bis sie in die Gegend des späteren Mekka kommt. Dort legt sie das Kind nieder, um nach Wasser zu suchen. Auf ihrer vergeblichen Suche läuft sie zwischen den beiden Bergen Safa und Marwa hin und her und begründet so den zu den späteren islam. Wallfahrtsriten gehörenden Lauf zwischen diesen beiden Hügeln. Wahrend ihrer Abwesenheit scharrt das Kind auf der Erde, und es entspringt die Quelle Zamzam neben der späteren Ka'ba. In einer anderen Version kommt der Engel Gabriel und stampft mit dem Fuß auf die Erde, so daß die Quelle entspringt (cf. Gen. 21,9-20). Durch das Wasser werden Vögel angezogen, die über der Quelle kreisen. Dies sieht die Karawane eines vorbeiziehenden arab. Stammes. Kundschafter finden Hagar und Ismael. Der Stamm läßt sich darauf am Ort des späteren Mekka nieder. Ismael lernt von ihnen Arabisch und heiratet eine ihrer Frauen. Abraham besucht ihn und baut mit ihm die Ka'ba 41 .

Bes. Kennzeichen der P.en im Islam sind ihre Wundertätigkeit 42 und die von der islam. Theologie entwickelte Vorstellung ihrer Sündlosigkeit. Je nach Einfluß theol. Reflexion heben die P.engeschichten entweder Reue und Umkehr der P.en nach einer -» Sünde hervor, werten die Sünden der P.en ab oder erklären sie außerhalb des wörtlichen Sinns. 1 cf. Fascher, E.: Prophetes. Eine sprach- und religionsgeschichtliche Unters. Gießen 1927, 2—4 (mit Lit.). - 2 Wackernagel, J.: Vorlesungen über Syntax.

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Basel 1924, 239 sq.; Fascher (wie not. 1) 5; cf. van der Kolf, M. C.: Prophetes. In: Pauly/Wissowa 23,1 (1957) 797-814, hier 797 sq.; Ebach, J.: Prophetismus. In: Hb. religionswiss. Grundbegriffe 4. Stg. u.a. 1998, 347-359, hier 348 sq. - 3 Fascher (wie not. 1) 12 sq.; cf. Friedrich, G. u.a.: Prophetes. In: Theol. Wb. zum Ν. T. 4. Stg. u.a. 1959, 781-863, hier 789. - 4 Fascher (wie not. 1) 3 2 - 5 4 ; cf. Friedrich (wie not. 3) 784-792. - 5 Fascher (wie not. 1) 78; Ebach (wie not. 2) 354 sq., 358 (Lit.); cf. Heintz, J.-G. (ed.): Oracles et propheties dans l'Antiquite. P. 1997. - 6 cf. Jouanna, J.: Oracles et devins chez Sophocle. In: Heintz (wie not. 5) 304-316. - 7 Fascher (wie not. 1) 102-108. - 8 cf. Klein, W. u.a.: P.en/Prophetie. In: T R E 27 (1997) 473-517, hier 473-476; Ebach (wie not. 2) 349 sq. - 'Friedrich (wie not. 3) 807 sq., 831, 857 sq. - 10 cf. Marzolph, U.: Die Autobiogr. als Karrierebaustein. Die Abhdlg des Qägärenprinzen E'tezäd as-saltane über die f a l schen Pen'. In: Arabic and Middle Eastern Literatures 2 (1999) 189-202, bes. 190-193. 11 Lanczkowski, G.: Einführung in die Religionsphänomenologie. Darmstadt 1978, 88; Ebach (wie not. 2) 356. - 12 Friedrich (wie not. 3) 818, 822; T R E 27 (1997) 499-503. - 13 Oberhänsli-Widmer, G.: Bibl. Figuren in der rabbinischen Lit. Gleichnisse und Bilder zu Adam, Noah und Abraham im Midrasch Bereshit Rabba. Bern u . a . 1998. - " F r i e d rich (wie not. 3) 834 sq., 837. - 15 ibid., 846. - 16 cf. T R E 27 (1997) 504 sq. - 17 cf. Friedrich (wie not. 3) 855; T R E 27 (1997) 507 sq. - 1 8 Calder, N.: From Midrash to Scripture. The Sacrifice of Abraham in Early Islamic Tradition. In: Le Museon 101 (1988) 375—402; Firestone, R.: Abraham's Son as the Intended Sacrifice [...]. In: J. of Jewish Studies 34 (1989) 9 5 - 1 3 1 ; id.: Difficulties in Keeping a Beautiful Wife. The Legend of Abraham and Sarah in Jewish and Islamic Tradition, ibid. 42 (1991) 196-214; id.: Journeys in Holy Lands. The Evolution of the Abraham-Ishmael Legends in Islamic Exegesis. Albany 1990. - 19 Johns, A. H.: David and Bathsheba. A Case Study in the Exegesis of Quranic Story-Telling. In: Melanges de l'Institut dominicain d'etudes orientales du Caire 19 (1989) 225-266; Busse, Η.: The Tower of David/Mihräb Däwüd. Remarks on the History of a Sanctuary in Jerusalem in Christian and Islamic Times. In: Jerusalem Studies in Arabic and Islam 17 (1994) 142-165. - 20 El'ad, Α.: Some Aspects of the Islamic Traditions Regarding the Site of the Grave of Moses, ibid. 11(1988) 1 - 1 5 ; Tottoli, R.: II bastone di Mose mutato in serpente nell'esegesi e nelle tradizioni islamiche. In: Annali (Istituto Universitario Orientale di Napoli) 51 (1991) 225-234, 383-394. 21 Castillo Castillo, C.: Jonas en la leyenda musulmana. In: al-Qantara 4 (1983) 89-100. - 2 2 F a h d , T.: De l'Oracle a la prophetie en Arabie. In: Heintz (wie not. 5) 231-241; Khoury, R. G.: Poesie et prophetie en Arabie. ibid., 2 4 9 - 253. - 2 3 cf. Ess, J. van: Theologie und Ges. im 2. und 3. Jh. H[idschra], t. 4. B./N. Y. 1997, 592-594. - 2 4 cf. Amir-Moezzi,

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Μ. A. (ed.): Le Voyage initiatique en terre d'Islam. P. 1996. - 2 5 z . B . Storey, C. Α.: Persian Literature 1,1. L. 1979, 158-172; Rubin, U.: Prophetsand Progenitors in the Early Shia Tradition. In: Jerusalem Studies in Arabic and Islam 1 (1979) 4 1 - 6 5 ; Thackston, W. M. Jr.: Islam. Mythologie. In: Heinrichs, W. (ed.): Oriental. ΜΑ. Wiesbaden 1990, 186-201; Speyer, H.: Die bibl. Erzählungen im Qoran. Breslau 1931 (Nachdr. Hildesheim 1961); Schwarzbaum, H.: Biblical and Extrabiblical Legends in Islamic Folk Literature. Walldorf 1982; Tottoli, R.: I profeti biblici nella tradizione islamica. Brescia 1999. 26 Bosworth, C. E.: al-Jaban. In: EI 2 10,163-164 (1998) 11-15; cf. allg. Springberg-Hinsen, M.: Die Zeit vor dem Islam in arab. Universalgeschichten des 9. bis 12. Jh.s. Würzburg 1998. - 27 Nagel, T.: Kisas al-anbiyä'. In: EI 2 5 (1986) 180 sq.; cf. Khoury, R. G. (ed.): Les Legendes prophetiques dans l'Islam. Wiesbaden 1978; The Tales of the Prophets of alKisai. Übers. W. M. Thackston. Boston 1978; al-Tarafi: Storie die Profeti. Übers. R. Tottoli. Genua 1997; Tottoli, R.: The Qisäs al-anbiyä' of Ibn Mutarrif al-Tarafi (d. 454/1062). Stories of Prophets from al-Andalus. In: al-Qantara 19 (1998) 131-160. 28 Raven, W.: Sira. In: EI 2 9 (1997) 660-663. 29 Milstein, R./Rührdanz, K./Schmitz, B.: Stories of the Prophets. Illustrated Mss. of Qisas al-anbiyä'. Costa Mesa, Calif. 1998. - 3 0 Newby, G. D.: The Making of the Last Prophet. Columbia, S. C. 1989; dazu Rez. L. Conrad in J. of the American Oriental Soc. 113 (1993) 253-263; cf. Schoeler, G.: Charakter und Authentie der muslim. Überlieferung über das Leben Mohammeds. B./N. Y. 1996. 31 Kister, M. J.: Legends in Tafsir and Hadlth Literature. The Creation of Ädam and Related Stories. In: Rippin, A. (ed.): Approaches to the History of the Interpretation of the Qurän. Ox. 1988, 82-114; id.: Ädam. A Study of Some Legends in Tafslr and Hadlt Literature. In: Israel Oriental Studies 13 (1993) 113-174; Schock, C.: Adam im Islam. B. 1993; zu Kain und Abel cf. Bork-Qaysieh, W.: Die Geschichte von Kain und Abel (Häbil wa-Qäbfl) in der sunnit.-islam. Überlieferung. Β. 1993. - 3 2 Genequand, C.: Sagesse et pouvoir. Alexandre en Islam. In: Bridges, M./J. C. Bürgel (edd.): The Problematics of Power. Eastern and Western Representations of Alexander the Great. Bern u.a. 1996, 125-133; Polignac, F. de: Alexandre maitre des seuils et des passages. De la legende grecque au mythe arabe. In: Harf-Lancner, L./Kappler, C./Suard, F. (edd.): Alexandre le Grand dans les litteratures occidentales et proche-orientales. P. 1999, 215-225. - 33 cf. Grämlich, R.: Die Wunder der Freunde Gottes. Wiesbaden 1987, 77 sq. - 3 4 ibid., 7 4 - 7 7 . - 3 5 z.B. Ja'labi: Qisäs al-anbiyä'. Kairo s. a., 56. - 36 ibid., 62. - 37 ζ. B. Kisäl: Qisas al-anbiyä'. ed. I. Eisenberg. Leiden 1922-23, 149 sq. - 3 8 z . B . Jabarl: Gämi' al-bayän 21. Kairo 3 388/1968, 126-129 (zu Koran 33,9-25). - 39 cf. Calder (wie not. 18) 375-402. - 4 0 cf. Nagel, T.: Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam 1. Zürich/Mü. 1981, 2 7 - 4 5 . -

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Prophezeiung künftiger Hoheit

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ζ. B. Ta'labI (wie not. 35) 71. - 42 Antes, P.: P.enwunder in der As'anya bis al-Gazäli. Fbg 1970; Grämlich (wie not. 33) 19-37.

Freiburg/Br.

Cornelia Schock

Prophezeiung künftiger Hoheit (AaTh 517, 725), zusammenfassende Bezeichnung für zwei -» Schicksalsmärchen, in denen der Held gemäß einer P. Herrscher wird. Für beide ist die Aussage der P. von der Erniedrigung der Eltern gegenüber ihrem Sohn bzw. der Erhöhung des Sohnes über seine Eltern spezifisch. AaTh 517: The Boy who Learned Many Things weist folgende Normalform auf: Ein Junge (junger Mann) wird von seinem Vater zur Schule (einem Lehrer) geschickt. Dort lernt er die Sprache der Vögel. Diese prophezeien ihm, der Vater werde ihm einst Wasser zum Händewaschen reichen und die Mutter das Handtuch (die Eltern werden ihn bedienen, der Vater werde das Wasser trinken, in dem sein Sohn sich die Füße gewaschen hat). Auf Drängen des Vaters gibt er die P. preis, woraufhin der Vater so zornig wird, daß er den Jungen ins Meer stößt (aussetzt; Aussetzung). Er wird gerettet und erfährt, daß ein König demjenigen, der ihn von drei (einem Schwann) ihn belästigenden Raben befreit, das halbe Reich und die Königstochter verspricht. Dem Helden gelingt dies mit Hilfe seiner Fähigkeit, die Sprache der Vögel zu verstehen, und er erhält seinen Lohn. Er trifft auf seine (inzwischen verarmten) Eltern, die ihm, da sie ihn nicht erkennen, die Füße waschen. Damit hat sich die P. erfüllt, und der Junge versöhnt sich mit ihnen.

AaTh 517 ist in ganz Europa belegt, bes, in Skandinavien und Irland, sowie außerhalb Europas durch türk., jüd., berber., mexikan., karib. und frankokanad. Var.n1. Die Kenntnis der Vogelsprache ist - abgesehen von wenigen Ausnahmen 2 — sowohl konstituierend als auch strukturierend für AaTh 517: Diese Fähigkeit ermöglicht ihm einerseits, von der P. zu erfahren, und andererseits, die spezifische -» Aufgabe zu lösen. Einzelne Erzählungen variieren die Art und Weise, wie der Held die Königstochter bzw. das Reich gewinnt, ζ. B. wenn er sie schwängert? oder durch ein Zeichen zum Herrscher bestimmt wird (Mot. Η 171)4. In einer estn. Var. entlarvt er die Königstochter als Kindsmörderin: Raben bewachten den Ort, an dem sie ihr Kind verscharrt hatte 5 . In einer isl. Er-

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zählung hilft ihm seine Kenntnis der Vogelsprache, eine Stadt vor drohender Wasserknappheit zu retten 6 . In einigen Fällen finden sich Kontaminationen mit anderen Typen. Auf der einen Seite wird in der Eingangsepisode AaTh 517 ζ. B. mit AaTh 325: Zauberer und Schüler (der Sohn entflieht seinem Lehrer, einem Zauberer, und wird von ihm verfolgt)7 verbunden oder mit AaTh 613: Die beiden Wanderer (der Vater sticht dem Sohn die Augen aus)8. Auf der anderen Seite ist die bereits in Fassungen der Sieben weisen Meister erscheinende Kontamination mit AaTh 516 C: Amicus und Amelius als abschließende Erweiterung in mündl. Überlieferung belegt: In jeweils einer schles., tschech. und ungarndt. Var. reist der Held vor der Hochzeit mit der gewonnenen Königstochter an einen anderen Königshof, wo er einen Doppelgänger (Prinz, einfachen Mann) trifft, dem er durch Rollentausch zu einer Frau verhilft. Da seine eigene Frau ihm nach dem Leben trachtet, jagt er sie fort und heiratet die Schwester seines Doppelgängers9. AaTh 725: The Dream unterscheidet sich inhaltlich stark von AaTh 517, obwohl beide ähnliche Ausgangssituationen aufweisen: Ein Junge ( j u n g e r Mann) träumt von seinem künftigen Aufstieg. Er weigert sich, seinem Vater (Dienstherrn) den Traum zu erzählen, und wird deshalb ausgesetzt (geschlagen, verkauft, zieht in die Welt). Ein Herrscher nimmt ihn mit auf sein Schloß. Auch ihm will der Junge seinen Traum nicht erzählen, woraufhin er eingesperrt und dem Hungertod preisgegeben wird. Die Tochter des Herrschers versorgt ihn jedoch heimlich mit Nahrungsmitteln. Dem Herrscher wird von einem anderen der Krieg erklärt, sofern er nicht zwei Rätsel und eine Aufgabe lösen kann. Vom Helden erfahrt die Prinzessin die Lösungen und behauptet ihrem Vater gegenüber, sie habe diese geträumt. Zum Lösen der Aufgabe wird der Junge aus dem Kerker befreit (Prinzessin gibt an, sie habe geträumt, der Gefangene sei noch am Leben und könne die Aufgabe erfüllen). So wendet der Held den Krieg ab, heiratet die Prinzessin und erlangt am Ende beide Kaiserreiche (und beide Prinzessinnen).

AaTh 725 weist im Unterschied zu AaTh 517 eine höhere und weiter ausgreifende Belegdichte auf. Var.n sind für ganz Europa belegt, bes. im finn.-ugr. Sprachbereich, im Baltikum, bei Russen und Südosteuropäern; weiter finden sich türk., aram. und kaukas. sowie vereinzelt jap., mexikan., karib. und frankokanad. Belege10.

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Prophezeiung künftiger Hoheit

Die hier angegebene Form der Erzählung ist für Europa, die Kaukasusregion und Kleinasien charakteristisch. Die gestellten Rätsel variieren kaum. Häufig soll erraten werden, welches Ende eines Stockes der Krone bzw. den Wurzeln des Baumes, aus dem er geschnitten wurde, näher war. Der Held rät, den Stock ins Wasser zu legen - das der Wurzel nähere Ende neige sich nach unten, das der Krone nähere bleibe oben". Im Baltikum und in Rußland werden bei zunächst gleichem Handlungsverlauf die Aufgaben verändert: Hier löst der Held keine Rätsel, sondern gewinnt die Königstochter, weil er ihrem Bruder mit Hilfe von Zaubergegenständen (cf. AaTh 518: Streit um Zaubergegenstände) zu einer Frau verhilft (u. a. muß er drei silberne Haare vom Meeresalten besorgen, cf. AaTh 461: Drei ->• Haare vom Bart des Teufels)12. Am Schluß der Erzählung finden sich verschiedene Erweiterungen. In Südosteuropa, der Ukraine, der Kaukasusregion und in Kleinasien wird ζ. B. AaTh 725 mit AaTh 513 A: Sechse kommen durch die Welt kontaminiert: Der fremde Herrscher verlangt, daß der Rätsellöser zu ihm kommt. Auf dem Weg schließen sich dem Helden Männer mit übermenschlichen Fähigkeiten an, die ihm helfen, Mordanschläge zu vereiteln oder weitere Aufgaben zu lösen13. Bes. in Var.n aus Südosteuropa und Rußland nimmt der Held Männer mit, die ihm aufs Haar gleichen, und verhindert so, daß er erkannt und getötet wird. Hier wird in den meisten Fällen zusätzlich mit AaTh 655: cf. Die scharfsinnigen Brüder kombiniert: Der Held verblüfft den fremden König mit seiner Fähigkeit, Blut im Wein und Muttermilch im Brot zu schmecken sowie dem König seine illegitime Herkunft nachzuweisen ( - Bastard) 14 . In Südosteuropa finden sich Var.n, in denen der Held ein Königs- oder Grafensohn ist. Hier steht weniger der Aufstieg des Helden als vielmehr die Erniedrigung des Vaters gegenüber seinem Sohn im Vordergrund: Ein Königssohn erzählt seinem Vater, er habe geträumt, dieser werde ihm die Hände waschen (ihn auf den Thron setzen). Er wird verstoßen und gelangt zu einem blinden Paar (Einäugigem, Feenkönig), dem er wieder zu seinem Augenlicht verhilft (AaTh 321: -> Augen der Blinden zurückgebracht). Er entwendet ihm (erhält als Geschenk) ein goldenes Pferd und Zaubergegenstände, mit denen er seiner

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Verfolgung entgeht (cf. AaTh 313 sqq.: Magische Flucht). Auf den Rat der Blinden hin gewinnt er in -» Verkleidung als Bettler eine Königstochter (cf. AaTh 314: —' Goldener), die seine Schwester ist. Weder sie noch sein Vater erkennen ihn. Der Vater wäscht ihm die Hände und erfüllt so die P.15 (wenn es sich nicht um Geschwister handelt, heiratet der Held die Königstochter 16 ).

Zwei dt. Erzählungen kontaminieren AaTh 725 mit AaTh 569: Ranzen, Hütlein und Hörnlein11: Hier gerät der Held wegen seines Traumes nicht in Gefangenschaft, sondern erringt durch von Räubern gestohlene Zaubergegenstände die prophezeite Herrschaft. Darüber hinaus sind singulär Var.n belegt, die zwischen dem Traum und seiner Erfüllung einen stark abweichenden Handlungsverlauf aufweisen, u.a. Erzählungen mit einer Heldin 18 . Konstituierend für AaTh 725 ist, daß die R dem Helden im Traum offenbart wird und er sich weigert, davon zu erzählen. Diese Weigerung wird vom Vater als Ungehorsam ausgelegt. In einigen Erzählungen wird die Motivation des Sohnes, den Traum nicht preiszugeben, erklärt: So hat er ζ. B. Angst, der Vater könne ihn wegen seiner ,hochfahrenden Hoffnungen' bestrafen 19 . Furcht und Unsicherheit liegen seiner Weigerung auch in Var.n zugrunde, in denen er erzählen soll, was er in der ersten Nacht im neu erbauten Haus geträumt hat, denn der Vater hatte zur Bedingung gemacht, nur wenn der Traum schön sei, würden sie das Haus beziehen20. Als weiteres Motiv wird in den Texten der Glaube genannt, daß der Traum erst erzählt werden dürfe, wenn sich die P. erfüllt habe21. In Var.n aus Nordafrika und Vorderasien erzählt der Held den Traum nur demjenigen, der eine bestimmte Formel spricht, und zwar erst nach dessen Erfüllung 22 . Warum man über gute Träume nicht sprechen soll, beschreibt eine tuwin. Erzählung: Der Held erzählt seinen Frauen retrospektiv, wie er vom armen Hirten zum Herrscher wurde - und schon sitzt er wieder in seiner alten Jurte und ist so arm wie zuvor 23 . Form und Inhalt des Traums bzw. der R variieren. Oftmals träumt der Held einfach, er werde Herrscher 24 . Vor allem in südosteurop. und asiat. Var.n sieht der Held im Traum, daß Mond und Sonne sich vor ihm verneigen (links und rechts neben ihm sitzen, ihm die Hände waschen etc.)25. Wie bei AaTh 517 findet sich auch bei AaTh 725 die R, daß Vater und Mut-

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Prophezeiung künftiger Hoheit

ter ihm Waschschüssel und Handtuch reichen werden, und zwar überwiegend in südosteurop. Belegen26. Singular sind Var.n ohne Traum: In einer Erzählung aus Siebenbürgen sagt der Held bereits in der Wiege (-> Erwachsen bei Geburt), sein Verstand übertreffe den von sieben Königen — am Ende gewinnt er ein Land, das sieben Königreiche umfaßt 27 . In einer litau. Var. hingegen ist es der Vater, der träumt, der Mond verneige sich vor den Sternen, und die Deutung des Sohnes führt zu dessen Verstoßung28. Wenn der Held die P. seinem Vater nicht erzählt, dann wird sie meist erst am Ende der Erzählung mitgeteilt. In einem griech. Text, in dem der Held von drei Rosen (voll erblüht, aufblühend, Knospe) geträumt hatte, deutet ihm am Ende seine Frau den Traum 29 . Bei manchen Texten scheinen die Erzähler die Bedeutung der anfanglichen P. vergessen zu haben, denn sie enden, ohne daß noch einmal auf den Inhalt der P. eingegangen wird 30 . Der älteste Beleg für AaTh 517 findet sich in europ. Fassungen der ma. Erzählsammlung Sieben weise Meister, nicht jedoch in dessen Ursprungs werk Sindbädnäme31, sowie in der Scala celi des Johannes Gobi Junior (num. 520)32, in denen Vögel den künftigen Aufstieg des Helden prophezeien. AaTh 725 gilt als die jüngere Form der beiden Erzähltypen, wenn auch auf die Übereinstimmung des prophetischen Traums mit den Träumen Josephs (Gen. 37, 1 — 10; cf. Der keusche Joseph), in denen er über seine Brüder und seine Eltern erhoben wird, hingewiesen wird33. A. -> Wesselski nahm an, daß sich weder ein gemeinsamer Ursprung noch eine voneinander abhängige Tradition der beiden Typen nachweisen ließen34. Die typol. Verwandtschaft von AaTh 517 und AaTh 725 allerdings, und darüber hinaus auch mit AaTh 671: cf. Tiersprachenkundiger Mensch35, ist unbestritten. So sahen J. -> Bolte und J. -> Polivka AaTh 517, AaTh 725 und AaTh 671 als ,drei Gestaltungen' einer Erzählung an, und P. ->• Delarue und M.-L. -> Teneze sprachen gar von den drei Typen als einem „cycle de la prediction realisee"36. Ist einerseits AaTh 517 und AaTh 725 das Motiv einer prophezeiten Erniedrigung der Eltern bzw. Erhöhung des Sohns als konstitutives Element gemeinsam, so unterscheiden sich die beiden Erzähltypen andererseits durch die

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Vermittlungsweise der P. (Vogelstimmen, Traum) — und davon abhängig die Abenteuer des Helden — sowie durch die Motivation des Vaters, den Sohn zu verstoßen. In AaTh 517 geschieht dies aus Zorn über die dem Vater anmaßend erscheinende Weissagung, in AaTh 725 dagegen wegen der Weigerung des Sohnes, den Traum preiszugeben, welche der Vater als Ungehorsam bestraft. W. -> Scherf sieht in beiden Fällen einen ausgeprägten Vater-SohnKonflikt ( - Vater-Sohn-Motiv)37. I Ergänzend zu AaTh: Ο Süilleabhäin/Christiansen; Delarue/Teneze; Camarena/Chevalier; Cirese/Serafini; M N K ; Jason, Types (ind.); Robe; Flowers; Afanas'ev 2, num. 252, 253. - 2 Behrend, P.: Verstoßene Kinder. Königsberg 1912, num. 13 (P. durch Engel); Simonsuuri, L./Rausmaa, P.-L.: Finn. Volkserzählungen. B. 1968, num. 49 (ohne P.). - 3 Spiegel, K.: Märchen aus Bayern. Würzburg 1914, num. 4. 4 Radioff, W.: Proben der Volkslitteratur der türk. Stämme Süd-Sibiriens 1. SPb. 1866, num. 14. 5 Viidalepp, R.: Estn. Volksmärchen. B. 1980, num. 100. - 6 Kvideland, R./Eiriksson, H. Ö.: Norw. und isl. Volksmärchen. B. 1988, num. 17. - 7 Afanas'ev2, num. 252, 253. - 8 Kvideland/Eiriksson (wie not. 6). - 9 Keller, Η. Α.: Li Romans des sept sages. Nach der Pariser Hs. Tübingen 1836, C C X L I I I - C C X L V I ; Peuckert, W.-E.: Schlesiens dt. Märchen. Breslau 1932, num. 163; Henßen, G.: Ungardt. Volksüberlieferungen. Marburg 1959, num. 55; Tille, Soupis 1, 3 0 - 3 2 ; cf. BP 1, 323 - 1 0 Ergänzend zu AaTh: 0 Süilleabhäin/Christiansen; Aräjs/Medne; Kecskemeti/Paunonen; SUS; Delarue/Teneze; Camarena/ Chevalier; Pujol; M N K ; BFP; Angelopoulou/ Mprouskou; Eberhard/Boratav, num. 197, 214 (IV, 1), 257 (IV); Kurdovanidze; Guilakjan; Jason; Jason, Types; Jason, Iraq; Marzolph; Ergis, num. 231; Ikeda; Robe; Flowers. II ζ. B. Koväcs, Α.: Ung. Volksmärchen. MdW 1966, num. 50; Bogdanovic, D.: Izabrane narodne pripovijetke hrvatske i srpske. Zagreb 2[1930], num. 44. 12 ζ. Β. Böhm, Μ ./Specht, F.: Lett.-litau. Märchen. MdW 1924, num. 7 (lett.); Velikorusskie skazki ν zapisjach I. A. Chudjakova. ed. V. G. Bazanov/O. B. Alekseeva. M./Len. 1964, num. 2. - " z . B . Archiv für Siebenbürg. Landeskunde 33 (1905-06) num. 70; Panic-Surep, M.: Srpske narodne pripovetke. Belgrad 1957, num. 8; Hoogasian-Villa, S.: 100 Armenian Tales. Detroit 1966, num. 16. 14 Sudetendt. Zs. für Vk. 6 (1933) 149-152; Ortutay, G.: Ung. Volksmärchen. B. 1980, num. 13; Dowojna-Sylwestrowicz, M.: Podania zmujdzkie 1. W. 1894, 450-457; Afanas'ev 2, num. 240. - 15 ζ. Β. Leskien, Α.: Balkanmärchen. MdW 1915, num. 36 (bosn.); Boskovic-Stulli, M.: Kroat. Volksmärchen. MdW 1975, num. 2; Hahn, num. 45 (ohne AaTh 321). - 16 Archiv (wie not. 13) num. 5; Cajkanovic, V.: Srpske narodne pripovetke. Belgrad 1929, num.

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Prophezeiungen

18. - 17 Oberfeld, C.: Volksmärchen aus Hessen. Marburg 1962, num. 40; Bechstein, L.: Märchenbuch 1. ed. H.-J. Uther. MdW 1997, num. 43. 18 Kunos, I.: Türk. Volksmärchen aus Stambul. Leiden 1905, 375—382; Massignon, G.: Contes corses. P. 1963, num. 46; Romero, S.: Folclore brasileiro 2. Rio de Janeiro 31954, num. 3. - 19 Karlinger, F.I Birlea, O.: Rumän. Volksmärchen. MdW 1969, num. 2. - 20 z. B. Zelenin, D. K.: Velikorusskie skazki Vjatskoj gubernii. Petrograd 1915, num. 4. — 21 ζ. B. Jones, H. W./Kropf, L. L.: The Folk-Tales of the Magyars. L. 1889, 233-244. - 2 2 z.B. Frobenius, L.: Volksmärchen der Kabylen 3. Jena 1921, num. 44; Bergsträsser, G.: Neuaram. Märchen und andere Texte aus Ma'lula. Lpz. 1915, 15; Spies, Ο.: Türk. Volksmärchen. MdW 1982, num. 54. 23 Taube, E.: Tuwin. Märchen. B. 1978, num. 52. 24 ζ. Β. Oberfeld (wie not. 17); Karlinger/Birlea (wie not. 19). - 25 ζ. B. Cajkanovic (wie not. 16); Dirr, Α.: Kaukas. Märchen. MdW 1920, num. 5; Levin, I.: Armen. Märchen. MdW 1982, num. 17; Frobenius (wie not. 22). - 26 z.B. Boskovic-Stulli (wie not. 15); Chudjakov (wie not. 12) num. 8; Kerbelyte, B.: Litau. Volksmärchen. B. 1982, num. 43. - 27 Archiv (wie not. 13) num. 70. - 28 Leskien, A./Brugman, K.: Litau. Volkslieder und Märchen. Straßburg 1882, num. 27. - 29 Dawkins, R.: Modern Greek Folktales. L. 1953, num. 53. - 30 ζ. Β. Chudjakov (wie not. 12); Dowojna-Sylwestrowicz (wie not. 14); Moser-Rath, E.: Dt. Volksmärchen. MdW 1966, num. 69. 31 Chauvin 8, 193 sq., num. 234; Keller (wie not. 9) CCXXIX sq. (Kommentar), 182-194 (Text) (Ende 13. Jh.); Ott, Ν. H.: Sieben weise Meister. In: Lex. des MA.s 7. Stg. 1999, 1836-1839. - 32 Polo de Beaulieu, M.-A.: La Scala coeli de Jean Gobi. P. 1991, num. 520; ead.: Le Garejon qui comprend le langage des oiseaux. In: Formes medievales du conte merveilleux. ed. J. Berlioz u.a. P. 1989, 107-112. 33 Keller (wie not. 9) CCXXIX; BP 1, 322-325, hier 324; Wesselski, MMA, 221. - 34 ibid., 222. 35 KHM/Uther 4, 71 sq. - 36 BP 1, 324; Delarue/ Teneze 2, 581; cf. auch Mudrak, E.: Die Berufung durch überirdische Mächte in sagtümlicher Überlieferung. In: Fabula 2 (1958) 122-138. - 37 Scherf, Märchenlexikon 1, 224-226; ibid. 2, 1217-1220. Göttingen

Annika Schmitt

Prophezeiungen 1. Abgrenzungen - 2. Prophezeiungstraditionen - 3. Strategien zur Steigerung der Glaubwürdigkeit - 4. Erzählstoffe - 5. Funktion von Prophezeiungen 1. A b g r e n z u n g e n . Eine Prophezeiung (P.), Weissagung oder Wahrsagung (-• Wahr-

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sagen) ist eine Vorhersage zukünftiger Ereignisse, wobei vor allem die ersten beiden Begriffe, die weitgehend deckungsgleich sind, nicht nur eine beliebige Voraussage, sondern auch eine literar. Gattung bezeichnen. Die Aufmerksamkeit dieses Artikels gilt P.en als Gattung, soweit dort mit traditionellen Erzählmotiven gearbeitet wird. Es geht also nicht um P.en als Motive in Erzählungen 1 : um Todesprophezeiungen, Erfolgsversprechungen (cf. ζ. B. AaTh 517, 725: - P. künftiger Hoheit, AaTh 1645: Traum vom Schatz auf der Brücke), Voraussagen von Mesalliancen (cf. ζ. B. AaTh 930 A: Die vorbestimmte -» Frau, AaTh 461: Drei -> Haare vom Bart des Teufels, AaTh 898: -> Sonnentochter) und von ->· Freveltaten als unausweichlichem Schicksal (cf. ζ. B. Barlaam und Josaphat, Elternmörder, AaTh 931: —• Ödipus) oder um P.smotive in anderen Zusammenhängen bis hin zur Tramperfolklore 2 . Die Lit.wissenschaft scheint sich der Gattung P. bisher kaum angenommen zu haben; das Lemma fehlt in den meisten einschlägigen Lexika 3 . Die Behandlung von P e n als Erzähltraditionen ist eine Sichtweise, die dem Selbstverständnis dieser Texte, ihrer Produzenten und Konsumenten auf das äußerste widerspricht, denn P e n handeln von einmaligen Ereignissen, die sich zu bestimmten Zeitpunkten in der Zukunft abspielen sollen. Für eine derartige Sichtweise spricht jedoch, daß sich auch Parodien finden; so beschreibt ein in vielen Var.n verbreiteter und seit der Reformationszeit bekannter Text, der vorgibt, von einem Propheten zu berichten, in Wirklichkeit einen Hahn 4 . Nicht zu behandeln sind hier Prophetie im allg. (unter diesem Begriff wird nicht nur die Voraussage der Zukunft, sondern auch die von einer Gottheit offenbarte Deutung von Gegenwart und Vergangenheit verstanden) oder einzelne Propheten 5 , genausowenig Versuche, die Zukunft durch bestimmte Techniken gezielt zu erkunden (cf. Divination, Orakel), auch nicht Voraussagen aufgrund der Kenntnis von Naturgesetzen (ζ. B. Sonnenfinsternisse durch Astronomen) oder die Analyse von Vorzeichen (cf. Prodigien, Himmlische Weisung). Pen sind zwar ein weltweit verbreitetes Phänomen, doch muß sich dieser Artikel wegen der

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übergroßen Materialfülle weitgehend auf die abendländ. Tradition beschränken.

Leben parallelisiert ist (in der Folgezeit wurden von anderen Verf.n noch einige weitere Elemente hinzugefügt)9:

2. P . s t r a d i t i o n e n . Im folgenden werden einige Vorstellungen und Bewegungen genannt, die bedeutenden Einfluß auf die abendländ. P.sliteratur hatten. Die prophetischen Bücher der Bibel hielten stets die Erinnerung daran wach, daß Gott einigen Menschen das Sehen in die Zukunft ermöglicht hatte. Das Buch Daniel und die Offenbarung des Johannes sind Apokalypsen (griech. apokalypsis: Enthüllung, Offenbarung, Erscheinung) und gehören also zu einer Lit.form, die das nahende Ende der Welt und die darauf folgende Welterneuerung schildert (-• Eschatologie). Die zahlreichen übrigen jüd. und frühchristl. Apokalypsen sind -» Apokryphen (Kap. 2.4). Ein typisches Element von Apokalypsen ist, daß sie mit einem in Perioden (Weltalter) eingeteilten Bild der Geschichte und der Zukunft arbeiten. Eine solche Gliederung wurde in vielen späteren P.en verwendet. Apokalyptische Vorstellungen fanden jedoch auch an anderen Stellen der Bibel Nahrung, cf. ζ. B. die Erwartung, daß die Völker Gog und Magog am Ende der Zeiten hervorbrechen würden. Als frühe volkssprachliche Apokalypsen aus dem Abendland seien das Muspilli (9. Jh.) und die Vgluspä (um 1000; Edda, Kap. 3) genannt 6 . Apokalyptik, ab dem 11. Jh. häufig gepaart mit Chiliasmus bzw. Millenarismus (Erwartung eines 1000jährigen Reiches Christi auf Erden), spielte auch in der Neuzeit eine bedeutende Rolle, u.a. bei einigen reformierten Gruppierungen und im Pietismus, und findet — teilweise in säkularisierter Form - heute noch Verbreitung7.

Der Antichrist wird in Babylon aus dem jüd. Stamm Dan geboren werden. Nachdem der letzte König der Franken (Römer) seine Krone in Jerusalem niedergelegt haben wird, wird der Antichrist (30jährig) nach Jerusalem ziehen, den Tempel wiedererrichten und dreieinhalb Jahre lang über die ganze Welt herrschen und große Wunder tun. Fast alle werden an ihn glauben. Henoch und -+ Elias werden erscheinen und gegen den Antichrist predigen, bis er sie töten wird. Zuletzt wird Christus den Antichrist vernichten.

Ein weiterer wichtiger Motivkomplex rankt sich um die Antichrist-Vorstellung. Das Wort ,antichristos' taucht im Ν. T. nur in den Johannesbriefen (1. Joh. 2, 18 und 22; 4, 3; 2. Joh. 7) auf (-• Luther übersetzt,Widerchrist' 8 ) und bezeichnet hier Christi Gegner, nicht aber jemanden, der sich an seine Stelle setzen will. Auf die theol. Entwicklung des Begriffs und die Legendenbildungen in den folgenden Jh.en kann hier nicht eingegangen werden. Mitte des 10. Jh.s faßte schließlich Adso von Montier-en-Der die verschiedenen Traditionen zu einer schlüssigen, in der Zukunft spielenden Vita des Antichrists zusammen, die mit Christi

Diese Antichrist-Legende fand in verschiedenen Formen und auch in den Volkssprachen weite Verbreitung. Parallel dazu wurde der Antichrist nicht nur als eine eschatologische Gestalt (Antichristus personalis) verstanden, sondern auch (als verborgener, mystischer, symbolischer etc. Antichrist) mit verschiedenen Personen und Institutionen identifiziert (ζ. B. von Luther mit dem Papsttum) 10 . Joachim von Floris (Fiore) (um 1135-1202) und seine Schüler schufen einflußreiche P.en, u. a. von einem dritten Reich (dem des Hl. Geistes - nach dem des Vaters und dem des Sohnes; Trinität) und von einem Friedensherrscher (Endkaiser, Engel[s]papst). In diesen Zusammenhang gehört auch die sog. dt. Kaisersage des MA.s (-» Entrückung) 11 . Viele der bisher genannten Traditionsstränge wurden auch in den sibyllinischen Weissagungen wachgehalten (cf. Sibyllen). Unter diesem Namen liefen verschiedene P.straditionen um: über an Orakelstätten im Mittelmeerraum tätige weissagende Frauen, die nicht mehr erhaltenen sibyllinischen Bücher in Rom, die jüd.-frühchristl. Oracula sibyllina (in griech. Hexametern) und schließlich Weissagungen, die im MA. einzelnen Sibyllen (als heidnischen Parallelgestalten zu den alttestamentlichen Propheten) zugeschrieben wurden und in die auch andere Erzähltraditionen einflossen, vor allem die -> Kreuzholzlegende, die Antichrist-Legende und die 15 Zeichen vor dem Jüngsten Gericht12. Bis ins 20. Jh. wurden sibyllinische Weissagungen als sog. Volksbücher verbreitet13. Mit kürzeren Zeiträumen beschäftigten sich die vom 15. bis zum 17. Jh. populären Praktiken und Prognostiken. Sie enthielten Voraussagen für das folgende Jahr (oder eine Reihe

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von Jahren), oft auf der Grundlage von astrologischen Berechnungen (-• Kalender) 14 . Im SpätMA., mehr noch seit Erfindung des Buchdrucks, wurden zahllose politische P.en verbreitet, die wechselnde Schicksale für verschiedene Reiche und Dynastien vorhersagten. Für die einzelnen Weissagungen soll hier nur festgehalten werden, daß auch in diesen Schriften mit manchen Versatzstücken aus den genannten Traditionen gearbeitet wurde, außerdem mit den üblichen Angaben zu den Fundumständen (v. Kap. 3). Ähnliches gilt für die P.en religiöser Splittergruppen, wobei hier auch bibl. Exegese und ->· Visionen eine wichtige Rolle spielten. Seit dem 16./17. Jh. ist eine weitere Gruppe von Ren greifbar. Sie schöpfte ihre Erzählstoffe zum großen Teil aus den Sibyllen-Drukken (v. Kap. 4)15 und behandelte offenbar ursprünglich die Ereignisse vor dem Ende der Zeiten. Kennzeichnend ist aber, daß die Weissagungen lokalisiert (cf. Ökotyp) und deshalb nur regional tradiert wurden, weshalb die Überlieferung bis ins 19. Jh. häufig in hs. Form und nicht in volksläufigen Drucken vor sich ging. Die P.en wurden gern einem namentlich genannten Propheten, ζ. B. Bruder Staffan (Schweden)16, Coinneach Odhar Fiosaiche (Schottland) 17 , Hertje (Nordfriesland) 18 , Jaarfke (Groningen und Ostfriesland)19, Jon Krukk (Island)20, Rigelithomme (Luzern)21, Rischmann (Riesengebirge)22, 23 Spielbähn (Rheinland) , Starnberger (Bayer. Wald)24, Wicken-Thies (Braunschweig)25 u.a. zugeschrieben (-» Kristallisationsgestalten)26. Manchmal handelte es sich hier um eine hist. Persönlichkeit aus der Region, deren ursprüngliche P.en jedoch ganz anderer Art gewesen sein können. Es scheint, daß diesen Personen im 18.-20. Jh. vermehrt die Eigenschaft des Zweiten Gesichts (cf. ->· Eidetik, Geistersichtig) zugeschrieben wurde und daß sich ihre P.en fortan vor allem auf die nähere Zukunft erstreckten, weniger auf das Ende der Welt (so wird ζ. B. die Eisenbahn [Wagen ohne Pferde] bzw. ihre Streckenführung vorausgesagt27). Der 1. Weltkrieg brachte eine Renaissance dieser (und anderer) P.en28. Mit einer genauen hist. Einordnung solcher regionaler P.straditionen in die Geschichte der abendländ. Psliteratur hat sich die Forschung bisher erst ansatzweise beschäftigt. Eine unabding-

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bare Voraussetzung hierfür wird sein, die Entstehung und Veränderung aller Textbestandteile mit Hilfe schriftl. Qu.n genau zu datieren. 3. S t r a t e g i e n zur S t e i g e r u n g der G l a u b w ü r d i g k e i t . Der angebliche Abfassungszeitpunkt einer P. wird in eine ferne Vergangenheit verlegt, und dann werden die Ereignisse bis zum Zeitpunkt der Niederschrift korrekt — jedoch eventuell verklausuliert — ,vorhergesagt' (-• Glaubwürdigkeit). Der Zeitpunkt der Entstehung läßt sich meistens leicht als das Jahr bestimmen, bis zu dem die Voraussagen zutreffen; danach ging die Geschichte dann ihre eigenen Wege29. Ein Nebengewinn solcher P.en ex eventu war, daß man gegenüber der Zensur behaupten konnte, nur einen alten Text nachgedruckt zu haben 30 . Auch bei den angeblichen Fundumständen von P.en treten immer wieder dieselben Motive auf. Die P.en seien glaubwürdig, weil sie sehr alt seien und die Verf. darum von den gegenwärtigen Zuständen nichts hätten wissen können. Von P.en wird deshalb behauptet 31 , daß sie als Hs. 32 , in einer alten Bibliothek33, einem Kästchen 34 , einem Grab 35 , Hohlräumen im Erdboden (in Steinen)36, unter einer Kirchenmauer 37 oder in einem Kloster 38 aufgefunden worden seien, daß sie von einer wegen ihrer Frommheit oder Gelehrsamkeit berühmten Person stammten 39 oder ursprünglich in einer fremden Sprache geschrieben worden seien40. 4. E r z ä h l s t o f f e . Die folgende Ausw.41 nennt vor allem solche Vorhersagen, die am Ende der Zeiten eintreffen sollen und die offenbar zum großen Teil durch die SibyllenDrucke popularisiert worden sind42: Markante Punkte in der Landschaft verändern sich 43 . - Eine bestimmte Kirche wird gebaut (abgerissen, stürzt ein) 44 . - Baum wächst aus einem Stein (Felsen) heraus 45 . - Auf einem bestimmten (verdorrten) Baum brütet ein schwarzer Vogel weiße Junge aus (Baum schlägt wieder aus) 46 . - König (Kaiser) hängt seinen Schild 47 an einen dürren Baum, der wieder ergrünt (cf. AaTh 756: Der grünende - Zweig)4*. - Allg. Sittenverfall 49 . - Streit und Verrat unter Geschwistern (Eltern und Kindern) 50 . - Seltsame Kleidermoden 5 1 . - Große Teuerung 52 . - Sommer gleichen den Wintern 53 . - Auflösung der Gesellschaftsordnung 54 . - Überschwemmung (-» Sintflut) 55 . - Endschlacht (bei Köln 5 6 , am Birkenbaum 57 , auf der langen Wiese 5 8 , anderswo 5 9 ). - Großes Blutvergießen in der Schlacht (Blut steht

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Prophezeiungen

knöchel- oder kniehoch) 60 . - Die Fliehenden haben keine Zeit, ein Brot zu essen (aufzuheben) 61 . - Nur wenige (Männer) überleben 62 . - Ein Überlebender fragt den andern: ,,[W]or kömpst du her, edder wor heff du dy so lange verborgen, dat du nich bist dod geschlagen, edder gestorven [...]" 63 - Die Türken (die Feinde) erobern das ganze Land und tränken ihre Pferde in einem bestimmten Gewässer 64 . - König (Held) bindet sein Pferd an einen bestimmten Baum 6 5 . - Zerstörung Roms 66 . - Eroberung Konstantinopels (Jerusalems) 67 . - Im Berg (Grabhügel etc.) ruhender König (Kaiser, Soldatentrupp) rettet in der Zeit der Not sein Volk (-» Holger Danske, Karl d. Gr., Friedrich I. Barbarossa) 68 . - Lange, glückliche Friedenszeit 69 . > Jüngstes Gericht 70 . 5. F u n k t i o n v o n P . e n . O b w o h l P.en sich vordergründig mit der Z u k u n f t beschäftigten, waren sie gleichzeitig auch Geschichtsdarstellungen u n d -philosophien sowie A n t w o r t e n auf politische, religiöse, moralische oder andere Probleme der Zeit ihrer Entstehung u n d Tradierung, w o b e i die beteiligten gesellschaftlichen G r u p p e n jeweils andere sein konnten. Z u m rechten Zeitpunkt lanciert, konnten P.en Gesellschaftskritik ausdrücken oder Panik auslösen 7 1 . Falls Vorhersagen nicht eintrafen, führte das nicht unbedingt dazu, daß der P. nicht mehr geglaubt wurde, sondern eher dazu, daß die nächste Fassun g der Weissagung revidiert wurde 7 2 . M a n c h e Voraussagen regionaler Propheten sind in S a g e n s a m m l u n g e n des 19. und 20. Jh.s 7 3 und a u c h in den Bänkels a n g 7 4 eingegangen, offenbar häufig nach schriftl. Quellen, und verloren so jegliche Brisanz. A u c h in der Gegenwart werden weiterhin P.en verbreitet, teilweise gestützt auf Texte aus vergangenen Jh.en. Hierbei kann es sich schlicht u m die touristische Vermarktung eines regionalen Propheten handeln 7 5 , aber auch u m die ernstgemeinte Warnung vor k o m m e n d e n Gefahren. D i e Jahrtausendwende brachte eine neue Blüte dieser Art v o n Lit. mit sich 7 6 , d o c h beruht die fortgesetzte Aktualität v o n P.en offenbar auf einer Konstante der Geschichte: U n g e w i ß h e i t der Z u k u n f t und daraus resultierende Angst 7 7 . 1 cf. auch Frenzel, Motive ( 4 1992) 802-830 (Weissagung, Vision, vorausdeutender Traum). - 2 Fischer, H.: Der Rattenhund. Sagen der Gegenwart. Köln/ Bonn 1991, 35 sq., 38 sq.; Hiiemäe, R.: Trampergeschichten und Tramperfolklore. In: Beyer, J./ead. (edd.): Folklore als Tatsachenber. Dorpat 2001,

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5 5 - 7 0 , hier 63 sq. - 3 Ausnahmen z.B.: Profezia. In: Dizionario enciclopedico della letteratura italiana [4]. Bari/Rom 1967, 456 (nur gereimte P.en des SpätMA.s); Werner, J.: Prophetie. In: Träger, C. (ed.): Wb. der Lit.wiss. Lpz. 1986,415; cf. auch Potestä, G. L.: Propheten, Prophetie. Α. I: Prophetie, Prophetische Lit. In: Lex. des MA.s 7. Mü./Zürich 1995, 252-254; Dinzelbacher, P.: Weissagung. In: id. (ed.): Sachwb. der Mediävistik. Stg. 1992, 899; hilfreich sind immer noch die zahlreichen einschlägigen Art. im H D A , meistens von W.-E. Peuckert; sie spiegeln sich auch in dessen ungedr. Habilitationsschrift „Sibylle Weiss", von der die Univ.sbibl. Göttingen ein Exemplar mit zahllosen hs. Änderungen besitzt, cf. Bilgenroth, H./Röber, M.: W.-E. Peuckert und seine Habilitationsschrift „Sibylle Weiss". In: „Vk. ist Nachricht von jedem Teil des Volkes". W.-E. Peuckert zum 100. Geburtstag, ed. B. Bönisch-Brednich/R.-W. Brednich. Göttingen 1996, 4 5 - 7 0 . "Clemen, Ο.: Eine rätselhafte P. auf das Jahr 1536. In: Archiv für Kulturgeschichte 7 (1909) 1 - 4 ; Sommerfeldt, G.: Zwei geschichtlich interessante P.en auf das Jahr 1538. In: Zs. für Kirchengeschichte 28 (1907) 4 5 4 - 4 5 8 , hier 456-458; De Nieuwe Tijdingh uyt Londen van de wonderlijcke Propheet Die daar is opgestaan [Einblattdruck]. Amst. [1697]; Beretning Om den nye=ankommende Prophete [Einblattdruck]. s. 1. s.a.; A strange and wonderful Prophet, to be seen gratis at the Kings-Head in King Street, Hoxton-Square [Einblattdruck], s. 1. s.a.; Neubaur, L.: Die Sage vom ewigen Juden. Lpz. 2 1893, 51 sq.; Brady, P. V.: The Ambiguous „Newer Prophet". A Sixteenth-Century Stock Figure. In: Modern Language Review 62 (1967) 672-679, hier 675-679; in einigen der zitierten Beispiele wird die Parodie nicht erkannt; zu anderen Parodien im 18. Jh. cf. Bauer, B.: Die Rezeption ma. P.en im 17. und 18. Jh. In: Harms, W./Valentin, J.-M. (edd.): Ma. Denk- und Schreibmodelle in der dt. Lit. der frühen Neuzeit. Amst./Atlanta 1993, 111-148. - 5 cf. Freund, J.: Prophetisme. In: Enc. universalis 19. P. 1995, 6 2 - 6 4 ; Klein, W. u.a.: Propheten/Prophetie. In: T R E 27 (1997) 473-517. - 6 Braune, W./Ebbinghaus, Ε. A. (edd.): Ahd. Lesebuch. Tübingen 161979, 8 6 - 8 9 ; Steinsland, G./Meulengracht Serensen, P. (edd.): Voluspa. Oslo 1999, 110-117. - 7 Hellholm, D./Frankfurter, D.: Apokalypse. In: R G G 1 ( 4 1998) 585-589; Hellholm, D. u.a.: Apokalyptik. ibid., 590-600; The Enc. of Apocalypticism 1 - 3 . (Ν. Υ. 1998) Ν. Y./L. 2000; Verbeke, W./Verhelst, D./Welkenhuysen, Α. (edd.): The Use and Abuse of Eschatology in the Middle Ages. Löwen 1988; Jakubowki-Tiessen, M. u . a . (edd.): Jh.wenden. Göttingen 1999; Lamy, P.: Millennium Rage. Survivalists, White Supremacists, and the Doomsday Prophecy. N. Y./L. 1996; Wojcik, D.: The End of the World as We Know It. Faith, Fatalism, and Apocalypse in America. N. Y./L. 1997; Warneken, Β. J.: Die Stunde der Laien. Eine Studie über populäre Apokalyptik der Gegenwart. In: SAVk. 94 (1998) 1 - 2 0 . - 8 In der Ausg. 1545 mit Marginalglosse zu 1. Joh. 2,18: „Widerchrist ist/ den

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Prophezeiungen

man heisset Endechrist"; zum volksetymol. Anschluß an ,Ende' cf. DWb. Neubearb. 3,1 (1999) 15 sq. (Antichrist); an ,antern' (nachahmen) cf. Frühneuhochdt. Wb. 1. B./N. Y. 1986-89, 1519 (änterchrist); an ,Ente' cf. HDA 1 (1927) 496; an ,ante' cf. Le Grand Robert de la langue frangaise 1. P. 21988, 400 (ant6christ); die Vulgata hat ,antichristus'. 9 Adso Dervensis: De ortv et tempore Antichristi necnon et tractatvs qvi ab eo dependvnt. ed. D. Verhebst. Turnhout 1976, 20-30. - 10 Preuß, H.: Die Vorstellungen vom Antichrist im späteren MA., bei Luther und in der konfessionellen Polemik [...]. Lpz. 1906; HDA 1, 479-502; Chadraba, R.: Antichrist. In: LCI 1 (1974) 119-122; Manselli, R. u.a.: Antichrist. In: Lex. des MA.s 1. Mü./Zürich 1980, 703-708; Verflex. 1 (21978) 397-401; t. 5 (21985) 842-845; Boilloux, M./Carozzi, C.: Antechrist-Antichrist. In: Vauchez, A./Vincent, C. (edd.): Diet, encyclopedique du Moyen Age. Cambr./P./Rom 1997, 83 sq.; Klauck, H.-J. u.a.: Antichrist. In: RGG 1 (41998) 531-536. 11 HDA 9 [1] (1938-41) 393-434; Reeves, Μ.: The Influence of Prophecy in the Later Middle Ages. A Study in Joachimism. Ox. 1969; Möhring, Η.: Der Weltkaiser der Endzeit. Entstehung, Wandel und Wirkung einer 1000jährigen Weissagung. Stg. 2000. — 12 cf. Kramer, Ε. von: Les 15 Signes du jugement dernier. Poeme anonyme de la fin du XII e ou du debut du XIII e siecle. Hels. 1966; Eggers, H.: 15 Vorzeichen des Jüngsten Gerichts. In: Verflex. 2 (21980) 1013-1020. - 13 Kurfeß, A./Gauger, J.-D. (edd.): Sibyllinische Weissagungen. Griech.-dt. Düsseldorf/ Zürich 1998; Edsman, C.-M.: Sibylla. In: Kulturhistoriskt lex. för nordisk medeltid 1-22. Malmö 1956-78, hier t. 15, 169-173; id.: Antik och modern Sibylla [1971-72]. In: id.: Fran silverfisken i Skaga tili träguden i Silbojokk. Folkloristiska studier. Uppsala 1996, 73-111; Schnell, B./Palmer, N. F.: Sibyllenweissagungen. In: Verflex. 8 (21992) 1140-1152; Potestä, G. L.: Sibyllinische Bücher. In: Lex. des MA.s (wie not. 3) 1832 sq. - 14 HDA 1, 941-948; HDA 7 (1935-36) 335-338; Eis, G. (ed.): Wahrsagetexte des SpätMA.s. B. 1956, 17 sq.; Nordland, Ο./ Vilkuna, K.: Prognostica. In: Kulturhistoriskt lex. (wie not. 13) t. 13, 496-498; Daxelmüller, C./Keil, G.: Prognose, Prognostik. In: Lex. des MA.s (wie not. 3) 242 sq.; Beckers, H.: Einl. In: id. (ed.): Bauernpraktik und Bauernklage. Faks.ausg. des Volksbuches von 1515/18 [...]. Köln 1985, 7-47, hier 11-24. - 15 Hier und im folgenden sind nicht gelehrte Editionen der jüd.-frühchristl. „Oracula sibyllina" in griech. Sprache gemeint, sondern preiswerte P.slit. in den Volkssprachen, bei der auf dem Titelblatt die Sibyllen genannt werden. - 16 Ahnlund, N.: Helge broder Staffan. In: id.: Oljoberget och Ladugardsgärde. Svensk sägen och hävd. Stockholm 1924, 153-179. - "Mackenzie, Α.: The Prophecies of the Brahan Seer [...]. Stirling 1924. - 18 Heimreich, Α.: Nordfres. [sic] Chronik 1 - 2 . ed. Ν. Falck. Tondern 1819, hier t. 1, 271 sq.; t. 2, 55 sq., 341 sq. - " L a a n , Κ. ter (ed.): Prophecye van Jaarfke.

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Groningen 1931; zu weiteren ndl. Propheten cf. id.: Folkloristisch woordenboek van Nederland en vlaams Belgie. Den Haag 1949, 309, s.v. profeten (mit Querverweisen). - 20 Borgfiröingur, J./Jonsson, J. (edd.): Krukkspä. Reykjavik 1884. 21 Wandeler, M.: Eine politische P. „Rigelithomme" der Weissager von der Fontannenmühle um 1650.. In: Der Geschichtsfreund 103 (1950) 118-178. 22 Beyer, J.: Lutheran Lay Prophets (c. 1550-1700). Diss, (masch.) Cambr. 2000, 80, 102 sq. - 23 Fischer, H.: Das Ende der Tage. Die angeblichen Weissagungen des Bernhard Rembold oder Spielbähn. In: Rhein. Jb. für Vk. 33 (1999/2000) 129-163. 24 Haller, R.: Der Starnberger, Stormberger, Sturmberger. Propheten und P.en im Bayer. Wald [...]. Grafenau [ca 1976/77]. - 25 Schneider: Der Prophet Wicken=Thies. In: Neues vaterländisches Archiv oder Beitr.e zur allseitigen Kenntniß des Königreichs Hannover und des Herzogthums Braunschweig (1827) 1. Halbbd, 128-144; Meyer, Α.: „Wahr mutt dat sin, Wickenthies hat dat seggt". In: Un sau verteilt man sek ... Geschichten von Burgdorf und Burgdorferi Burgdorf [ca 1979], 80-83. - 26 cf. auch mehrere Namen in dem Verz. in HDA 9 [1], 358-387; es gibt jedoch auch vergleichbare P.en, deren Urheber nicht genannt werden, cf. Leverkus (ed.): Fries. Weissagungen aus dem XVI jh. In: ZfdA 3 (1843) 457-459; Waldfreund, J. E. (ed.): P.en. In: Zs. für dt. Mythologie und Sittenkunde 4 (1859) 201-203. - 27 Feilberg, H. F.: Holger Danske og Antikrist. In: DSt. 17 (1920) 97-125, hier 103, 109; Jauhiainen, M.: The Type and Motif Index of Finnish Belief Legends and Memorates (FFC 267). Hels. 1998, num. D 1441; Salve, K.: Kordo - a Sorcerer and/or a Prophet. In: Studies in Folklore and Popular Religion 3 (1999) 245-267, hier 253 sq., 256. 28 Rothbarth, Μ.: Zur Lit. der Kriegsp.en. In: ZfVk. 27 (1917) 247-249; HDA 9 [1], 472-495. - 29 ibid., 435 sq.; cf. auch Klintberg, Β. af.: Die doppelte P. In: Dona Folcloristica. Festschr. L. Röhrich. Ffm. 1990, 113-125; Köhler-Zülch, I.: Die Figur des ,Zigeuners' in dt.sprachigen Sagenslgen. In: .Zigeunerbilder' in der dt.sprachigen Lit. ed. W. Solms/D. Strauß. Heidelberg 1995, 11-46, hier 25 sq. 30 Harms, W. (ed.): Dt. ill. Flugbll. des 16. und 17. Jh.s 2,2. Mü. 1980, 316. 31 cf. [Block, M. G.:] Verschiedene Anmerckungen über gegenwärtiger Zeiten Falsche [...] Prognostica, Wahrsagereyen und_ Prophezeyungen [...]. Stade [1711], A6V (Orig.: Atskillige anmärkningar öfwer theßa tiders falske [...] prognostiker, spadomar och prophetier [...]. Linköping 1708). - 32 Eine Warhafftige vnnd Gewisse Propheceiung/ Welche in Westphalen inn einem Kloster Ossenbruck / auff Bergament geschrieben/ in einem holen Bild gefunden worden ist / den 12. Aprilis [...]. Lemgo 1593; Loyautander: Die Heutige SIBILLE Oder Unterschiedene [...] Weissagende Geheimnisse [...]. s. 1. 1668, BP; [Seyler, G. D. (ed.):] Der Preuß. Wahrsage^.] Das ist: Bruder Hermanns von Lehnin Wundersahme Prophezeyungen Von den Regenten Des

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Prophezeiungen

Churfürstlichen Hauses Brandenburg und Königreichs Preussen Und deren Besteigung des Kayserlichen Thrones; Nebst verschiedenen [...] Prognostic's] [...] mitgetheilt von Zoroaster, s. 1. 1741, 33, 43. - 33 Msc. Prophezeyhungen von den Preüß. Regenten [...]. In: Das Gelahrte Preüssen 2 [1723], 2[5]7—298, hier 261; Seyler (wie not. 32) 27, 29, 38, 46; Ahnlund (wie not. 16) 157. - 34 Harms (wie not. 30) 317; Loyautander (wie not. 32) ΒΓ; Eine merkwürdige Prophezeyung/ Welche zu Neapolis in eines Benedictiner=Münchs=Grabe in einer bleyern Capsel gefunden worden, s. 1. 1697. - 35 ibid.; Bauer (wie not. 4) 128 sq. - 36 ibid., 129; cf. auch Msc. Prophezeyhungen (wie not. 33) 268. - 37 Droste, H.: Hieronymus von Birckholtz. Sveriges forste underrättelseman. In: Personhistorisk tidskrift 94 (1998) 76—98, hier 90. - 38 Eyn wunderliche Weyssagung/ von dem Babstumb/ wie es yhm biß an das endt der weit gehen sol/ jn figuren oder gemäl begriffen/ gefunden zu Nürnberg/ ym Cartheuser Closter/ vnd ist seher alt. Eyn vorred/ Andreas Oslanders. Mit gutter verstendtlicher auslegung/ durch gelerte leut/ verklert. Welche/ Hans Sachs yn teutsche reymen gefast/ vnd darzu gesetzt hat. s. 1. 1527; Eine Warhafftige vnnd Gewisse Propheceiung (wie not. 32); Merkwürdige Prophezeyungen eines alten kathol. Geistlichen in Polen, welche vom Jahr 1790 bis zu Ende der Welt 2000 in Erfüllung gehen sollen, und daselbst von einem reisenden Kaufmann aus Riga sind in einem Kloster gefunden worden [...]. Warschau 1794, 3 sq. - 39 Seyler (wie not. 32) 1; Kaufmann, T.: 30jähriger Krieg und Westfäl. Friede [...]. Tübingen 1998, 67 sq.; Univ.sbibl. Uppsala, Ms. Nordin 18. Fol., 70v. - 40 Droste (wie not. 37); Woldenckwürdige Weissagung vnnd Propheceyung von den jetzigen Läufften/ vnd sonderlich von dem noch instehenden 1619. Vnd nachfolgenden [...] Jahren. Von Johann. Capistrano [...] Anno 1460. [...] geweissaget [...] Auß dem Lat. und Frantzös. Orig. ins Teutsch gebracht, s. 1. 1619, B4V; Kampff, T.: Reformatio. Das ist: Prophecey vnd Weissagung/ was sich in [...] Böhmen hinfüro für [...] Veränderung [...] begeben vnd zutragen werden [...] Anfänglich/ Anno 1474. von einem gebornen Böhmen [...] in der Hussiten Krieg/ in seiner Muttersprache gestellet/ vnd seinen Landsleuten zu trewer Warnung vnd Nachrichtung hinterlassen. Hernacher aber/ Anno 1496. [...] auß der Böhm, in Dt. Sprache [...] vbersetzet [...]. s. 1. 51621. 41 cf. auch HDA 1, 496-499; HDA 2 (1929-30) 821; EM 7, 819. - 42 Benutzt wurden folgende Ausg.n: Sibillen Boich. In: Schade, O. (ed.): Geistliche Gedichte des 14. und 15. Jh.s vom Niderrhein. Hannover 1854, 291—332; En mäckta skiön ock härlig Prophetia Sibyllae stält pa rim [...] Om then yttersta Dagen, [...] om mangahanda Oseder, som opkomma skola för Domen [...] Enligt urspungligt original tryckt är 1740. Oskarshamn 21941; Der zwölf Sybillen wunderbare Weissagungen vom Anfange bis zum Ende der Welt. Nebst der Königin von Saba, dem König Salomon gethaner P., wie auch vieler zukünftiger Dinge. Von St. Brigitten, Cyrillo, Metho-

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dio, Joachimo, Bruder Reinhard, J. Lichtenberger und Bruder Jacob aus Hispanien beschrieben. Augsburg [um 1800?]; The Tolff Sibyllers Spädommar, som mänge undersamme händelser ifrä werdennes begynnelse in tili enden tilkenna gifwa [...]. Übers. M. Andres. (Stockholm 1620) Nachdr. [Stockholm] 1916 (bes. die Teile über die Königin von Saba, Birgittas und [Pseudo-JMethodius' Ren, Predigt des Propheten, Zeichen vor dem Jüngsten Tag); zu weiteren Drucken der Vers- und der Prosafassung cf. Schnell/Palmer (wie not. 13) 1148-1152; die dt.sprachigen Erstdrucke erschienen um 1451-53 bzw. 1516; cf. auch Peuckert, W.-E.: 12 Sybillen Weissagungen. In: Mittigen der Schles. Ges. für Vk. 29 (1928) 217-257. - 43 Heimreich (wie not. 18) t. 2, 341 sq.; Feilberg (wie not. 27) 101 sq.; Ahnlund (wie not. 16) 167 sq. - ^Zingerle, I. V.: Sagen aus Tirol. Innsbruck 21891, num. 1013; Feilberg (wie not. 27) 102; Jauhiainen (wie not. 27) num. D 1421 und 1431. - 45 Ahnlund, N.: Oljoberget och Ladugardsgärde. In: id. (wie not. 16) 1 - 3 0 , hier 4, 25; Mackenzie (wie not. 17) 22. - 46 Heimreich (wie not. 18) t. 2, 342; Müllenhoff, K.: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogt[h]ümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. (Kiel 1845) ed. O. Mensing. Schleswig 1921, num. 592; Ahnlund (wie not. 45) 4, 21, 25. - 47 Zur Bedeutung dieser Handlung cf. Thümmel, H.-W.: Schild. In: Hwb. zur dt. Rechtsgeschichte 4. B. 1990, 1394-1399, hier 1395 sq. - 48 Feilberg (wie not. 27) 112, 115; HDA 2, 511. - 49 Kampff (wie not. 40) B2r; Edsman 1996 (wie not. 13) 93-97. - 50 Feilberg (wie not. 27) 103, 109; Alsheimer, R.: Mythos, Prophetie und Chauvinismus. Studien zur Handhabung der Sage von der Schlacht am Birkenbaum. In: Jb. für Vk. N. F. 13 (1990) 108-122, hier 110 sq.; Fischer (wie not. 23) 146. 51 Wandeler (wie not. 21) 119; Fischer (wie not. 23) 146. - 52 Kampff (wie not. 40) B2V. - "ibid., B3V; Heimreich (wie not. 18) t. 2, 342; Feilberg (wie not. 27) 102 sq., 110. - 54 Univ.sbibl. Uppsala, Ms. Nordin 18. Fol., 70r; Heimreich (wie not. 18) t. 2, 342; Ahnlund (wie not. 16) 157, 160 sq.; DirederMai, M./Petzoldt, L.: Sagen aus Südtirol. Mü. 1993, 216. - 55 Seyler (wie not. 32) 28; Heimreich (wie not. 18) t. 2, 342; cf. auch Talkenberger, H.: Sintflut. Prophetie und Zeitgeschehen in Texten und Holzschnitten astrologischer Flugschr. 1488-1528. Tübingen 1990. - 56 HDA 2, 816 sq.; Hebbe, P. M.: Svenskarna i Böhmen och Mähren. Studier i tjeckisk folktradition och litteratur. (Diss.) Uppsala 1932, 26 sq. - 57 Brepohl, W.: Die Überlieferung von der Schlacht am Birkenbaum - heute. In: Volkskultur und Geschichte. Festschr. J. Dünninger. B. 1970, 484-503; Alsheimer (wie not. 50). - 58 Kurtzer Bericht/ Welches sich mit einem Mägdelein/ welches von Jugend auff biß ins 18. Jahr Stumm gewesen/ vnnd den 23 Monats Tag Augusti Redent worden/ zugetragen/ vnd was jhre vornembste Rede gewesen, s. 1. 1630, Al v sq.; Zingerle (wie not. 44) num. 1018; HDA 2, 819; Beyer, J.: On the Transformation of Apparition Stories in Scandinavia and Germany, c.

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Proportionsphantasie

1350-1700. In: FL 110 (1999) 3 9 - 4 7 , hier 44. Heimreich (wie not. 18) t. 2, 342; Feilberg (wie not. 27) 100 sq., 112; H D A 2, 817-819. - 6 0 Kampff (wie not. 40) Cl v ; Seyler (wie not. 32) 22; Heimreich (wie not. 18) t. 2, 342; Müllenhoff (wie not. 46) num. 588, hier p. 397; Feilberg (wie not. 27) 101, 112; Jauhiainen (wie not. 27) num. D 1451. — 61 Schneider (wie not. 25) 132; Waldfreund (wie not. 26) 202; Zingerle (wie not. 44) num. 1014. 62 Kampff (wie not. 40) C l v ; Kooi, J. van der: Lit. als Vk. Hist. Erzählforschung, Volkskalender und Mundart. In: Rhein. Jb. für Vk. 26 (1985-86) 141 - 1 7 5 , hier 170, num. 51; Jauhiainen (wie not. 27) num. D 1451. - 6 3 Kampff (wie not. 40) C l v ; Heimreich (wie not. 18) t. 2, 347 (Zitat); Fischer (wie not. 23) 144. - 64 Müllenhoff (wie not. 46) num. 582; Feilberg (wie not. 27) 99, 111; Fischer (wie not. 23) 144. - 65 Müllenhoff (wie not. 46) 396-399; Feilberg (wie not. 27) 100. - 66 Warner [Werner], J.: [SJelbsteigene Beschreibung etzlicher Visionen [...]. s. 1. 1638, 10 sq.; Seyler (wie not. 32) 19; Hebbe (wie not. 56) 26. - 6 7 ibid.; Direder-Mai/Petzoldt (wie not. 54). - 68 Kampff (wie not. 40) B4V; Müllenhoff (wie not. 46) 392-396; Feilberg (wie not. 27) 9 7 - 9 9 , 104-109, 115 sq.; Hebbe (wie not. 56) 27. - 6 9 Müllenhoff (wie not. 46) num. 587; Feilberg (wie not. 27) 112 sq. - 70 ibid., 113. 71 Schleswig=Holstein. Anzeigen (1754) 715 sq.; (1755) 26 sq., 145-155; (1756) 8 1 - 8 6 , 154-161, 234-239, 823-829, 837-847; Clement, K. J. (ed.): Die Weissagung der Frisin Hertje [...] betreffend das Herzogthum Schleswig und die Neue Zeit. Altona 1850; Ahnlund (wie not. 45) 19-21; Frijhoff, W.: De paniek van juni 1734. In: Archief voor de geschiedenis van de katholieke kerk in Nederland 19 (1977) 170-233; id.: Prophetie et societe dans les Provinces-Unies aux XVII e et XVIII e siecles. In: id./Dupont-Bouchat, M.-S./Muchembled, M.: Prophetes et sorciers dans les Pays-Bas, XVI e - XVIII e siecle. [P.] 1978, 263-362; Alsheimer (wie not. 50); Bauer (wie not. 4); Walker, S.: Rumour, Sedition and Popular Protest in the Reign of Henry IV. In: Past & Present 166 (2000) 3 1 - 6 5 , hier 5 1 - 5 6 . - 72 Potestä (wie not. 3) 253; Schnell/Palmer (wie not. 13) 1143 sq.; Hultgard, Α.: Örnens strid mot draken. En armenisk apokalyps och dess medeltida kontext. In: Kungl. Humanistiska Vetenskaps-Samfundet i Uppsala. Ärsbok (1997) 2 3 - 3 5 , hier 29 sq. - " M ü l l e n h o f f (wie not. 46) num. 403 sq.; Muuß, R.: Nordfries. Sagen. Flensburg 1933, 105-107; Kühnau, R.: Schles. Sagen 3. Lpz. 1913, 524-532; Alsheimer (wie not. 50) 111; Fischer (wie not. 23) 154. - 7 4 Petzoldt, L.: Bänkelsang. Stg. 1974, 8 0 - 8 3 . - 75 Spreckelsen, T.: Der Mühlhiasl hat's g'sagt. Im Bayer. Wald lebt die Erinnerung an den Wahrsager und seine düsteren Visionen fort. In: Die Zeit 55, num. 10 (2.3.2000) 57. - 7 6 ζ. Β. Berndt, S.: Zukunftsvisionen der Europäer. Essen 1993; Johannes von Jerusalem: Das Buch der P.en. Zukunftsvisionen eines großen Sehers für das 3. Jahrtausend. Übers. K. Ruhl. Mü. 1995 (Orig.: Jean de Jerusalem: Le Livre des propheties. [P.] 59

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1994); Mann, Α. T.: P.en zur Jahrtausendwende. Übers. H. Freundl. Mü.AVien 3 1996 (Orig.: Millennium Prophecies. Shaftesbury 1992). - 77 Freund (wie not. 5) 64.

Dorpat

Jürgen Beyer

Proportionsphantasie ist ein von C. W. von Sydow eingeführter Terminus1. Von P. (-• Phantasie, Phantastik) kann man sprechen, wenn in einer Erzählung durch die Verschiebung von Geschehnissen, Personen und Dingen ins Große oder Kleine die Größenverhältnisse phantastisch verzerrt werden (Makroskopie, Mikroskopie). Dabei geht es meist um -» Ubertreibung oder Untertreibung der normalen Gegebenheiten. P. findet sich als Erzählprinzip in nahezu allen populären Erzählgattungen, in Mythen, Sagen und Märchen, in Fabeln, Schwänken und Witzen. Berühmte Erzählungen, die sich des Strukturprinzips P. bedienen, sind ζ. B. Gullivers Reisen von Jonathan Swift sowie Kinderbücher wie -» Alice im Wunderland oder Astrid Lindgrens Erzählung Nils Karlsson Däumling. Im Zusammenhang mit P. hat man im Bereich der Sage von ,Verhältnissagen' gesprochen, im Zusammenhang mit Märchen und Fabeln von ,Proportionserzählungen' 2 . Beispiele aus Riesensagen hat u. a. V. Höttges zusammengetragen3: Ein -» Riese ist so groß, daß er mit dem Kopf Löcher in die Wolken stößt. Mit einem einzigen Schritt durchmißt er ein ganzes Tal 4 . Er benutzt einen Kirchturm als Zahnstocher und eine ausgerissene Tanne als Spazierstock 5 . Berge sind die Behausungen von Riesen; ein Bergsattel dient ihnen zum Reiten. Riesen stecken Menschen in ihre Tasche oder in den Handschuh. Der Bauer mit Pflug und Gespann ist für die Riesentochter nur ein Spielzeug, das sie in ihre Schürze einsammelt und vor ihrem Vater auf dem Tisch ausbreitet (AaTh 701: -> Riesenspielzeug)6. Ein Bauer fährt in das Nasenloch eines Riesen, das er für einen Hohlweg hält. Der Riese muß niesen und schleudert dabei Bauer und Gespann eine Stunde weit weg 7 . Riesen legen ihre Hand auf einen rauchenden Schornstein, so daß die Bewohner aus dem Haus flüchten müssen. Sog. Erklärungssagen beruhen oft auf P.: Einen riesigen Felsbrocken hat ein Riese sich aus dem Schuh geschüttelt, wo er ihn gekitzelt hatte. Die Insel Bornholm ist der Ballast, der von einem Riesenschiff in die Ostsee geworfen wurde 8 .

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Proportionsphantasie

Praktisch dieselben Proportionserzählungen finden sich in den Sagen und Märchen der skand. Völker über die Trolle9. Riesen vom Schlage Goliaths (-> David und Goliath) begegnen kulturhistorisch zunächst in mythischen Texten. Sie hatten nach dem Zeugnis des A. T.s (Sam. 1,14-23; Sam. 2,16—22) an den Händen je sechs Finger und an den Füßen je sechs Zehen und waren so groß wie Zedern und so stark wie Eichen. In nordgerm. Göttermythen angelt -» Thor mit einem Ochsenkopf als Köder die Midgardschlange. In Märchen und schwankhaften Erzählungen von starken Leuten, wie KHM 90 und 166, AaTh 650 A: Starker Hans, kommen P.n vor, wenn der Held einen Mühlstein als Kragen oder eine Kirchenglocke als Hut benutzt. P. gibt es überall in Volkserzählungen, in denen starke Kontraste aufeinanderstoßen, bes. in Fabeln und Tiererzählungen, in denen Kontrastpartnerschaften kleiner mit größeren Tieren geschildert werden, wenn z.B. die Ameise mit der Giraffe einen gemeinsamen Haushalt führt. In anderen Erzählzyklen geht es um die Überlegenheit eines kleinen, aber listigen Tieres gegenüber einem großen und mächtigen, ζ. B. von Spinne (-> Anansi) oder Schildkröte und Tiger. Auch -» Fliege und -» Floh werden oft mit einem größeren Tier kontrastiert oder die -» Maus mit der -» Katze und der Regenwurm mit Hahn und Huhn. Die Witze von Maus und -> Elefant beruhen fast immer auf P., z.B.: Elefant und Maus kommen aufs Standesamt: „Wir wollen heiraten." - „Was?" fragt der Standesbeamte, „Ihr wollt heiraten?!" Sagt die Maus: „Wir wollen nicht, wir müssen!"10 In AaTh 545 B: Der gestiefelte Kater muß sich seit -«• Perrault der Zauberer in eine Maus verwandeln, damit ihn der Kater auffressen kann. Auch in AaTh 700: -» Däumling herrscht P.: Der Däumling kann von einer Kuh verschluckt werden; er hat in einem Pferdeohr Platz (cf. auch AaTh 325: Zauberer und Schüler; AaTh 313 sqq.: -> Magische Flucht). Lügengeschichten, wie ζ. B. die Erzählungen über Die ungewöhnliche ->• Größe (AaTh 1960—1960 Z), sind oft Proportionserzählungen, die in dem in Nordamerika verbreiteten Phänomen der sog. Tall tale postcards bildliche Darstellung erfahren haben 11 . Auch im

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Schneiderspott geht es oft um P., wie etwa in dem Lied vom Jahrtag der Schneider: „Da war'n sie alle froh;/ da aßen ihrer neunzig,/ neun mal neunundneunzig/ an einem gebratnen Floh." In den folgenden Strophen trinken sie alle aus einem Fingerhut, finden Platz auf einem Spielkartenblatt, schlüpfen durch ein Schlüsselloch oder tanzen allesamt auf einer Nadelspitze12. Vor allem bieten -• Tischleindeckdich das Motiv der Wiedergewinnung einer entwendeten Zaubergabe durch von einem anderen Zaubergegenstand verabreichte Schläge steht. AaTh 564 ist durch -» Kontraste gekennzeichnet: Die beiden Hauptpersonen sind ein Armer und sein reicher Bruder (Nachbar); von den beiden Zaubergegenständen spendet der erste (ebenso wie die Mühle in AaTh 565: -> Wundermühle) Nahrung, während der zweite Hiebe austeilt. Das Zaubermärchen hat folgenden Inhalt: (1) Ein übernatürliches Wesen schenkt einem Armen einen unbegrenzt Nahrung spendenden Gegenstand. Der Mann bringt ihn seiner Familie nach

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Provianttasche

Hause mit. (2) Ein reicher Mann besteht darauf, den Zaubergegenstand zu kaufen, und bald ist der Arme wieder so hungrig wie zuvor. (3) Der Arme wendet sich wieder an den Jenseitigen und bittet darum, ihm die Zaubergabe zu ersetzen. Er erhält einen zweiten, oft ähnlich aussehenden Gegenstand; anstelle von Essen bringt er jedoch Männer mit Knüppeln (Peitschen) hervor, die den Armen samt seiner Familie verprügeln. (4) Der Arme gibt das magische Schlagwerkzeug seinem reichen Nachbarn, der den Mechanismus auslöst, seinerseits ordentliche Prügel bezieht und dem Armen den nahrungsspendenden Gegenstand zurückerstattet. Den Rahmen dieses Geschehens bildet oft ein Gastmahl, das der reiche Mann gibt, wobei dann auch alle Gäste Schläge bekommen.

Die ältesten Fassungen von AaTh 564 finden sich im chin. -» Tripitaka (6. Jh. p. Chr. n.)1, im mongol. Siddhi-Kür2 und bei -> Basile (5,2). Aus mündl. Überlieferung des 19./ 20. Jh.s findet sich AaTh 564 in Europa, Indien, im Irak und in der Mongolei3 sowie in Afrika 4 . Nord- und mittelamerik. Var.n sind teils europ., teils afrik. Herkunft 5 . In den afrik. und afroamerik. Var.n sind die Handlungsträger oft Tiere. Die Selbstsucht des Reichen und die Bedürftigkeit des Armen sind die zentralen Themen. Die motivierende Einl. kann verschiedene Formen annehmen: Der Arme bittet seinen reichen Bruder um Essen und erhält die Antwort, er solle zum -• Teufel gehen — eine Verwünschung, die er wörtlich umsetzt6; die Ernte des Armen wird vom Frost 7 (Wind8) vernichtet, er verfolgt den Übeltäter und verlangt Entschädigung; ein Kranich schließt mit ihm Freundschaft und lädt ihn ein (russ., weißruss.)9; andere Gestalten, ζ. B. das Glück 10 (AaTh 735: cf. Glück und Unglück), schenken ihm den Zaubergegenstand; der Arme tauscht seine Kuh gegen eine Flasche (ir., dt.)11; Geister mißverstehen, was der Mann sagt, sie denken, er wolle sie fressen, und kaufen sich mit der Zaubergabe frei (ind.)12. Der Zaubergegenstand ist ein Ranzen, ein Sack, eine Börse, ein Topf oder eine Schachtel. Manchmal enthält schon die erste Gabe Männer, die das Essen auflegen, als Gegenstück zu denen, die später die Knüppel oder Peitschen schwingen13. Statt Essen bringt die erste Zaubergabe mitunter auch Geld hervor. Ihr Mechanismus wird oft durch Formeln wie ,Zwei aus dem Sack', ,Fläschlein, tu deine Pflicht!' oder ,Componte bolsa!' in Gang gesetzt14. Die zweite Gabe

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sieht oft genau wie die erste aus. Der nahrungsspendende Gegenstand kann unterwegs gestohlen, anstatt gekauft auch geborgt oder wie im -» Tripitaka vom König beschlagnahmt werden 15 . Wie in AaTh 676 + 954: - Ali Baba und die vierzig Räuber macht der Reiche es dem Armen manchmal nach und sucht den Gabenspender auf (cf. Fatale und närrische -»Imitation)16. Ein Beispiel hierfür bietet die Var. des Siddhi-Kür, in welcher der Reiche den Armen zusätzlich noch blendet (-• Blendung)17. Diese Kombination mit AaTh 613: Die beiden Wanderer ist auch in Irland beliebt18. Bei Basile (5,2) reist der reiche Bruder, nachdem er sich von seinem armen Bruder berichten hat lassen, zu den zwölf Monaten, erhält aber wegen seiner Unhöflichkeit vom März kein gabenspendendes Kästchen, sondern einen Dreschflegel. In der afrik. und afroamerik. Überlieferung findet der Protagonist (Hase, Spinne [->· Anansi]) die Zaubergabe (oft im Wasser) oder erlangt sie von einer Gottheit. Der nahrungsspendende Topf (Kalebasse, Besteck) wird nicht gestohlen (verkauft), sondern zerbricht oder funktioniert aus anderen Gründen nicht mehr 19 . In manchen Var.n versteckt der Protagonist das Zaubergeschirr, bis seine Familie es entdeckt und Mißbrauch damit treibt, so daß es seine Wirkung verliert20. Die zweite Zaubergabe teilt Schläge an die Beteiligten aus; die erste Gabe ist jedoch nicht mehr zu gebrauchen. A. Aarne, der die Version des Tripitaka nicht kannte, war der Ansicht, daß AaTh 564 von dem europ. Typ AaTh 563 abgeleitet sei, und faßte AaTh 563—565 als unterschiedliche Ausprägungen derselben Erzählung auf 21 . Dagegen ging K. Krohn von einer oriental. Urform aus 22 . S. Thompson betrachtete AaTh 564 ähnlich wie Aarne als eine im östl. Ostseeraum entstandene regionale Entwicklung von AaTh 56323. W. Liungman war der Ansicht, daß AaTh 564 in Indien entstanden sei und sich auf der Wanderung in Südosteuropa in einen westl. und einen östl. Zweig geteilt habe 24 . H. ->· Jason schließlich betrachtete AaTh 563—565 als drei Fassungen eines einzigen Erzähltyps, den sie als humoristische Ausformung der Erzählungen über Belohnung und -» Strafe behandelte 25 .

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Prozeß um die gekochten Eier

Aarnes Unterscheidung von A a T h 563 und AaTh 564 a n h a n d der Anzahl von Z a u b e r gegenständen ist nicht befriedigend: Erstens weisen beide Erzähltypen dieselben F o r m e n der Einl. auf. Zweitens lassen sich viele Beispiele von Erzählungen mit zwei Zaubergegenständen a m besten als Var.n von AaTh 563 (in dem der Zaubergegenstand dem Helden auf d e m Heimweg gestohlen u n d durch einen gewöhnlichen ersetzt wird) definieren, in denen ein Zaubergegenstand (entweder der nahrungs- oder der geldspendende) ausgelassen worden ist 2 6 . Drittens k a n n in Var.n von A a T h 564 aber auch ein zusätzlicher Zaubergegenstand eingefügt worden sein: So entspricht ein ind. M ä r c h e n A a T h 564 insofern, als aus zwei gleich aussehenden Töpfen Essen u n d Peitschen k o m m e n (zuvor hatte die Familie schon als G a b e eine Pflanze erhalten, an der juwelengefüllte Melonen wuchsen) 2 7 ; in einer anderen ind. Erzählung erscheint ein dritter Topf, der wie der erste Süßigkeiten hervorbringt 2 8 . 1 Chavannes 3, num. 468. - 2 Siddhi-Kür. Mongol. Märchen-Slg. ed. B. Jülg. (Innsbruck 1868) Nachdr. Hildesheim/N. Y. 1973, num. 14; Aarne, Α.: Die Zaubergaben. In: JSFO 27 (1909) 1-96, hier 72 sq. — 3 Ergänzend zu AaTh: Aräjs/Medne; Kecskemeti/ Paunonen; Ο Süilleabhäin/Christiansen; de Meyer, Conte; van der Kooi; Delarue/Teneze 563 (Var. 43, 83, 85), 564; Cirese/Serafini; Gasparikovä, num. 291; SUS; Thompson/Roberts; Jason, Indic Oral Tales; Jason, Iraq; Lörincz. - 4 Basset, R.: Nouveaux Contes populaires berberes. P. 1897, 93-95; BP 1, 360; Equilbeq, F. V.: Essai sur la litterature merveilleuse des Noirs. In: Collection des contes et chansons populaires 43. P. 1915, 95-99; Klipple 563, p. 210-213; Scelles-Millie, J.: Contes mysterieux d'Afrique du Nord. P. 1972, 93-99; Calame-Griaule, G./Görög-Karady, V.: La Calebasse et le fouet. Le theme des „objects magiques" en Afrique Occidentale. In: Cahiers d'etudes africaines 12 (1972) 12-75. - 5 Delarue/Teneze; JAFL 35 (1922) 4 sq. (puertorikan.); Andrade, M. J.: Folk-Lore from the Dominican Republic. Ν. Υ. 1930, num. 140; Beckwith, Μ. W.: Jamaica Anansi Stories. Ν. Y. 1924, 32 sq.; JAFL 40 (1927) 214-216, num. 1 (afroamerik.). 6 Simonsuuri, L./Rausmaa, P.-L.: Finn. Volkserzählungen. Β. 1968, num. 56. - 7 Konkka, U. S.: Karel'skie narodnye skazki. M./Len. 1963, num. 44. — 8 Calvino, I.: Italian Folktales. Ν. Y. 1980, num. 83; Comparetti, D.: Novelline popolare italiane. Turin 1875, num. 7; Viidalepp, R.: Estn. Volksmärchen. Β. 1980, num. 77. - 9 Afanas'ev, num. 187; Barag, L. G.: Beloruss. Volksmärchen. Β. 1968, num. 48. 10 Aarne (wie not. 2) 47; Barag (wie not. 9) num. 49;

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Kerbelyte, B.: Litau. Volksmärchen. Β. 1978, num. 77. 11 Croker, T. C.: Fairy Legends and Traditions of the South of Ireland. L. 1834, 33-45 (dt.: Brüder Grimm: Ir. Elfenmärchen. Lpz. 1826, num. 9); Meyer, G. F.: Das Volksmärchen in Schleswig-Holstein. In: Ndd. Zs. für Vk. 10 (1932) 196-223, hier 208. - 12 Thompson/Roberts; Mayeda, N./Brown, W. N.: Tawi Tales. New Haven, Conn. 1974, num. 40. - 13 Aarne (wie not. 2) 4-44; Afanas'ev, num. 187; Simonsuuri/Rausmaa (wie not. 6); Viidalepp (wie not. 8); Kerbelyte (wie not. 10). - 14 Afanas'ev, num. 187; Barag (wie not. 9); Croker (wie not. 11); JAFL 40 (1927) 214-216, num. 1. - 15 Chavannes 3, num. 468; Asmussen, J. P.: Remarks on Some Iranian Folk-Tales Treating of Magic Objects, Especially AT 564. In: Acta Orientalia 28 (1965) 221-243, hier 233-239; Ostroumov, N. P.: Sarty. Etnograficeskie materialy. Taskent 21892, 32-34; id.: Skazki Sartov ν russkom izlozenii. Taschkent 1906, num. 6. - 16 Cammann, Α.: Westpreuß. Märchen. Β. 1961, 197-204; Loorits, Ο.: Estn. Volkserzählungen. Β. 1959, num. 118. — 17 Aarne (wie not. 2) 72 sq. - 18 Ο Süilleabhäin/Christiansen. "Beckwith (wie not. 5); Finnegan, R.: Limba Stories and Story-Telling. Ox. 1967, 299-301; Frobenius, L.: Die atlant. Götterlehre. Jena 1926, num. 53; id.: Volksdichtung aus Oberguinea 1. Jena 1924, 100-104, 233 sq.; Joslin, M.: Märchen von der Goldküste. Mü. 1960, 85-97; JAFL 26 (1913) 10-12, num. 15 (Yoruba); Calame-Griaule/GörögKarady (wie not. 4) 15-44. - 20 Barker, W. H./Sinclair, C.: West African Folk-Tales. L. 1917, 39-44; Herskovits, M. J. und F. C.: Suriname Folk-Lore. Ν. Y. 1936, num. 41 sq.; Rattray, R. S.: Akan-Ashanti Folk-Tales. Ox. 1930, 62-67. 21 Aarne (wie not. 2). - 22 Krohn, K.: Übersicht über einige Resultate der Märchenforschung (FFC 96). Hels. 1931, 48-53. - 23 Thompson, S.: The Folktale. Ν. Υ. 1946, 72 sq. - 24 Liungman, Volksmärchen, 168. - 25 Jason, H.: Whom Does God Favour, the Wicked or the Righteous? (FFC 240). Hels. 1988, 114-136. - 26 Delarue/Teneze 563 (Var. 10, 41 sq., 62, 88); Lombardi Satriani, R.: Racconti popolari calabresi 2. Neapel 1956, 245-248; MerkelbachPinck, Α.: Volkserzählungen aus Lothringen. Münster 1967, 143-146. - 27 Frere, M.: Old Deccan Days. L. (1868) 1912, num. 12. - 28 Day, L. Β.: Folk-Tales of Bengal. L. 1908, num. 3. Berkeley

Christine Goldberg

Prozeß um die gekochten Eier (AaTh 821 Β, 920 Α), ein -• Rechtsfall, der in verschiedenen erzählerischen R a h m e n erscheint. In AaTh 821 B: Chickens from Boiled Eggs wird eine unsinnige F o r d e r u n g ad a b s u r d u m geführt:

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Prozeß um die gekochten Eier

Ein Reisender bestellt in einem Gasthaus eine Eierspeise, muß jedoch gehen, bevor er zahlen kann. Als er nach längerer Zeit zurückkehrt, um seine Schuld zu begleichen, berechnet ihm der Wirt alle Hühnchen, die in der Zwischenzeit aus den Eiern entstanden wären. Da der Reisende diese große Summe nicht bezahlen kann bzw. will, bringt der Wirt die Sache vor Gericht. Der Reisende trifft einen Mann, der sich erbietet, für ihn als -• Advokat tätig zu werden. Am Tag der Verhandlung kommt der Advokat zu spät. Auf den Verweis des -• Richters hin erklärt er, er habe Bohnen (anderes Saatgut) gekocht, um sie aussäen zu können. Der Richter ruft aus, gekochte Bohnen könnten doch nicht keimen, und der Advokat antwortet, daß aus gekochten Eiern auch keine Küken schlüpfen könnten. Der Fall wird abgewiesen.

AaTh 821 Β ist von Persien bis Europa sowie in Marokko, in span.sprachigen Teilen Amerikas und in China bekannt 1 . Die frühesten Belege für den P. um die gekochten Eier bieten jüd. Texte2 aus dem 13.3 und 16. Jh. 4 In der jüd. Überlieferung tritt König David als Richter auf; sein kleiner Sohn ->• Salomo rät einem Beklagten, der sich während einer Hungersnot Eier von seinem Nachbarn geborgt hatte, gekochte Bohnen zu pflanzen 5 . In einer anderen Form der Erzählung werden einer Gruppe von Dienern des Königs David Eier serviert. Einer der Diener borgt sich ein Ei vom Nachbarn und verspricht diesem, seinen vollen Wert zurückzuzahlen. Später verlangt der Nachbar den Preis für die Henne, die aus dem Ei geschlüpft wäre, inklusive der Hühnchen, die aus den von ihr gelegten Eiern geschlüpft wären 6 . Der Stoff hat früh Eingang in die russ. Tradition gefunden. So verurteilt David in einer altruss. Var. den Beschuldigten, den Preis für die gekochten Eier und die potentiell aus ihnen geschlüpften Küken zu entrichten. Sein Sohn Salomo rät dem Beklagten, gekochte Erbsen auszusäen, wenn König David vorbeikomme. König David revidiert daraufhin sein Urteil7. Als weiterer früher Beleg wird auch ein Schwank von Hans Sachs genannt, in dem ein Pfarrer die von einem Mann während der Fastenzeit verzehrten Eier zu Fleisch erklärt; zur Strafe soll dieser Erbsen auf dem Acker des Pfarrers säen; aus Rache kocht der Mann die Erbsen vor der Aussaat ab8. Das Opfer des ungerechten Gerichtsverfahrens kann ein Soldat, Seemann, Kaufmann oder ein Student sein, die bewirtende Person

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ein Mann oder eine Frau. Gelegentlich ist der Advokat der Teufel9, meist aber ein Bauer 10 , Hirt 11 , Diener oder ein nicht näher charakterisierter Helfer 12 , ein Gebildeter 13 , Rechtsanwalt14, ein Kind 15 oder aber Angehöriger einer Minderheit (ein Zigeuner16, Schwarzer17 oder Indianer 18 ). In der Gestalt des Advokaten treten auch der schott. Humanist George Buchanan (1506-82) 19 , der ir. Anwalt und Politiker Daniel O'Connell (1775-1847) 20 , St. Yves21 in der Bretagne, -> Hodscha Nasreddin 22 in der Türkei und in früher zum Osman. Reich gehörenden Ländern auf (-» Kristallisationsgestalten). In einem Text von den Kapverd. Inseln erhält der Wolf (der die Eier verzehrt hatte) den Beistand seines Freundes Dämon 23 . Derjenige, welcher die Eier verzehrt hat, kann auch als sein eigener Anwalt auftreten 24 . Die Anzahl der Eier (zwei, drei, sechs, zwölf etc.) wird konkret benannt, hingegen bleibt die Rechnung, wie viele Hühnchen sie produziert hätten, gewöhnlich vage. In einer chin. Var. wird statt der Eier ein Hähnchen serviert25. In einer galic. Var. stellt der Rechtsbeistand analog zur absurden Beanspruchung der von verzehrten Eiern abstammenden Küken die Behauptung auf, er habe Bohnen gesät, die er zwei Tage zuvor gegessen habe26. Gelegentlich wird der Bezug auf die Bohnen ganz ausgelassen, wie in einer anderen galic. Version, in der die Argumentation der klugen Ehefrau des Beklagten die des gegnerischen Anwalts ad absurdum führt 27 . Die Bezahlung nachfolgender Jahresernten von verzehrtem Gemüse (sowie Generationen von Hühnchen) verlangt der Wirt in einem tschech. Text28. Das Motiv vom Kontern einer absurden Behauptung mit einer anderen - das Ausbrüten gekochter Eier mit dem Aussäen gekochten Saatguts — tritt in AaTh 821 Β als selbständige Erzählung auf. In einem größeren Erzählzusammenhang und in anderer Funktion findet sich dieses Motiv (Mot. J 1191.2 = Mot. Η 1023.1.1) in Var.n zu AaTh 920: - Sohn des Königs und Sohn des Schmieds und AaTh 875: Die kluge Bauerntochter. In beiden Erzähltypen handelt es sich um eine von mehreren Scharfsinnsproben: Dem Helden bzw. der Heldin wird die Aufgabe gestellt, aus gekochten Eiern Hühner ausbrüten zu lassen, dies wird mit der Aufgabe, von gekochtem Saatgut zu ernten, gekontert. Für diese Episode wurde

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Prozeß um die gekochten Eier

eine Übernahme aus der selbständigen Erzählung AaTh 821 Β angenommen 29 . Ohne das Gegenargument vom Aussäen gekochten Saatguts wird in AaTh 920 A: The Daughter of the King and the Son of the Peasant die Frage entschieden, ob aus gekochten Eiern Hühner entstehen können. Eine Königstochter wird als Baby von ihrer Mutter heimlich mit einem Bauernjungen vertauscht, da der König droht, sie zu töten, wenn sie nicht ein männliches Kind zur Welt bringe. Der König muß später über den Fall urteilen, daß ein Kaufmann vor einer Reise 40 Eier gekauft hatte: Dieser will sie nach der Rückkehr bezahlen, doch wird von ihm verlangt, den Wert aller Küken einschließlich ihrer Nachkommen, die aus den Eiern hätten schlüpfen können, zu begleichen. Der König kann sich nicht entscheiden und belauscht zufällig die vertauschten Kinder, wie sie den P. um die gekochten Eier spielen. Die Königstochter spielt den König und macht klar, daß aus gekochten Eiern niemals Küken entstehen können. Der König übernimmt die Entscheidung des Mädchens. Hierdurch wird auch ihre Identität entdeckt, was schließlich zum Rücktausch der Kinder führt (cf. -> Knabenkönig).

In dieser Form scheint der Erzähltyp allein in griech. und span. Var.n vorzukommen 30 . Weitere vorgenommene Zuordnungen, z.B. für jüd. Erzählungen durch H. -> Jason als num. 920* Ε 31 , orientieren sich vermutlich daran, daß es sich in dem übergeordneten Erzähltyp AaTh 920 bei dem Protagonisten ebenfalls um Salomo (als Kind) handelt und daß dort in Var.n das Motiv vom Ausbrüten gekochter Eier und vom Aussäen gekochten Saatguts als absurde Aufgabe und Gegenaufgabe vorkommt. Für eine Zuordnung der betr. jüd. Erzählungen zu AaTh 821 Β spricht hingegen, daß hier das Prozeßmotiv beide Elemente - Behauptung und Gegenbehauptung — enthält, im Unterschied zu AaTh 920 A. Erzählungen vom Säen gekochten Saatguts ohne das Element des Ausbrütens gekochter Eier weisen eine weite Verbreitung und z.T. ein hohes Alter auf. Ovid (Fasti 3, V. 853 sq., cf. 6, V. 556) erzählt, daß Ino, die zweite Frau des Königs Athamas von Böotien und Stiefmutter des Phrixus und der Helle, geröstete Samen aussäen und dadurch ein Feld unfruchtbar erscheinen ließ. Ein Orakel forderte, daß die beiden Kinder zur Wiederherstellung der Fruchtbarkeit geopfert werden müßten; der Geist ihrer Mutter kam ihnen zur Rettung. Im ersten Teil des jap. Märchens von der Wun-

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derpflanze (Ikeda 1200) erscheint eine grausame Stiefmutter, die von ihrem Stiefkind verlangt, es solle Pflanzen aus gekochten Samen ziehen; eine der Variationen des Motivs besteht darin, daß ein Narr gekochte Samen sät (cf. AaTh 1200: Salzsaat). In einer Var. des pers. Märchens vom Seelenamulett (Marzolph *302 Β [Var. 7, IV|) wird vom Helden verlangt, er solle aus gekochten Samen Pflanzen ziehen. Das Säen gekochter Samen hat auch ein komisches Potential. In einer Anekdotensammlung, die sowohl im -> Tripitaka (chin. Po-YuKing) als auch im ind. Kathäsaritsägara (-> Somadeva) enthalten ist, röstet ein Dummkopf, der entdeckt hat, daß geröstete Sesamkörner besser schmecken als rohe, seine Samen vor der Aussaat (Mot. J 1932.1)32. In einer modernen ind. Erzählung bringen Tiere (Füchse, Schakale, Affen) einen alten Mann dazu, die Knollen einer Pflanze zu kochen, bevor er sie einsetzt. Die Tiere kommen nachts und halten einen Festschmaus (Mot. Κ 496), der alte Mann wiederum fängt und verprügelt sie33. In der afrik. Überlieferung finden sich Trickstererzählungen, in denen jemand dazu gebracht wird, gekochte Samen (die nicht keimen) 34 oder gekochte Wurzeln (die gegessen werden) zu pflanzen 35 . 1 Ergänzend zu AaTh 821 B: Rausmaa, SK 2, num. 64; Aräjs/Medne; Kecskemeti/Paunonen; van der Kooi; Archiv van der Kooi, Groningen; Delarue/Teneze; Cirese/Serafini; Megas/Puchner; BFP; Stroescu, num. 3023; M N K ; Gasparikovä, num. 31, 249, 321, 338; SUS; Kurdovanidze; Jason; Jason, Types; Jason 920 *E; Jason, Types 920 *E; Haboucha; Neuman J 1191.2; Marzolph 821 B, cf. *302 Β (Var. 7); Ting; Robe; Flowers. - 2 cf. Vries, J. de: Die Märchen von klugen Rätsellösern (FFC 73) Hels. 1928,241 - 2 4 9 ; Goebel, F. M.: Ad absurdum führen. In: H D M 1 (1930-33), 11-14, hier 12-14, id.: Jüd. Motive im märchenhaften Erzählungsgut. (Diss. Greifswald) Gleiwitz 1932, 198-201. - 3 Gaster, M.: The Exempla of the Rabbis 1. L./Lpz. 1924, num. 329 (Ms. Oxford Bodeliana Or. 135, p. 326 b);Yassif, Ε.: Sefer ha-Ma'asim. Le-'Oljo, Mekorotav ve-Haspa'ato sei koves Sipurim mizmanam sei Ba'alej ha-Tosafot (Sepher ha Ma'asim. Character, Origins and Influence of a Collection of Tales from the Time of the Tosaphists). In: Tarbis 53 (1984) 409-430; Bet-Arjeh, M.: Ktav-jad Oxford-Bodeliana Or. 135. Be-sulej Ma'amaro sei Eli Yassif (Ms. Oxford Bodeliana. Or. 135. Nachtrag zum Artikel Eli Yassifs). In: Tarbis 54 (1985) 631-634. 4 Gaster (wie not. 3) num. 342 (pers. Hs. aus dem 16. Jh., Kopie des Drucks Midrash a'seret ha'dibrot

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Prozeßmotive

[Midrasch über die Zehn Gebote]. Ferrara 1554). 5 ibid. - 6 ibid., num. 329; Bin Gorion, M. J.: Der Born Judas 3. Lpz. 1918, 64-67. - 7 Strickland, W. W.: Russian and Bulgarian Folk-Lore Stories. L. 1907, 97 (russ.). - 8 Sachs, H.: Sämtliche Fabeln und Schwänke 2. ed. E. Goetze. Halle 1894, num. 338; de Vries (wie not. 2) 245; HDM 1, 13. - 9 Bundi, G.: Märchen aus dem Bündnerland. Basel 1935, 34 sq.; Meier, H./Woll, D.: Port. Märchen. MdW 1975, num. 106; Säve, P. A./Gustavson, H.: Gotländska Sagor 2,1. Uppsala 1955, 5 sq.; Dowojna-Sylwestrowicz, M.: Podania zmujdzkie 1. W. 1894, 470-472. - 10 Simrock, K.: Dt. Märchen. Stg. 1864, num. 26; Beckmann, P.: Kreuzbube Knud und andere mecklenburg. Märchen. B. 21959, 27; Gasparikova, num. 338; Pröhle, H.: Märchen für die Jugend. Halle 1854, num. 56; Viidalepp, R.: Estn. Volksmärchen. B. 1980, num. 106. 11 Dardy, L.: Anthologie populaire de 1'Albret 2. Agen 1891, 275-279, num. 70; Wossidlo, R.: Volksschwänke aus Mecklenburg, ed. S. Neumann. B. 1963, num. 211; Espinosa, Α. M.: Cuentos populäres de Castilla. Buenos Aires 1946, num. 31. — 12 Horäk, J.: Tschech. Volksmärchen. Prag 1971, 49-51; EMArchiv: Schau-Platz der Betrieger (1687) 403-405, num. 186. - 13 J. asiatique 206 (1925) 140 sq. (pers.). - 14 Megas, G. Α.: Griech. Volksmärchen. MdW 1965, num. 59; Neumann, S.: Ein mecklenburg. Volkserzähler. B. 1968, num. 90; Wossidlo, R.: Aus dem Lande Fritz Reuters. Lpz. 1910, 192 sq. 15 Eberhard/Boratav, num. 295; JAFL 9 (1896) 278 (Jamaika). - 16Berze Nagy 821 B; BFP 821 B; Coleman, Μ. Μ.: A World Remembered. Cheshire, Conn. 1965, 283-285 (poln.); Gaäl, K.: Die Volksmärchen der Magyaren im südl. Burgenland. B. 1970, num. 44; Gasparikova, num. 31, 249, 321. 17 Hansen 821 Β (Kuba). - 18 JAFL 48 (1935) 125-178, num. 31 (Neumexiko); Rael, J. B.: Cuentos espanoles de Colorado y Nuevo Mejico 1. Stanford, Cal. [1957], num. 34. - " D B F A 2, 100. 20 ui Ogäin, R.: Immortal Dan. Daniel O'Connell in

Irish Folk Tradition. Dublin [ca 1995], 134 sq., 223-225. 21 Delarue/Teneze 4, 262-266. - 22 BFP 821 B; Papahagi, T.: Antologie aromäneascä. Buk. 1922, 77-79; Stroescu, num. 3023; Walker, W. S./Uysal, Α. E.: Tales Alive in Turkey. Cambr., Mass. 1966, 236 sq.; Camaj, M./Schier-Oberdorffer, U.: Alban. Märchen. MdW 1974, num. 75; Garcia Figueras, Τ.: Cuentos de Yehä. Tetuan 21950, 51, num. 91. 23 Parsons, Ε. C.: Folk-Lore from the Cape Verde Islands 1. Cambr., Mass./N. Y. 1923, 64 sq., num. 23. - 24 Delarue/Teneze 821 Β (1); Serova, N.: Skazki narodov Vostoka. Wladiwostok 1960, 63-65. - 25 Folk Tales from China 1. Peking 21959, 136-141. - 26 Rey-Henningsen, M.: The Tales of the Ploughwoman (FFC 259). Hels. 1996, num 57. - 27 ibid., num. 68. - 28 Satke, Α.: Hlucinsky pohädkär Josef Smolka. Ostrava 1958, num. 38. 29

cf. de Vries (wie not. 2) 297 sq.; HDM 1, 12. Ergänzend zu AaTh 920 A: Megas/Puchner; Gonzalez Sanz 920 A; cf. Kretschmer, P.: Neugriech. Märchen. MdW 1971, num. 35. 31 cf. not. 1. - 32 Chavannes, num. 260; Penzer, N. M. (ed.): The Ocean of Story 5. Übers. C. H. Tawney. Nachdr. Delhi u.a. 1968, 67 sq., not. 3 (Lit.). 33 Borooah, J.: Folk Tales of Assam. Gauhati 21955, num. 9; Grierson, G. Α.: Linguistic Survey of India 3,2. Calcutta 1903, 395-397; Parry, Ν. E.: The Lakhers. L. 1932, 550 sq.; cf. Bompas, C. H.: Folklore of the Santal Parganas. L. 1909, num. 13. 34 Strappers, L.: Textes Luba. Contes d'animaux. Tervuren 1962, 90 sq., num. 41. - 35 Tauxier, L.: Negres gouro et gagou. P. 1924, 285 sq.; Christensen, Α. Μ. Η.: Afro-American Folk Lore. Boston 1892, 94-100; Frobenius, L.: Volkserzählungen und Volksdichtung aus dem Zentral-Sudan. Jena 1924, 101-111, num. 1. 30

Berkeley Prozeßmotive

Christine Goldberg Rechtsfälle